66/ 2007
Schwabe
STUDIA PHILOSOPHICA
VOL. 66/2007
JAHRBUCH DER
SCHWEIZERISCHEN PHILOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
SC H WA BE V E R L AG BASE L
WAS IST PHILOSOPHIE?
QU’EST-CE QUE
LA PHILOSOPHIE ?
REDAKTION / RÉDACTION
ANTON HÜGLI / CURZIO CHIESA
SC H WA BE V E R L AG BASE L
Publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie
der Geistes- und Sozialwissenschaften
www.schwabe.ch
Inhalt / Table des matières
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Würdigung
Vorwort
H ERBERT S CHNÄDELBACH
«Was ist …?»-Fragen setzen voraus, man könne sie durch eine stabile Cha-
rakterisierung, wenn nicht gar durch eine Definition beantworten. Bei Na-
türlichem, dessen «Wesen» schon genau bestimmt ist – wie Wasser, Granit
oder Licht – mag dies angehen, und wenn es sich um schon Definiertes han-
delt – wie Dynamit, Nylon oder Laser – ist es ganz leicht. Die Philosophie
hingegen ist kein natürliches, sondern ein kulturelles Phänomen mit langer
historischer Vergangenheit und tiefgreifenden Wandlungen, so dass man, um
sie wirklich zu erfassen, in Wahrheit eine lange Geschichte erzählen müsste.
Im Übrigen hat niemand ein für alle Mal die Philosophie zu definieren ver-
mocht, obwohl es immer wieder versucht wurde, und somit existiert keine
Definition der Philosophie, die man nur zu zitieren bräuchte, um ihr gerecht
zu werden. Im Übrigen ist wohl der an der Philosophie Interessierte nicht
wirklich an einer solchen Definition interessiert, sondern in der Regel möchte
er wissen, was jeweils ‹Philosophie› genannt wurde (1), und was in der Ge-
genwart unter diesem Titel betrieben wird (2). Er möchte nicht dabei stehen
bleiben, dass dem, wonach er fragt, auf der einen Seite eine fast sprachlose
Verehrung als «Königin der Wissenschaften» entgegengebracht wird, um an-
dererseits sich von Managern erklären lassen zu müssen, ihre «Philosophie»
sei: «Möglichst hohe Gewinne bei möglichst geringen Kosten.» Dieses ver-
wirrende Bild, das die Philosophie bei den meisten Zeitgenossen abgibt,
kann man nur historisch erklären.
12 Herbert Schnädelbach
‹Philosophía› ist ein griechisches Wort und wird meist mit ‹Liebe zur Weis-
heit› übersetzt. Aber das hilft uns nicht weiter, denn wer ist heute schon an
«Weisheit» interessiert? Dieses altväterliche Wort verdeckt, was ursprüng-
lich mit ‹sophía› gemeint war – ein Wissen und Können jeder Art, das sich
von den vertrauten Fertigkeiten des Alltags abhob und das wir besser mit
‹Bildung› im umfassenden Sinn wiedergeben sollten. In diesem Sinn lässt
Thukydides den Perikles in einer Rede sagen: «Wir lieben das Schöne (philo-
kaloûmen), ohne verschwenderisch zu sein, und wir streben nach Bildung
(philosophoûmen), ohne zu verweichlichen.»1 Hier wird deutlich, dass schon
im klassischen Griechenland die Bildung unter Rechtfertigungsdruck stand,
denn sie schien ja den traditionellen sportlichen und militärischen Tugen-
den des «harten» Mannes entgegenzustehen. Die erste terminologische Fest-
legung der Philosophie erfolgte durch Platon. Seine Gegner waren die So-
phisten, also Männer, die mit dem Anspruch auftraten, über eine bestimmte
sophía zu verfügen und sie gegen Geld verkaufen zu können. Dabei handelte
es sich vor allem um die sophía der Redekunst, die einem die Chance er-
öffnen sollte, seine Angelegenheiten vor der Volksversammlung oder vor
Gericht besonders effektiv vertreten zu können. Von seinem Lehrer Sokrates
hatte Platon gelernt, dass derjenige, der um die Grenzen seines Wissens weiß,
weiser ist als der vermeintliche Weise, der unkritisch auf seinem Wissen
besteht, und so lässt Platon den Sokrates sagen: «Jemanden einen Weisen
(sophós) zu nennen dünkt mich etwas Großes zu sein und nur Gott zu ge-
bühren; aber einen Freund der Weisheit (philósophos) oder dergleichen etwas
möchte ihm selbst angemessener zu sein und schicklicher.»2
Dieses sokratische Element wurde durch Aristoteles in den Hintergrund
gedrängt, denn bei ihm ist philosophía dasselbe wie Wissenschaft im Sinne
des begründeten und im Idealfall bewiesenen Wissens. Diese Gleichsetzung
blieb in unserer Tradition bis ins frühe 19. Jahrhundert verbindlich; so ließ
Isaac Newton sein physikalisches Hauptwerk 1687 unter dem Titel Philoso-
phiae naturalis principia mathematica erscheinen, und im 18. Jahrhundert
gab es in Frankreich sogar eine «Philosophie der Fische». Dem wurde seit
der frühen Neuzeit (Descartes) die Forderung nach vollständiger Begrün-
dung hinzugefügt, die nur in einem System möglich sei, wobei meist die
Euklidische Geometrie als methodisches Vorbild diente. So formuliert auch
folgte ihm darin, denn man war davon überzeugt, dass nur die Vorstellungen
und Wahrheiten, die nicht aus der wechselhaften Erfahrung stammen, also
a priori sind, dazu geeignet seien, Philosophie als Wissenschaft im streng
systematischen Sinn zu begründen.
Auch Kant hielt daran fest, aber er versuchte angesichts des mächtigen
Anwachsens der empirischen Forschung im 18. Jahrhundert, durch das die
uns vertrauten «Einzelwissenschaften» entstanden, die traditionelle Einheit
von Philosophie und Wissenschaft durch einen salomonischen Schieds-
spruch zu retten: «Alle Philosophie […] ist entweder Erkenntnis aus rei-
ner [erfahrungsunabhängiger – H. S.] Vernunft, oder Vernunfterkenntnis
aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische
Philosophie.»6 Aber dieses Angebot blieb ohne Folgen. Kant selbst hatte
gelehrt, dass die Empirie keine Prinzipien im strikten Wortsinn bereitzustel-
len vermag, und deswegen könne es in diesem Bereich auch keine Vernunft-
erkenntnis geben, die diesen Namen verdient. Die Empiriker aller Fächer
hingegen verzichteten gern darauf, denn ihnen war weniger an systemati-
scher Begründung als an innovativer Forschung gelegen. Zudem hatten sie
für die Bezeichnung ihres wissenschaftlichen Tuns als ‹Philosophie› keine
Verwendung mehr und überließen sie gern denjenigen Kollegen, die mein-
ten, über Erkenntnisse aus reiner, d. h. erfahrungsunabhängiger Vernunft zu
verfügen. ‹Empirische Philosophie› erschien jetzt wie ein hölzernes Eisen,
während die «reine» Philosophie, die im Deutschen Idealismus und den
Systemen des heute vergessenen Spätidealismus des 19. Jahrhunderts noch
einmal auflebte, zunehmend ins wissenschaftliche Abseits geriet und sich
immer nachhaltiger fragen lassen musste, was sie denn überhaupt noch mit
Wissenschaft zu tun habe. Nimmt man hinzu, dass noch für Kant die «reine»
Philosophie dasselbe war wie die Metaphysik, die seit eh und je als die erste
und höchste Form der Wissenschaft galt, so versteht man auch, warum das
Wort ‹Metaphysik› inzwischen wenn nicht gerade zu einem Schimpfwort, so
doch zur Bezeichnung eines unklaren, intellektuell verdächtigen oder irratio-
nalen Denkens degenerierte.
So geriet die Philosophie in eine Identitätskrise, aus der sie sich bis in un-
sere Tage nicht wirklich zu befreien vermochte. Ihr wissenschaftshistorischer
Hintergrund ist der Übergang von der traditionellen Systemwissenschaft auf
der Grundlage sicherer Prinzipien zur modernen Forschungswissenschaft,
die sich demgegenüber durch Methoden und Standards definiert. Für Letzt-
begründungen durch erfahrungsunabhängige Prinzipien war da kein Raum
mehr, und damit verlor die Philosophie auch die Definitionsmacht über das,
was Wissenschaft sei und was nicht. Diese Autorität hatte sich vor allen an-
deren Hegel noch einmal angemaßt, wobei seine herablassenden und manch-
mal verächtlichen Äußerungen über die jungen Forschungswissenschaften
schließlich nur zur allgemeinen Philosophieverachtung im 19. Jahrhundert
beitrugen. Was sollte nun aus der Philosophie werden? Es gab verschie-
dene Auswege. Zunächst lag es nahe, nach Anna Freuds Modell der «Identi-
fikation mit dem Angreifer» gänzlich zur Gegenseite überzulaufen und zu
behaupten, dass die moderne Wissenschaft alle unsere Fragen beantworten
könne und wir deswegen die Philosophie nicht mehr benötigten. Wollte man
gleichwohl Philosoph bleiben, konnte man sich dem neuen Wissenschafts-
konzept fügen und auch in der Philosophie vom System zur Forschung über-
gehen. Dann konnte man versuchen, sich in ein komplementäres Verhältnis
zur Forschungswissenschaft zu setzen, ohne mit ihr im Einzelnen zu konkur-
rieren. Ferner war es auch möglich, für die Philosophie einen aparten Gegen-
standsbereich zu reklamieren, um sich in ihm als selbstständige Wissenschaft
neu zu formieren. Schließlich bot sich an, den Anspruch der Wissenschaft-
lichkeit überhaupt fallen zu lassen, den Anschluss an die Literatur zu suchen,
um dort philosophisch eigene Wege zu gehen.
Dass die Philosophie überflüssig sei, weil wir doch die Wissenschaften
hätten, war um die Mitte des 19. Jahrhunderts die herrschende Meinung,
und sie wurde seither in immer neuen Varianten vertreten. Natürlich ist auch
das eine philosophische Überzeugung, die man Naturalismus nennt, und die
sicher ist, dass naturwissenschaftliche Methoden ausreichen, um alle traditio-
nellen philosophischen Fragen zu beantworten. So wird auch heute noch ver-
treten, dass die Evolutionsbiologie genüge, um sämtliche Rätsel des mensch-
lichen Erkennens und Handelns aufzulösen.7 Lange Zeit galt auch empirische
Psychologie als ein solches Wundermittel.8 Seit Neuestem erleben wir die
Neurophysiologie in dieser Rolle, die das, was auf ihren Bildschirmen be-
obachtet wird, für die definitive Klärung dessen hält, was tatsächlich bei
unserem Erkennen und Handeln abläuft; da ist es kein Wunder, dass nicht
nur die Willensfreiheit, sondern auch die Ideen von Verantwortung, Lob und
Tadel auf der Strecke bleiben.
9 Einschlägig sind hier die Werke der von Marx und Engels als «Vulgärmateria-
listen» bezeichneten Autoren Ludwig Büchner, Vogt und Moleschott, aber auch
das in zahlreichen Auflagen erschienene Buch Die Welträtsel von Ernst Haeckel
(1899).
Was ist Philosophie? 17
11 Vgl. dazu meine Streitschrift: Morbus hermeneuticus. – Thesen über eine philo-
sophische Krankheit, in H. S.: Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhand-
lungen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987) S. 279ff.
Was ist Philosophie? 19
‹Philosophie› ist ein Plural. Was gegenwärtig unter diesem Titel betrieben
wird, reicht von der kritischen Edition philosophischer Texte und deren In-
terpretation über die System-, Ideen- und Begriffsgeschichte sowie die viel-
gestaltige Problemdiskussion bis hin zur Publizistik in den Feuilletons und
konkreten Lebensberatung in der «Philosophischen Praxis». Das alles wird
‹Philosophie› genannt und hat seine eigene Berechtigung. In dieser Situa-
tion sind Alleinvertretungsansprüche unangebracht. Die Zeiten, in denen die
unentbehrlichen geisteswissenschaftlichen Anteile der Philosophie – also
das Historisch-hermeneutische – als Maßstab der Wissenschaftlichkeit von
Philosophie überhaupt galten, sind vorbei. Umgekehrt lässt sich das rein
komplementäre Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft schon des-
wegen nicht mehr aufrechterhalten, weil es da an klaren Trennlinien fehlt,13
und deswegen können die herkömmliche Analytische Philosophie und die
Wissenschaftstheorie, die lange Zeit die Wissenschaftlichkeit der Philoso-
phie für sich gepachtet zu haben schien, nicht den gesamten philosophischen
Problembereich abdecken. Die Philosophen sind andererseits gut beraten,
wenn sie sich nicht gegen die Einsichten der Wissenschaften abschotten und
zudem Impulse aus der literarischen Produktion aufnehmen. Hinzu kommen
die wachsenden Ansprüche der Öffentlichkeit an die Philosophie. Das philo-
sophische Interesse hat in den letzten Jahrzehnten ständig zugenommen, vor
allem in der Politikberatung, und hier sollten sich die Beteiligten daran erin-
nern, dass die Philosophie niemals nur ein «Orchideenfach» war, für das es
heute vielfach gehalten wird. Seit ihren Anfängen war sie ein wesentlicher
Motor der europäischen Aufklärung und eine Produktivkraft der Leitideen,
an denen sich unsere moderne Welt immer noch orientiert. Der Öffentlich-
keitsanspruch an die Philosophie ist freilich nicht problemlos, denn in un-
serer wissenschaftlichen Zivilisation findet nur das Gehör, was hieb- und
stichfest ist, also nach wissenschaftlichen Standards überprüft werden kann.
Deswegen müssen die Philosophen ihr Fach eben auch als Wissenschaft
betreiben und dort ihren speziellen und häufig schwierigen Untersuchungen
nachgehen, denn nur dann haben sie zu den drängenden Fragen der Zeit
etwas zu sagen, was Gewicht und Bestand hat. Die ihrem demokratischen
Auftrag verpflichtete Philosophie muss somit im Spannungsfeld zwischen
Wissenschaft und Aufklärung operieren, und wenn sie dies verlässt, droht
entweder die folgenlose Spezialisierung in einer intellektuellen Subkultur
13 Vgl. Willard Van Orman Quine: Two dogmas of empiricism (1951), jetzt deutsch
in ders.: Von einem logischen Standpunkt, übers. von P. Bosch (Frankfurt a. M.,
Berlin, Wien: Ullstein, 1979).
22 Herbert Schnädelbach
oder das unverbindliche Geschwätz, das den allgemeinen bullshit14 nur noch
vermehrt.
Um den Kernbereich der Philosophie abzustecken, muss man versuchen,
das Besondere und Eigene der Tätigkeit zu bestimmen, die man ‹Philoso-
phieren› nennt. Es handelt sich dabei um eine besondere Art des Denkens,
um Nachdenken, und so kann die Philosophie als eine Kultur der Nachdenk-
lichkeit gelten. ‹Nachdenken› meint dabei, dass wir dabei unseren Gedanken
hinterherdenken, sie zum Thema machen, um sie zu klären, zu ordnen und
in größere Zusammenhänge einzuordnen. Das Nachdenken ist kein Privileg
der Philosophen, denn es geschieht unendlich oft auch im Alltag, und ohne
so etwas gäbe es auch keine Wissenschaft. Philosophisch wird dieses Nach-
denken, wo es grundsätzlich wird, und wir müssen grundsätzlich werden,
wenn wir die Übersicht verloren haben und bemerken, dass wir mit unse-
ren bisherigen Denkweisen in eine Sackgasse geraten sind. In diesem Sinn
sagt Ludwig Wittgenstein: «Ein philosophisches Problem hat die Form: «Ich
kenne mich nicht aus.»15 Hier mag man einwenden, die Konfusion könne
doch nicht der einzige Anlass für das Philosophieren sein, hatte es nicht
Platon und mit dem Staunen (thaumázein) beginnen lassen und Descartes
und seine Nachfolger mit dem Zweifel? Platon selbst beschreibt das Staunen
nicht als bloßes ästhetisches Fasziniertsein, sondern als einen Zustand des
Schwindels, ja der schmerzhaften Irritation,16 und die cartesianische Zwei-
felsmethode, die auch Kant befolgt, ist ja auch nichts anderes als eine Ant-
wort auf die Erfahrung, dass die Situation der Philosophie ausweglos ist,
wenn man so weiter macht wie bisher. Was somit das Philosophieren auf
den Weg bringt, sind unabweisbare gedankliche Orientierungsbedürfnisse,
die sich im Bereich des Nachdenkens über unsere Gedanken bemerkbar ma-
chen und uns nötigen, dieses Nachdenken mit anderen Mitteln und mit ver-
schärften Anforderungen fortzusetzen. Somit kann man das Philosophieren
verstehen als den Versuch gedanklicher Orientierung im Bereich der Grund-
sätze, die unsere gesamte Lebenspraxis bestimmen, also unseres Denkens,
Erkennens und Handelns.
Man mag einwenden, diese Bestimmung des Philosophierens als Nach-
denken über unsere Gedanken sei zu eng, und wo bleibe die Wirklichkeit.
Dazu ist zu sagen, dass es die Aufgabe der Wissenschaften ist, sich direkt der
14 Der Ausdruck von Harry G. Frankfurt als Titel seines Buches (Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2006).
15 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 123.
16 Vgl. Platon: Theätet, 155c und Menon, 80a.
Was ist Philosophie? 23
der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.»17 Kant zeigt dann, dass diese be-
rühmte Wahrheitsdefinition als Wahrheitskriterium gerade nicht geeignet ist,
weil dies auf einen Zirkel führt, denn man muss ja den Gegenstand schon
kennen, um entscheiden zu können, ob unsere Erkenntnis von ihm damit
übereinstimmt; also ist bei der Anwendung eines solchen Kriteriums, die
über wahr oder falsch entscheiden soll, Wahrheit schon vorausgesetzt. –
Wer meint, es genüge, etwas genau zu beschreiben, um daraus schließen zu
können, was zu tun sein, wechselt unmittelbar vom Deskriptiven ins Nor-
mative über und begeht den berühmten Naturalistischen Fehlschluss von
Sein auf Sollen. – Verbreitet ist auch die Überzeugung, man müsse, um die
Bedeutung von Wörtern zu klären, nur angeben, worauf sie sich beziehen,
d. h. die Bedeutung von ‹Baum› sei der Baum, und da brauche man doch
nur hinzusehen. Wo es aber nichts zu sehen gibt wie bei nicht mehr existie-
renden oder abstrakten Gegenständen hilft das nicht weiter, denn niemand
kann einfach auf Napoleon oder den Kapitalismus hinweisen. Die Erklärung
der Wortbedeutung durch Hinweis funktioniert also nur in vergleichsweise
wenigen Fällen. Das Hinweisen aber ist in der Regel mit Beschreibungen
verbunden, und so kann man jene simple Bedeutungstheorie auf die Ver-
mengung des explikativen mit dem deskriptiven Diskurs zurückführen. In
fast allen Fällen sind wir bei Begriffsexplikationen darauf angewiesen, die
Regeln anzugeben, denen wir beim Gebrauch der Begriffswörter folgen,
und so sagt Wittgenstein: «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch
in der Sprache.»18
Was Beobachter dessen, was Philosophen tun, nachhaltig zu irritieren
vermag, sind vor allem drei Besonderheiten: die enge Bindung an die Phi-
losophiegeschichte, das ungewöhnlich hohe Ausmaß des Vergessens und
Wiedererinnerns und die bemerkenswerte Konstanz einiger weniger The-
men. Beim Physikstudium kann man die Geschichte der Physik auf sich
beruhen lassen, aber in der Philosophie kommt man ohne deren Geschichte
nicht aus. – Bei den meisten Wissenschaften ist es selbstverständlich, dass
das neue Wissen auf dem älteren aufbaut, und so sagte Carl Friedrich von
Weizsäcker einmal, wer nicht wisse, was die Wissenschaft schon weiß, könne
sie auch nicht voranbringen. Die Philosophie bietet da ein gänzlich anderes
Bild. Natürlich kommt man dabei ohne ein bestimmtes Grundwissen nicht
aus, aber von einem kontinuierlichen Wissensfortschritt kann hier einfach
nicht die Rede sein. Vor allem das 20. Jahrhundert zeigt, wie im Diskurs der
19 Um ständige Eigenzitate zu vermeiden, nenne ich die Titel der Arbeiten, in denen
ich ausführlicher auf das Thema «Was ist Philosophie?» eingegangen bin: Re-
flexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie (Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp, 1977), zum Diskurs der Philosophie insbes. S. 135ff.; Philosophie in
Deutschland 1831-1933 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983), zur Situation der
Philosophie im 19. Jahrhundert insbes. S. 118ff.; Art. ‹Philosophie›, in Philo-
sophie. Ein Grundkurs, hg. von H. S., Ekkehard Martens (Reinbek: Rowohlt TB,
72004) S. 37ff.; Das Gespräch der Philosophie. Berliner Abschiedsvorlesung
G ERHARD S EEL
Wozu Philosophie?
Since the end of the 18th century philosophy has been going through an identity crisis
which threatens its very existence. This crisis is due to the emancipation of the em-
pirical sciences in the course of which philosophy has lost nearly all its traditional
objects. We first examine four traditional ways to overcome this crisis: (1.1) philoso-
phy as the all embracing universal science, (1.2) philosophy as a priori knowledge,
(1.3) philosophy as common sense, (1.4) philosophy as small talk. We show that these
conceptions have grave shortcomings and therefore are not convincing. Instead we
propose the following conception of philosophy: philosophy has to put and to answer
radical questions, questions that spring from the conditions of human existence itself.
We finally justify this conception by a reflection on the history of philosophy and an
analysis of the deep motivation of its founder, Socrates. This leads us to the insight
that to engage in moral philosophy is itself a moral duty.
einer wieder gewonnenen Gesundheit. Aber vielleicht täusche ich mich mit
dieser allzu negativen Diagnose. Ich sollte sie begründen.
Woran kann man erkennen, dass sich die Philosophie heute in einer
Autonomie- und Existenzkrise befindet? Es gibt zwei Aspekte, welche die
Autonomie und damit die Existenz einer Disziplin garantieren: 1. Die Diszi-
plin hat einen besonderen Gegenstand, den sie mit keiner anderen Disziplin
teilt. 2. Die Disziplin hat eine spezifische Methode zur Erforschung der Ge-
genstände. Leider ist es so, dass die Philosophie in beiden Hinsichten ihre
Eigenständigkeit zu verlieren droht.
1. Bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hat Wilhelm Windel-
band diagnostiziert, dass die Philosophie dabei war, ihre Gegenstände an die
aufkommenden Einzelwissenschaften zu verlieren.1 Er verglich die Philo-
sophie mit König Lear, der alles seinen Kindern vererbt hat und sich am Ende
als Bettler auf der Straße wieder fand.2 In der Tat war die Philosophie zur Zeit
des Aristoteles die alle Gegenstände erforschende universelle Wissenschaft.
Aber im Laufe der Philosophiegeschichte haben sich neue Disziplinen von
ihr emanzipiert und sie hat ihre Gegenstände an diese neuen Disziplinen
verloren. Das waren im Mittelalter die Theologie, die Rechtswissenschaften
und die Medizin, welche den Status eigenständiger Fakultäten hatten. Die
Philosophie war in die Artisten-Fakultät verbannt, der nur eine propädeuti-
sche Rolle zukam. In der Neuzeit emanzipierten sich dann zuerst die Na-
turwissenschaften und dann die Ökonomie, die Soziologie und zuletzt die
Psychologie von der Philosophie. Um es in einem anderen Bilde zu sagen,
die Philosophie ist die Mutter der Wissenschaften, aber ihre Töchter haben
sich eine nach der anderen von der Mutter emanzipiert und deren Besitz
unter sich aufgeteilt. So bleibt der Philosophie heute eigentlich kein eigener
Gegenstand mehr. Es ist so, als habe die Philosophie ihre Existenzberech-
tigung ihrem Charakter als Wissenschaft verdankt. Aber das tragische Re-
sultat ihrer Geschichte scheint zu sein, dass sie diesen Charakter und damit
ihre Existenzberechtigung verloren hat. Ihre Vorläufigkeit, von der ich oben
gesprochen habe, bestünde dann darin, das Entstehen der Wissenschaften
vorzubereiten, und das Endgültige, auf das hin die Philosophie überschritten
werden musste, wären dann die Wissenschaften.
Man hat dieser Konsequenz dadurch zu entgehen versucht, dass man der
Philosophie die Rolle einer alles Wissen vereinigenden Universaldisziplin
1 Wilhelm Windelband: Präludien: Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer
Geschichte (Tübingen: Mohr, 7/81921), Bd. 1, S. 1-54.
2 Ibid. S. 19.
32 Gerhard Seel
Am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit wurde die Philosophie
von den Rationalisten als Wissenschaft a priori nach dem Vorbild der Ma-
thematik verstanden. Diese Konzeption wird bei Spinoza am deutlichsten
durch seinen Anspruch ausgedrückt, die Metaphysik ‹more geometrico› zu
entwickeln. Dasselbe Konzept liegt in der so genannten ‹Schulphilosophie›
vor. In der Tat war die traditionelle Metaphysik überzeugt, die Unsterblich-
keit der Seele, die Kontingenz der Welt und die Existenz Gottes a priori be-
weisen zu können. Gemäß dieser Konzeption wird die Philosophie auf eine
Art Mathematik reduziert.
Bekanntlich hat Kant gegen dieses Konzept eingewandt, dass die Philo-
sophie – im Unterschied zur Mathematik – ihre Gegenstände nicht konstru-
iert. Diese sind ihr vielmehr – auf eine noch aufzuklärende Weise – vorge-
geben. Weiter hat Kant gezeigt, dass die Metaphysik, sofern sie in Anspruch
nimmt, über die Dinge an sich wissenschaftliche Aussagen zu machen, sich
in unauflösliche Widersprüche verwickelt oder ihr Beweisziel einfach nicht
erreicht. Die Kantische Kritik hat definitiv diese methodische Konzeption
der Philosophie obsolet gemacht.
Wozu Philosophie? 33
Schon zur Zeit des Rationalismus finden wir im – vor allem in England
entwickelten – Empirismus eine alternative Konzeption der Philosophie,
welche diese als eine empirische Wissenschaft begreift. Im 20. Jahrhundert
war es vor allem Quine, der einer solchen Auffassung von Philosophie das
Wort geredet hat. Dies hängt mit Quines ‹Holismus› zusammen, gemäß wel-
chem die Bedeutung eines wissenschaftlichen Satzes durch die Semantik der
Theorie, zu der er gehört, bestimmt wird und konsequenterweise eine em-
pirische Falsifikation immer die Theorie als ganze und nicht den einzelnen
wissenschaftlichen Satz trifft. Die Sätze der Logik und der Philosophie (als
allgemeinste Grundprinzipien einer Wissenschaft) sind dem gemäß eben-
falls Teil der ganzen Wissenschaft und sind als solche ebenfalls empirisch
falsifizierbar.
Diese Konzeption verkennt völlig, dass die Logik und die Wissenschafts-
theorie sich als Metatheorien auf einer anderen Ebene als die empirischen
Wissenschaften bewegen und daher ganz anderen Geltungskriterien unter-
liegen. Quine selbst kommt in seinem Spätwerk (The Pursuit of Truth) dieser
Einsicht nahe. Denn er erkennt (Prinzip der empirischen Indeterminiertheit),
dass eine Vielheit einander ausschließender Theorien mit der empirischen
Basis kompatibel sein kann. Die Entscheidung zwischen diesen Theorien
kann dann nicht mehr aufgrund von Experimenten getroffen werden, man
muss dazu vielmehr Kriterien wie Eleganz, Einfachheit etc. verwenden. Dies
gilt natürlich a fortiori von den Sätzen der Philosophie, welche ja – nach
Quine – die oberste Ebene jeder Theorie bilden.
sie eine erfolgreiche Praxis ermöglichen. Während die beiden ersten Kon-
zeptionen von einem Primat der Theorie ausgingen, geht diese dritte von
einem Primat der Praxis aus. Hier wird Philosophie also auf den ‹gesunden
Menschenverstand› reduziert.
Auch diese Konzeption verfehlt – nach meiner Meinung – das Eigen-
tümliche der Philosophie. Denn Philosophie hat nichts mit dem gesunden
Menschenverstand zu tun. Jeder hat wohl schon einmal gezweifelt, ob er vor
Verlassen der Wohnung den Gashahn geschlossen hat, das ist ein Zweifel des
gesunden Menschenverstands, aber wer zweifelt schon an der Realität der
Außenwelt, seines eigenen Körpers oder an der Geltung der Logik? Jeder
hat schon einmal in Zweifel gezogen, dass es in der konkreten Situation,
in der er sich befindet, verboten ist, zu lügen. Aber wer bezweifelt schon,
dass es überhaupt gültige Normen für unser Handeln gibt. Letzteres ist der
philosophische Zweifel. Aber die Philosophen machen noch verrücktere
Sachen, sie beschäftigen sich mit Sätzen, die wahr sind, wenn sie falsch
sind, und falsch, wenn sie wahr sind. Sie denken sich Mengen von Sätzen
aus, die einerseits evidenterweise wahr, aber andererseits nicht miteinander
kompatibel sind. Das stößt wohl kaum auf Verständnis beim ‹Mann auf der
Straße›. Philosophie kann also nicht die Verlängerung des gesunden Men-
schenverstandes sein. Um es auf grobe Weise zu sagen: «Common sense
philosophy makes no sense».
3 Rorty bezeichnet sich selbst als ‹psychological nominalist› und ‹global historicist›
(The Contingeny of Philosophical Problems: Michael Ayers on Locke, in ders.:
Truth and Progress [Cambridge: Cambridge University Press, 1998] S. 286).
Wozu Philosophie? 35
auf höchstem Niveau zu begreifen. Hier wird Philosophie also auf eine Art
Literatur reduziert.
Nach meiner Meinung verfehlt auch diese Auffassung das Wesen der
Philosophie. Denn die Philosophie kann die Suche nach Wahrheit und Gel-
tung nicht aufgeben. Philosophie kann und darf natürlich amüsant sein, aber
Philosophie ist nicht schöne Literatur, sie ist nicht Teil der ‹belles lettres›.
Nachdem ich gesagt habe, was Philosophie nicht ist, sollte ich nun sagen,
was sie meiner Meinung nach ist. Die Philosophie ist nach meiner Auffas-
sung ein völlig verrücktes Unternehmen. Sie stellt Fragen, die der gesunde
Menschenverstand nie stellen würde, radikale Fragen, die in der mensch-
lichen Existenz, in der ‹conditio humana› selbst verankert sind und die man
daher sich nicht ersparen kann zu stellen. Denn der Mensch ist ‹das Wesen,
dem es in seiner Existenz um den Sinn seiner Existenz geht›. Aber welche
sind diese radikalen Fragen?
Radikale Fragen sind Fragen nach den Fundamenten der Geltung mensch-
licher Theorie und Praxis. Man kann dies leicht an den vier Grundfragen
Kants erkennen:
(1) Was können wir wissen?
(2) Was sollen wir tun?
(3) Was dürfen wir hoffen?
(4) Was ist der Mensch?
Die ersten drei sind klarerweise Geltungsfragen, nur die dritte scheint auf den
ersten Blick eine ontologische Frage zu sein. In Wahrheit ist aber auch sie
eine Geltungsfrage.4 Denn das Wesen des Menschen erweist sich als Grund
der Geltungsansprüche, die an den Menschen gerichtet sind. Diesen Fragen
schließt sich eine Reihe weiterer Fragen an:
(5) (im Sinne der dritten Kritik) Was ist die legitime Quelle unseres Ver-
gnügens?
(6) Wie kann man die Herrschaft des Menschen über den Menschen recht-
fertigen?
(7) Was ist der Sinn des Unterschieds von Arbeiten und Feiern?
4 Auch Ernst Tugendhat versteht diese Frage in diesem Sinne. Deshalb hat er neu-
lich die so verstandene Anthropologie als ‹erste Philosophie› bezeichnet. Vgl.
ders.: Anthropologie statt Metaphysik (München: Beck, 2007) S. 34-54.
36 Gerhard Seel
und steht als solche unter dem skeptischen Verdacht, dass es darauf keine
Antwort gibt, und dass, sollte es eine solche geben, diese nicht begründet
werden kann. Es scheint so, als würden wir uns im Kreise drehen oder erneut
auf einen infiniten Regress zurückgeworfen werden. Denn nach der oben auf-
gestellten Forderung müssten wir uns zuerst der philosophischen Methode
versichern, um dann auf der Basis dieser Sicherheit die Frage nach der philo-
sophischen Methode zu beantworten. Aber die Situation des Philosophen ist
nicht so verzweifelt, wie der Skeptiker es gerne hätte. Die Philosophie muss
natürlich mit einem Vorschuss an Vertrauen in die Leistungsfähigkeit ihrer
Vorgehensweise starten, aber sie steht in der Pflicht, diese Leistungsfähig-
keit dann reflexiv auszuweisen, ihre Arbeit reflexiv einzuholen und deren
Ergebnisse so zu begründen. Das ist freilich ein Zirkel, aber dass er nicht
unbedingt viziös sein muss, werden wir noch sehen.
Ich will zunächst einmal schlicht beschreiben, was nach meiner Meinung
die richtige Vorgehensweise der Philosophie ist, und dann fragen, ob diese
Vorgehensweise Aussicht auf Erfolg hat.
These 1: Die Philosophie ist – das haben wir oben gezeigt – im Unter-
schied zur Mathematik gar keine Wissenschaft a priori, sie ist vielmehr,
schon um ihre Fragen formulieren zu können, auf empirische Fakten an-
gewiesen. So könnte Kant seine Frage nach den Bedingungen gültiger em-
pirischer Erkenntnis gar nicht stellen, wenn er nicht zunächst einmal einen
Begriff der empirischen Wissenschaft, ihrer Vorgehensweise und ihrer de
facto erhobenen Geltungsansprüche hätte. Diesen Vorbegriff kann er aber
nicht a priori besitzen, er muss ihn vielmehr aus der Erfahrung gewonnen
haben. Aber er belässt es natürlich nicht bei diesem Vorbegriff. Er nimmt die
skeptischen Einwände gegen die Geltungsansprüche der Wissenschaft ernst
und sucht nach einer Möglichkeit, diesen zu begegnen. Das Eigentümliche
seiner Vorgehensweise liegt also in der geltungstheoretischen oder – wie
Kant sagen würde – kritischen Fragestellung. Die Philosophie hat also eine
empirische Basis. Ich habe daher die Berührungsängste, die manche Philo-
sophen gegenüber den empirischen Wissenschaften haben, nie verstanden.
Allerdings haben die Phänomenologen das Angewiesensein der Philosophie
auf Beobachtbares und Beschreibbares missverstanden. Sie haben geglaubt,
die Philosophie selbst haben die Aufgabe, die Phänomene zu beschreiben,
und sie käme auf diese Weise «zu den Sachen selbst». In Wahrheit gewinnt
die Philosophie selbst keine empirischen Erkenntnisse, sie macht sich diese
lediglich zunutze. Das Entscheidende ist, dass die Philosophie mit Bezug auf
die gegebenen Phänomene ihre radikalen kritischen Fragen stellt, also auch
nach den Bedingungen der Möglichkeit derjenigen Wissenschaften fragt,
38 Gerhard Seel
denen sie die Phänomene verdankt. Aber wie stellt es die Philosophie an,
wenn es um die Beantwortung dieser Fragen geht?
These 2: Das erste, was die Philosophie zu leisten hat, um eine Beantwor-
tung der kritischen Fragen zu ermöglichen, ist eine Analyse der in diesen
Fragen involvierten Begriffe und Sätze. Obwohl diese Begriffe und Sätze
selbst durchaus einen empirischen Ursprung haben können, ist die Begriffs-
und Theoremanalyse ein apriorisches Geschäft. Es geht darum, die logischen
Relationen der Begriffe und Sätze zu bestimmen, die der Theoriebildung in
einem bestimmten Bereich zugrunde liegen. Zu diesem Zwecke muss die
Philosophie sich auch um die Entwicklung der logischen Instrumente küm-
mern, die eine solche Analyse erst möglich machen.
These 3: Es stellt sich bei dieser Arbeit jedoch heraus, dass es eine Mehr-
zahl einander ausschließender Begriffssysteme und Theorien gibt, ja dass
sogar verschiedene Logiken entwickelt werden können, die allesamt ihre
Berechtigung haben. Dies bringt die Philosophie in eine schwierige Situa-
tion. Während die empirischen Wissenschaften, wenn es darum geht, eine
Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorien herbeizuführen, Beobach-
tung und Experimente benutzen kann, stehen der Philosophie – wie wir oben
gesehen haben – diese Entscheidungskriterien nicht zur Verfügung. Um diese
Lücke zu schließen, hat die Philosophie seit Platon und Aristoteles zwei me-
thodische Tricks entwickelt: das Gedankenexperiment und die so genannten
‹transzendentalen Argumente›. Gedankenexperimente dienen dazu, kontra-
faktische Situationen zu konstruieren, die im Endeffekt mögliche Welten
konstituieren. Kümmert sich die empirische Wissenschaft um die Erkenntnis
der wirklichen Welt, so ist die Philosophie die Erkenntnis möglicher Welten
mittels des Gedankenexperiments. Gedankenexperimente und die Erkenntnis
möglicher Welten sind jedoch keine Zwecke in sich selbst. Sie dienen – in
Verbindung mit transzendentalen Argumenten – dazu, eine Entscheidung
zwischen alternativen philosophischen Positionen herbeizuführen.
These 4: Das wichtigste Instrument des Philosophen sind die so genann-
ten ‹transzendentalen Argumente›. Worum handelt es sich dabei? Transzen-
dentale Argumente dienen dazu, die obersten Prinzipien unseres Erkennens
und Handelns zu begründen. Daher haben sie bei der so genannten ‹Letzt-
begründungsdebatte› eine so große Rolle gespielt. Man darf sie jedoch nicht
– wie es Albert6 in dieser Debatte getan hat – mit dem üblichen deduktiven
Begründungsverfahren verwechseln. Es ist – wie schon Aristoteles gezeigt
hat – von vorneherein klar, dass man mit dem üblichen Begründungsverfah-
ren keine Letztbegründung oberster Prinzipien leisten kann. Versucht man
dies, gerät man entweder in einen infiniten Regress oder in einen Zirkel oder
man muss dogmatisch die Geltung der obersten Prinzipien einfach unter-
stellen. Transzendentale Argumente aber versuchen etwas ganz anderes. Sie
stellen den Skeptiker, welcher die Geltung der fraglichen Prinzipien leug-
net, vor die Wahl, entweder diese Prinzipien als gültig zu akzeptieren oder
auf eine ihm liebe theoretische Position, respektive eine ihm liebe Praxis
zu verzichten. Transzendentale Argumente zwingen also den Skeptiker,
einen Preis für seinen Skeptizismus zu zahlen. Es ist daher für den Erfolg
eines transzendentalen Arguments entscheidend, dass der zu zahlende Preis
wirklich hoch ist, so hoch, dass wir normalerweise nicht bereit sind, ihn zu
zahlen. Im Idealfall muss es sich um etwas handeln, auf das wir nicht ver-
zichten können. In der ‹transzendentalen Deduktion› der Kritik der reinen
Vernunft hat Kant den Skeptiker vor die Wahl gestellt, entweder die Geltung
der Kategorien zu akzeptieren oder auf den Anspruch der Geltung der em-
pirischen Wissenschaften zu verzichten. In analoger Weise habe ich zu zei-
gen versucht,7 dass derjenige, der leugnet, dass es gültige oberste praktische
Prinzipien gibt, auf die Praxis des Lobens und Tadelns verzichten muss, eine
Praxis, die unser tägliches soziales Leben allererst möglich macht.
Aber es scheint sogar einen höheren Preis für den Skeptizismus zu geben:
Selbstwiderspruch. In der Tat finden sich in der umfangreichen Literatur Ver-
suche zu zeigen, dass derjenige, der die Geltung bestimmter oberster Prin-
zipien leugnet, sich in einem Selbstwiderspruch bewegt. Mit Bezug darauf
hat K.-O. Apel die berühmte Formel geprägt: «Die obersten Prinzipien sind
ohne Zirkel nicht zu begründen, aber sie können auch ohne Selbstwider-
spruch nicht geleugnet werden».
Dabei kann der Selbstwiderspruch von zweierlei Art sein. Er kann ent-
weder ein Widerspruch zwischen den Sätzen sein, die der theoretische Geg-
ner behauptet, oder es kann sich um einen Widerspruch zwischen dem, was
der Gegner behauptet, und dem, was er tut, wenn er es behauptet, handeln.
Das letzte nennt K.-O. Apel8 einen ‹performativen Selbstwiderspruch›. Kri-
tisch ist dazu jedoch anzumerken, dass nur diejenigen, die bereits auf Ratio-
7 Gerhard Seel: Wie weit kann man den Naturalismus in der praktischen Philo-
sophie treiben? in Grazer philosophische Studien 57 (1999) S. 275-310.
8 Karl-Otto Apel: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte
einer transzendentalen Sprachpragmatik, in Sprache und Erkenntnis, hg. von
B. Kanitscheider (Innsbruck: Amoe, 1976) S. 55-82.
40 Gerhard Seel
nalität verpflichtet sind, den Selbstwiderspruch als einen Preis ansehen wer-
den, den sie nicht bereit sind zu zahlen. Ich habe daher die These vertreten,
das die Pflicht zur Rationalität die oberste theoretische und praktische Pflicht
eines vernünftigen Wesens ist, und dass man diese Pflicht – auch in einer
transzendentalen Argumentation – nicht rechtfertigen kann, ohne sie bereits
vorauszusetzen.9
Obwohl sich meine Konzeption der Philosophie deutlich von den vier
zuvor kritisierten Auffassungen unterscheidet, hat sie doch mit jeder etwas
gemein.
(1) Die Philosophie ist zwar keine Disziplin, die a priori ihre Gegenstände
konstruiert, aber sie kann auf apriorische Verfahren nicht völlig ver-
zichten. Dies zeigt sich vor allem bei der Begriffsanalyse und bei der
Entwicklung und Verwendung logischer Systeme. Auch die Gedanken-
experimente beruhen nicht ausschließlich auf empirischen Daten, son-
dern sind kontrafaktische – und d. h. apriorische – Konstrukte und auch
die transzendentalen Argumente enthalten apriorische Schritte.
(2) Die Philosophie ist zwar keine empirische Wissenschaft, wie Quine und
seine Anhänger behaupten. Aber da sie eine empirische Ausgangsbasis
für die Entwicklung ihre Fragestellungen benötigt, hat sie doch immer
ein empirisches Element. Somit hat meine Konzeption der Philosophie
mit der Quines die Betonung der Notwendigkeit einer empirischen Basis
gemein.
(3) Aber auch mit der common-sense-Philosophie und dem Pragmatismus
hat meine Konzeption etwas gemein. Auch ich bin der Auffassung, dass
die Philosophie einen ‹Sitz im Leben› haben muss, dass sie ihre wich-
tigsten Fragen aus der Einsicht in die Fraglichkeit der menschlichen
Existenz bezieht und dass daher die praktische Vernunft einen Primat
im Kreis der Gegenstände philosophischer Reflexion besitzt.
(4) Selbst mit den Postmodernen hat meine Konzeption der Philosophie
etwas gemein. Es ist das Ernstnehmen des Skeptizismus und die Über-
zeugung, dass es auf die letzten Fragen keine letzten Antworten geben
kann, die philosophischen Streitfragen also an einem bestimmten Punkte
der Reflexion unentschieden bleiben müssen.
Ich habe meine Konzeption der Philosophie umrissen und damit auch ge-
zeigt, wie die Philosophie aus ihrer gegenwärtigen Krise herauskommen
kann. Aber worauf gründet sich eigentlich meine Überzeugung, dass die
dargelegte Konzeption der Philosophie die richtige ist? Ich habe eingangs
bereits auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, denen jeder Versuch,
das Wesen der Philosophie zu ergründen, begegnet. Bernard Williams hat
angesichts dieser Schwierigkeiten den kühnen Ausspruch getan, die Philo-
sophie sei das, wovon die Philosophiegeschichte die Geschichte ist.10 Das
hört sich wie ein schlechter Witz an, aber Bernard Williams ist kein Mann
für schlechte Witze. Wir sollten also versuchen, seinen Ausspruch als ernst-
hafte These zu deuten. Könnte er nicht gemeint haben, dass unser Verständ-
nis von Philosophie den Status eines Vorurteils hat und dass wir dieses
Vorurteil notwendigerweise aus der Geschichte der Philosophie beziehen,
zu der unser eigenes Philosophieren unausweichlich gehört. So jedenfalls
würde Gadamer die Frage angegangen haben. Wenn mein eigenes Konzept
von Philosophie in diesem Sinne ein Vorurteil ist, dann liegt seine einzige
Rechtfertigungsquelle in der Geschichte der Philosophie. Nun kann nicht
bestritten werden, dass auch diejenigen Konzeptionen der Philosophie, die
ich oben kritisiert und zurückgewiesen habe, ihren Platz in der Philosophie-
geschichte haben. Wie kann ich dessen ungeachtet behaupten, meine Auf-
fassung sei durch die Philosophiegeschichte gerechtfertigt? Ich kann das
nur dann, wenn sich zeigen lässt, dass diese Auffassung einem privilegier-
ten Moment der Philosophiegeschichte entspricht. Ich meine das Leben und
Denken des historischen Sokrates, das man meist als die Geburtsstunde der
Philosophie ansieht.
Im Platonischen Symposion findet sich folgende Charakterisierung des
Sokrates:11
Wie aber dieser Mensch an Wunderlichkeit ist, er selbst und seine Reden, so
würde einer, auch wenn er noch so sehr suchte, niemanden finden, der ihm nahe
kommt, weder unter den Jetzigen noch unter den Alten, es sei denn, dass er ihn,
wie ich es tue, mit keinem Menschen, sondern mit Silenen und Satyrn vergleichen
würde, ihn und seine Reden.
Worauf beruht die Wunderlichkeit des Sokrates? Sokrates ist das gelebte
Paradoxon und dieses Paradoxon entspringt aus der Radikalität des Sokrati-
schen Fragens. Die Grundfrage des Sokrates lautet: πῶς βιωτέον? Wie soll
ich, wie sollen wir, wie soll man leben? Sokrates war überzeugt, dass die
Philosophie die Aufgabe hat, diese Frage zu beantworten, und dass derjenige,
der dieses Wissen besitzt, ein gutes Leben führen wird. ‹Wer weiß, was gut
ist, tut es auch›, so lautet seine erste intellektualistische Grundüberzeugung.
Die zweite damit zusammenhängende ist, dass Tugend lehrbar ist. Und so
machte er sich denn auf die Suche nach Tugendlehrern, nach Leuten also,
die über gültige Definitionen der Tugenden verfügen. Aber alle Definitionen,
die ihm vorgeschlagen werden, erweisen sich als falsch, er selbst widerlegt
sie mit Gegenbeispielen, aber er hat selbst auch keine Definition, die dem
Elenchus standhält. Das Einzige, was er den anderen voraus hat, ist, dass er
weiß, dass er nichts weiß. Deshalb allein bezeichnet das delphische Orakel
ihn als den weisesten aller Athener.
Sokrates ist überzeugt, dass das «ungeprüfte Leben nicht wert ist, gelebt
zu werden», wie es in der Apologie 12 heißt. Aber er verfügt nicht über die uni-
versellen Maßstäbe zur Prüfung des Lebens, die überkommenen Maßstäbe
verwirft er, neue kann er nicht finden. Er verzweifelt am Ideal universellen
praktischen Wissens, er muss sich mit Kasuistik begnügen. So geht er auf die
Straßen und Plätze Athens unermüdlich auf der Suche nach Gesprächspart-
nern, die ihm das Überprüfen ihres jeweiligen Lebens anvertrauen. Darüber
vernachlässigt er sein eigenes Leben und das Leben der Seinen. Sein Leben
erschöpft sich in der Überprüfung des Lebens. Er wird uns als herunter-
gekommene Figur, barfuss, in zerrissenen Kleidern geschildert, ein Gespött
für die Komödienschreiber. Und doch – ein weiteres Paradoxon – ist den
Herrschenden diese Spottfigur nicht geheuer. Sie sehen in der Radikalität
seines Fragens eine Gefahr für die etablierte Ordnung, für ihre Herrschaft.
Er wird vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Aber nicht zuletzt durch
seinen Tod wird er zum Vater der Philosophie, zum die Philosophiegeschichte
beherrschenden Beispiel des Philosophen. Sokrates Leben und Fragen ist die
Geburtsurkunde der Philosophie.
Das Widersprüchliche und Paradoxale, das wir in ‹Sokrates und seinen
Reden› angetroffen haben, erklärt, warum so unterschiedliche und entgegen-
gesetzte philosophische Strömungen wie der Hedonismus und der Asketis-
mus, der Dogmatismus und der Skeptizismus, der Absolutismus und der
Relativismus sich auf Sokrates berufen konnten. Für mein gegenwärtiges
Unternehmen ist wichtig, dass alle Momente meiner Konzeption der Philo-
sophie sich im Ansatz bereits bei Sokrates finden: der Ursprung des Fra-
gens in der existentiellen Situation des Menschen, sein ‹Sitz im Leben›, die
Interdependenz von Theorie und Praxis, der Primat der praktischen Philo-
sophie, die Radikalität des Fragens, die kritischen Wendung gegen das eigene
Unternehmen, die Unausweichlichkeit und Uneinlösbarkeit der Geltungs-
ansprüche, die Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit der Antworten.
4. Wozu Philosophie?
Nachdem ich meine Konzeption der Philosophie vorgestellt und sie als his-
torisches Vorurteil ausgewiesen habe, bleibt nun noch zu fragen, wozu ein
solch verrücktes Unternehmen gut sein soll. Die Antwort auf diese Frage
– wie könnte es anders sein – ist wiederum paradox: Der Nutzen der Philo-
sophie beruht auf ihrer Nutzlosigkeit. Nutzlos ist die Philosophie, wenn man
Nützlichkeit im Sinne der alltäglichen Interessen der Menschen auffasst.
Freilich bestreiten viele Philosophen diese Nutzlosigkeit. Sie meinen, der
Platz der Philosophie in den akademischen Institutionen und in der Gesell-
schaft überhaupt sei nur zu sichern, wenn man ihre Nützlichkeit nachweise.
Und so machen sie sich daran, zu zeigen, dass Wissenschaft nur möglich ist
dank der philosophischen Wissenschaftstheorie, dass man die Probleme der
Umwelt nur mittels philosophischer Einsichten bewältigen kann, dass es um
die Entwicklung der ‹dritten Welt› schlecht bestellt ist, weil die Leute nicht
genug Philosophie haben, dass unsere Ärzte sich nur dann moralisch richtig
verhalten, wenn sie durch philosophische Ethik belehrt sind. Von alledem
trifft nichts zu. Die Wissenschaft geht ihren Gang auch ohne Wissenschafts-
theorie, die Welt geht einer Umweltkatastrophe entgegen trotz Philosophie
und unsere Ärzte sollten nicht auf die Belehrung durch den Philosophen
warten, um einzusehen, dass man einen Patienten nicht wie ein Stück Fleisch
behandeln kann.
Damit will ich natürlich nicht bestreiten, dass die stürmische Entwick-
lung, die die angewandte Ethik – das was die Anglosachsen seltsamerweise
‹practical ethics› nennen – in den letzten Jahrzehnten genommen hat, eine
gute Sache ist. Ich möchte nur davor warnen, allein darauf und auf die allem
Anschein nach damit verbundene Nützlichkeit die Existenzberechtigung der
Philosophie gründen zu wollen. Die Existenzberechtigung der Philosophie
gründet sich tiefer, sie gründet sich in der Fraglichkeit der menschlichen Exis-
tenz selber. Wir kommen als endliche vernünftige Wesen gar nicht umhin,
44 Gerhard Seel
13 Robert Nozick: Anarchy, State and Utopia (New York: Basic Books, 1974)
S. 42-45.
Wozu Philosophie? 45
The paper discusses Sellars’s view of philosophy and its relation to the (natural)
sciences. It argues for three interrelated theses. First, philosophy has no specific
subject matter. Second, we ask ourselves questions which cannot be answered from
a purely scientific point of view. Third, philosophical standards are contingent, but
this does not mean that philosophy is to be abandoned.
Pace Sellars, the specific achievement of philosophy consists in «a view of the
whole», which enables us to «know our way around» with respect to the different
domains of expertise we are familiar with. Philosophy thus reflects a common sense
perspective of ourselves and the world we live in, which rests on the assumption that
we are obliged to regard ourselves, as well as those sharing our lives, as persons.
This in turn implies that our most basic ways of relating to the world (knowledge and
action) are governed by norms. Getting a view of the whole of man thus means that
we must regard ourselves both as participants of a norm-governed «Lebensform»
[lifeform] and as complex biological systems.
Philosophy and the sciences complement one another. Science aims at knowledge.
This aim cannot be properly understood within science itself, because science does
not concern itself with the normative perspective inherent in the very concept of
knowledge. Philosophy, in turn, cannot risk ignoring the results of the sciences, be-
cause their insights form an essential part of what we must take to be the whole of
the world that philosophy has in view. Even though philosophy should not aspire to
achieve a complete revolution of the norms and standards governing our attempts to
make sense of this world, it is nevertheless indispensable because it shows that these
norms themselves are always open to reflection and revision.
In der analytischen Debatte über die Frage, was Philosophie sei, werden vor
allem drei mögliche Antworten diskutiert: Die naturalistische Option (begin-
nend mit Quine) beruht auf der Erwartung, dass die Beantwortung der einst
zum Kanon der Philosophie zählenden Probleme im Rahmen der (Natur-)
Wissenschaften möglich sei.1 Die platonistische Option betrachtet die Philo-
sophie als Disziplin, der die Erforschung eines eigenen Gegenstandsbereichs
Philosoph, der entscheidet, was als existierend und was als nicht existierend
anzusehen ist.5
These 2 wendet sich gegen den Naturalismus: Wir kommen nicht umhin,
uns selbst und alle, mit denen wir unsere Lebensform teilen, im alltäglichen
Leben als Personen zu betrachten. Diese Perspektive kann innerhalb einer
reduktiv-naturalistischen Weltsicht nicht adäquat erfasst werden.
These 3 wendet sich gegen den Historismus: Auch wenn Philosophie
gerade aufgrund ihrer zur wissenschaftlichen Weltsicht komplementären Per-
spektive an eine geteilte Lebensform gebunden ist und Rorty im Hinblick
auf ihre Kontingenz also ohne weiteres zuzustimmen wäre, bleibt ihr jedoch
der Spielraum und die Verpflichtung, auf eine (wenngleich immer partielle)
Revision dieser jeweils geteilten Lebensform und der sie konstituierenden
Normen zu drängen.
Um uns in unserer Welt zurechtzufinden, sind wir auf ein – größtenteils nie
explizit geäußertes – Wissen über den Zusammenhang aller Aspekte unse-
res Lebens angewiesen, ein Wissen, wie ‹Dinge (im weitesten Verständnis
des Ausdrucks) miteinander zusammenhängen (im weitesten Verständnis
des Ausdrucks)‹.6 Eine (notwendigerweise unvollständige) Aufzählung sol-
cher Dinge findet sich in Sellars’ Philosophy and the Scientific Image of
Man: Philosophie behandelt Kohlköpfe und Könige, Zahlen, Pflichten, Mög-
lichkeiten, Fingerschnipsen, ästhetische Erfahrung und Tod. Mit anderen
Worten: «It is the ‹eye on the whole› which distinguishes the philosophical
enterprise.»7
Sellars zufolge generiert ein solcher «Blick auf das Ganze», die spezifi-
sche Leistung philosophischer Reflexion, kein Tatsachenwissen (knowing-
that), sondern ‹Orientierungswissen›: «To achieve success in philosophy
would be […] to ‹know one’s way around› with respect to all these things»8
5 Vgl. Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, in ders.: Science,
Perception and Reality, op. cit. S. 127-196 (im Folg. zit. als EPM), S. 173: «in the
dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all
things, of what is that it is, and of what is not that it is not».
6 PSIM S. 1.
7 PSIM S. 3.
8 PSIM S. 5.
50 Stefan Heßbrüggen-Walter
Denken ist für Sellars ein soziales Phänomen: «The essentially social char-
acter of conceptual thinking comes clearly to mind when we recognize
that there is no thinking apart from common standards of correctness and
relevance, which relate what I do think to what anyone ought to think.»15
Nur wenn ich meine Denkvollzüge zu dem ins Verhältnis setzen kann, was
innerhalb meiner epistemischen Gemeinschaft als denkbar gilt, ist mir Den-
ken überhaupt möglich. Ein Grund dafür ist, dass Begriffe nur innerhalb
von Sätzen verwendet werden können. Sinnvoller Gebrauch von Sätzen ist
12 Vgl. PSIM S. 16: «Yet somehow the world is the cause of the individual’s image
of the world, and, as is well-known, for centuries the dominant conception of the
perennial tradition was that of a direct causal influence of the world as intelligible
on the individual mind.»
13 Vgl. PSIM S. 39: «To think of a featherless biped as a person is to think of it as
a being with which one is bound up in a network of rights and duties. From this
point of view, the irreducibility of the personal is the irreducibility of the ‹ought›
to the ‹is›. But even more basic than this (though ultimately, as we shall see, the
two points coincide), is the fact that to think of a featherless biped as a person is to
construe its behaviour in terms of actual or potential membership in an embracing
group each member of which thinks of itself as a member of the group.»
14 Dies erlegt auch dem Philosophen die Pflicht auf, dem Anspruch der Wissen-
schaften auf ein Bild des ganzen Menschen Rechnung zu tragen, wie es sich aus
dem Methodenideal der Naturwissenschaften ergibt. Vgl. EPM S. 185: «What is
true – and this is a logical point – is that each special science dealing with some
aspect of the human organism operates within the frame of a certain regulative
ideal, the ideal of a coherent system in which the achievements of each special
science have an intelligible place.»
15 PSIM S. 16f.
52 Stefan Heßbrüggen-Walter
ohne die Kenntnis des Unterschiedes zwischen «wahr» und «falsch», also
Bewusstsein der Wahrheitsdifferenz jedoch nicht möglich: Die Fähigkeit,
Überzeugungen zu bilden und zu rechtfertigen, kann ich mir selbst und an-
deren überhaupt nur zubilligen, wenn ich zugleich ein geteiltes Verständnis
der Tatsache unterstelle, dass Überzeugungen wahr oder falsch sein können,
und die Fähigkeit, für diese wahren oder falschen Überzeugungen in einem
noch zu klärenden Sinn die Verantwortung zu übernehmen.16 Sellars folgt
der pragmatistischen Tradition darin, den Wahrheitsbegriff eng an den der
Rechtfertigung zu binden. Wahrheit besteht für ihn in letzter Instanz in der
Akzeptierbarkeit einer Behauptung innerhalb einer Sprachgemeinschaft und
relativ zu deren semantischen Regeln und Normen.17 Das bedeutet, dass ich
ein Begreifen der Wahrheitsdifferenz nur jenen zubilligen kann, die ver-
standen haben, was es heißt, den Normen und Regeln meiner epistemischen
bzw. linguistischen Gemeinschaft zu folgen.18 Sellars analysiert Normen
16 Vgl. EPM S. 145: «I pointed out above that when we use the word ‹see› as in ‹S
sees that the tree is green› we are not only ascribing a claim to the experience,
but endorsing it. It is this endorsement which Ryle has in mind when he refers
to seeing that something is thus and so as an achievement, and to ‹sees› as an
achievement word. I prefer to call it a ‹so it is› or ‹just so› word, for the root idea
is that of truth. To characterize S’s experience as a seeing is, in a suitably broad
sense – which I shall be concerned to explicate – to apply the semantical con-
cept of truth to that experience.» Inwiefern dieser Wahrheitsbegriff epistemisch
konnotiert ist, erläutert Sellars in Truth and ‹Correspondence›, in ders.: Science,
Perception and Reality, op. cit. S. 197-224.
17 Vgl. PSIM S. 39: «The most embracing community to which he belongs consists
of those with whom he can enter into meaningful discourse. The scope of the
embracing community is the scope of ‹we› in its most embracing non-metaphor-
ical use.»
18 Sellars bezeichnet diese seine Position auch als ‹psychological nominalism›, den
er wie folgt charakterisiert (EPM S. 161): «when we picture a child – or a carrier
of slabs – learning his first language, we, of course locate the language learner in
a structured logical space in which we are at home. Thus, we conceive of him as
a person (or, at least, a potential person) in a world of physical objects, coloured,
producing sounds, existing in Space and Time. But though it is we who are famil-
iar with this logical space, we run the danger, if we are not careful of picturing the
language learner as having ab initio some degree of awareness – ‹pre-analytic›,
limited and fragmentary though it may be – of this same logical space. We picture
his state as though it were rather like our own when placed in a strange forest on
a dark night.» Man beachte den Hinweis, dass es Sellars zufolge ein Fehler ist,
Kinder oder den (wohl Wittgenstein’schen) Träger von Steinen ohne weiteres als
(‹epistemische› oder ‹linguistische›) Personen anzusehen: Die bloße Fähigkeit,
Das Ganze im Blick 53
überhaupt als die von hinreichend vielen Mitgliedern einer Gruppe geteilten
und folglich kollektiven Absichten, die die jeweilige Gruppe überhaupt als
Gruppe konstituieren.19 Dies bedeutet aber nicht, dass jede solche konstitu-
tive Absicht von allen Mitgliedern der Gruppe geteilt werden muss. Vielmehr
können sowohl Fälle der Regelanwendung wie auch die geltenden Regeln
selbst der Kritik unterworfen werden (weswegen Sellars solche Normen auch
‹rules of criticism› nennt).
Sellars darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, als ob er
einer Analogie zwischen der Bildung von Überzeugungen und menschlichem
Handeln das Wort redete.20 Ein solches Missverständnis liegt deswegen nahe,
weil der Gedanke, die Bildung von Überzeugungen sei an Normen gebunden,
die Prämisse vorauszusetzen scheint, dass wir die Bildung von Überzeugun-
gen unmittelbar willentlich beeinflussen können. Diese Auffassung wäre
höchst kontraintuitiv und wird von Sellars so auch nicht vertreten. Vielmehr
unterscheidet er Normen des Handelns und so genannten «Zustandsnormen».
Solche Zustandsnormen (Sellars nennt sie aus Gründen, die ich noch ausfüh-
ren werde, rules of criticism) beziehen sich nicht auf konkrete vorgeschrie-
bene, erlaubte oder verbotene Handlungsvollzüge. Sie zeichnen vielmehr
einen Zustand der Welt als wünschenswert oder nicht wünschenswert aus.21
auf sprachliche Reize mit regelkonformen Reaktionen zu antworten, ist für die
Zuschreibung des Personstatus nicht zureichend. Erst ein Sprecher, der sich selbst
in der Struktur des in seiner Gemeinschaft gültigen ‹logical space of reason›
orientieren kann, kann als epistemische oder linguistische Person gelten.
19 So schon in PSIM S. 39f: «Now, the fundamental principles of a community,
which define what is ‹correct› or ‹incorrect›, ‹right› or ‹wrong›, ‹done› or ‹not
done›, are the most general common intentions of that community with respect
to the behaviour of members of the group. It follows that to recognize a feather-
less biped or dolphin or Martian as a person requires that one think thoughts of
the form, ‹We (one) shall do (or abstain from doing) actions of kind A in circum-
stances of kind C›. To think thoughts of this kind is not to classify or explain, but
to rehearse an intention.»
20 Vgl. EPM S. 166: «In other words, it [sc. the present line of thought] interprets
the correctness of Konstatierungen as analogous to the rightness of actions. Let
me emphasize, however, that not all ought is ought to be, nor all correctness the
correctness of actions.»
21 Vgl. etwa Wilfrid Sellars: Science and Metaphysics (London: Routledge & Paul,
1968) S. 75: «My present concern, however, is the vital distinction between rules
for doing and rules for criticizing. The distinction is essentially akin to that which
has been drawn between ‹ought to do› an ‹ought to be›. Thus the two kinds of rule
are internally related in a way which parallels the fact that ought-to-be’s imply
(with additional premises) ought-to-do’s, and ought-to-do’s imply ought-to-be’s.»
54 Stefan Heßbrüggen-Walter
Sie implizieren überdies, dass die von der Norm Betroffenen auf die Existenz
oder Nichtexistenz des jeweiligen Zustands hinzuwirken haben.22 So kann
man es z. B. als Zustandsnorm begreifen, dass existierende Ungleichheiten
in der Verteilung des globalen Reichtums beseitigt werden sollen, ohne dass
durch die Norm als solche konkrete Handlungswege zur Veränderung der
globalen Güterverteilung vorgeschrieben wären.
Auch semantische bzw. epistemische Normen sind nach Sellars solche
Zustandsregeln. Sie zeichnen also bestimmte Dispositionen zu linguisti-
schem Verhalten oder epistemischen Einstellungen (verstanden als Zustände
der Welt) als im Sinne der jeweiligen Gemeinschaft wünschenswert aus,
ohne aber konkrete Handlungsvollzüge zum Erreichen solcher Dispositionen
vorzuschreiben.23
Wenn aber der Erwerb oder die Artikulation von Wissen derart an Nor-
men gebunden sind, ist das Phänomen des Wissens selbst innerhalb einer rein
wissenschaftlichen Weltsicht nicht adäquat zu erfassen. Denn Wissen beruht
dann nicht allein darauf, dass wir uns in bestimmten genauer zu charakteri-
sierenden neuronalen Zuständen oder Zusammenhängen sozialer Interaktion
befinden, sondern darauf, dass wir uns wie auch unser Gegenüber als Person
und damit als ‹wissensfähig› anerkennen.24
Da es zudem kaum strittig sein dürfte, dass der Erwerb von Wissen das
letzte Ziel wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen darstellt, bedeutet
dies, dass Wissenschaft zwar sich selbst (etwa in der Wissenschaftssozio-
logie oder Wissenschaftsgeschichte) wissenschaftlich reflektieren kann, dass
aber dasjenige, was Wittgenstein ihren ‹Witz› nennen würde, innerhalb einer
wissenschaftlichen Theorie (auch in einer wissenschaftlichen Theorie über
22 Vgl. ibid. S. 184: «There are also intentions that something be the case. The latter,
however, are intentions, practical commitments, only by virtue of their conceptual
tie with intentions to do.»
23 Vgl. ibid. S. 76: «To use a hackneyed example, one ought to feel gratitude for
benefits received though feeling grateful is not something which one does, save
in that broad sense in which anything expressed by a verb in the active voice
is a doing. […] One ought, however, to criticize (an action proper) oneself for
not feeling gratitude and to take steps (again an action proper) to improve one’s
character.»
24 Dies ist die tiefere Bedeutung jener klassisch gewordenen Bemerkung aus EPM,
nach der wir uns bei jeder Verwendung des Wissensbegriffs im ‹logischen Raum
der Gründe› bewegen. Vgl. EPM S. 169: «The essential point is that in charac-
terizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical
description of that episode or state; we are placing it in the logical space of rea-
sons, or justifying and being able to justify what one says.»
Das Ganze im Blick 55
Wissenschaft) nicht angemessen auf den Punkt gebracht werden kann. Die
Verteidigung wissenschaftlicher Einsichten in lebensweltlichen Zusammen-
hängen z. B. kann sich, wenn diese Argumentation triftig ist, nicht allein auf
eine naturgegebene Autorität des wissenschaftlichen Tuns berufen, sondern
muss die dieser Tätigkeit zugrundeliegenden normativen Setzungen genauso
transparent machen, wie dies für andere lebensweltliche Akteure auch zu
fordern ist.
Umgekehrt kann unsere lebensweltliche Perspektive die Einsichten der
Wissenschaft nicht zur Gänze ausblenden: Ein lebensweltliches Verständ-
nis unserer Erde als einer Scheibe wäre in unserer epistemischen Umwelt
kaum noch sinnvoll zu verteidigen und gilt zweifelsohne als kritikwürdig.
Diese Einschätzung ist unabhängig davon, ob es Handlungen des Kritisier-
ten waren, die zu dieser Überzeugung geführt haben mögen und in welchem
Ausmaß diese Handlungen zurechenbar sind. Eine ähnliche Struktur be-
stimmt auch schon den Erwerb linguistischer Fähigkeiten: Ein Kind, das eine
Sprache erlernt, wird bei linguistischem Verhalten, das von der Norm der
jeweiligen Sprachgemeinschaft abweicht, nicht kritisiert, weil sein Verhal-
ten als willentliches Versagen (und also als Verstoß gegen eine Handlungs-
norm) anzusehen wäre, sondern weil Verstöße gegen linguistische Normen
innerhalb der jeweiligen Gruppe als nicht wünschenswert angesehen werden.
Epistemische Kritik muss also nicht durch den Nachweis gestützt werden,
dass die Handlungen, die zum Erwerb einer falschen Überzeugung führten,
für sich genommen unseren epistemischen Standards zuwiderlaufen.
Epistemische Kritik in diesem Sinne muss nun aber nicht bloß bestimmte
Überzeugungen o. Ä. betreffen, sondern kann sich auch auf die die Zulässig-
keit dieser Überzeugungen regulierenden Normen selbst beziehen. Absichten
sind nun jedoch genauso Bestandteil der Welt wie alle anderen denkbaren
Zustände von Menschen. Folglich kann sich epistemische Kritik auch auf
diese Normen als kollektive Absichten der Mitglieder einer bestimmten epi-
stemischen Gruppe beziehen, weil es sich auch bei diesen Absichten um
einen wünschenswerten oder abzulehnenden Zustand der Welt hindern kann.
Sellars ist also auf keinen ‹sozialen Naturalismus› festgelegt, der sich eta-
blierende Praxen als gegeben hinzunehmen hätte.
Sellars geht davon aus, dass es uns gelingen müsse, in the long run eine
synoptische Zusammenschau beider Perspektiven zu erreichen, die die Be-
schränktheit des jeweiligen Standpunkts aufhebt.25 Eine solche Erwartung
übersieht jedoch die Tatsache, dass faktisch eine solche Vermittlung beider
Perspektiven immer schon stattfindet. Denn auch Hirnforscher und Teilchen-
physiker führen ein Leben, das nicht zur Gänze in der wissenschaftlichen
Weltsicht aufgeht. Umgekehrt beeinflusst auch die Wissenschaft die episte-
mischen Normen unseres Alltagsverständnisses.
Ein naturalistisches Verständnis der Aufgabe der Philosophie würde dem
Philosophen in dieser Situation die Aufgabe zuschreiben, der Dominanz der
wissenschaftlichen Perspektive den Weg dadurch den Weg zu bereiten, dass
die Wahl dieses Standpunktes als anderen Optionen überlegen ausgewie-
sen wird. Ein historistisches Verständnis der Philosophie würde darauf ver-
weisen, dass auch die wissenschaftliche Perspektive nur eine Perspektive
darstellt, die sich insofern den kontingent sich einstellenden Formen außer-
wissenschaftlichen Orientierungswissens unterzuordnen habe, weil nur letz-
tere sich unter dem Strich als lebensweltlich relevant herausstellen.
Eine auf dem Eigenrecht philosophischer Reflexion beharrende Alter-
native könnte demgegenüber darauf beharren, dass die Wahl, vor der wir
hier stehen, nicht in der Einnahme des einen oder des anderen Standpunkts
besteht, sondern ‹wir› uns immer neu darauf zu verständigen haben, wie wir
in der Spannung beider Perspektiven zu leben haben. Philosophische Re-
flexion kann diesen Ort jenseits der zwei alternativen Perspektiven deswegen
besetzen, weil sie weder die Beobachterperspektive der Wissenschaft, noch
die Teilnehmerperspektive personaler Anerkennung absolut setzt, sondern
vielmehr beständig zwischen beiden Perspektiven oszilliert und die jeweils
neu auf dem Spiel stehende Synthese beider Perspektiven dadurch bewerk-
stelligt, dass sie argumentativ gestützt den Spielraum auslotet, der uns zwi-
schen beiden Weltsichten bleibt.26
Eine solche Sicht der Philosophie und ihrer Aufgabe ist dadurch vor
einem unreflektierten Platonismus gefeit, dass sie sich immer der Begrenzt-
heit und Kontingenz ihrer eigenen Standards und ihrer Bindung an unser
immer schon vorhandenes Orientierungswissen bewusst bleibt. Die Bindung
an epistemische Normen trifft auch den Philosophen, der in eine Sprache
hineinsozialisiert sowie in bestimmten Traditionen geschult worden ist. Eine
voraussetzungslose Totalrevision unseres Selbst- und Weltverständnisses ist
also schon aus begrifflichen Gründen unmöglich – denn auch ein Philosoph
kann auf die Benutzung einer Sprache nicht verzichten und somit von der
damit einhergehenden Bindung seines Denkens an einen historisch entstan-
denen ‹Horizont› nicht zur Gänze absehen.27 Einsichten der Philosophie sind
also nur eine Stimme im vielfältigen Diskurs, den wir in vielerlei sozialen
Zusammenhängen über das «Ganze» führen. Ihre Stimme verdient es jedoch,
Gehör zu finden: Sie spiegelt den Prozess der Selbstverständigung einer die
Formen ihres jeweiligen Lebens immer neu aushandelnden Gesellschaft und
macht explizit, wie das Ganze zu denken wäre, ohne den Anspruch zu ver-
treten, es je zur Gänze erfasst zu haben.28
senschaftlichen Weltbildes ist jedoch – dies ist von zentraler Bedeutung für ein
richtiges Verständnis von Sellars – kein fait accompli, sondern beruht ihrerseits
auf einer normativen Entscheidung, der ‹wir› nicht verpflichtet sind zu folgen.
27 Somit gilt auch für die Philosophie dieselbe Einschränkung, die Sellars in EPM
S. 170 für empirisches Wissen im Allgemeinen wie auch für die Wissenschaft
im Besonderen festschreibt: «For empirical knowledge, like its sophisticated ex-
tension, science, is rational, not because it has a foundation but because it is a
self-correcting enterprise which can put any claim in jeopardy, though not all at
once.»
28 Vgl. EPM S. 172: «the grand strategy of the philosophical enterprise is once again
directed towards that articulated and integrated vision of man-in-the-universe –
or, shall I say discourse-about-man-in-all-discourse – which has traditionally
been its goal.» Ihr immer neu anzustrebendes Ziel ist das Bild des Menschen als
«Man himself in the middle of his journey from the grunts and groans of the cave
to the subtle and polydimensional discourse of the drawing room, the laboratory,
and the study, the language of Henry and William James, of Einstein and of the
philosophers who, in their efforts to break out of discourse to an arché beyond
discourse, have provided the most curious dimension of all.»
Wissenschaft und Philosophie
Studia philosophica 66/2007
M ICHAEL E SFELD
La philosophie
comme métaphysique des sciences
The paper sketches out the conception of philosophy as metaphysics of science, seek-
ing to construct a complete and coherent view of the world including ourselves on the
basis of science. It goes into ontological commitments stemming from fundamental
physics, notably the ontology of structural realism, and it relates these issues to the
controversy between Humean metaphysics and a metaphysics of powers. The paper
agues that the ontological commitments called for by fundamental physics are not
sufficient to construct a complete and coherent view of the world; on the contrary,
we have to let commitments stemming from the special sciences exert an influence
on the ontology of fundamantal physics itself.
1. Introduction
explication, elle a des causes physiques, elle se conforme à des lois physi-
ques et elle possède une explication en termes physiques. Toutes les autres
sciences sont des sciences spéciales par contraste aux théories physiques
fondamentales et universelles, car leur domaine d’application est limité. Ces
théories requièrent en dernière analyse le recours à des causes, des lois et des
explications de la physique fondamentale.
Si l’on n’admettait pas ce principe de complétude, on contredirait des
résultats bien établis de la physique : on s’engagerait en ce cas à mainte-
nir que les théories physiques sont fausses ou inapplicables par rapport à
certains phénomènes microphysiques, car des causes, des lois et des expli-
cations non-physiques interviendraient dans ce domaine.1 Le principe de
complétude causale, nomologique et explicative du domaine physique est
une bonne raison pour soutenir le principe suivant de survenance globale :
chaque monde possible qui est un double du domaine physique fondamental
du monde réel est un double de tout ce qu’il y a dans le monde réel.2 Ces deux
principes aboutissent à un argument fort en faveur du réductionnisme onto-
logique, c’est-à-dire la thèse selon laquelle tout ce qu’il y a dans le monde
est identique à des occurrences de propriétés physiques fondamentales et
leurs configurations.3
Ce sont donc les mêmes entités au sens d’occurrences de propriétés qui
rendent vraies les descriptions de la physique fondamentale ainsi que les des-
criptions des sciences spéciales. Le réductionnisme ontologique implique dès
lors la possibilité principale de réduction des théories des sciences spéciales à
des théories de la physique fondamentale. Autrement, les théories des sciences
spéciales porteraient soit sur des entités qui ne sont pas identiques à des con-
figurations d’occurrences de propriétés physiques, soit elles se trouveraient
éliminées de notre système de savoir scientifique, ne possédant qu’une valeur
instrumentale. Christian Sachse a montré dans son article dans ce volume
comment on peut établir cette possibilité de réduction conservative des théo-
ries des sciences spéciales dans le but de revendiquer leur caractère indispen-
sable pour un système complet et cohérent de notre savoir. Dans les réflexions
qui suivent, je me base sur les résultats de l’article de Christian Sachse.
Le but de cet article est d’une part d’introduire le sujet d’une métaphy-
sique des sciences et d’esquisser des traits centraux d’une vision du monde
basée sur les sciences, et d’autre part d’engager une réflexion méthodologique
sur la possibilité de mettre en œuvre le critère de vision cohérente et complète
du monde pour construire une métaphysique au niveau des connaissances
actuelles. La thèse que je chercherai à établir sous cet aspect est la suivante :
si l’on se base uniquement sur les engagements ontologiques que demande la
physique fondamentale, on n’aboutira pas à une vision cohérente et complète
du monde. Bien au contraire, il faut permettre à des engagements ontologiques
provenant des sciences spéciales d’exercer une influence jusqu’à la métaphysi-
que de la physique fondamentale. En bref, bien que la physique fondamentale
ait une position privilégiée en métaphysique des sciences, il faut appliquer un
critère de cohérence qui tient compte de tout notre savoir scientifique afin de
mener à bien le projet mentionné. Dans la prochaine section, j’esquisserai des
engagements ontologiques qui proviennent de la physique fondamentale et
qui se laissent résumer dans la thèse de réalisme structurel. Dans la troisième
section, j’emploierai le thème d’une métaphysique humienne vs. une méta-
physique de pouvoirs pour établir la thèse méthodologique mentionnée.
2. Le réalisme structurel
4 Voir pour la discussion actuelle John Earman, John Norton : What price spacetime
substantivalism ? The hole story, in British Journal for the Philosophy of Science
38 (1987) pp. 515-525.
64 Michael Esfeld
de l’espace-temps ne sont rien que les points d’ancrage des relations métri-
ques. En ce qui concerne l’espace-temps, l’ontologie que suggère la relativité
générale est donc celle qui est connue comme réalisme structurel : il y a des
structures en guise de relations physiques concrètes, à savoir des relations
métriques. Les relations requièrent, bien sûr, des objets entre lesquels elles
existent. Pourtant, ces objets – en l’occurrence, les points de l’espace-temps –
ne sont rien d’autre que les points d’ancrage des relations, ne possédant pas
de propriétés intrinsèques au-delà des relations qui existent entre eux.5
Bien que le projet physique d’unir la relativité générale à la physique
quantique n’ait pas encore abouti, la physique quantique concorde avec la
théorie de la relativité générale dans la position philosophique de réalisme
structurel. La physique quantique décrit les états des systèmes physiques
comme étant intriqués (ou enchevêtrés). En bref, les états de plusieurs sys-
tèmes sont corrélés de manière à être des états de superposition de toutes
les valeurs possibles des propriétés quantiques des systèmes en question
au lieu d’être des états dans lesquels chaque système possède des valeurs
numériques définies de ses propriétés. Schrödinger a mis en évidence ce
que l’intrication quantique veut dire en concevant l’exemple d’un chat qui
est dans un état de superposition d’être vivant et d’être mort, état relatif à
un atome se trouvant dans un état de superposition de non-désintégration
et de désintégration. Le théorème de Bell et d’autres arguments montrent
qu’il est exclu que les relations d’intrication se basent sur des propriétés
intrinsèques des systèmes quantiques. En ce qui concerne la physique quan-
tique, au fond, la matière consiste en des relations d’intrication sans posséder
de propriétés intrinsèques ; les systèmes matériels ne sont rien que ce qui
porte ces relations, à savoir les points d’ancrage entre lesquels existent ces
relations.6
Si l’on se limite à une métaphysique des sciences qui se base unique-
ment sur les théories physiques fondamentales, on peut s’arrêter là. Prenant
le noyau du formalisme de la physique quantique comme point de départ,
l’interprétation la plus élégante consiste à accepter l’équation de Schrödinger
comme décrivant la dynamique complète des systèmes quantiques. Selon
5 Voir Michael Esfeld, Vincent Lam: Moderate structural realism about space-time, à
paraître in Synthese, prépublication Synthese online http://springerlink.metapress.
com/content/1573-0964. Voir également les références dans cet article.
6 Voir Michael Esfeld : Quantum entanglement and a metaphysics of relations, in
Studies in History and Philosophy of Modern Physics 35B (2004) pp. 601-617.
Voir également les références dans cet article.
La philosophie comme métaphysique des sciences 65
7 Voir notamment Giancarlo Ghirardi, Alberto Rimini & Tullio Weber : Unified
dynamics for microscopic and macroscopic systems, in Physical Review D34
66 Michael Esfeld
dans l’état actuel des recherches, toutes ces propositions rencontrent des
problèmes physiques.
Selon cette interprétation, la physique quantique en tant que théorie
physique fondamentale inclut une dynamique qui conçoit des processus de
dissolutions d’états intriqués. Cette théorie porte ainsi également sur des
propriétés possédant une valeur numérique définie, à savoir des propriétés
physiques classiques. S’il y a des processus de dissolution d’intrications
quantiques dans la nature, l’intrication universelle caractérise notamment
l’état – ou l’époque – initial de l’univers. Puis, il y a un développement qui
mène à des réductions d’état et ainsi à des systèmes quantiques qui possèdent
des propriétés dotées de valeurs numériques définies, notamment une posi-
tion bien définie. Rien n’empêche de regarder ces propriétés ensuite comme
des propriétés intrinsèques, à savoir des propriétés intrinsèques dérivées des
relations d’intrication qui sont primordiales. Sur cette base on peut ensuite
reconstruire le développement des systèmes physiques complexes comme
des molécules, des organismes et finalement des êtres humains.
En résumé, il y a un argument de cohérence de notre système de savoir
scientifique comme tout qui provient des sciences moins fondamentales que
la physique quantique et qui parle en faveur d’un certain type d’interpréta-
tion en physique quantique. Par conséquent, la description physique fonda-
mentale du monde à laquelle s’appliquent les principes de complétude et
de survenance mentionnés au début de l’article est une description qui ne
découle pas uniquement de la physique fondamentale en tant que telle, mais
qui inclut des critères d’interprétation de la physique fondamentale provenant
des sciences spéciales. On poursuivra ce thème dans la prochaine section.
3. La métaphysique humienne
vs. la métaphysique de pouvoirs
(1986) pp. 470-491. Voir également John S. Bell : Are there quantum jumps ?, in
Schrödinger. Centenary celebration of a polymath, éd. par C. W. Kilmister (Cam-
bridge : Cambridge University Press, 1987) pp. 41-52. Réimprimé in John S. Bell :
Speakable and unspeakable in quantum mechanics (Cambridge : Cambridge Uni-
versity Press, 1987) pp. 201-212.
La philosophie comme métaphysique des sciences 67
12 Voir notamment Sydney Shoemaker : Causality and properties, in Time and cause,
éd. par P. van Inwagen (Dordrecht : Reidel, 1980) pp. 109-135 (réimprimé in Syd-
ney Shoemaker : Identity, cause, and mind. Philosophical essays [Cambridge :
Cambridge University Press, 1984] pp. 206-233) ; John Heil : From an ontological
point of view (Oxford : Oxford University Press, 2003) ; Alexander Bird : Nature’s
metaphysics. Laws and properties (Oxford : Oxford University Press, 2007).
70 Michael Esfeld
bang ») doit être traitée comme fait primitif. Les pouvoirs instanciés à l’état
initial de l’univers sont en fin de compte la raison d’existence de toutes les
autres occurrences de propriétés dans le monde.
Y a-t-il des arguments qui peuvent trancher sur la controverse entre la
métaphysique humienne et la métaphysique de pouvoirs ? La métaphysique
humienne regarde les propriétés comme étant uniquement catégorielles. Par
conséquent, le humien doit être capable de caractériser les propriétés qu’il y a
dans le monde indépendamment des relations causales qui existent entre elles,
c’est-à-dire indépendamment de leurs effets. Pour une quelconque propriété
de type F, les relations causales dans lesquelles se trouvent les occurrences de
F varient d’un monde possible à l’autre, dépendant de tout ce qu’il y a dans
le monde en question. Il en va de même pour les lois dans lesquelles figure
F. Sur cette base, beaucoup d’adhérents à une métaphysique de pouvoirs
adressent l’objection suivante aux humiens : nous avons un accès cognitif à
n’importe quelle propriété physique F uniquement à travers les effets qu’ont
les occurrences de F. Autrement dit, nous pouvons caractériser F uniquement
en termes des effets qu’ont ses occurrences, à savoir comme la propriété
qui a les effets G, H, J, etc. Cette objection a été mise en avant par Sydney
Shoemaker en 1980 (op. cit.) et sert de base pour sa théorie causale des pro-
priétés qui est une version de la métaphysique de pouvoirs. Cette objection
a ensuite été développée notamment par rapport à la physique fondamentale,
soutenant que les théories physiques caractérisent les propriétés physiques
fondamentales en termes dispositionnels et non en termes catégoriels.13
Cette objection constitue un argument fort contre la métaphysique hu-
mienne, car celle-ci se voit comme métaphysique empiriste, répudiant la
reconnaissance de toute sorte d’entité au-delà de ce qui peut être caractérisé
en termes des sciences empiriques. Si les propriétés physiques fondamenta-
les étaient catégorielles et intrinsèques, nous ne pourrions pas les connaître
en tant que catégorielles et intrinsèques. Il n’y a dès lors aucune raison de
supposer que les propriétés physiques fondamentales sont catégorielles et
intrinsèques. Néanmoins, cette conclusion n’aboutit pas automatiquement à
une métaphysique de pouvoirs. Deux voies restent ouvertes : soit on main-
tient que les propriétés physiques sont intrinsèques, mais dispositionnelles
– c’est la voie que poursuivent Shoemaker et la version la plus répandue de
la métaphysique de pouvoirs –, soit on soutient que les propriétés physiques
sont catégorielles, mais non intrinsèques.
14 Voir Dennis Dieks : Possibilities, laws of nature and quantum mechanics, in The
controversial relationships between science and philosophy. A critical assessment,
éd. par G. Auletta (Cité du Vatican : Libreria Editrice Vaticana, 2006) pp. 191-209.
72 Michael Esfeld
15 Voir Stathis Psillos: What do powers do when they are not manifested ?, in Philo-
sophy and Phenomenological Research 72 (2006) pp. 137-156. Voir section 6.
La philosophie comme métaphysique des sciences 73
psychologie – regardent les propriétés dont elles traitent comme des propriétés
fonctionnelles. Par exemple, les gènes ainsi que les propriétés constituant les
processus cognitifs sont des propriétés fonctionnelles, étant définies notam-
ment par leurs effets caractéristiques. Tandis qu’en physique fondamentale,
toutes les descriptions en termes dispositionnels peuvent être remplacées par
des descriptions en termes structurels, catégoriels de la physique fondamentale,
il n’en est pas de même en sciences spéciales. Il n’est pas possible de rempla-
cer les descriptions fonctionnelles des sciences spéciales par des descriptions
catégorielles et structurelles équivalentes en termes des sciences spéciales.
Il n’y a pas de concepts structurels et catégoriels des sciences spéciales qui
peuvent prendre la place de leurs concepts fonctionnels et dispositionnels.
Cette observation n’exclut pas la possibilité de réduire les descriptions
des sciences spéciales en termes fonctionnels et dispositionnels à des des-
criptions de la physique fondamentale en termes structurels et catégoriels.
Cependant, le projet d’une telle réduction aboutit à une attitude éliminati-
viste par rapport aux propriétés fonctionnelles qui sont l’objet des sciences
spéciales. Des propriétés fonctionnelles, étant définies par leurs effets ca-
ractéristiques, ne peuvent pas être identiques à des propriétés structurelles
regardées comme étant uniquement des propriétés catégorielles. Ce projet
mène à la position suivante : les descriptions fonctionnelles des sciences
spéciales sont des descriptions de second ordre, se référant en fait à des pro-
priétés catégorielles et structurelles de la physique fondamentale – propriétés
qui sont décrites de façon directe par les descriptions en termes catégoriels
de la physique fondamentale. La thèse de la survenance humienne de David
Lewis aboutit à une telle position. En général, la métaphysique humienne
mène à une attitude éliminativiste par rapport aux propriétés fonctionnelles
qui sont l’objet des sciences spéciales.
On peut illustrer cette conséquence éliminativiste en tenant compte de
la causalité mentale, plus précisément de la description de nous-mêmes en
tant que sujets agissants, description en termes mentaux de la psychologie.
En bref, nous sommes des sujets agissants si et seulement s’il y a un lien
entre l’intention d’action et le comportement tel que l’intention produit et
dès lors nécessite le comportement ; d’après la métaphysique humienne, par
contre, nous subissons simplement des suites contingentes d’occurrences de
propriétés qui se conforment à certaines régularités grâce à ce qui se passe
ailleurs dans le monde.16
16 Voir Michael Esfeld : Mental causation and the metaphysics of causation, à pa-
raître in Erkenntnis.
La philosophie comme métaphysique des sciences 75
tions et les lois des sciences spéciales peuvent en principe être réduits à des
concepts, des descriptions et des lois des théories physiques fondamentales
et universelles.
Néanmoins, ce réductionnisme n’empêche pas que les concepts, les des-
criptions et les lois des sciences spéciales puissent être indispensables pour
un système cohérent et complet de notre savoir. Bien au contraire, la possi-
bilité principale de réduction des théories des sciences spéciales est en effet
la seule voie ouverte pour revendiquer leur caractère scientifique face aux
principes susmentionnés. Autrement, elles seraient simplement éliminées
du système de du savoir scientifique (bien que possédant une valeur ins-
trumentale que personne ne remet en cause). Par conséquent, le réduction-
nisme auquel conduisent ces principes est convaincant si et seulement s’il
est un réductionnisme conservatif. Or, la métaphysique humienne – à savoir
la conception des propriétés ou relations physiques fondamentales comme
étant uniquement catégorielles au lieu d’être de pouvoirs – mène à un ré-
ductionnisme éliminativiste. Il y a dès lors un argument fort provenant des
sciences spéciales en faveur de concevoir les propriétés physiques comme
étant des pouvoirs.
Le physicalisme est donc bien fondé dans la mesure où il s’agit d’une
position métaphysique soutenant le réductionnisme ontologique et le réduc-
tionnisme épistémologique mentionnés. Il n’est pourtant pas convenable de
le concevoir en un sens méthodologique voulant dire que toute l’ontologie
dérive de l’interprétation la plus économe de la physique fondamentale. De
même, il n’est pas approprié de concevoir le principe de complétude men-
tionné dans un sens méthodologique. La méthodologie adéquate pour le
projet d’une métaphysique des sciences est celle de la cohérence des posi-
tions soutenues dans l’ensemble d’une vision complète du monde. Bien sûr,
comme le dit le réductionnisme épistémologique, il est en principe possible
de réduire toute description vraie du monde à une description physique fon-
damentale. Cependant, ce qu’est la description fondamentale du monde n’est
pas déterminé par les théories physiques fondamentales à elles seules ; il
faut tenir compte de considérations provenant des sciences spéciales. Selon
l’argumentation proposée dans cet article, la description fondamentale du
monde conçoit les propriétés comme étant des pouvoirs, et l’argument pour
cette conception de ce qu’il y a au fond dans le monde dérive des sciences
spéciales.
Studia philosophica 66/2007
C HRISTIAN SACHSE
La philosophie
comme réflexion sur les sciences*
One of the main issues in philosophy is the reflection on sciences. In order to concili-
ate the unity and plurality of sciences, this paper sets out a new strategy for theory
reduction by means of functional sub-concepts. This strategy is intended to get around
the multiple realization objection that leads to a dilemma for the scientific quality of
the special sciences. Taking Kim’s argument for token identity (ontological reduction-
ism) as starting point, I shall show a strategy to establish a systematic link between
concepts of the special sciences with physical concepts. By this means, a conservative
theory reduction is in principle possible despite multiple realization.
1. Introduction
2. Réflexion de l’ontologie
Le but principal de cet article est de présenter une réflexion sur le rapport
entre une occurrence d’une propriété (property tokens) d’une science spé-
ciale et des propriétés physiques. La biologie est une science spéciale. Elle
considère un certains ensembles d’entités – comme des gènes qui sont dé-
finis par leurs effets phénotypiques. Par contre, la physique est une science
universelle parce que les concepts physiques s’appliquent à toutes les en-
tités dans le monde. Un gène est, d’un point de vue physique (simplifié),
une configuration d’atomes. En général, prenons comme point de départ le
fait qu’il y a dans le monde des occurrences de propriétés différentes. Cha-
que science spéciale décrit et explique certaines occurrences de propriétés.
Chaque occurrence d’un système d’une science spéciale possède également
des propriétés physiques – par exemple, un certain organisme possède une
masse, une charge, etc. Cela soulève la question suivante : Quel est le rapport
entre une occurrence d’une propriété d’une science spéciale et les propriétés
physiques ? En d’autres termes, est-ce qu’il y a une différence ontologique
entre un gène (décrit et expliqué par la biologie) et sa configuration d’atomes
(décrite et expliquée par la physique) ?
Pour examiner le rapport entre des occurrences de propriétés des scien-
ces différentes, référons-nous à la conception du monde en strates. Dans ce
contexte, j’ai l’intention de considérer un argument général en faveur d’une
identité des occurrences. Considérons des occurrences de propriétés biologi-
ques, chimiques, et physiques – par exemple, il y a des organismes, des gènes,
des molécules, des atomes, etc. Commençons avec les propriétés chimiques
et physiques : d’une part, il n’est pas le cas que chaque configuration d’occur-
rences de propriétés physiques est également une occurrence de propriétés
chimique. Il y a par exemple des atomes et des électrons tout seuls dans le
monde. En revanche, toutes les occurrences de propriétés chimiques sont
forcément composées d’une configuration d’occurrences de propriétés physi-
ques. Continuons avec le rapport entre des propriétés biologiques, chimiques
La philosophie comme réflexion sur les sciences 79
Différence biologique b1 z b2
différence physique p1 z p2
Double biologique b1 = b2
double physique p1 = p2
tion d’un changement physique, une explication physique est toujours suffi-
sante. De ce fait, la physique est complète.
La physique est également complète de manière causale : pour tout
changement physique, il y a toujours une cause physique suffisante dans la
mesure où il y a des causes. Par exemple, pour un changement d’une configu-
ration d’atomes, il y a une cause physique suffisante dans la mesure où il y a
des causes. Par conséquent, pour l’explication suffisante de ce changement et
de cette relation causale, on n’a jamais besoin d’avoir recours à la chimie, ou
encore à la biologie. En d’autres termes, tout changement physique et toute
cause d’une occurrence de propriété physique est exclusivement explicable
seulement en termes de la physique :
(Identité)
4. Dilemme de l’argument
de la réalisation multiple
7 Voir John Heil : From an Ontological Point of View (Oxford : Clarendon Press,
2003) pp. 61-65.
86 Christian Sachse
8 Voir John Bickle : Psychoneural reduction. The new wave (Cambridge : MIT
Press, 1998), surtout les chapitres 2-4.
9 Voir Jerry A. Fodor : Special Sciences (or : the disunitiy of science as a working
hypothesis), in Synthese 28 (1974) pp. 97-115.
10 Voir Hilary Putnam: The nature of mental states dans son livre Mind, language
La philosophie comme réflexion sur les sciences 87
5. Réduction conservative
Pour résoudre ce dilemme, et donc pour éviter une telle conséquence élimi-
nativiste, j’aimerais proposer une stratégie réductionniste conservative (non-
éliminativiste) comme une autre position philosophique de réflexion sur les
sciences. La réalisation multiple n’empêche pas la possibilité d’établir un
lien systématique entre des concepts abstraits des sciences spéciales et des
concepts physiques parce que chaque différence physique implique une dif-
férence fonctionnelle. Par conséquent, on peut construire des sous-concepts
fonctionnels des concepts abstraits des sciences spéciales qui sont coexten-
sifs aux concepts physiques. La différence entre un concept et ses sous-con-
cepts est donc seulement le degré d’abstraction. Même si les concepts des
sciences spéciales ne sont pas coextensifs aux concepts physiques, on peut
les réduire au moyen de leurs sous-concepts. Une telle réduction n’est pas
éliminativiste parce que le caractère indispensable des sciences spéciales
(déduction)
Occurrences de gènes : b1 b2
(co-extensionalité nomologique)
Concepts physiques : « P1 » « P2 »
H ARRY L EHMANN
Jede Aussage, die mit den Worten beginnt: «Philosophie ist …», lässt sich be-
streiten. Es sind immer philosophische Schulen, Strömungen oder Positionen
zu finden, die jeden noch so vage formulierten Definitionsversuch unterlau-
fen. Eigentlich müsste man daraus den Schluss ziehen, dass die Philosophie
eine normative Disziplin sei, aber auch das könnten die wenigsten Philoso-
phen akzeptieren. Angesichts dieser fatalen Ausgangssituation lässt sich nur
ein ‹zweitbester Weg› einschlagen. Man setzt ein bestimmtes Grundverständ-
nis von Philosophie voraus – etwa die Prämisse, dass die Philosophie ihre
eigene Vergangenheit mitreflektieren muss –, arbeitet diese Position dann
92 Harry Lehmann
1.
das läßt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern aus dem
Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammen-
leben entsteht es plötzlich wie ein Licht, das von einem springenden Funken ent-
facht wird, in der Seele und nährt sich dann weiter.6
Die Philosophie wird hier als ein Gespräch verstanden, das sich nicht im
herkömmlichen Sinne aufschreiben lässt und nach den Maßstäben moderner
Wissenschaft auch nicht wissenschaftsfähig ist. Vielmehr bedarf die Philoso-
phie einer spezifischen Darstellungsform, welche diesen Gesprächscharakter
nachahmt. Hierin dürfte der eigentliche Grund für die erstaunliche Tatsache
liegen, dass diese ersten philosophischen Texte keine wissenschaftlichen Ab-
handlungen sind, sondern in Dialogform verfasst wurden.
Allein die Tatsache, dass Platon die bis dahin rudimentär entwickel-
ten Wissenschaften überhaupt nicht mehr als Wissenschaften gelten lassen
wollte und dass er eine derart interpretationsbedürftige und damit auch un-
exakte Darstellungsform wie den Dialog zur Vermittlung des philosophi-
schen Wissens favorisierte, macht deutlich, dass der damalige Begriff von
Wissenschaft nur beschränkt mit unseren heutigen Wissenschaftsverständ-
nis vergleichbar ist. Genaugenommen gehört das antike Selbstverständnis
der Philosophie als einer Wissenschaft noch zur Vorgeschichte der ‹wissen-
schaftlichen Philosophie›. Wenn man sich mithin der Frage nach der Relation
von Wissenschaft und Philosophie zuwendet, dann benötigt man zunächst
ein Geschichtsmodell, das die Ausbildung der modernen neuzeitlichen Wis-
senschaften plausibel macht, und von diesem Wissenschaftsbegriff aus kann
man dann auch rekonstruieren, wie sich die neuzeitliche Philosophie als
Wissenschaft definierte. Hierbei konnte man in der Renaissance durchaus
auf die wiederentdeckten antiken Philosophen zurückgreifen; was sich aber
grundlegend verändert hatte, ist die Wissenschaft, auf die sich diese neuzeit-
liche Philosophie vermeintlich ‹erneut› bezieht.
2.
7 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 21994), Kap. 5., insb. Abschnitt V, S. 194-209.
8 René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Hamburg:
Felix Meiner, 1960) S. 19.
9 Ibid. S. 31.
10 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 22.
98 Harry Lehmann
Leitidee ist, «die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch
eine auf einmal zu Stande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie
jetzt sind, wären […] soviel ihre Analogie […] mit der Metaphysik verstattet,
hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen».11 Unter diesem Methoden-
ideal lässt sich die Existenz Gottes nicht mehr objektiv beweisen, so dass sich
in der kritischen Philosophie Kants der gesamte Status des Gottesbegriffes
verändert: Gott verwandelt sich aus einer transzendenten Idee, die es zu
erkennen gilt, in ein transzendentales Ideal, das man unterstellen muss, um
die Vollständigkeit der menschlichen Erkenntnis zu garantieren.
Die Leitidee der neuzeitlichen Philosophie, die Metaphysik aus dem
Geiste der Naturwissenschaften neu zu begründen, wird in letzter Konse-
quenz erst im 20. Jahrhundert zu Ende gedacht, und zwar im Tractatus von
Ludwig Wittgenstein. Es war rund 250 Jahre später viel offensichtlicher
als zu Descartes’ Zeiten, was es heißt, dass etwas «wahr ist», weil man es
«ganz klar und deutlich einsehen» kann (s. o.). Man muss das jeweilige natur-
wissenschaftliche Programm mit seinen spezifischen Theorien und Metho-
den kennen, welche konkret festlegen, wann eine wissenschaftliche Aussage
wahr oder falsch ist. Das heißt nichts anderes, als dass sich die Wissenschaft
darüber definiert, dass sie unter dem wahr/falsch-Code des Wissenschafts-
systems operiert. Wittgensteins Verdienst ist es, dass er erstmals in der Phi-
losophiegeschichte zeigt, wie sich eine im strikten Sinne wissenschaftliche
Philosophie überflüssig macht, wenn sie sich beim Wort nimmt. Sein Fazit
lautet:
Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als
was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit
Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Meta-
physisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewisse Zeichen in seinen
Sätzen keine Bedeutung gegeben hat.12
11 Ibid. B XV f.
12 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (Leipzig: Reclam, 1990)
§ 6.53.
Was ist Philosophie? 99
13 Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie (Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1987) S. 18.
14 Ibid. S. 14.
15 Ibid. S. 183.
16 Ibid. S. 15.
100 Harry Lehmann
21 Natürlich sieht auch Wittgenstein noch ‹die andere Seite der Naturwissenschaf-
ten›, aber sie wird nicht von der Philosophie besetzt, sondern sie bleibt für «das
Mystische» reserviert. Die Philosophie kontrahiert zur Grenzlinie, die der Tracta-
tus zwischen Wissenschaft und Mystik zieht. Ibid. § 6.522.
22 Rorty: Der Spiegel der Natur, op. cit. S. 400.
23 Ibid. S. 403.
24 Ibid. S. 404.
102 Harry Lehmann
Philosophie auf der Seite des «Gesprächs». Die Funktion dieses «Gesprächs»
und damit auch die soziale Funktion der Philosophie – die nicht auf die Er-
kenntnisfunktion einer Wissenschaft zu verrechnen ist! – kann Rorty letzt-
endlich aber nur negativ bestimmen. Seine «bildende Philosophie» bleibt
immer ein reaktives Unternehmen gegenüber dem wissenschaftsförmigen
systematischen Philosophieren:
Was Rorty nicht besitzt, ist ein eigenes Thema, eine eigene Frage, ein eigener
Erfahrungshorizont, eine eigene Theorietechnik oder ein eigener Denkstil,
wodurch jenes von ihm selbst gesuchte «Gespräch» angeregt werden könnte.
Auch dies ist noch eine Folge davon, dass Rorty die Entkoppelung von Wis-
senschaft und Philosophie von innen her, also aus dem Selbstverständnis-
horizont einer wissenschaftlichen Philosophie her betreibt. Damit drängt sich
die Frage auf, ob Rortys Philosophie tatsächlich so «bildend» sein könne,
wie er behauptet, wenn sie nicht systematisch verfahren will. Der Spiegel der
Natur sei als Buch «nicht konstruktiv, sondern therapeutisch», heißt es hierzu
lapidar.26 Es gibt aber auch einen Strang in der Philosophiegeschichte, der
die Trennung von Wissenschaft und Philosophie nicht nur negativ begründet
und der sich nicht nur als eine Reaktion auf das dominante Philosophiever-
ständnis der Neuzeit versteht, sondern wo die Philosophie sich über einen
eigenen positiven Wert bestimmt.
3.
25 Ibid. S. 408.
26 Ibid. S. 17.
Was ist Philosophie? 103
27 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in KSA, Bd. 5, hg. von G. Colli,
M. Montinari, S. 15.
28 Ibid. S. 16f.
29 Martin Heidegger: Was heißt Denken? (Stuttgart: Reclam, 1992) S. 4.
104 Harry Lehmann
Es ist nämlich wahr, daß das bisher Gesagte und die ganze folgende Erörterung
mit Wissenschaft nichts zu tun hat, gerade dann, wenn die Erörterung ein Den-
ken sein dürfte. Der Grund dieses Sachverhalts liegt darin, daß die Wissenschaft
ihrerseits nicht denkt und nicht denken kann und zwar zu ihrem Glück und das
heißt hier zur Sicherung ihres eigenen festgelegten Ganges. Die Wissenschaft
denkt nicht.30
Was für Nietzsche «ein für alles Leben höherer und grundsätzlicher Wert»
(s. o.) ist, in dessen Namen er sich von der Wahrheitssuche der Wissen-
schaften distanziert, ist für Heidegger eine besondere Existenzform, die er
als «Offenheit des Daseins» oder als «Eigentlichsein» beschreibt. Insofern
es sich hierbei um keine vorhandene Wirklichkeit, sondern um eine Mög-
lichkeit handelt, die dem gewöhnlichen Leben verschlossen bleibt und ent-
sprechend erst durch die philosophische Rede freigelegt, erfahrbar und ver-
ständlich gemacht werden muss, lässt sich dieses Wissen auch von keiner
Fachsprache transportieren. Vielmehr soll es die philosophische Sprache
bzw. der philosophische Theoriestil dem Leser ermöglichen, sich in diese
Möglichkeit hineinzudenken. In diesem Sinne «denkt» die Wissenschaft für
Heidegger nicht.
Auch Michel Foucault stellt sich in eine Reihe mit jenen Philosophen,
«die in unserer Geschichte immer wieder versucht haben, diesen Willen zur
Wahrheit umzubiegen und ihn gegen die Wahrheit zu wenden, gerade dort,
wo die Wahrheit es unternimmt, das Verbot zu rechtfertigen und den Wahn-
sinn zu definieren».31 In der Nachfolge Nietzsches vertritt er die Auffassung:
«man muß unseren Willen zur Wahrheit in Frage stellen».32 Auch dieses
Philosophieverständnis richtet sich explizit gegen den Wissenschaftscode,
gegen die Direktive, jede wissenschaftliche Aussage unter die Alternative
von wahr und falsch zu stellen. Die Frage ist nur, welches Motiv steht hinter
dieser philosophischen Wissenschaftsfeindlichkeit! Offensichtlich wird der
30 Ibid. S. 8.
31 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 92003)
S. 17.
32 Ibid. S. 33.
Was ist Philosophie? 105
‹Wert der Wahrheit› selbst noch einmal gewertet und zwar in einer außer-
epistemischen, nicht auf Erkenntnisgewinne ausgerichteten Funktion. Hatte
Nietzsche kritisiert, dass der Schein und nicht das Streben nach Wahrheit
eine lebenssteigernde Wirkung hat und deswegen zu bevorzugen sei, so sieht
Foucault im Wahrheitsstreben einen Disziplinierungsmechanismus, den es
im Namen eines Freiheitsideals zu entlarven gilt. Die Wahrheit wird benutzt,
«Verbote zu rechtfertigen und den Wahnsinn zu definieren» oder kurz gesagt,
der wahrheitskritische Impuls seiner Philosophie lautet: Die Wahrheit steht
im Dienste von Herrschaft und Gewalt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Philosophie des Mittelalters
erfüllte eine Hilfsfunktion für die Theologie. Die Philosophie der Neuzeit
wurde gegenüber der Religion autonom, was unter anderem auch bedeutet,
dass sie nach ihren eigenen Methoden einen Gottesbeweis führt. Vor allem
aber fand sie in den Naturwissenschaften ihren neuen Anlehnungskontext
und realisierte sich dementsprechend als eine Wissenschaft. Die Philoso-
phie der Moderne setzt in dem Moment ein, wo diese strikte Koppelung an
die Wissenschaften aufgelöst wird. Man kann auch sagen: Die neuzeitliche
Philosophie endet, als sie daran zu zweifeln beginnt, dass ihr primärer An-
lehnungskontext wie bislang die Wissenschaft ist.
4.
Die Frage «Was ist Philosophie?» lässt sich nur beantworten, wenn man
weiß, was die Philosophie einstmals war – und was aus ihr geworden ist.
Dies war die Ausgangsthese, von der wir uns bisher leiten ließen. Sie wäre
falsch, wenn Kants epochemachende Idee, dass die Philosophie «den si-
cheren Gang einer Wissenschaft»33 einschlagen könne, sich als richtig er-
weisen würde. Keine Wissenschaft muss sich auf ihre eigene Wissenschafts-
geschichte besinnen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Der Begriff
der Wissenschaft ist für die Wissenschaft nicht konstitutiv. Vielmehr gibt es
eine Praxis, in der diese Frage immer schon beantwortet ist; und sollte an
den Forschungsrändern tatsächlich einmal eine Unbestimmtheit auftreten
und z. B.ein bahnbrechender Aufsatz wegen seiner scheinbaren ‹Unwissen-
schaftlichkeit› in einem Fachjournal nicht publiziert werden, dann kommu-
niziert man dies als einen Verfahrensfehler und korrigiert ihn. Was man in
einem solchen Fall aber nicht tut, ist, den Wissenschaftsbegriff zu diskutieren
und den Versuch zu unternehmen, die Grenze von Wissenschaft und Nicht-
wissenschaft neu zu definieren. Kurz gesagt: man beginnt nicht zu ‹philoso-
phieren›, wenn es zu solchen Fehlurteilen im Wissenschaftssystem kommt.
Auch dies spricht für die Entkoppelungsthese, denn es waren nicht nur die
Philosophen, welche das wissenschaftliche Selbstbild ihrer Disziplin argu-
mentativ zersetzten, sondern auch im Selbstverständnis der Wissenschaften
schlug sich die Erfahrung nieder, dass ihre eigene Forschung unabhängig
von philosophischen Überlegungen funktioniert und vor allem auch funk-
tionieren muss. Die feste Koppelung zwischen Wissenschaft und Philosophie
wurde somit von beiden Seiten her aufgelöst, nur dass sich dieser Vorgang
im Wissenschaftssystem geräuschlos vollzog und höchstens als allgemeiner
Kompetenzverlust der Philosophie bei der Lösung wissenschaftlicher Pro-
bleme mitgesehen und mitkommuniziert wurde.
Selbst die harmlos anmutende Prämisse, dass die Philosophie sich auf
ihre eigene Geschichte besinnen muss, um ihren eigenen Begriff zu bestim-
men, enthält mithin eine Vorentscheidung. Der Ansatz ist nur stimmig, wenn
es tatsächlich zur Trennung zwischen Wissenschaft und Philosophie kam –
was die zurückliegende Rekonstruktion der Philosophiegeschichte zu be-
weisen versucht. Letztendlich stößt man hier auf einen Bifurkationspunkt
des philosophischen Denkens, an dem sich die Frage, ob die Philosophie
eine Wissenschaft ist oder nicht, sowohl mit ja als auch mit nein beantworten
lässt. Zudem ist dieser Gegensatz nicht nur das Produkt eines Gedanken-
experiments, sondern spiegelt sich ganz real in zwei gegensätzlichen Strö-
mungen der Gegenwartsphilosophie wider. Gewöhnlich macht man hier den
idealtypischen Unterschied zwischen analytischer und kontinentaler Philo-
sophie. Wenn man die Frage nach der Philosophie aber nicht ideologisch
beantworten will, dann muss man beide Philosophiepole im Blick behalten.
Das aber bedeutet, dass damit die Bodenlosigkeit der eigenen Ausgangsthese
sichtbar wird.
Was man mit einer solchen Metareflexion gewinnt, ist eine Antinomie:
Wenn die Philosophie keine Wissenschaft ist, dann ist es möglich, sich an
ihrer eigenen Geschichte zu orientieren. Man kann anhand diverser Autoren
zeigen, dass es sich bei dem Projekt einer wissenschaftlichen Philosophie
nur um ein historisches Projekt gehandelt hat, das in der Neuzeit begann
und in der Moderne an ihr Ende kam. So betrachtet etwa Rorty ganz ohne
jeden Vorbehalt «die Geschichte der erkenntnistheoretisch orientierten Phi-
losophie als eine Episode der europäischen Kulturgeschichte».34 Wenn man
aber davon ausgeht, dass die Philosophie nach wie vor eine Wissenschaft
ist, dann spielen historische Überlegungen und Argumente für ihre Selbst-
beschreibung keine Rolle.
Was folgt aus dieser Aporie, aus der man sich mit einem einfachen
Argument nicht herausreflektieren kann? Welche Auswirkungen hat diese
relativierende Betrachtung auf die Beweiskraft der historischen Zitate,
die für eine Entkoppelung sprechen sollen? Auf der einen Seite bleibt die
Einsicht, dass man die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Philoso-
phie nicht apodiktisch entscheiden kann, auf der anderen Seite focusiert
man damit ein Problem, das substanziell für die Beantwortung der Frage
«Was ist Philosophie?» ist. Das Argument funktioniert eher indirekt und
besteht darin, dass man die Argumentationslasten zusammenträgt, welche
die Gegenthese zu tragen hat. Wie kann die Philosophie, die mit einem wis-
senschaftlichen Selbstverständnis auftritt, mit Autoren wie Wittgenstein,
Nietzsche, Heidegger, Foucault und Rorty umgehen, die sich dezidiert
gegen deren Wahrheits-, Erkenntnis und Wissenschaftsansprüche stellen?
Wenn man sie als unwissenschaftliche Philosophien zurückweist oder
kritisiert, verfehlt man offenkundig das Problem – was sich von Lesern
beobachten lässt. Marginalisiert man diese Autoren, dann schreibt man in-
direkt an einer eigenen Philosophiegeschichte, die für eine wissenschaft-
liche Philosophie eigentlich ohne Bedeutung bleiben müsste. Auch wenn
sich gute Indizien finden lassen, dass die moderne Philosophie ihre Kom-
petenz als eine Wissenschaft verloren hat, so sind diese Gründe – eben weil
es eine nichtwissenschaftliche philosophische Argumentation ist – nicht
hinreichend, sondern beleuchten nur den blinden Fleck ihrer Gegenthese.
Die autonome Philosophie muss auf solche zweitbesten Gründe setzten, der
Nachweis von Reflexionsdefiziten wird für sie zur entscheidenden Plausi-
bilitätsressource im Argument. Es gibt zwar keine Letztbegründung für
die Strategie, sich an der Geschichte der Philosophie zu orientieren und
den Begriff der Philosophie entsprechend von dem der Wissenschaften zu
unterscheiden, aber eine Selbstbegründung, welche die Theorie als frei-
tragende Konstruktion transparent und mit anderen Theorien vergleichbar
macht.
Wohin führt nun die These, dass die Philosophie die Wissenschaft als
ihren angestammten Anlehnungskontext verloren hat? Lässt sie sich auch
theoretisch erhärten? Gefragt wäre ein Modell, an dem die strukturellen
Differenzen zwischen Wissenschaft und Philosophie ablesbar werden, an
dem sich zeigt, wie und warum die zeitgenössische Philosophie grundsätz-
lich anders als eine Wissenschaft funktioniert.
108 Harry Lehmann
5.
36 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Was ist Philosophie? (Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
2000) S. 14.
112 Harry Lehmann
37 Harry Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann (Mün-
chen: Wilhelm Fink, 2006) S. 63-85.
38 Deleuze, Guattari: Was ist Philosophie?, op. cit. S. 9.
Was ist Philosophie? 113
so hat das vor allem etwas damit zu tun, dass sie sich wie die Wissenschaf-
ten auch innerhalb eines Funktionssystems reproduziert. Charakteristika wie
Anschlussfähigkeit, Wiederholbarkeit, Kontrollierbarkeit und Vernetzbarkeit
der ‹Forschungsergebnisse› gehören aber zum Betriebsmodus beider Sys-
teme – ohne dass dies schon spezifisch etwas mit Wissenschaft zu tun hätte.
Ganz gleich, ob man nun in der analytischen oder in der kontinentalen Tra-
dition steht, man befindet sich zunächst einmal innerhalb eines bestimmten
Diskurses, wo ganz spezifische Regeln gelten, was als ein Argument gilt
und was nicht. Es ist diese interne Systematizität beider Systeme, welche
die theoretische Unterscheidbarkeit von Wissenschaft und Philosophie so
schwierig gestaltet bzw. dass sowohl die normale Wissenschaft als auch die
normale Philosophie systemspezifische Programme besitzen und auch der
Großteil der philosophischen Debatten im Philosophiesystem akademisch
organisiert sind und entsprechend auch systemkonform funktionieren. Wie
jede andere Geisteswissenschaft auch lebt die Philosophie von Publikatio-
nen, die zitiert und diskutiert werden; man schreibt Forschungsanträge, ver-
anstaltet Kongresse, und es bilden sich hochspezialisierte Fachdiskurse aus.
Die Differenz zwischen Wissenschaft und Philosophie kommt aber erst in
den Blick, wo es um die Erfindung von neuen Theorien geht. Hier zeigt sich,
dass die Philosophie gegensystemisch operieren kann, weltoffen ist, norma-
tive Beschreibungen liefert, dass ihr Wissen historisch und modal verfasst ist
und dass sie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten außer Kraft setzt, weil
sie den eigenen Code über ein re-exit definiert.
6.
Blickt man mit stereoskopischem Blick auf die zweigeteilte Landkarte der
Philosophie, dann steht man vor folgendem Dilemma: Die Philosophie, die
sich als Wissenschaft begreift, kann die wissenschaftskritische Philosophie
höchstens ignorieren, aber nicht als Philosophie begreifen. Die Philosophie,
die sich nicht als Wissenschaft versteht, kann das wissenschaftskonforme
Denken nicht als Philosophie im eigentliche Sinne gelten lassen. Diese kom-
plementären Sehschwäche kann das hier entwickelte Theoriemodell korri-
gieren. Wenn es ein vom Wissenschaftssystem unterschiedenes Philosophie-
system gibt, das die philosophische Kommunikation auf eine ganz spezifische
Weise miteinander vernetzt, dann besitzt dieses Funktionssystem auch eine
soziale Funktion, die sich weder durch Kunst, Wissenschaft, Lebensberatung
oder Zukunftsforschung ersetzten lässt. Wie ließe sie sich bestimmen?
Was ist Philosophie? 115
39 Auf dem Fünften Kongress der Gesellschaft für Analytische Philosophie 2003
wurde dieser Lagerstreit exemplarisch ausgetragen. Für das kontinentale Phi-
losophieverständnis siehe Holm Tetens: Streit der Philosophen – und trotzdem
Wissenschaft?, in Philosophie und/als Wissenschaft – Hauptvorträge und Kol-
loquiumsbeiträge zu Gap. 5, hg. von Christian Nimtz, Ansgar Beckermann (Pa-
derborn: mentis, 2005) S. 97-110; für das analytische Philosophieverständnis
siehe hingegen Wolfgang Spohn: Ist Philosophie eine Wissenschaft?, in ibid.
S. 81-96.
116 Harry Lehmann
7.
41 Ibid. S. 1f.
118 Harry Lehmann
Das Kunstwerk reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes ab-
solut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philosoph
schon im ersten Akt des Bewusstseins sich trennen lässt, wird, sonst für jede
Anschauung unzugänglich, durch das Wunder der Kunst aus ihrem Produkten
zurückgestrahlt.42
Dass die Moderne sich verändert, gehört letztendlich zu ihrem Begriff. Die
Möglichkeiten einer Beschreibung sind stark limitiert; sie hängen von Wer-
ten und Kommunikationsstrukturen ab, welche zu ihrer Zeit in Gebrauch
sind und vorausgesetzt werden, damit Gesellschaft im Sinne eines umfas-
senden Kommunikationszusammenhanges überhaupt stattfinden kann. Mit
wissenschaftlicher Forschung, mit Theologie oder Kunst kommt man dieser
konstitutiven Blindheit der Moderne nicht bei – vielmehr eröffnet sich hier
das Feld für Philosophie.
Der philosophische Gedanke entsteht immer an den Bruchstellen von
alter und neuer Gesellschaftsbeschreibung. Das Nichtfunktionieren der alten
Beschreibung ist aber keineswegs evident, sondern muss als eine solche
Dysfunktionalität zuerst einmal sichtbar und begreifbar gemacht werde. Die
Philosophie muss auf der einen Seite die neuralgischen Phänomene ein-
sammeln und benennen, und sie muss auf der anderen Seite zeigen, dass
diese Probleme in der Tiefengrammatik der sozialen Kommunikation ver-
wurzelt sind. Die neue Beschreibung wird entsprechend nicht einfach erfun-
den, sondern geht, mehr oder weniger direkt oder indirekt, aus einer solchen
Kritik der alten Beschreibung hervor.
Die praktisch dominierende Selbstbeschreibung der Gesellschaft ist
immer noch ‹postmodern›. Es gibt eine Fülle von Indizien in der Alltagskom-
munikation bzw. eine ganze Reihe von ‹negativen Erfahrungen›, die ver-
muten lassen, dass diese Beschreibung an die Grenzen ihrer Leistungsfähig-
keit gestoßen ist. Vor allem die Rede von der «postmodernen Beliebigkeit»
bringt das Unbehagen an diesem Selbstverständnis auf den Punkt. Aber
wieso war die Postmoderne einst die Lösung und wird nun zum Problem?
Dieser Epochenbegriff bezeichnet selbst eine neue Beschreibung gegen-
über dem geschichtsphilosophischen Modell, das bis in die 70er Jahre hin-
ein die Diskurse strukturierte. Werke wie Sein und Zeit, die Dialektik der
Aufklärung, Wahrheit und Methode oder die Ästhetische Theorie nahmen
Letztbegründungsargumente in Anspruch, von denen aus sich die Welt als
Ganze noch einmal beschreiben und bewerten ließ – ohne mitzureflektieren,
dass es sich um eine Konstruktion gehandelt hat.43 Die philosophische Post-
moderne entsteht aus einer Kritik solcher Werke, aus der Einsicht, dass selbst
diese aufgeklärtesten Philosophiekonzepte der Moderne noch auf quasi-
metaphysischen Prämissen beruhen. Ihr methodologisches Leitmotiv heißt:
‹Dekonstruktion›. Mit seiner Hilfe lässt sich der Nachweis erbringen, dass
jede normative Unterscheidung eine Setzung ist – und sich dekonstruieren
lässt. Letztendlich hat Derrida hier das Prinzip aller Poesie auf den Begriff
gebraucht und philosophisch generalisiert: Ein Satz geht in seinem proposi-
tionalem Gehalt nicht auf, sondern besitzt einen performativen Verweisungs-
überschuss, an dem sich sinnwidrig zur Normalkommunikation anknüpfen
lässt. Das gilt natürlich nicht für die Fachsprachen der Wissenschaft, die sich
von der Alltagssprache eben dadurch unterscheiden, dass ihr performativer
Überschuss über Zusatzvorkehrungen kontrolliert werden kann. Empirische
Daten und theoretische Definitionen schränken dessen Anschlussfähigkeit
auf einen vernachlässigbaren Rest ein und blockieren systematisch jeden
Verweis aus der wissenschaftsinternen Kommunikation hinaus. Wenn man
die Dekonstruktion als Prinzip der Weltinterpretation generalisiert, wie dies
für die Postmoderne charakteristisch ist, dann kann man diesen Punkt nicht
akzeptieren und wird die Naturwissenschaften tendenziell als eine Art von
Kunst oder Mythos interpretieren. Paul Feyerabend hat diesen Gedanken in
seiner «Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie»44 voll ausgereizt,
wenn er behauptet: «Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied
zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist
eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht
unbedingt die beste.»45
Durchmustert man hingegen mit jener dekonstruktiven ‹Theorietechnik›
die Philosophiegeschichte, dann lässt sich bis in die Texte der avanciertesten
Metaphysikskeptiker, wie es Adorno und Heidegger waren, eine Différance
in ihren Begründungsansprüchen aufspüren. Ihre historische Evidenz ge-
wann die Dekonstruktion vor allem aus der Tatsache, dass sie das philosophi-
sche Ideal intellektueller Redlichkeit auf die Spitze treibt und auf ihre Weise
die Dialektik der Aufklärung fortschreiben kann. Verallgemeinert man diesen
‹Aufklärungsfortschritt›, wie dies kulturgeschichtlich in der Postmoderne
geschehen ist, dann kommt man dazu, Pluralität als Positivwert zu setzten.
An diesem Vorurteil ist die Selbstbeschreibungsgrammatik der Postmoderne
verankert; hier hat ihre charakteristische Präferenz für Ambivalenz und Dif-
ferenz ihren letzten Grund.46
47 Vgl. Ulrich Beck: Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Mo-
derne, in ders., A. Giddens, S. Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse
(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996) S. 19-112.
Was ist Philosophie? 123
48 Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst, op. cit. S. 280 u. 295.
Philosophie, Literatur und Gesellschaft
Studia philosophica 66/2007
S EBASTIAN HÜSCH
Since the late 18th century, philosophy has suffered from a «crisis of identity» and
other disciplines have menaced philosophy on her own territory. Literature, in par-
ticular, deals increasingly with genuinely philosophical questions. There seems to be
a close interconnection between the crisis of metaphysics and the epistemological
revalorisation of the Arts, particularly of literature. Literature, one might think, is
defying philosophy’s competency on issues of knowledge and meaning. If a closer
look reveals that, indeed, new literary styles of writing such as Friedrich Schlegel’s
or Søren Kierkegaard’s find their roots in the crisis of philosophy, it simultaneously
reveals that this does not necessarily mean that one has to speak of a «rivalry»
between philosophy and literature. Rather one could ask if philosophy, confronted
with the problem of the «ineffable», would not have to evolve into literature in order
to remain philosophy.
1 KA III, S. 99; sämtliche Zitate Friedrich Schlegels werden zitiert nach der Kri-
tischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 22 Bde., hg. von Ernst Behler (Paderborn:
Schöningh, 1958ff.). Die Zitate werden unter Angabe der Nummer des Ban-
des und der Seitenzahl und ggf. der Nummer des zitierten Fragments nach-
gewiesen.
128 Sebastian Hüsch
2 Ich spreche von einer «modernen» Rivalität, weil es ja auch eine «klassische»
Rivalität zwischen Philosophie und Dichtung gegeben hat, namentlich bei Platon.
In den weiteren Ausführungen wird deutlich werden, dass diese Problemkonstel-
lation von anderer Art war als diejenige, um die es im Folgenden gehen wird.
3 Vgl. dazu die Überlegungen von Odo Marquard: Kant und die Wende zur Ästhetik,
in Zeitschrift für philosophische Forschung 14 (1962) S. 231-243.
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 129
der Literatur ein besonderer ist. Abschließend werde ich fragen, welche Kon-
sequenzen sich daraus für die Philosophie ergeben.
Mit dieser Krise einher geht der Verlust einer existentiellen Sinngewiss-
heit. Auch die spektakulären Erkenntnisfortschritte im Bereich der Natur-
wissenschaften vermögen diesen Verlust nicht im Geringsten zu kompen-
sieren. In diesem Sinne hatte ja bereits Pascal darauf hingewiesen, dass
naturwissenschaftliches Wissen als kontingentes Wissen nie Fundament für
Sinnhaftigkeit sein kann – ein Argument, das ihn selbst dazu veranlasst hatte,
sich von der Mathematik und Physik ab- und Fragen der menschlichen Exis-
tenz zuzuwenden.7
Und im gleichen Sinne hat Wittgenstein sehr zutreffend festgestellt: «Wir
fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beant-
wortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.»8 Und das
bedeutet nichts anderes, als dass ein streng wissenschaftliches Denken den
Menschen unter keinen Umständen einer Sinnhaftigkeit versichern kann.
Denn wissenschaftliche Fragen sind Fragen «aus dieser Welt»; ein möglicher
Sinn muss dagegen, wie Wittgenstein konstatiert, außerhalb ihrer liegen.9
Mit der Zerstörung der «historischen Semantik» gerät dieses «Außerhalb
dieser Welt», der Kernbereich der Metaphysik, außerhalb jenes Bereiches,
für den eine rationalistische Philosophie zuständig sein kann. Sie gerät hier
inhaltlich und sprachlich an ihre Grenzen.
7 Vgl. z. B. das Fragment 566 seiner Pensées, wo er diese Wendung erklärt : «J’avais
passé longtemps dans l’étude des sciences abstraites […]. Quand j’ai commencé
l’étude de l’homme, j’ai vu que ces sciences abstraites ne sont pas propres à
l’homme» (Blaise Pascal: Pensées, hg. von Philippe Sellier [Paris: Bordas, 1991]
S. 376).
8 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in ders.: Schriften. Trac-
tatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Unter-
suchungen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1960) 6.52 = S. 82 (Hervorhebung im
Original).
9 Vgl. ibid. 6.41 = S. 80: «Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der
Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen
Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert.»
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 131
13 Vgl. folgende Aussage Ludovikos in dem Gespräch über Poesie: «Mit anderen
Worten: alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaus-
sprechlich ist, nur allegorisch sagen» (KA II, S. 324).
14 KA XVIII, S. 412, Nr. 1095.
15 Ibid.
16 Vgl. KA III, S. 98: «Die Wohlfahrt der Menschen und die Begründung aller hö-
heren Wissenschaft und Kunst ruht auf der Philosophie».
17 Vgl. ibid. S. 99: «[D]aher aber auch endlich diejenige Form der Philosophie,
welche unter allen Bedingungen und in allen Zuständen die bleibende und ihr
eigentlich wesentliche ist; die dialektische. Nicht bloß an die Nachbildung eines
Gesprächs gebunden, findet sie überall statt, wo ein schwebender Wechsel der Ge-
danken in fortgehender Verküpfung d. h. überall, wo Philosophie stattfindet».
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 133
Grenzen stößt – und das heißt da, wo die Vernunft nicht mehr weiter kann –
nicht eigentlich aufhören muss, sondern – in veränderter Form – als Poesie
ihre Mission fortsetzen kann und muss. Damit ist die Poesie, die an dieser
Stelle der Philosophie zur Hilfe eilt, nicht eine gewöhnliche Poesie, sondern
eine solche, die aus einer auf der Ratio beruhenden Philosophie hervorgeht;
und um diesen philosophischen Ursprung der Dichtung kenntlich zu ma-
chen, bezeichnet Schlegel diese aus der Philosophie hervorgehende Poesie
als «höhere Poesie».18
Damit wird deutlich, dass die Poesie hier bewusst eine philosophische
Aufgabe übernimmt – oder umgekehrt: dass es die Philosophie ist, die der
Poesie an dieser Stelle ihre Aufgabe zuweist. Genau das bedeutet sein Postu-
lat: Philosophie und Literatur sollen vereinigt sein.19 Und dieses Postulat
macht eines ganz deutlich: die höhere Poesie, die an jener Stelle ansetzt,
an der die Philosophie an ihre konzeptuellen Grenzen stößt, ist im eigent-
lichen Sinne weiterhin Philosophie – man könnte sagen, sie ist Philosophie
mit anderen Mitteln. Sehr anschaulich verdeutlicht Schlegel dies in einem
Abschnitt, der mit dem bezeichnenden Titel Über die Form der Philoso-
phie überschrieben ist.20 Darin expliziert er die fundamentale Bedeutung der
Form, insofern sich in der Form der Kern einer Philosophie manifestiere; und
er expliziert den Übergang von der Philosophie zur Poesie als einen inhalt-
lich notwendigen Übergang.21 Das heißt, wenn Philosophie zur allegorischen
Darstellung übergeht, hört sie nicht auf Philosophie zu sein, sondern sie passt
ihre Darstellungsform dem darzustellenden Inhalt an.
Mit Schlegels Hinwendung zur höheren Poesie wird sehr deutlich, wie
das Problem der Erkenntnis zu einer Frage der Form wird. Das Höchste, das
Ziel aller Philosophie, entzieht sich dem rationalen Diskurs, der sich hier an
den Grenzen der Sprache bricht und kann daher im eigentlichen Sinne nicht
erkannt werden. Allerdings bleibt es uns zugänglich als «Gewusstes». Aber
es ist die Philosophie, die uns zu diesem Wissen des Absoluten führt. Und
so könnte man Schlegels Postulat, wonach Poesie dort anfangen muss, wo
18 Vgl. ibid.
19 Vgl. KA II, S. 161, Nr. 115: «Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft
soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein».
20 KA III, S. 97ff.
21 Vgl. ibid. S. 99: «Daher endlich die Allegorie im Ausdruck des vollendeten po-
sitiven Philosophen; die Identität seiner Lehre und Erkenntnis mit Leben und
Religion, und der Übergang seiner Ansicht zur höhern Poesie» (meine Hervor-
hebung; S. H.).
134 Sebastian Hüsch
die in ganz eigener Weise dieses Problem mitreflektiert und es dieserart auf
eine höhere Ebene zu überführen und damit aufzulösen trachtet.
Freilich haben wenige Forscher der Literarizität des Werkes Kierkegaards
die nötige Bedeutung beigemessen und es ist noch immer eher die Regel
als die Ausnahme, dass aus den bewusst ambivalenten Ausführungen der
einzelnen Kierkegaard’schen Pseudonyme eine «Philosophie Kierkegaards»
destilliert wird. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Erika Deiss, die in ihrer in
den 80er Jahren erschienenen Dissertation versucht hat, diesen besonderen
literarischen Charakter des Werkes Kierkegaards tatsächlich ernst zu nehmen
und zwar mit dem Vorschlag, Kierkegaards Erstling Entweder / Oder als einen
genuin literarischen Text, und mehr noch: ihn als romantischen Roman zu
lesen.27 Ich halte diese Anregung für alles andere als schlecht. Denn durch
eine solche Herangehensweise wird verhindert, dass der Leser einfach über
die literarische Struktur hinwegsieht als wäre sie bloß akzidentelles Moment
des Inhalts, um aus Kierkegaards Texten wie aus einem Lehrbuch jene ver-
meintliche «Lehre Kierkegaards» herauszulesen, nach der der Mensch vom
Ästhetischen über das Ethische zum Religiösen gelangen müsse.28 Schenkt
man der Form der Kierkegaard’schen Schriften die nötige Beachtung, dann
wird deutlich, dass gerade im literarischen, im spielerisch-ironischen Cha-
rakter der wahre Ernst der Texte steckt. Erst dann wird ersichtlich, dass das,
was der Text zu sagen hat, nicht explizit im Text steht, sondern es ihm in
subjektiver Auseinandersetzung «abgerungen» werden muss. Denn das Ziel
der pseudonymen Schriften Kierkegaards ist ja gerade nicht Eindeutigkeit.
Vielmehr sind sie, um der Subjektivität gerecht zu werden, explizit ambi-
valent, da es genau diese Mehrdeutigkeit ist, in die sich die Subjektivität des
Lesers einschreiben kann, die, anders gesagt, den Raum für eine subjektive
Aneignung des Inhalts lässt.29 Auch Kierkegaard weiß um die Möglichkeiten
und besonders um die Grenzen sprachlicher Mitteilung. Ging es bei Schlegel
um das Erkennen des Absoluten, so steht bei Kierkegaard die Subjektivität
im Zentrum seiner Reflexion. Die Subjektivität, verstanden als Unmittelbar-
27 Vgl. Erika Deiss: Entweder – Oder? oder: Kierkegaards Rache. Eine Einladung
an die Verächter des Ästhetischen, sich fortzubilden oder fortzumachen (Diss.
Heidelberg, 1984).
28 Vgl. zu solchen reduktionistischen Lesearten kritisch Kurt Röttgers: Lügen(-)
Texte oder nur Menschen, in Dichter lügen, hg. von dems., Monika Schmitz-
Emans (Essen: Die Blaue Eule, 2001) S. 37-60, hier S. 55.
29 Vgl. hierzu Sebastian Hüsch: Wer A sagt, muss auch B sagen? Zur Bedeutung
der Ironie in Sören Kierkegaards ‹Entweder / Oder›, in Conceptus 36 (2004),
Nr. 89/90, S. 105-130.
136 Sebastian Hüsch
keit, kann nicht über den gewöhnlichen Gebrauch der Sprache kommuniziert
werden. Subjektiv Erkanntes benötigt eine Form der Kommunikation, die
sich der direkten Mitteilung entzieht. Durch die literarische Form öffnet der
Kierkegaard’sche Text ein Spektrum möglicher Bedeutungen, und trägt so
dieser Schwierigkeit Rechnung. Wie die Schlegel’sche Erkenntnis des Ab-
soluten ist auch die subjektive Erkenntnis bei Kierkegaard angewiesen auf
den Verweis, und in beiden Fällen handelt es sich um eine Erkenntnis, die
jenseits des Sagbaren angesiedelt ist.
Ein genauerer Blick auf die Aufwertung der Dichtung als Medium der Er-
kenntnis deutet also darauf hin, dass die erkenntnistheoretische und meta-
physische Krise, die durch den Epochenbruch der Aufklärung ausgelöst
wurde, gar nicht eigentlich dazu führt, dass sich die Literatur als Rivalin
der Philosophie etabliert, vielmehr ergibt sich für die Philosophie die Not-
wendigkeit, ihre Möglichkeiten und Grenzen neu zu bestimmen. Und in
diesem Prozess differenzieren sich neue Schreibweisen aus, wobei es die
Philosophie selbst ist, die sich über sich selbst hinaus in die Literatur hinein
fortsetzt.
Das Entscheidende ist dabei die Einsicht, dass das Verhältnis von Er-
kenntnisinhalt und der Form, in der dieser präsentiert wird, eine immer
größere Rolle spielt, eine Entwicklung, die sich ja mit dem zunehmenden
Interesse der Philosophie an Sprache eindringlich belegen lässt. Die Philo-
sophie wird nicht nur mit der Fragen nach den Bedingungen ihrer eigenen
Möglichkeiten konfrontiert, sondern mit den Bedingungen der Möglichkeit
ihrer Darstellbarkeit. Es ist aber damit nicht unmittelbar ein Verdikt über tra-
ditionellere Formen der Darstellung von Philosophie gesprochen. Ob ange-
sichts dessen, was Jacques Bouveresse einmal als die questions importantes
«au sens important du mot ‹important›»30 bezeichnet hat, ob also angesichts
dieser existentiell wichtigen Fragen Philosophie tatsächlich entweder Poesie
werden muss oder zu verstummen hat, eine Antwort hierauf ist damit keines-
wegs abschließend gegeben. Zunächst ist damit nur gesagt, dass Philosophie
immer die Reflexion auf ihr Kommunikationsmedium in sich einschließen
muss. Der von der Frühromantik vorgeschlagene Gang in die Dichtung ist
dabei zunächst einmal als ein solcher Versuch zu begreifen, und zwar einer,
der, im Einklang mit dem frühromantischen Selbstverständnis, dass immer
bestenfalls Annäherungen möglich sind,31 keinerlei Anspruch auf Allgemein-
bzw. Alleingültigkeit erhebt.
Dichtung als Philosophie mit anderen Mitteln scheint freilich eine durch-
aus reizvolle Möglichkeit darzustellen, denn auf je eigenen Wegen sind auch
andere, spätere Denker auf diese Option gestoßen, zu denken wäre nicht
zuletzt an Robert Musil. Auch Musil hat verschiedene Schreibweisen jen-
seits des philosophischen Diskurses ausprobiert. Auch er hat sich intentional
und explizit gegen jede systematische Darstellung von Philosophie gewandt
und zunächst im Essay eine Alternative zum systematischen Philosophieren
gesehen. So lässt er den Erzähler im Mann ohne Eigenschaften den Essay
definieren als eine Textform, die es erlaube, in der Folge der Abschnitte
einen Gegenstand von den verschiedensten Seiten zu betrachten, ohne ihn
jedoch je ganz fassen zu können.32 Und genau dieses Nicht-ganz-Fassen
bzw. Nicht-ganz-Erfassen ist Ausdruck eines immer Unzureichenden, eines
Denkens-im-Werden und der Subjektivität. Letztlich aber ist Musil noch
einen Schritt weiter gegangen und hat «seine» Antwort – hier durchaus der
Frühromantik nahe – im Roman gefunden. Und vielleicht kann man nicht
nur sagen, er habe seine Antwort im Roman gefunden, sondern, dass er in
seinem Roman eine Antwort gefunden hat.33 Dabei handelt es sich freilich
um eine provisorische, eine skrupulöse, ja auch eine verschachtelte Antwort,
eine Antwort, fast als Frage formuliert.
Dass Form aber auch in ganz anderer Art und Weise wesentlicher Be-
standteil der philosophischen Botschaft werden kann, das zeigt sich bei
jenem Philosophen, der in prägnanter Weise alle Philosophie auf Sprach-
kritik reduzieren wollte: Ludwig Wittgenstein, dessen Schreibweise mit
Sicherheit als ungewöhnlich, vielleicht auch als aphoristisch oder frag-
mentarisch, aber schwerlich als «poetisch» bezeichnet werden kann, auch
wenn er selbst einmal notiert hat, dass man seine Stellung zur Philosophie
31 Vgl. zur Idee der Annäherung Manfred Frank: Unendliche Annäherung, op. cit.
32 Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Reinbek bei Hamburg: Ro-
wohlt, 1978) S. 250.
33 Und dabei hat Musil sogar letztlich einen Weg gefunden, Roman und Essay zu
verbinden, indem er den Essay gewissermaßen in doppelter Art und Weise (als
Figur und als Literaturform) in den Roman inkorporiert und ihn dadurch zu-
gleich wieder perspektivisch bricht; und erst diese Brechung lässt ihn zu jenem
Erkenntnisinstrument werden, das Musil sich von ihm versprochen hatte.
138 Sebastian Hüsch
eigentlich nur dichten dürfte;34 wobei die Verwendung des Konjunktivs da-
rauf schließen lässt, dass er selbst nicht glaubt, dies geleistet zu haben. Das
Entscheidende ist, dass sich auch bei Wittgenstein Sprachkritik in der Form
spiegelt. Wie sein Zeitgenosse Musil hat auch er hat für seine Gedanken
eine Form gefunden, die jenseits des traditionellen Diskurses anzusiedeln
ist, eine Form allerdings, die anders als beim Dichter Musil,35 diesseits der
Poesie verbleibt, dabei aber dennoch, ähnlich wie literarische Sprache, in
ganz eigener Weise in der Lage ist, Sinn entstehen zu lassen, auf Bedeutung
zu verweisen.
Und wenn ich mit Wittgenstein einen Philosophen genannt habe, der in die-
sem Sinne eine der philosophischen Problematik angepasste Form gefunden
hat, dann sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es in der For-
schung – gerade in Auseinandersetzung mit der Schreibweise Wittgensteins
– Bemühungen gab und gibt, sich einer solchen Philosophie mit Instrumen-
tarien zu nähern, die in der Lage sind, der Frage der Form bei einer Deutung
Rechnung zu tragen und die damit die Bedeutung der Form affirmieren –
und zwar über die Frage des Stils, wie Manfred Frank36 in Deutschland und
Gilles-Gaston Granger37 in Frankreich. So definiert Granger die Aufgabe der
Philosophie ganz explizit in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften, die
nach der erkenntnistheoretischen Krise der Philosophie zum eigentlichen
Bereich der Objektivität werden, folgendermaßen: «[P]ar opposition à la
science, constructrice de modèles, la philosophie aura pour tâche l’interpré-
tation des significations».38 Derart bestimmt, öffnet sich ein Raum für Sub-
jektivität und diese manifestiert sich wiederum im Stil des philosophischen
Textes, der zugleich Ausweis der Methode wird.39 Grangers Beschreibung
des Sinnentfaltungsprozesses, der sich in der Interaktion zwischen philo-
sophischem Text und Leser abspielt, trifft sich letztlich mit den Intentionen
eines Schlegel oder Kierkegaard, die ihrerseits mit der literarischen Form die
Bedeutung des subjektiven Elementes in den Vordergrund rücken.
7. Fazit
Wenn also auf den ersten Blick der Eindruck entsteht, dass die Literatur einen
Platz für sich reklamiert, der traditionsgemäß als das ureigenste Terrain der
Philosophie betrachtet wird, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die
Herausforderung an die Philosophie möglicherweise anderer Art ist: Ein
Blick auf die Herausprägung der Literatur als Medium der Darstellung von
Erkenntnis, als Medium, das sich mit Sinnfragen befasst, zeigt, dass Literatur
mit einem derart erweiterten Anspruch aus philosophischen Schwierigkeiten
hervorgeht – und zumindest im Sinne eines Schlegel, Kierkegaard oder auch
Musil damit im eigentlichen Sinne nicht Rivalin der Philosophie ist, sondern
eine neue Art von Philosophie, eine neue Art des Philosophierens, das seine
eigene Methodenkritik in sich einschließt. Das aber bedeutet, dass die eigent-
liche Herausforderung für die Philosophie vermutlich weniger darin besteht,
sich gegen Versuche der Literatur zur Wehr zu setzen, philosophisches Ter-
ritorium zu besetzen, als vielmehr, Formenpluralität zuzulassen. Dies hieße
zunächst einmal, ein breites Spektrum von «Form-Möglichkeiten» zu ak-
zeptieren, das von der traditionellen diskursiven Form bis hin zur poetischen
Allegorie reichen könnte. Und erst die Prüfung des Zusammenspiels von
Form und Inhalt, d. h. inwieweit die Form Ausweis einer philosophischen
Methodenentscheidung und eines philosophischen Erkenntnisinteresses ist,
wäre dann Kriterium dafür, ob man es mit Philosophie zu tun hat oder nicht.
Dieserart würden weder allein formale noch allein inhaltliche Kriterien eine
«Kategorisierung» ermöglichen, sondern erst im Reflektieren auf die Inter-
M ARIA-SIBYLLA L OTTER
Nun ist die moderne Philosophie hier mit einem Problem konfrontiert,
das die antike und die mittelalterliche Philosophie nicht hatten: sie muss sich
damit auseinandersetzen, dass mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn
nicht nur neue Erkenntnislücken erzeugt werden, sondern auch Vermittlungs-
probleme, die nicht von den Wissenschaften mit ihren jeweiligen Methoden
gelöst werden können. Die Zersplitterung des Wissens in professionalisierte
Einzelbereiche hat zur Folge, dass das Spezialgebiet der jeweiligen professio-
nellen Wissenschaftler zwar an Tiefenschärfe gewinnt, sein Zusammenhang
mit anderen Wissenschaftsbereichen und unserer Alltagserfahrung jedoch
den Status von Tatsachen verlieren und zum Streitpunkt werden kann; gleich-
zeitig werden die Medien kultureller Selbstverständigung von Ideen und
Behauptungen aus den Einzelwissenschaften überschwemmt, deren Reich-
weite und Aussagekraft für andere Lebensbereiche unklar ist (Man denke
an die gegenwärtige Auseinandersetzung über die Frage, ob einige Neuro-
wissenschaftler «entdeckt» haben, dass es keinen freien Willen gibt, ob ein
«freier Wille» überhaupt etwas in ihrem Erfahrungsgebiet zu suchen hat oder
ganz woanders beheimatet ist, wie sich diese «Entdeckung» auf das Recht
und die Moral auswirken müsste, wenn man sie ernst nähme, etc, etc.).
Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, was solche Auseinander-
setzungen für die Philosophie bedeuten – und welche Funktion sie selbst für
die Wissenschaften übernehmen kann. Dabei werde ich zunächst auf den
Ansatz John Deweys eingehen, der es als Aufgabe der Philosophie anzusehen
scheint, gegenüber den Wissenschaften die Rolle einer Vermittlerin und dabei
irgendwie auch Schiedsrichterin im Wettstreit um die Ansprüche auf privile-
gierten Zugang zu den wahren Tatsachen zu übernehmen. Anschließend werde
ich einige Überlegungen zu den Voraussetzungen und Grenzen eines solchen
Vorhabens anstellen. Und schließlich werde ich dafür plädieren, die Idee einer
Philosophie als Kritikerin von Kritiken nicht wie Dewey an ein spezielles me-
thodischen Programms mit speziellen (in seinen Fall instrumentalistischen und
naturalistischen) ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen zu
binden, sondern eher als eine Leitidee zu verstehen, die auf sehr unterschied-
liche methodische Weise eingelöst werden kann (und eingelöst worden ist).
In seiner Schrift Erfahrung und Natur fordert John Dewey um 1925 nicht
weniger als eine grundlegende Umorientierung der gesamten Philosophie.
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 143
Schon an der damaligen Philosophie beklagte er, was mittlerweile in der ana-
lytischen Philosophie ganz andere Dimensionen angenommen hat: die Zer-
splitterung in Einzelbereiche und in Mikroaufgaben, die immer ausgedehnter
und professioneller bearbeitet werden, mit der Folge, dass die Schriften und
ihre Ergebnisse für Nichtphilosophen oft nicht mehr nachvollziehbar, ge-
schweige denn interessant sind. Anstatt im Bereich dieser selbst entwickelten
Aufgaben zu verweilen (und, so könnte man heute hinzufügen, anstatt im un-
endlichen Detail die Texte einzelner Fachleitwölfe aus dem angelsächsischen
Bereich zu diskutieren, nach dem Motto, dass sich der wahre Philosoph nur
für die je aktuellsten Themen und Autoren amerikanischer Fachzeitschriften
interessiert) soll die Philosophie im Ausgang von den Wissenschaften und
den Künsten Kultur- und Gesellschaftskritik leisten:
Philosophic discourse partakes both of scientific and literary discourse. Like
literature, it is a comment on nature and life in the interest of a more intense and
just appreciation of the meanings present in experience. Its business is reporto-
rial and transcriptive only in the sense in which the drama and poetry have that
office […]. It has no call to create a world of «reality» de novo, nor to delve into
secrets of Being hidden from common sense and science […].
Philosophy as a critical organ becomes in fact a messenger, a liaison officer,
making reciprocally intelligible voices speaking provincial tongues, and thereby
enlarging as well as rectifying the meanings with which they are charged.1
Deweys Konzept der Philosophie ist bekanntlich sehr komplex und integriert
verschiedene Ansätze des damaligen Pragmatismus wie William James’ Er-
fahrungsbegriff2 und einen wissenschaftstheoretischen Instrumentalismus.3
Im Folgenden werde ich mich nicht auf diesen Gesamtkomplex beziehen,
sondern mich allein auf Dewey programmatische Idee einer Philosophie
als Vermittlerin und Kritikerin der Wissenschaften und Künste konzentrie-
ren. Ganz im Geist des amerikanischen Pragmatismus beschreibt Dewey
die Philosophie nicht als reiche Wohltäterin, die über eigene begriffliche
Schätze in nur ihr zugänglichen Kammern verfügte, die sie dann zur För-
derung der Kommunikation zwischen den Wissenschaften und den Künsten
einsetzen könnte, sondern eher als ein Unternehmen, das voll und ganz vom
begrifflichen Ertrag seiner Arbeit lebt, nämlich der Vermittlung zwischen den
«provinziellen Sprachen» der Einzelwissenschaften. In dieser Funktion be-
zeichnet Dewey sie auch als einen Verbindungsoffizier zwischen den Wissen-
1 John Dewey: Experience and Nature (New York: Dover, 1958) S. 407, 410.
2 Ibid. S. 8.
3 Ibid. S. xii.
144 Maria-Sibylla Lotter
schaften und Künsten. Dieser leistet in diesem Fall jedoch einiges mehr, als
nur Mitteilungen anderer an andere zu überbringen. Die Vermittlung beruht
einerseits darauf, dass die Philosophie analog zu den Wissenschaften eine
empirische Seite hat, und zwar in einem zweifachen Sinne: Ihr empirisches
Material besteht nicht in Sinnesdaten, sondern in allen gegebenen Formen
der Reflexion auf Erfahrung, also den gegenwärtigen Begrifflichkeiten und
Annahmen der Einzelwissenschaften, der Künste und überhaupt des öffent-
lichen Lebens. Das ist sozusagen ihr Material, dem sie eine angemessene
Gestalt zu geben hat. Ihre eigentliche Arbeit soll nun darin bestehen, die
durch die vorgegebenen Interpretations- und Selektionsformen bedingten
Sichtweisen auf ihre Güte zu prüfen. Sie soll danach streben, durch die Kritik
und Vermittlung der gegebenen einzelwissenschaftlichen Reflexionsformen
ein kohärenteres und weniger einseitiges Verständnis unserer Erfahrung zu
erzeugen als die einseitigen Gesichtspunkte einzelwissenschaftlicher Leit-
ideen. Dabei sollte sie sich an der Frage orientieren, welchen Wert bestimmte
wissenschaftliche Leitideen und Vorstellungen für unser Leben haben. Ihre
Sprachanalyse und Begriffskritik sind also letztlich Instrument im Dienste
der Kritik unseres gegenwärtigen Lebens, unserer Gesellschaft und unserer
Kultur mit dem Ziel ihrer Verbesserung.
Its business is to accept and utilize for a purpose the best available knowledge
of its own time and place. And this purpose is criticism of beliefs, institutions,
customs, policies with respect to their bearing upon good.4
Unter Kritik versteht Dewey also nicht nur eine wertneutrale Analyse von
Bedeutungen, eine Rückführung von Vorstellungen auf ihre begrifflichen
Wurzeln, sondern die genaue Untersuchung des Werts eines bestimmten Din-
ges, einer mentalen Einstellung oder Praxis in Bezug auf ihre langfristigen
kulturellen und sozialen Wirkungen. Hier setzt die Philosophie etwas fort,
was nach Dewey schon in unserem Alltagsleben beginnt. Würden wir nur
in der Gegenwart leben, so Dewey, dann wären wir damit zufrieden, etwas
einfach zu genießen. Im Alltagsleben führt jedoch schon eine gewisse Zeit-
spanne zwangsläufig zur Reflexion, denn nach kurzer Zeit lernen wir, dass
gewisse Dinge süß sind, wenn wir sie genießen, aber einen bitteren Nach-
geschmack haben und auch bittere Folgen. Dann hat der Genuss aufgehört,
eine bloße Gegebenheit zu sein; er wird zum Problem.5 Das Problem ver-
langt eine intelligente Erforschung der Bedingungen und Folgen eines Wert-
4 Ibid. S. 407f.
5 Vgl. ibid. S. 398.
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 145
gegenstands; also Kritik. Während wir uns im Alltagsleben, mit Blick auf
die langfristigen Folgen für uns, mit der Kritik von Zucker, Alkohol, Drogen
und anderen im momentanen Genuss wohltuenden Gütern befassen, übt die
Philosophie Kritik auf einer höheren Ebene, nämlich Kritik von Kritiken, wie
es Dewey ausdrückt: «philosophy is inherently criticism, having its distinc-
tive position among various modes of criticism in its generality; a criticism
of criticism, as it were».6
Das heißt die Philosophie untersucht die nicht unmittelbar ersichtlichen
Auswirkungen einer bestimmten Einstellung, einer Begrifflichkeit oder einer
Praxis auf das gesellschaftliche Wohl – hier haben wir also nicht an Drogen,
sondern eher an Leitideen und ihre soziale Bewertung wie beispielsweise
den Wert der Arbeit, die Wichtigkeit des wirtschaftlichen Wachstum etc. zu
denken.
Fassen wir zusammen: Deweys Programm einer Philosophie als Kri-
tikerin von Kritiken ist weder im Sinne einer reduktionistischen Wissen-
schaftsphilosophie zu verstehen, die sich gar nicht mit Wertfragen befasst,
noch im Sinne einer reformerischen Sozialphilosophie, die von unhinter-
fragten Annahmen über die Gesellschaft und das Gute ausgeht. Die empiri-
sche Verpflichtung und der kritische Anspruch der Philosophie müssen im
Dewey’schen Rahmen vielmehr eine Verbindung eingehen. Dabei schreibt
er der Philosophie die drei folgenden Funktionen zu, die eng miteinander
verknüpft sind und demselben Ziel dienen: 1. eine Kritik gegenwärtiger
Vorstellungen, Begrifflichkeiten und Verhaltensgewohnheiten mit Blick auf
die Erfahrungen, die durch sie ausgeblendet oder verstellt werden, 2. die
Vermittlung einzelwissenschaftlicher und literarischer Diskurse im Verlauf
dieses kritischen Prozesses, mit dem Ziel, die Einseitigkeit der Sicht, die sie
jeweils auf unser Leben einnehmen, in ein umfassendes und differenziertes
Gesamtbild zu transformieren, und 3. eine Einschätzung der relativen Wahr-
heit oder Reichweite und des relativen Werts der kritisierten Vorstellungen
für unser Leben.
Während Dewey detailliert auf diese Aufgaben und Ziele eingeht, hat er
sich kaum zu den Schwierigkeiten geäußert, die mit einem solchen Vorhaben
verbunden sind. Um nur einige davon anzudeuten:
1. Nach welchen Maßstäben beispielsweise sollten die einzelwissen-
schaftlichen Konzeptionen in der philosophischen Kritik bewertet werden?
Dewey spricht hier von dem Maßstab einer möglichst reichhaltigen Erfah-
rung. Das mag als vage allgemeine Leitidee der Kritik plausibel sein, aber
6 Ibid. S. 398.
146 Maria-Sibylla Lotter
7 Zu diesen und anderen Kritikpunkten vgl. auch Michael Hampe: Kritik und Spe-
kulation, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/1 (2001) S. 134f.
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 147
sache dieser Uneinigkeit zeigt an, dass ihre Kompetenz hier allenfalls in
der Strukturierung und Hilfestellung für die Auseinandersetzung, welche
Freiheitsbegriffe überhaupt praktisch relevant sind, liegen kann, aber nicht
in der verbindlichen Festlegung des allein wahren und richtigen Begriffs-
gebrauchs für alle.
sophie einlösbar. Schon Leibniz’ Monadologie aus dem späten 17. Jahrhun-
dert ist eine solche revisionäre Metaphysik, die sowohl die ontologischen
Relationen zwischen den Gegenständen der gewöhnlichen Erfahrung und der
Wissenschaften als auch die Grundprinzipien ihrer Erkenntnis umfasst. In
der Auseinandersetzung mit Wissenschaftlern und Gelehrten wie Huygens,
Colbert, Malebranche und Arnaud in Paris, Oldenburg, Boyle und Newton
in London, Spinoza in Amsterdam war Leibniz damals mit allen wissen-
schaftlichen Themen und Denkrichtungen seiner Zeit in Kontakt gekommen
und hatte daraus seine eigene philosophische und naturwissenschaftliche
Position entwickeln können. Zugleich bemühte er sich auf verschiedenen
Ebenen, zwischen den verschiedenen Religionen, Rechtssystemen und poli-
tischen Gewalten seiner Zeit zu vermitteln. Daher wird seine Monadologie in
ihren wichtigsten Aussagen im Ausgang von ganz unterschiedlichen Wissen-
schafts- und Erkenntnisbereichen zugänglich, ist aber als Matrix von keiner
allein vollständig erschließbar. So kann man die Monadenlehre sowohl aus
begriffslogischen Überlegungen als auch aus Problemen der zeitgenössi-
schen Physik, der Metaphysik Descartes’ und der Mathematik erklären, aber
auch als eine religionsübergreifende Lösung theologischer Probleme.
Vergleichbares gilt für die spekulative Kosmologie Alfred North White-
heads, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Titel Process and
Reality vorgestellt hatte; sie sollte dazu beitragen, begriffliche Hindernisse
abzutragen, die den Austausch zwischen verschiedenen Erfahrungsbereichen
wie denen des Alltagslebens und denen der Einzelwissenschaften behindern.9
Wie Dewey schrieb Whitehead der Philosophie dabei eine experimentelle
und empirische Seite zu, die auf den vielen verschiedenen Begrifflichkeiten
beruht, die sie vorfindet: den so genannten Meinungen des gesunden Men-
schenverstandes, der philosophischen und religiösen Tradition, sowie den
Theorien und Ergebnissen der vielen Einzelwissenschaften. Sein System
sollte – wie das Leibniz’sche – dazu dienen, eine kohärente und vollstän-
dige Beschreibung der Welt zu liefern, die es dem Einzelnen ermöglicht,
sowohl seine Alltagserfahrungen als auch den Stand der Wissenschaften als
Sonderfall des allgemeinen Systems zu verstehen und entsprechend zu re-
lativieren – auch unter Wertgesichtspunkten. Philosophie muss daher nach
Whitehead konstruktiv und spekulativ sein; ihre Aufgabe liegt darin, durch
Konstruktion neuer Begrifflichkeiten eine neue Sicht der Erfahrungswirk-
lichkeit zu erzeugen. Philosophische Begriffe übernehmen hier die Funktion
von Arbeitshypothesen:
Cities of Words11 scheint er die Aufgabe der Philosophie als der einer Botin
zwischen der Literatur, der Musik, der Filmwissenschaft und den verschie-
denen Bereichen der Philosophie zu verstehen, die all diese Bereiche durch
ihre Spiegelung in anderen künstlerischen und theoretischen Formen zum
Ausdruck bringt. Ich möchte dies kurz am Beispiel eines seiner zentralen
Themen, nämlich den Hoffnungen und Abgründen des so genannten mora-
lischen Perfektionismus verdeutlichen. Der moralische Perfektionismus ist
selbst eine kritische Haltung, nämlich eine Kritik der gegenwärtigen Welt
mit dem Ziel – das Cavell symbolisch in Platons Höhlengleichnis darge-
stellt sieht – eine «in Verwirrung und Dunkelheit gefangene und entstellte
Seele ans freie Licht» zu führen. Der moralische Perfektionismus ist dabei
stets von der Gefahr bedroht, diese Aufgabe als Suche nach dem Absoluten
falsch zu verstehen. Speziell in der Philosophie erscheint diese Versuchung
als die der Erschaffung einer wahren Welt der reinen Ideen, die uns von den
Unvollkommenheiten der realen Welt absehen lässt. Der moralische Perfek-
tionismus stellt die Philosophie somit vor die Aufgabe, einerseits ausfindig
zu machen, was die Welt eigentlich so dunkel und unbefriedigend für die
Seele erscheinen lässt, andererseits zu ermitteln, wie es möglich ist, die ei-
gene, unter perfektionistischem Gesichtspunkt als mangelhaft wahrgenom-
mene Endlichkeit gleichwohl anzunehmen. In der methodischen Annäherung
an dieses Thema betätigt sich die Philosophie Cavells als Kritikerin von
Kritiken, d. h. problematischen oder sogar gefährlichen Perfektionismen,
deren einzelne Formen sie den Künsten entnimmt und durch Kontrastie-
rung mit anderen aussichtsreicheren Formen des Perfektionismus analysiert
und interpretiert.
Typisch für diese Methode ist, dass sie nicht von vornherein von einer
festen Definition des richtigen Perfektionismus ausgeht, sondern in der Aus-
einandersetzung mit dem Material – mit Filmen, mit der Sprachphilosophie,
mit der philosophischen Tradition von Platon über Emerson zu Nietzsche bis
hin zur Diagnose der politischen Gegenwart – verschiedene Aspekte dieses
Themas herausarbeitet. Dabei kann Cavell die Philosophie nutzbar machen,
um bestimmte Werke der Filmkunst in ihrem kritischen Gehalt verständlich
zu machen, aber auch umgekehrt diese benutzen, um einen neuen Zugang
zu jenen zu finden. Die Philosophie übt hier ihre Kritik an den Kritiken also
nicht mittels eines eigenen Begriffssystems, sondern anhand der allgemei-
neren Gesichtspunkte, die erst im Vergleich hervortreten.
M ANFRED F RANK
Whoever wants to understand the successions of the history of philosophy, will not,
as Droysen mocked, only follow in «eunuch-like neutrality». He/she will want to enter
into a philosophising relationship to these successions. Now, philosophy is essentially
arguing. And arguments have a formal and a material aspect. The logical validity
in the truth-value preserving transition from premises to conclusions (1), is different
from the reasons for our conviction of this truth itself (2). For the second validity
claim we are differently accountable than we are when proving the formal consistency
of our belief connections. We must justify the assumption for which we argue on its
own, independently of whether it stands in analytically correct relations to others of
its own kind, or whichever conclusions we wish to draw from it.
Only the latter, the second, aspect makes philosophy an untargetted (though truth-
committed) endeavour, a dispute between materially competing intuitions. We argue,
yes we quarrel with philosophical theses. It would be naive to believe we could ever
be so certain of a position as if it were beyond reasonable doubt. «Whether or not it
would be nice to knock disagreeing philosophers down by sheer force of argument,
it cannot be done. Philosophical theories are never refuted conclusively. […] The
theory survives its refutation – at a price» (David Lewis).
The question hence is: what price are we prepared to pay for convictions with
which we sympathise? In this consideration I am primarily advised by Stephen Toul-
min, but also raise critical questions regarding Habermas’s consensualist reception
of Toulmin’s indeterminate argumentation theory.
der (Bedeutung der) Prämissen und der Formwörter sowie der Beherrschung
der Schlussweisen ergibt. Dann aber leistet er keinen Beitrag zur Interpre-
tation der Welt. Denn über Wahrheit und Falschheit wird nicht formal, son-
dern in Auseinandersetzung mit der Welt (wir könnten auch sagen: inhaltlich
oder synthetisch) entschieden.
Nehmen wir ein beliebiges Beispiel für einen Schluss, der sich formal
gültig, also analytisch, aus den Prämissen ergibt. Ich glaube, dass Wale Lun-
gen haben. Diese Überzeugung begründe ich durch die Prämisse ‹Alle Fi-
sche haben Lungen› und den Untersatz ‹Wale sind Fische›. Von ihnen gehe
ich über zu dem Satz, der meine Überzeugung ausdrückt. Dieser Schluss ist
formal gültig, d. i. wahrheitserhaltend. Aber natürlich ist wahr im inhaltli-
chen Sinn nur die Konklusion. Sollen Argumente sich auf diese Inhaltsseite
mit erstrecken, müssen sie mehr als nur formal korrekt sein. Sonst könnten
wir drängende moralische Fragen wie die nach der Verantwortbarkeit von
Abtreibung oder Genmanipulation an Embryonen, ja einfachste Geschichts-
urteile nicht argumentförmig diskutieren. Wir könnten nur real ergehende
Äußerungen dazu auf ihre Konsistenz überprüfen.
Genau dies ist das Problem, auf das Stephen Toulmin schon Ende der
50er Jahre in seinem bedeutenden Buch The Uses of Argument den Finger
gelegt (und wacker gegen Hempels Einwände verteidigt) hatte.5 Er hatte
Argumente, die wir nicht allein aufgrund ihrer logischen Schlüssigkeit für
‹triftig› halten, ‹substantiell› genannt – im Gegensatz zu den ‹analytischen›,
die wir rein aus ihrer logischen Form als ‹schlüssig› erkennen. (‹Schlüssig-
keit› sei der Name für logische Konsequenz, ‹Triftigkeit› der für die Über-
zeugung erzielende Kraft nicht-deduktiver Argumente.)6 Im letzteren Falle
ist es logisch notwendig, von den Obersätzen zum Schlusssatz zu gehen;
im ersteren ist es nur möglich: Das heißt, wir müssen den Übergang nicht
vollziehen. Und dass wir das nicht müssen, hängt damit zusammen, dass
wir den Obersatz – im Normalfall einen allgemeinen Wenn-dann-Satz – nur
unter einer Zusatzbedingung als wahr (oder als richtig) anerkennen. Diese
Zusatzbedingung – Toulmin nennt sie ‹backing› (Abstützung) – liegt aber auf
einer anderen logischen Ebene als die Inferenzregel (die Toulmin ‹warrant›
nennt). ‹Sie liegt auf einer anderen logischen Ebene› meint dann: Sie unter-
hält keine logischen Beziehungen zum Warrant.
Grundsätzlicher kann man sagen, dass ein Argument substantiell ist, wenn
es kontingente Elemente in sich aufnimmt, also ohne Widerspruch bestritten
werden kann.7 Der Schluss – nehmen wir das ausgetretene, aber klassische
Beispiel: «Harry ist britischer Staatsbürger» – wird auf einen Untersatz (ein
‹Datum›) bezogen, der einen Grund (bzw. eine Ursache) dafür angibt. Das
Lemma (oder der Untersatz8) könnte etwa lauten: «Harry ist auf den Ber-
mudas geboren.» Um den Übergang von diesem ‹Datum› zur Konklusion
analytisch zwingend zu machen, bedarf es aber eines Brückenprinzips,9 wie
es die Induktion in den empirischen Wissenschaften darstellt. Das Datum
ist ja singulär. Ich brauche, um mit seiner Hilfe eine gültige Konklusion zu
erzeugen, einen All-Satz (einen Warrant) als Prämisse, also eine universelle
Hypothese oder Schlussregel.10 Sie hat die Form: ‹Wenn etwas ein F ist,
so ist es auch ein G.› Hier würde sie lauten: «Eine auf den Bermudas ge-
borene Person ist normalerweise ein(e) britische(r) Staatsbürger(in)» oder,
um den Schlusscharakter deutlicher hervortreten zu lassen: ‹Für alle x gilt:
wenn sie Menschen und auf den Bermudas geboren sind, dann sind sie (nor-
malerweise) britische Staatsbürger(innen).› Nimmt man diese Schlussregel
als Obersatz, folgt der Übergang vom Untersatz zur Konklusion analytisch.
Was macht das Ganze aber zu einem substantiellen Argument? Dies: dass
die Prämisse ihrerseits gar nicht ohne weiteres einleuchtet und mithin eine
Rechtfertigung, eine Abstützung (ein «backing») durch weitere Fakten oder
Meinungen verlangen kann.11 Ein solcher Beleg zur Stützung der Gültigkeit
des «warrant» wäre in unserem Beispiel etwa die Angabe von Abmachungen,
7 «[…] substantial ones (so that their soundness can be questioned without contra-
diction)» (Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 138 o.).
8 Ibid. S. 97.
9 Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 166f.; Toulmin spricht von «bridgelike
statements» (Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 105). Freilich denkt er
unter diesem Titel sonst eher an allgemeine Konditionalsätze (‹für alle x: wenn
sie F, dann sind sie auch G›), wie es die Prämisse (der Warrant) des Arguments
ist. Sie bilden darum Brücken, weil sie uns den Schritt weg aus der Singulärität
des Datums erlauben: «At this point, what are needed are general, hypothetical
statements, which can act as bridges, and authorise the sort of step to which our
particular argument commits us» (ibid. S. 98).
10 Natürlich gibt es auch Syllogismen mit zwei singulären oder mit zwei universellen
Obersätzen. Sie sind aber für diejenige Form der Argumentation uninteressant, die
uns allein interessiert: Argumente, durch die allgemeine Aussagen zur Rechtfer-
tigung einzelner Schlüsse über Individuen verwendet werden (vgl. ibid. S. 108).
11 «[W]e may be asked why in general this warrant should be accepted as having
authority» (ibid. S. 103).
Subjektivität und Argumentation 159
12 Johann Gottlieb Fichte: Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte (Berlin: de
Gruyter, 1971) (= Nachdruck der Nachgelassenen Schriften [1834/35] und der
Sämtlichen Werke [1845/46]), Bd. 2, S. 323(ff.).
13 Vgl. Charles W. Kneupper: The Tyranny of Logic and the Freedom of Argumenta-
tion, in Pre/Text, Vol. 5, N. 2 (Arlington: Routledge, 1984) S. 113-121.
14 Das ist z. B. auch die Ansicht von Robert Nozick, der im Übrigen ziemlich harte
(spiel- und evolutionstheoretische) Standards für die Rationalität von Wahl oder
Überzeugungsbildung ansetzt: «rationality involves some degree of self-con-
sciousness» (The Nature of Rationality [Princeton: University Press] S. 74). Vgl.
S. 177: «Becoming self-conscious about reasons and reasoning adds another di-
mension of control and development. Philosophy was the first discipline to carry
this self-consciousness beyond the usual to reflective people in general by making
reasoning itself the subject matter. (Hegel and Fichte later made self-conscious-
ness their subject matter.)»
160 Manfred Frank
Für die These selbst beanspruche ich keine Originalität. Obwohl es ge-
rade in Fraktionen der analytischen Philosophie gang und gäbe war, ‹kraft-
volle›, ‹zwingende› oder ‹niederschmetternde› Argumente gegen die Vorga-
ben des Opponenten/der Opponentin vorzubringen (besonders, wenn diese[r]
ein[e] Vertreter[in] der so genannten kontinentalen Philosophie war), sind
zumal im angelsächsischen Sprachraum ernste Zweifel an solchem Sturm-
und-Drang-Vokabular laut geworden. Robert Nozick sprach sarkastisch vom
Stil der «Coercive Philosophy»:
arguments are powerful and best when they are knockdown, arguments force you
to a conclusion, if you believe the premisses you have to or must believe the con-
clusion, some arguments do not carry much punch, and so forth. A philosophical
argument is an attempt to get someone to believe something, whether he wants to
believe it or not. A successful philosophical argument, a strong argument, forces
someone to a belief.15
In Wahrheit sind solche Saft- und Kraftsprüche Papiertiger, die die Macht gar
nicht haben, einem etwas anzutun, der dem angedrohten Zwang widersteht
und auf die Schmähung, sich ‹irrational› zu benehmen, pfeift. Selten verliert
der Opponent eines philosophischen «your money or your life»-Arguments
wirklich sein Vermögen. Und überhaupt: Macht sich die Philosophie als Ver-
walterin einer sanften Verführung zum Wahren oder Richtigen16 glaubwür-
dig, wenn sie die Sprache des Krieges, der Gewalt, der Repression spricht?
Nozick plädiert für die ‹intellektuelle Satyagraha›, Gandhis Wort für gewalt-
losen Widerstand und fragt:
Diesen Preis müssen wir von Fall zu Fall ermessen. Und dass wir das tun
müssen, hängt mit einer Eigenschaft substantieller Argumente zusammen,
die wir uns nun aus größerer Nähe ansehen müssen: Sie besteht darin, dass
der Übergang vom «backing» zum «warrant» nicht deduktiv/analytisch ist.
Toulmin sprach – freilich in einem ganz anderen Sinne als Russell – von
einem ‹Typensprung›.19 Damit ist gemeint, dass die Statements von Warrant
und Backing nicht auf derselben logischen Ebene liegen. Nehmen wir den
einfachsten und gewöhnlichsten Fall eines Arguments modo ponente. Hier
ist der Warrant ein All-Satz; das Backing aber besteht in einer singulären
Tatsachen-Aussage. Formal klafft zwischen beiden ein Abgrund. Der Men-
gen-Satz impliziert Existenz, der Allsatz (wenigstens nach Auffassung der
modernen Logik) nicht. Das gilt, wohl bemerkt, auch für den Fall, dass eine
empirische Aussage eine Menge von Ereignissen vollständig beschreibt,20
18 David Lewis: Philosophical Papers, Vol. I (New York, Oxford: Oxford Univer-
sity Press, 1983) S. x. Vgl. Hilary Putnam: The Many Faces of Realism (LaSalle,
IL: Open Court, 1988) S. 29, David M. Armstrong: Universals. An Opinionated
Inroduction (Boulder, San Francisco, London: Westview Press, 1989) S. 18-20,
Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden (Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1984), Bd. 6, §§ 114ff., S. 79ff.
19 Toulmin im Vorwort von The Uses of Argument sprach von ‹trans-type inference›
(op. cit. S. vii), sonst auch von «type-jumps» (z. B. ibid. S. 167 u., 229ff.), von
«ways of bridging the logical gulf in substantial arguments» (ibid.) oder von
«type-differences between our assertions and the information with which we
support them» (ibid. S. 230 u.). – Die Rede vom Typen-Sprung hat keine Verbin-
dung mit Russells «Theorie der logischen Typen» (vgl. Bertrand Russell, Alfred
N. Whitehead: Vorwort und Einleitungen zu den Principia Mathematica [Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1986] S. 55-94). Bekanntlich hatte Russell zur Vermeidung
logischer Paradoxien ein ‹Zirkelfehlerprinzip› aufgestellt. Die Paradoxien ent-
stehen dadurch, dass man Totalitäten definiert, deren Elemente abermals in Ter-
mini der gesamten Totalität definiert werden müssen. Darum besagt das Prinzip,
dass keine Totalität Glieder enthalten darf, die nur in Termini dieser Totalität
definierbar sind (so Gödel, ibid. S. XII).
20 Vgl. ibid. S. 114f.: Das Backing kann direkt als Prämisse eines Arguments auf-
treten, so in der Formulierung: ‹Kein einziger Schwede ist in ein katholisches
Taufregister eingetragen.› Die Formulierung ist kategorisch, steht für eine fakti-
sche Null-Klasse und ist formal von der anderen unterschieden: ‹Kein Schwede
ist katholisch.› Diese Formulierung steht nicht für eine Tatsache, sondern für
162 Manfred Frank
also für den Fall, dass der Warrant durch das Backing ersetzt wird. So
könnte etwa eine testartig durchgeführte Erhebung des Glaubensbekennt-
nisses der Schweden zu einem Satz führen, der einem All-Satz grammatisch
ähnelt, nämlich diesem: ‹Alle Schweden – nämlich (da wir ja mit einem
Backing als Prämisse zu tun haben): jeder Schwede und jede Schwedin, alle
Staatsbürger(innen) einzeln durchgecheckt – sind Protestant(inn)en.› Hier
hätte ich eine Menge im Obersatz, und Mengen können sehr wohl als (ab-
strakte) Einzelgegenstände betrachtet werden (nämlich von einem ‹Klassen-
Nominalisten›, wie ihn etwa David Armstrong beschreibt).21 Dann dürfte ich
nicht mehr behaupten, dass, wenn Petterson Schwede ist, der Schluss auf sei-
nen Protestantismus eine «Konsequenz irgendwelcher formalen Eigenschaf-
ten seiner konstituierenden Teile ist».22 Es bleibt also dabei: Der Ausdruck,
der die Abstützung (B) wiedergibt, ist eine empirische (und mithin fallible)
Behauptung, kein universelles Konditional. Um aber analytisch hieb- und
stichfest zu sein, müsste der Übergang vom Backing zum Warrant durch ein
Brückenprinzip vermittelt werden, wie es die Induktion in den empirischen
Naturwissenschaften ist; und durch Induktion komme ich nie auf gewiss
geltende All-Sätze.23 Und was schließlich den Gedanken betrifft, es werden
sich schon Regeln finden lassen, durch die ich die Aufstellung von Prämissen
rational kontrolliere, so könnten diese Regeln, wenn es sie gäbe, unmöglich
deduktive Kraft haben. Denn in ihnen werden Sätze ja allererst aufgestellt,
aus denen sich dann – hypothetisch – allerlei ergibt. Aber die Aufstellung
eine allgemeine Hypothese: ‹Für alle x überhaupt gilt: Ist x ein Schwede, so ist
er nicht-katholisch.› Backings sind, wenn wahr, informativ und gelten katego-
risch, Prämissen gelten nur hypothetisch und sind per se nicht wahr/informativ
(sie berechtigen uns nur, schlüssig vom Datum zur Konklusion überzugehen).
So meinen einige Logiker, All-Sätze (‹Alle A sind B›) machten keine Existenz-
Annahme, im Gegensatz zu ‹Einige A sind B›. – Die Ansicht, dass Klassen keine
Universalien (‹Typen›) sind, sondern abstrakte Individuen (‹abstract particulars›),
vertritt z. B. D. M. Armstrong: Klassen sind ‹tokens›. So kann es nur eine Klasse
aller Elektronen geben. Klassen können, anders als Typen, nicht nach Rekur-
sionsregeln wiederholt werden; die Hinzufügung oder Wegnahme auch nur eines
Elements würde sofort die (Extension der) Klasse verändern.
21 Armstrong: Universals, op. cit. S. 8ff., 21ff. Nämlich vom Klassen-Nominalisten,
der Klassen als tokens, nicht als types konstruiert (jede Änderung der Mitglied-
schaft ändert die Klasse, aber nicht den Typ; Klassen sind ‹unwiederholbar›,
Typen nicht).
22 Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 119f.
23 Ibid. S. 138 o.; 105.
Subjektivität und Argumentation 163
selbst ist innovativ, und nicht analytisch. Und darum könnte sie unmöglich
durch Schlussfolgerung aus schon etablierten Prämissen erreicht werden.24
Wollen wir also den Übergang von einer (singulären und empirischen)
Stütze zu einer allgemeinen Schlussregel kontinuierlich und damit ‹zwin-
gend› machen, so bräuchten wir ein neues Brückenprinzip von der Art des
Warrant. Nun kann man leicht einsehen, dass, wenn wir für dieses erneut eine
Hintergrundstütze (B) bräuchten, wir in einen infiniten Begründungsregress
gerieten. Irgendwann müssen wir also beim substantiellen Argumentieren
springen, ohne für den Sprung uns auf etablierte Gewissheiten verlassen
oder an sichere Übergangsregeln halten zu können. Wir müssen Einsichten
akzeptieren, die nicht analytisch die Sicherheit der Berechtigung ihres Gel-
tungsanspruchs mit sich führen.25 Die Kette der logischen Schlüssigkeit (oder
der ‹formalen Gültigkeit› des Arguments) ist hier unterbrochen, die «formale
Eleganz des Arguments ruiniert».26
Auch Putnam besteht darauf, dass es mit den Prinzipien, die begründeten
Glauben (‹warranted belief›) und begründete Aussagen (‹assertion›) regie-
ren, eine besondere Bewandtnis habe.27 Rechtfertigung (‹justification›) ist
nämlich ein Begriff, der nur auf Arten von Sätzen anwendbar ist. Deweys
Begriff der ‹garantierten Zustimmbarkeit (warranted assertability)›, kurz:
‹warrant›, ist da toleranter. Zwar macht Putnam den Unterschied zwischen
Verbürgtheit und Zustimmung durch die Mehrheit (die Mehrheit kann be-
kanntlich irren). Aber er besteht doch auch darauf, dass 1. unsere Normen
und Standards historische Geschöpfe sind und dass sie 2. unsere Interessen,
Werte und Hintergrundsannahmen widerspiegeln. So werden Venusbewoh-
ner die Ursache für den Waldbrand, den wir im unausgelöschten Feuer der
Pfadfinder und im Westwind suchen, eher darin sehen, dass unser merkwür-
diger Planet einen Sauerstoffgürtel hat.28 Das Beispiel (so dumm es auch ist)
zeigt, dass, was dem einen als Hintergrundsannahme gilt, dem anderen leicht
als Ursache erscheinen kann – dass wir also die Trennung vom Datum und
Backing nicht scharf ziehen können. Wollen wir nun nicht, wie es der meta-
physische Realist vorschlägt, den Gedanken der Wahrheit völlig abkoppeln
vom Gedanken der Belege, die wir für sie anführen können, so bleibt der
‹warrant› immer relativ auf diese geschichtlichen Standards und Interessen.29
Schlimmer noch: Selbst die Bedeutung der logischen Formwörter, selbst
diejenige des Existenzquantors bleibt relativ auf eine vorgängige Semantik
bzw. die (ontologische) Entscheidung, welche Gegenstände wir als existie-
rend durchgehen lassen – und welche nicht.30
Wenn das aber so ist (und wir haben wenig Grund, das zu bezweifeln):
Wie sollen wir uns dann den Schein von Plausibilität erklären, der in der Rede
von ‹zwingenden Argumenten› steckt? Ich habe in früheren Publikationen
vorgeschlagen, sich in diesem Zusammenhang einer nützlichen Unterschei-
dung der Phänomenologie (besonders Sartres) zu erinnern.31 Sie verläuft
zwischen Kausation und Motivation. Kausal verursacht wären Vorgänge, die
unter gegebenen empirischen Umständen (und bei Normalverhältnissen) un-
möglich nicht eintreten können: wie die Verengung der Pupille unter Licht-
wirkung oder der Ausschlag des Unterschenkels beim Kniescheibenreflex.
Motive wären dagegen Gründe, die meine Handlung nur im Lichte einer sie
allererst als Grund erschließenden vorgängigen Interpretation bestimmen.
Ein Handlungsauslöser, der seine Wirksamkeit erst kraft einer ihn als Grund
anerkennenden Interpretation entfaltet, kann nicht als kausale Ursache der
Handlung begriffen werden. Nehmen wir die Vorstellung eines Handlungs-
28 Hilary Putnam: Why there isn’t a ready-made world, in ders.: Realism and Rea-
son. Philosophical Papers, Vol. 3 (Cambridge: Cambridge University Press, 1983,
61992) S. 205-228, hier S. 212-214.
32 Wittgenstein: Werke (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984), Bd. 1, S. 295, Nr. 97.
33 Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 255. «In all fields, the force of our
warrants is to authorise the step from certain types of data to certain types of
conclusions, but, after all we have seen about the field-dependence of the criteria
we employ in the practical business of argument, it is only natural to expect that
inference-warrants in different fields should need establishing by quite different
sorts of procedure» (ibid. S. 129).
166 Manfred Frank
34 So Dewey in Logic: the Theory of Inquiry, zit. in Toulmin: The Uses of Argument,
op. cit. S. 3 u.
35 Zur Rechtfertigung der Gleichung einer Sprache mit einer Theorie vgl. Quine. Er
hat sie im Zusammenhang mit seiner bekannten These von der Unterbestimmt-
heit aller empirischen Theorien entwickelt. Diese These wieder wird aus der
Kombination zweier Annahmen begründet: 1. Peirce’s Vorschlag, die Bedeu-
tung eines Satzes als einen unser Interpretationsvermögen einbeziehenden, be-
währungsabhängigen Schlussprozess aufzufassen (die Bedeutung eines Satzes
ist, was durch das Gesamt der seine Wahrheit begründenden Aussagen gestützt
wird: dieser Prozess der Zeicheninterpretation ist empirisch unabschließbar). Aus
dieser Annahme folgt, dass Bedeutung und Information, Sprache und Theorie,
sich nicht trennen lassen. Als 2. Annahme fungiert der so genannte Holismus,
der möchte, dass Theorien nur als ganze, nicht in einzelnen Sätzen an der Wirk-
lichkeit erprobt werden. Ist sprachlich artikulierte Wirklichkeitsauffassung ins-
gesamt theorieimprägniert (mithin deutungsabhängig) – anders gesagt: macht
es überhaupt keinen Sinn mehr, eine Unterscheidung einzuführen zwischen ‹der
Art und Weise, wie die Welt wirklich ist›, und ‹unserer Weise, über sie zu spre-
chen› (Richard Rorty: Non-Reductive Physicalism, in Theorie der Subjektivität,
hg. von Konrad Cramer et al. [Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987] S. 282), dann
kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass ein und derselbe, durch
Experiment sichergestellte Erfahrungsbefund durch mehrere, untereinander in-
kompatible Theorien treffend interpretiert werden kann. «In a word, they can
be logically incompatible and empirically equivalent» (Willard V. O. Quine: On
the reasons for indeterminacy of translation, in The Journal of Philosophy 67
[1970] S. 179-183, hier S. 179). Nach welchen Kriterien wird man dann Theorien/
Sprachen auswählen? Quine lässt nur den pragmatischen Gesichtspunkt größt-
möglicher Brauchbarkeit in lebenspraktischer Absicht zu: Theorien sind nicht
Re-präsentation theorieunabhängiger Wirklichkeit, sondern ‹tools for handling
reality›. Ein solcher pragmatischer Gesichtspunkt ist z. B. die Einfachheit und
Übersichtlichkeit einer Theorie.
Subjektivität und Argumentation 167
36 Man wird ihn natürlich fragen: angemessen an was? Da doch nach Habermasens
Ansicht die Realität immer nur als gedeutete vorliegt. Habermasens Rede vom
«Hin- und Hergehen zwischen Begriff und Sache» (Habermas: Wahrheitstheo-
rien, op. cit. S. 171) macht eine realistische Voraussetzung, die zum sonstigen
durchgängigen Antirealismus seiner Konsenstheorie nicht passen will (wie kriege
ich die Sache begriffsfrei in den Blick?). – Die Rede von der Angemessenheit
des gewählten Systems scheint abermals auf Toulmin zurückzuführen. Der hatte
zwischen der ‹Korrektheit› (etwa einer mathematischer Rechnung) und ihrer
‹Angemessenheit (appropriateness)› an das zu lösende Problem unterschieden
(Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 102).
37 Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 172 o.
38 «Allein, Angemessenheit kognitiver Schemata (und entsprechender Sprachsys-
teme) an Objektbereiche (oder konstituierte Wirklichkeit) kann nicht als Wahrheit
begriffen werden, wenn nicht ‹Wahrheit› von dem mit Aussagen verknüpften Gel-
tungsanspruch völlig abgelöst, d. h. durch einen anderen Begriff ersetzt werden
soll» (Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 169). Das gilt entsprechend auch
für den Geltungsanspruch der ‹Richtigkeit›: «Freilich kann die Richtigkeit von
Geboten sowenig wie die Wahrheit von Aussagen auf die Angemessenheit von
Begriffen zurückgeführt werden» (ibid. S. 173).
39 Ein solches Konzept ist widersprüchlich. Denn auch wenn wir zugeben, dass nie
ein wahrer Satz den Wohlgeformtheitsbedingungen widersprechen könnte, wel-
che die Grammatik formuliert, liefert uns doch die Grammatik allein noch kein
Kriterium zur Auswahl der Menge aller wahren Sätze aus der der wohlgeformten.
Donald Davidson nannte eine solche Relation ‹Supervenienz›, z. B. in Mental
Events: «Such supervenience might be taken to mean that there cannot be two
events alike in all physical respects but differing in some mental respect, or that
168 Manfred Frank
an object cannot alter in some mental respect without altering in some physical
respect. Dependence or supervenience of this kind does not entail reducibility
through law or definition: if it did, we could reduce moral properties to descrip-
tive, and this there is good reason to believe cannot be done; and we might be able
to reduce truth in a formal system to syntactical properties, and this we know can-
not in general be done.» (Mental Events, in ders.: Essays on Actions and Events
[Oxford: Clarendon Press, 1980, 41986] S. 207-227, hier S. 214) Vgl. die entspre-
chende Formulierung in The Material Mind, in op. cit. S. 245-259, hier S. 253,2.
Vgl. ibid. S. 253f.: «If a certain psychological concept applies to one event and
not to another, there must be a difference describable in physical terms. But it
does not follow that/ there is a single physically describable difference that dis-
tinguishes any two events that differ in a given psychological respect.» – Das Bei-
spiel des Verhältnisses von Syntax zur Satzwahrheit findet sich in Mental Events,
op. cit. S. 214: «Think of the physical vocabulary as the entire vocabulary of some
language L with resources adequate to express a certain amount of mathematics,
and its own syntax. L' is L augmented with the truth predicate ‹true-in-L › which
is ‹mental›. In L (and hence L' ) it is possible to pick out, with a definite descrip-
tion or open sentence, each sentence in the extension of the truth predicate, but
if L is consistent there exists no predicate of syntax (of the ‹physical› vocabulary),
no matter how complex, that applies to all and only the true sentences of L.»
40 Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 173 u.
41 Vgl. ibid. S. 172,2: «Eine Konsenstheorie der Richtigkeit setzt sich eher dem
Zweifel aus, ob praktische Fragen überhaupt wahrheitsfähig, ob die Richtig-
keit von Geboten oder Verboten überhaupt ein diskursiv einlösbarer Geltungs-
anspruch ist und nicht vielmehr etwas bloß Subjektives.»
42 Ibid. S. 174ff. Ich weiß: Habermas wehrt die Deutung der Vorgriffs auf die ideale
Subjektivität und Argumentation 169
51 Vgl. Manfred Frank: Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwi-
schen Lyotard und Habermas (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988).
52 Vgl. Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden, op. cit. Bd. 4, S. 56; Bd. 3, S. 155 o.;
Bd, 1, S. 340f., Nr. 193f.; Bd. 3, S. 154f.
53 Habermas (Wahrheitstheorien, op. cit. S. 107, 133) beruft sich auf Peirce, der
bemerkt hatte, dass wir den Ausdruck ‹Wirklichkeit› selbst nur über den ande-
ren der ‹wahren Aussage› einführen können. Ist das der Fall, so haben wir kein
Aussagesatz-unabhängiges Kriterium für die Wirklichkeit von Sachverhalten und
würden uns in einem Zirkel bewegen, wollten wir – wie es die realistische Kor-
respondenztheorie vorschlägt – die Wahrheit von Sätzen umgekehrt durch die
Wirklichkeit dessen definieren, was in ihnen behauptet wird.
172 Manfred Frank
M ARKUS C HRISTEN
In science, technology and social science, various projects can be identified that
intend to naturalize autonomy – a central philosophical concept, in particular in
ethics, philosophy of law and political philosophy. This contribution analyzes the
impact of this «naturalization» of the autonomous agent on the philosophical un-
derstanding of autonomy. First, an overview of the discussion on personal autonomy
within contemporary philosophy is given. In a second step, two different notions of
autonomy – strong and weak autonomy – are introduced. This basic distinction is
complemented with a general scheme of analysis that allows the build-up of a tax-
onomy of autonomy along four dimensions (qualitative, temporal and environmental
aspect of actions, and structural aspects of the autonomous agent). Third, the pos-
sible impact of naturalizing autonomous agency on the philosophical concept of au-
tonomy is exemplified in the field of neuroscience. Finally, limits of the naturalization
project are identified by introducing the concept of «Setzung» (determination) – an
act performed by an autonomous agent such that the agent is able to perceive him-
or herself as being autonomous. It is argued that this process of a «Setzung» cannot
be fully understood by empirical means and thus marks the limits of the project of
naturalizing autonomy.
1. Das Problem
Autonomie ist ein Zentralbegriff der Moderne. In der Philosophie spielt der
Begriff vorab in der Ethik, der Rechtsphilosophie und der politischen Philo-
sophie eine maßgebliche Rolle.1 Aber auch in anderen Wissenschaften wie
dem Recht generell, der Psychologie, der Pädagogik und den Politikwis-
senschaften finden sich Konzepte von Autonomie.2 In all diesen Bereichen
bringt der Begriff das Freiheitsbewusstsein und Selbstbestimmungsrecht des
1 Heiner Bielefeldt: Autonomie, in Handbuch Ethik, hg. von Marcus Düwell, Chris-
toph Hübenthal, Micha H. Werner (Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 2002) S. 305-
308.
2 Rosmarie Pohlmann: Autonomie, in Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 1 (Basel: Schwabe, 1971) S. 701-719.
176 Markus Christen
Einzelnen bzw. von Gruppen von Menschen zum Ausdruck. Er gilt im Wei-
teren als unabdingbare Komponente für die theoretische Fundierung ver-
schiedener normativer Ethiken und spielt auch in diversen Bereichen der
angewandten Ethik eine zentrale Rolle – beispielsweise in der Medizinethik.3
«Autonomie» prägt also wichtige Teilbereiche der Philosophie.
Demgegenüber bilden neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse über
die Natur der Autonomiefähigkeit – gewonnen vorab in der Neurowissen-
schaft – und tiefere Einsichten in die gegenseitige Abhängigkeit von Akteu-
ren in einer modernen, durch die wirtschaftliche Globalisierung geprägten
Gesellschaft eine Herausforderung für den klassischen Autonomiebegriff. Es
stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit das zunehmende Wissen über
innere Determiniertheit und extern gegebene Abhängigkeiten und Beziehun-
gen zwischen autonomen agents 4 den Begriff der Autonomie selbst tangie-
ren. Unter Einbezug der technischen Forschung mit dem Ziel der Konstruk-
tion künstlicher autonomer Systeme wird damit insgesamt ein Projekt einer
Naturalisierung von Autonomie sichtbar, das die philosophischen Aspekte
des Autonomiebegriffs beiseite zu schieben droht.
Der vorliegende Beitrag plädiert dafür, dass diese Erkenntnisse aus den
Natur- und Sozialwissenschaften zwar zu einer Theorie der Autonomie bei-
tragen müssen, diese Theoriebildung aber eine primär philosophische Auf-
gabe bleibt und kein rein natur- bzw. sozialwissenschaftliches Projekt ist.
Dies, weil der (noch zu erläuternde starke) Autonomiebegriff eine inhärent
normative Komponente beinhaltet. Dieser Autonomiebegriff erfordert Set-
zungen des agent hinsichtlich seiner Möglichkeiten und Grenzen der Wahr-
nehmung von Autonomie, wobei die Natur dieser Setzung nicht vollständig
naturwissenschaftlich erfasst werden kann. Es handelt sich vielmehr um
einen Akt, mit dem der agent die mit der naturwissenschaftlichen Erfassung
derart komplexer Phänomene einhergehenden Unschärfen umgeht, so dass
er sich selbst als handlungsfähig erlebt. Diese Setzung wird hier als Lösung
6 Gewiss fanden sich bereits bei antiken Autoren Unterschiede hinsichtlich der
Tragweite von Autonomie sowie gar Ausweitungen des Begriffs auf Einzelper-
sonen, siehe dazu Pohlmann: Autonomie, op. cit. S. 701.
7 Herodot: Historien (Stuttgart: Kröner, 1971) S. 46.
8 Ein Beispiel ist, dass Formen der Wahrnehmung von Autonomie auf der Ebene
von Gruppen von Personen metaphorisch auch auf Einzelpersonen selbst An-
wendung fanden – so die Metaphorik des «inneren Gerichtshofs», mit welcher
Kant die Funktion des Gewissens beschrieb (Die Metaphysik der Sitten [Stuttgart:
Reclam, 1990] S. 277-278).
9 Jerome B. Schneewind: The Invention of Autonomy (Cambridge: Cambridge Uni-
versity Press, 1998) S. 5-6.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 179
Gewiss war Kants Konzeption des Begriffs keine endgültige Theorie von
Autonomie. Bereits kurz nach der Veröffentlichung der «Grundlegung»
wurde von einer Reihe von Philosophen betont, dass Autonomie im Sinn
von Selbstbestimmung durch Vernunft die Bindung des Menschen und sei-
ner Ethik an Gott verneine.12 Diese Kritiken gehören aber noch in den Dis-
kussionskontext der Entwicklung jener neuen ethischen Theorien, welche
Moral nicht mehr als Ergebnis des Befolgens extern vorgegebener Regeln
10 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in ders.: Werke in sechs
Bänden, Bd. 3 (Köln: Könemann, 1995) S. 440, Seitennummer gemäß Original-
ausgabe.
11 John Stuart Mill: Über die Freiheit (Stuttgart: Reclam, 1988) S. 86-88.
12 So etwa von Friedrich Heinrich Jacobi (1926), siehe dazu die Übersicht in Die
Schriften F. H. Jacobis, hg. von Leo Matthias (Berlin: Die Schmiede, 1926)
S. 23-37.
180 Markus Christen
verstehen. Heute jedoch werden die leiblichen und sozialen Dimensionen der
Begrenztheit der menschlichen Autonomiefähigkeit betont. Es ist offensicht-
lich, dass ein autonomer agent seine Autonomie nicht im «luftleeren Raum»
wahrnimmt, sondern dass diese in biologisch fundierten Fähigkeiten und
sozial gegebenen Möglichkeiten wurzelt. Der agent handelt zudem in der
Zeit, was diesen in psychologischer wie biologischer Hinsicht wandelt und
dessen soziale Einbettung verändert. Joel Feinberg identifizierte denn auch
mindestens vier Aspekte, welche Autonomie charakterisieren: Autonomie als
(innere) Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, als (äußere) reale Bedingung
der Selbstbeherrschung, als Tugendideal für die betreffende Person, sowie
als eine Menge von Regeln, die für die Selbstgesetzgebung nötig ist.13 Von
der zeitgenössischen Philosophie wurde damit der Autonomiebegriff unter
dem Stichwort «personal autonomy» im Hinblick auf die Wahrnehmung von
Autonomie durch Individuen ausdifferenziert.14
Nachfolgend wird «Autonomie» primär auf Handlungen 15 eines agent
bezogen bzw. es wird die Frage gestellt nach den Bedingungen, welche
Handlungen als solche eines autonomen Subjekts auszeichnen. Der Über-
blick (die genannten Autoren sind nur als Beispiele zu verstehen) über die
Diskussion um personal autonomy soll dazu dienen, Anknüpfungspunkte
für eine «Naturalisierung» von Autonomie offen zu legen, welche von den
nachfolgend in Abschnitt 4.1 vorgestellten, außerphilosophischer Diszipli-
nen angestrebt wird:
– Hierarchische Konzeptionen.16 Hierbei handelt es sich um den wohl
einflussreichsten Vorschlag im Hinblick auf die Bestimmung der Fähig-
keiten, welche die Wahrnehmung von Autonomie ermöglichen. Kurz ge-
sagt muss ein autonomer agent die Fähigkeit haben, motivierende Wün-
sche (Wünsche zweiter Stufe) zu entwickeln. «Hierarchisch» bedeutet
demzufolge, dass ein autonomer agent eine innere Struktur derart hat,
dass die Beweggründe für Handlungen reflektiert werden können. Im
17 Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind (Cambridge, MA: Har-
vard University Press, 1956); Dieter Sturma: Autonomie. Über Personen, Künstli-
che Intelligenz und Robotik, in Autonome Maschinen, hg. von Thomas Christaller,
Josef Wehner (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003) S. 38-55.
18 John Christman: Autonomy and personal history, in Canadian Journal of Phi-
losophy 21/1 (1991) S. 1-24; Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der
Individualität (Stuttgart: Reclam, 1999); Michael Pauen: Freiheit und Verantwor-
tung. Wille, Determinismus und der Begriff der Person, in Allgemeine Zeitschrift
für Philosophie 26/1 (2001), S. 23-44.
19 Z. B. Christman: Autonomy and personal history, op. cit.
20 Gerhardt: Selbstbestimmung, op. cit. S. 406-413.
182 Markus Christen
26 Autonome Maschinen, op. cit.; Jan-Jan Van der Vyver, Markus Christen, Norbert
Stoop, Thomas Ott, Willi-Hans Steeb, Ruedi Stoop: Towards genuine machine
autonomy, in Robotics and Autonomous Systems 46/3 (2004) S. 151-157; Tim
Smithers: Autonomy in Robots and Other Agents, in Brain and Cognition 34
(1997) S. 88-106.
27 Pauen: Freiheit und Verantwortung, op. cit.
28 Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert
(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003) S. 496.
29 Der Begriff «einhergehen» ist bewusst offen gewählt worden und soll lediglich
zum Ausdruck bringen, dass biologische Prozesse «irgendwie» dazu beitragen,
einen Gedanken zu haben. Wie genau die kausale Struktur dieses Beitrags ist,
184 Markus Christen
ohne hier weiter auf die zweifellos vielgestaltigen Probleme des Bewusst-
seinsbegriffs eingehen zu wollen. Dieses Bewusstsein ist einerseits Träger
der Handlungsgründe und beinhaltet also die Fähigkeit des agent, etwas
überhaupt als Grund für eine Handlung ansehen zu können. Andererseits
ermöglicht Bewusstsein das Einnehmen einer Außenperspektive gegen-
über den Sequenzen von Gründen,31 welche schließlich zu einer Handlung
A geführt haben. Starke Autonomie beinhaltet demnach die Fähigkeit, die
Sequenz eigener Handlungsgründe zu erkennen, neu zu beurteilen und zu
wissen, dass man die Sequenz dergestalt ändern kann, dass auch Schluss B
möglich gewesen wäre. Der Eingriff in die Sequenz von Handlungsgründen
kann dabei durchaus rein hypothetischer Natur sein – etwa im Sinn, dass
gewisse Handlungsgründe auf früher zurückliegende, nicht mehr rückgän-
gig machbare Entscheide beruhen. Im Kontext der vier von fünf vorgestell-
ten Strängen der zeitgenössischen Debatte um personal autonomy bedeutet
starke Autonomie zusammengefasst die Fähigkeit, Wünsche zweiter Stufe
zu entwickeln, das bewusste Bewegen im eigenen «Raum der Gründe», die
Entwicklung eines Selbstbildes von sich als autonomer Person und das damit
verbundene Gestalten einer «eigenen Lerngeschichte» durch Beziehungen
zu anderen agents.
Eine offene Frage in dieser Bestimmung von starker Autonomie ist, inwieweit
diese mit dem Determinismus kompatibel ist. Ein definitorischer Aspekt der
schwachen Autonomie hingegen ist, dass diese mit Determinismus vereinbar
ist. Bereits der Autonomiebegriff der Mathematik bringt dieses schwache
Autonomieverständnis auf den Punkt: Eine autonome Differentialgleichung
beschreibt ein System, dessen Dynamik von keinem externen, zeitabhängi-
gen Parameter abhängt. Das System selbst (bzw. dessen Dynamik) ist durch
die Differentialgleichung vollständig determiniert und die Autonomie des
Systems zeigt sich darin, dass es auf veränderte Randbedingungen (z. B.
Einschränkung des Zustandsraums) mit einem veränderten Verhalten reagiert
– beispielsweise dadurch, dass der Attraktor des dynamischen Systems sich
31 Gemeint ist damit, dass Handlungen meist nicht auf isolierte Gründe beruhen,
sondern auf einem (mehr oder weniger) kohärenten Begründungszusammenhang
beruhen, wobei sich die einzelnen Gründe hinsichtlich Bedeutsamkeit und Ur-
sprung gewichten lassen.
186 Markus Christen
32 Van der Vyver et al.: Towards genuine machine autonomy, op. cit.
33 Siehe dazu Christen: Schuldige Maschinen?, op. cit.
34 Autonome Maschinen, op. cit. S. 9-35.
35 Smithers: Autonomy in Robots and Other Agents, op. cit.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 187
36 Gewiss wäre hier die Frage interessant, inwieweit gewisse Primaten ebenfalls
«stark autonom» sind – was an dieser Stelle aber nicht weiter untersucht werden
kann.
37 Mit dem Stichwort «methodischer Dualismus» wird hier das bei der Korrelie-
rung psychischer mit neuronalen Phänomenen auftretende Problem bezeichnet.
Beispielsweise in der Neuronwissenschaft werden Hirnprozesse bzw. psychi-
sche Phänomene auf sehr unterschiedliche Weise beobachtet. Viele dieser Pro-
zesse sind auf einer sehr kurzen Zeitskala angesiedelt sind (z. B. EEG-Aktivität),
die nur schwer mit komplexen psychischen Entitäten korreliert werden können,
zumal diese vielleicht gar keine gar keine psychobiologischen Entitäten sind, son-
dern Manifestationen der verwendeten experimentellen Methoden und Theorien
(siehe dazu William R. Uttal: The New Phrenology. The Limits of Localizing Cog-
nitive Processes in the Brain [Cambridge: MIT Press, 2001], Kapitel 3). Vorab bei
psychischen Phänomenen wird man zudem ab einer gewissen Komplexitätsstufe
nicht darum herum kommen, die Innenperspektive mit einzubeziehen.
188 Markus Christen
Naturalisierung von Autonomie bedeutet, dass man über die empirische Spe-
zifizierung der Autonomiefähigkeit den Begriff der Autonomie selbst na-
turalisieren will – sprich Autonomie zu einer natürlichen Eigenschaft machen
will, die Systeme ab einer gewissen Komplexitätsstufe haben. Das Projekt
geht implizit davon aus, dass letztlich ein Verständnis von schwacher Auto-
nomie ausreichend ist, um starke Autonomie begreiflich zu machen – in dem
Sinne, dass man das Zusammenwirken schwach autonomer Prozesse der-
einst ausreichend verstehen wird, um damit die daraus resultierende starke
Autonomie zu erklären. Um den Prozess der Naturalisierung von Autonomie
verstehen zu können, muss weiter festgehalten werden, dass zahlreiche Mo-
tive und Anwendungsbereiche für dieses Projekt bestehen:
– In der Neurowissenschaft ist die Suche nach «neurobiologischen Grund-
lagen» von Entscheidungsfindung, von moral agency, und von Phäno-
menen mit begrifflicher Nähe zu Autonomie (Vertrauen, Kooperation
etc.) zu einem Trendthema geworden, in das aus unterschiedlichen
Gründen bedeutende Ressourcen gesteckt werden.39
– In der Medizin ist die Feststellung von Autonomiefähigkeit ein wich-
tiges empirisches Problem geworden, nachdem Autonomie zu einem
zentralen Element der Medizinethik geworden ist.40 Dieses Problem
stellt sich in besonderer Schärfe bei neurodegenerativen Krankheiten,
bei welchen die «Infrastruktur der Autonomiefähigkeit» (das Gehirn) ei-
nem langsamen, aber stetigen Verfall preisgegeben ist,41 und damit etwa
praktische Probleme im Rahmen des informed consent zu Behandlungen
zur Folge haben kann – zumal die informierte Zustimmung ja von einem
autonomen agent gegeben werden soll.
Nachfolgend soll in einem ersten Schritt eine Idee vermittelt werden, wie
anhand der vier vorgeschlagenen Dimensionen von Bedingungen für die
Fähigkeit der Wahrnehmung von Autonomie eine Taxonomie von Autonomie
erstellt werden kann. In einem zweiten Schritt wird dann auf die genannte
Setzung eingegangen. Zu den vier genannten Dimensionen lassen sich fol-
gende Beispiele von Eigenschaften und Fähigkeiten nennen, die Gegenstand
begrifflicher Klärungen und empirischer Erfassung sein könnten. Die Se-
quenzierung wird als «Annäherung» an den autonomen agent bezeichnet,
in dem Sinne, dass «nähere» Eigenschaften bzw. Fähigkeiten eine höhere
Wahrscheinlichkeit besitzen, vom agent selbst als Setzung im Hinblick auf
seinen Status eines autonomen agent verstanden zu werden:
feld beeinträchtigen. Dritter Punkt wäre dann der «akute Zwang» – also
jene Aspekte, welche die Handlung des agents im Moment des Handelns
beeinflussen. Zwangsbedingungen, über die der agent keinerlei Verfü-
gungsgewalt hat, hätten hier ebenfalls den Status einer Setzung.
(4) Die Dimension «innere Systemstruktur» betrifft die Prozesse im agent
selbst, die dessen Existenz als handelndes Wesen zugrunde liegen und
prinzipiell mit der Hilfe (natur-)wissenschaftlicher Methoden erfasst
werden können. Erstens betrifft das den generellen Stand des natur-
gesetzlichen Wissens, soweit dieses für die Beschreibung des agent
notwendig ist (beispielsweise die Anthropologie, wenn Menschen die
agents sein sollen). Zweitens wären dies die konkreten Modelle der Pro-
zesse, welche die innere Dynamik des agent bestimmen (beispielsweise
ein Robotermodell von Ameisen, wenn diese die zu untersuchenden
agents sind). Drittens kann schließlich die Frage des Prognosehorizonts,
der sich aus diesem Wissen ergibt, genannt werden.
Diese Ausführungen sind zweifellos erst eine Skizze und dienen hier in erster
Linie als Erläuterung des in Abschnitt 3.3. vorgestellten Schemas.
dass der agent quasi axiomatisch sich als autonom definiert, sondern viel-
mehr, dass er hinsichtlich jeder der vier genannten Dimensionen zu einem
Punkt kommt, wo die Lebenswirklichkeit eine Setzung verlangt, die nicht
weiter hinterfragt wird.
Was zeichnet eine Setzung in theoretischer Hinsicht aus? Offenbar kommt
diese dann zum Zug, wenn das zu untersuchende Problem durch Rückbe-
züglichkeiten und kategorial verschiedene Aspekte beschrieben wird. Die
Setzung wird dabei nicht von jenen vorgenommen, welche den autonomen
agent möglichst umfassend beschreiben wollen und dabei an Erkenntnis-
grenzen stoßen, die sich aus dem jeweiligen Stand der (primär naturwissen-
schaftlichen) Methoden ergeben. Vielmehr nimmt der agent selbst diese
Setzung vor. Will er diese Setzung verstehen, kommt eine Kompetenz von
Philosophie zum Zug: ein multi-kategoriales Begründen von Setzungen in
methodisch unsicherem Gebiet, weil die diesbezügliche Unbestimmtheit mit
der Begründungsstrategie verschränkt ist und nicht vorgängig gelöst werden
kann. Insofern ist es falsch zu glauben, die Natur der Setzung sei rein als
psychologisches Problem zu verstehen und zu untersuchen – auch wenn
natürlich unterschiedliche agents unterschiedliche Setzungen machen, die
wiederum von den konkret zur Verfügung stehenden Fähigkeiten der agents
abhängen. Doch die Setzung umfasst möglicherweise auch schwierige wis-
senschaftsphilosophische Fragen – etwa das Problem der downward causa-
tion, die im Kontext der Emergenzdebatte aufgetaucht ist,45 zumal starke
Autonomie ihre physikalische Realisierung durch ein derart bezeichnetes
Phänomen erreichen könnte.
Offen bleibt in dieser Betrachtung die Frage, ob und wie man in diesem
Kontext die spezifischen moralischen Aspekte des Autonomieverständnisses
von Kant untersuchen soll. Interessant ist hier, dass die Wahrnehmung von
Autonomie im Sinne von Kant ja durchaus zu Einschränkungen des Han-
delns des agents führt – es geht also z. B. um ein bestimmtes Selbstbild und
um ein reguläres Sich-Bewegen im Raum der Gründe. Für Kant waren solche
Fragen dem Problem der Autonomie nachgeordnet, da Autonomie in diesem
Bild die Voraussetzung dafür ist, dass sich der agent ethische Einschränkun-
gen auferlegen kann. Insofern erscheint die Autonomie bei Kant selbst als
Setzung durch den agent. Möglicherweise ist das Verhältnis zwischen den
Setzungen des agent und den moralischen Einschränkungen, die er sich auf-
erlegt, aber komplexer als das von Kant suggerierte Bild.
E RWIN S ONDEREGGER
Different reasons give rise to the question, what philosophy really is, and by tradi-
tion we know many answers. Plato’s answer can be found by examining his explicit
statements about philosophy in his dialogues, or by analyzing his representation of
Socrates – philosophy become flesh. But an other way to find an answer to the ques-
tion lies in examining the things which – according to Plato – we cannot do without.
There are three of them, namely the idea, logos and aporia. These three taken together
– the insight that we orient ourselves according to some unity in our different fields
of life; that we cannot dismiss dialogue and debate; and questions outlive answers –
paint a picture of philosophy as «unbehauptendes Denken»1 [undogmatic thought].
Such «unbehauptendes Denken» does not aim to insist on new claims against old
ones, but instead seeks to analyze and to reflect upon old views.
1. Einleitung
Im Laufe der Geschichte haben verschiedene Anlässe dazu geführt, die Frage
zu stellen: «Was ist Philosophie?» Einige davon werde ich nennen, um dann
1 Das Wort «unbehauptend» ist kein reguläres deutsches Wort, es ist nicht ein-
mal korrekt gebildet; die Wörter mit der Negation un- sind meist Adjektive (un-
glücklich) oder mit Ableitungen auf -bar (unsichtbar) oder passiven Parizipien
(unbemerkt) verbunden; Bildungen mit dem aktiven Partizip kommen eigentlich
nicht vor; «unbedeutend» ist eher den Adjektiven zuzurechnen. Eine Bildung mit
un- mit dem aktiven Partizip findet sich aber bei Goethe in den Gedichten Das
Göttliche («Denn unfühlend Ist die Natur») und Der Wanderer («Unfühlend, wel-
chen Zierat sie verklebt» sc. die Schwalbe, die ihr Nest baut). Mit dem un- scheint
mir die völlige Unmöglichkeit, das Negierte zu tun, ausgedrückt; die Natur hat
in keiner Weise ein «Gefühl» dafür, dass ihre Wirkung auf ganz unterschiedliche
Menschen trifft und sie verschieden betrifft. In gleicher Weise möchte ich mit
dem Ausdruck «unbehauptendes Denken» zu verstehen geben, dass diese Art
des Denkens mit Behaupten gar nichts zu tun hat. Ein nur nicht-behauptendes
Denken wäre dagegen ein Denken, das im Moment gerade nichts behauptet, doch
ansonsten durchaus danach gesonnen ist.
198 Erwin Sonderegger
auf drei Stellen bei Platon einzugehen, die auf indirekte Weise Platons Ant-
wort zeigen. Ich nenne die Antwort an diesen Stellen «indirekt», weil Platon
hier die Philosophie nicht definiert oder in anderer Art bestimmt, sondern nur
sagt, was wir nicht verlieren dürfen, wenn wir die Philosophie nicht verlieren
wollen: Die Idee nämlich, das Gespräch und die Aporie.
Die Frage, was Philosophie sei, taucht immer wieder auf und begleitet
das Philosophieren aller Zeiten. Allerdings nicht bei ihrem ersten Entstehen.
Um die Frage stellen zu können, muss schon eine Tradition der Philosophie
bestehen. Die Vorsokratiker als die Anfänger unserer Tradition haben sich
die Frage nicht gestellt. Sie haben sich nicht vorgenommen, «jetzt wollen
wir einmal philosophieren,» sondern sie haben eine gewisse reflektierte Ein-
stellung zu ihrer Welt eingenommen, die im Nachhinein für Philosophie
gehalten worden ist. Darauf konnte man fragen, was sie eigentlich unter
diesem Titel gemacht haben. Dass man das, was sie gemacht haben, später
für «Philosophie» gehalten hat, zeigt die Anekdote, die Pythagoras zum Er-
finder des Wortes gemacht hat.2 Erst dann, wenn ein Einzelner oder auch eine
Schule schon behauptet hat «Das, was wir tun, ist Philosophie,» ist die Frage
möglich. Das ist wohl schon vor Platon der Fall, bei ihm ist es aber speziell
in Texten fassbar. Vor ihm hat Herodot in der Geschichte von Krösus und
Solon σοφία und φιλοσοφεῖν kontrastiert, Platon gibt erstmals eine Defini-
tion. Im Symposium bestimmt er die Liebe zum Wissen im Gegensatz zu
dessen Besitz als Philosophie (Symposion, 203c-204b); in der Politeia be-
zeichnet er die Dialektik, den Höhepunkt im curriculum, als Philosophie.
Der Erste, der literarisch fassbar die Frage «Was ist Philosophie?» ge-
stellt hat, ist König Leon von Phlius; als dieser Pythagoras gefragt habe,
was er denn sei, habe dieser geantwortet «ein Philosoph». Das habe er durch
den Unterschied von drei Lebensweisen erläutert, die anlässlich eines Wett-
kampfspiels sichtbar werden. Neben den Athleten und den Händlern stünden
die Zuschauer, diese würden den Philosophen gleichen, weil sie das, was sie
tun, nicht um des Gewinns oder der Ehre willen tun. Nun war König Leon
von Phlius ein Außenstehender. Für ihn war die Frage echt. Wenn Philoso-
phen diese Frage stellen, ist dies seltener der Fall.
Einen der Anlässe zu dieser Frage hat Cicero musterhaft formuliert, näm-
lich die Vielfalt sich widersprechender Meinungen von Philosophen.3 Der
Epikureer Velleius sagt mit Blick auf die damals noch kurze Geschichte
der Philosophie, exposui fere non philosophorum iudicia sed delirantium
somnia «was ich dargestellt habe, waren kaum Urteile von Philosophen,
sondern Träume von Wahnsinnigen». Heute wäre der Ausruf um nichts we-
niger berechtigt, und immer noch ist kein Kriterium zur Scheidung in dieser
Vielfalt von Behauptungen in Sicht. Kant hat zwar die Unbeweisbarkeit der
Außenwelt den «Skandal der Philosophie» genannt: «So bleibt es immer
ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Da-
sein außer uns […] bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es
jemandem einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis ent-
gegenstellen zu können»,4 aber die von Cicero genannte wirre Vielfalt der
Meinungen ist nicht weniger ein Skandal. Jedenfalls ist vor kurzem ein Buch
mit dem Titel Die Philosophie – ein Skandal erschienen, der sich darauf
bezieht.5 In dieser Situation ist es wohl gerechtfertigt, wieder zu fragen, was
diese einander Widersprechenden eigentlich tun; gelegentlich fragen diese
sich das selbst.
Diese Vielfalt der Meinungen ist aber nicht willkürlich, sondern sie be-
ruht darauf, dass die jeweils nachfolgenden Denker das, was ihre Vordenker
gedacht haben, sehr oft für ungenügend befanden. Die Philosophiegeschichte
ist voll von entsprechenden Beispielen und von der Bereinigung der dabei
stattfindenden Missverständnisse leben viele Philosophieprofessoren. Die so
genannte Ideen-Kritik durch Aristoteles ist ein Beispiel für dieses Feststellen
des Ungenügens, ein anderes die Umwertung, die Hegel an Idee und Dialek-
tik vornimmt, wie Kant sie verstanden hat, ein weiteres die heideggersche
Umorientierung von dem, was Husserl unter Phänomenologie verstanden
3 Cicero: De natura deorum, I, 42. – Für Cicero selbst ist die Philosophie vitae dux
(Tusc. 5, 5) und magistra vitae (Tusc. 2, 16).
4 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXXIX-XL. Darauf antwortet
Martin Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, 1927, 91960): «Der
‹Skandal der Philosophie› besteht nicht darin, dass dieser Beweis bislang noch
aussteht, sondern darin, dass solche Beweise immer wieder erwartet und versucht
werden», denn zu «beweisen ist nicht, dass und wie eine ‹Außenwelt› vorhanden
ist, sondern aufzuweisen ist, warum das Dasein als In-der-Welt-sein die Tendenz
hat, die ‹Außenwelt› zunächst ‹erkenntnistheoretisch› in Nichtigkeit zu begraben,
um sie dann erst zu beweisen» (§ 43a, S. 205f.).
5 Joachim Hofmann: Die Philosophie – ein Skandal (Donauwörth: Empeiria,
2005).
200 Erwin Sonderegger
hat. Dazwischen stehen die weiteren endlosen Streitigkeiten, die alle zu-
sammen dem Außenstehenden, am Streit nicht unmittelbar Beteiligten, die
Frage nach dem, was denn hier geschieht, sehr nahe legen, und das ist dann
eben die Frage «Was ist Philosophie?» Angesichts dieses Tatbestandes kann
sich ein unbeteiligter Beobachter sehr wohl fragen, ob tatsächlich immer
die Nachfahren klüger seien als ihre Vorfahren. Er kann sich auch fragen,
warum eigentlich die Vordenker immer etwas, meistens den «entscheidenden
Punkt» übersehen haben, wobei unterdessen voraussagbar ist, dass dies den
Nachdenkern unweigerlich auch wieder zustoßen wird, sobald sie durch den
Lauf der Zeit selbst Vordenker geworden sind.
Der historische Gang der Wissenschaften weg von der Philosophie be-
rechtigt ebenfalls zur Frage. Es ist ein übliches Schema der Wissenschafts-
geschichte, dass die Philosophie in ihren Anfängen noch alles, was es zu
wissen gab, unter ihren Fittiche hatte; im Laufe der Zeit aber verselbständigte
sich immer mehr davon. Je mehr Erfahrungen in einem Gebiet gemacht
worden waren, umso mehr etablierte sich das entsprechende Wissen als eine
eigene Wissenschaft; es war nicht mehr nötig «zu philosophieren», man hatte
Daten, machte Experimente und war Realist.
Medizin, Technik, Geographie, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie,
generell Naturwissenschaft, schließlich auch Psychologie, Wirtschaft, das
Wissen über die Gesellschaft und den Staat, kurz das Wissen über alles Wis-
senswerte, hat sich von der Philosophie emanzipiert. Comte hat diese Ent-
wicklung in die drei Stadien, die jede Wissenschaft durchläuft, zusammen-
gefasst: Sie beginnt als Theologie, und, sobald sie das metaphysische Stadium
hinter sich gebracht hat, erreicht sie im positiven Stadium ihre Wahrheit. In
diesem Strom schwimmen der Philosophie die Felle davon und es erhebt
sich die Frage, was der Philosophie eigentlich zu tun bleibe, da doch die
wesentlichen Fragen bei den Wissenschaften, wie es scheint, besser auf-
gehoben sind.6
Wer sich erneut der Frage zuwendet, was Philosophie sei, muss dies in
Kenntnis davon tun, dass diese Frage schon unzählige Male in verschiedenen
Kontexten aus verschiedenen Gründen gestellt worden ist. Vorsichtigerweise
kann man die Antwort bei jemand anderem suchen. Es wäre zwar mutiger,
selbst etwas Originelles zu behaupten, aber der Mut kann sich ja auch in der
Auslegung bekannter Texte äußern. – Bei Platon kann man lernen, dass das,
was unter «philosophieren» zu verstehen ist, nicht nur an dem bemessen
werden kann, was jemand sagt oder schreibt, sondern besser noch daran,
was er tut. Es ist offensichtlich, dass Sokrates bei Platon das lebendige Phi-
losophieren ist. Man könnte sich also daran orientieren, was Sokrates tut, um
herauszufinden, was Platon unter philosophieren versteht.
Doch scheint dies in der Literatur zu Sokrates genügend oft, und besser,
als ich es tun könnte, gezeigt worden zu sein.9 Ich versuche deshalb das, was
Platon unter «philosophieren» versteht, und was durchaus auch wir heute
noch darunter verstehen können, darzustellen, indem ich mich daran orien-
tiere, was wir nach Platon nicht verlieren dürfen.
Es gibt nicht viel, was von Platon als positive Behauptung festgehalten
werden könnte. Das Wenige muss deswegen umso sorgfältiger bedacht wer-
den. Zu diesem Wenigen gehört dreierlei, das wir nicht verlieren dürfen. Wir
dürfen die Idee, das Gespräch und die Aporie nicht verlieren. Die drei Stellen,
an denen Platon dies sagt, befinden sich in der Gruppe der Spätdialoge.
9 Aspekte und Literatur dazu finden sich in: A Companion to Socrates, ed. by Sara
Ahbel-Rappe, Rachana Kamtekar (Oxford: Blackwell, 2006); von Donald Mor-
rison (ed.) ist angekündigt: The Cambridge Companion to Socrates (Cambridge:
Cambridge University Press).
10 Eine gute Übersicht bei Franz von Kutschera: Platons Parmenides (Berlin, New
Was wir nicht verlieren dürfen 203
und denken, an «Ideen» festhalten müssen. Seine Forderung gilt also nicht
nur für den Platonischen Kontext, sondern ganz generell. Jeder der denkt,
muss an Ideen festhalten. – Das ergibt sich, meine ich, aus der Begründung,
weshalb wir die Ideen nicht verlieren dürfen, nämlich dass wir ohne Ideen
keinen Ort mehr hätten, an dem wir das Denken festmachen könnten und
deshalb das Gespräch verlieren würden. Dies, einen Orientierungspunkt für
Denken und Gespräch zu haben, ist völlig unabhängig vom Inhalt, um den
es geht und unabhängig von einer jeweiligen philosophischen Theorie, die
wir vertreten. Das Nicht-verlieren-Dürfen ist also ganz allgemein gemeint.
Es betrifft auch Realisten und Positivisten, die sagen, sie könnten mit Platons
Ideen gar nichts anfangen; sie bedürfen nicht weniger als alle anderen der
Orientierungspunkte für das Gespräch.
Nun aber, was für Ideen dürfen wir nicht verlieren? Ich muss voraus-
schicken, dass ich nicht an eine Ideenlehre glaube; das tun ja einige andere
vielleicht auch nicht. Für mich ergibt sich aber als Konsequenz daraus, dass
es auch keine Entwicklung einer Ideenlehre, keinen Ersatz, keine Revision
davon geben kann. Es ist in meinen Augen völlig unproblematisch, dass das,
was in den Dialogen dem korrespondiert, was in der Rezeption als angeb-
liche Ideenlehre rekonstruiert worden ist, sich gelegentlich widerspricht oder
wenigstens nicht auf eine Linie zu bringen ist. Wenn Platon über die Ideen
keine Lehre aufgestellt hat, dann ist diese Art von Konsistenz keine korrekte
Anforderung an die Ideen, sie müssen den Bedingungen einer Lehre nicht
genügen.
Ich halte die Ideen viel mehr für eine Art Vision oder Einsicht, die in
verschiedenen Situationen und in verschiedenen thematischen Zusammen-
hängen Ordnung schafft. Dass der Eindruck entsteht, dass Platon nicht über
die ganze Zeit seiner schriftstellerischen Tätigkeit konsistent von Ideen
rede, liegt deshalb weniger an einer durchaus möglichen und plausiblen
Entwicklung des Denkens und dergleichen, als eher daran, dass eine schwer
im Klartext formulierbare Einsicht in verschiedenen Zusammenhängen ak-
tiviert wird. Die Idee lässt sich auch nicht beweisen, weil jeder Beweis sie
schon braucht. Es ist diese Vision, von der Parmenides sagt, dass wir sie nicht
verlieren dürfen. Die Beurteilung der Ideen als poetischer Metaphern durch
Aristoteles ist deshalb weit davon entfernt, eine böse Kritik zu sein, sondern
es ist eine sehr treffende Charakterisierung. Natürlich sind Ideen poetische
Metaphern für eine Vision, zu der es keinen Klartext gibt. Sobald sie in be-
stimmte Worte gefasst wird, wird offensichtlich, dass sie nicht genau das
sagen, was man sagen wollte. Die Einsicht hat etwas Spekulatives an sich.
Ich versuche sie in einigen Ansätzen deutlich zu machen.
Was wir nicht verlieren dürfen 205
Wie es scheint, hat Platon die Erklärungskraft von dem, was er Idee
nannte, zuerst im Bereich des Handelns erfahren oder dargestellt. Wer sich
in diesem Bereich umsieht und nachdenkt, wird auf die Notwendigkeit von
Normen des Handelns stoßen. Da Normen Ansprüche an uns Handelnde
stellen, verlangen wir eine Begründung und Rechtfertigung dafür. Als solche
gilt uns nicht der bloße Wille des Herrschenden oder der gerade herrschenden
Schicht, auch wenn es oft Situationen gibt, in denen wir diesem Willen nicht
ausweichen können. Gerade dann, wenn wir in einer solchen Situation sind
und uns beugen müssen, empfinden wir dies als nicht richtig. Die Begrün-
dung dafür, dass wir so-und-so handeln müssen, muss über-persönlich sein.
Die Idee ist eine über-persönliche Begründung.
Platon illustriert das, was er unter Ideen versteht, oft mit Beispielen aus
dem Bereich des Herstellens. Hier muss sich also etwas an der Vision zeigen,
das besonders gut zu ihr führt. Der Herstellende muss ein Vorbild, ein Urbild
der Sache «in sich» haben, damit er das Ding herstellen kann. Hierin steckt zum
Einen das Vorweg-Haben der Sache, zum Anderen, dass das Vorweg-Seiende
das Nicht-Wahrnehmbare ist. Diese zwei Momente gehören offenbar auch
zur Vision der Idee. Die Idee ist das nichtwahrnehmbare Vorweg der Sache.
Der Bereich des Staates ist zwar im Bereich des Handelns mit inbegrif-
fen. Doch lassen sich an ihm auch noch andere Seiten thematisieren. Platon
findet im Ideal des Staates die auf Gerechtigkeit basierende Hierarchie, als
deren letzten Grund er die Idee des Guten bezeichnet. Die Idee begründet
die Ordnung von Sein und Erkennen; in ihr konkretisiert sich das uns un-
abdingbare Strukturwissen, das Wissen um die Welt vor der Welt.
Aus dem Bereich des Erkennens und Wissens entnimmt die Vision das
Nicht-Empirische als Fixpunkt des Denkens und des Gesprächs, das der
wandelbaren Erfahrung ihren Halt gibt.
Schließlich, das wird im Sophistes klar, muss im Zusammenhang mit der
Frage nach dem Sein zwingend auch der λόγος, die Rede und das Gespräch,
thematisiert werden. Rede und Gespräch erweisen sich als Verflechtung, oder
besser als Verbund, συμπλοκή, von Ideen. In der Idee steckt die Vision des
Verbunds der Ideen, der die Rede ausmacht, und darüber hinaus die Vision
des Zusammenhangs von Sein und Rede.
Die zweite Stelle steht im eben zitierten Sophistes. Platon bringt gleich in
den ersten Sätzen die Differenz als das zentrale Thema des Dialogs ins Spiel.
206 Erwin Sonderegger
Man fragt halb scherzhaft nach dem Unterschied von Göttern und Menschen,
bei den Menschen nach dem Unterschied von Sophist, Politiker und Philo-
soph. Wie allbekannt, entwickelt der Gast aus Elea aus dem Versuch, den
Sophisten begrifflich zu fassen, das Problem des Nichtseienden, das zuletzt
ihn selbst statt des Sophisten in die Aporie stürzt. Das führt ihn zur Frage
(242b), wie man überhaupt mit dem Denken anfangen könne, wenn alles
unklar geworden sei. Man müsse das prüfen, was am selbstverständlichsten
und am klarsten zu sein scheine. Es scheint allen klar zu sein, was «sein»
heißt, denn alle bringen darüber Behauptungen vor, die einander allerdings
widersprechen. Der Gast hat bemerkt, dass die Klarheit nur Schein ist. Des-
wegen beginnt er jetzt mit der Entwicklung des Begriffs von «sein» (247ff.),
die in die so genannten fünf größten Gattungen mündet: «Sein» ist dabei
der thematische Begriff, «Bewegung» und «Stand» sind Begriffe, die ihn
inhaltlich füllen, und «Identität» und «Differenz» sind Reflexionsbegriffe,
auf die die Entwicklung der Seinsbegriffe «Bewegung» und «Stand» auf-
merksam gemacht hat.12 So wird es jetzt möglich, das Nichtseiende ver-
mittels der obersten Gattungen als das different Seiende zu bestimmen. Es
folgt die Frage nach der «Verbindbarkeit» der verschiedenen Ideen.13 Wenn
sich einige verbinden lassen, andere aber nicht, dann braucht es eine Regel
der Verbindung und für diese Regel muss ein bestimmtes Wissen zuständig
sein. Der Gast bestimmt die Dialektik als das dafür zuständige Wissen. Nun
heißt es 259e, wenn alles vollständig voneinander getrennt wäre, wäre das
die vollständigste Vernichtung der Rede, διὰ γὰρ τὴν ἀλλήλων τῶν εἰδῶν
συμπλοκὴν ὁ λόγος γέγονεν ἡμῖν, «denn die Rede ist uns entstanden durch
den Verbund der Ideen untereinander». Gleich darauf folgt die uns jetzt in-
teressierende Stelle (260a):
Schau, wie sehr zur guten Zeit wir darum kämpfen und darauf bestehen, dass wir
das eine mit dem anderen sich mischen lassen. – Wozu? – Dazu, dass die Rede
für uns zum Seienden gehört. Wenn diese uns weggenommen wird, wird uns
das Grösste, die Philosophie genommen. Und so müssen wir jetzt darin überein-
kommen, was die Rede eigentlich ist. Wenn uns diese genommen würde, und
12 Ich weise darauf hin, dass das hier vorgelegte Verständnis der fünf größten Gat-
tungen nicht mit dem in der Literatur zum Sophistes übereinstimmt. Nähere Be-
gründungen zu diesem Verständnis finden sich in Erwin Sonderegger: Aristoteles,
Metaphysik Z 1-12 (Bern: Haupt, 1993) S. 68-78.
13 Diese Frage hat enge Verbindung mit dem Parmenides, denn die dortigen zwei
Möglichkeiten, alles lasse sich unterschiedslos miteinander verbinden, und,
nichts lasse sich miteinander verbinden, werden hier durch die dritte Möglich-
keit ergänzt, dass einiges sich verbinden lasse, anderes nicht.
Was wir nicht verlieren dürfen 207
ganz und gar nicht mehr wäre, könnten wir nicht einmal mehr reden. Sie würde
uns aber genommen, wenn wir zugeben würden, dass es keine Mischung von
etwas mit etwas gäbe.
In dieser Weise also hat sich die Aussage, dass wir die Rede nicht verlieren
dürfen, aus dem Verlauf des Gesprächs ergeben.
Wenn es hier heißt, das Philosophieren gehe uns verloren, wenn wir des
λόγος beraubt wären, so ist zu fragen, was hier mit λόγος gemeint ist. Die
eine Antwort darauf ergibt sich aus dem unmittelbaren Kontext vor und nach
dieser Stelle, eine weitere Antwort aus allgemeineren Überlegungen. Unmit-
telbar vor dem Zitat heißt es, dass der λόγος für uns durch die συμπλοκὴ
εἰδῶν, durch den Verbund der Ideen, entstehe (259e). Die συμπλοκὴ εἰδῶν
ist gewiss eine vieldeutige Sache und als solche in ihrer Vieldeutigkeit zu
nehmen. Gewiss gehört zu ihr konstitutiv die Verbindung der ὀνόματα und
ῥήματα, der nicht-verbalen und der verbalen Elemente des Satzes, gewiss
gehört dazu auch die Verbindung der Gedanken in einem Satz zu einer Ein-
heit.14 Der Stelle folgt (261c-263) der Hinweis auf den Sinn als das Kriterium
der Verbindbarkeit, dann die Erläuterung von «Verbinden» und «Mischen»
als Prädizieren, der Hinweis darauf, dass jeder λόγος ein Worüber hat, dass
seine Wahrheit und Falschheit in eben der σύνθεσις, Verbindung,15 liege,
und schließlich auch noch eine Bemerkung zur Verlautbarung von dem, was
Gedanke und Meinung auch ohne Verlautbarung schon sind – alles Themen,
die Aristoteles in De Interpretatione aufgreift.
So ist der λόγος, den wir nicht verlieren dürfen, zunächst die Rede im
einfachen Sinn. Wesentlicher aber noch ist er das Gespräch, denn der Dia-
log Sophistes im Ganzen zielt auf die Rettung des Gesprächs, das durch
die behauptende Position des Sophisten in Gefahr gerät.16 Der Position des
Sophisten muss die unbehauptende Position des Gastes aus Elea gegenüber-
gestellt werden. Dies alles gehört dazu, wenn der λόγος nicht verloren gehen
soll: Die Möglichkeit der Prädikation und der Verbindung der Begriffe; vor
allem aber die Ersetzung der behauptenden Position, durch die das Gespräch
verloren geht, durch die unbehauptende.
Im Philebos fragt Sokrates danach, was das höchste Gut für den Menschen
sei (19c). Nach dem Referat (11a-e) und der Zusammenfassung des voran-
gehenden Gesprächs mit Philebos (19b) geht es dabei um die Alternative,
ob dies die Lust oder die Vernunft sei. Dieser Alternative wird die weitere
Möglichkeit zugesellt, ob, nach einem Traum von Sokrates, ein Drittes, die
Mischung aus beidem, das Beste sei (20b, 27d).
In diesem Dialog müssen mehrere Stränge unterschieden werden. Selbst-
verständlich steht der thematische Strang im Vordergrund mit der Frage da-
nach, ob ein Leben der Lust oder ein Leben der Vernunft das beste sei. An-
dererseits durchzieht ein systematischer Strang in der Form von logischen
und ontologischen Exkursen den Dialog. Letztere sollen das Verständnis des
thematischen Strangs fördern. Neben diesen beiden Hauptstängen stehen
einige kleine eingestreute Nebenbemerkungen.
Zu dieser letzten Gruppe gehört die Stelle 34a; der Gesamtkontext ist
deshalb, wenigstens vorerst, nicht so wichtig, es genügt ein Blick auf den
unmittelbaren Kontext. Sokrates spricht von jenen Freuden (33c), die rein
in Gedächtnis und Erinnerung bestehen, und im Gegensatz dazu davon, dass
das, was wir nicht bemerken, für uns auch nicht ist. Gedächtnis und Erinne-
rung bewahren die Wahrnehmung auf, man kann sich dann an etwas freuen,
ohne die körperliche Wahrnehmung davon zu haben. Das macht plausibel,
dass es Freuden ohne unmittelbare körperliche Beteiligung überhaupt gibt. In
diesem Zusammenhang sagt Sokrates, dass neben der ἡδονή, der Lust, dem
Leitbegriff des Dialogs, auch noch die ἐπιθυμία, die Begierde, zu erforschen
sei. Darauf sagt Protarch «Dann wollen wir das eben auch noch betrachten,
wir verlieren ja nichts dabei,» worauf Sokrates entgegnet «Wir werden aller-
dings etwas verlieren. Wenn wir finden, was wir jetzt suchen, werden wir die
Aporie über eben dieses verlieren.»
Zum Verständnis von Protarchs Antwort ist nun doch der weitere Kon-
text von Bedeutung, zwar weniger wegen des Inhalt als vielmehr wegen des
Gesprächsverlaufs. Am Anfang des Dialogs scheint die einfache Frage des
thematischen Hauptstrangs vorzuliegen; es wird erwartet, dass sie mit einer
schlichten Entscheidung beantwortet wird. Sokrates aber kommt sozusagen
vom Hundertsten ins Tausendste. Statt über Lust und Vernunft, hat man über
das Eine und Viele, über Grenze und Unbegrenztes, über den Grund, über das
Wehr und Weniger gesprochen –, das sind alles Themen, die im Verständnis
von Philebos und Protarch mit der Frage der Lust gar nichts zu tun haben.
Protarchs Antwort «Wir verlieren ja nichts» ist aus der Resignation darüber
Was wir nicht verlieren dürfen 209
eingeschlossen. Würde man diesen Teil des Gemeinten streichen, ergäbe sich
ein anderer oder gar kein Sinn. Insofern sind wir dann in der sophistischen
Position; dieses Behaupten des «Seins» ist der «Sophist in mir».17
Im Sophistes hat Platon an der Figur des Gastes aus Elea klar gemacht,
dass es die Möglichkeit gibt, aus dieser Position herauszutreten – zwar nicht
im Alltag, aber für die Reflexion. Der Gast ist durch seine Frage nach dem
Nichtseienden selbst in die Aporie geraten, und er sucht einen völlig neuen
Anfang. Als diesen bezeichnet er das, was wir je für selbstverständlich hal-
ten; es ist dasselbe, was ich den «Sophisten in mir» nenne, nämlich das
Behaupten über das Sein.
Der Gast bemerkt weiter, dass es ganz sinnlos ist, den bestehenden Be-
hauptungen über das Sein neue und andere entgegen zu stellen. Solche wären
einfach weitere Behauptungen neben den bestehenden. Hingegen kann der
Gast Behauptungen anderer auf ihre Prinzipien hin reflektieren ohne selbst
etwas behaupten zu müssen: Was ist der Kern der Ideenbehauptung? – Sein
ist Beständigkeit. – Was ist der Kern bei den Somatikern? – Sein ist Bewe-
gung. – Es zeigt sich also, dass in den herrschenden Meinungen sowohl Be-
wegung wie auch Stand das Sein ausmacht: Das ist keine neue Behauptung,
sondern nur Resultat einer Analyse herrschender Meinungen.
Wenn nun Sokrates Protarch im Philebos darauf hinweist, dass man in
einer bestimmten Situation die Aporie verliert, heißt das, dass derjenige, der
die Aporie verloren hat, in die behauptende Position gekommen ist. In dieser
hört die Philosophie und das Gespräch auf. Solche, die einander nur noch
Behauptungen mitteilen, führen kein Ge-Spräch mehr. Deshalb hat die bloße
Aussage «Dann werden wir die Aporie verlieren» den Sinn von «Wir dürfen
die Aporie nicht verlieren,» denn dann würden wir in die behauptenden Posi-
tion zurück fallen, damit würden wir auch außerhalb der Philosophie fallen.
Zum Schluss versuche ich, den Zusammenhang zwischen den drei «Din-
gen», die wir nicht verlieren dürfen, in Thesen festzuhalten:
(1) Wir dürfen die Idee nicht verlieren, weil wir sonst die Rede verlieren.
(2) Wenn wir die Rede verlieren, verlieren wir auch das Gespräch, den Ort
des Philosophierens.
(3) Wenn wir die Aporie verlieren, fallen wir in die Position des Behaupten-
den zurück, die ebenfalls das Gespräch verunmöglicht; diese Position
muss durch die Reflexion aufgeweicht werden, denn der Alltag gehört
zwar dem behauptenden Denken, die Philosophie aber ist das unbe-
hauptende Denken.
DANIEL S CHULTHESS
Concorde philosophique
et réduplication chez Leibniz
« Fabius Maximus, en tant que consul, a autorité sur son père ; le même, en tant
que fils, se trouve sous l’autorité de son père. »1
Prenons la première proposition (j’écris PCS pour « proposition catégorique
simple » et PR pour « proposition réduplicative »). Si on dit seulement
(PCSFM) « Fabius Maximus a autorité sur son père »
on bute sur une difficulté et on ne sait pas facilement décider si (PCSFM) est
vraie ou fausse ; on est par contre en mesure de le faire une fois apporté le
complément nécessaire :
(PRFM) « Fabius Maximus, en tant que consul, a autorité sur son père ».
1 « Q. Fabius Maximus, quatenus consul, jus habet in patrem ; Idem, quatenus filius,
in patris est potestate. » Pour l’origine de cet exemple traditionnel, cf. Plutarque:
Vie de Fabius Maximus, dans Vies, t. III, éd. par R. Flacelière, E. Chambry (Paris :
Belles-Lettres, 1964).
2 Les propositions réduplicatives ont eu des usages variés dans l’histoire de la
philosophie : résolution de sophismes, développement de perspectives métaphy-
siques diverses, explication des dogmes et élimination de contradictions poten-
tielles dans le domaine dogmatique. Le cas le plus fréquent, c’est l’explication
des dogmes de la Trinité et l’Incarnation du Christ. Cf. Allan Bäck: On Redupli-
cation : Logical Theories of Qualification (Leyde : Brill, 1996) chapitre 12. Sur
l’approche spécifiquement leibnizienne, voir Gabriel Nuchelmans: Judgement
and Proposition from Descartes to Kant (Amsterdam : North Holland, 1983)
pp. 223-232. – On trouve une étude détaillée des propositions réduplicatives dans
la Logica Hamburgensis (1638) de Joachim Jungius (1587-1657), une œuvre
souvent utilisée par Leibniz. Cf. Joachim Jungius: Logica hamburgensis, éd.
par R. W. Meyer (Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1957). Cf. les extraits
par Leibniz de la Logica hamburgensis, A VI 4, pp. 1059 s. Nous citons Leibniz
de la façon usuelle : Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz (Berlin :
Weidmann, 1875-1890, en abrégé GP) ; Sämtliche Schriften und Briefe (Berlin :
Akademie, depuis 1923, en abrégé A).
Concorde philosophique et réduplication chez Leibniz 213
et
(2) lui opposer une autre thèse (T'), incompatible avec la première thèse (T).
Nous requérons alors que (T') soit vraie.
À la fin
(3) nous affirmons (T') et nions (T).
Mais ce postulat un peu simple est battu en brèche par le thème leibni-
zien d’une concorde philosophique. Voici donc la variante concordiste de la
réponse au pluralisme philosophique :
(1) Nous traitons une thèse donnée (T) comme vraie
À la fin
(3) nous affirmons à la fois (T') et (T) !
Non-concordisme Concordisme
Etape 1 traiter une thèse donnée (T) traiter une thèse donnée (T)
comme fausse comme vraie
Etape 2 lui opposer une autre thèse « prendre en un bon sens » (T)
(T'), incompatible avec (T) et et de lui donner à ce titre un
requérir alors que (T') soit prolongement par une autre
vraie. thèse (T'), elle aussi vraie, et
compatible avec la première (T)
La verité est plus repandue qu’on ne pense, mais elle est souvent fardée, et tres
souvent aussi enveloppée et même affoiblie, mutilée, corrompue par des addi-
tions qui la gâtent ou la rendent moins utile. En faisant remarquer ces traces de
Concorde philosophique et réduplication chez Leibniz 215
la verité dans les anciens, ou (pour parler plus generalement) dans les anterieurs,
on tireroit l’or de la boue, le diamant de sa mine, et la lumiere des tenebres ; et
ce seroit en effect perennis quaedam philosophia.4
Il convient de souligner que bien d’autres philosophes se tiennent à une ligne
concordiste, ainsi par exemple Henri Bergson :
Le oui et le non sont stériles en philosophie. Ce qui est intéressant, instructif,
fécond, c’est le dans quelle mesure ?5
[D]es expériences déjà nombreuses ont montré que son office le plus sain, le plus
efficace [= celui du comparatiste, n. d. l’A.] est […] de concilier ce qui paraît
d’abord inconciliable : il faut bien qu’il y ait une parcelle ou un mirage de vérité
dans toute explication que propose un bon esprit ; quand plusieurs s’affrontent,
il n’est que de retrouver l’organisation probable des éléments de vérité dont cha-
cun, interprété hâtivement et sans regard sur les autres, et généralement alourdi
de déductions contestables, a été le germe d’une théorie. Un peu de réflexion
permettra de sauver, dans le cadre de considérations comparatives, à peu près
toutes les interprétations […] ; elles n’étaient pas fausses, mais incomplètes et
mal disposées.6
Je relève en tout cas un bon degré de « concorde » dans ces différentes for-
mulations du thème qui nous intéresse ici.
Dans les passages que nous avons de Leibniz sur cette question, le concor-
disme comporte deux faces, et je n’ai abordé jusqu’ici que la première. Pour
introduire la seconde, voici le genre de déclarations que nous rencontrons et
qui vont nous retenir maintenant :
4 Lettre à Remond du 26 août 1714, GP III, pp. 624-625. Cf. Leibniz: A VI, 4,
p. 2247, l. 21-22: « les semences des plus importantes verites ».
5 Henri Bergson: Le parallélisme psycho-physique et la métaphysique positive
(1901), dans Mélanges, éd. par A. Robinet (Paris : PUF, 1972) p. 477.
6 Georges Dumézil: Jupiter, Mars, Quirinus : Essai sur la conception indo-eu-
ropéenne de la société et sur les origines de Rome (Paris : Gallimard, 1942)
p. 77.
216 Daniel Schulthess
J’ay trouvé que la pluspart des sectes ont raison dans une bonne partie de ce
qu’elles avancent, mais non pas tant en ce qu’elles nient.7
La consideration de ce systeme [= celui de Leibniz, n. d. l’A.] fait voir aussi que
lorsqu’on entre dans le fond des choses, on remarque plus de la raison qu’on ne
croyoit dans la plupart des sectes des philosophes. [Toutes ces thèses] se trou-
vent reunies comme dans un centre de perspective, d’où l’object (embrouillé en
le regardant de tout autre endroit) fait voir sa regularité et la convenance de ses
parties : on a manqué le plus par un esprit de Secte, en se bornant par la rejection
des autres.8
Mon but maintenant est de donner un sens justifiable à cette formule para-
doxale. Je prends une autre philosophie que celle de Leibniz ; comme il va
de soi, elle dit des choses : on trouve la vérité dans ce qu’elle affirme, l’erreur
dans ce qu’elle nie. Voyons comment cela est possible !
Pour ne pas trop devoir développer mon propos, je me facilite la vie ;
je retiens ici une seule thèse de départ, et je montre comment les choses se
passent quand une secte l’affirme, et quand une autre secte la nie. Je retiens
arbitrairement un exemple leibnizien touchant à l’opposition des Scolasti-
ques et des Modernes sur la question des « formes substantielles ».10
Soit une thèse philosophique initiale, affirmée par une secte philosophique A,
les Scolastiques :
(PCSFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phéno-
mènes.
Cette thèse fait l’objet aussi d’un complément qui apporte une précision –
c’est ici qu’on forme la proposition réduplicative. Voici comment Leibniz
la présenterait :
(PRFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomè-
nes en tant que sujets à des lois générales.
ou bien
Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomènes en
tant qu’événements particuliers.
Soit toujours cette même thèse philosophique initiale. Cette fois-ci elle est
niée par la secte B, les Modernes :
(PCSFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phéno-
mènes
ou bien
Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomènes en
tant qu’événements particuliers.
7. Degrés de rigueur
En conformité avec les possibilités logiques que nous avons décrites, une des
caractéristiques de la pensée de Leibniz est donc d’admettre en philosophie
des « degrés de rigueur », le degré supérieur étant celui de la « rigueur méta-
physique ». Une discussion pourrait s’ouvrir ici pour déterminer si l’échelle
de ces degrés est simplement relative (ce qui ouvrirait le champ de la per-
fectibilité) ou non (ce pour quoi Leibniz semble pencher le plus souvent).
8. Conclusion
Würdigung
A NDREA POMA
* Ich möchte mich bei Marco Giovanelli, Pierfrancesco Fiorato und Hartwig
Wiedebach bedanken, die mir bei der Übersetzung des Texts geholfen haben.
1 Vgl. Helmut Holzhey: Il concetto kantiano di esperienza. Ricerche filosofiche
delle fonti e dei significati. Con un’appendice sulla nozione platonico-aristo-
telica, Vorwort von G. Gigliotti, it. Übers. von A. Ermano (Firenze: Le Lettere,
1997) S. 3f.
222 Würdigung
So versuchte ich, Kants Reflexionen und Aussagen über die Erfahrung, seine Er-
fahrungstheorie, in einer philosophischen ‹Erfahrung› zu verorten, die er ‹mit› dem
Denken gemacht hatte. Kants Texte waren nochmals daraufhin zu durchleuchten,
ob sich in ihnen Spuren einer solchen Denkerfahrung namhaft machen ließen.2
Wir bezeichnen das durch πάθος angezeigte Widerfahrnis im Streben nach Wis-
sen, die philosophische conversio also, als Denkerfahrung. […] Denkerfahrung
[ist] ein Widerfahrnis im Denken, das es als solches betrifft und ihm (seinen Mög-
lichkeiten, Erwartungen und Zielen) eine wesentlich neue Richtung gibt (Platon
denkt an die «Umwendung der Seele» ins «dialektische Denken»).3
2 Ibid. S. 8. Die auf Italienisch veröffentlichten Texte H. Holzheys werden hier und
im Folgenden aus der ursprünglichen deutschen Fassung zitiert, die der Verfasser
mir netterweise zur Verfügung gestellt hat.
3 Helmut Holzhey: Kants Erfahrungsbegriff. Quellengeschichtliche und bedeu-
tungsanalytische Untersuchungen (Basel, Stuttgart: Schwabe, 1970) S. 281.
4 Ibid. S. 279.
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 223
läutert durch Träume der Metaphysik aus dem Jahr 1776 von besonderer
Relevanz, und zwar deshalb, weil er dort eine ausdrückliche Kantische Re-
flexion über die eigene Grunderfahrung zu finden glaubt:
Ich meine, […] nicht nur in einigen Notizen, sondern insbesondere in der Schrift
Träume eines Geistersehers [Spuren von Kants Denkerfahrung] gefunden zu
haben, [in] einer Schrift [also], die in einer Phase der Skepsis gegenüber jeglicher
Metaphysik und damit in einer philosophischen Krise entstand. Die hier bezeugte
Denkerfahrung bot sich als Ursprung der Kantischen Verhältnisbestimmung von
Vernunft und Erfahrung geradezu an, als ihr «Sitz im Leben», will sagen: als ihr
«Ort» im Prozess philosophischer Selbstverständigung. Mit dem Resultat dieses
Prozesses, Kants Philosophiebegriff, war deshalb auch meine Untersuchung ab-
zuschließen.5
an Erfahrung, ans sinnlich Gegebene, muß aber zugleich dem spekulativen Be-
dürfnis, das sich machtvoll bekundet hat, Rechnung tragen. Sein philosophischer
Weg kann also weder der eines einseitigen Empirismus noch eines unkritischen
‹Dogmatismus› sein.
Zunächst scheint der Autor der Träume eines Geistersehers aber von seiner Denk-
erfahrung derart betroffen, daß er auf das innerphilosophische Verständnis der
scheinerzeugenden Vernunft verzichtet: er verweist sie aus der Philosophie hin-
aus. Was bleibt in diesem Fall der Philosophie mit dem Rückzug auf Erfahrung,
nachdem die analytische Methode bzw. die Induktion von Erfahrungsbegriffen
gerade das philosophische Interesse nicht befriedigt? Wir versuchen eine Inter-
pretation. Die Erfahrungsdaten, die Kant als Basis philosophischer Erkenntnis
aufzählt, sind selbst ausgewählt. Prinzip der Auswahl ist die metaphysische
Fragestellung!7
Demzufolge soll es, so fährt Holzhey in der Analyse von Kants Denkerfah-
rung fort,
7 Ibid. S. 294f. Die beiden «Momente» der Denkerfahrung, die Holzhey bei Kant
feststellt (das Widerfahrnis des überwältigenden spekulativen Interesses und das
Widerfahrnis des Scheiterns in der Nichtbeachtung der Kluft zwischen Erfahrung
und Vernunft), stehen bestimmt in einem Verhältnis und einer Beziehung (viel-
leicht in einem wesentlichen oder auch nur in einem scheinbaren Gegensatz: Die-
ser Punkt würde eine weitere Vertiefung verdienen, die ich hier nicht durchführen
kann, und über die Holzhey selbst uns zukünftig Licht schaffen könnte) mit den
zwei Momenten der «metaphysischen Erfahrung», die Wilhelm Weischedel be-
schreibt: «Sofern nun die Metaphysik in ihrem formalen Vollzug zunächst Frage
nach Sein und Seinsgrund und sodann Antwort auf die Frage ist, muß auch die
metaphysische Erfahrung als der Grund der Möglichkeit der Metaphysik dop-
pelt auftreten. Der metaphysischen Frage muß eine solche Weise metaphysischer
Erfahrung zugrundeliegen, in der Sein und Seinsgrund fragwürdig werden, der
metaphysischen Antwort eine andere Weise, in der Sein und Seinsgrund selber
– wenn auch durch das Seiende hindurch – erfahren werden. Sie bilden gleich-
sam zwei Stufen metaphysischer Erfahrung, die aber eng aufeinander bezogen
sind» (Wilhelm Weischedel: Zum Problem der metaphysischen Erfahrung, in
Zeitschrift für philosophische Forschung 9 [1955], Heft 3, S. 424). – Holzhey
erwähnt diesen Aufsatz in: Kants Erfahrungsbegriff, op. cit. S. 282, Anm.
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 225
so vorschnell und inadäquat sie sich in der weiteren Arbeit Kants erwiesen hat,
zeichnet in ihrer Tendenz, das Erfahrene sich im Selbstverständnis des Philo-
sophen auswirken zu lassen, wie in der Richtung, die das sich konzipierende
Philosophieverständnis nimmt, den Rahmen vor, in dem die Denkerfahrung den
Denkenden sich fortan zu bewegen zwingt.8
Indem Kant seine Denkerfahrung nicht thematisiert, d. h. Denken nicht vom Er-
fahren her oder als Erfahren versteht, wahrt er dem Denken unzeitliches Einstim-
migsein mit sich selbst und dem animal rationale eine wesentlich ungeschicht-
liche Dimension, deren Ausdruck die Selbstgesetzgebung der Vernunft ist. Die
dritte Maxime [«Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken»] formuliert ver-
gleichsweise die «Zusammenstimmung des Richters mit sich selbst in Ansehung
der praeiudicata und postiudicanda». Zwischen prae und post, im Jetzt, geschieht
Erfahrung (Zeugeneinvernahme). Als Versuch, die Ambivalenz der Erfahrung
im Denken zu bewältigen, d. h. ihre Armut (ihre fehlende Einstimmigkeit, All-
gemeinheit, Notwendigkeit) nicht für den Reichtum ihrer Belehrung in Kauf zu
nehmen, sondern ihren Reichtum im reinen Denken zu bergen, hat Kants ‹Erfah-
rungsdenken› seine Größe und seine Voraussetzung.9
8 Ibid. S. 296.
9 Ibid. S. 323.
226 Würdigung
Er empfiehlt dagegen eine Ethik des Suchens, die sich weder mit Glauben
noch mit Verzicht zufrieden gibt.
Holzhey trifft gegenüber dem von Kant eingeschlagenen Weg eine an-
dere Wahl (wobei er sich übrigens einer durchaus ehrwürdigen Tradition
anschließt, die fast eine Art Kantischer Nemesis darstellt): diejenige, noch
kantischer als Kant selbst sein zu wollen. Er schreibt nämlich:
Wie schon angedeutet, impliziert bereits die regulative Idee des unendlichen
Erfahrungsfortgangs ein Sollen. Das Ganze der Welt ist der Erkenntnis nie ge-
geben, sondern nur aufgegeben; Kant spricht von einer ‹Regel des Fortschritts
der Erfahrung›, die besagt, daß nie bei einem bestimmten Erkenntnisstand wie
vor einer absoluten Grenze Halt gemacht werden soll. Das Erkennen untersteht
einem ihm immanenten Sollen, über das es nie – im Sinne einer Erfüllung der
Aufgabe – hinausgelangt. Diese dem Erkenntnisprozess (Erfahrung) selbst zuge-
hörige Sollensbestimmtheit ist es, an die eine Ethik des metaphysischen Bedürf-
nisses anknüpfen müßte. Daß auch sie nicht der Ambivalenz des Menschlichen
entkommt, dafür sorgt in diesem Falle der Umstand, daß die Deontik der Erfah-
rung sowohl von einem Ethos des Fortschritts wie von einem Ethos der unab-
schließbaren Suche geprägt sein kann. Für mich besteht kein Zweifel, daß seine
philosophische Denkerfahrung Kant auf das Ethos der Suche verpflichtete.12
Dies ist nun der Punkt, an dem Helmut Holzheys Interesse an Hermann Cohen
und Paul Natorp erwacht – vor allem am Ersteren. Beide werden zum Ge-
genstand einer mehrjährigen Forschungsarbeit. Holzhey selbst schildert das
im bereits erwähnten autobiographischen Abriss: «So knüpfen auch meine
neueren Untersuchungen zu den Denkwegen der Marburger Neukantianer
der philosophischen Sache nach an die Exposition von Kants Denkerfahrung
im letzten Kapitel meiner Dissertation an».13
Damit sind wir bei Holzheys großen Verdiensten um die Förderung und
Weiterentwicklung der Cohen-Forschung. Es geht dabei nicht nur um Ver-
dienste in Fragen der Publicity oder der Organisation, obwohl auch sie be-
deutend sind: Die Vitalität der heutigen Cohen-Forschung und die Stelle,
die man diesem Denker inzwischen unter den Klassikern der Philosophie
zubilligt, wären ohne die fördernde Tätigkeit Helmut Holzheys undenkbar.
1969 gründete er in Zürich das Hermann-Cohen-Archiv, das dank seinem
Begründer und Leiter nicht nur zur Sammelstelle von veröffentlichten und
unveröffentlichten Materialien, sondern auch zu einem dynamischen Treff-
und Diskussionszentrum wurde. Des Weiteren fördert und leitet er bis heute
die Ausgabe von Cohens Werken, und schließlich ermöglichte er durch die
von ihm gegründeten und geleiteten Hermann-Cohen-Gesellschaft Forschern
aus aller Welt, sich regelmäßig zu treffen, um in echt wissenschaftlicher Ge-
meinschaft die philosophische Forschung voranzutreiben.
Zur historischen und systematischen Erforschung Cohens hat Holzhey
wesentlich beigetragen. Sowohl sein imposantes Buch Cohen und Natorp,
1986 in zwei Bänden erschienen, als auch seine darauf folgenden Beiträge
liefern grundlegende Einsichten in die Besonderheit der Cohen’schen Philo-
sophie und in die erhebliche Unterschiede, die sie von derjenigen Natorps
trennen. Cohens Gestalt wurde dadurch von der allzu leichtfertigen Identi-
fizierung mit einem pauschalen Begriff von der so genannten «Marburger
Schule» befreit, aber auch von einer reduktionistischen Auslegung des «Neu-
kantianismus» insgesamt. Holzheys Untersuchungen brachten Licht in wich-
tige Inspirationsquellen Cohens, vor allem im Blick auf Platon, und hoben
im historischen Zusammenhang die Aktualität vieler Cohen’scher Themen
hervor, vor allem in der Erkenntnistheorie, der Ethik, der Rechtsphilosophie
und der politischen Philosophie. Besonders hervorheben möchte ich Holz-
heys Beiträge zum Verständnis von Grundbegriffen wie «kritischer Idea-
lismus», «Methode der Reinheit», «offenes System in der Philosophie»,
«Prinzip des Ursprungs», «Hypothese», «Ideal» und «Verwirklichung»,
«Staat», «Gesellschaft» und «Sozialismus», sodann von Ideen wie «Kul-
tur» und «Menschheit», von «Individuum», sozialer «Solidarität», «Armut»
und «Gerechtigkeit».
Aber ich möchte doch, meinem Leitfaden folgend, nun etwas näher die
Bedeutung betrachten, die der «Denkerfahrung», d. h. des «metaphysischen
Bedürfnisses» in kritischer Bedeutung, in Holzheys Auseinandersetzung mit
Cohen zukommt.
In erster Linie wegen einer radikalen philosophischen Opposition zum
metaphysischen Fundamentalismus ist Cohen für Holzhey interessant. In
seinem denkwürdigen Festvortrag auf der ersten internationalen Cohen-Kon-
ferenz in Marburg vom 1. bis 4. Juli 1992 betonte Holzhey genau jene Op-
position als den ersten und wichtigsten Grund für eine bleibende Aktualität
Cohens: «Da ist», so führte er aus, vor allem
an den bedrohlich zunehmenden modernen Fundamentalismus zu denken, gleich-
viel ob ökologischer oder religiöser Provenienz. Cohen setzt ihm den kritischen
Idealismus entgegen: «Metaphysik» ist sein Name für das, was wir eben «Fun-
damentalismus» nennen. Der Unterschied zwischen Idealismus und Metaphysik
besteht in folgendem: «Dem Idealismus [und hier zitiert Holzhey aus der Logik
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 229
der reinen Erkenntnis, S. 303] sind die letzten Grundlagen der Wahrheit und der
Wissenschaft Grundlegungen; der Metaphysik sind sie absolute Grundlagen: so
im Sein wie im Denken, im Geiste gelegen und gegeben».14
Die radikale Opposition Cohens gegen einen dogmatischen Fundamenta-
lismus richtet sich bezeichnenderweise nicht nur gegen die Täuschung der
spekulativen Metaphysik, sondern auch gegen den naturalistischen Reduktio-
nismus des positivistischen Empirismus. Letzterer lehnt nämlich nur schein-
bar jede metaphysische Voraussetzung ab, denn indem er das «Gegebene»,
das sich als Objekt der empirischen Erkenntnis und der Naturwissenschaft
darstellt, als die einzig mögliche Bedeutung der «Welt» auffasst, teilt auch er
jene schwerwiegende dogmatische und metaphysische Voraussetzung, gegen
die Holzhey mehrfach seine philosophische Warnung ausspricht. Immer wie-
der erhebt er kritisch seine Stimme gegen den szientistischen Reduktionis-
mus unserer Kultur. Im Kampf gegen eine spekulativ irrationalistische oder
auch positivistisch empiristische Metaphysik fühlt sich Holzhey sowohl mit
Cohen als auch mit Kant verbunden. Bei Cohen aber findet er nicht nur jene
Denkerfahrung wieder, die er als Spannung zwischen dem «metaphysischen
Bedürfnis» und der Unfähigkeit zu seiner Befriedigung schon bei Kant dar-
gestellt hatte, sondern auch ein Modell für jene Ethik des Suchens, die er,
von Kants Weg abweichend, zu seinem eigenen philosophischen Programm
gemacht hat.
Auch bei Cohen gibt es nach Holzhey allerdings Schwächen. Das ist
indes nicht eine Schwäche gegenüber metaphysischer Täuschung. Cohens
kritischer, methodischer und wissenschaftlicher Rationalismus bildet dies-
bezüglich ein sicheres Bollwerk: Sein «Grundgesetz der Wahrheit», das auf
der systematischen Differenz zwischen dem Sein der Natur und dem Sein des
Sollens beruht, schließt jede Metaphysik der Identität und des Absoluten aus.
Seine Schwäche liegt vielmehr in einer gewissen, man könnte sagen: ‹Nach-
giebigkeit› gegenüber dem religiösen Glauben. Aus diesem Grund betrach-
tet Holzhey die religionsphilosophischen Werke Cohens und insbesondere
sein Nachlasswerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums
nicht ohne einen gewissen Verdacht. Immer wieder hat er Cohens radikale
Ethisierung der Religion hervorgehoben und geschätzt; eine Ethisierung in
der Tendenz der Aufklärung, die für Holzhey ein heute noch ungebrochen
nachzugeben. Man sieht leicht, dass hier der wesentliche Inhalt der Philo-
sophie in der Haltung des Philosophierenden liegt. Die Wahrheit der Phi-
losophie ist mit der Wahrhaftigkeit des Philosophen eng verbunden, wenn
nicht sogar identisch. Holzhey hat diesem Thema aufschlussreiche Refle-
xionen gewidmet. Cohen wird darin zum Muster für eine Haltung, die so-
wohl jeden Zynismus einerseits als auch die moralische Überforderung in-
folge eines Anspruch auf vollkommener Kohärenz anderseits ablehnt. Dafür
bedarf es der «Wahrhaftigkeit». Es geht darum, «die Sittlichkeit […] als
‹ein Problem der Erkenntnis› zu bearbeiten, ‹in aller der Genauigkeit und
Nüchternheit und Sachlichkeit, welche jedes theoretische Problem erfordert›.
Ethik soll nicht mit Moral verwechselt werden».17 Trotzdem aber, so betont
Holzhey,
Aspekte, aus denen sich sowohl bei Kant, als auch bei Cohen, und schließ-
lich bei Holzhey die Denkerfahrung zusammensetzt. Unterschiedlich blei-
ben jedoch ihre Ansätze, diese Elemente zu verbinden, ihre Proportionen
festzulegen und ihren Ton zu bestimmen. So behauptet Holzhey beispiels-
weise, dass der Philosoph der Hoffnung bedarf, ohne dass sie durch so ge-
nannte Fakten abgeschwächt werden dürfte; gleichzeitig erinnert er aber an
die Verpflichtung, diese Hoffnung auch zu begrenzen, damit sie nicht zur
Täuschung werde. So schreibt er etwa: «Bezeichnenderweise macht schon
der frühe Kant die Hoffnung dafür verantwortlich, daß sich die Waage der
Philosophie auf die Seite der Spekulation neige. Auch der Hoffnung müssen
also Grenze gesetzt werden».22 Sicherlich ist dies auch Cohens Meinung,
der aber immer wieder versucht, die «Zuversicht» als eine Notwendigkeit
zu erweisen. So schreibt er in der Ethik des reinen Willens:
Die Wahrhaftigkeit ist nicht nur ein ethischer Satz des Widerspruchs, der mich
vor der Unwahrhaftigkeit warnt; sondern sie ist in erster Linie die Kraft, welche
mein Handeln regsam und lebendig, freudig und getrost macht. Die Wahrhaftig-
keit ist die Kraft, welche die Sprache zum Bekenntnis erhebt; und das Bekenntnis
lässt die Einsicht zur Überzeugung erstarken. Das Bekenntnis ist die Huldigung,
welche der sittliche Geist dem Ideal darbringt.23
Hoffnung und Suche, kritische Kontrolle und Zuversicht sind also zwei ein-
ander ergänzende Elemente, die das authentische Philosophieren antreiben
und aufrecht halten. Das gilt sowohl für Cohen als auch für Holzhey. Trotz-
dem scheint mir, dass sie in Ton und Akzent verschieden nuancieren, was
in der Folge auch die verschiedene Haltung der beiden gegenüber der Reli-
gion erklären kann. Bei Cohen findet man einen ausgeprägten Optimismus
der Vernunft, den er mit der ausdrücklichen Anerkennung der Rationalität
des Gefühls und der Annahme des Affekts als einem Annex des Denkens
verbindet. Holzhey betont dagegen stärker die kritische Wachsamkeit der
Vernunft gegen Täuschungen und gegen alle Hirngespinste der Begierde
sowie gegen jede falsche Konzession an die Affekte. (Wozu ich ergänzen
Ich schließe mit dem Zitat eines Zitats, in dem für mich die Seele der Marburger
Philosophie Hermann Cohens und Paul Natorps zur Sprache kommt. Es ent-
stammt Goethes Gedicht An Schwager Kronos und lautet: Nun schon wieder /
Den eratmenden Schritt. / Mühsam Berg hinauf. / Auf denn, nicht träge denn! /
Strebend und hoffend an. [Hamburger Ausg. I, 48].24
Ein Vierteljahr vorher, in seiner am 30. Juni 2004 in Zürich gehaltenen Ab-
schiedsvorlesung mit dem Titel Das Ende bedenken, schließt Holzhey je-
doch, der diesmal nicht von Cohen oder Natorp, sondern von sich selber
spricht, mit den Worten:
Existentiell wird man wohl immer mit der Angst vor dem Ende zu kämpfen
haben. Ich spreche mir und Ihnen Mut zu, indem ich den Satz zitiere, mit dem
Marc Aurel sein memento mori beschließt: «Dieses Winzige der Zeit naturgemäß
durchwandern und heiter enden, als fiele die Olive reif geworden herab, preisend
den Boden, der sie trug, und Dank wissend dem Baum, der sie wachsen ließ».25
Wie sollen wir diese Äußerung über sich selber verstehen? Bedeutet das
Marc Aurel-Zitat, wenn wir es mit dem von Cohen vergleichen, dass es in der
Philosophie Holzheys einen stoischen Zug gibt, eine «Trauer»26 des wahr-
haftigen und kritischen Philosophierens, die sich der (sonst so hartnäckig im
Alltag verteidigten) Zuversicht und Freude aus Cohen’scher Wahrhaftigkeit
gegenübersetzt? Die zukünftige Entwicklung im Denken Helmut Holzheys,
die Vertiefung seiner «Denkerfahrung» (die niemals von Lebenserfahrung
unabhängig sein wird, obwohl sie freilich nicht ihr unmittelbarer Ausdruck
sein kann oder soll) wird uns diese Frage beantworten müssen.
M ARCELLO O STINELLI
3 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, AA VI, p. 224 (Einleitung, IV), trad. it.
Metafisica dei costumi, a cura di Giuseppe Landolfi Petrone (Milano: Bompiani,
2006) p. 49.
4 John Stuart Mill: A System of Logic Ratiocinative and Inductive, cap. XII, § 7, trad.
it. Sistema di logica raziocinativa e induttiva (Roma: Ubaldini, 1968) pp. 941-942.
5 John Stuart Mill: Utilitarianism, cap. II, trad. it. Utilitarismo, in id.: La libertà.
L’utilitarismo. L’asservimento delle donne (Milano: RCS Libri, 1999) p. 268.
6 Platone: Menone, XL, 98b. Vedi al riguardo: Anton Hügli: Pflichtenkollision,
in Historisches Wörterbuch der Philosophie (Basel: Schwabe, 1989), vol. VII,
cc. 440-456, in particolare c. 440.
238 Rezensionsabhandlung / Étude critique
7 L’episodio è narrato da Richard Hare in Moral Thinking e gli sarebbe stato riferito
da Anthony Kenny.
8 Richard Hare: Moral Thinking (New York: Oxford University Press 1981) cap. II,
§ 1, trad. it. Il pensiero morale (Bologna: Il Mulino, 1989) p. 58.
M. Ostinelli: Il senso della perplessità morale 239
del conflitto di credenze «si tratta solo di stabilire quale dei due asserti con-
flittuali indicanti un dovere sia quello vero, e poiché quegli asserti non pos-
sono essere entrambi veri, decidere correttamente per uno di essi non può
che voler dire sbarazzarsi dell’errore contenuto nell’altro».12 Invece i conflitti
di doveri non si possono evitare sistematicamente con una condotta accorta
(non sono tutti del genere che Tommaso definiva secundum quid ) e non si
possono risolvere senza residui (non possono essere dissolti come si trattasse
di una credenza falsa): «tenuto conto che la situazione è quella che è, io non
penso in termini di eliminazione dell’errore».13 Secondo Williams, il con-
flitto di doveri assomiglia per certi aspetti ad un conflitto di desideri: «porvi
termine giungendo a una decisione non significa necessariamente eliminare
una delle alternative in gioco; l’alternativa che in un conflitto morale non si è
tradotta in azione può persistere, per esempio, sotto forma di rammarico»,14
che è la sorte che solitamente tocca anche al desiderio che non è stato sod-
disfatto. Non vi è «errore nel pensare» se devo fare due cose incompatibili:
e anche quando scelgo di farne una, posso continuare a pensare che dovevo
fare anche l’altra, avendo «motivo di rammarico»; «e posso farlo perfino
una volta che abbia trovato una ragione morale per preferire di agire confor-
memente all’uno anziché all’altro»15 fino al punto che, sia che faccia l’una
oppure che faccia l’altra cosa, continuerò a sentirmi colpevole poiché in un
caso come nell’altro avrò fatto quella sbagliata.16
Per la verità non è affatto chiaro che cosa ciò possa voler dire; non pare
neppure che il solo sentimento di colpa possa costituire una prova sufficiente
per credere che fosse sbagliato compiere un’azione piuttosto che un’altra;17
né l’argomento del residuo emotivo (remainder) basta a dimostrare l’esi-
stenza di un dilemma morale. Se ci fosse un dilemma tra due obblighi morali
incompatibili avremmo ragione di provare questo residuo emotivo: il ram-
marico, il rincrescimento, il sentimento di colpa. Però l’esistenza di questo
12 Ibid. p. 213.
13 Ibid. p. 210.
14 Ibid. p. 217.
15 Ibid. p. 233.
16 Ruth B. Marcus: Moral Dilemmas and Consistency, in The Journal of Philosophy
77 (1980) pp. 121-136, ristampato in Moral Dilemmas, ed. by Christopher W.
Gowans (New York: Oxford University Press, 1987) pp. 189-204.
17 Philippa Foot: Moral Dilemmas Revisited, in Modality, Morality, and Belief, ed.
by Walter Sinnott-Armstrong (Cambridge: Cambridge University Press, 1995)
pp. 117-128, ristampato in Philippa Foot: Moral Dilemmas and Other Topics
(Oxford: Clarendon Press, 2002) pp. 175-188, qui pp. 184-185.
M. Ostinelli: Il senso della perplessità morale 241
morale conclude che nessuna delle ragioni per l’azione è determinante, cioè
predominante e non predominata da altre ragioni».20
Secondo questa interpretazione, è rilevante la comprensione degli at-
teggiamenti che consentono al soggetto morale di far fronte all’arbitrarietà
della scelta cui il dilemma lo ha costretto. Questi atteggiamenti costitui-
scono altrettante risorse emotive che consentono di ricostruire l’integrità
della persona. Si va dalla disperazione alla rabbia, dall’umiliazione al rin-
crescimento. «In condizioni dilemmatiche di scelta, gli atteggiamenti con
cui l’agente affronta il conflitto e sopporta le conseguenze della sua azione
arbitraria sono più espressivi e anzi costitutivi dell’integrità dell’agente che
non l’azione».21 Si tratta di «modalità autentiche di definizione del sé»,22
dopo che l’azione con cui abbiamo risposto al dilemma ci si è mostrata in
tutta la sua arbitrarietà. Per questa ragione, se nel dilemma morale la scelta
è per definizione arbitraria, «l’agente non può far altro che rincrescersi».23 In
questa situazione ci è offerta soltanto la possibilità di rispondere con un’emo-
zione appropriata ed è la capacità che la persona ha di dare questa risposta
emotiva che dovrà essere giudicata, vale a dire che va considerata la capacità
di fornire la risposta che in quella particolare situazione è «espressiva delle
persone che siamo».24 Bagnoli ritiene pertanto che l’interpretazione di questi
sentimenti morali che li associa principalmente alla «funzione auto-punitiva
e auto-sanzionatoria» dell’agente sia oltremodo riduttiva. Più che qualcosa
che riguarda il deficit della teoria o del soggetto, la perplessità morale e ciò
che emotivamente l’accompagna sono rilevanti per la comprensione di sé
dell’agente. Insomma, il dilemma, più che un problema epistemico, si rivela
un problema che riguarda l’integrità morale dell’agente. Secondo l’autrice
è proprio a questa peculiare fenomenologia della vita morale della persona
che la teoria etica deve rivolgere i suoi strumenti di analisi se vuole intendere
la rilevanza dei dilemmi.
Anche lo studio di Carla Bagnoli evidenzia l’importanza teorica della per-
plessità. Però, a confronto con le precedenti interpretazioni canoniche della
materia, non si rivolge alla perplessità per scoprire gli sbagli morali del sog-
getto o la sua limitata, superficiale capacità di valutazione; né vi ricorre per
concludere, come suggerì Bernard Williams, che ogni teoria etica è irrilevante
20 Ibid. p. 80.
21 Ibid. p. 95.
22 Ibid. p. 96.
23 Ibid. p. 96.
24 Ibid. p. 149.
M. Ostinelli: Il senso della perplessità morale 243
dal punto di vista pratico. Bagnoli la ritiene una via di accesso privilegiata alla
comprensione della fenomenologia dell’esperienza morale. La teoria etica
ne trae degli insegnamenti ma indirettamente, perché quel che conta è che il
dilemma «è un problema per noi agenti».25 Da questo punto di vista i guada-
gni per la comprensione del processo di deliberazione sono importanti, so-
prattutto in relazione alla precisazione dell’idea di integrità della persona.
Ci sono però almeno due punti di insoddisfazione. Anzitutto non è affatto
detto che questa fenomenologia dell’esperienza soggettiva, che ruota attorno
alla ricostruzione del processo di deliberazione ed in particolare al ruolo che
in essa svolgono alcune caratteristiche reazioni emotive, sia specifica delle
situazioni che si ascrivono normalmente ad un dilemma morale. Si può pro-
vare rincrescimento anche in un conflitto pratico, cioè quando in questione
non vi sono doveri morali.
D’altra parte si è tentati di usare nei confronti di Bagnoli la stessa obie-
zione che Philippa Foot usò contro Bernard Williams e Susan Marcus. Per
quanto importante e significativa sia l’esperienza personale dei residui emo-
tivi, essa non basta a provare che il conflitto esperito fosse un autentico di-
lemma morale. Credo che anche per Bagnoli sia evidente che l’esperienza
della perplessità e delle sue conseguenze emotive non consenta alcuna conclu-
sione sull’esistenza di dilemmi morali: «chiedersi se vi siano dilemmi morali
non è come chiedersi se vi siano unicorni. La definizione di unicorno non è
materia di discussione e la questione se ve ne siano può essere determinata
attraverso un’indagine empirica. Non così per il dilemma»,26 scrive nell’in-
cipit. Certo, se si ritiene che qualsiasi conflitto pratico costituisca un dilemma
morale, allora gli argomenti di Bagnoli potrebbero risultare non soltanto ri-
levanti ma perfino decisivi nella disputa secolare sulla materia. È però discuti-
bile che la sfera di pertinenza della teoria etica coincida con quella di qualsiasi
questione pratica rilevante. Poiché al riguardo Bagnoli non fornisce ragioni
convincenti per giustificare una tale estensione della teoria, sembra preferi-
bile mantenere di essa quella invalsa in gran parte della comunità filosofica,
che delimita strettamente la moralità rispetto ad altri ambiti della vita.
Insomma questa nuova e originale ricerca sui dilemmi morali è un testo
filosofico avvincente che offre una raffinata interpretazione di una delle più
difficili esperienze della nostra vita morale. Che però la sua sofisticata argo-
mentazione sia in grado di scalzare definitivamente le interpretazioni rivali
dei dilemmi morali mi pare che non si possa affermare.
25 Ibid. p. 57.
26 Ibid. p. 7.
Studia philosophica 66/2007
für unabdingbar (S. 134), nachdem er in seinem Beitrag Der demografische Wan-
del als Grenze des Wirtschaftswachstums? untersucht hat, wie der demografische
Wandel (d. h. der Umstand, dass es immer weniger Kinder gibt und die Menschen
immer älter werden) das Wirtschaftswachstum bremsen kann. Dass Bildung alleine
jedoch auch nicht alle wirtschaftlichen Probleme löst, stellt Oliver Nikutoski heraus,
der in seinem Aufsatz Technologischer Fortschritt, die Signalwirkung von Bildungs-
abschlüssen und die Dynamik der Lohnstruktur zu erklären versucht, warum mit
der steigenden Anzahl von Akademikern auch die Löhne immer weiter auseinander
gehen, und schlecht qualifizierte Arbeitnehmer Einkommen einbüßen müssen. In
diesen Beiträgen wird deutlich, dass das Wachstum das Problem der Arbeitslosigkeit
nur begrenzt löst und durch den demografischen Wandel bedroht ist. Eine höhere
Bildung allerdings, die das Wachstum hinreichend antreiben könnte, zieht eine Ver-
schärfung sozialer Ungleichheit mit sich. Dem versucht Tobias Lorenz zu begegnen,
indem er ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle fordert. Das sei nicht nur
aus sozialen Erwägungen die beste Lösung, sondern dem Wachstum selbst förder-
lich. Denn, so lautet Lorenz’ konsequenzialistische Argumentation, Wachstum bedarf
der Innovation, Innovation der Kreativität und Kreativität gibt es vermehrt dort, wo
Menschen Risiken eingehen können. Den Rahmen für solche kreativitätsfördernden
Risiken wiederum könnte man durch ein bedingungsloses Grundeinkommen gewähr-
leisten (S. 184). Auch wenn Tobias Lorenz ein Computerprogramm entwickelt hat,
mit dessen Hilfe sich das Steuerwesen einer Gesellschaft, die ein Grundeinkommen
auszahlt, simulieren lässt, sagt er leider nichts darüber, wie sich die Einführung eines
Grundeinkommens auf die Steuerbelastung auswirkte.
Indem man in die Bildung investiert und ein Grundeinkommen auszahlt, könnte
man das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Aber wo gibt es konkrete Wachstumspoten-
ziale? Dieser Frage nehmen sich die drei Beiträge des letzten Teils «Wachstum und
Märkte» an, die mit jeweils unterschiedlichen Ideen für wachstumsfähige Produkte
aufwarten. Elena Kikina führt in ihrem Beitrag «Schnittstelle» ihre Modekollektion
vor, die mit besonders schlichten Schnittmustern den Stoffaufwand zu reduzieren
versucht. Dadurch wird sowohl Material als auch Arbeitszeit eingespart. Eine andere
Wachstumsmöglichkeit sieht Till Hardy im deutschen Film. Wie er in seinem Auf-
satz Neuer deutscher Film, die Zweite: Wachstum durch Mikro-Budget-Produktionen
zeigt, können durch digitale Kamera- und Schnitttechniken Kinofilme wesentlich ein-
facher und billiger produziert und vertrieben werden. Das erlaubt eine größere Vielfalt
kleiner Kinoproduktionen. Auch der Handel mit dem Recht auf Emissionen könnte in
einer Zeit, in der Klimaschutz in aller Munde ist, wachsen. Dies aber, so argumentiert
Pieter De Vos in seinem Aufsatz Auswirkungen des europäischen Emissionsrecht-
handels auf den Strommarkt und wachstumsfreundliche Alternativen minutiös, liefe
den klimafreundlichen Absichten zuwider. Als viel effizientere Methode zur Senkung
des CO2-Austoßes erweise sich die Einführung von Öko-Steuern (S. 230).
Die Beiträge der letzten beiden Teile skizzieren Möglichkeiten, wie das Wirt-
schaftswachstum gefördert werden kann. Dabei gehen die Autorinnen und Autoren
stets davon aus, dass Wachstum ein Ausweg und damit erstrebenswert ist. Ob Wachs-
tum tatsächlich das Heilmittel unserer gesellschaftlichen Probleme sein kann, wird in
den vier Beiträgen des ersten Teils «Wachstum und Gesellschaft» kritisch untersucht.
Comptes rendus 247
Dass das Wachstum zumindest für das Glücksempfinden der Einzelnen eine eher un-
tergeordnete Rolle spielt, zeigt Peter Schwarz in seinem Beitrag Wie bedeutend sind
relative Präferenzen für die Lebenszufriedenheit? anhand einer Analyse des Wohl-
befindens von Bürgern aus West- und Ostdeutschland. Sein Ergebnis lautet: «Rela-
tive Präferenzen üben einen stärkeren Effekt auf die Realisierung der Lebensvor-
stellungen aus als bspw. ein hohes Einkommen.» (S. 110) Für das Glücksempfinden
scheint es also wichtiger zu sein, dass man gegenüber anderen eine bessere Position
einnimmt, als dass man mehr Geld verdient. Nicht aus ökonomischer, sondern aus
philosophischer Perspektive untersuchen Marius Christen und Emilio Marti das Phä-
nomen des Wachstums, weshalb ich auf diesen Beitrag etwas ausführlicher eingehe.
Ihrem Essay liegt die Unterscheidung zwischen der Wachstumsart, die sich noch-
mals in qualitatives und quantitatives Wachstum unterteilt, und einem dazu gehörigen
Wachstumsbewusstsein zugrunde. Die beiden Philosophen argumentieren dafür, dass
Wachstumsart und Wachstumsbewusstsein in einem systematischen Zusammenhang
stehen und «dass sich qualitatives Wachstum ohne Einbezug des Wachstumsbewusst-
seins weder vollständig begründen noch vermehrt verwirklichen lässt» (S. 44). Den
verschiedenen Wachstumsarten entsprechen je unterschiedliche Formen des Wachs-
tumsbewusstseins. Dem quantitativen Wachstum entspricht das richtungsorientierte,
dem qualitativen das zielorientierte Wachstumsbewusstsein. Wachstum alleine für
unsere Lebensqualität verantwortlich zu machen, halten Christen und Marti für ver-
kürzt: Ebenfalls wichtig für unsere Lebensqualität, so argumentieren die Autoren
mit Aristoteles, seien unsere Verhaltensdispositionen, die von unserem Wachstums-
bewusstsein abhängen (S. 45). Wer ein richtungsorientiertes Wachstumsbewusstsein
habe, der gehe z. B. davon aus, dass es ein grenzenloses Wachstum geben könnte,
und gibt somit seiner Disposition zur Unersättlichkeit nach (S. 56). Eine Anhängerin
des zielorientierten Wachstumsbewusstseins allerdings sehe ein, dass Wachstum ein
natürliches Ziel oder telos habe, weshalb die Disposition zur Genügsamkeit geför-
dert würde (S. 59). Nicht ganz klar ist hier der Status dieser Thesen – und das ist
eine Unklarheit, die den ganzen Aufsatz Wachstumsart und Wachstumsbewusstsein
durchzieht. Ist die Aussage, dass ein zielorientiertes Wachstumsbewusstsein zur Ge-
nügsamkeit führt, sozial-psychologisch zu verstehen, in dem Sinne, dass sie durch
empirische Ergebnisse widerlegt werden könnte, oder handelt es sich hier vielmehr
um eine begriffliche Aussage, wonach der Begriff des zielorientierten Wachstumsbe-
wusstseins gleichsam analytisch mit dem der Disposition zur Genügsamkeit verbun-
den ist? Für das erste Verständnis spricht, dass die Autoren aus ihren Überlegungen
konkrete Maßnahmen zur Förderung des zielorientierten Wachstumsbewusstseins
vorschlagen, um ein qualitatives Wachstum herbeizuführen (S. 60f.). Für die zweite
Lesart spricht, dass sich Christen und Marti darum bemühen, die unterschiedlichen
Formen des Wachstumsbewusstseins rein begrifflich oder phänomenologisch aus den
beiden Wachstumsarten zu deduzieren (S. 51-53; 57-59). Die Unklarheit des Status
von Christens und Martis Aussagen zeigt sich auch in der Formulierung ihrer These,
in der sie betonen, dass es ihnen sowohl um die Begründung (logisch) als auch um die
Verwirklichung (kausal) des qualitativen Wachstums ginge, und zu ihrer Erhärtung
immer wieder auf die historische Entwicklung des Wachstumsbewusstseins einge-
hen. In diesen Passagen wird deutlich, dass der Zusammenhang zwischen Wachs-
248 Buchbesprechungen
tumsart und Wachstumsbewusstsein als ein empirischer zu verstehen ist. Durch die
nachträgliche «Deduktion» des Wachstumsbewussteins von der Wachstumsart wird
dieser Umstand jedoch verwischt. Christen und Marti vertreten eigentlich empirische
Thesen, belegen diese aber weniger mit empirischen Studien als mit einer phänome-
nologischen Betrachtung des ‹Wachstums›. Ist dieses Vorgehen auch etwas zweifel-
haft, so machen die Autoren doch deutlich, dass man sich nicht unabhängig von einer
gewissen Beschreibung auf Phänomene beziehen kann und demnach auch das Wachs-
tum wesentlich von dem beeinflusst wird, was wir unter Wachstum verstehen. Dieser
sich hier abzeichnenden konstruktiven Macht der Sprache geht auch Philipp Krohn
in seinem Beitrag Ausweg Wachstum? Sprache in einer begrenzten Welt nach, wenn
er untersucht, wie unser Denken und Reden über ökonomische Phänomene durch die
Organismus-Metapher strukturiert wird. Würden wir uns eine Wirtschaft nicht als
lebendigen Körper denken, könnten wir nicht in aller Selbstverständlichkeit davon
sprechen, dass sich eine kranke Wirtschaft von einem Börsencrash erholen müsse.
Eben diese Macht der Sprache möchte auch Uta Hanft in ihrem Aufsatz Hauptsache
Freie Zeit! ausnutzen, wenn sie vorschlägt, die Arbeitslosen Versicherung durch eine
Freie Zeitversicherung zu ersetzen, die Nicht-Erwerbstätige von ihrer sozialen Stig-
matisierung befreit. Wenn man freie Zeit als wertvolle Ressource erkennt, dann sähen
sich Erwerbslose weniger als Opfer, sondern eher als Privilegierte, die sich «Freie
Zeit zum Lernen und Leben» (S. 83) gönnen. Damit steigt die Stimmung, mit der
Stimmung die Innovation und damit letztlich auch wieder das Wirtschaftswachstum.
Wenn Hanft am Ende ihres Beitrages «selbst Vollbeschäftigung nicht mehr abwegig
erscheint» (S. 90), wird man ob all dem Enthusiasmus und der Einfachheit der Lösung
etwas skeptisch und fragt sich, ob die Diagnose, die am Anfang ihrer Untersuchung
stand, stichhaltig ist. Ist es tatsächlich so, dass wir nicht kündigen können, ohne einen
Arbeitsplatz in Aussicht zu haben, «weil es für diese Art der Kündigung […] im
Grunde gar keine Umgangssprache gibt» (S. 79f.)? Sicher spielen dabei auch soziale
Zwänge eine große Rolle, die sich mit anderen Sprechweisen alleine nicht einfach
auflösen lassen wie sich philosophische Probleme nach Wittgenstein auflösen lassen.
Deshalb sind die sozio-ökonomischen Probleme unserer Zeit wohl auch keine genuin
philosophischen Probleme. Wie auch die in diesem Band versammelten Beiträge
nicht genuin philosophisch sind. Vielleicht sind sie aber gerade deshalb voller guter,
positiver Ratschläge, wie diese Probleme angegangen werden können.
Harry Lehmann : Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann
(München: Wilhelm Fink, 2006) 393 S., 13 Abb.
Gut zehn Jahre nach Luhmanns Monographie Die Kunst der Gesellschaft er-
scheint mit Harry Lehmanns virtuos gebauter und streng durchdachter Dissertation
Die flüchtige Wahrheit der Kunst die erste große philosophische Auseinandersetzung
mit diesem Werk. Lehmann gibt sich hier nicht nur als scharfsinniger, sondern auch
als eigenständiger Denker zu erkennen. Der Untertitel Ästhetik nach Luhmann ist
ebenso sehr zu lesen als Fortführung des philosophischen Ästhetikdiskurses nach
Comptes rendus 249
Die der Kunst von Luhmann zugewiesene Funktion, d. h. das Problem, welches
das Kunstsystem für die Gesellschaft löst, ist ein zumindest teilweise von Luhmann
selbst geschaffenes Problem. Die Funktion der Kontingenzbewältigung wird dazu
benötigt und eingesetzt, eine drängende Aufgabe nicht nur der Gesellschaft, sondern
vor allem der Luhmann’schen Theorie der Gesellschaft zu lösen. Harry Lehmanns
hier anzuzeigende Studie Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann
kritisiert zu Recht diese Funktionsbestimmung der Kunst und zielt so geradezu ins
Herz der Systemtheorie. Lehmann sieht darin eine «Fremdbestimmung der Kunst
[…] durch Systemtheorie». «Die Zuschreibung der gesellschaftlichen Funktion», so
seine Kritik, «erweist sich als eine Funktionalisierung der Kunst» (S. 21), weil die
Funktion des Kunstsystems als Vermittlung eines propositionalen Wissens bzw. einer
einfachen Aussagewahrheit gedacht wird. Wenn dieses Wissen aber einmal vermittelt
ist – so die Überlegung des Autors – dann läßt sich der Sinn neuer Kunst überhaupt
nicht mehr legitimieren, sie verlöre schlichtweg ihre gesellschaftliche Funktion. Des-
halb versucht Lehmann zunächst einmal, die in der Kunst der Gesellschaft formulierte
Funktionsbestimmung in ihrer Wahrheit und in ihrem Schein verständlich zu machen.
Was Luhmanns Kunstfunktion eigentlich besagt, legt Lehmann in den folgenden Aus-
führungen dar, denen der Rezensent auf ganzer Linie zustimmen kann:
Die abstrakte Formel von der Ordnungsfähigkeit des Möglichen […] lässt sich
[…] als untergründige Polemik der Systemtheorie gegen die derzeit herrschende
Selbstbeschreibung der Gesellschaft verstehen, mit der sie konkurriert – der Post-
moderne. […] Der Verzicht auf Autorität und Repräsentation ist ein Topos der
Postmoderne; ihr immer augenscheinlicher gewordenes Defizit besteht darin,
dass sie die Negation der traditionellen Ordnungsmuster positiv lediglich als
Weltanschauung der Pluralität, Ambiguität und Unentscheidbarkeit artikulieren
kann. Diese Position der sprichwörtlich gewordenen Beliebigkeit haben dann
«Traditionalisten» im Blick und setzen wegen der praktisch schwer akzeptier-
baren Konsequenzen eines solchen generalisieren «Ordnungsverzichts» erneut
auf autoritäre und repräsentationale Orientierungsformen.
Luhmanns Gesellschaftstheorie zielt, nachdem sie mit der Postmoderne das Zer-
brechen der alten Ordnung konstatiert, auf das neue Problem, das hieraus ent-
steht: «sich überhaupt an Möglichkeiten zu orientieren». Das erkenntnistheore-
tische Programm des Konstruktivismus, auf das Luhmann dabei zurückgreift,
wird zum Nachfolgeprogramm der Postmoderne, welche dieses Orientierungs-
problem überhaupt nicht sieht. […] Unverkennbar wird das Kunstwerk nach
Luhmanns Funktionsbestimmung zu einem zweiseitigen Sinnbild – zum Bild
seiner systemtheoretischen Gesellschaftsbeschreibung auf der einen und zum
Gegenbild der Postmoderne auf der anderen Seite. (S. 26ff.)
Luhmanns Systemtheorie beschreibt» (S. 330). Gegen Lehmanns Projekt spricht, wie
er selber ausdrücklich betont, dass es im Verständnis der systemtheoretischen Ge-
sellschaftstheorie zur funktionalen Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Kunst
gekommen ist und somit Wahrheit im engeren Sinn nur noch der Wissenschaft,
nicht aber der Kunst zugesprochen werden kann. Die Wahrheit der Kunst muss ent-
sprechend als eine nichtpropositionale Wahrheit gedacht werden.
Lehmann entwickelt, da laut ihm Luhmann die funktionale Bestimmung der Kunst
nicht überzeugend gelingt, einen Gegenvorschlag zur Funktion der Kunst: «Kunst
findet ihren sozialen Sinn […] in der Provokation neuer gesellschaftlicher Selbst-
beschreibungen und wendet sich damit auch kritisch gegen das Bild, dass sich die Gesell-
schaft bislang von sich selbst machte und an dem sie sich aktuell orientiert» (S. 10).
Weit über Luhmann hinausgehend sieht der Autor das Bezugsproblem der Kunst
in der mangelnden Resonanzfähigkeit der modernen Gesellschaft. Die allgemeine
gesellschaftliche Funktion, welche die Kunst mit der Philosophie und der Religion
teilt, ist Problemfindung. Die spezifische «Funktion der Kunst wäre es dann, die Welt,
wie sie geworden ist, wie sie in ihrem aktuellen Problemhorizont von den verfügbaren
Selbstbeschreibungsmustern der Massenmedien überhaupt noch nicht erfasst werden
kann, in eben dieser Welt der öffentlichen Meinung erscheinen zu lassen» (S. 80f.).
Ausgehend von dieser Revision des kunstsystemischen Funktionsbegriffs nimmt
Lehmann weit reichende Umstrukturierungen der Luhmann’schen Systemtheorie in
Angriff. Mit guten Argumenten fasst er Kunst, Liebe, Religion und Philosophie in der
von ihm so benannten Kategorie der «Humanmedien» zusammen, deren Kommuni-
kation nicht mit einem re-entry – so die weitreichende These –, sondern mit einem
re-exit codiert sei. Dieser mutige Eingriff verändert in maßgebender Weise das Bild,
das Luhmann von der modernen Gesellschaft zeichnet und bezieht seine Plausibilität
aus einer werkgenetischen Beobachtung: Luhmann, so die vertretene These, habe
seine systemtheoretischen Grundbegriffe primär in Bezug zum Rechts-, Wirtschafts-,
Wissenschafts- und Politiksystem definiert und seine Thematisierung des Religions-,
Intim- und Kunstsystems ermangle deshalb nicht selten der Plausibilität, weil die
spätere Übertragung der einmal gewonnen Grundbegriffe problematisch sei.
Die Einschreibung der postulierten Humanmedien in Luhmanns Gesellschafts-
theorie führt zu einer Modifikation der Sinnkategorie und verändert von da aus nach-
haltig das Kategoriengefüge der Systemtheorie. Denn letztlich, so die Begründung
für diese tief greifende Korrektur,
schließt es die Systemtheorie deswegen kategorisch aus, Wahrheit anders denn als
wissenschaftliche Wahrheit zu verstehen, weil ihr dies bereits in ihrer Kategorie
des Sinns eingeschrieben ist. Läuft die Sinnverarbeitung in der modernen Gesell-
schaft aber zweigleisig, dann muss auch der Sinnbegriff als der eigentliche Letzt-
begriff der Systemtheorie in sich unterschieden werden. Wo es emphatischen
Sinn gibt, verdoppeln sich alle wesentlichen Grundbegriffe der Systemtheorie:
Es gibt nicht nur die realisierbare, sondern auch die erst zu erschließende unmög-
liche Möglichkeit […], auf diese Un-Möglichkeit richtet sich nicht die normale
Beobachtung des unterscheidenden Bezeichnens, sondern ein interpretatives Be-
obachten (S. 290f.).
252 Buchbesprechungen
Dieses Zitat macht eindrücklich greifbar, mit welcher Virtuosität und Kreativität
sich der Autor die Systemtheorie zu Eigen macht. Lehmanns Eingriffe in Luhmanns
Soziologie sind letztlich Ausdruck eines Interesses am Geiste von Adornos Kritischer
Theorie, deren zentrale Motive hier der Luhmann’schen Kunstsoziologie eingeschrie-
ben werden. Obwohl der Autor sich und seinen Lesern solch radikale Eingriffe in
die Architektur einer Theorie zumutet, die als solche schon in ihren verschiedenen
komplexen Begriffsfeldern denkerisch nur mit großer Ausdauer und Mühe zu bewäl-
tigen ist, bleiben seine Ausführungen nicht in der Luft hängen. Dieses Verdienst ist
in erster Linie auf Lehmanns sorgfältige und auf genauen Beobachtungen basierende
Diskussionen von einzelnen Kunstwerken zurückzuführen. Es gelingt dem Autor
dabei, seine abstrakten Ausführungen anschaulich werden zu lassen. Die Stärke und
Griffigkeit seiner Theorie wird gerade in ihrer Anwendung an einem Beispiel am
offensichtlichsten, welches Luhmann selbst auch schon analysiert hat: An Frederick
D. Bunsens Kabelkalb.
Wer an einer engagierten Vermittlung zwischen Systemtheorie und Kritischer
Theorie, an einer produktiven Um- und Weiterschreibung der Luhmann’schen Kunst-
theorie interessiert ist, wird diese weit reichende philosophische Studie mit großem
Gewinn lesen.
ursache alles bewirken, was eine Zweitursache bewirken kann. Wichtig ist in diesem
Zusammenhang die Theorie der intuitiven Erkenntnis. Der allmächtige Gott kann
bewirken, dass ich eine intuitive Erkenntnis eines nicht-existierenden Gegenstandes
habe. Andrerseits werden skeptische Argumente virulent in der im 13. Jahrhundert
voll entwickelten Spezies-Theorie, die arabischen und lateinischen Ursprungs ist und
das Affiziertwerden durch einen Gegenstand erklärt. Heinrich von Gent, Johannes
Petrus Olivi und Crathorn sehen in dieser Theorie die (skeptische) Gefahr, die man in
der Neuzeit «Repräsentationalismus» nannte. Das Auftauchen skeptischer Argumente
in mittelalterlichen Debatten ist also nicht als Rezeptionsphänomen zu werten – min-
destens nicht als Rezeption der antiken Skepsis. Es steht eher im Zusammenhang mit
einer andern Rezeption: Der Rezeption von Aristoteles’ De anima, die für die Dis-
kussion der Begriffe der Wahrnehmung und des Intellekts von Bedeutung ist, sowie
derjenigen der Analytica Posteriora, wo es um das Konzept von scientia und um die
kritische Frage nach der Möglichkeit des strikten Wissens und der Absolutheit bzw.
den Graden der Gewissheit geht. Auch diese Diskussion ist nicht nur als Rezeptions-
phänomen beschreibbar; es geht im 13. und 14. Jahrhundert darum, welche Disziplin
in welcher Weise «Wissenschaft» genannt werden kann. Das war inhaltlich ebenso
wie institutionell im 13. und 14. Jahrhundert von großer Signifikanz.
Die erste von Perler dargestellte epistemologische Debatte, in der skeptische Ar-
gumentationen auftauchen, wurde zwischen Heinrich von Gent und Duns Scotus zu
einem anspruchsvollen mittelalterlichen Wissensbegriff ausgetragen (Kap. I). Hein-
rich setze sich mit der akademischen Skepsis (Cicero und Augustin) auseinander und
frage grundsätzlich: Ist Wissen überhaupt möglich? Duns Scotus, der ein antiskep-
tisches, positives, natürliches Wissen verteidigen wolle, werfe Heinrich vor, seine
Argumente zugunsten einer augustinischen Illuminationstheorie für die Erklärung der
Spezies-Theorie würden nur für die Position der akademischen Skeptiker sprechen.
Heinrich verschiebe aber – wie Austin im 20. Jahrhundert – die Beweislast im Falle
der Sinnestäuschung auf die Skeptiker, da, um überhaupt Täuschungsfälle also solche
bezeichnen zu können, eine normale Funktion der Sinneswahrnehmung vorausge-
setzt werden müsse. Duns Scotus versuche zu zeigen, dass sicheres, gewisses Wissen
auch ohne Illumination, durch rein natürliche Prozesse erwerbbar sei: durch analyti-
sche Erkenntnis, induktive Erkenntnis kausaler Zusammenhänge, Erkenntnis eigener
Akte oder Erkenntnis wahrnehmbarer Eigenschaften. Beide seien keine Skeptiker,
ein (allzu) anspruchsvoller essentialistischer Wissensbegriff – Wissen zielt immer auf
das Wesen einer Sache – und die Spezies-Theorie aber provozierten zusammen eine
skeptische Argumentation in der Frage des Konzepts des gewissen Wissens.
Kapitel II untersucht die Zweifel an der absoluten Gewissheit, die Thomas von
Aquin, Siger von Brabant, Petrus Johannes Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes Ro-
dington, Gregor von Rimini und Peter von Ailly hegten. Wurde da die Erkenntnis-
gewissheit tatsächlich aufgelöst und entstand eine neue intellektuelle Krankheit
(Gilson) oder, wie in Blumenbergs Legende diagnostiziert, eine Epochenkrise, in
der jedes Weltvertrauen verloren ging? Bei Thomas werde die radikal skeptische
Hypothese, der zufolge ein Dämon mein ganzes Denken manipulieren könnte, von
vornherein ausgeschlossen. Der menschliche Intellekt sei aufgrund seiner Natur auf
die Dinge der Außenwelt abgestimmt und habe durchaus die Fähigkeit, das Wesen
Comptes rendus 255
der Dinge korrekt zu erfassen. In unseren kognitiven Zuständen würden wir die For-
men der Gegenstände in uns aufnehmen. Die Identitätstheorie, wonach die Form
des Eingesehenen mit der Form des Gegenstandes identisch ist, und die These der
mehrfachen Existenzweise, nach der Formen nicht nur in individuierten materiellen
Gegenständen, sondern in universeller Weise auch im Intellekt vorkommen kön-
nen, setzt dabei universale reale Formen voraus. Zur Zurückweisung der skeptischen
These setze Thomas einen metaphysischen (es gibt universale Formen), epistemo-
logischen (der menschliche Intellekt ist von Natur aus imstande) und einen theolo-
gischen Optimismus (Gott täuscht nicht) voraus. Siger von Brabant diskutiere die
skeptische These, dass wir nicht die Dinge der materiellen Welt erfassten, sondern
nur die Erscheinungs- oder Vorstellungsbilder, und dass diese Bilder wie Träume
seien, so dass wir uns der Existenz keiner Sache gewiss sein könnten. Eine solche
Vorform eines Außenweltskeptizismus lehne Siger aber mit Kohärenz-Argumenten
ab. Crathorns Thesen zielen in Perlers Auslegung – ich würde diese Thesen allerdings
harmloser interpretieren – ebenfalls auf einen Aussenweltskeptizismus ab. Crathorn
argumentiere seinerseits nicht mit einem epistemologischen Optimismus gegen den
Skeptizismus, sondern damit, dass es undenkbar sei, dass Gott uns täuschen wolle.
Dass der Anspruch auf absolute Gewissheit aber trotzdem aufzugeben sei, hänge mit
seiner «repräsentationalistischen» Spezies-Theorie zusammen, so Perler. Johannes
Petrus Olivi hingegen entwickle das skeptische Szenario nur mit dem Ziel, die Spe-
zies-Theorie zugunsten eines direkten Realismus ad absurdum zu führen. Johannes
Rodington setze hingegen die Hypothese des bösen Dämon in methodischer Hinsicht
ein. Sie sei bei ihm aber nur ein Gedankenexperiment, das zeigen soll, dass man
keinen Anspruch auf ein absolut sicheres Wissen haben könne. Pierre d’Ailly nehme
eine Mittelposition zwischen radikalem Skeptizismus und Dogmatismus ein, indem
er nicht in einer fundamentalistischen Strategie gleichsam auf einen den Skeptizismus
verunmöglichenden Dogmatismus zurückgreife, sondern in einer Differenzierungs-
strategie die These vertrete, dass man Erkenntnis einschränken und mit Bedingungen
versehen müsse. Gregor von Rimini lehne im Rückgriff auf die Theorie der Lüge,
die traditionell die Intentionsbedingung und Behauptungsbedingung impliziert, die
Möglichkeit einer göttlichen Täuschung ab.
Keiner der dargestellten mittelalterlichen Autoren ist also der radikalen Meinung,
dass Täuschungsszenarien, die von der Allmacht Gottes her motiviert sind, mehr als
rein fiktive Gedankenexperimente sind; solche skeptischen Argumente werden ledig-
lich in methodischer Hinsicht eingesetzt, um zu prüfen, welcher Erkenntnisanspruch
erhoben werden kann. Das Ziel war eine bessere Differenzierung und Begründung der
Erkenntnisansprüche, nicht eine Infragestellung der gesamten Erkenntnis. Daraus re-
sultiert, dass die bisher geschilderte Skeptizismusdiskussion im Mittelalter keine Vor-
geschichte des Cartesianismus ist, insofern Descartes keine hypothetische Gewissheit
zulässt, sondern, so Perler, mit der absoluten Gewissheit auch jede Gewissheit un-
seres Wissens von der materiellen Welt schlechthin aufhebt. Die genannten Autoren
verfolgten dagegen ein reliabilistisches und internalistisches Projekt der Erkenntnis
und strebten nicht nach einer einzigen absolut unbezweifelbaren Grundlage, sondern
untersuchten, welche kognitiven Mechanismen vorliegen müssen, damit korrekte Er-
kenntnis gewonnen werden könne. Die Beweislast dafür, dass aus der bloß bedingten
256 Buchbesprechungen
Gewissheit folgen könnte, dass Erkenntnis gleich in allen Fällen zweifelhaft wird,
habe man dem Skeptiker übertragen.
In Kapitel III behandelt Perler die skeptischen Zweifel im Zusammenhang mit
der Theorie der intuitiven Erkenntnis. Mit dem metaphysischen Optimismus ruht das
Erkenntnismodell bei Thomas auf einem Universalienrealismus, den z. B. Ockham
nicht teilt. Ockham muss also eine andere «antiskeptische» Strategie verfolgen. Sein
antifundamentalistischer, fallibilistischer Erklärungsansatz der Erkenntnis gehe von
einer direkten Perzeption aus und vertrete eine externalistische Konzeption, für die
Wissen zu haben nicht impliziere, dass man aufgrund eines inneren Kriteriums auch
weiß, dass man weiß. Seine kausale Wahrnehmungs- und Kognitionstheorie enthalte
die naturalistische und reliabilistische Annahme, dass im Prinzip korrekte Sinnes-
eindrücke und damit auch im Prinzip wahre Urteile zustande kämen. Auch für
Wodehams Fallibilismus sei es klar, dass alles Wissbare bezweifelbar ist und dass es
unangemessen sei, so etwas wie eine absolute Garantie für unser Wissen einzufordern.
Der aristotelische Erkenntnisoptimismus sei allerdings nie verlassen worden.
In Kapitel IV behandelt Perler die Diskussion um den Aristotelismus zwischen
Nikolaus von Autrécourt und Johannes Buridan, die in der Forschungsliteratur als
Auseinandersetzung zwischen Skeptizismus und Antiskeptizismus dargestellt wird.
Perler aber beschreibt den Streit erfrischend anders: Nikolaus erweist sich dabei nicht
als radikaler Skeptizist, sondern als Vertreter eines epistemologischen Fundamen-
talismus – Perler charakterisiert ihn als «monolithischen Fundamentalismus» – der
behaupte, dass es eine absolut sichere Grundlage für unser Wissen (scil. das Prinzip
des ausgeschlossenen Widerspruchs) gebe und dass alle Wissensansprüche auf diese
Grundlage gestellt werden müssten. Buridan gehe hingegen von einer kohärentisti-
schen, reliabilistischen Wissenskonzeption aus, die Naturalismus und Empirismus
verbinde. Auch diese beiden benutzten skeptische Argumente nicht um einer skepti-
schen Position willen, sondern um ihr Konzept von Wissen zu explizieren. Buridan
und Nikolaus können in dem Sinne nicht als Vorläufer neuzeitlicher Philosophen
(z. B. Nikolaus als «mittelalterlicher Hume») bezeichnet werden, als sie bei ihrer
Diskussion skeptischer Argumente die Zuverlässigkeit der kognitiven Vermögen nicht
prinzipiell in Frage stellten. Deshalb war die radikale Skepsis für sie auch keine
Option.
Das Ziel, für das diese mittelalterlichen Autoren skeptische Argumente einsetzen,
war also nicht – wie in der antiken Skepsis – eine Position der praktischen Vernunft,
einen «Skeptizismus ohne Theorie» (Williams), zu erreichen oder einzunehmen,
nämlich die Erlangung der Seelenruhe. Keiner der verhandelten Autoren nahm eine
von Grund auf skeptische Position ein; dadurch ist die am Anfang erwähnte historio-
graphische Meinung überzeugend als Konstruktion entlarvt. Ihr Ziel war vielmehr,
die epistemologische Frage nach Konzept und Theorie des (gewissen) Wissens grund-
sätzlich zu klären und zu beantworten. Dazu wurden die skeptischen Argumente im
Mittelalter in dieser Zeitspanne – wie notabene in der gegenwärtigen Epistemologie
auch – vorab aus methodischen Gründen eingesetzt. Die eher kritische als skeptische
Grundfragestellung dazu liefert Heinrich von Gent: Utrum contingat hominem aliquid
scire? (Summa, art. 1, q. 2). Im Verlaufe der Debatten wird der Wissensbegriff dif-
ferenziert und gradiert – insbesondere im Blick auf die Gewissheit. Die vorliegende
Comptes rendus 257
ausgezeichnete Studie zeigt somit nicht nur überzeugend auf, dass die mittelalterliche
Epistemologie, insbesondere die Reflexion auf das Konzept des Wissens, im Hoch-
und Spätmittelalter stets auf Skepsis aufmerksam war, sondern bietet gleichzeitig
einen gegenwärtig seinesgleichen suchenden Ansatz und Aufriss der noch ziemlich
im Dunkeln liegenden (spät)mittelalterlichen Erkenntnislehre oder genauer: einer
Theorie des Konzeptes des Wissens. Er macht Lust und motiviert, mit viel Gewinn für
gegenwärtige Diskussionen weiterzuforschen. Als Desiderate für eine das Phänomen
des Wissensbegriffs auslotende umfassende epistemologische Studie drängen sich
Studien auf zur Abgrenzung der dialektisch-topischen Aspekte des Wissens von den
analytischen (im Gefolge von Johannes von Salisbury), zur hypothetischen scientia
bei Boethius von Dacien, zur Gewissheitsproblematik im Felde des Glaubens und
Wissens und da auch zu einem christlich motivierten Skeptizismus.
Markus Christen, Dr. sc. ETH, University Research Priority Program Ethics,
Klosbachstraße 107, CH-8032 Zürich
Michael Esfeld, Prof. Dr. phil., Université de Lausanne, Section de philo-
sophie, CH-1015 Lausanne
Manfred Frank, Prof. Dr. phil., Universität Tübingen, Philosophisches Se-
minar, Bursagasse 1, D-72070 Tübingen
Stefan Heßbrüggen-Walter, Dr. phil., FernUniversität in Hagen, Institut für
Philosophie, Universitätsstraße 41, D-58097 Hagen
Sebastian Hüsch, Dr. phil., Universität Basel, Philosophisches Seminar,
Nadelberg 6-8, CH-4051 Basel
Harry Lehmann, Dr. phil., Akademie Schloss Solitude, Solitude 3, D-70197
Stuttgart
Maria-Sibylla Lotter, Dr. phil., Universität Konstanz, Fachbereich Philo-
sophie, Universitätsstraße 10, D-78464 Konstanz
Marcello Ostinelli, Dr. phil., professore all’Alta Scuola Pedagogica, Piazza
San Francesco, CH-6600 Locarno
Andrea Poma, Prof. Dr. phil., Università di Torino, Facoltà di Lettere e Filo-
sofia, Dipartimento di Filosofia, Via S. Ottavio 20, I-10124 Torino
Christian Sachse, Dr ès lettres, maître d’enseignement et de recherche à
l’Université de Lausanne, Section de philosophie, CH-1015 Lausanne
Herbert Schnädelbach, Prof. em. Dr. phil., Humboldt-Universität zu Berlin,
Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin
Daniel Schulthess, Dr ès lettres, professeur à l’Université de Neuchâtel,
Institut de philosophie, Case postale, CH-2001 Neuchâtel
Gerhard Seel, Prof. em. Dr. phil., Universität Bern, Institut für Philosophie,
Unitobler, Länggassstraße 49a, CH-3000 Bern 9
Erwin Sonderegger, Prof. Dr. phil., Eichweidstraße 30, CH-8820 Wädenswil
Redaktion / Rédaction
Anton Hügli, Prof. em. Dr. phil., Universität Basel, Philosophisches Semi-
nar, Nadelberg 6-8, CH-4051 Basel
Curzio Chiesa, Dr ès lettres, maître d’enseignement et de recherche à l’Uni-
versité de Genève, Département de philosophie, CH-1211 Genève 4
Das Signet des 1488 gegründeten
Druck- und Verlagshauses Schwabe
reicht zurück in die Anfänge der
Buchdruckerkunst und stammt aus
dem Umkreis von Hans Holbein.
Es ist die Druckermarke der Petri;
sie illustriert die Bibelstelle
Jeremia 23,29: «Ist nicht mein Wort
wie Feuer, spricht der Herr,
und wie ein Hammer, der Felsen
zerschmettert?»
Die gegenwärtige Philosophie ist durch eine Aufsplitterung gekennzeichnet, die so
weit reicht, dass die einzelnen philosophischen Disziplinen sich häufig gänzlich un-
abhängig voneinander weiterentwickeln. Entsprechend drängt sich die Frage auf,
ob die Philosophie als solche überhaupt noch über so etwas wie einen spezifischen
Gegenstandsbereich verfüge. Zunehmend schwieriger wird auch die Abgrenzung
der Philosophie zu den Einzelwissenschaften. Die Beziehungen zwischen der
Philosophie und anderen Wissenszweigen wie beispielsweise den Neurowissenschaf-
ten, der Psychologie, den Lebenswissenschaften oder den Gesellschaftswissenschaf-
ten genauer auszuloten, ist darum heute eine dringend notwendige Aufgabe. Die
möglichen Antworten werden selbstverständlich sehr verschieden ausfallen, je nach
Ausrichtung, Herkunft und allgemeinem theoretischen Hintergrund des Autors
oder der Autorin. Es stellt sich darum auch immer wieder die metaphilosophische
Frage, ob es zwischen den philosophischen Richtungen der heutigen Zeit über-
haupt noch einen gemeinsamen Grund gebe, auf dem man sich treffen könne.
Anton Hügli, geb. 1939, studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik/Nordistik
und Mathematik in Basel und Kopenhagen. Er war von 1981 bis 2001 Direktor des
Pädagogischen Instituts Basel-Stadt und ab 1981 Privatdozent, dann ausserordent-
licher Professor und von 2001 bis 2005 vollamtlicher Professor für Philosophie und
Pädagogik an der Universität Basel.
Curzio Chiesa, geb. 1953, studierte Philosophie in Genf, Paris und Cambridge.
Er ist seit 1978 Maître d’enseignement et de recherche für antike und mittelalter-
liche Philosophie an der Universität Genf.