Doch nicht jedes Wort aus Lecs Feder ist beißend. Dieser große
Sprachkünstler der abendländischen Literatur setzte seine Ge-
danken und Bedenken ebenso in humorvolle, melancholische
und nachdenkliche Gedichte um.
Autor
Der polnische Satiriker und Lyriker Stanisław Jerzy Lec wurde
1909 in Lemberg geboren und studierte von 1928 bis 1933 Jura.
Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er auf der Seite der kommunisti-
schen Partisanen. In den Jahren 1946 bis 1949 war er polnischer
Kulturattache in Wien. Nach seiner Entlassung lebte er einige
Jahre in Israel, bevor er nach Warschau zurückkehrte, wo er 1966
starb. Bekannt wurde er besonders durch seine Aphorismen, die
in zahlreichen polnischen Zeitungen veröffentlicht wurden.
Das große
STANISŁAW
JERZY LEC
BUCH
Aphorismen, Epigramme, Gedichte
und Prosa
Herausgegeben und
aus dem Polnischen von
Karl Dedecius
GOLDMANN VERLAG
Der vorliegende Band erschien ursprünglich unter dem Titel
»Das große Buch der unfrisierten Gedanken«.
5
In die 1965 erschienene italienische Erstausgabe waren
vorwiegend »Dissidentengedanken« aufgenommen wor-
den, die sich auf die Situation im sozialistischen Polen be-
zogen, wo sie zwischen 1957 und 1959 publiziert wurden, in
der Ära Gomulka, das heißt, während des Tauwetters. Da-
mals war es als provokatorischer Akt erschienen, den aktu-
ellen politischen Aspekt von Lecs Unternehmung hervor-
zuheben. Doch Marchesani, der Herausgeber der (italieni-
schen) Neuausgabe von 1984, hat recht, wenn er daran er-
innert, daß Lecs Satire, die in großen Tiefen wurzelt, nicht
nur in der vis ironica der mitteleuropäischen Kultur, son-
dern in der talmudischen Weisheit, ja vielleicht sogar in
noch älteren Traditionen, eine philosophische, metaphysi-
sche Satire ist, die nicht ein einzelnes politisches System at-
tackiert, sondern (man verzeihe den etwas abgedroschenen
Ausdruck) die ganze conditio humana.
»Er hatte ein reines Gewissen. Es war nie benutzt wor-
den.« Auf welche Epoche, auf welches Land trifft dieser
Gedanke zu? Auf alle. Schon an dieser Stelle, beim ersten
Gedanken, falle ich meinem Autor zum Opfer. In der Tat
macht man bei der Lektüre dieses Buches folgende Erfah-
rung: Man beginnt ein, zwei Gedanken zu lesen, dann kann
man nicht mehr an sich halten, man sucht einen Freund,
einen Gefährten, ein Opfer, und man liest ihm alle anderen
vor. Gewöhnlich wehrt sich das Opfer nicht, es genießt sei-
ne Lage. Lecs Unfrisierte Gedanken sind also ein Buch, das
man mit lauter Stimme rezensiert (und empfiehlt). Ich
könnte endlos Sätze zitieren, über den Daumen gepeilt, ent-
hält das Buch tausendfünfhundert Gedanken. Natürlich
sind nicht alle von derselben Qualität, manche sind länger
als andere, und man versteht sie nicht auf Anhieb. Ein Zei-
chen dafür, daß Lec kein einfacher Aphoristiker ist, seine
6
Gedanken nicht vorfabriziert und zu sofortigem Gebrauch
bestimmt sind. Manche, viele, müssen überdacht werden.
Im allgemeinen lassen sie sich nicht so leicht frisieren.
7
Ich werde ständig gefragt:
»Schreiben Sie auch größere Sachen?«
»Nein«, antworte ich, »nur große.«
9
5 nachgelassene Notizen
1966
10
Eines Tages
11
Traumverbot
12
Alt und neu
13
Verdienste
14
Trost
15
10 kleine Mythen
1965
17
Die Welt wandelt sich
19
Von einem Hund
20
Von der unterschätzten Laryngologie
21
Von Blindgängern
22
Von besorgniserregenden Geschenken
23
Von unlauteren Methoden
24
Von erfüllten Träumen
25
»Ich möchte, daß die Menschen der ganzen Welt sofort
wüßten, was ich denke; damit ich mir das Pochen an
die Türen der Redaktionen und Verlage erspare.«
»Gut.«
Der Frosch machte einen Sprung und war verschwun-
den. Im selben Augenblick verspürte ich eine gewaltige
Bewegung im Kopf. Meine Gedanken fielen mir plötz-
lich freier und deutlicher ein.
Freudig erregt schlenderte ich weiter in den Park. Als
ich nach einer Viertelstunde zum Schloß zurückkam,
stellte sich ein Gendarm aus dem unweit gelegenen
Gouvernementsstädtchen mir in den Weg. Er schlug
sehr dienstbeflissen mit der Hand an seine Fellmütze,
blinzelte sehr dienstbeflissen mit einem Auge und zeig-
te mir die Richtung, in der ich unverzüglich zu gehen
hätte.
Nicht nur er wußte, worum es ging, auch ich wußte es
genau. Und er wußte, daß ich wußte, daß er wußte, daß
ich wußte … Aber lassen wir das; schließlich wurde ich
nicht von Ihnen zu Protokoll vernommen.
26
Das Modell
27
Musterexemplar
Ich weiß nicht, ob ich es schon erzählt habe, daß ich seit
einiger Zeit, wenn ich erregt bin, Selbstgespräche führe.
Wahrscheinlich bin ich nicht der erste und nicht der
letzte, der so etwas tut. Vor allem nicht unter Satirikern.
»Zeigt mir das Musterexemplar von einem Menschen!«
rief ich eines Tages unter anderem. So meinte wenig-
stens ein Engel, der plötzlich vor mir stand und Ant-
wort gab:
»Komm mit mir« – sagte er – »ich will dir dieses Muster
von einem Menschen zeigen.«
Er führte mich in die Ödnis, wo in einer Einsiedelei mit
Vollpension, Wäsche usw. jenes Muster lebte.
»Ich bin das Muster von einem Menschen« – sagte die-
ses, als ich ihm vorgestellt wurde, und es fügte mit ei-
ner bescheidenen Ehrlichkeit, die ich natürlich erwartet
habe, hinzu – »das man zur Serienproduktion nicht zu-
gelassen hatte.«
28
Lob der Wirklichkeit
29
805 Aphorismen
1957-1966
31
Gedanken
33
Gedanken wechseln die Köpfe und nehmen deren Form
an.
Neuheit: Tarnmaulkorb.
Will das Salz süß sein und der Zucker salzig, sträubt
sich unser Geschmack. Mit welchem Recht eigentlich?
34
Wer seine Rolle im Leben begriffen hat, sucht sich bei-
zeiten ein Double.
35
Weisheit sollte im Überfluß zu haben sein; wer fragt
schon danach?
36
Der Leichnam wurde seinem Mörder gegenübergestellt:
aber er erkannte ihn nicht.
37
Ich kannte Feuerwehrleute, die über ihrem Bett nicht
den heiligen Florian, sondern Prometheus hängen hat-
ten.
38
Wahrheit
39
Ich kann mir das Weltende vor dem Sieg der Wahrheit
nicht vorstellen.
42
Sprich weise, der Feind hört mit.
Was Chaos ist? Es ist jene Ordnung, die bei der Erschaf-
fung der Welt zerstört wurde.
44
Harem
Sage mir, mit wem du schläfst, und ich sage dir, von
wem du träumst.
46
Vermeidet Blutvergießen. Ein Held honoris causa täte
es meinetwegen auch.
Man kann das »Lied der Freiheit« nicht auf dem In-
strument der Gewalt spielen.
Ach, sähen wir doch das Leben und nicht die Situatio-
nen!
47
Menschen haben Spätzündung: sie begreifen alles erst
in der nächsten Generation.
48
Um an die Quelle zu kommen, muß man gegen den
Strom schwimmen.
Ein Adler mit dem Blick eines Falken, mit dem Gefieder
eines Kolibri, der Stimme einer Nachtigall und dem
Fleisch eines Kapauns – das wäre was!
50
Begabung
52
Ohnmächtige Wut wirkt Wunder.
Ich bin schön, ich bin stark, ich bin weise, ich bin gut.
Und ich habe das alles selbst entdeckt!
53
Wenn jemand nachweisen könnte, er sei Nachkomme
des Spartakus, dann wäre er heute kein Funktionär der
Linken, sondern Zierde der römischen Aristokratie.
Ich kann mich auf die bloße Nennung des Namens He-
rostrates nicht empören, solange ich die Architektur des
Tempels der Artemis in Ephesus nicht kenne.
54
Gib acht, daß du nicht zufällig unter das Glücksrad ei-
nes anderen gerätst.
Nun bist du mit dem Kopf durch die Wand. Und was
wirst du in der Nachbarzelle tun?
55
Ich bin Optimist. Ich glaube an den erlösenden Einfluß
des Pessimismus.
Wirf den Stein als erster! Sonst bist du für sie ein Epi-
gone.
56
Henker
57
Seltsam. Die »Philosophie der Verzweiflung« fürchtet
am meisten die Optimisten.
Bakterien? Kleinigkeit!
58
Am leichtesten verirrt man sich in einem Wald, wenn er
gefällt ist.
60
Man drücke einem Barbaren ein Messer, eine Pistole
oder eine Kanone in die Hand, aber um Gottes willen
keine Feder! Er macht auch euch zu Barbaren!
61
Gedankenlosigkeit tötet. Andere.
62
Wirklichkeit
Er fällt vor jeder Macht – wie die Katze – auf alle vier
Beine.
64
Tabus muß man vernichten, ohne sie zu berühren.
Für die Schuld der Väter werden oft erst die Söhne aus-
gezeichnet.
Wie viele gibt es, die, um den eigenen Nabel nicht aus
dem Auge zu verlieren, bereit sind, ihre Rücken zu
krümmen!
65
Tabus, obwohl unantastbar, vermehren sich er-
schreckend.
66
Nur wer gesunden Menschenverstand hat, wird ver-
rückt.
Merkt euch: einen Stand hat immer nur der Jäger, nie-
mals das Wild.
68
Literatur
69
Ein mutiger Schriftsteller. Setzte den Punkt nach einem
nicht geschriebenen Satz.
70
Geht der Gerechtigkeit aus dem Weg. Sie ist blind!
71
Manchmal verbirgt sich etwas hinter etwas, vor dem
wir uns verbergen.
72
Gegen wen ich denke? Gegen diejenigen, die es mir ver-
bieten.
73
Auf einem Giraffenhals beginnt sogar der Floh an seine
Unsterblichkeit zu glauben.
74
Kunst
Nur der, der mit der Kunst intim ist, weiß, welchen Ab-
stand man ihr schuldet.
75
Menschen, die mit der Kunst nichts gemeinsam haben –
sollten mit ihr nichts gemeinsam haben. Klar?
76
Vieles mußte nur deshalb unterbleiben, weil man es
nicht zu benennen wußte.
Ein Pferd ohne Reiter ist immer ein Pferd. Ein Reiter
ohne Pferd nur ein Mensch.
78
Bei Hofe genießt der Narr Sonderrechte. Außerhalb des
Hofes ist er der Dumme.
79
Die Intrigen der Stücke von Z. finden hinter den Kulis-
sen statt.
80
Glaube
82
Wo alle einstimmig singen, ist der Text ohne Bedeu-
tung.
»Du sollst nicht töten« war leider von rechts nach links
geschrieben: auf das Herz zielend.
83
Wundert euch nicht, daß jemand, der übel riecht, es
gern hat, wenn man ihn beweihräuchert.
Oh, wenn doch ein Gott sagte: »Glaubt mir!« und nicht
»Glaubt an mich!«
85
Theater
87
»Warum«, fragte ich einen Kritiker, »haben Sie das
Stück das epochemachende Ereignis von umwälzender
Bedeutung genannt? « – »Was für ein Stück?« fragte er
zurück.
Das Drama unserer Zeit bringt (wie sich das gehört) sei-
nen Schöpfern Tantiemen.
Wer fragt die These und die Antithese, ob sie eine Syn-
these werden wollen?
88
Hört auf, geistige Dürre fruchtbar zu machen.
89
Nenne das Ding beim Namen, aber auch beim Pseudo-
nym.
Ein wahrer Märtyrer ist der, dem man sogar diesen Ti-
tel verweigert.
90
Wißt ihr, wo die Hoffnung immer zu finden ist? In der
Garderobe der Hölle, unter der Aufschrift: Lasciate ogni
speranza.
Den Blick in die Welt kann man mit einer Zeitung ver-
sperren.
Geh mit der Zeit, aber komme von Zeit zu Zeit zurück.
91
Kain ist schlauer geworden. Er hinterläßt sein Zeichen
auf der Stirn Abels.
92
Fragen
93
Ja = nein. Der Unterschied liegt in der Frage.
Auch Parteilose sind nicht parteilos. Sie sind für die Ge-
rechtigkeit.
94
Keiner ist so dumm, daß er sich nicht hin und wieder
dumm stellte.
95
Ein Verurteilter ist niemals seinem Galgen gewachsen.
Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewe-
sen.
96
Die Folgen der Unterdrückung hängen vom Material
ab. Die einen macht sie kleiner, die anderen größer.
Glaubt ihr nicht, daß mich mein scharfer Blick bis aufs
Blut verwundet?
98
Mensch
99
Sprich nicht schlecht vom Menschen. Er sitzt in dir und
belauscht dich.
100
Allgemeinmenschliche Werte sind die, die es nicht
lohnt, über die Grenze zu schmuggeln.
101
Paßt auf, nicht nur ein Druckfehler kann Rationalismus
in Nationalismus verwandeln.
Ist ein Hund, der an die Hütte gebunden ist, ihr auch
verbunden?
Wir zahlen mit dem Leben oder mit dem Tod. Die Wäh-
rung bleibt die gleiche.
104
Worte
Mehr sagen von der Zeit die Wörter aus, die man nicht
gebraucht, als die, die man mißbraucht.
105
Wem Worte fehlen, bekommt sie portofrei vom Staat
geliefert.
106
Eine Eigenschaft geistiger Träger, die am meisten ins
Auge fällt, ist ihre unverwüstliche Aktivität.
107
Er war ein As. Allerdings in einer sehr schmutzigen
Hand.
Barfuß zu gehen schickt sich nur für die, die Schuhe be-
sitzen.
108
Der Mensch hat zwei Profile. Eins links und eins rechts.
Ja, und noch zwei andere innen.
Gebt Gott, was des Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers.
Und den Menschen?
Ich hätte viele Dinge begriffen, hätte man sie mir nicht
erklärt.
109
Seinem Mund entfliehen die edelsten Worte. Wundert
euch das?
110
Feind
111
Wie sollte ich kein Optimist sein. Meine Feinde erwie-
sen sich – bis jetzt – als genau die Schweine, die ich in
ihnen vermutet habe.
112
Wer sich von der Politik fernhält, hat täglich einen
mühsamen Weg zu ihr.
Der Preis, den man für die Freiheit zahlen muß, sinkt,
wenn die Nachfrage steigt.
113
Unser Unwissen erobert immer weitere Welten.
114
Die Helden der alten Mythen waren fast nackt, die Hel-
den der neuen sind völlig nackt.
116
Kannibalen
117
Kannibalen bevorzugen Menschen ohne Rückgrat.
118
Wer erfindet ein Analphabet für die Verständigung mit
Analphabeten?
Die Tat holt den Gedanken ein. Wehe, wenn sie ihn
überholt.
Hört ihr das Gestammel? Das sind die Chöre der Mit-
laute nach der Extermination der Selbstlaute.
119
Die Welt kann nicht mit lauter Sokratessen bevölkert
sein. Der Schierling würde nicht für alle reichen.
122
Liebe
123
In der Liebe richtet sich die Aussagekraft der Blumen
nach ihrem jeweiligen Ladenpreis.
124
Es geschah einmal, daß der Esel Balaama mit Men-
schenstimme zu sprechen anfing. Könnten die Akteure
nicht seinem Beispiel folgen?
125
Die Armen im Geiste können sich nur einen billigen
Optimismus leisten. Er kostet zwar auch viel, aber nicht
sie, sondern die anderen.
126
Wisse, du bist ein austauschbares Teilchen des Alls.
127
In der Natur geht nichts verloren – mit Ausnahme der
Hoffnungen, die sich erfüllt haben.
128
Sklaven
Traum der Sklaven: ein Markt, auf dem man sich seinen
Herrn selbst kaufen dürfte.
Ich kenne Folgen, die sich jedes Jahr eine neue Ursache
erfinden.
131
Verbrechen: Muse der Prediger und der Moralisten.
132
Immer schon hatten die Narren am Sockel des Throns
gesessen. Deshalb sahen sie auch als erste, wenn er zu
wackeln anfing.
133
Lachen erzeugt Gelächter, und erst dieses ein Lächeln.
134
Satire
Gewisse Witze mit Bart sind ewig jung; sie tragen ihn
nur zur Tarnung.
Wer als erster den Witz begriffen hat, hat Zeit genug, so
zu tun, als hätte er ihn nicht verstanden.
135
Satiriker, pfeift auf Worte. Laßt Zahlen sprechen!
136
Versuche, etwas zu sagen, ohne dich auf die Tradition,
auf Sprichwörter und Idiome zu berufen, ohne – und
sei es nur die landläufigste – Literatur zu zitieren. Wie
schwer es doch ist, einfältig zu sein!
137
Man darf sich nicht wiederholen? Psst! Hoffentlich hat
es das Glück nicht gehört.
Ich wollte der Welt nur ein einziges Wort sagen. Da ich
es nicht konnte, wurde ich Schriftsteller.
138
Man hat mir meine Saite gekürzt. Nun tönt sie höher.
Ich hege Gedanken, die ich sogar mir selbst nicht offen-
bare. Ihr kennt sie alle.
139
Heldentum
Hütet euch vor jenen, die für sich das jus primae noctis
Bartholomensis beanspruchen.
141
Die Zeit bescherte uns viele Genies. Hoffen wir, es sind
ein paar Begabte darunter.
142
Es ist widerlich, in einem schmutzigen Fluß wider den
Strom zu schwimmen.
143
Wann werden Steine, die man gegen Menschen ge-
schleudert, schreien?
145
Wer in der Hölle Litzen trug – trägt auch im Himmel
Achselstücke.
Den höchsten Sinn für Humor haben die Toten – für sie
ist alles lächerlich.
146
Schade, daß man ins Paradies mit einem Leichenwagen
fährt!
Er war treu wie ein Hund: wie einen Hund haben sie
ihn erschlagen.
148
Nullen
151
Menschen mögen, stellte ich fest, Gedanken, die nicht
zum Denken zwingen.
153
64 Epigramme
1959-1966
155
ZWEIZEILER
Hypothesen
Realismus
Schicksal
157
Schematische Dramaturgie
Vom Glück
Berufsgeheimnis
Entwicklungsprobleme
158
Ideologischer Rentner
Relativität
Schönheit
Beim Metzger
Von Hymnen
160
Al fine
Wer…
Diskrepanz
Von Sätzen
Relativität
Vielweiberei
162
Courtoisie
Prima vista
Kunst
163
Parodist
Immer dabei
SOS
164
Geschichte
Vom Heuchler
Nicht alle
Sicherheit
165
Von einem Dichter
Plagiate
Statistisches Jahrbuch
Geschlechtswechsel
166
Erinnerung
Proportionen
Humanitas
Ganz
C’est la vie
Erstaunlich
Für Satiriker
168
Rangordnung
Konferenz
Den Epigrammdieben
Dekadenz
Fazit
Archäologie
Sonderbar intakt
ist die Waage der Gerechtigkeit.
Die Wahrheit wiegt darauf nackt
schwerer als im Kleid.
Preisfrage
Credo
173
17 Xenien
1961-1964
175
Unter den Haufen von Steinen
Wo die Hyänen
Uns amüsiert
177
Man bedenke
Seltsame Schnecken
178
Wahrscheinlich
Trist
Etienne de Silhouette
wollte das Menschenprofil
schwarz auf weiß belegen.
Schöner schneiden heraus
die Silhouette des Menschen
aus schwarzen Hintergründen
Gewitter mit ihren Blitzen.
179
Vielleicht
Zu kurz
180
Mehr Licht
Ich melde
Bin ich
181
Den einen
Den einen
sind Adlerschwingen,
den andern
Engelsflügel
gewachsen;
man kann sie schießen
das ganze Jahr.
Es schickt sich nicht für sie,
daß sie nach Schonzeit
wie Enten
verlangen.
182
17 Gedichte
1933-1964
183
Ich reifte
185
Längst
186
Du spiegelst dich
Du spiegelst dich
in der Träne,
im Staunen,
im geschlossenen Lid,
bleibst an der Wimper,
im Silberblick
und Entsetzen hängen;
so vielmal du existierst,
so vielmal
mußt du sterben.
1961
187
Seit 1389
Seit 1389
ist die alte Synagoge zu Prag
nicht erneuert.
Ihre Wände waren
seit damals
mit dem Blut der Juden
befleckt.
Frisches
Judenblut
erneuert
im Morgengrauen
die Wände
der Synagoge.
1961
188
Was hält der Wachtposten
189
Der Tod
190
Ach, noch einmal
191
Wenn ein Dichter
192
Die Welt am anderen Ende
vergeß ich nie.
Wohin ich geh, mich auch wende,
suche ich sie.
193
Antrag
194
je nach dem örtlichen Brauch.
Im Namen der heilen Vernunft
und der Mystik des Alls
fordere ich das Recht auf den Unglauben.
Amen.
1950
195
Mein Tod
196
In Salzburg
197
Wiener Kaprice
198
marschiere ich zum… O Gott,
die Menge wird mich auf ihre
robusten Schultern heben
und so an die Spitze des großen
Zuges der Zeiten zum –
tragen, und ich, ich wollte
ja nur auf die andere Seite,
ein Sträußchen Veilchen, wie immer,
der reizenden Lola zu kaufen;
damit sie aus ihnen zwischen
den Tasten ihres Klavieres
Tropfen Musik mir presse;
von denen die im Salon
im Dunkel Sitzenden meinen
werden, es seien Tränen
des Rittmeisters (k. und k.)
der Kavallerie …
Zurück!
1948
199
Im Café am Ring
200
und rezitiert
seiner hochgeschürzten Ziege
den Marmor von Hofmannsthal,
aus dem Gedächtnis.
Ein Buckliger prüft eine Briefmarke aus
San Marino
gegen das Licht.
201
In den kleinen Städtchen
202
erschüttern die über dem Fetzen Welt
gespannte brüchige Plane der Nacht.
Meteore schlagen tückisch
In Patriarchenschädel,
und danach betten sich staunend
die Leichen lang zu Alleen,
Aus Gräbern keimt wieder Gras.
1938
203
Morgen
204
Bekanntschaft
205
Karl Dedecius • Letztes Geleit
207
Nicht verknöchern, aber nicht er-
schlaffen, auf dem Posten sein und
nicht auf der Stelle treten, biegsam,
aber unbeugsam bleiben, Löwe oder
Adler, aber dennoch kein Vieh sein,
nicht einseitig werden, aber keine
zwei Gesichter haben – was für eine
Aufgabe! St. J. Lec
209
Als ich im November 1959 eine Einladung der Polni-
schen Akademie der Wissenschaften erhielt und zum
ersten Mal seit dem Krieg nach Polen fuhr, war ich in
Warschau Gast bei Lec. Er wohnte in einer seltsam bür-
gerlichen Dreizimmerwohnung, Nr. 5 im Hause Nr. 15,
am Markt der Neustadt, zusammen mit seiner stillen,
im Außenministerium beschäftigten Frau, der Schwie-
germutter und den zwei Söhnen. Wir tranken einen
Muskateller vom heiligen Berg Sinai, die letzte Flasche,
wie Lec sagte, die er aus Israel mitgebracht hatte, waren
zunächst etwas scheu und versuchten, einander ken-
nenzulernen. Lec war leicht korpulent, stattlich, das ru-
hige, großflächige Gesicht trug Gelassenheit und
Freundlichkeit, die stark gebogene Nase ließ nicht an
einen Raubvogel, sondern an einen Spaßvogel denken,
und die hellblauen Augen strahlten Scharfsicht und
Güte aus. Es war ein gastfreundlicher Abend und ein
gutes Gespräch. Später gingen wir spazieren, den schö-
nen Winkelweg von dem architektonisch so reizvollen
Markt der Neustadt über den Markt der Altstadt bis
zur Sigismundsäule und weiter noch die Krakauer Vor-
stadt und die Neue Welt hinunter bis zur Heiligkreuz-
straße.
Mit Lec zu gehen war eigentlich kein Spaziergang. Es
war ein majestätisches Abschreiten einer von ihm ange-
tretenen Ehrenkompanie von Palast-, Kirchen- und
Häuserfronten, über die er alte und neue Legenden,
Tragisches und Amüsantes zu erzählen wußte. Ich habe
Lec später nie anders auf der Straße gehen sehen: leicht,
210
fast tänzerisch und so langsam, daß man glaubte, er sei
Chronos persönlich und verfüge beliebig über die Zeit.
Gegen die Hast der vorüberflutenden Großstadtmenge
war er immun. Er mußte ständig stehenbleiben, um
seine ganze Energie auf einen Gedanken, eine Geste
oder einen Gruß zu konzentrieren. Nachdem mir Lec
unterwegs mehrere — seine — Kaffeehäuser gezeigt
hatte, führte er mich in das Café »Neue Welt«, um mir
in einer Fensterecke mit dem Blick auf die Straßenkreu-
zung allerlei Geschichten zu erzählen. Er wußte eine
Unmenge, und die meisten waren intelligent, interes-
sant, geistreich pointiert und liebenswürdig. Lecs ge-
nealogisches Gedächtnis war erstaunlich. Er konnte
stundenlang über Wiener, Lemberger, Warschauer, Ber-
liner und Frankfurter Aristokraten- und Bürgerhäuser
memorieren, Stammbäume wachsen lassen, Ketten von
Daten aufsagen, Klatsch kolportieren, Anekdoten
druckreif formulieren. Dabei sang er die Sätze in jener
galizisch melodiösen Sprechweise, in der österreichi-
sche, polnische und ukrainische Töne mitschwingen.
Am liebsten und lebhaftesten erzählte er von Wien
und von Kaiser Franz Joseph, für dessen persönlichen
Untertan er sich immer noch hielt. Sein Sentiment wur-
de von der Geschichte der habsburgischen Monarchie
angezogen, während seine Gedanken der Gegenwart
gehörten.
Am Kaffeehaustisch erfuhr ich einiges aus seinem
Leben. Lec wurde in Lemberg geboren. – Wenn es nichts
zu lachen gibt, kommen Satiriker auf die Welt. – Meine Fein-
211
de verbreiten das Gerücht, ich sei ein unverbesserlicher Indi-
vidualist, ein Feind jeglicher Gemeinschaft. Das ist nicht
wahr. Ich habe schon als kleiner Junge an meinem Matro-
senmützchen ein Band mit der goldenen Aufschrift getragen:
»Viribus unitis!« Es war die beliebte Maxime von Franz Jo-
seph I. Auf ein Plakat »Lernt schwimmen« schrieb der
Schüler Lec: Wozu? Panta rhei! Der Hang zum Parodisti-
schen war ihm angeboren. Der Vater, Benno Letz de
Tusch, war Bankdirektor, besaß Güter in Podolien und
in der Bukowina und pendelte zwischen Lemberg und
Wien, wo der Großvater väterlicherseits als Arzt gelebt
hat und der Urgroßvater mütterlicherseits, H. Weißglas,
Kaiserlicher Rat und Großgrundbesitzer gewesen war.
Die Mutter hieß Adele und war eine geborene de Safrin.
Die Familie von den Saphadim abstammen, die in ihrer
heiligen Stadt nördlich des Sees Genezareth eine be-
rühmte Rabbinerschule besaßen und über die Diaspora
in Spanien als Vertriebene nach Holland, dann an den
Rhein und weiter in den slawischen Osten gekommen
waren, in dessen Städten sie nicht selten zu der geisti-
gen Oberschicht des Judentums gehörten. In Wien
wurde einer seiner Vorfahren am Hof der Habsburger
geadelt. Nach dem Zerfall der k.u.k. Monarchie zerfie-
len auch die Latifundien der Barone Letz de Tusch.
Lec war sechs Jahre alt, als er den Vater verlor. Als er
zehn Jahre alt war, ging der Krieg zu Ende, und die
Familie zog nach Lemberg um. Hier besuchte er zuerst
die evangelische Oberschule, wo er Deutsch lernte, da-
nach das berühmte Karmeling-Gymnasium. 1927 stu-
212
dierte Lec ein Jahr Polonistik, danach ging er an die ju-
ristische Fakultät. 1933 entließ ihn die Universität mit
dem akademischen Grad eines Magister iuris.
Sein Freund, Jan Śpiewak, überliefert einige Erinne-
rungen an jene Zeit. Er berichtet, daß Lecs Wohnung in
der Slowacki-Straße 6, in der Nähe der Post, mit kostba-
ren Möbeln und Teppichen geschmückt und voll von
Resten einstigen Wohlstands war. Aber der Student Lec
ließ sich ungern an den Besitz seiner Eltern erinnern;
der Umgang mit den Tagelöhnern, mit der Dorfarmut
Podoliens hatte ihn zum Sozialisten gemacht, und zwar
zu einem Sozialisten sui generis: Ich bin nicht der Mei-
nung, daß jemand, der eine Seele besitzt, eo ipsi schon zur
besitzenden Klasse gehört.
1929 debütierte Lec als Schriftsteller im Krakauer
IKC, im Illustrierten Tageskurier, mit dem Gedicht
»Frühling«. In jener Zeit trug er noch, der Mode ent-
sprechend, einen dicken Spazierstock und ein Monokel
– wie sein Onkel, der k. u. k. Rittmeister war, oder wie
der damals populäre Wortführer der polnischen Futuri-
sten, Bruno Jasieński – und paffte wie viele seinesglei-
chen eine Pfeife. Aber diese Periode dauerte nicht lan-
ge. Die sich zuspitzenden sozialen Konflikte in dem
Völkerkessel Lemberg brachten Lec mit den Linken zu-
sammen und verpflichteten seine Poesie der Politik. Er
nahm Kontakt zu der revolutionären ukrainischen Wo-
chenzeitschrift »Wikna« auf, war Mitarbeiter von Dans
»Nowa Kronika« und schließlich 1931 Mitbegründer
der »Tryby«. Memoiren berichten von stürmischen Le-
213
seabenden mit Lec im gelben Saal des Technologischen
Instituts.
Seiner politischen Aktivität wegen mußte Lec Lem-
berg verlassen. Er ging 1934 nach Warschau, wo er
rasch als Lyriker und Satiriker bekannt wurde und Zu-
gang zu den führenden Blättern bekam. Er war in den
»Nadeln« (Szpilki) und den »Signalen« (Sygnaly) zu le-
Isen, im Organ der linken Künstler »Lewar« und im
»Linken Gleis« (Lewy Tor), im »Skamander« und im
»Schwarz auf Weiß« (Czarno na Bialym) vertreten. 1936
gründete er zusammen mit Leon Pasternak das literari-
sche Kabarett »Theater der Knirpse« (Teatr Pętaków),
das gleich nach den ersten Aufführungen von der Zen-
sur geschlossen wurde; im gleichen Jahr nahm er am
Kongreß der Kulturschaffenden teil und mußte dann
als Mitarbeiter der »Volkszeitung« (Dziennik Popular-
ny) die Hauptstadt verlassen und in Rumänien Zu-
flucht suchen. In Czortków versuchte er, in einer An-
waltspraxis Fuß zu fassen, ging aber bald wieder nach
Warschau zurück, heiratete, bezog mit seiner Frau eine
bescheidene Wohnung in Untermiete und lebte als Lite-
rat und – immer noch – sozialistischer Untertan einer
imaginären Monarchie mit Kaiser Franz Joseph I. an der
Spitze. Zum Mittagstisch lief er sehr häufig in den ent-
fernten Stadtteil Leszno, um dort in der »Cyganeria«
billig (für 50 Groschen) zu essen und damit etwas Geld
für den Kaffee zu sparen, den man abends in der »Mala
Ziemiańska« am Stammtisch von Gińczanka, Gombro-
wicz und Pasternak – manchmal kam Tuwim noch hin-
214
zu – trinken wollte. Lec wohnte damals in der Grzy-
bowska-Straße, unweit der Kirche.
Nach Ausbruch des Krieges war Lec wieder in Lem-
berg. Beim Einmarsch der deutschen Truppen 1941
wurde er verhaftet und ins Konzentrationslager Tarno-
pol gebracht. Zweimal entging er glücklich einer Er-
schießung, das zweite Mal kurz vor der Auflösung des
Lagers, 1943, als er sich zusammen mit einer Gruppe
von Gefangenen deutsche Uniformen verschaffen
konnte. In Warschau angekommen, mittellos, am Ende
seiner Kräfte und von Erpressern bedroht, war er dem
Selbstmord nahe. Aber dann fand er Kontakt zur Wi-
derstandsbewegung und faßte neuen Lebensmut. Er
redigierte die konspirative Zeitung »Soldat im Kampf«
(Zołnierz w boju), das Organ der Volksgarde (GL),
dann der Volksarmee (AL), war Schriftleiter des »Freien
Volkes« (Wolny lud), wechselte ständig seinen Wohn-
sitz und nahm schließlich an den Partisanenkämpfen
im Lubliner Land im ersten Bataillon der AL teil, wofür
er zum Major der Reserve befördert und später (im Ja-
nuar 1966) mit dem Offizierskreuz vom Orden der
Wiedergeburt Polens ausgezeichnet wurde. 1945 war
Lec bei der Neugründung der satirischen Zeitschrift
»Nadeln« (Szpilki) dabei, er war Mitarbeiter der
»Schmiede« (Kuźnica), des »Schaffens« (Twórczość),
der »Wiedergeburt« (Odrodzenie).
1946 schickte ihn die Republik Polen als Pres-
seattaché nach Wien. Als er 1950 diesen Posten aufge-
ben sollte, verbannte er sich freiwillig und ging nach
215
Israel. Aber 1952 hielt er die Belastungen dieser neuen
Umwelt nicht länger aus und kehrte, vor Heimweh
krank, zurück an die Weichsel. Hier lebten er und sein
Sohn zunächst zurückgezogen bei dem Freund Jan
Śpiewak, bis Lec in Pruszków eine eigene Wohnung
nahm und zum zweiten Male (mit Krystyna Świe-
tańska) eine Familie gründete.
Geschrieben hatte er in dieser Zeit wenig, hauptsäch-
lich übersetzt, vor allem Brecht (Mutter Courage, Ge-
dichte und Erzählungen), außerdem Verse von Lessing,
Goethe, Heine, Tucholsky, Trakl.
Mit dem Polnischen Oktober begann seine Karriere
als Aphoristiker. In kurzer Zeit waren die »unfrisierten
Gedanken« zu geflügelten Worten geworden, Lec stan-
den wieder nahezu alle Redaktionen der Hauptstadt
offen. Er sublimierte sein bitteres Schicksal und die
skeptische Nachdenklichkeit in winzigen Sätzen. Fassen
wir uns kurz. Die Welt ist übervölkert von Wörtern. Philo-
sophische Denkweise, nachsichtige Trauer und mutige
Konsequenz machten aus seinen dünnen Werken eine
bedeutende Bibliothek. Lec hatte seine Form gefunden.
Er prägte die kürzeste und treffendste Nomenklatur
unserer Zeit, aus Poesie und Logik, aus Trotz und
Nachsicht. Er gab seine jahrtausendealte Erfahrung der
Allgemeinheit preis und machte die Ironie zum Prüf-
stein dieser Erfahrung. Er notierte seine Gedanken in
Kaffeehäusern, Straßenbahnen, Parkanlagen, ja sogar im
Klub der Literaten und wurde zum »letzten europäischen
Philosoph-Peripathetiker« (K. T. Toeplitz).
216
Bei unserer ersten Begegnung, im Café »Neue Welt«
(Nowy Świat), schenkte er mir alle seine Bücher und
trug in eins davon in deutscher Sprache die Widmung
ein: In Warschau in »Nowy Świat«, aber Gott sei Dank noch
in der alten Welt.
Lec, dieser wandelnde Anachronismus, wurde zum
Salz der Warschauer Kultur. Es war wahrscheinlich
mehr als eine melancholische Pose, daß das bunte Bild-
nis Kaiser Franz Josephs bis zuletzt die Wand über sei-
nem Arbeitstisch zierte, daß er die Manschettenknöpfe
aus Münzen mit dem Bildnis des backenbärtigen Mo-
narchen, die wir in Frankfurt für ihn aufgetrieben hat-
ten, bis zuletzt mit feierlicher Freude und ostentativem
Stolz getragen hat.
Aus Jugoslawien zurückgekehrt, wurde er gefragt, ob
er auch in Sarajewo gewesen sei. Ich? antwortete er ent-
rüstet. In einer Stadt, in der mein Kronprinz ermordet wur-
de? Agram aber war für ihn unsere Stadt und Krleža un-
ser Dichter.
Am liebsten fuhr Lec nach Wien, in die Stadt seiner
glücklichen Kindheit. Als er diese Reise einmal mit
Roman Karst unternahm und beide dann in Wien ge-
landet waren, fragte ihn Roman Karst: »Ist es dir eigent-
lich aufgefallen, Staszek, daß du die ganze Zeit nur von
dir gesprochen hast?« Und Lec antwortete darauf mit
entwaffnendem Charme: Ja, hättest du denn ein besseres
Thema gewußt?
Er erzählte gern von seinen Erfolgen, von den Zeit-
schriften aus dem Ausland und von den prominenten
217
Rezensionen. Das Echo, das seine Stimme fand, schien
ihn für alles zu entschädigen. Wer ihn näher kannte,
wußte, daß seine äußere Eitelkeit nur da war, um die
innere Bescheidenheit und Bedürfnislosigkeit zu kom-
pensieren. Er sprach von sich und dachte an die andern.
An seine Frau, an seine Schwiegermutter (Babcia, die er
sehr gern hatte), an seine Söhne, an seine Freunde und
an seine Stadt. Kaum am Frankfurter Bahnhof aus dem
Zug gestiegen, hatte er schon Heimweh nach der Fami-
lie und nach den Warschauer Cafés.
1965 zwang ihn eine Krankheit, am Stock zu gehen.
Er war zusammengefallen, sein einst so tadellos sitzen-
der, maßgeschneiderter Anzug schlotterte, sein Gesicht
war durchsichtig geworden.
Bei einer Operation entdeckten die Ärzte, daß er un-
heilbar krank war und daß sein Ende bevorstand. Die
Freunde wußten es und suchten vor ihm ihre Hilflosig-
keit zu verbergen. Lec selber wußte es auch und suchte
seinerseits die Freunde zu schonen und sie mit Lustig-
keiten zu täuschen. Ich sah ihn zum letzten Mal im No-
vember 1965. Er erfuhr von meiner Ankunft, verließ das
außerhalb von Warschau gelegene Sanatorium und
kam mir am Stock entgegen. Wer weiß, was Kolumbus
alles entdeckt hätte, wäre ihm nicht Amerika im Wege ge-
standen. Polen bereitete sich auf die 1000-Jahr-Feier der
Staatsgründung vor. Straßen und Geschäfte wurden
mit Transparenten mit dem Bildnis des Königs Mieszko
des Ersten geschmückt. Lec melancholisch: Erster müßte
man sein. Ich bin der Letzte.
218
Im Frühjahr legte man ihm seine neueste Epigramm-
sammlung zur Korrektur vor. Er hatte keine Kraft
mehr, daran zu arbeiten, er winkte ab: Ich habe Wichtige-
res zu tun. Ich bin mit dem Sterben beschäftigt.
Er hatte seit langem keine Briefe mehr geschrieben,
und so erfuhr ich erst auf Umwegen von seinem be-
denklichen Zustand. Am 10. Mai flog ich mit guten Bot-
schaften und etwas Hoffnung nach Warschau. Im Flug-
zeug der polnischen LOT wurden Zeitungen verteilt.
Ich bekam die »Zycie Warszawy«, blätterte oberfläch-
lich darin und las die lakonische Notiz: Die Beisetzung
des Satirikers Stanisław Jerzy Lec findet morgen, am
Mittwoch, dem 11. Mai, auf dem ehemaligen Militär-
friedhof statt. Stanisław Jerzy Lec war nach langer
Krankheit am 7. Mai 1966 gestorben.
Sein Schicksal nahm das lateinische Vorurteil Nomen
est omen beim Wort und ließ es sich an ihm erfüllen.
Letz bedeutet hebräisch Satiriker. Die mittelhochdeut-
sche Letze – Grenzbefestigung, Schutzwall – verleiht
ihm politisches Gewicht. Auf deutsch heißt letzen eben-
so erquicken wie bedrücken, seine Gedanken kreisen
um letzte Dinge. Und schließlich und zuletzt bedeutet
Letzt das Abschiedsmahl, die Totenfeier.
Auf dem Kommunalfriedhof, dem ehemaligen Mili-
tärfriedhof im Stadtteil Powazki, hatten sich am Mitt-
wochmorgen bei schwülem, windstillem Maiwetter die
Warschauer Literaten nahezu ausnahmslos versammelt,
um ihrem Kollegen und Freund die letzte Ehre zu er-
weisen. Der Vorstand des Schriftstellerverbandes,
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Jarosław Iwaszkiewicz und Artur Adam Międzyrzecki,
hielten die Ehrenwache, eine Ehrenkompanie trat im
Parademarsch an, präsentierte das Gewehr und feuerte
Salutschüsse ab. Schade, daß man ins Paradies mit einem
Leichenwagen fährt.
Ein Staatsbegräbnis für einen Satiriker! Ein General
und drei Schriftstellerkollegen verabschiedeten den
Dichter mit bewegten Worten. Einer der jüngsten Lyri-
ker, Zbigniew Jerzyha, trug mit verweinten Augen die
Auszeichnung des Toten hinter dem Sarg, der Trauer-
marsch von Chopin, von scharrenden Schritten und lei-
sen Geräuschen gedämpft, verfing sich im Laub der
Bäume.
Mai 1966
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