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Fotos: Andy Ridder für DIE ZEIT/www.andy-ridder.de (5); Peter Wels/ingenhoven architecs (u.)
Studierzimmer in Stuttgarter Halbhöhen- In einem Tal am Rand der Stadt: In einem Haus am Fuße der Hoch über Stuttgart, auf Mit dem besten Blick in den
lage: der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz Edzard Reuter, der ehemalige Weinberge wohnt das Professorenehe- Schloss Solitude: Jean-Baptiste Kessel: Meisterkoch Vincent Klink
und die Künstlerin Cordula Güdemann Chef der Daimler Benz AG paar Hannelore und Heinz Schlaffer Joly, Akademiedirektor und Zeitungskolumnist Joe Bauer
Der Geischt sagt Nein! Reise in eine verwandelte Stadt: Der Streit um das Großprojekt Stuttgart 21 hat der
schwäbischen Metropole ein neues Lebensgefühl beschert VON PETER KÜMMEL
äge unsere Stadt am Meer, sagen die die Bürger sind nicht zu beschwindeln mit Blend- ist unter allen neuen Bauten der Stadt vielleicht der Wirkung. Dem Bahnchef Grube, so glaubt Reuter, der Kessel über: »Die Stuttgarter widerlegen den alten schwörung, die man hinter allem vermutet. Lothar sagt Walter Sittler, ein Volksschauspieler aus der viel Kapital vorhanden, und dieses Kapital zieht neu- anderswo, die Selbstverständlichkeit im Umgang mit Die Stuttgarter gelten als das enthusiastischste
suhrkamp taschenbuch
www.suhrkamp.de Roman. Ü: Chris Hirte. st 4200. 689 S. € 14,95 (D)
ETON 9. September 2010 DIE ZEIT No 37 53
Fotos: Andy Ridder für DIE ZEIT/www.andy-ridder.de (5); Peter Wels/ingenhoven architecs (u.)
Hoch über Stuttgart, auf Mit dem besten Blick in den
Schloss Solitude: Jean-Baptiste Kessel: Meisterkoch Vincent Klink
Joly, Akademiedirektor und Zeitungskolumnist Joe Bauer
Reise in eine verwandelte Stadt: Der Streit um das Großprojekt Stuttgart 21 hat der
schwäbischen Metropole ein neues Lebensgefühl beschert VON PETER KÜMMEL
schwörung, die man hinter allem vermutet. Lothar sagt Walter Sittler, ein Volksschauspieler aus der viel Kapital vorhanden, und dieses Kapital zieht neu- anderswo, die Selbstverständlichkeit im Umgang mit Die Stuttgarter gelten als das enthusiastischste
Späth, ehemaliger Ministerpräsident und heute noch bürgerlichen Mitte. Was wird da erst ein alter Linker es Geld an, das muss investiert werden! Wenn man Ausländern sei groß. Stuttgart sei eine der letzten Theaterpublikum. Nun sind sie selbst auf der Bühne.
Verfechter von S 21, ist Aufsichtsratsvorsitzender der sagen? Stuttgart 21 nicht baut, bereitet man den nächsten Städte, in denen die Leute noch »wir« sagen könnten: Sie machen ein großes Spektakel daraus, den Aus-
südbadischen Herrenknecht AG, des weltweit größten Besuch bei Peter O. Chotjewitz und seiner Frau Finanzcrash vor. Wenn man diese zehn Milliarden »Sie sagen damit etwas sehr Wichtiges: dass sie bereit nahmezustand und sich selbst zu feiern. Sie wissen,
Tunnelbohrunternehmens, welches bei den Grabun- Cordula Güdemann. Ein Wohnhaus unterhalb des nicht hier investiert, gehen sie in ein Hotelprojekt in sind, mit den anderen Menschen die Zukunft zu dass sie vom Rest des Landes beobachtet werden.
gen zu S 21 eine Hauptrolle spielen wird (Firmen- Killesbergs, in bester Halbhöhenlage. Er ist Schrift- Abu Dhabi.« teilen.« Wenn die Tunnelbauer einfach weitermachen,
motto: »Wer mit uns bohrt, schafft Verbindungen«). steller und Jurist, war Wahlverteidiger von Peter Paul Er sagt das in stoischem Ernst. Wie also muss ein Der Protest um Stuttgart 21 sei der Reflex der werden die Proteste schärfer werden, das ist klar. Was
Michael Föll, Finanzbürgermeister der Stadt Stuttgart, Zahl und Andreas Baader; sie ist Malerin und Pro- vernünftiger Linker mit S 21 umgehen? »Der linke Bürgerschaft einer gesunden Stadt: »Es ist die ent- aber, wenn die Tunnelbauer einlenken? Wenn im
beriet jene Baufirma, die derzeit den Nordflügel des fessorin an der Stuttgarter Kunstakademie. Wir fragen: Gedankengang wäre so: Wir müssen sie so weiterma- täuschte Reaktion von Bürgern, die noch an die Poli- äußersten Fall das Projekt S 21 gekippt wird? Fast
Hauptbahnhofes abreißt. Rüdiger Grube, der Chef Gibt es eine spezielle schwäbische Komponente des chen lassen, bis sie das System kaputt gemacht haben tik glauben. Allerdings, es ist ein Glaube, der auf der
der Bahn, war einst geschäftsführender Gesellschafter Widerstands, die sich nur hier entfalten konnte? – wir Linken sind zu schwach, um das zu schaffen.« Kippe steht.« ANZEIGE
der Stuttgarter Häussler Gruppe, eines führenden Chotjewitz sagt: »S’ gibt kein Schwaben-Gen!« Unser letzter Ausflug auf die Stuttgarter Hänge Am vergangenen Freitag fand die bislang größte
Immobilienkonzerns, welcher gewiss bei S 21 mit- und senkt seine Zunge in ein Gläschen Malt Whisky. führt weit hinauf zum Schloss Solitude. Hier stand Demonstration gegen Stuttgart 21 statt; 50 000 bis
bauen wird (der Journalist Josef-Otto Freudenreich Aber es sei kein Zufall, dass einst die Sozialistin Cla- früher die Hohe Karlsschule, an der auch Friedrich 60 000 Menschen zogen durch die Stadt. Zu Beginn
veröffentlicht Ende September ein Buch, das diese ra Zetkin hier lebte und mit dem Unternehmer Schiller Schüler war. Schon das macht die Solitude gab es ein kleines Theaterstück, das der Regisseur
Verflechtungen analysiert; es heißt Die Taschenspieler Robert Bosch in Kontakt stand, dass die erste sozia- zum Ort des Widerstands, schließlich floh Schiller Volker Lösch mit einem Bürgerchor eingeübt hatte.
und erscheint bei Klöpfer & Meyer). All das zusam- listische Frauenkonferenz und der Internationale im Jahr 1782 aus Stuttgart. Nun residiert hier die Ein Dr. Rüdiger Grube, dargestellt von einem Schau-
men, das Misstrauen gegenüber den Obrigen, ver- Sozialistenkongress hier stattfanden, dass Eugen Akademie Schloss Solitude, ein wohl einmaliges In- spieler, trat auf die Bühne und versprach paradiesische
bunden mit der Angst vor der Unüberschaubarkeit Eberle, ein überzeugter Kommunist, hier bei der stitut, in dem Künstler und Wissenschaftler aller Zustände im Stuttgarter Kessel, und der Chor zisch-
des Projekts, hat in Stuttgart eine neue Stimmung Oberbürgermeisterwahl 16 Prozent der Stimmen Disziplinen und Nationen wohnen, arbeiten und sich te: »Umkehren jetzt!« Grube sprach: »Dafür braucht JETZT
geschaffen: Die Bürgerschaft, die gegen S 21 protes- holen konnte. »Das alles sind Indizien dafür, dass es zu gemeinsamen Projekten zusammentun können. ihr eine politische Mehrheit, und die habt ihr nicht.« TESTEN
tiert, sieht sich als Kontrollorgan der Regierenden. gewisse Denkverbote hier nicht gibt.« Die Akademie, die derzeit ihr 20-jähriges Bestehen Und der Chor zischte: »Im März wird gewählt!« !
Einer der Sprüche, die bei den großen Demons- Chotjewitz beobachtet eine »gewisse ländlich- feiert, wird seit ihrer Gründung von dem Franzosen Grube sprach: »Wenn alles vorbei ist, wird die Ruhe
trationen skandiert werden, und zwar von Demons- politische Aufsässigkeit in Schwaben«. Das sei ein Jean-Baptiste Joly geleitet, einem Mann, der sich als in der Stadt wunderbar sein!« Und der Chor ant-
tranten jenseits der 50, lautet: »Wir sind das Volk, Menschenschlag, der eher ins Gefängnis gehe, als »französischer Schwabe« bezeichnet. Zu unserem Ge- wortete: »Die Baustelle wird gestürmt werden!«
wir sind das Geld.« Singen da Anarchisten oder eher sich das Maul verbieten zu lassen: »Viel von dieser spräch bringt er eine Reportage aus Le Monde mit, in Grube wird zurückgepeitscht von einem Schwa-
Leute vom Rechnungshof? So ist das wohl nur in Mentalität hat sich in die Bahnhofsbewegung einge- welcher der »beherrschte Widerstand« der revolutio- ben-Chor, gegen den die Erinnyen des antiken Dra-
Stuttgart zu hören: Es ist der Chorgesang eines neu- schlichen.« nären Stadt Stuttgart gefeiert wird. »Der große Fehler mas harmlose Kinder waren. Dann spricht die Grü-
www.weltkunst.de/abo
en bürgerlichen Selbstbewusstseins. Warum staunt dann die ganze Republik so sehr des Oberbürgermeisters war es, dass er bei seinen nen-Stadträtin Clarissa Seitz. Sie vergleicht die Bahn-
Der ideale Kopf dieser Bewegung hat sich in Stutt- über die Renitenz der Schwaben? »Die Stuttgarter sind Planungen eine Karte der Deutschen Bahn verwendet hofsabreißer mit den afghanischen Taliban und sagt
gart wie von selbst gefunden; es ist ein großer, at- selber mit schuld, dass sie außerhalb für ein bisschen hat, eine Karte im Maßstab 1 : 1 000 0000; er hat den in breitem Amtsschwäbisch: »Wenn die Tunnelpar- glaubt man, bei dieser Frage den Schreck in den
traktiver Mann mit wohlklingender Stimme: Walter beschränkt gelten. Das liegt an dem Understatement, lokalen Maßstab der Bürger missachtet.« teien Hand an die Parkbäume legen, wird unsere Wut Augen der Gesprächspartner flackern zu sehen.
Sittler, einer der populärsten TV-Schauspieler das auf ihnen lastet wie ein Deckel: Sie halten auch Die Planer von S 21 hätten nicht bedacht, dass die ins Unermessliche steigen.« Es wird wohl kein milder Viele wünschen sich, der Augenblick möge noch
Deutschlands. Stuttgart 21 sei dabei, die ganze Stadt ihre eigene Intelligenz nicht für genügend.« Kommune die letzte politische Einheit sei, in welcher Herbst werden in Stuttgart – auch wenn Grube jetzt verweilen. Sie sagen: Es ist in der Stadt besser als im
zu fressen, sagt Sittler, das wolle er nicht zulassen. Liegt es also am schwäbischen Minderwertigkeits- noch der Glaube an persönliche Einflussnahme exis- zu Gesprächen am Runden Tisch eingeladen hat. Urlaub. Ein S-21-Gegner hat es bei einer Demons-
Schon immer hätten die Investoren hier zu sehr freie komplex, dass die Bahnhofstieferlegung in Stuttgart tiere. »Überall sonst herrscht die Resignation.« Dann ist es 19 Uhr, Zeit für den allabendlichen tration vor dem Regierungssitz des Ministerprä-
Hand gehabt, das habe der Stadt nicht gutgetan. Der stattfindet? Will der verkannte Global Player Stutt- Wie sieht er als Franzose die Schwaben? »Die Aus- »Schwabenstreich«: Zehntausende Stuttgarter ma- sidenten Mappus mehr zu sich selbst so gefasst:
Bürger als Subjekt der politischen Aufmerksamkeit gart, der Sitz der Weltfirmen Porsche und Daimler, länder, wenn sie unter sich sind, sagen über die Schwa- chen mit Vuvuzelas, Trillerpfeifen, Topfdeckeln einen »Danke, Mappus! Hab viele neue Freunde gefunden.«
sei verloren gegangen, und die Generation der Politi- mit einem großen Streich zeigen, was er kann? ben: Die sind zwar ein bisschen komisch hier, aber wir Lärm, der den Talkessel erschüttert. Man spürt jetzt, Ein anderer sagt: »So gut hat sich diese Stadt noch
ker, die noch um die Demokratie kämpfen mussten, »Da ist was dran. Man hat den Leuten gesagt: Ihr sind aufgenommen worden, die Integration hat funk- wie viel Energie es in einer Stadt gibt, wenn so viele nie gekannt.« Und ein Dritter: »Wäre es nicht an der
sei im Verschwinden begriffen; es herrschten nun die kriegt ein Jahrhundertbauwerk! Dieses Argument tioniert, es ist gut hier.« Die zweite Generation der sich einig sind und sich so sehr im Recht fühlen. Es Zeit, dass Mappus den Stuttgarter Fernsehturm fällt?
Technokraten, und denen dürfe man die Demokratie spielt in Stuttgart schon eine Rolle – anders als in Immigranten in Stuttgart, so Joly, spreche natürlich ist ein wenig unheimlich. Man sieht das und denkt Der steht auch im Weg und ist überflüssig.«
nicht allein überlassen. »Die Leute hier spüren die München oder Frankfurt.« Und was, Herr Chotjewitz, Deutsch, gehe natürlich zur Schule, wolle am Arbeits- sich: Wie allein sind wohl die Leute in Leipzig, Frank- Stuttgart ist auf den Geschmack gekommen. Die
Ignoranz einer Politik, die zu lang am Steuer war.« Das ist die Wahrheit? »In dieser Stadt ist so unglaublich leben teilhaben. Das soziale Gewebe sei intakter als furt, Düsseldorf – was hält die zusammen? Stadt kennt ihn nun, den Duft der Rebellion.