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S T U D I A P H I L O S O P H I C A Vol.

66/ 2007

Was ist Philosophie?


Qu’est-ce que la philosophie?

Redaktion: Anton Hügli


Rédaction: Curzio Chiesa

Schwabe
STUDIA PHILOSOPHICA
VOL. 66/2007

JAHRBUCH DER
SCHWEIZERISCHEN PHILOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

ANNUAIRE DE LA SOCIÉTÉ SUISSE DE PHILOSOPHIE

SC H WA BE V E R L AG BASE L
WAS IST PHILOSOPHIE?

QU’EST-CE QUE
LA PHILOSOPHIE ?

REDAKTION / RÉDACTION
ANTON HÜGLI / CURZIO CHIESA

SC H WA BE V E R L AG BASE L
Publiziert mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie
der Geistes- und Sozialwissenschaften

Publié avec l’aide de l’Académie suisse des sciences humaines et sociales

© 2007 by Schwabe AG , Verlag, Basel


Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz
Druck: Schwabe AG , Druckerei, Muttenz / Basel
Printed in Switzerland
ISBN 978-3-7965-2310-6

www.schwabe.ch
Inhalt / Table des matières

Was ist Philosophie?


Qu’est-ce que la philosophie ?

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Philosophie in ihrem heutigen Selbstverständnis


Herbert Schnädelbach : Was ist Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Gerhard Seel : Wozu Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Stefan Heßbrüggen-Walter : Das Ganze im Blick:
Sellars über die Aufgabe der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Wissenschaft und Philosophie


Michael Esfeld : La philosophie comme métaphysique
des sciences . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Christian Sachse : La philosophie comme réflexion
sur les sciences . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Harry Lehmann : Was ist Philosophie? – Zur Koppelung
und Entkoppelung von Wissenschaft und Philosophie . . . . . . . . 91

Philosophie, Literatur und Gesellschaft


Sebastian Hüsch : Das Problem der Erkenntnis als Problem
der Form: Literatur und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Maria-Sibylla Lotter : Die Philosophie als Kritikerin
von Kritiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Philosophie und Subjektivität


Manfred Frank : Subjektivität und Argumentation . . . . . . . . . . . . . . 155
Markus Christen : Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie . . 175
6 Inhalt / Table des matières

Historische Bestimmungen der Philosophie

Erwin Sonderegger : Was wir nicht verlieren dürfen . . . . . . . . . . . . 197


Daniel Schulthess : Concorde philosophique et réduplication
chez Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Würdigung

Andrea Poma : Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit.


Helmut Holzhey: Zu seinem 70. Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Rezensionsabhandlung / Étude critique

Marcello Ostinelli : Il senso della perplessità morale. Zu: Carla


Bagnoli: Dilemmi morali (Genova: De Ferrari, 2006) . . . . . . . . 235

Buchbesprechungen / Comptes rendus

Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einer


begrenzten Welt, hg. vom Deutschen Studienpreis, Wiesbaden
2007 (Stephan Schmid) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Harry Lehmann : Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach
Luhmann, München 2006 (Markus Koller) . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
Dominik Perler : Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten
im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2006 (Peter Schulthess) . . . . . . . . 252

Adressen der Autoren / Adresses des auteurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258


Redaktion / Rédaction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Studia philosophica 66/2007

Was ist Philosophie?


Qu’est-ce que la philosophie ?

Vorwort

Die Philosophie heute ist durch eine Aufsplitterung gekennzeichnet, die so


weit reicht, dass die einzelnen philosophischen Disziplinen sich häufig gänz-
lich unabhängig voneinander weiter entwickeln. Entsprechend drängt sich
die Frage auf, ob die Philosophie als solche überhaupt noch über so etwas
wie einen spezifischen Gegenstandsbereich verfüge. Zunehmend schwieriger
wird auch die Abgrenzung der Philosophie zu den Einzelwissenschaften.
Die Beziehungen zwischen der Philosophie und anderen Wissenszweigen
wie beispielsweise den Neurowissenschaften, der Psychologie, den Lebens-
wissenschaften oder den Gesellschaftswissenschaften genauer auszuloten, ist
darum heute eine dringend notwendige Aufgabe. Die möglichen Antworten
werden selbstverständlich sehr verschieden ausfallen, je nach Ausrichtung,
Herkunft und allgemeinem theoretischen Hintergrund des Autors oder der
Autorin. Es stellt sich darum auch immer wieder die meta-philosophische
Frage, ob es zwischen den philosophischen Richtungen der heutigen Zeit
überhaupt noch einen gemeinsamen Grund gebe, auf dem man sich treffen
könne.
Die Schweizerische Philosophische Gesellschaft ist an ihrem Symposion
2006 in Neuchâtel diesen Fragen nachgegangen. Die wichtigsten Beiträge
dieses Symposions sind in diesen Band der Studia Philosophica eingegan-
gen. Ein zusätzlich angeforderter Beitrag von Herbert Schnädelbach eröffnet
den Band.

Anton Hügli Curzio Chiesa


Philosophie
in ihrem heutigen Selbstverständnis
Studia philosophica 66/2007

H ERBERT S CHNÄDELBACH

Was ist Philosophie?

This question cannot be answered in a simple form, because philosophy is a histori-


cal phenomenon that has experienced many changes. Hence the contribution begins
by sketching what was called «Philosophy» in the past in order to, against the back-
ground of this history of the concept, sketch what happens in philosophy today. The
thesis is that philosophy essentially concerns attempts at conceptual orientation in
the domain of our fundamentals of thought, recognition and action. In philosophical
discourse explicative, normative and descriptive aspects can be distinguished. Seen
on the whole, philosophy is a conversation and that explains what may seem strange
about it, namely its close connection to the history of philosophy, the high measure
of forgetting and remembering, and the remarkable consistency of a few core themes
over the centuries.

«Was ist …?»-Fragen setzen voraus, man könne sie durch eine stabile Cha-
rakterisierung, wenn nicht gar durch eine Definition beantworten. Bei Na-
türlichem, dessen «Wesen» schon genau bestimmt ist – wie Wasser, Granit
oder Licht – mag dies angehen, und wenn es sich um schon Definiertes han-
delt – wie Dynamit, Nylon oder Laser – ist es ganz leicht. Die Philosophie
hingegen ist kein natürliches, sondern ein kulturelles Phänomen mit langer
historischer Vergangenheit und tiefgreifenden Wandlungen, so dass man, um
sie wirklich zu erfassen, in Wahrheit eine lange Geschichte erzählen müsste.
Im Übrigen hat niemand ein für alle Mal die Philosophie zu definieren ver-
mocht, obwohl es immer wieder versucht wurde, und somit existiert keine
Definition der Philosophie, die man nur zu zitieren bräuchte, um ihr gerecht
zu werden. Im Übrigen ist wohl der an der Philosophie Interessierte nicht
wirklich an einer solchen Definition interessiert, sondern in der Regel möchte
er wissen, was jeweils ‹Philosophie› genannt wurde (1), und was in der Ge-
genwart unter diesem Titel betrieben wird (2). Er möchte nicht dabei stehen
bleiben, dass dem, wonach er fragt, auf der einen Seite eine fast sprachlose
Verehrung als «Königin der Wissenschaften» entgegengebracht wird, um an-
dererseits sich von Managern erklären lassen zu müssen, ihre «Philosophie»
sei: «Möglichst hohe Gewinne bei möglichst geringen Kosten.» Dieses ver-
wirrende Bild, das die Philosophie bei den meisten Zeitgenossen abgibt,
kann man nur historisch erklären.
12 Herbert Schnädelbach

1. Kleine Begriffsgeschichte von ‹Philosophie›

‹Philosophía› ist ein griechisches Wort und wird meist mit ‹Liebe zur Weis-
heit› übersetzt. Aber das hilft uns nicht weiter, denn wer ist heute schon an
«Weisheit» interessiert? Dieses altväterliche Wort verdeckt, was ursprüng-
lich mit ‹sophía› gemeint war – ein Wissen und Können jeder Art, das sich
von den vertrauten Fertigkeiten des Alltags abhob und das wir besser mit
‹Bildung› im umfassenden Sinn wiedergeben sollten. In diesem Sinn lässt
Thukydides den Perikles in einer Rede sagen: «Wir lieben das Schöne (philo-
kaloûmen), ohne verschwenderisch zu sein, und wir streben nach Bildung
(philosophoûmen), ohne zu verweichlichen.»1 Hier wird deutlich, dass schon
im klassischen Griechenland die Bildung unter Rechtfertigungsdruck stand,
denn sie schien ja den traditionellen sportlichen und militärischen Tugen-
den des «harten» Mannes entgegenzustehen. Die erste terminologische Fest-
legung der Philosophie erfolgte durch Platon. Seine Gegner waren die So-
phisten, also Männer, die mit dem Anspruch auftraten, über eine bestimmte
sophía zu verfügen und sie gegen Geld verkaufen zu können. Dabei handelte
es sich vor allem um die sophía der Redekunst, die einem die Chance er-
öffnen sollte, seine Angelegenheiten vor der Volksversammlung oder vor
Gericht besonders effektiv vertreten zu können. Von seinem Lehrer Sokrates
hatte Platon gelernt, dass derjenige, der um die Grenzen seines Wissens weiß,
weiser ist als der vermeintliche Weise, der unkritisch auf seinem Wissen
besteht, und so lässt Platon den Sokrates sagen: «Jemanden einen Weisen
(sophós) zu nennen dünkt mich etwas Großes zu sein und nur Gott zu ge-
bühren; aber einen Freund der Weisheit (philósophos) oder dergleichen etwas
möchte ihm selbst angemessener zu sein und schicklicher.»2
Dieses sokratische Element wurde durch Aristoteles in den Hintergrund
gedrängt, denn bei ihm ist philosophía dasselbe wie Wissenschaft im Sinne
des begründeten und im Idealfall bewiesenen Wissens. Diese Gleichsetzung
blieb in unserer Tradition bis ins frühe 19. Jahrhundert verbindlich; so ließ
Isaac Newton sein physikalisches Hauptwerk 1687 unter dem Titel Philoso-
phiae naturalis principia mathematica erscheinen, und im 18. Jahrhundert
gab es in Frankreich sogar eine «Philosophie der Fische». Dem wurde seit
der frühen Neuzeit (Descartes) die Forderung nach vollständiger Begrün-
dung hinzugefügt, die nur in einem System möglich sei, wobei meist die
Euklidische Geometrie als methodisches Vorbild diente. So formuliert auch

1 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, II, 40.


2 Platon: Phaidros, 278d.
Was ist Philosophie? 13

Kant: «Das System aller philosophischen Erkenntnis ist […] Philosophie»,3


und noch Hegel betont: «Philosophie ist wesentlich System»,4 wobei sich
beide nur dadurch unterscheiden, dass Kant die Philosophie qua vollständige
Systemwissenschaft nur als eine Idee versteht, die wahrscheinlich nie reali-
siert werde, während Hegel für sein eigenes System beansprucht, dass sie in
ihm realisiert sei. Erst nach Hegel und dem so genannten «Zusammenbruch
des Deutschen Idealismus» in den Jahren nach 1831 treten Philosophie und
Wissenschaft auseinander und erzeugen die bis in unsere Gegenwart andau-
ernde Debatte, wie sich Philosophie und Wissenschaft zueinander verhalten
und ob die Philosophie überhaupt eine Wissenschaft sei.
Dieser nachhaltige Traditionsbruch lässt sich aus dem systematischen
Konflikt zwischen den statischen und den dynamischen Aspekten im her-
kömmlichen Wissenschaftskonzept erklären, in dem das Dynamische letzt-
lich die Oberhand gewann. Das sokratische Wissen um das eigene Nicht-
wissen war nie ganz aus dem Bewusstsein der Philosophen verschwunden,
und schon bei Aristoteles findet sich die Bestimmung der wissenschaftlichen
Praxis als Forschung (zétesis); Forschung aber ist nur dort sinnvoll, wo man
weiß, dass es vieles gibt, was man noch nicht weiß. Die Frage war dann, wie
sich Wissenschaft als System und als Forschung im Philosophiebegriff mit-
einander vereinigen lassen. Freilich hätte auch Platon zugestanden, dass es
der Forschung bedarf, denn auch ihm zufolge benötigt der Philosoph Erzie-
hung und Bildung (paideía), wie er sie im Höhlengleichnis beschreibt,5 aber
er war gleichwohl davon überzeugt, dass wir eigentlich schon alles wissen,
weil unsere Seelen in der Präexistenz im Reich der Ideen das Wahre bereits
geschaut hätten, und es deshalb nur bestimmter Anlässe bedürfe, um uns zur
Anstrengung der Wiedererinnerung (anámnesis) zu bewegen. Für Aristoteles
hingegen stammt all unser Wissen aus der sinnlichen Erfahrung (empeiría),
und so wird er trotz seiner These, dass trotzdem begründete Wissenschaft
möglich sei, zum Stammvater der Philosophie, die man ‹Empirismus› nennt
und wesentlich durch Francis Bacon und John Locke begründet wurde. Sie
wandte sich vor allem gegen die neuzeitliche Wiederauflage der anámnesis-
Lehre durch Descartes, der die neuzeitlich reformierte Wissenschaft auf
die «eingeborenen Ideen» (ideae innatae) begründen wollte. Die Tradition
des Rationalismus (Malebranche, Spinoza, Leibniz, Christian Wolff u. a.)

3 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 866.


4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke (Theorie Werkausgabe) (Frankfurt a. M.:
1969ff.), Bd. 8, S. 59.
5 Vgl. Platon: Politeia, 420ff.
14 Herbert Schnädelbach

folgte ihm darin, denn man war davon überzeugt, dass nur die Vorstellungen
und Wahrheiten, die nicht aus der wechselhaften Erfahrung stammen, also
a priori sind, dazu geeignet seien, Philosophie als Wissenschaft im streng
systematischen Sinn zu begründen.
Auch Kant hielt daran fest, aber er versuchte angesichts des mächtigen
Anwachsens der empirischen Forschung im 18. Jahrhundert, durch das die
uns vertrauten «Einzelwissenschaften» entstanden, die traditionelle Einheit
von Philosophie und Wissenschaft durch einen salomonischen Schieds-
spruch zu retten: «Alle Philosophie […] ist entweder Erkenntnis aus rei-
ner [erfahrungsunabhängiger – H. S.] Vernunft, oder Vernunfterkenntnis
aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische
Philosophie.»6 Aber dieses Angebot blieb ohne Folgen. Kant selbst hatte
gelehrt, dass die Empirie keine Prinzipien im strikten Wortsinn bereitzustel-
len vermag, und deswegen könne es in diesem Bereich auch keine Vernunft-
erkenntnis geben, die diesen Namen verdient. Die Empiriker aller Fächer
hingegen verzichteten gern darauf, denn ihnen war weniger an systemati-
scher Begründung als an innovativer Forschung gelegen. Zudem hatten sie
für die Bezeichnung ihres wissenschaftlichen Tuns als ‹Philosophie› keine
Verwendung mehr und überließen sie gern denjenigen Kollegen, die mein-
ten, über Erkenntnisse aus reiner, d. h. erfahrungsunabhängiger Vernunft zu
verfügen. ‹Empirische Philosophie› erschien jetzt wie ein hölzernes Eisen,
während die «reine» Philosophie, die im Deutschen Idealismus und den
Systemen des heute vergessenen Spätidealismus des 19. Jahrhunderts noch
einmal auflebte, zunehmend ins wissenschaftliche Abseits geriet und sich
immer nachhaltiger fragen lassen musste, was sie denn überhaupt noch mit
Wissenschaft zu tun habe. Nimmt man hinzu, dass noch für Kant die «reine»
Philosophie dasselbe war wie die Metaphysik, die seit eh und je als die erste
und höchste Form der Wissenschaft galt, so versteht man auch, warum das
Wort ‹Metaphysik› inzwischen wenn nicht gerade zu einem Schimpfwort, so
doch zur Bezeichnung eines unklaren, intellektuell verdächtigen oder irratio-
nalen Denkens degenerierte.
So geriet die Philosophie in eine Identitätskrise, aus der sie sich bis in un-
sere Tage nicht wirklich zu befreien vermochte. Ihr wissenschaftshistorischer
Hintergrund ist der Übergang von der traditionellen Systemwissenschaft auf
der Grundlage sicherer Prinzipien zur modernen Forschungswissenschaft,
die sich demgegenüber durch Methoden und Standards definiert. Für Letzt-
begründungen durch erfahrungsunabhängige Prinzipien war da kein Raum

6 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 868.


Was ist Philosophie? 15

mehr, und damit verlor die Philosophie auch die Definitionsmacht über das,
was Wissenschaft sei und was nicht. Diese Autorität hatte sich vor allen an-
deren Hegel noch einmal angemaßt, wobei seine herablassenden und manch-
mal verächtlichen Äußerungen über die jungen Forschungswissenschaften
schließlich nur zur allgemeinen Philosophieverachtung im 19. Jahrhundert
beitrugen. Was sollte nun aus der Philosophie werden? Es gab verschie-
dene Auswege. Zunächst lag es nahe, nach Anna Freuds Modell der «Identi-
fikation mit dem Angreifer» gänzlich zur Gegenseite überzulaufen und zu
behaupten, dass die moderne Wissenschaft alle unsere Fragen beantworten
könne und wir deswegen die Philosophie nicht mehr benötigten. Wollte man
gleichwohl Philosoph bleiben, konnte man sich dem neuen Wissenschafts-
konzept fügen und auch in der Philosophie vom System zur Forschung über-
gehen. Dann konnte man versuchen, sich in ein komplementäres Verhältnis
zur Forschungswissenschaft zu setzen, ohne mit ihr im Einzelnen zu konkur-
rieren. Ferner war es auch möglich, für die Philosophie einen aparten Gegen-
standsbereich zu reklamieren, um sich in ihm als selbstständige Wissenschaft
neu zu formieren. Schließlich bot sich an, den Anspruch der Wissenschaft-
lichkeit überhaupt fallen zu lassen, den Anschluss an die Literatur zu suchen,
um dort philosophisch eigene Wege zu gehen.
Dass die Philosophie überflüssig sei, weil wir doch die Wissenschaften
hätten, war um die Mitte des 19. Jahrhunderts die herrschende Meinung,
und sie wurde seither in immer neuen Varianten vertreten. Natürlich ist auch
das eine philosophische Überzeugung, die man Naturalismus nennt, und die
sicher ist, dass naturwissenschaftliche Methoden ausreichen, um alle traditio-
nellen philosophischen Fragen zu beantworten. So wird auch heute noch ver-
treten, dass die Evolutionsbiologie genüge, um sämtliche Rätsel des mensch-
lichen Erkennens und Handelns aufzulösen.7 Lange Zeit galt auch empirische
Psychologie als ein solches Wundermittel.8 Seit Neuestem erleben wir die
Neurophysiologie in dieser Rolle, die das, was auf ihren Bildschirmen be-
obachtet wird, für die definitive Klärung dessen hält, was tatsächlich bei
unserem Erkennen und Handeln abläuft; da ist es kein Wunder, dass nicht
nur die Willensfreiheit, sondern auch die Ideen von Verantwortung, Lob und
Tadel auf der Strecke bleiben.

7 Zu nennen sind hier die Entwürfe der Evolutionären Erkenntnistheorie und


Ethik.
8 Vgl. die Schriften des Behavioristen Burrhus F. Skinner, vor allem Jenseits von
Freiheit und Würde (1971).
16 Herbert Schnädelbach

Die Naturalisten, die die Naturwissenschaften als die wahre Philosophie


präsentieren, gehen in der Regel auch dazu über, deren Ergebnisse zu ver-
allgemeinern und sie zu einem neuen, modernen Weltbild zusammenzufü-
gen.9 Damit ahmen sie nur nach, was die Forschungswissenschaftler einst
dem Systemidealismus vorgeworfen hatten, nämlich sich von der wirklichen
Forschungspraxis zu entfernen, sich über die zu erheben, um sie dann «von
oben» zu bevormunden. Gleichwohl bedienen die naturalistischen Genera-
listen bis heute ein verständliches Bedürfnis, denn die einzelnen, sich immer
weiter ausdifferenzierenden Wissenschaften schaffen eine ständig anwach-
sende Unübersichtlichkeit, die immer erneut die Frage provoziert, wie denn
alles miteinander zusammenhängt: Das Haus der Wissenschaft mit seinen
zahllosen Räumen muss doch auch ein Dach haben, unter dem sich alles
vereint findet. Mit dieser Dach-Metapher sieht sich die Philosophie bis heute
konfrontiert; von der «Königin der Wissenschaften» wurde ständig erwar-
tet, dass sie das vielgestaltige und disparate wissenschaftliche Wissen zu-
sammenführt und in eine überschaubare Landkarte einträgt. Es lohnte sich,
einmal eine Geschichte der Bestseller zu schreiben, die seit über 150 Jahren
diese Nachfrage zu befriedigen versprachen.
Eine Variante dieser Strategie lässt sich anhand einer anderen Metapher
beschreiben – der des Fundaments des Wissenschaftsgebäudes. Seit Aristo-
teles bis zu Kant verstand sich die Metaphysik als die Wissenschaft, die als
«Erste Philosophie» die allgemeinsten Prinzipien und Bestimmungen alles
Seienden darzustellen habe. Diese Aufgabe wird auch nach dem angeblichen
Ende der Metaphysik noch für aktuell gehalten, aber jetzt der wissenschaft-
lichen Grundlagenforschung zugewiesen. Hatten die Philosophen noch ge-
glaubt, genau sagen zu können, was Raum, Zeit oder Materie sei, so erwartet
man dies jetzt nur noch von der Theoretischen Physik. Was ‹Leben› bedeutet,
sagen uns die Molekularbiologen, und ‹Geist› die Hirnforscher, und wer
sollte etwas dagegen sagen.
Wollte man hingegen das Feld der Philosophie nicht einfach verlassen
und zu den Wissenschaften überlaufen, musste man sich fragen, wie in die-
sem Bereich die Ablösung der System- durch die Forschungswissenschaft
möglich sei. Was also konnte ‹Forschung› in der Philosophie bedeuten? Man
hat öfter behauptet, die einzelnen Wissenschaften hätten sich von der Philo-

9 Einschlägig sind hier die Werke der von Marx und Engels als «Vulgärmateria-
listen» bezeichneten Autoren Ludwig Büchner, Vogt und Moleschott, aber auch
das in zahlreichen Auflagen erschienene Buch Die Welträtsel von Ernst Haeckel
(1899).
Was ist Philosophie? 17

sophie «emanzipiert» und ihr dadurch gar keinen eigenen Erkenntnisbereich


übrig gelassen, aber dies beruht auf einer optischen Täuschung. In der Tat
waren bis ins 19. Jahrhundert alle freien, d. h. nicht auf Anwendung ausge-
richteten Wissenschaften wie die Theologie, Jurisprudenz und Medizin in
einer vierten Fakultät vereint, die im Sinne des aristotelischen philosophía-
Begriffs als ‹Philosophische Fakultät› bezeichnet wurde. Was wir heute «die
Naturwissenschaften» nennen, gehörte bis in die 60er Jahre ebenfalls dazu,
und noch heute gibt es in der Schweiz philosophisch-historische und philo-
sophisch-naturwissenschaftliche Fakultäten. Den Fachphilosophen im en-
geren Sinn, die in der Regel Professuren für Metaphysik innehatten, billigte
man in dieser Fakultät aus Traditionsgründen eine gewisse Führungsrolle zu,
weil ‹Metaphysik› eben als «erste», d. h. als Prinzipienwissenschaft galt, aber
damit war es nach dem Übergang von der System- zur Forschungswissen-
schaft zu Ende. Es bedurfte gar keiner Befreiung der «Einzelwissenschaften»
aus der Bevormundung «der» Philosophie als Universalwissenschaft, weil
die Forscher die Philosophen nicht länger brauchten, um ihre Forschungs-
felder abzustecken oder ihre Wissenschaftlichkeit zu garantieren; das hatten
sie schon seit langem selber übernommen, und so überließ man die «reinen»
Philosophen gern sich selbst.
Die Naturwissenschaftler hatten sich schon seit dem 17. Jahrhundert
kaum noch um die Metaphysik gekümmert und ihre eigenen Methoden und
Standards entwickelt; darum war es nur konsequent, dass sie in Deutschland
nach 1860 aus der Philosophischen Fakultät auszogen und eine eigene Fakul-
tät gründeten. Im Rest der alten Philosophischen Fakultät aber hatten inzwi-
schen die Historiker und Philologen die Führung übernommen. Was sie be-
trieben, hatte seit Aristoteles und noch bei Kant als nicht wissenschaftsfähig
im Sinn des Systemmodells gegolten, sondern nur als Kunst (téchne, ars).
Nach dem Übergang vom System zur Forschung aber bestand kein Grund
mehr, diesen «Künsten» den Wissenschaftsstatus vorzuenthalten, wenn man
ihn methodologisch zu definieren vermochte, und genau dies geschah z. B. in
der Form einer Hermeneutik oder Historik,10 wo die längst praktizierten
Forschungs- und Überprüfungsregeln explizit formuliert wurden. Für diese
neuen historisch-hermeneutischen Forschungsdisziplinen bürgerte sich vor
allem durch Wilhelm Dilthey die Bezeichnung ‹Geisteswissenschaften› ein,
und damit eröffnete sich für die Philosophen die Chance, im Rahmen ihrer

10 Grundlegend waren hier: Friedrich D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik


(1838), sowie Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie
und Methodik der Geschichte (seit 1857).
18 Herbert Schnädelbach

angestammten Fakultät ebenfalls historisch-hermeneutisch zu forschen und


so ihrer Identitätskrise zu begegnen. Dabei entstand die paradoxe Situation,
dass bis in die Zeit der Universitätsreformen der 70er Jahre in Deutschland
die Fachphilosophen in der Philosophischen Fakultät nur eine kleine Minder-
heit unter lauter Historikern und Philologen waren, was die Neigung ver-
stärkte, es in Fragen der Wissenschaftlichkeit dieser starken Mehrheit nach
Möglichkeit nachzutun. So entstanden umfangreiche philosophiehistorische
Werke und unendlich verdienstvolle kritische Texteditionen der Klassiker der
Philosophie, ja man kann sagen, dass wir dieser historisch-hermeneutischen
Wende überhaupt erst das sachgemäße und kritisch überprüfbare Bild von
der philosophischen Vergangenheit verdanken, ohne das wissenschaftliches
Philosophieren heute gar nicht denkbar wäre. Zugleich aber hält sich bis
heute das Gerücht, Philosophie sei «Geisteswissenschaft», also nichts an-
deres als historisch-hermeneutische Forschung; sie bestehe also darin zu
erforschen und zu wissen, was Platon, Aristoteles oder Kant alles gemeint
und gesagt haben. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war es an vielen Uni-
versitäten besser, bei Promotionen oder Habilitationen umfangreiche Werke
über historisches Denken zu präsentieren und dabei eigene Gedanken zu
vermeiden, denn die konnten angesichts der großen philosophischen Ver-
gangenheit ja nur unwissenschaftlich sein.11
Tatsächlich hatte sich aber die Philosophie der Neuzeit immer primär an
den Naturwissenschaften orientiert, wobei sich Descartes und Kant selbst
ausdrücklich auch als Naturforscher verstanden hatten und in diesem Bereich
Bedeutendes beitrugen. Die Geisteswissenschaften gab es ja erst später, und
als man nach der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte, dass es gute Gründe
gibt, die Philosophie zu rehabilitieren, weil die einzelnen Wissenschaften
nicht alle unsere Fragen beantworten können, war damit freilich nicht die
idealistische Systemphilosophie gemeint. Der Schlachtruf lautete «Zurück
zu Kant!», denn der hatte zwar die Metaphysik neu begründen wollen, aber
diesem Vorhaben das Projekt einer Untersuchung und Kritik unseres Ver-
nunftvermögens vorangeschickt, das in einer Zeit, in der Wissenschaftler
offensichtlich ungerechtfertigte Geltungsansprüche erhoben und sogar damit
begannen, weltanschauliche Weltbilder anzubieten, unter dem Titel ‹Erkennt-
nistheorie› wieder attraktiv wurde. Die Kantbewegung und der Neukantia-
nismus, der bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts an den Universitäten

11 Vgl. dazu meine Streitschrift: Morbus hermeneuticus. – Thesen über eine philo-
sophische Krankheit, in H. S.: Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhand-
lungen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987) S. 279ff.
Was ist Philosophie? 19

dominierte, propagierten in diesem Sinn ein komplementäres Verhältnis von


Philosophie und Wissenschaft, wobei wegen ihrer Nähe zum historischen
Kant primär die Mathematik und die Naturwissenschaften gemeint waren;
erst Wilhelm Dilthey unternahm später den analogen Versuch für die Geistes-
wissenschaften. ‹Komplementär› bedeutete dabei, dass sich die Philosophie
als Wissenschaft nicht in inhaltliche Fragen der Forschungswissenschaften
einmischt, sondern sich auf die logischen, methodologischen und erkenntnis-
theoretischen Probleme der Forschung als solcher konzentriert und eben
dadurch zu den Forschungserfolgen beiträgt. So entstand das Konzept der
Philosophie als Wissenschaftstheorie, das durch die Zusammenführung mit
der Tradition der sprachanalytischen Philosophie seit Russell und Wittgen-
stein seit den 30er Jahren begann, die internationale philosophische Szene
weitgehend zu prägen. In Deutschland kam dieser Einfluss erst in den 60ern
an, aber auch hier führte er dazu, dass plötzlich fast überall Professuren für
Wissenschaftstheorie eingerichtet wurden.
Ein weiterer Ausweg aus der Identitätskrise der Philosophie als Wis-
senschaft wurde von den Philosophen beschritten, die versuchten, für ihre
Forschungen einen selbstständigen und von den Wissenschaften nicht be-
tretbaren Bereich abzustecken. Hier ist vor allem die Konzeption Edmund
Husserls der Philosophie als Phänomenologie zu nennen, die seit dem Be-
ginn des 20. Jahrhunderts deswegen besonders attraktiv war, weil sie in
Abgrenzung von der logisch-methodologischen Selbstbegrenzung der Neu-
kantianer ein neues sachhaltiges und dabei zugleich streng wissenschaft-
liches Philosophieren zu ermöglichen schien.12 (Jetzt sollte nicht mehr nur
dauernd das Messer gewetzt werden, jetzt wollte man endlich schlachten.)
Diese Faszination hat bis heute angehalten, und wenn auch die phänomeno-
logische Tradition inzwischen viele verschiedene Formen ausgebildet hatte –
man denke an so verschiedene Autoren wie Martin Heidegger, Max Scheler,
Helmuth Plessner oder Merleau-Ponty in Frankreich – so blieb sie doch eine
sehr beständige Gegenbewegung gegen den Rückzug der Philosophie auf
Wissenschaftstheorie und Sprachanalyse. Sie schien vor allem das Rückgrat
der kontinentalen Traditionen abzugeben gegen die Kolonisierung durch das
«Angelsächsische». Die Frage war seit den Anfängen nur, wie man das phä-
nomenologische Forschungsfeld gegenüber dem der empirischen Wissen-
schaft abgrenzen wollte. Husserl vertraute hier auf eine bloße Einstellungs-
veränderung: eine epoché, d. h. die Enthaltung von allen Existenzbehaup-
tungen sollte genügen, um das reine Wesen der Bewusstseinsphänomene

12 Vgl. Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft (1911).


20 Herbert Schnädelbach

beschreibbar zu machen, ohne es damit der Psychologie zu überantworten.


Diese Idee einer Wesensphänomenologie als «strenge Wissenschaft» erwies
sich zwar als besonders fruchtbar, denn sie regte manche der bedeutendsten
philosophischen Werke des vergangenen Jahrhunderts an, aber ihr genauer
wissenschaftstheoretischer Status blieb bis heute ungeklärt; wahrscheinlich
war genau diese Unklarheit die Ursache der Faszination, die bis heute vom
phänomenologischen «Zu den Sachen!» ausgeht.
Der Gretchenfrage «Philosophie als Wissenschaft?» konnte man schließ-
lich auch dadurch ausweichen, dass man dieses Junktim aufkündigte, den
Wissenschaftsanspruch der Philosophie ausdrücklich preisgab, und zwar
in der Überzeugung, dass er dem Wesentlichen der Philosophie entgegen-
stehe. Zu nennen ist hier vor allem Søren Kierkegaard, der im Zeichen des
existenziellen, das Individuum in seiner konkreten Lebenssituation betref-
fenden Denkens der herkömmlichen wissenschaftlichen Philosophie – vor
allem Hegel – eine den Menschen irreführende und sein «Eigentliches» ver-
deckende Objektivierung vorwarf. Karl Jaspers’ Konzept der Philosophie als
«Existenzerhellung», Martin Heideggers Verdikt «Die Wissenschaft denkt
nicht» und der gesamte Existenzialismus haben Kierkegaards Vorschlag an-
genommen und weitergeführt. Dieser Trend war zudem mächtig verstärkt
worden durch den Eindruck, dass die auf Logik und Wissenschaftstheorie
sowie auf historisch-hermeneutische Forschung fixierte Universitätsphilo-
sophie nicht das Ganze sein könne, und so waren auch andere bedeutende
philosophische Ausbruchsversuche aus dem Wissenschaftsgefängnis zu ver-
zeichnen, für die Friedrich Nietzsche das Vorbild geliefert hatte. Die ge-
samte Lebensphilosophie (Georg Simmel, Oswald Spengler, Ludwig Klages,
u. v. a.) ist hier zu nennen, aber auch so starke und nur schwer irgendwo
einzuordnende Autoren wie Ernst Bloch, Walter Benjamin oder Theodor
W. Adorno gehören dazu. Der französische Poststrukturalismus hat dann aus-
drücklich dafür plädiert (Derrida), die traditionelle Unterscheidung zwischen
Philosophie und Literatur aufzuheben und das Ideal der Wissenschaftlichkeit
auf sich beruhen zu lassen, und auch dies fand hier zu Lande Gehör, was
man anhand der zahlreichen Publikationen von Peter Sloterdijk bestätigt
finden mag.

2. Was Philosophen tun

Nach dieser komplizierten Vorgeschichte bietet das, was heute ‹Philoso-


phie› genannt wird, ein sehr komplexes Bild. Man kann das so ausdrücken:
Was ist Philosophie? 21

‹Philosophie› ist ein Plural. Was gegenwärtig unter diesem Titel betrieben
wird, reicht von der kritischen Edition philosophischer Texte und deren In-
terpretation über die System-, Ideen- und Begriffsgeschichte sowie die viel-
gestaltige Problemdiskussion bis hin zur Publizistik in den Feuilletons und
konkreten Lebensberatung in der «Philosophischen Praxis». Das alles wird
‹Philosophie› genannt und hat seine eigene Berechtigung. In dieser Situa-
tion sind Alleinvertretungsansprüche unangebracht. Die Zeiten, in denen die
unentbehrlichen geisteswissenschaftlichen Anteile der Philosophie – also
das Historisch-hermeneutische – als Maßstab der Wissenschaftlichkeit von
Philosophie überhaupt galten, sind vorbei. Umgekehrt lässt sich das rein
komplementäre Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft schon des-
wegen nicht mehr aufrechterhalten, weil es da an klaren Trennlinien fehlt,13
und deswegen können die herkömmliche Analytische Philosophie und die
Wissenschaftstheorie, die lange Zeit die Wissenschaftlichkeit der Philoso-
phie für sich gepachtet zu haben schien, nicht den gesamten philosophischen
Problembereich abdecken. Die Philosophen sind andererseits gut beraten,
wenn sie sich nicht gegen die Einsichten der Wissenschaften abschotten und
zudem Impulse aus der literarischen Produktion aufnehmen. Hinzu kommen
die wachsenden Ansprüche der Öffentlichkeit an die Philosophie. Das philo-
sophische Interesse hat in den letzten Jahrzehnten ständig zugenommen, vor
allem in der Politikberatung, und hier sollten sich die Beteiligten daran erin-
nern, dass die Philosophie niemals nur ein «Orchideenfach» war, für das es
heute vielfach gehalten wird. Seit ihren Anfängen war sie ein wesentlicher
Motor der europäischen Aufklärung und eine Produktivkraft der Leitideen,
an denen sich unsere moderne Welt immer noch orientiert. Der Öffentlich-
keitsanspruch an die Philosophie ist freilich nicht problemlos, denn in un-
serer wissenschaftlichen Zivilisation findet nur das Gehör, was hieb- und
stichfest ist, also nach wissenschaftlichen Standards überprüft werden kann.
Deswegen müssen die Philosophen ihr Fach eben auch als Wissenschaft
betreiben und dort ihren speziellen und häufig schwierigen Untersuchungen
nachgehen, denn nur dann haben sie zu den drängenden Fragen der Zeit
etwas zu sagen, was Gewicht und Bestand hat. Die ihrem demokratischen
Auftrag verpflichtete Philosophie muss somit im Spannungsfeld zwischen
Wissenschaft und Aufklärung operieren, und wenn sie dies verlässt, droht
entweder die folgenlose Spezialisierung in einer intellektuellen Subkultur

13 Vgl. Willard Van Orman Quine: Two dogmas of empiricism (1951), jetzt deutsch
in ders.: Von einem logischen Standpunkt, übers. von P. Bosch (Frankfurt a. M.,
Berlin, Wien: Ullstein, 1979).
22 Herbert Schnädelbach

oder das unverbindliche Geschwätz, das den allgemeinen bullshit14 nur noch
vermehrt.
Um den Kernbereich der Philosophie abzustecken, muss man versuchen,
das Besondere und Eigene der Tätigkeit zu bestimmen, die man ‹Philoso-
phieren› nennt. Es handelt sich dabei um eine besondere Art des Denkens,
um Nachdenken, und so kann die Philosophie als eine Kultur der Nachdenk-
lichkeit gelten. ‹Nachdenken› meint dabei, dass wir dabei unseren Gedanken
hinterherdenken, sie zum Thema machen, um sie zu klären, zu ordnen und
in größere Zusammenhänge einzuordnen. Das Nachdenken ist kein Privileg
der Philosophen, denn es geschieht unendlich oft auch im Alltag, und ohne
so etwas gäbe es auch keine Wissenschaft. Philosophisch wird dieses Nach-
denken, wo es grundsätzlich wird, und wir müssen grundsätzlich werden,
wenn wir die Übersicht verloren haben und bemerken, dass wir mit unse-
ren bisherigen Denkweisen in eine Sackgasse geraten sind. In diesem Sinn
sagt Ludwig Wittgenstein: «Ein philosophisches Problem hat die Form: «Ich
kenne mich nicht aus.»15 Hier mag man einwenden, die Konfusion könne
doch nicht der einzige Anlass für das Philosophieren sein, hatte es nicht
Platon und mit dem Staunen (thaumázein) beginnen lassen und Descartes
und seine Nachfolger mit dem Zweifel? Platon selbst beschreibt das Staunen
nicht als bloßes ästhetisches Fasziniertsein, sondern als einen Zustand des
Schwindels, ja der schmerzhaften Irritation,16 und die cartesianische Zwei-
felsmethode, die auch Kant befolgt, ist ja auch nichts anderes als eine Ant-
wort auf die Erfahrung, dass die Situation der Philosophie ausweglos ist,
wenn man so weiter macht wie bisher. Was somit das Philosophieren auf
den Weg bringt, sind unabweisbare gedankliche Orientierungsbedürfnisse,
die sich im Bereich des Nachdenkens über unsere Gedanken bemerkbar ma-
chen und uns nötigen, dieses Nachdenken mit anderen Mitteln und mit ver-
schärften Anforderungen fortzusetzen. Somit kann man das Philosophieren
verstehen als den Versuch gedanklicher Orientierung im Bereich der Grund-
sätze, die unsere gesamte Lebenspraxis bestimmen, also unseres Denkens,
Erkennens und Handelns.
Man mag einwenden, diese Bestimmung des Philosophierens als Nach-
denken über unsere Gedanken sei zu eng, und wo bleibe die Wirklichkeit.
Dazu ist zu sagen, dass es die Aufgabe der Wissenschaften ist, sich direkt der

14 Der Ausdruck von Harry G. Frankfurt als Titel seines Buches (Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 2006).
15 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 123.
16 Vgl. Platon: Theätet, 155c und Menon, 80a.
Was ist Philosophie? 23

Wirklichkeit zuzuwenden, und dass es wohl unmöglich ist, einen Realitäts-


bereich auszumachen, den man der Philosophie als ihr proprium zuordnen
könnte. Die Texte und Ideen der Vergangenheit können es doch nicht sein,
denn dann wäre Philosophie nur eine Art von Literatur- und Geschichts-
wissenschaft, und die Phänomene der Phänomenologen sind ein ziemlich
unsicheres Feld, das sich, wie deren Verfechter selbst zugeben müssen, nur
über die gedankliche Zuwendung zu schon Gedachtem überhaupt erschlie-
ßen lässt. Der Wirklichkeitsbezug der so bestimmten Philosophie ist frei-
lich nicht ausgeschlossen, aber er ist eben nur als indirekter möglich – über
den Umweg über unsere Gedanken über die Wirklichkeit. Zudem waren die
Versuche grundsätzlicher gedanklicher Orientierung niemals das alleinige
Privileg derer, die man als Philosophen bezeichnet; es geschah und geschieht
immer wieder gerade in den Wissenschaften selbst. Die folgenreichsten
Neuorientierungen unseres Denkens erfolgten in der Moderne gerade nicht
durch Philosophieprofessoren, sondern durch bedeutende Wissenschaftler
wie Charles Darwin, Sigmund Freud oder Albert Einstein, und jede Philo-
sophiegeschichte wäre unvollständig, die diese gedanklichen Leistungen
nicht berücksichtigte.
Wenn man somit einräumt, dass das so beschriebene Philosophieren
nicht nur in philosophischen Seminaren, sondern auch und gerade in den
Wissenschaften erfolgt – und man müsste hier auch bedeutende Literaten
hinzunehmen –, dann hat man zwar die Philosophie aus der babylonischen
Gefangenschaft der Geisteswissenschaften befreit, aber muss sich sofort die
Frage gefallen lassen, warum sie dann, wenn sie ohnehin überall praktiziert
werden kann, als selbstständiges Universitätsfach existieren muss. Dafür
gibt es nur eine pragmatische Rechtfertigung. In der Regel haben die Wis-
senschaftler keine Zeit für das grundsätzliche Nachdenken, und deswegen
ist es vernünftig, in der Wissenschaftslandschaft bestimmte Inseln auszu-
weisen, auf denen dies auf wissenschaftlichem Niveau möglich bleibt. Der
Vorteil dieser Regelung ist, dass die Nachdenklichen aus allen Richtungen
diese Insel ansteuern können, also nicht nur die Naturwissenschaftler, son-
dern auch die Vertreter aller übrigen Disziplinen, um hier die kompetenten
Gesprächspartner bei ihren Orientierungsversuchen zu finden. Das beinhaltet
umgekehrt die Verpflichtung der Philosophie als Fach, sich nicht nur mit
ihren eigenen und häufig selbst produzierten Problemen zu beschäftigen,
sondern für das offen zu sein, was an nachdenklichen Fragen von außen
an sie herangetragen wird. Diese können die Philosophen sicher nur selten
allein beantworten, und so müssen sie sich häufig erst kundig machen, um
sie wirklich zu verstehen; sie erfüllen aber ihre Aufgabe, wenn sie das ge-
24 Herbert Schnädelbach

meinsame, interdisziplinäre Philosophen zu ermöglichen versuchen und dazu


aus eigener Fachkompetenz etwas beitragen.
Die Frage ist dann: Welche Möglichkeiten haben die Philosophen denn,
zur Lösung unserer grundsätzlichen Orientierungsprobleme beizutragen?
Wie kann man das philosophische Nachdenken genauer fassen? Beschrei-
ben lässt es sich nur anhand der sprachlichen Praxis, d. h. der Form des
Diskurses, den die Philosophierenden führen, denn in ihre Gehirne können
wir nicht hineinschauen. Die Philosophie Platons war bestimmt von dem
Erschrecken, was der Fall wäre, wenn die Sophisten mit der These Recht
hätten, es gäbe keine Wahrheit, sondern bloß Meinungen, und was die Men-
schen für gerecht hielten, sei immer nur eine Machtfrage. Diese Situation
eines unerträglichen thaumázein brachte das auf den Weg, was wir bis heute
als die grundlegenden Fragestellungen der theoretischen und praktischen
Philosophie ansehen: Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit? Akzeptable
Antworten können wir nur dann geben, wenn wir zunächst fragen, was die
Begriffe ‹Wahrheit› und ‹Gerechtigkeit› bedeuten, und das gelingt nur, wenn
wir zunächst untersuchen, wie die jeweiligen Begriffswörter gebraucht wer-
den. Dass sich Begriffe nicht unabhängig von ihrer sprachlichen Verwendung
analysieren lassen, hat uns die sprachanalytische Philosophie gelehrt, und
daraus folgt, dass die Begriffe nichts anderes sind als die Regeln des für
korrekt gehaltenen Gebrauchs der Begriffswörter. Diese Praxis der Begriffs-
klärung schließt selbstverständlich mit ein, dass man nicht bei der bloßen
Konstatierung des jeweils Gemeinten stehen bleibt, sondern auch zu klären
versucht, ob jener Gebrauch angemessen ist oder nicht doch zu korrigieren
wäre. Man kann dies unter dem Stichwort ‹explikativer Diskurs› der Philo-
sophie zusammenfassen, und es gibt gute Gründe, ihm mit Wittgenstein einen
methodischen Primat in der wissenschaftlichen Praxis des Philosophierens
zuzuweisen.
Mit hinreichend geklärten und korrigierten Begriffen wie ‹Wahrheit› oder
‹Gerechtigkeit› kann man sich aber nicht begnügen, denn wir wollen sie
auch anwenden, wenn es strittig ist, ob eine Behauptung wahr oder eine Ent-
scheidung gerecht ist. Jetzt geht es nicht mehr bloß um die Bedeutung von
‹wahr› und ‹gerecht›, sondern um Kriterien des Wahr- und Gerechtseins, und
dies nötigt uns, in den normativen Diskurs der Philosophie überzuwechseln.
Hier geht es um Geltungsfragen, und sie waren es, die die neuzeitliche Phi-
losophie mit dem Zweifel beginnen und sich bei Kant als Kritische Philoso-
phie voll entfalten ließen. Das bedeutet nicht, dass Explikatives dabei keine
Rolle spielte, aber es stand nicht im Zentrum der Untersuchungen, weil man
in vielen Fällen der traditionellen Begrifflichkeit vertraute. Erst als dieses
Was ist Philosophie? 25

Vertrauen schwand, trat der explikative Diskurs als grundlegende Aufgabe


des Philosophierens deutlich hervor, und sein Medium ist seitdem vor allem
anderen die methodische Sprachanalyse, die man mit Wittgenstein auch als
‹Philosophische Grammatik› bezeichnen kann.
Nicht nur Husserl und die Phänomenologen, sondern auch der späte
Wittgenstein haben darauf bestanden, dass es auch deskriptive Aufgaben der
Philosophie gibt, also auch ein deskriptiver Diskurs unentbehrlich sei. Bei
Husserl selbst ist unklar, wie buchstäblich sein Bestehen auf der Methode des
Beschreibens zu verstehen ist; häufig spricht er in einem Atemzug auch von
‹Analyse›, was nahelegt, dieses Beschreiben als Metapher für die Begriffs-
und Gedankenexplikation zu verstehen, und tatsächlich geschieht in seinen
Werken hauptsächlich genau dies. Beim späten Wittgenstein der Philoso-
phischen Untersuchungen ist auch vom Beschreiben unserer tatsächlichen
Redepraxis die Rede, womit sich die Philosophen zu begnügen hätten, aber
damit ist keineswegs empirische Linguistik gemeint, sondern die gedank-
liche Vergegenwärtigung der Regeln, denen wir in unseren «Sprachspielen»
jeweils schon folgen. Husserl und Wittgenstein verbindet trotz aller Unter-
schiede, dass sie das Beschreiben betonen, um alle voreiligen Erklärungs-
versuche aus der Philosophie auszuschließen. Zunächst soll klar werden,
was tatsächlich in unserem Denken und Sprechen geschieht, ehe man dazu
übergeht, zu fragen, warum es geschieht und mit welchem Recht. Ob es
im gedanklichen Bereich wirklich beschreibbare Sachverhalte gibt, wie die
Phänomenologen behaupten, ist sicher umstritten; gleichwohl hat der de-
skriptive Diskurs in der Philosophie einen unbestreitbaren Platz, denn wir
können die explikativen und normativen Probleme nicht angehen, ohne eine
Menge über die Wirklichkeit zu wissen und dies uns beim Philosophieren
zu vergegenwärtigen.
Die Unterscheidung zwischen dem explikativen, dem normativen und
dem deskriptiven Diskurs der Philosophie hat den Vorteil, dass man mit
ihrer Hilfe innerphilosophische Konfusionen und methodische Fehler iden-
tifizieren und bearbeiten kann. Die gehen häufig auf Diskursvermengungen
zurück. Wer glaubt, ein befriedigend geklärter Wahrheitsbegriff tauge des-
wegen schon als Wahrheitskriterium, erzeugt einen Kurzschluss zwischen
dem explikativen und dem normativen Diskurs und geht dadurch in die Irre.
Kant schreibt dazu: «Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker
in die Enge zu treiben vermeinte, ist diese: «Was ist Wahrheit?» Die Na-
menserklärung der Wahrheit, dass sie nämlich die Übereinstimmung der Er-
kenntnis mit ihrem Gegenstand sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt;
man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium
26 Herbert Schnädelbach

der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.»17 Kant zeigt dann, dass diese be-
rühmte Wahrheitsdefinition als Wahrheitskriterium gerade nicht geeignet ist,
weil dies auf einen Zirkel führt, denn man muss ja den Gegenstand schon
kennen, um entscheiden zu können, ob unsere Erkenntnis von ihm damit
übereinstimmt; also ist bei der Anwendung eines solchen Kriteriums, die
über wahr oder falsch entscheiden soll, Wahrheit schon vorausgesetzt. –
Wer meint, es genüge, etwas genau zu beschreiben, um daraus schließen zu
können, was zu tun sein, wechselt unmittelbar vom Deskriptiven ins Nor-
mative über und begeht den berühmten Naturalistischen Fehlschluss von
Sein auf Sollen. – Verbreitet ist auch die Überzeugung, man müsse, um die
Bedeutung von Wörtern zu klären, nur angeben, worauf sie sich beziehen,
d. h. die Bedeutung von ‹Baum› sei der Baum, und da brauche man doch
nur hinzusehen. Wo es aber nichts zu sehen gibt wie bei nicht mehr existie-
renden oder abstrakten Gegenständen hilft das nicht weiter, denn niemand
kann einfach auf Napoleon oder den Kapitalismus hinweisen. Die Erklärung
der Wortbedeutung durch Hinweis funktioniert also nur in vergleichsweise
wenigen Fällen. Das Hinweisen aber ist in der Regel mit Beschreibungen
verbunden, und so kann man jene simple Bedeutungstheorie auf die Ver-
mengung des explikativen mit dem deskriptiven Diskurs zurückführen. In
fast allen Fällen sind wir bei Begriffsexplikationen darauf angewiesen, die
Regeln anzugeben, denen wir beim Gebrauch der Begriffswörter folgen,
und so sagt Wittgenstein: «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch
in der Sprache.»18
Was Beobachter dessen, was Philosophen tun, nachhaltig zu irritieren
vermag, sind vor allem drei Besonderheiten: die enge Bindung an die Phi-
losophiegeschichte, das ungewöhnlich hohe Ausmaß des Vergessens und
Wiedererinnerns und die bemerkenswerte Konstanz einiger weniger The-
men. Beim Physikstudium kann man die Geschichte der Physik auf sich
beruhen lassen, aber in der Philosophie kommt man ohne deren Geschichte
nicht aus. – Bei den meisten Wissenschaften ist es selbstverständlich, dass
das neue Wissen auf dem älteren aufbaut, und so sagte Carl Friedrich von
Weizsäcker einmal, wer nicht wisse, was die Wissenschaft schon weiß, könne
sie auch nicht voranbringen. Die Philosophie bietet da ein gänzlich anderes
Bild. Natürlich kommt man dabei ohne ein bestimmtes Grundwissen nicht
aus, aber von einem kontinuierlichen Wissensfortschritt kann hier einfach
nicht die Rede sein. Vor allem das 20. Jahrhundert zeigt, wie im Diskurs der

17 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 82.


18 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 43.
Was ist Philosophie? 27

Philosophie immer wieder neue, lebhafte Debatten aufkommen, abebben und


dann wieder vergessen werden, wodurch sie nur noch dafür gut sind, dass
jemand darüber promoviert. Als Beispiele können gelten: Der Werturteils-
streit, die Kontroverse zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer, der
Positivismusstreit, die Debatten über die methodologisch definierte Einheits-
wissenschaft und die wissenschaftlichen Erklärungen, die Aufregungen um
die radikale Vernunftkritik; der von Neurophysiologen angezettelte Kampf
um die Willensfreiheit wird auch bald in diese Reihe gehören. – Was die
wenigen hartnäckigen Themen betrifft, so kann man den Philosophen mit
gutem Grund vorwerfen: «Seit bald 2500 Jahren wollt ihr herausbekommen,
was Wahrheit oder Gerechtigkeit seien; ihr seid immer noch dabei, habt also
offenbar bisher immer noch nichts Haltbares vorzuweisen. So etwas gibt es
in keiner anderen Wissenschaft.»
Die Philosophie kann sich hier nur durch den Hinweis rechtfertigen,
dass sie ein Gespräch ist. Die gedankliche Orientierung im Bereich unserer
theoretischen und praktischen Grundsätze, die ihren Kern ausmacht, ist eine
Aufgabe, die die Selbstverständigung unserer gesamten Kultur betrifft, und
die ist nur intersubjektiv lösbar. Das Philosophieren gerät dadurch unver-
meidlich zu einem vielstimmigen und häufig dissonanten Konzert, in dem
es unklug wäre, diejenigen, die ihre Stimmen nicht mehr selbst erheben
können, einfach auszuschließen. Das vergangene Denken unserer Tradition
muss darum hier notwendig auch zu Wort kommen, und damit dies möglich
bleibt, brauchen wir die historisch-hermeneutische Forschung auch in der
Philosophie. – Wie in allen Gesprächen wechseln auch in dem der Philo-
sophie die konkreten Gesprächsanlässe, und daraus erklärt sich sie wandel-
bare Aktualität der philosophischen Gesprächsthemen. Häufig stehen hier
erbitterte Kontroversen am Anfang, die sich aber meist unter dem Druck von
Argumenten und Gegenargumenten wechselseitige Relativierungen gefallen
lassen müssen, um schließlich alle polemische Energie einzubüßen, denn der
nächste Streitpunkt steht ja schon auf der Tagesordnung. – Und warum die
merkwürdige Daueraktualität philosophischer Themen? Tritt die Philosophie
nicht dauernd auf der Stelle? Gibt es hier gar keinen Fortschritt? Dazu ist zu
sagen, dass trotz allen kulturellen Wandels unsere grundsätzlichen Orientie-
rungsbedürfnisse sich auf die grundlegenden Situationen beziehen, die unser
Leben bestimmen, und deswegen gibt es in Wahrheit gar nicht so viele ver-
schiedene philosophische Probleme. Die Stoiker teilten die gesamte Philo-
sophie ein in Logik, Physik und Ethik, und sie folgten dabei der Einsicht,
dass es offenbar nur drei Basisbereiche unseres Weltumgangs gibt – der des
rationalen, theoretischen und des praktischen Weltverhaltens. Wenn sich hier
28 Herbert Schnädelbach

durch kulturellen Wandel Grundlegendes ändert, entstehen Orientierungs-


bedürfnisse, die sich eben nur im erneuten Rekurs auf die Grundsätze unse-
res Denkens, Erkennens und Handelns bedienen lassen, und deswegen muss
die Philosophie unter veränderten Bedingungen immer wieder auf ihre alten
Themen zurückkommen.19

19 Um ständige Eigenzitate zu vermeiden, nenne ich die Titel der Arbeiten, in denen
ich ausführlicher auf das Thema «Was ist Philosophie?» eingegangen bin: Re-
flexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie (Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp, 1977), zum Diskurs der Philosophie insbes. S. 135ff.; Philosophie in
Deutschland 1831-1933 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983), zur Situation der
Philosophie im 19. Jahrhundert insbes. S. 118ff.; Art. ‹Philosophie›, in Philo-
sophie. Ein Grundkurs, hg. von H. S., Ekkehard Martens (Reinbek: Rowohlt TB,
72004) S. 37ff.; Das Gespräch der Philosophie. Berliner Abschiedsvorlesung

(2002), jetzt in H. S.: Analytische und postanalytische Philosophie. Vorträge und


Abhandlungen 4 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004) S. 334ff.
Studia philosophica 66/2007

G ERHARD S EEL

Wozu Philosophie?

Since the end of the 18th century philosophy has been going through an identity crisis
which threatens its very existence. This crisis is due to the emancipation of the em-
pirical sciences in the course of which philosophy has lost nearly all its traditional
objects. We first examine four traditional ways to overcome this crisis: (1.1) philoso-
phy as the all embracing universal science, (1.2) philosophy as a priori knowledge,
(1.3) philosophy as common sense, (1.4) philosophy as small talk. We show that these
conceptions have grave shortcomings and therefore are not convincing. Instead we
propose the following conception of philosophy: philosophy has to put and to answer
radical questions, questions that spring from the conditions of human existence itself.
We finally justify this conception by a reflection on the history of philosophy and an
analysis of the deep motivation of its founder, Socrates. This leads us to the insight
that to engage in moral philosophy is itself a moral duty.

Der Titel meines Beitrags hätte – etwas altertümlicher formuliert – eigentlich


lauten müssen: Was ist und zu welchem Ende treiben wir Philosophie? Denn
man kann den Zweck einer Sache schwerlich bestimmen, ohne zu wissen, um
welche Sache es sich genau handelt. Also sollte der Frage nach dem Zweck
der Philosophie die Frage nach ihrem Wesen voraufgehen. Andererseits wis-
sen wir seit Aristoteles, dass man das Wesen einer Sache am besten erfasst,
wenn man ihren Zweck angibt. Es ergibt sich also, dass die Antworten auf
die beiden Fragen einander wechselseitig implizieren. Es genügt also nach
dem Zweck der Philosophie zu fragen. Die Frage nach dem Wesen der Philo-
sophie stellt sich dann von selbst. Aus methodischen Gründen will ich aber
mit der letzteren beginnen.

1. Die Philosophie in der Krise

Wer zur Beantwortung unserer Frage in einem einschlägigen Lexikon


nachschlägt, wird vielleicht finden, Philosophie sei – wörtlich übersetzt –
‹Liebe zur Weisheit›. Diese Beschreibung ist bereits das Eingeständnis einer
Krise. Die ersten Philosophen waren sich dessen bewusst, dass sie über
30 Gerhard Seel

Weisheit nicht verfügten, dass sie allenfalls beanspruchen konnten, unter-


wegs zur Weisheit zu sein. So scheint es von Anfang an ein Wesenszug der
abendländischen Philosophie zu sein, etwas Vorläufiges zu sein, und das
Endgültige, dem sie vorläuft, ist seltsam unbestimmt: Weisheit, aber was
heißt das? Wie kann man wissen, was das Endgültige der vorläufigen Philo-
sophie ist, wenn man es noch nicht oder vielleicht nie besitzt? Ja, es mag
sogar sein, dass das Endgültige, wohin die Philosophie unterwegs ist, die
Philosophie selbst ist. Es wäre dann das Wesen der Philosophie, sich ihres
Wesens nie sicher sein zu können, ihr Wesen in Frage zu stellen, ihrem Wesen
hinterherzulaufen.
Ich mache diese Vorbemerkungen nicht, um ein postmodernes Verwirr-
spiel zu treiben, sondern um klarzumachen, auf welch schwieriges Ter-
rain man sich begibt, wenn man ernsthaft die Frage nach dem Wesen der
Philosophie stellt. Geht es nach Nietzsche, so ist diese Frage von vorne-
herein unbeantwortbar. Er sagt in der Genealogie der Moral (2.13): «De-
finierbar ist nur das, was keine Geschichte hat» und wer würde leugnen,
dass die Philosophie eine Geschichte hat. Aber man kann Nietzsche ent-
gegen halten, dass nur das, was definierbar oder zumindest identifizierbar
ist, eine Geschichte haben kann. Wie kann man eine Geschichte erzählen,
wenn man nicht weiß, wessen Geschichte es ist? Wir sind also nach so viel
Umschweife auf unsere Frage zurückverwiesen, aber sie ist nicht leichter
geworden.
Sie ist vor allem deshalb so schwer zu beantworten, weil mit der Identität
der Philosophie ihre Existenz in Frage steht. Dies wird besonders deutlich,
wenn man die gegenwärtige Situation der Philosophie betrachtet. In der Tat
stehen wir heute in einer gravierenden Autonomie- und Existenzkrise unserer
Disziplin. Diese wird auf bizarre Weise von einer nie da gewesenen Popu-
larität verdeckt. Es ist so als würde ein Todkranker noch einmal seine Kraft
und Ausstrahlung wieder finden. Da gibt es in allen größeren Städten Philo-
sophie-Cafés. Aber was dort ausgeschenkt wird, ist meist nur kalter Kaffee.
Die großen Fernsehanstalten haben spezielle philosophische Sendereihen
wie das ‹Philosophische Quartett› im ZDF und die ‹Sternstunde Philosophie›
in DRS. In ersterer kann man Herrn Sloterdijk sich über die Bedeutung der
Glocken im Mittelalter weitschweifig verbreiten hören. Letztere hat ihre ei-
gene Sternstunde dann, wenn sich Bundesrat Deiss über die Zukunft der
Schweizer Wirtschaft auslässt. Wir erleben eine nie dagewesene Schwemme
philosophischer Literatur. Aber sie ist das Produkt der unsinnigen ‹Publish
or Perish›-Politik der akademischen Institutionen und kaut meist nur längst
Bekanntes wieder. Alles dies sind eher Krankheitssymptome als Zeichen
Wozu Philosophie? 31

einer wieder gewonnenen Gesundheit. Aber vielleicht täusche ich mich mit
dieser allzu negativen Diagnose. Ich sollte sie begründen.
Woran kann man erkennen, dass sich die Philosophie heute in einer
Autonomie- und Existenzkrise befindet? Es gibt zwei Aspekte, welche die
Autonomie und damit die Existenz einer Disziplin garantieren: 1. Die Diszi-
plin hat einen besonderen Gegenstand, den sie mit keiner anderen Disziplin
teilt. 2. Die Disziplin hat eine spezifische Methode zur Erforschung der Ge-
genstände. Leider ist es so, dass die Philosophie in beiden Hinsichten ihre
Eigenständigkeit zu verlieren droht.
1. Bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hat Wilhelm Windel-
band diagnostiziert, dass die Philosophie dabei war, ihre Gegenstände an die
aufkommenden Einzelwissenschaften zu verlieren.1 Er verglich die Philo-
sophie mit König Lear, der alles seinen Kindern vererbt hat und sich am Ende
als Bettler auf der Straße wieder fand.2 In der Tat war die Philosophie zur Zeit
des Aristoteles die alle Gegenstände erforschende universelle Wissenschaft.
Aber im Laufe der Philosophiegeschichte haben sich neue Disziplinen von
ihr emanzipiert und sie hat ihre Gegenstände an diese neuen Disziplinen
verloren. Das waren im Mittelalter die Theologie, die Rechtswissenschaften
und die Medizin, welche den Status eigenständiger Fakultäten hatten. Die
Philosophie war in die Artisten-Fakultät verbannt, der nur eine propädeuti-
sche Rolle zukam. In der Neuzeit emanzipierten sich dann zuerst die Na-
turwissenschaften und dann die Ökonomie, die Soziologie und zuletzt die
Psychologie von der Philosophie. Um es in einem anderen Bilde zu sagen,
die Philosophie ist die Mutter der Wissenschaften, aber ihre Töchter haben
sich eine nach der anderen von der Mutter emanzipiert und deren Besitz
unter sich aufgeteilt. So bleibt der Philosophie heute eigentlich kein eigener
Gegenstand mehr. Es ist so, als habe die Philosophie ihre Existenzberech-
tigung ihrem Charakter als Wissenschaft verdankt. Aber das tragische Re-
sultat ihrer Geschichte scheint zu sein, dass sie diesen Charakter und damit
ihre Existenzberechtigung verloren hat. Ihre Vorläufigkeit, von der ich oben
gesprochen habe, bestünde dann darin, das Entstehen der Wissenschaften
vorzubereiten, und das Endgültige, auf das hin die Philosophie überschritten
werden musste, wären dann die Wissenschaften.
Man hat dieser Konsequenz dadurch zu entgehen versucht, dass man der
Philosophie die Rolle einer alles Wissen vereinigenden Universaldisziplin

1 Wilhelm Windelband: Präludien: Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer
Geschichte (Tübingen: Mohr, 7/81921), Bd. 1, S. 1-54.
2 Ibid. S. 19.
32 Gerhard Seel

zudachte: Die Philosophie soll die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu


einem umfassenden Weltbild vereinigen und so für die Konsistenz und den
Zusammenhang dieser Ergebnisse sorgen. Auf diese Rolle würde sich dann
ihre Existenzberechtigung gründen. Aber auch dieser Ausweg ist nicht gang-
bar. Hugo Dingler hat ihn einmal ironisch mit dem Diktum kommentiert, der
Philosophie bliebe dann nur übrig, die Fortschritte der Wissenschaften mit
hehren Worten zu begleiten. In der Tat wäre die Existenz der Philosophie
parasitär, würde man sie auf diese Weise konzipieren.
2. Der einzige gangbare Ausweg aus dieser prekären Situation scheint
der zu sein, den schon Wilhelm Windelband vorschlug: die Philosophie
muss ihre Eigenständigkeit auf eine eigene Fragestellung oder auf eine ei-
gene Methode gründen. Aber bei näherer Analyse zeigt sich, dass auch die-
ser Vorschlag nicht ohne weiteres die Eigenständigkeit der Philosophie zu
sichern vermag. Denn auch die Fragestellungen und Methoden, die man
im Laufe der Philosophiegeschichte als eigentümlich philosophische Me-
thoden ausgab, erweisen sich bei näherem Hinsehen als Methoden anderer
Disziplinen. Grob vereinfacht lassen sich folgende vier Methodenkonzepte
unterscheiden:

1.1 Die Philosophie ist eine Wissenschaft a priori

Am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit wurde die Philosophie
von den Rationalisten als Wissenschaft a priori nach dem Vorbild der Ma-
thematik verstanden. Diese Konzeption wird bei Spinoza am deutlichsten
durch seinen Anspruch ausgedrückt, die Metaphysik ‹more geometrico› zu
entwickeln. Dasselbe Konzept liegt in der so genannten ‹Schulphilosophie›
vor. In der Tat war die traditionelle Metaphysik überzeugt, die Unsterblich-
keit der Seele, die Kontingenz der Welt und die Existenz Gottes a priori be-
weisen zu können. Gemäß dieser Konzeption wird die Philosophie auf eine
Art Mathematik reduziert.
Bekanntlich hat Kant gegen dieses Konzept eingewandt, dass die Philo-
sophie – im Unterschied zur Mathematik – ihre Gegenstände nicht konstru-
iert. Diese sind ihr vielmehr – auf eine noch aufzuklärende Weise – vorge-
geben. Weiter hat Kant gezeigt, dass die Metaphysik, sofern sie in Anspruch
nimmt, über die Dinge an sich wissenschaftliche Aussagen zu machen, sich
in unauflösliche Widersprüche verwickelt oder ihr Beweisziel einfach nicht
erreicht. Die Kantische Kritik hat definitiv diese methodische Konzeption
der Philosophie obsolet gemacht.
Wozu Philosophie? 33

1.2 Die Philosophie ist eine empirische Wissenschaft

Schon zur Zeit des Rationalismus finden wir im – vor allem in England
entwickelten – Empirismus eine alternative Konzeption der Philosophie,
welche diese als eine empirische Wissenschaft begreift. Im 20. Jahrhundert
war es vor allem Quine, der einer solchen Auffassung von Philosophie das
Wort geredet hat. Dies hängt mit Quines ‹Holismus› zusammen, gemäß wel-
chem die Bedeutung eines wissenschaftlichen Satzes durch die Semantik der
Theorie, zu der er gehört, bestimmt wird und konsequenterweise eine em-
pirische Falsifikation immer die Theorie als ganze und nicht den einzelnen
wissenschaftlichen Satz trifft. Die Sätze der Logik und der Philosophie (als
allgemeinste Grundprinzipien einer Wissenschaft) sind dem gemäß eben-
falls Teil der ganzen Wissenschaft und sind als solche ebenfalls empirisch
falsifizierbar.
Diese Konzeption verkennt völlig, dass die Logik und die Wissenschafts-
theorie sich als Metatheorien auf einer anderen Ebene als die empirischen
Wissenschaften bewegen und daher ganz anderen Geltungskriterien unter-
liegen. Quine selbst kommt in seinem Spätwerk (The Pursuit of Truth) dieser
Einsicht nahe. Denn er erkennt (Prinzip der empirischen Indeterminiertheit),
dass eine Vielheit einander ausschließender Theorien mit der empirischen
Basis kompatibel sein kann. Die Entscheidung zwischen diesen Theorien
kann dann nicht mehr aufgrund von Experimenten getroffen werden, man
muss dazu vielmehr Kriterien wie Eleganz, Einfachheit etc. verwenden. Dies
gilt natürlich a fortiori von den Sätzen der Philosophie, welche ja – nach
Quine – die oberste Ebene jeder Theorie bilden.

1.3. Die Philosophie ist die theoretische Ausformulierung


und Verlängerung des gesunden Menschenverstandes

Angesichts der Schwierigkeiten, mit welchen die beiden ersten Konzep-


tionen zu kämpfen haben, hat sich schon früh eine dritte methodische Kon-
zeption der Philosophie etabliert, die common-sense-Philosophie und der
Pragmatismus. Schon zu Zeiten Kants gibt es – bei Thomas Reid – den
Versuch, dem Hume’schen Skeptizismus mit common-sense-Argumenten
zu begegnen. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nimmt
der Pragmatismus (James, Peirce, Dewey) diese Konzeption wieder auf. Das
Grundprinzip dieser Richtung ist das folgende: Die Geltung wissenschaft-
licher, ethischer oder rechtlicher Sätze wird letztlich dadurch begründet, dass
34 Gerhard Seel

sie eine erfolgreiche Praxis ermöglichen. Während die beiden ersten Kon-
zeptionen von einem Primat der Theorie ausgingen, geht diese dritte von
einem Primat der Praxis aus. Hier wird Philosophie also auf den ‹gesunden
Menschenverstand› reduziert.
Auch diese Konzeption verfehlt – nach meiner Meinung – das Eigen-
tümliche der Philosophie. Denn Philosophie hat nichts mit dem gesunden
Menschenverstand zu tun. Jeder hat wohl schon einmal gezweifelt, ob er vor
Verlassen der Wohnung den Gashahn geschlossen hat, das ist ein Zweifel des
gesunden Menschenverstands, aber wer zweifelt schon an der Realität der
Außenwelt, seines eigenen Körpers oder an der Geltung der Logik? Jeder
hat schon einmal in Zweifel gezogen, dass es in der konkreten Situation,
in der er sich befindet, verboten ist, zu lügen. Aber wer bezweifelt schon,
dass es überhaupt gültige Normen für unser Handeln gibt. Letzteres ist der
philosophische Zweifel. Aber die Philosophen machen noch verrücktere
Sachen, sie beschäftigen sich mit Sätzen, die wahr sind, wenn sie falsch
sind, und falsch, wenn sie wahr sind. Sie denken sich Mengen von Sätzen
aus, die einerseits evidenterweise wahr, aber andererseits nicht miteinander
kompatibel sind. Das stößt wohl kaum auf Verständnis beim ‹Mann auf der
Straße›. Philosophie kann also nicht die Verlängerung des gesunden Men-
schenverstandes sein. Um es auf grobe Weise zu sagen: «Common sense
philosophy makes no sense».

1.4 Philosophie ist ‹small talk› auf hohem Niveau

Angesichts der genannten Probleme, die mit den traditionellen Auffassun-


gen der Philosophie verbunden sind, hat sich im vorigen Jahrhundert eine
weitere Konzeption zu Wort gemeldet, die bereit ist, den traditionellen An-
spruch der Philosophie auf Wahrheit und Geltung gänzlich aufzugeben. Ich
meine den so genannten Postmodernismus. Diese Richtung treibt die kri-
tische Selbstreflexion der Philosophie bis zum Extrem mit dem Ergebnis,
dass es keine letzten Wahrheiten in der Philosophie geben kann und dass
man in der Philosophie alles behaupten kann. «Anything goes» ist die Pa-
role der Postmodernen. Was bleibt ist dann, wie es Rorty3 formuliert hat,
die Philosophie als geistreiche, anregende und interessante Konversation

3 Rorty bezeichnet sich selbst als ‹psychological nominalist› und ‹global historicist›
(The Contingeny of Philosophical Problems: Michael Ayers on Locke, in ders.:
Truth and Progress [Cambridge: Cambridge University Press, 1998] S. 286).
Wozu Philosophie? 35

auf höchstem Niveau zu begreifen. Hier wird Philosophie also auf eine Art
Literatur reduziert.
Nach meiner Meinung verfehlt auch diese Auffassung das Wesen der
Philosophie. Denn die Philosophie kann die Suche nach Wahrheit und Gel-
tung nicht aufgeben. Philosophie kann und darf natürlich amüsant sein, aber
Philosophie ist nicht schöne Literatur, sie ist nicht Teil der ‹belles lettres›.

2. Was ist Philosophie?

Nachdem ich gesagt habe, was Philosophie nicht ist, sollte ich nun sagen,
was sie meiner Meinung nach ist. Die Philosophie ist nach meiner Auffas-
sung ein völlig verrücktes Unternehmen. Sie stellt Fragen, die der gesunde
Menschenverstand nie stellen würde, radikale Fragen, die in der mensch-
lichen Existenz, in der ‹conditio humana› selbst verankert sind und die man
daher sich nicht ersparen kann zu stellen. Denn der Mensch ist ‹das Wesen,
dem es in seiner Existenz um den Sinn seiner Existenz geht›. Aber welche
sind diese radikalen Fragen?
Radikale Fragen sind Fragen nach den Fundamenten der Geltung mensch-
licher Theorie und Praxis. Man kann dies leicht an den vier Grundfragen
Kants erkennen:
(1) Was können wir wissen?
(2) Was sollen wir tun?
(3) Was dürfen wir hoffen?
(4) Was ist der Mensch?
Die ersten drei sind klarerweise Geltungsfragen, nur die dritte scheint auf den
ersten Blick eine ontologische Frage zu sein. In Wahrheit ist aber auch sie
eine Geltungsfrage.4 Denn das Wesen des Menschen erweist sich als Grund
der Geltungsansprüche, die an den Menschen gerichtet sind. Diesen Fragen
schließt sich eine Reihe weiterer Fragen an:
(5) (im Sinne der dritten Kritik) Was ist die legitime Quelle unseres Ver-
gnügens?
(6) Wie kann man die Herrschaft des Menschen über den Menschen recht-
fertigen?
(7) Was ist der Sinn des Unterschieds von Arbeiten und Feiern?

4 Auch Ernst Tugendhat versteht diese Frage in diesem Sinne. Deshalb hat er neu-
lich die so verstandene Anthropologie als ‹erste Philosophie› bezeichnet. Vgl.
ders.: Anthropologie statt Metaphysik (München: Beck, 2007) S. 34-54.
36 Gerhard Seel

(8) Was ist eine gerechte Gesellschaftsordnung?


(9) Was ist der Sinn der Geschichte?
(10) Welche Verantwortung haben wir gegenüber zukünftigen Generationen
und der Welt, in der wir leben?
Aber was macht diese Fragen zu radikalen Fragen? Die Radikalität einer
Frage bemisst sich nach dem Grad, in welchem sie die Herausforderung des
Skeptizismus ernst nimmt. «Taking scepticism seriously» ist die Parole radi-
kalen Philosophierens. Sicher hat Wittgenstein in Über Gewißheit 5 gezeigt,
dass alles sinnvolle Zweifeln Grundlagen hat, die ihrerseits nicht gleichzeitig
bezweifelt werden können. Aber dies ändert nichts daran, dass der Philosoph
verpflichtet ist, an allem zu zweifeln.
Der Skeptizismus seinerseits ist radikal, sofern er sich nicht auf ein Ni-
veau des Zweifelns beschränkt. Wir sehen das sehr schön an den drei Thesen
des Sophisten Gorgias:
(1) Es gibt nichts.
(2) Selbst wenn es etwas gäbe, könnten wir es nicht erkennen.
(3) Selbst wenn wir etwas erkennen könnten, wären wir nicht in der Lage,
es mitzuteilen.
Diese drei Fragen müssen bei allen philosophischen Untersuchungen – und
zwar in umgekehrter Reihenfolge – abgearbeitet werden. In letzterem liegt
übrigens der Grund, warum wir mit sprachanalytischer Philosophie zu be-
ginnen haben. Aber es wäre auch falsch zu glauben, dass die Philosophie
sich in Sprachanalyse erschöpft. Auf die Semantik hat vielmehr Geltungs-
reflexion zu folgen. Denn wenn einmal gesichert ist, dass unsere Sprache die
ihr zugedachte Funktion erfüllen kann, und wenn zum Zwecke des Philo-
sophierens eine nicht mehr mit Mehrdeutigkeiten belastete Kunstsprache
entwickelt ist, dann hat die Philosophie sich als nächstes um die Frage zu
kümmern, ob es für unser Denken und Handeln und auch für das Spielen gül-
tige Regeln gibt und wie deren Geltung begründet werden kann. Erst wenn
diese Fragen im positiven Sinne beantwortet sind, macht es Sinn, nach der
Grundstruktur der menschlichen Existenz und nach dem Platz des Menschen
in der Welt zu fragen.
Aber wie soll es die Philosophie anstellen, wenn sie nach Antworten auf
diese Fragen sucht? Hat sie überhaupt die methodischen Mittel, um den radi-
kalen Skeptizismus zu überwinden? Die Frage nach der Methode der Philo-
sophie, die wir hiermit stellen, ist natürlich selbst eine philosophische Frage

5 Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, hg. von G. E. M. Anscombe, G. H. von


Wright (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982).
Wozu Philosophie? 37

und steht als solche unter dem skeptischen Verdacht, dass es darauf keine
Antwort gibt, und dass, sollte es eine solche geben, diese nicht begründet
werden kann. Es scheint so, als würden wir uns im Kreise drehen oder erneut
auf einen infiniten Regress zurückgeworfen werden. Denn nach der oben auf-
gestellten Forderung müssten wir uns zuerst der philosophischen Methode
versichern, um dann auf der Basis dieser Sicherheit die Frage nach der philo-
sophischen Methode zu beantworten. Aber die Situation des Philosophen ist
nicht so verzweifelt, wie der Skeptiker es gerne hätte. Die Philosophie muss
natürlich mit einem Vorschuss an Vertrauen in die Leistungsfähigkeit ihrer
Vorgehensweise starten, aber sie steht in der Pflicht, diese Leistungsfähig-
keit dann reflexiv auszuweisen, ihre Arbeit reflexiv einzuholen und deren
Ergebnisse so zu begründen. Das ist freilich ein Zirkel, aber dass er nicht
unbedingt viziös sein muss, werden wir noch sehen.
Ich will zunächst einmal schlicht beschreiben, was nach meiner Meinung
die richtige Vorgehensweise der Philosophie ist, und dann fragen, ob diese
Vorgehensweise Aussicht auf Erfolg hat.
These 1: Die Philosophie ist – das haben wir oben gezeigt – im Unter-
schied zur Mathematik gar keine Wissenschaft a priori, sie ist vielmehr,
schon um ihre Fragen formulieren zu können, auf empirische Fakten an-
gewiesen. So könnte Kant seine Frage nach den Bedingungen gültiger em-
pirischer Erkenntnis gar nicht stellen, wenn er nicht zunächst einmal einen
Begriff der empirischen Wissenschaft, ihrer Vorgehensweise und ihrer de
facto erhobenen Geltungsansprüche hätte. Diesen Vorbegriff kann er aber
nicht a priori besitzen, er muss ihn vielmehr aus der Erfahrung gewonnen
haben. Aber er belässt es natürlich nicht bei diesem Vorbegriff. Er nimmt die
skeptischen Einwände gegen die Geltungsansprüche der Wissenschaft ernst
und sucht nach einer Möglichkeit, diesen zu begegnen. Das Eigentümliche
seiner Vorgehensweise liegt also in der geltungstheoretischen oder – wie
Kant sagen würde – kritischen Fragestellung. Die Philosophie hat also eine
empirische Basis. Ich habe daher die Berührungsängste, die manche Philo-
sophen gegenüber den empirischen Wissenschaften haben, nie verstanden.
Allerdings haben die Phänomenologen das Angewiesensein der Philosophie
auf Beobachtbares und Beschreibbares missverstanden. Sie haben geglaubt,
die Philosophie selbst haben die Aufgabe, die Phänomene zu beschreiben,
und sie käme auf diese Weise «zu den Sachen selbst». In Wahrheit gewinnt
die Philosophie selbst keine empirischen Erkenntnisse, sie macht sich diese
lediglich zunutze. Das Entscheidende ist, dass die Philosophie mit Bezug auf
die gegebenen Phänomene ihre radikalen kritischen Fragen stellt, also auch
nach den Bedingungen der Möglichkeit derjenigen Wissenschaften fragt,
38 Gerhard Seel

denen sie die Phänomene verdankt. Aber wie stellt es die Philosophie an,
wenn es um die Beantwortung dieser Fragen geht?
These 2: Das erste, was die Philosophie zu leisten hat, um eine Beantwor-
tung der kritischen Fragen zu ermöglichen, ist eine Analyse der in diesen
Fragen involvierten Begriffe und Sätze. Obwohl diese Begriffe und Sätze
selbst durchaus einen empirischen Ursprung haben können, ist die Begriffs-
und Theoremanalyse ein apriorisches Geschäft. Es geht darum, die logischen
Relationen der Begriffe und Sätze zu bestimmen, die der Theoriebildung in
einem bestimmten Bereich zugrunde liegen. Zu diesem Zwecke muss die
Philosophie sich auch um die Entwicklung der logischen Instrumente küm-
mern, die eine solche Analyse erst möglich machen.
These 3: Es stellt sich bei dieser Arbeit jedoch heraus, dass es eine Mehr-
zahl einander ausschließender Begriffssysteme und Theorien gibt, ja dass
sogar verschiedene Logiken entwickelt werden können, die allesamt ihre
Berechtigung haben. Dies bringt die Philosophie in eine schwierige Situa-
tion. Während die empirischen Wissenschaften, wenn es darum geht, eine
Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorien herbeizuführen, Beobach-
tung und Experimente benutzen kann, stehen der Philosophie – wie wir oben
gesehen haben – diese Entscheidungskriterien nicht zur Verfügung. Um diese
Lücke zu schließen, hat die Philosophie seit Platon und Aristoteles zwei me-
thodische Tricks entwickelt: das Gedankenexperiment und die so genannten
‹transzendentalen Argumente›. Gedankenexperimente dienen dazu, kontra-
faktische Situationen zu konstruieren, die im Endeffekt mögliche Welten
konstituieren. Kümmert sich die empirische Wissenschaft um die Erkenntnis
der wirklichen Welt, so ist die Philosophie die Erkenntnis möglicher Welten
mittels des Gedankenexperiments. Gedankenexperimente und die Erkenntnis
möglicher Welten sind jedoch keine Zwecke in sich selbst. Sie dienen – in
Verbindung mit transzendentalen Argumenten – dazu, eine Entscheidung
zwischen alternativen philosophischen Positionen herbeizuführen.
These 4: Das wichtigste Instrument des Philosophen sind die so genann-
ten ‹transzendentalen Argumente›. Worum handelt es sich dabei? Transzen-
dentale Argumente dienen dazu, die obersten Prinzipien unseres Erkennens
und Handelns zu begründen. Daher haben sie bei der so genannten ‹Letzt-
begründungsdebatte› eine so große Rolle gespielt. Man darf sie jedoch nicht
– wie es Albert6 in dieser Debatte getan hat – mit dem üblichen deduktiven
Begründungsverfahren verwechseln. Es ist – wie schon Aristoteles gezeigt

6 Hans Albert: Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und


sein hermeneutischer Gott (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1975).
Wozu Philosophie? 39

hat – von vorneherein klar, dass man mit dem üblichen Begründungsverfah-
ren keine Letztbegründung oberster Prinzipien leisten kann. Versucht man
dies, gerät man entweder in einen infiniten Regress oder in einen Zirkel oder
man muss dogmatisch die Geltung der obersten Prinzipien einfach unter-
stellen. Transzendentale Argumente aber versuchen etwas ganz anderes. Sie
stellen den Skeptiker, welcher die Geltung der fraglichen Prinzipien leug-
net, vor die Wahl, entweder diese Prinzipien als gültig zu akzeptieren oder
auf eine ihm liebe theoretische Position, respektive eine ihm liebe Praxis
zu verzichten. Transzendentale Argumente zwingen also den Skeptiker,
einen Preis für seinen Skeptizismus zu zahlen. Es ist daher für den Erfolg
eines transzendentalen Arguments entscheidend, dass der zu zahlende Preis
wirklich hoch ist, so hoch, dass wir normalerweise nicht bereit sind, ihn zu
zahlen. Im Idealfall muss es sich um etwas handeln, auf das wir nicht ver-
zichten können. In der ‹transzendentalen Deduktion› der Kritik der reinen
Vernunft hat Kant den Skeptiker vor die Wahl gestellt, entweder die Geltung
der Kategorien zu akzeptieren oder auf den Anspruch der Geltung der em-
pirischen Wissenschaften zu verzichten. In analoger Weise habe ich zu zei-
gen versucht,7 dass derjenige, der leugnet, dass es gültige oberste praktische
Prinzipien gibt, auf die Praxis des Lobens und Tadelns verzichten muss, eine
Praxis, die unser tägliches soziales Leben allererst möglich macht.
Aber es scheint sogar einen höheren Preis für den Skeptizismus zu geben:
Selbstwiderspruch. In der Tat finden sich in der umfangreichen Literatur Ver-
suche zu zeigen, dass derjenige, der die Geltung bestimmter oberster Prin-
zipien leugnet, sich in einem Selbstwiderspruch bewegt. Mit Bezug darauf
hat K.-O. Apel die berühmte Formel geprägt: «Die obersten Prinzipien sind
ohne Zirkel nicht zu begründen, aber sie können auch ohne Selbstwider-
spruch nicht geleugnet werden».
Dabei kann der Selbstwiderspruch von zweierlei Art sein. Er kann ent-
weder ein Widerspruch zwischen den Sätzen sein, die der theoretische Geg-
ner behauptet, oder es kann sich um einen Widerspruch zwischen dem, was
der Gegner behauptet, und dem, was er tut, wenn er es behauptet, handeln.
Das letzte nennt K.-O. Apel8 einen ‹performativen Selbstwiderspruch›. Kri-
tisch ist dazu jedoch anzumerken, dass nur diejenigen, die bereits auf Ratio-

7 Gerhard Seel: Wie weit kann man den Naturalismus in der praktischen Philo-
sophie treiben? in Grazer philosophische Studien 57 (1999) S. 275-310.
8 Karl-Otto Apel: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte
einer transzendentalen Sprachpragmatik, in Sprache und Erkenntnis, hg. von
B. Kanitscheider (Innsbruck: Amoe, 1976) S. 55-82.
40 Gerhard Seel

nalität verpflichtet sind, den Selbstwiderspruch als einen Preis ansehen wer-
den, den sie nicht bereit sind zu zahlen. Ich habe daher die These vertreten,
das die Pflicht zur Rationalität die oberste theoretische und praktische Pflicht
eines vernünftigen Wesens ist, und dass man diese Pflicht – auch in einer
transzendentalen Argumentation – nicht rechtfertigen kann, ohne sie bereits
vorauszusetzen.9
Obwohl sich meine Konzeption der Philosophie deutlich von den vier
zuvor kritisierten Auffassungen unterscheidet, hat sie doch mit jeder etwas
gemein.
(1) Die Philosophie ist zwar keine Disziplin, die a priori ihre Gegenstände
konstruiert, aber sie kann auf apriorische Verfahren nicht völlig ver-
zichten. Dies zeigt sich vor allem bei der Begriffsanalyse und bei der
Entwicklung und Verwendung logischer Systeme. Auch die Gedanken-
experimente beruhen nicht ausschließlich auf empirischen Daten, son-
dern sind kontrafaktische – und d. h. apriorische – Konstrukte und auch
die transzendentalen Argumente enthalten apriorische Schritte.
(2) Die Philosophie ist zwar keine empirische Wissenschaft, wie Quine und
seine Anhänger behaupten. Aber da sie eine empirische Ausgangsbasis
für die Entwicklung ihre Fragestellungen benötigt, hat sie doch immer
ein empirisches Element. Somit hat meine Konzeption der Philosophie
mit der Quines die Betonung der Notwendigkeit einer empirischen Basis
gemein.
(3) Aber auch mit der common-sense-Philosophie und dem Pragmatismus
hat meine Konzeption etwas gemein. Auch ich bin der Auffassung, dass
die Philosophie einen ‹Sitz im Leben› haben muss, dass sie ihre wich-
tigsten Fragen aus der Einsicht in die Fraglichkeit der menschlichen
Existenz bezieht und dass daher die praktische Vernunft einen Primat
im Kreis der Gegenstände philosophischer Reflexion besitzt.
(4) Selbst mit den Postmodernen hat meine Konzeption der Philosophie
etwas gemein. Es ist das Ernstnehmen des Skeptizismus und die Über-
zeugung, dass es auf die letzten Fragen keine letzten Antworten geben
kann, die philosophischen Streitfragen also an einem bestimmten Punkte
der Reflexion unentschieden bleiben müssen.

9 Gerhard Seel: Ist der praktische Begründungsregress abschließbar? in Der


Mensch und die Wissenschaften vom Menschen, hg. von G. Frey, J. Zelger (Inns-
bruck: Solaris, 1983), Bd. 2, S. 609-619.
Wozu Philosophie? 41

3. Sokrates und die Geschichte der Philosophie

Ich habe meine Konzeption der Philosophie umrissen und damit auch ge-
zeigt, wie die Philosophie aus ihrer gegenwärtigen Krise herauskommen
kann. Aber worauf gründet sich eigentlich meine Überzeugung, dass die
dargelegte Konzeption der Philosophie die richtige ist? Ich habe eingangs
bereits auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, denen jeder Versuch,
das Wesen der Philosophie zu ergründen, begegnet. Bernard Williams hat
angesichts dieser Schwierigkeiten den kühnen Ausspruch getan, die Philo-
sophie sei das, wovon die Philosophiegeschichte die Geschichte ist.10 Das
hört sich wie ein schlechter Witz an, aber Bernard Williams ist kein Mann
für schlechte Witze. Wir sollten also versuchen, seinen Ausspruch als ernst-
hafte These zu deuten. Könnte er nicht gemeint haben, dass unser Verständ-
nis von Philosophie den Status eines Vorurteils hat und dass wir dieses
Vorurteil notwendigerweise aus der Geschichte der Philosophie beziehen,
zu der unser eigenes Philosophieren unausweichlich gehört. So jedenfalls
würde Gadamer die Frage angegangen haben. Wenn mein eigenes Konzept
von Philosophie in diesem Sinne ein Vorurteil ist, dann liegt seine einzige
Rechtfertigungsquelle in der Geschichte der Philosophie. Nun kann nicht
bestritten werden, dass auch diejenigen Konzeptionen der Philosophie, die
ich oben kritisiert und zurückgewiesen habe, ihren Platz in der Philosophie-
geschichte haben. Wie kann ich dessen ungeachtet behaupten, meine Auf-
fassung sei durch die Philosophiegeschichte gerechtfertigt? Ich kann das
nur dann, wenn sich zeigen lässt, dass diese Auffassung einem privilegier-
ten Moment der Philosophiegeschichte entspricht. Ich meine das Leben und
Denken des historischen Sokrates, das man meist als die Geburtsstunde der
Philosophie ansieht.
Im Platonischen Symposion findet sich folgende Charakterisierung des
Sokrates:11
Wie aber dieser Mensch an Wunderlichkeit ist, er selbst und seine Reden, so
würde einer, auch wenn er noch so sehr suchte, niemanden finden, der ihm nahe
kommt, weder unter den Jetzigen noch unter den Alten, es sei denn, dass er ihn,
wie ich es tue, mit keinem Menschen, sondern mit Silenen und Satyrn vergleichen
würde, ihn und seine Reden.

10 Bernard Williams: What might Philosophy become?, in Philosophy as a Human-


istic Discipline. Bernard Williams, hg. von A. W. Moore (Princeton: Princeton
University Press, 2006) S. 212.
11 Platon: Symposion, 221d-e.
42 Gerhard Seel

Worauf beruht die Wunderlichkeit des Sokrates? Sokrates ist das gelebte
Paradoxon und dieses Paradoxon entspringt aus der Radikalität des Sokrati-
schen Fragens. Die Grundfrage des Sokrates lautet: πῶς βιωτέον? Wie soll
ich, wie sollen wir, wie soll man leben? Sokrates war überzeugt, dass die
Philosophie die Aufgabe hat, diese Frage zu beantworten, und dass derjenige,
der dieses Wissen besitzt, ein gutes Leben führen wird. ‹Wer weiß, was gut
ist, tut es auch›, so lautet seine erste intellektualistische Grundüberzeugung.
Die zweite damit zusammenhängende ist, dass Tugend lehrbar ist. Und so
machte er sich denn auf die Suche nach Tugendlehrern, nach Leuten also,
die über gültige Definitionen der Tugenden verfügen. Aber alle Definitionen,
die ihm vorgeschlagen werden, erweisen sich als falsch, er selbst widerlegt
sie mit Gegenbeispielen, aber er hat selbst auch keine Definition, die dem
Elenchus standhält. Das Einzige, was er den anderen voraus hat, ist, dass er
weiß, dass er nichts weiß. Deshalb allein bezeichnet das delphische Orakel
ihn als den weisesten aller Athener.
Sokrates ist überzeugt, dass das «ungeprüfte Leben nicht wert ist, gelebt
zu werden», wie es in der Apologie 12 heißt. Aber er verfügt nicht über die uni-
versellen Maßstäbe zur Prüfung des Lebens, die überkommenen Maßstäbe
verwirft er, neue kann er nicht finden. Er verzweifelt am Ideal universellen
praktischen Wissens, er muss sich mit Kasuistik begnügen. So geht er auf die
Straßen und Plätze Athens unermüdlich auf der Suche nach Gesprächspart-
nern, die ihm das Überprüfen ihres jeweiligen Lebens anvertrauen. Darüber
vernachlässigt er sein eigenes Leben und das Leben der Seinen. Sein Leben
erschöpft sich in der Überprüfung des Lebens. Er wird uns als herunter-
gekommene Figur, barfuss, in zerrissenen Kleidern geschildert, ein Gespött
für die Komödienschreiber. Und doch – ein weiteres Paradoxon – ist den
Herrschenden diese Spottfigur nicht geheuer. Sie sehen in der Radikalität
seines Fragens eine Gefahr für die etablierte Ordnung, für ihre Herrschaft.
Er wird vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Aber nicht zuletzt durch
seinen Tod wird er zum Vater der Philosophie, zum die Philosophiegeschichte
beherrschenden Beispiel des Philosophen. Sokrates Leben und Fragen ist die
Geburtsurkunde der Philosophie.
Das Widersprüchliche und Paradoxale, das wir in ‹Sokrates und seinen
Reden› angetroffen haben, erklärt, warum so unterschiedliche und entgegen-
gesetzte philosophische Strömungen wie der Hedonismus und der Asketis-
mus, der Dogmatismus und der Skeptizismus, der Absolutismus und der
Relativismus sich auf Sokrates berufen konnten. Für mein gegenwärtiges

12 Platon: Apologie, 38a.


Wozu Philosophie? 43

Unternehmen ist wichtig, dass alle Momente meiner Konzeption der Philo-
sophie sich im Ansatz bereits bei Sokrates finden: der Ursprung des Fra-
gens in der existentiellen Situation des Menschen, sein ‹Sitz im Leben›, die
Interdependenz von Theorie und Praxis, der Primat der praktischen Philo-
sophie, die Radikalität des Fragens, die kritischen Wendung gegen das eigene
Unternehmen, die Unausweichlichkeit und Uneinlösbarkeit der Geltungs-
ansprüche, die Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit der Antworten.

4. Wozu Philosophie?

Nachdem ich meine Konzeption der Philosophie vorgestellt und sie als his-
torisches Vorurteil ausgewiesen habe, bleibt nun noch zu fragen, wozu ein
solch verrücktes Unternehmen gut sein soll. Die Antwort auf diese Frage
– wie könnte es anders sein – ist wiederum paradox: Der Nutzen der Philo-
sophie beruht auf ihrer Nutzlosigkeit. Nutzlos ist die Philosophie, wenn man
Nützlichkeit im Sinne der alltäglichen Interessen der Menschen auffasst.
Freilich bestreiten viele Philosophen diese Nutzlosigkeit. Sie meinen, der
Platz der Philosophie in den akademischen Institutionen und in der Gesell-
schaft überhaupt sei nur zu sichern, wenn man ihre Nützlichkeit nachweise.
Und so machen sie sich daran, zu zeigen, dass Wissenschaft nur möglich ist
dank der philosophischen Wissenschaftstheorie, dass man die Probleme der
Umwelt nur mittels philosophischer Einsichten bewältigen kann, dass es um
die Entwicklung der ‹dritten Welt› schlecht bestellt ist, weil die Leute nicht
genug Philosophie haben, dass unsere Ärzte sich nur dann moralisch richtig
verhalten, wenn sie durch philosophische Ethik belehrt sind. Von alledem
trifft nichts zu. Die Wissenschaft geht ihren Gang auch ohne Wissenschafts-
theorie, die Welt geht einer Umweltkatastrophe entgegen trotz Philosophie
und unsere Ärzte sollten nicht auf die Belehrung durch den Philosophen
warten, um einzusehen, dass man einen Patienten nicht wie ein Stück Fleisch
behandeln kann.
Damit will ich natürlich nicht bestreiten, dass die stürmische Entwick-
lung, die die angewandte Ethik – das was die Anglosachsen seltsamerweise
‹practical ethics› nennen – in den letzten Jahrzehnten genommen hat, eine
gute Sache ist. Ich möchte nur davor warnen, allein darauf und auf die allem
Anschein nach damit verbundene Nützlichkeit die Existenzberechtigung der
Philosophie gründen zu wollen. Die Existenzberechtigung der Philosophie
gründet sich tiefer, sie gründet sich in der Fraglichkeit der menschlichen Exis-
tenz selber. Wir kommen als endliche vernünftige Wesen gar nicht umhin,
44 Gerhard Seel

uns selbst radikal in Frage zu stellen, uns mit absoluten Geltungsansprüchen


zu konfrontieren und nach dem Sinn oder der Absurdität unseres Lebens zu
fragen. Im Sinne unseres Interesses an einem ruhigen, unbeschwerten und
glücklichen Leben ist das gerade nicht von Nutzen. Da wäre es besser, es
wie die drei Affen zu machen, nichts zu sehen, nichts zu hören und nichts
zu fühlen. Aber gerade vor einer solchen glücklichen Existenz graust es
uns. Nozick13 hat Recht, wenn er behauptet, dass es schwer fällt, sich vor-
zustellen, dass sich ein Mensch freiwillig und in voller Kenntnis der Sache
an eine Glücksmaschine anschließen lassen würde, die ihn das vollkommen
glückliche Leben erleben lässt, aber dies eben nur vorgaukelt, so dass es sein
Leben nicht mehr wäre. Die Drogenabhängigen sind kein Gegenbeispiel.
Denn sie sind in die Abhängigkeit irgendwie hineingeraten, haben sich aber
nicht freiwillig und in voller Kenntnis der Implikationen hineinbegeben. Uns
Menschen kommt es also wesentlich darauf an, dass wir in voller Verantwor-
tung – und das heißt als die freien letzten Verursacher unserer Handlungen
– unser eigenes Leben leben. Dies ist nicht der obsolete Ausdruck des neu-
zeitliche individualistischen Menschenbildes, sondern – wie das Beispiel des
Sokrates zeigt – die von den großen Philosophen zu jeder Zeit herausgestellte
Grundverfassung der menschlichen Existenz.
Aus dieser Grundverfassung entspringt die Notwendigkeit des Philo-
sophierens. Aber Philosophieren ist nicht nur ein existentielles Bedürfnis
des Menschen, es ist auch seine moralische Pflicht. Denn jeder, der den Ge-
danken fasst, es könnte für ihn verbindliche praktische Normen geben, hat
die Pflicht, zu klären, ob es sich wirklich so verhält. Er muss sich ja sagen,
dass, wenn es solche Normen gäbe, dies für sein Leben einen entscheiden-
den Unterschied ausmachen würde. Gibt es sie, so kann er, wenn er sie nicht
befolgt, Schuld auf sich laden, gibt es sie hingegen nicht, so ist er frei, sein
Leben zu leben, wie immer es ihm gut dünkt. Er wird aber einsehen, dass es
ihm nicht erlaubt ist, wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand zu stecken
und die – möglicherweise unangenehme – Antwort erst gar nicht wissen zu
wollen. Die ‹schöne Seele› ist ein Zustand der Gnade, aber kein mögliches
Ziel menschlicher Bemühungen. Hierin liegt meiner Auffassung nach auch
der Sinn des Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies, der uns in der
Genesis überliefert ist. Das Versprechen der Schlange «Eritis sicut Deus
scientes bonum et malum» ist nicht eine Versuchung, denen die Menschen
besser nicht erlegen wären, es ist der notwendige Schritt zur Mündigkeit

13 Robert Nozick: Anarchy, State and Utopia (New York: Basic Books, 1974)
S. 42-45.
Wozu Philosophie? 45

des Menschen. Diesen Schritt zu machen, muten wir unseren Kindern in


der Erziehung zu, indem wir sie mit den Geltungsansprüchen unserer Nor-
men konfrontieren, also dafür sorgen, dass sie den Unterschied von Gut
und Böse kennen. Dies wäre ein Verbrechen am Glück der Kinder, wenn
es keine moralischen Pflicht zur Erkenntnis des Unterschieds von Gut und
Böse gäbe. Aber diese Geltungsansprüche könnten ja falsch oder zumindest
unbegründet sein. Daher ist es unsere Pflicht – der Kinder wie der Eltern –
über die Gründe für die Geltung der Normen nachzudenken, Normenkritik
und Normenbegründung zu betreiben oder – wie Kant in der Religionsschrift
sagt – ‹Gewissen haben zu wollen›. Dies aber ist nichts anderes als praktische
Philosophie betreiben. Philosophie ist also keine rein akademische Angele-
genheit, sie ist unverzichtbares Element eines jeden menschlichen Lebens,
sofern es wert sein will, gelebt zu werden. Damit aber bin ich wieder bei
Sokrates angekommen. Hatte der nicht gesagt: Das ungeprüfte Leben ist
nicht wert, gelebt zu werden.
Studia philosophica 66/2007

STEFAN H ESSBRÜGGEN -WALTER

Das Ganze im Blick


Sellars über die Aufgabe der Philosophie

The paper discusses Sellars’s view of philosophy and its relation to the (natural)
sciences. It argues for three interrelated theses. First, philosophy has no specific
subject matter. Second, we ask ourselves questions which cannot be answered from
a purely scientific point of view. Third, philosophical standards are contingent, but
this does not mean that philosophy is to be abandoned.
Pace Sellars, the specific achievement of philosophy consists in «a view of the
whole», which enables us to «know our way around» with respect to the different
domains of expertise we are familiar with. Philosophy thus reflects a common sense
perspective of ourselves and the world we live in, which rests on the assumption that
we are obliged to regard ourselves, as well as those sharing our lives, as persons.
This in turn implies that our most basic ways of relating to the world (knowledge and
action) are governed by norms. Getting a view of the whole of man thus means that
we must regard ourselves both as participants of a norm-governed «Lebensform»
[lifeform] and as complex biological systems.
Philosophy and the sciences complement one another. Science aims at knowledge.
This aim cannot be properly understood within science itself, because science does
not concern itself with the normative perspective inherent in the very concept of
knowledge. Philosophy, in turn, cannot risk ignoring the results of the sciences, be-
cause their insights form an essential part of what we must take to be the whole of
the world that philosophy has in view. Even though philosophy should not aspire to
achieve a complete revolution of the norms and standards governing our attempts to
make sense of this world, it is nevertheless indispensable because it shows that these
norms themselves are always open to reflection and revision.

In der analytischen Debatte über die Frage, was Philosophie sei, werden vor
allem drei mögliche Antworten diskutiert: Die naturalistische Option (begin-
nend mit Quine) beruht auf der Erwartung, dass die Beantwortung der einst
zum Kanon der Philosophie zählenden Probleme im Rahmen der (Natur-)
Wissenschaften möglich sei.1 Die platonistische Option betrachtet die Philo-
sophie als Disziplin, der die Erforschung eines eigenen Gegenstandsbereichs

1 Vgl. Willard Van Orman Quine: Epistemology Naturalized, in ders.: Ontological


Relativity (New York: Columbia University Press, 1969) S. 69-90.
48 Stefan Heßbrüggen-Walter

(bei Dummett z. B. die Theorie der Bedeutung) obliegt.2 Die historistische


Antwort verweist mit Rorty auf die Kontingenz und Geschichtlichkeit phi-
losophischer Probleme und Antworten, aus der die Überflüssigkeit philoso-
phischen Fragens herauszulesen sei.3
Im Folgenden sollen die Umrisse einer Position skizziert werden, die im
Anschluss an Wilfrid Sellars mit dem Historismus die Kontingenz philo-
sophischer Bemühungen anerkennt, mit dem Naturalismus zugesteht, dass
es allein die Aufgabe der Wissenschaft ist, die Beschaffenheit der Welt zu
erforschen, und die doch mit dem Platonismus auf dem Eigensinn philoso-
phischer Reflexion beharrt. Eine solche Position lässt sich in drei Kernthesen
zusammenfassen:
(1) Philosophie erforscht keine nur dem Philosophen zugänglichen Gegen-
stände: Unsere Ontologie ist naturalistisch. Philosophie stellt vielmehr
Orientierungswissen bereit, in dem die ‹immer schon› vorausgesetzten
Prämissen unserer jeweiligen Lebensgestaltung expliziert werden.
(2) Die Naturwissenschaften können nicht alle Fragen, die zum philoso-
phischen Geschäft gehören, beantworten. Wesentliche Voraussetzung
unseres Lebens und Handelns in einer mit anderen geteilten Lebensform
ist die Anerkennung des Gegenübers als Person. Diese Dimension ist
ein unerlässlicher Bestandteil jenes Ganzen, das die Philosophie in den
Blick zu nehmen hat.
(3) Die Bindung philosophischer Reflexion an kontingente Standards der
Argumentation und Rechtfertigung impliziert keine Verabschiedung der
Philosophie. Die von der Philosophie vertretenen Geltungsansprüche
sind im Kontext einer geteilten Lebensform rational zu vertreten, auch
wenn der Anspruch, die Gegebenheiten dieser Lebensform in toto zu
transzendieren, nicht aufrechterhalten werden kann.
These 1 wendet sich gegen den Platonismus: Philosophie hat keinen klar ab-
gegrenzten Gegenstandsbereich, sondern betrachtet unsere Redeweisen über
Gegenstände und zwingt uns zur Klärung der Frage, was wir meinen, wenn
wir über die Welt als ganze reden.4 Es ist die Wissenschaft und nicht der

2 Vgl. Michael Dummett: Can Analytical Philosophy be Systematic, and Ought it to


be?, in ders.: Truth and Other Enigmas (London: Duckworth, 1978) S. 437-458.
3 Vgl. Richard Rorty: Hoffnung statt Erkenntnis (Wien: Passagen, 1994).
4 Vgl. Wilfrid Sellars: Philosophy and the Scientific Image of Man, in ders.: Sci-
ence, Perception and Reality (London: Routledge & Kegan Paul, 1963) S. 1-41
(im Folg. zit. als PSIM), S. 2: «What is characteristic of philosophy is not a spe-
cial subject-matter, but the aim of knowing one’s way around with respect to the
subject-matters of all the special disciplines.»
Das Ganze im Blick 49

Philosoph, der entscheidet, was als existierend und was als nicht existierend
anzusehen ist.5
These 2 wendet sich gegen den Naturalismus: Wir kommen nicht umhin,
uns selbst und alle, mit denen wir unsere Lebensform teilen, im alltäglichen
Leben als Personen zu betrachten. Diese Perspektive kann innerhalb einer
reduktiv-naturalistischen Weltsicht nicht adäquat erfasst werden.
These 3 wendet sich gegen den Historismus: Auch wenn Philosophie
gerade aufgrund ihrer zur wissenschaftlichen Weltsicht komplementären Per-
spektive an eine geteilte Lebensform gebunden ist und Rorty im Hinblick
auf ihre Kontingenz also ohne weiteres zuzustimmen wäre, bleibt ihr jedoch
der Spielraum und die Verpflichtung, auf eine (wenngleich immer partielle)
Revision dieser jeweils geteilten Lebensform und der sie konstituierenden
Normen zu drängen.

1. Philosophie als Orientierungswissen

Um uns in unserer Welt zurechtzufinden, sind wir auf ein – größtenteils nie
explizit geäußertes – Wissen über den Zusammenhang aller Aspekte unse-
res Lebens angewiesen, ein Wissen, wie ‹Dinge (im weitesten Verständnis
des Ausdrucks) miteinander zusammenhängen (im weitesten Verständnis
des Ausdrucks)‹.6 Eine (notwendigerweise unvollständige) Aufzählung sol-
cher Dinge findet sich in Sellars’ Philosophy and the Scientific Image of
Man: Philosophie behandelt Kohlköpfe und Könige, Zahlen, Pflichten, Mög-
lichkeiten, Fingerschnipsen, ästhetische Erfahrung und Tod. Mit anderen
Worten: «It is the ‹eye on the whole› which distinguishes the philosophical
enterprise.»7
Sellars zufolge generiert ein solcher «Blick auf das Ganze», die spezifi-
sche Leistung philosophischer Reflexion, kein Tatsachenwissen (knowing-
that), sondern ‹Orientierungswissen›: «To achieve success in philosophy
would be […] to ‹know one’s way around› with respect to all these things»8

5 Vgl. Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, in ders.: Science,
Perception and Reality, op. cit. S. 127-196 (im Folg. zit. als EPM), S. 173: «in the
dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all
things, of what is that it is, and of what is not that it is not».
6 PSIM S. 1.
7 PSIM S. 3.
8 PSIM S. 5.
50 Stefan Heßbrüggen-Walter

Dieses Orientierungswissen ist allerdings, obgleich kein Tatsachenwissen,


dennoch explizites Wissen, das sprachlich kommuniziert werden kann.9
Wesentlicher Bestandteil unseres Orientierungswissens ist unser (vor-
wissenschaftliches) Bild des Menschen, das im Wesentlichen durch zwei
Merkmale gekennzeichnet ist: 1. Menschen sind Wesen, die Begriffe verwen-
den, und die Verwendung dieser Begriffe eröffnet einen epistemischen Zugang
zur (intelligiblen Struktur der) Welt. 2. Menschen sind Wesen, die handeln,
d. h. bestimmte Formen ihres Verhaltens beruhen auf bewusster Überlegung
(deliberation).10 Beide Einsichten lassen sich in der These zusammenfassen,
dass in dieser Weltsicht (der des expliziten common sense) Menschen als
Personen gelten. Diese Perspektive konfligiert jedoch mit dem Blickwinkel
der (Natur-)Wissenschaften. Aus ihrer Sicht sind Menschen komplexe bio-
logische Systeme, deren Verhalten vollständig innerhalb eines Paradigmas
beschrieben werden kann, das auf den Begriff der Person verzichtet.
Begriffe, die wir zur Charakterisierung der Beziehungen zwischen Be-
griffen verwenden, also etwa der Begriff der Rechtfertigung, der Begriff der
Inferenz oder auch der Wahrheitsbegriff sind jedoch irreduzibel normativ.
Sofern wir also den Anspruch vertreten, dass die Philosophie das Ganze
unserer Selbst- und Weltverhältnisse auf den Begriff zu bringen habe, müssen
wir dieser Normativität Rechnung tragen. Beziehungen zwischen sprach-
lichen Äußerungen oder deren Gehalten können aber Sellars zufolge nicht
allein durch Deskription angemessen erfasst werden.
Dieses Faktum übersehen Platonisten und Naturalisten. Beide versuchen,
unseren erkennenden Zugang zur Welt durch eine rein deskriptiv fassbare
Einwirkung bestimmter Aspekte der Welt auf unseren kognitiven Apparat zu
erklären. Begriffsgebrauch erschöpft sich nach Sellars jedoch nicht in Inter-
aktionen mit unserer Umwelt und deren Verarbeitung in unserem neuronalen
System, wie der reduktive Naturalist meint,11 oder in einem nichtsinnlich

9 Vgl. PSIM S. 1f.


10 Vgl. PSIM S. 11f.
11 Für Sellars ist der reduktive Naturalismus eine Spielart des ‹Mythos des Ge-
gebenen›: Eine rein naturwissenschaftliche Beschreibung des Menschen müsste
epistemische Fakten zur Gänze durch nicht epistemisch relevante Fakten erklären
und beginge damit einen ‹naturalistischen Fehlschluss›. Vgl. EPM S. 131: «Now
the idea that epistemic facts can be analysed without remainder – even ‹in prin-
ciple› – into non-epistemic facts, whether phenomenal or behavioural, public or
private, with no matter how lavish a sprinkling of subjunctives and hypotheticals,
is, I believe a radical mistake – a mistake of a piece with the so-called ‹naturalistic
fallacy› in ethics.»
Das Ganze im Blick 51

vermittelten Zugang zu einer an sich existierenden intelligiblen Wirklichkeit,


wie dies der Platonist vertritt.12 Wir müssen uns selbst zugleich als Personen
und als komplexe biologische Systeme verstehen. Denn nur wenn wir uns
als Personen verstehen, können wir unser Erkennen und Handeln begrifflich
angemessen erfassen.13 Und nur wenn wir uns als komplexe biologische
Systeme verstehen, können wir diese Fähigkeit zu normativ gehaltvollen
Einstellungen als Teil unserer evolutionären Entwicklung anstatt als Ergebnis
einer mysteriösen Einwirkung des Intelligiblen betrachten.14

2. Die Komplementarität von Philosophie


und Wissenschaften

Denken ist für Sellars ein soziales Phänomen: «The essentially social char-
acter of conceptual thinking comes clearly to mind when we recognize
that there is no thinking apart from common standards of correctness and
relevance, which relate what I do think to what anyone ought to think.»15
Nur wenn ich meine Denkvollzüge zu dem ins Verhältnis setzen kann, was
innerhalb meiner epistemischen Gemeinschaft als denkbar gilt, ist mir Den-
ken überhaupt möglich. Ein Grund dafür ist, dass Begriffe nur innerhalb
von Sätzen verwendet werden können. Sinnvoller Gebrauch von Sätzen ist

12 Vgl. PSIM S. 16: «Yet somehow the world is the cause of the individual’s image
of the world, and, as is well-known, for centuries the dominant conception of the
perennial tradition was that of a direct causal influence of the world as intelligible
on the individual mind.»
13 Vgl. PSIM S. 39: «To think of a featherless biped as a person is to think of it as
a being with which one is bound up in a network of rights and duties. From this
point of view, the irreducibility of the personal is the irreducibility of the ‹ought›
to the ‹is›. But even more basic than this (though ultimately, as we shall see, the
two points coincide), is the fact that to think of a featherless biped as a person is to
construe its behaviour in terms of actual or potential membership in an embracing
group each member of which thinks of itself as a member of the group.»
14 Dies erlegt auch dem Philosophen die Pflicht auf, dem Anspruch der Wissen-
schaften auf ein Bild des ganzen Menschen Rechnung zu tragen, wie es sich aus
dem Methodenideal der Naturwissenschaften ergibt. Vgl. EPM S. 185: «What is
true – and this is a logical point – is that each special science dealing with some
aspect of the human organism operates within the frame of a certain regulative
ideal, the ideal of a coherent system in which the achievements of each special
science have an intelligible place.»
15 PSIM S. 16f.
52 Stefan Heßbrüggen-Walter

ohne die Kenntnis des Unterschiedes zwischen «wahr» und «falsch», also
Bewusstsein der Wahrheitsdifferenz jedoch nicht möglich: Die Fähigkeit,
Überzeugungen zu bilden und zu rechtfertigen, kann ich mir selbst und an-
deren überhaupt nur zubilligen, wenn ich zugleich ein geteiltes Verständnis
der Tatsache unterstelle, dass Überzeugungen wahr oder falsch sein können,
und die Fähigkeit, für diese wahren oder falschen Überzeugungen in einem
noch zu klärenden Sinn die Verantwortung zu übernehmen.16 Sellars folgt
der pragmatistischen Tradition darin, den Wahrheitsbegriff eng an den der
Rechtfertigung zu binden. Wahrheit besteht für ihn in letzter Instanz in der
Akzeptierbarkeit einer Behauptung innerhalb einer Sprachgemeinschaft und
relativ zu deren semantischen Regeln und Normen.17 Das bedeutet, dass ich
ein Begreifen der Wahrheitsdifferenz nur jenen zubilligen kann, die ver-
standen haben, was es heißt, den Normen und Regeln meiner epistemischen
bzw. linguistischen Gemeinschaft zu folgen.18 Sellars analysiert Normen

16 Vgl. EPM S. 145: «I pointed out above that when we use the word ‹see› as in ‹S
sees that the tree is green› we are not only ascribing a claim to the experience,
but endorsing it. It is this endorsement which Ryle has in mind when he refers
to seeing that something is thus and so as an achievement, and to ‹sees› as an
achievement word. I prefer to call it a ‹so it is› or ‹just so› word, for the root idea
is that of truth. To characterize S’s experience as a seeing is, in a suitably broad
sense – which I shall be concerned to explicate – to apply the semantical con-
cept of truth to that experience.» Inwiefern dieser Wahrheitsbegriff epistemisch
konnotiert ist, erläutert Sellars in Truth and ‹Correspondence›, in ders.: Science,
Perception and Reality, op. cit. S. 197-224.
17 Vgl. PSIM S. 39: «The most embracing community to which he belongs consists
of those with whom he can enter into meaningful discourse. The scope of the
embracing community is the scope of ‹we› in its most embracing non-metaphor-
ical use.»
18 Sellars bezeichnet diese seine Position auch als ‹psychological nominalism›, den
er wie folgt charakterisiert (EPM S. 161): «when we picture a child – or a carrier
of slabs – learning his first language, we, of course locate the language learner in
a structured logical space in which we are at home. Thus, we conceive of him as
a person (or, at least, a potential person) in a world of physical objects, coloured,
producing sounds, existing in Space and Time. But though it is we who are famil-
iar with this logical space, we run the danger, if we are not careful of picturing the
language learner as having ab initio some degree of awareness – ‹pre-analytic›,
limited and fragmentary though it may be – of this same logical space. We picture
his state as though it were rather like our own when placed in a strange forest on
a dark night.» Man beachte den Hinweis, dass es Sellars zufolge ein Fehler ist,
Kinder oder den (wohl Wittgenstein’schen) Träger von Steinen ohne weiteres als
(‹epistemische› oder ‹linguistische›) Personen anzusehen: Die bloße Fähigkeit,
Das Ganze im Blick 53

überhaupt als die von hinreichend vielen Mitgliedern einer Gruppe geteilten
und folglich kollektiven Absichten, die die jeweilige Gruppe überhaupt als
Gruppe konstituieren.19 Dies bedeutet aber nicht, dass jede solche konstitu-
tive Absicht von allen Mitgliedern der Gruppe geteilt werden muss. Vielmehr
können sowohl Fälle der Regelanwendung wie auch die geltenden Regeln
selbst der Kritik unterworfen werden (weswegen Sellars solche Normen auch
‹rules of criticism› nennt).
Sellars darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, als ob er
einer Analogie zwischen der Bildung von Überzeugungen und menschlichem
Handeln das Wort redete.20 Ein solches Missverständnis liegt deswegen nahe,
weil der Gedanke, die Bildung von Überzeugungen sei an Normen gebunden,
die Prämisse vorauszusetzen scheint, dass wir die Bildung von Überzeugun-
gen unmittelbar willentlich beeinflussen können. Diese Auffassung wäre
höchst kontraintuitiv und wird von Sellars so auch nicht vertreten. Vielmehr
unterscheidet er Normen des Handelns und so genannten «Zustandsnormen».
Solche Zustandsnormen (Sellars nennt sie aus Gründen, die ich noch ausfüh-
ren werde, rules of criticism) beziehen sich nicht auf konkrete vorgeschrie-
bene, erlaubte oder verbotene Handlungsvollzüge. Sie zeichnen vielmehr
einen Zustand der Welt als wünschenswert oder nicht wünschenswert aus.21

auf sprachliche Reize mit regelkonformen Reaktionen zu antworten, ist für die
Zuschreibung des Personstatus nicht zureichend. Erst ein Sprecher, der sich selbst
in der Struktur des in seiner Gemeinschaft gültigen ‹logical space of reason›
orientieren kann, kann als epistemische oder linguistische Person gelten.
19 So schon in PSIM S. 39f: «Now, the fundamental principles of a community,
which define what is ‹correct› or ‹incorrect›, ‹right› or ‹wrong›, ‹done› or ‹not
done›, are the most general common intentions of that community with respect
to the behaviour of members of the group. It follows that to recognize a feather-
less biped or dolphin or Martian as a person requires that one think thoughts of
the form, ‹We (one) shall do (or abstain from doing) actions of kind A in circum-
stances of kind C›. To think thoughts of this kind is not to classify or explain, but
to rehearse an intention.»
20 Vgl. EPM S. 166: «In other words, it [sc. the present line of thought] interprets
the correctness of Konstatierungen as analogous to the rightness of actions. Let
me emphasize, however, that not all ought is ought to be, nor all correctness the
correctness of actions.»
21 Vgl. etwa Wilfrid Sellars: Science and Metaphysics (London: Routledge & Paul,
1968) S. 75: «My present concern, however, is the vital distinction between rules
for doing and rules for criticizing. The distinction is essentially akin to that which
has been drawn between ‹ought to do› an ‹ought to be›. Thus the two kinds of rule
are internally related in a way which parallels the fact that ought-to-be’s imply
(with additional premises) ought-to-do’s, and ought-to-do’s imply ought-to-be’s.»
54 Stefan Heßbrüggen-Walter

Sie implizieren überdies, dass die von der Norm Betroffenen auf die Existenz
oder Nichtexistenz des jeweiligen Zustands hinzuwirken haben.22 So kann
man es z. B. als Zustandsnorm begreifen, dass existierende Ungleichheiten
in der Verteilung des globalen Reichtums beseitigt werden sollen, ohne dass
durch die Norm als solche konkrete Handlungswege zur Veränderung der
globalen Güterverteilung vorgeschrieben wären.
Auch semantische bzw. epistemische Normen sind nach Sellars solche
Zustandsregeln. Sie zeichnen also bestimmte Dispositionen zu linguisti-
schem Verhalten oder epistemischen Einstellungen (verstanden als Zustände
der Welt) als im Sinne der jeweiligen Gemeinschaft wünschenswert aus,
ohne aber konkrete Handlungsvollzüge zum Erreichen solcher Dispositionen
vorzuschreiben.23
Wenn aber der Erwerb oder die Artikulation von Wissen derart an Nor-
men gebunden sind, ist das Phänomen des Wissens selbst innerhalb einer rein
wissenschaftlichen Weltsicht nicht adäquat zu erfassen. Denn Wissen beruht
dann nicht allein darauf, dass wir uns in bestimmten genauer zu charakteri-
sierenden neuronalen Zuständen oder Zusammenhängen sozialer Interaktion
befinden, sondern darauf, dass wir uns wie auch unser Gegenüber als Person
und damit als ‹wissensfähig› anerkennen.24
Da es zudem kaum strittig sein dürfte, dass der Erwerb von Wissen das
letzte Ziel wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen darstellt, bedeutet
dies, dass Wissenschaft zwar sich selbst (etwa in der Wissenschaftssozio-
logie oder Wissenschaftsgeschichte) wissenschaftlich reflektieren kann, dass
aber dasjenige, was Wittgenstein ihren ‹Witz› nennen würde, innerhalb einer
wissenschaftlichen Theorie (auch in einer wissenschaftlichen Theorie über

22 Vgl. ibid. S. 184: «There are also intentions that something be the case. The latter,
however, are intentions, practical commitments, only by virtue of their conceptual
tie with intentions to do.»
23 Vgl. ibid. S. 76: «To use a hackneyed example, one ought to feel gratitude for
benefits received though feeling grateful is not something which one does, save
in that broad sense in which anything expressed by a verb in the active voice
is a doing. […] One ought, however, to criticize (an action proper) oneself for
not feeling gratitude and to take steps (again an action proper) to improve one’s
character.»
24 Dies ist die tiefere Bedeutung jener klassisch gewordenen Bemerkung aus EPM,
nach der wir uns bei jeder Verwendung des Wissensbegriffs im ‹logischen Raum
der Gründe› bewegen. Vgl. EPM S. 169: «The essential point is that in charac-
terizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical
description of that episode or state; we are placing it in the logical space of rea-
sons, or justifying and being able to justify what one says.»
Das Ganze im Blick 55

Wissenschaft) nicht angemessen auf den Punkt gebracht werden kann. Die
Verteidigung wissenschaftlicher Einsichten in lebensweltlichen Zusammen-
hängen z. B. kann sich, wenn diese Argumentation triftig ist, nicht allein auf
eine naturgegebene Autorität des wissenschaftlichen Tuns berufen, sondern
muss die dieser Tätigkeit zugrundeliegenden normativen Setzungen genauso
transparent machen, wie dies für andere lebensweltliche Akteure auch zu
fordern ist.
Umgekehrt kann unsere lebensweltliche Perspektive die Einsichten der
Wissenschaft nicht zur Gänze ausblenden: Ein lebensweltliches Verständ-
nis unserer Erde als einer Scheibe wäre in unserer epistemischen Umwelt
kaum noch sinnvoll zu verteidigen und gilt zweifelsohne als kritikwürdig.
Diese Einschätzung ist unabhängig davon, ob es Handlungen des Kritisier-
ten waren, die zu dieser Überzeugung geführt haben mögen und in welchem
Ausmaß diese Handlungen zurechenbar sind. Eine ähnliche Struktur be-
stimmt auch schon den Erwerb linguistischer Fähigkeiten: Ein Kind, das eine
Sprache erlernt, wird bei linguistischem Verhalten, das von der Norm der
jeweiligen Sprachgemeinschaft abweicht, nicht kritisiert, weil sein Verhal-
ten als willentliches Versagen (und also als Verstoß gegen eine Handlungs-
norm) anzusehen wäre, sondern weil Verstöße gegen linguistische Normen
innerhalb der jeweiligen Gruppe als nicht wünschenswert angesehen werden.
Epistemische Kritik muss also nicht durch den Nachweis gestützt werden,
dass die Handlungen, die zum Erwerb einer falschen Überzeugung führten,
für sich genommen unseren epistemischen Standards zuwiderlaufen.
Epistemische Kritik in diesem Sinne muss nun aber nicht bloß bestimmte
Überzeugungen o. Ä. betreffen, sondern kann sich auch auf die die Zulässig-
keit dieser Überzeugungen regulierenden Normen selbst beziehen. Absichten
sind nun jedoch genauso Bestandteil der Welt wie alle anderen denkbaren
Zustände von Menschen. Folglich kann sich epistemische Kritik auch auf
diese Normen als kollektive Absichten der Mitglieder einer bestimmten epi-
stemischen Gruppe beziehen, weil es sich auch bei diesen Absichten um
einen wünschenswerten oder abzulehnenden Zustand der Welt hindern kann.
Sellars ist also auf keinen ‹sozialen Naturalismus› festgelegt, der sich eta-
blierende Praxen als gegeben hinzunehmen hätte.

3. Philosophie als lokale Theorie der Rationalität

Auch Philosophen sind Personen und damit Mitglieder (mindestens) einer


epistemischen Gruppe. Ihnen steht es somit frei, sich kritisch sowohl zu in
56 Stefan Heßbrüggen-Walter

ihren Augen falschen Anwendungen geltender epistemischer Normen als


auch zur Geltung dieser Normen selbst zu verhalten. Eine Option, ange-
sichts einer solchen Konstellation das Eigenrecht philosophischer Reflexion
als eines Blicks auf das Ganze zu verteidigen, könnte also darin bestehen,
Philosophen als ‹Experten für Kritik› zu betrachten. Ein solches Verständnis
der Philosophie soll abschließend kurz skizziert werden.
Zunächst ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass zwar neben der
Dimension der Kritik an den von der Norm abweichenden Einstellungen
eines Gruppenmitglieds jedes Mitglied der Gruppe auch die Gültigkeit einer
oder mehrerer jener Normen in Frage stellen kann, die die jeweilige Gruppe
als solche konstituieren. Die Infragestellung aller Zustandsregeln zugleich
ist jedoch nur dann möglich, wenn man zugleich gewillt ist, damit auch die
Mitgliedschaft in der entsprechenden Gruppe aufzukündigen. Eine solche
Totalrevision unseres Welt- und Selbstverständnisses ist von der Philoso-
phie zwar des öfteren in Aussicht gestellt worden, kann aber kaum gelingen:
Aufgabe der Philosophie ist die lokale Verteidigung und Weiterentwicklung
rationaler Standards, nicht ihre vollständige Umstürzung.
Sellars’ normatives Verständnis von Rationalität und seine naturalistische
Beschreibung von Normen als kollektiven Absichten implizieren also ein his-
toristisches und naturalistisches Verständnis epistemischer Kritik. Kritik ist
immer an Normen gebunden, die sich kontingenterweise innerhalb unserer
sozialen Evolution als Regularitäten unserer Interaktion eingespielt haben
und die als Zustände der Individuen zu deuten sind, aus denen jeweils eine
solche ‹Wir›-Gruppe besteht.
Die Entwicklung und Verteidigung einer ‹lokalen Theorie der Rationa-
lität› ist vielleicht am deutlichsten anhand jener Aufgabe zu explizieren, die
Sellars selbst der Philosophie als dauerndes Problem aufgegeben hat – der
Frage, wie heute ein common-sense-Bild des Menschen in der Welt mit dem
wissenschaftlichen Bild des Menschen sinnvoll zusammengedacht werden
kann, wie also jenes Orientierungswissen, das wir alle ‹immer schon› be-
sitzen, heute rational verteidigt und in den Kontext einer insgesamt vernünf-
tigen Lebensform eingepasst werden kann. Aus der Perspektive des wis-
senschaftlichen Weltbilds erschiene dann der Mensch als vergesellschafte-
tes Tier mit äußerst komplexen Mechanismen der Verhaltenssteuerung und
Interaktion, die die Fähigkeit zur bewussten Distanznahme von eingespielten
Verhaltensmustern einschließt. Aus der Perspektive des common sense gälten
die Einsichten der Wissenschaften als Bereicherung unseres deskriptiven
Wissens über unsere Artgenossen, deren Relevanz für die Evolution unserer
normativen Einstellungen nicht unterschätzt werden dürfte.
Das Ganze im Blick 57

Sellars geht davon aus, dass es uns gelingen müsse, in the long run eine
synoptische Zusammenschau beider Perspektiven zu erreichen, die die Be-
schränktheit des jeweiligen Standpunkts aufhebt.25 Eine solche Erwartung
übersieht jedoch die Tatsache, dass faktisch eine solche Vermittlung beider
Perspektiven immer schon stattfindet. Denn auch Hirnforscher und Teilchen-
physiker führen ein Leben, das nicht zur Gänze in der wissenschaftlichen
Weltsicht aufgeht. Umgekehrt beeinflusst auch die Wissenschaft die episte-
mischen Normen unseres Alltagsverständnisses.
Ein naturalistisches Verständnis der Aufgabe der Philosophie würde dem
Philosophen in dieser Situation die Aufgabe zuschreiben, der Dominanz der
wissenschaftlichen Perspektive den Weg dadurch den Weg zu bereiten, dass
die Wahl dieses Standpunktes als anderen Optionen überlegen ausgewie-
sen wird. Ein historistisches Verständnis der Philosophie würde darauf ver-
weisen, dass auch die wissenschaftliche Perspektive nur eine Perspektive
darstellt, die sich insofern den kontingent sich einstellenden Formen außer-
wissenschaftlichen Orientierungswissens unterzuordnen habe, weil nur letz-
tere sich unter dem Strich als lebensweltlich relevant herausstellen.
Eine auf dem Eigenrecht philosophischer Reflexion beharrende Alter-
native könnte demgegenüber darauf beharren, dass die Wahl, vor der wir
hier stehen, nicht in der Einnahme des einen oder des anderen Standpunkts
besteht, sondern ‹wir› uns immer neu darauf zu verständigen haben, wie wir
in der Spannung beider Perspektiven zu leben haben. Philosophische Re-
flexion kann diesen Ort jenseits der zwei alternativen Perspektiven deswegen
besetzen, weil sie weder die Beobachterperspektive der Wissenschaft, noch
die Teilnehmerperspektive personaler Anerkennung absolut setzt, sondern
vielmehr beständig zwischen beiden Perspektiven oszilliert und die jeweils
neu auf dem Spiel stehende Synthese beider Perspektiven dadurch bewerk-
stelligt, dass sie argumentativ gestützt den Spielraum auslotet, der uns zwi-
schen beiden Weltsichten bleibt.26

25 Vgl. PSIM S. 38ff.


26 An dieser Stelle stimme ich nicht mit Sellars überein, der eine Aufhebung un-
seres personalen Welt- und Selbstverhältnisses im wissenschaftlichen Weltbild
für möglich hält, vgl. dazu PSIM S. 40: «Thus, to complete the scientific image
we need to enrich it not with more ways of saying what is the case, but with the
language of community and individual intentions, so that by construing the ac-
tions we intend to do and the circumstances in which we intend to do them in
scientific terms, we directly relate the world as conceived by scientific theory
to our purposes, and make it our world and no longer an alien appendage to the
world in which we do our living.» Die hier vorgeschlagene Präponderanz des wis-
58 Stefan Heßbrüggen-Walter

Eine solche Sicht der Philosophie und ihrer Aufgabe ist dadurch vor
einem unreflektierten Platonismus gefeit, dass sie sich immer der Begrenzt-
heit und Kontingenz ihrer eigenen Standards und ihrer Bindung an unser
immer schon vorhandenes Orientierungswissen bewusst bleibt. Die Bindung
an epistemische Normen trifft auch den Philosophen, der in eine Sprache
hineinsozialisiert sowie in bestimmten Traditionen geschult worden ist. Eine
voraussetzungslose Totalrevision unseres Selbst- und Weltverständnisses ist
also schon aus begrifflichen Gründen unmöglich – denn auch ein Philosoph
kann auf die Benutzung einer Sprache nicht verzichten und somit von der
damit einhergehenden Bindung seines Denkens an einen historisch entstan-
denen ‹Horizont› nicht zur Gänze absehen.27 Einsichten der Philosophie sind
also nur eine Stimme im vielfältigen Diskurs, den wir in vielerlei sozialen
Zusammenhängen über das «Ganze» führen. Ihre Stimme verdient es jedoch,
Gehör zu finden: Sie spiegelt den Prozess der Selbstverständigung einer die
Formen ihres jeweiligen Lebens immer neu aushandelnden Gesellschaft und
macht explizit, wie das Ganze zu denken wäre, ohne den Anspruch zu ver-
treten, es je zur Gänze erfasst zu haben.28

senschaftlichen Weltbildes ist jedoch – dies ist von zentraler Bedeutung für ein
richtiges Verständnis von Sellars – kein fait accompli, sondern beruht ihrerseits
auf einer normativen Entscheidung, der ‹wir› nicht verpflichtet sind zu folgen.
27 Somit gilt auch für die Philosophie dieselbe Einschränkung, die Sellars in EPM
S. 170 für empirisches Wissen im Allgemeinen wie auch für die Wissenschaft
im Besonderen festschreibt: «For empirical knowledge, like its sophisticated ex-
tension, science, is rational, not because it has a foundation but because it is a
self-correcting enterprise which can put any claim in jeopardy, though not all at
once.»
28 Vgl. EPM S. 172: «the grand strategy of the philosophical enterprise is once again
directed towards that articulated and integrated vision of man-in-the-universe –
or, shall I say discourse-about-man-in-all-discourse – which has traditionally
been its goal.» Ihr immer neu anzustrebendes Ziel ist das Bild des Menschen als
«Man himself in the middle of his journey from the grunts and groans of the cave
to the subtle and polydimensional discourse of the drawing room, the laboratory,
and the study, the language of Henry and William James, of Einstein and of the
philosophers who, in their efforts to break out of discourse to an arché beyond
discourse, have provided the most curious dimension of all.»
Wissenschaft und Philosophie
Studia philosophica 66/2007

M ICHAEL E SFELD

La philosophie
comme métaphysique des sciences

The paper sketches out the conception of philosophy as metaphysics of science, seek-
ing to construct a complete and coherent view of the world including ourselves on the
basis of science. It goes into ontological commitments stemming from fundamental
physics, notably the ontology of structural realism, and it relates these issues to the
controversy between Humean metaphysics and a metaphysics of powers. The paper
agues that the ontological commitments called for by fundamental physics are not
sufficient to construct a complete and coherent view of the world; on the contrary,
we have to let commitments stemming from the special sciences exert an influence
on the ontology of fundamantal physics itself.

1. Introduction

Depuis les années soixante nous constatons une renaissance de la métaphy-


sique au sens du projet de réunir toutes nos connaissances dans une vision
cohérente et complète du monde y compris nous-mêmes. Ce projet dépend
évidemment des sciences comme source de connaissances. D’autre part, les
sciences dépendent à leur tour de la philosophie, car toute théorie scientifique
requiert une interprétation, et c’est la philosophie en tant qu’épistémologie
des sciences qui réfléchit sur les critères d’interprétation des théories scienti-
fiques. Cette dépendance s’étend de plus jusqu’à la métaphysique au sens
du projet mentionné, parce que l’intégration dans une vision cohérente du
monde en entier est un critère important dans l’interprétation des théories
scientifiques. La philosophie comme métaphysique des sciences est, en bref,
le projet de développer une vision cohérente et complète du monde y compris
nous-mêmes sur la base des connaissances qu’apportent les sciences.
Ce projet accorde un statut privilégié aux théories de la physique fonda-
mentale. Celles-ci sont des théories universelles, portant sur tout ce qu’il y a
dans le monde. C’est par rapport au domaine de ces théories qu’il s’applique
un principe de complétude causale, nomologique et explicative : pour toutes
les occurrences de propriétés physiques, dans la mesure où une occurrence
d’une propriété physique a des causes, se conforme à des lois et possède une
62 Michael Esfeld

explication, elle a des causes physiques, elle se conforme à des lois physi-
ques et elle possède une explication en termes physiques. Toutes les autres
sciences sont des sciences spéciales par contraste aux théories physiques
fondamentales et universelles, car leur domaine d’application est limité. Ces
théories requièrent en dernière analyse le recours à des causes, des lois et des
explications de la physique fondamentale.
Si l’on n’admettait pas ce principe de complétude, on contredirait des
résultats bien établis de la physique : on s’engagerait en ce cas à mainte-
nir que les théories physiques sont fausses ou inapplicables par rapport à
certains phénomènes microphysiques, car des causes, des lois et des expli-
cations non-physiques interviendraient dans ce domaine.1 Le principe de
complétude causale, nomologique et explicative du domaine physique est
une bonne raison pour soutenir le principe suivant de survenance globale :
chaque monde possible qui est un double du domaine physique fondamental
du monde réel est un double de tout ce qu’il y a dans le monde réel.2 Ces deux
principes aboutissent à un argument fort en faveur du réductionnisme onto-
logique, c’est-à-dire la thèse selon laquelle tout ce qu’il y a dans le monde
est identique à des occurrences de propriétés physiques fondamentales et
leurs configurations.3
Ce sont donc les mêmes entités au sens d’occurrences de propriétés qui
rendent vraies les descriptions de la physique fondamentale ainsi que les des-
criptions des sciences spéciales. Le réductionnisme ontologique implique dès
lors la possibilité principale de réduction des théories des sciences spéciales à
des théories de la physique fondamentale. Autrement, les théories des sciences
spéciales porteraient soit sur des entités qui ne sont pas identiques à des con-
figurations d’occurrences de propriétés physiques, soit elles se trouveraient
éliminées de notre système de savoir scientifique, ne possédant qu’une valeur
instrumentale. Christian Sachse a montré dans son article dans ce volume
comment on peut établir cette possibilité de réduction conservative des théo-
ries des sciences spéciales dans le but de revendiquer leur caractère indispen-
sable pour un système complet et cohérent de notre savoir. Dans les réflexions
qui suivent, je me base sur les résultats de l’article de Christian Sachse.

1 Voir Michael Esfeld : La philosophie de l’esprit (Paris : Armand Colin, 2005)


chapitre 2.
2 Voir Frank Jackson : From metaphysics to ethics. A defence of conceptual analysis
(Oxford : Oxford University Press, 1998) pp. 9-14 et 24-27.
3 Voir Michael Esfeld : La philosophie des sciences (Lausanne : Presses polytech-
niques et universitaires romandes, 2006), chapitres 23 et 24.
La philosophie comme métaphysique des sciences 63

Le but de cet article est d’une part d’introduire le sujet d’une métaphy-
sique des sciences et d’esquisser des traits centraux d’une vision du monde
basée sur les sciences, et d’autre part d’engager une réflexion méthodologique
sur la possibilité de mettre en œuvre le critère de vision cohérente et complète
du monde pour construire une métaphysique au niveau des connaissances
actuelles. La thèse que je chercherai à établir sous cet aspect est la suivante :
si l’on se base uniquement sur les engagements ontologiques que demande la
physique fondamentale, on n’aboutira pas à une vision cohérente et complète
du monde. Bien au contraire, il faut permettre à des engagements ontologiques
provenant des sciences spéciales d’exercer une influence jusqu’à la métaphysi-
que de la physique fondamentale. En bref, bien que la physique fondamentale
ait une position privilégiée en métaphysique des sciences, il faut appliquer un
critère de cohérence qui tient compte de tout notre savoir scientifique afin de
mener à bien le projet mentionné. Dans la prochaine section, j’esquisserai des
engagements ontologiques qui proviennent de la physique fondamentale et
qui se laissent résumer dans la thèse de réalisme structurel. Dans la troisième
section, j’emploierai le thème d’une métaphysique humienne vs. une méta-
physique de pouvoirs pour établir la thèse méthodologique mentionnée.

2. Le réalisme structurel

Les théories physiques fondamentales contemporaines sont la relativité gé-


nérale et la physique quantique. La première traite l’espace-temps, y compris
la gravitation, tandis que la seconde considère l’énergie-matière non-gravita-
tionnelle. La relativité générale regarde la gravitation comme étant identique
à la courbure de l’espace-temps. Plus précisément, le champ gravitationnel
est inclus dans le champ métrique qui détermine la géométrie de l’espace-
temps. Celui-ci est courbé à cause de la présence de la matière.
La théorie de la relativité générale nous engage à accepter l’existence
des points de l’espace-temps : les propriétés des champs sont instanciées en
ceux-ci. Mais elle empêche de regarder les points de l’espace-temps comme
possédant des propriétés intrinsèques. L’hypothèse qu’ils possèdent des pro-
priétés intrinsèques contredit la théorie de la relativité générale ; c’est ce que
montre un argument d’Einstein connu comme l’argument du trou.4 Les points

4 Voir pour la discussion actuelle John Earman, John Norton : What price spacetime
substantivalism ? The hole story, in British Journal for the Philosophy of Science
38 (1987) pp. 515-525.
64 Michael Esfeld

de l’espace-temps ne sont rien que les points d’ancrage des relations métri-
ques. En ce qui concerne l’espace-temps, l’ontologie que suggère la relativité
générale est donc celle qui est connue comme réalisme structurel : il y a des
structures en guise de relations physiques concrètes, à savoir des relations
métriques. Les relations requièrent, bien sûr, des objets entre lesquels elles
existent. Pourtant, ces objets – en l’occurrence, les points de l’espace-temps –
ne sont rien d’autre que les points d’ancrage des relations, ne possédant pas
de propriétés intrinsèques au-delà des relations qui existent entre eux.5
Bien que le projet physique d’unir la relativité générale à la physique
quantique n’ait pas encore abouti, la physique quantique concorde avec la
théorie de la relativité générale dans la position philosophique de réalisme
structurel. La physique quantique décrit les états des systèmes physiques
comme étant intriqués (ou enchevêtrés). En bref, les états de plusieurs sys-
tèmes sont corrélés de manière à être des états de superposition de toutes
les valeurs possibles des propriétés quantiques des systèmes en question
au lieu d’être des états dans lesquels chaque système possède des valeurs
numériques définies de ses propriétés. Schrödinger a mis en évidence ce
que l’intrication quantique veut dire en concevant l’exemple d’un chat qui
est dans un état de superposition d’être vivant et d’être mort, état relatif à
un atome se trouvant dans un état de superposition de non-désintégration
et de désintégration. Le théorème de Bell et d’autres arguments montrent
qu’il est exclu que les relations d’intrication se basent sur des propriétés
intrinsèques des systèmes quantiques. En ce qui concerne la physique quan-
tique, au fond, la matière consiste en des relations d’intrication sans posséder
de propriétés intrinsèques ; les systèmes matériels ne sont rien que ce qui
porte ces relations, à savoir les points d’ancrage entre lesquels existent ces
relations.6
Si l’on se limite à une métaphysique des sciences qui se base unique-
ment sur les théories physiques fondamentales, on peut s’arrêter là. Prenant
le noyau du formalisme de la physique quantique comme point de départ,
l’interprétation la plus élégante consiste à accepter l’équation de Schrödinger
comme décrivant la dynamique complète des systèmes quantiques. Selon

5 Voir Michael Esfeld, Vincent Lam: Moderate structural realism about space-time, à
paraître in Synthese, prépublication Synthese online http://springerlink.metapress.
com/content/1573-0964. Voir également les références dans cet article.
6 Voir Michael Esfeld : Quantum entanglement and a metaphysics of relations, in
Studies in History and Philosophy of Modern Physics 35B (2004) pp. 601-617.
Voir également les références dans cet article.
La philosophie comme métaphysique des sciences 65

cette dynamique, les relations d’intrication se propagent de manière univer-


selle dans la nature de sorte qu’elles touchent en fin de compte tous les sys-
tèmes dans la nature, ne se dissolvant jamais. Il n’est pas possible de dire que
l’intrication est une caractéristique universelle uniquement au niveau micro-
scopique des systèmes quantiques, mais que les systèmes macroscopiques
possèdent des valeurs numériques définies de leurs propriétés, n’étant pas
touchés par les intrications quantiques. Si les intrications sont universelles
au niveau des systèmes quantiques microscopiques, elles sont universelles
et perpétuelles tout court, car les systèmes macroscopiques interagissent
avec les systèmes microscopiques et en sont composés. C’est que montre
l’exemple du chat de Schrödinger : si les intrications persistent au niveau
des systèmes quantiques microscopiques, elles touchent également des sys-
tèmes macroscopiques comme des chats. Par conséquent, pour qu’il y ait
des systèmes macroscopiques qui sont dans des états de valeurs numériques
définies de leurs propriétés, il faut qu’il y ait des processus de dissolution
d’intrications au niveau microscopique des systèmes quantiques.
On se trouve ici face à la situation suivante : l’interprétation la plus élé-
gante d’une théorie physique fondamentale n’est pas suffisante comme base
pour une métaphysique cherchant à construire une vision cohérente et com-
plète du monde. Toutes les théories scientifiques à part la physique fon-
damentale présupposent que les systèmes qu’elles considèrent possèdent
toujours des valeurs numériques bien définies de leurs propriétés. Celles-ci
ne sont pas des théories fondamentales et universelles. Néanmoins, leurs
descriptions de domaines spécifiques du monde peuvent revendiquer d’être
aussi correctes que celles de la physique fondamentale – au lieu d’avoir
seulement une valeur instrumentale en décrivant comment le monde appa-
raît à des observateurs locaux qui n’ont pas d’accès cognitif aux intrications
quantiques. Si l’on accepte ces théories comme proposant des descriptions
correctes du monde, on s’engage à souscrire à une interprétation de la physi-
que quantique selon laquelle il y a des dissolutions de relations d’intrications,
connues comme réductions d’états, au niveau microscopique des systèmes
quantiques. Autrement dit, on ne peut dans ce cas pas regarder l’équation de
Schrödinger comme décrivant la dynamique complète des systèmes quanti-
ques, mais il faut modifier cette équation. Il y a aujourd’hui des propositions
concrètes d’une telle modification qui aboutissent à une seule dynamique
unifiée pour les systèmes microscopiques et macroscopiques.7 Toutefois,

7 Voir notamment Giancarlo Ghirardi, Alberto Rimini & Tullio Weber : Unified
dynamics for microscopic and macroscopic systems, in Physical Review D34
66 Michael Esfeld

dans l’état actuel des recherches, toutes ces propositions rencontrent des
problèmes physiques.
Selon cette interprétation, la physique quantique en tant que théorie
physique fondamentale inclut une dynamique qui conçoit des processus de
dissolutions d’états intriqués. Cette théorie porte ainsi également sur des
propriétés possédant une valeur numérique définie, à savoir des propriétés
physiques classiques. S’il y a des processus de dissolution d’intrications
quantiques dans la nature, l’intrication universelle caractérise notamment
l’état – ou l’époque – initial de l’univers. Puis, il y a un développement qui
mène à des réductions d’état et ainsi à des systèmes quantiques qui possèdent
des propriétés dotées de valeurs numériques définies, notamment une posi-
tion bien définie. Rien n’empêche de regarder ces propriétés ensuite comme
des propriétés intrinsèques, à savoir des propriétés intrinsèques dérivées des
relations d’intrication qui sont primordiales. Sur cette base on peut ensuite
reconstruire le développement des systèmes physiques complexes comme
des molécules, des organismes et finalement des êtres humains.
En résumé, il y a un argument de cohérence de notre système de savoir
scientifique comme tout qui provient des sciences moins fondamentales que
la physique quantique et qui parle en faveur d’un certain type d’interpréta-
tion en physique quantique. Par conséquent, la description physique fonda-
mentale du monde à laquelle s’appliquent les principes de complétude et
de survenance mentionnés au début de l’article est une description qui ne
découle pas uniquement de la physique fondamentale en tant que telle, mais
qui inclut des critères d’interprétation de la physique fondamentale provenant
des sciences spéciales. On poursuivra ce thème dans la prochaine section.

3. La métaphysique humienne
vs. la métaphysique de pouvoirs

On a considéré dans la section précédente le réalisme structurel comme


position métaphysique basée sur les théories physiques fondamentales et
ses limites – à savoir les processus de dissolution d’intrications quantiques,

(1986) pp. 470-491. Voir également John S. Bell : Are there quantum jumps ?, in
Schrödinger. Centenary celebration of a polymath, éd. par C. W. Kilmister (Cam-
bridge : Cambridge University Press, 1987) pp. 41-52. Réimprimé in John S. Bell :
Speakable and unspeakable in quantum mechanics (Cambridge : Cambridge Uni-
versity Press, 1987) pp. 201-212.
La philosophie comme métaphysique des sciences 67

aboutissant à des propriétés physiques classiques. Mais on n’a pas encore


considéré la force modale des structures et propriétés qui sont l’objet des
théories physiques fondamentales. Sur ce plan, il y a deux positions métaphy-
siques qui s’opposent. L’une d’elles soutient qu’il y a des connexions néces-
saires dans la nature, tandis que l’autre refuse de reconnaître des connexions
nécessaires. Cette dernière position est connue aujourd’hui comme méta-
physique humienne, rendant ainsi hommage à David Hume.
La version la plus éminente de cette position est la thèse de survenance
humienne de David Lewis : le monde est la distribution des propriétés phy-
siques fondamentales en des points de l’espace-temps. Celles-ci sont des
propriétés intrinsèques et catégorielles.8 Une propriété est catégorielle si et
seulement si elle n’est pas définie par ses effets – c’est-à-dire, si et seule-
ment si elle n’est pas définie de façon causale. Il n’y a pas de dispositions
ou pouvoirs en sus des propriétés catégorielles instanciées en des points de
l’espace-temps.9
La distribution des propriétés physiques fondamentales dans tout l’es-
pace-temps manifeste des régularités. Certaines de ces régularités sont des
lois de la nature. D’après la métaphysique humienne, il y a premièrement la
distribution des propriétés physiques fondamentales dans tout l’espace-temps
et puis les lois de la nature comme survenant sur cette distribution. Les lois
de la nature sont des propositions qui résument les régularités pertinentes
dans cette distribution. Il en va de même pour la causalité. La distribution
entière des propriétés physiques fondamentales dans tout l’espace-temps
fixe entre quelles occurrences de propriétés il existe une relation de cause
à effet. Par conséquent, si oui ou non deux quelconques occurrences de
propriétés sont liées de manière causale dépend de ce qu’il y a dans le reste
du monde. Selon la théorie humienne de la causalité comme régularité, la
causalité n’est rien que la succession régulière d’occurrences de propriétés
de mêmes types dans tout l’espace-temps. La théorie contrefactuelle de la
causalité que soutient notamment David Lewis lui-même est une théorie
sophistiquée de la causalité comme régularité : les relations causales s’ex-
priment à travers des propositions contrefactuelles. La valeur de vérité de
ces propositions est déterminée notamment par les lois de la nature qui sur-

8 Voir David Lewis: Philosophical papers. Volume 2 (Oxford : Oxford University


Press, 1986), introduction, pp. ix-x.
9 Voir Georg Sparber : Powerful causation, in John Heil. Symposium on his onto-
logical point of view, éd. par M. Esfeld (Frankfurt a. M. : Ontos, 2006) pp. 123-
137. Voir également les références dans cet article.
68 Michael Esfeld

viennent sur la distribution entière des propriétés physiques fondamentales


dans tout l’espace-temps.10
Concevoir les propriétés physiques fondamentales uniquement comme
des propriétés catégorielles a pour conséquence que la métaphysique hu-
mienne s’engage à accepter la distribution entière des propriétés physiques
fondamentales dans tout l’espace-temps comme un fait primitif, c’est-à-dire
comme quelque chose que l’on ne peut pas expliquer. Est contingente non
seulement la distribution des propriétés physiques fondamentales dans tout
l’espace-temps qu’il y a en fait, mais aussi chaque élément dans cette dis-
tribution. C’est ce que revient à dire la proposition selon laquelle il n’y pas
de connexions nécessaires dans la nature. Par conséquent, pour chaque oc-
currence individuelle d’une propriété physique fondamentale en un point
de l’espace-temps, il est concevable et métaphysiquement possible de tenir
cette occurrence comme fixe et de varier toutes les autres occurrences de
propriétés. Si l’on tient comme admis que l’espace-temps et la distribution
des propriétés physiques fondamentales dans l’espace-temps ont pour ori-
gine une singularité initiale, le « big bang », étant donné le « big bang », la
manière dont développe la distribution des propriétés physiques fondamen-
tales (et avec elle la métrique de l’espace-temps lui-même) est totalement
contingente. Etant donné un monde possible qui est un double exact de la
singularité initiale du monde réel, le développement de la distribution des
propriétés physiques fondamentales dans ce monde peut être entièrement
différent du développement de la distribution des propriétés physiques fon-
damentales dans le monde réel. En bref, les propriétés physiques instanciées
en un point de l’espace-temps quelconque n’imposent aucune restriction sur
les propriétés physiques qu’il peut y avoir en d’autres points de l’espace-
temps. Par conséquent, le fait qu’il y a des régularités dans la distribution
des propriétés physiques fondamentales dans l’espace-temps – et lesquelles
sont ces régularités – doit être accepté comme un fait primitif.11
Si l’on recule devant cette conséquence, il faut concevoir les proprié-
tés comme incluant des dispositions, plus précisément comme étant des
pouvoirs. Une propriété en tant que pouvoir est quelque chose qui produit
d’autres occurrences de propriétés. Par conséquent, certaines occurrences de

10 Voir David Lewis : Causation, in Journal of Philosophy 70 (1973) pp. 556-567.


Réimprimé dans David Lewis : Philosophical papers. Volume 2 (Oxford : Oxford
University Press, 1986) pp. 159-172.
11 Voir Helen Beebee : Does anything hold the world together ?, in Synthese 149
(2006) pp. 509-533.
La philosophie comme métaphysique des sciences 69

propriétés sont la raison d’existence d’autres occurrences de propriétés. Il y


a ainsi des connexions nécessaires dans la nature. La causalité n’est pas une
simple succession régulière d’occurrences de propriétés, mais la production
de la propriété qui est l’effet par la propriété qui est la cause. En tant que pou-
voirs, les propriétés sont définies de manière causale, c’est-à-dire par les ef-
fets qu’elles peuvent engendrer. Les lois de la nature découlent des pouvoirs
que sont les propriétés. Elles sont ainsi métaphysiquement nécessaires.
Les pouvoirs ne sont pas des potentialités pures, mais des propriétés réel-
les et actuelles. L’idée est que les propriétés en tant qu’étant certaines qua-
lités (ce que saisit leur description en termes catégoriels) sont des pouvoirs
de produire d’autres qualités.12 Les pouvoirs ne sont ainsi pas de propriétés
additionnelles. En tant qu’étant d’une certaine manière – c’est-à-dire en tant
qu’étant certaines qualités – les occurrences de propriétés qu’il y a dans le
monde sont des pouvoirs de produire d’autres occurrences de propriétés. Il
n’y a aucun désaccord entre la métaphysique humienne et la métaphysique
de pouvoirs par rapport aux propriétés qu’il y a dans le monde, les propriétés
fondamentales étant identifiées par les théories physiques. Leur désaccord
concerne l’ontologie de ces mêmes propriétés : la question est de savoir si
les occurrences de propriétés se succèdent simplement dans l’espace-temps
ou si elles sont telles que chaque occurrence d’une propriété produit d’autres
occurrences de propriétés.
La métaphysique de pouvoirs doit accepter comme primitif le fait que
les propriétés sont des pouvoirs – plus précisément le fait qu’en étant d’une
certaine manière, étant d’une certaine qualité, chaque occurrence d’une pro-
priété est le pouvoir de produire d’autres occurrences de propriétés. Toute-
fois, en reconnaissant ce fait comme primitif, la métaphysique de pouvoirs
n’a pas besoin d’accepter la distribution entière des propriétés physiques
fondamentales dans tout l’espace-temps comme primitive. Si certaines oc-
currences de propriétés sont la raison d’existence d’autres occurrences de
propriétés en produisant celles-ci, seule l’existence des premières constitue
un fait primitif. Au cas où le monde est déterministe, seul la distribution
des propriétés physiques fondamentales à l’état initial de l’univers (le « big

12 Voir notamment Sydney Shoemaker : Causality and properties, in Time and cause,
éd. par P. van Inwagen (Dordrecht : Reidel, 1980) pp. 109-135 (réimprimé in Syd-
ney Shoemaker : Identity, cause, and mind. Philosophical essays [Cambridge :
Cambridge University Press, 1984] pp. 206-233) ; John Heil : From an ontological
point of view (Oxford : Oxford University Press, 2003) ; Alexander Bird : Nature’s
metaphysics. Laws and properties (Oxford : Oxford University Press, 2007).
70 Michael Esfeld

bang ») doit être traitée comme fait primitif. Les pouvoirs instanciés à l’état
initial de l’univers sont en fin de compte la raison d’existence de toutes les
autres occurrences de propriétés dans le monde.
Y a-t-il des arguments qui peuvent trancher sur la controverse entre la
métaphysique humienne et la métaphysique de pouvoirs ? La métaphysique
humienne regarde les propriétés comme étant uniquement catégorielles. Par
conséquent, le humien doit être capable de caractériser les propriétés qu’il y a
dans le monde indépendamment des relations causales qui existent entre elles,
c’est-à-dire indépendamment de leurs effets. Pour une quelconque propriété
de type F, les relations causales dans lesquelles se trouvent les occurrences de
F varient d’un monde possible à l’autre, dépendant de tout ce qu’il y a dans
le monde en question. Il en va de même pour les lois dans lesquelles figure
F. Sur cette base, beaucoup d’adhérents à une métaphysique de pouvoirs
adressent l’objection suivante aux humiens : nous avons un accès cognitif à
n’importe quelle propriété physique F uniquement à travers les effets qu’ont
les occurrences de F. Autrement dit, nous pouvons caractériser F uniquement
en termes des effets qu’ont ses occurrences, à savoir comme la propriété
qui a les effets G, H, J, etc. Cette objection a été mise en avant par Sydney
Shoemaker en 1980 (op. cit.) et sert de base pour sa théorie causale des pro-
priétés qui est une version de la métaphysique de pouvoirs. Cette objection
a ensuite été développée notamment par rapport à la physique fondamentale,
soutenant que les théories physiques caractérisent les propriétés physiques
fondamentales en termes dispositionnels et non en termes catégoriels.13
Cette objection constitue un argument fort contre la métaphysique hu-
mienne, car celle-ci se voit comme métaphysique empiriste, répudiant la
reconnaissance de toute sorte d’entité au-delà de ce qui peut être caractérisé
en termes des sciences empiriques. Si les propriétés physiques fondamenta-
les étaient catégorielles et intrinsèques, nous ne pourrions pas les connaître
en tant que catégorielles et intrinsèques. Il n’y a dès lors aucune raison de
supposer que les propriétés physiques fondamentales sont catégorielles et
intrinsèques. Néanmoins, cette conclusion n’aboutit pas automatiquement à
une métaphysique de pouvoirs. Deux voies restent ouvertes : soit on main-
tient que les propriétés physiques sont intrinsèques, mais dispositionnelles
– c’est la voie que poursuivent Shoemaker et la version la plus répandue de
la métaphysique de pouvoirs –, soit on soutient que les propriétés physiques
sont catégorielles, mais non intrinsèques.

13 Voir notamment Stephen Mumford : The ungrounded argument, in Synthese 149


(2006) pp. 471-489.
La philosophie comme métaphysique des sciences 71

C’est ici qu’intervient le réalisme structurel. Il n’est pas de tout obliga-


toire de caractériser les propriétés physiques fondamentales en termes dispo-
sitionnels. Bien au contraire, les théories physiques fondamentales contem-
poraines proposent une caractérisation en termes structurels, c’est-à-dire une
caractérisation en termes de certaines relations physiques concrètes (et non
en termes de propriétés intrinsèques, fussent-elles catégorielles ou disposi-
tionnelles). Il s’agit de relations métriques eu égard à l’espace-temps et de
relations d’intrications quantiques eu égard à l’énergie-matière non-gravita-
tionnelle. Rien n’empêche de concevoir ces structures (relations physiques)
comme étant catégorielles, sans contenir de dispositions ou de pouvoirs.
Il est vrai que les probabilités sont beaucoup plus importantes en physi-
que quantique qu’en physique classique. Mais ce fait ne nous engage pas à
souscrire à une ontologie selon laquelle les systèmes quantiques possèdent
certaines dispositions irréductibles. Même si l’on admet des processus de
dissolution d’intrications quantiques (réductions d’états), on n’est pas forcé
de reconnaître des dispositions fondamentales des systèmes quantiques –
par exemple, une disposition de localisation spontanée (acquérir une valeur
numérique définie de la position). Etant donné que le humien doit en tout
cas accepter la distribution entière des propriétés et relations physiques fon-
damentales comme fait primitif, reconnaître des processus de dissolution
d’intrications quantiques dans cette distribution ne pose aucun problème
particulier. En bref, on peut appliquer la conception humienne des lois de
la nature à l’équation décrivant ces processus et adopter une interprétation
humienne des probabilités quantiques en termes de fréquences.14
L’adhérent à la métaphysique humienne est dès lors en mesure de parer
l’attaque provenant de notre accès cognitif aux propriétés physiques fonda-
mentales : il faut remplacer l’ontologie des propriétés intrinsèques et caté-
gorielles par l’ontologie du réalisme structurel, en concevant les structures
comme des relations catégorielles. La thèse humienne dans ce contexte est
la suivante : ce qui semble être une caractérisation des propriétés physiques
fondamentales en termes causaux-dispositionnels peut toujours être éliminé
en faveur d’une caractérisation en termes structurels, concevant les proprié-
tés en question comme certaines relations (structures), mais pas comme des
relations causales. Les relations spatio-temporelles ainsi que les relations
d’intrications quantiques ne sont pas des relations causales en tant que telles.

14 Voir Dennis Dieks : Possibilities, laws of nature and quantum mechanics, in The
controversial relationships between science and philosophy. A critical assessment,
éd. par G. Auletta (Cité du Vatican : Libreria Editrice Vaticana, 2006) pp. 191-209.
72 Michael Esfeld

Leur caractérisation en termes structurels n’est pas forcément une caracté-


risation en termes de pouvoirs de produire certains effets. Il en va de même
pour les propriétés de l’énergie-matière non-gravitationnelle qui ne sont pas
touchées par les intrications quantiques comme, par exemple, la charge. Eu
égard à ces propriétés, une caractérisation en termes de certaines structures
qui ne sont pas causales en tant que telles, à savoir certaines relations de sy-
métrie, est également disponible. Rien n’empêche de concevoir ces relations
de symétrie en termes de régularités humiennes.15
Néanmoins, si le humien remplace l’ontologie des propriétés catégoriel-
les et intrinsèques par l’ontologie du réalisme structurel, il paie un certain
prix : il abandonne l’atomisme en faveur du holisme. Le monde ne consiste
pas en des atomes au sens d’entités ponctuelles (par exemple des points de
l’espace-temps) qui instancient des propriétés intrinsèques de sorte que l’on
peut tenir une quelconque de ces entités comme fixe et concevoir toutes les
autres comme variées (cf. la remarque plus haute sur la contingence en méta-
physique humienne). Bien au contraire, il y a des relations dans le monde
sans que ces relations soient basées sur des propriétés intrinsèques. La nature
est donc interconnectée d’une manière plus étroite que la vision d’atomes
instanciant des propriétés intrinsèques ne le suggère. Le humien doit en tout
cas faire ce pas de l’atomisme au holisme pour être en mesure de réfuter
l’objection mentionnée ci-dessus et pour arriver à une position métaphysique
qui est compatible avec la physique contemporaine.
Toutefois, remplacer la vision d’atomes portant des propriétés intrinsè-
ques par la vision de structures au sens de relations physiques concrètes ne
touche pas le noyau de la métaphysique humienne, à savoir le refus de recon-
naître des connexions nécessaires entre des entités distinctes dans la nature.
Les relations requièrent évidemment des objets entre lesquelles elles existent.
Mais cette trivialité ne revient pas à dire qu’il y a des connexions métaphysi-
quement nécessaires entre les objets qui portent les relations. Les objets ne
peuvent pas être considérés en séparation des relations. Il serait entièrement
faux de concevoir le réalisme structurel comme soutenant qu’il y a en premier
lieu des objets qui sont ensuite placés dans des relations (« premier lieu » et
« ensuite » au sens d’un ordre logique, pas d’un ordre temporel). Les objets ne
sont rien d’autre que les points d’ancrage des relations. Leurs propriétés sont
les relations qui existent entre elles. En bref, ce qui existe sont certaines struc-
tures au sens de certaines relations physiques concrètes. Etant donné une rela-

15 Voir Stathis Psillos: What do powers do when they are not manifested ?, in Philo-
sophy and Phenomenological Research 72 (2006) pp. 137-156. Voir section 6.
La philosophie comme métaphysique des sciences 73

tion quelconque il y a évidemment au moins deux objets comme points d’an-


crage de la relation en question, mais l’entité qui existe est la relation-avec-
ses-objets, et non des objets qui sont ensuite placés dans des relations.
Comme il y a une pluralité de structures au sens mentionné de relations
physiques concrètes dans le monde, la question se pose de savoir s’il y a des
connexions nécessaires entre ces structures. Rien en physique contempo-
raine n’exige d’admettre des connexions nécessaires. Mais rien en physique
contemporaine n’empêche de reconnaître des connexions nécessaires non
plus. La physique contemporaine nous oblige à admettre des structures au
sens mentionné de relations physiques concrètes au lieu de propriétés intrin-
sèques selon tous les critères épistémologiques admissibles d’interprétation
de théories scientifiques. Elle ne se prononce cependant pas sur la question
de savoir si oui ou non ces structures établissent des connexions nécessaires.
Comme mentionné plus haut, des pouvoirs ne sont pas des propriétés physi-
ques qualitatives additionnelles, mais ce sont les propriétés ou relations qua-
litatives dont parle la physique conçues comme étant des pouvoirs à produire
d’autres de ces propriétés ou relations qualitatives. Des connexions néces-
saires n’ajoutent rien au contenu de la physique. Que le monde soit humien
ou qu’il y ait des connexions nécessaires dans le monde, la physique est la
même dans ces deux cas. Nous nous trouvons dès lors face à une impasse :
le thème d’une métaphysique humienne vs. une métaphysique de pouvoirs
ne peut pas être tranché en faisant référence à la physique – par contraste au
sujet des propriétés intrinsèques vs. des relations.
Y a-t-il alors des arguments qui peuvent trancher sur la dispute entre
la métaphysique humienne et la métaphysique de pouvoirs ? Ou s’agit-il là
d’un thème où l’argumentation atteint ses limites, étant affaire de goût si l’on
préfère l’empirisme ou le rationalisme ? L’empiriste regarde comme mys-
térieux l’essai de poser autre chose plutôt que de simplement reconnaître la
distribution des propriétés ou structures physiques dans le monde comme fait
primitif. Le rationaliste recule d’horreur à l’idée d’accepter la distribution
entière des propriétés ou structures physiques dans le monde comme fait
primitif, sans que certaines de ces propriétés ou structures soient la raison
de l’existence d’autres de ces propriétés et structures. On ne trouve en fait
aucun argument sur ce plan-là. Il n’y a pas d’arguments purement philoso-
phiques ou métaphysiques. Dans la mesure où il y a des arguments, ce sont
des arguments qui proviennent d’une description scientifique, empirique du
monde – ou de ce qui peut être inclus dans une telle description.
Or il y a non seulement la physique fondamentale mais encore les scien-
ces spéciales. Beaucoup de sciences spéciales – notamment la biologie et la
74 Michael Esfeld

psychologie – regardent les propriétés dont elles traitent comme des propriétés
fonctionnelles. Par exemple, les gènes ainsi que les propriétés constituant les
processus cognitifs sont des propriétés fonctionnelles, étant définies notam-
ment par leurs effets caractéristiques. Tandis qu’en physique fondamentale,
toutes les descriptions en termes dispositionnels peuvent être remplacées par
des descriptions en termes structurels, catégoriels de la physique fondamentale,
il n’en est pas de même en sciences spéciales. Il n’est pas possible de rempla-
cer les descriptions fonctionnelles des sciences spéciales par des descriptions
catégorielles et structurelles équivalentes en termes des sciences spéciales.
Il n’y a pas de concepts structurels et catégoriels des sciences spéciales qui
peuvent prendre la place de leurs concepts fonctionnels et dispositionnels.
Cette observation n’exclut pas la possibilité de réduire les descriptions
des sciences spéciales en termes fonctionnels et dispositionnels à des des-
criptions de la physique fondamentale en termes structurels et catégoriels.
Cependant, le projet d’une telle réduction aboutit à une attitude éliminati-
viste par rapport aux propriétés fonctionnelles qui sont l’objet des sciences
spéciales. Des propriétés fonctionnelles, étant définies par leurs effets ca-
ractéristiques, ne peuvent pas être identiques à des propriétés structurelles
regardées comme étant uniquement des propriétés catégorielles. Ce projet
mène à la position suivante : les descriptions fonctionnelles des sciences
spéciales sont des descriptions de second ordre, se référant en fait à des pro-
priétés catégorielles et structurelles de la physique fondamentale – propriétés
qui sont décrites de façon directe par les descriptions en termes catégoriels
de la physique fondamentale. La thèse de la survenance humienne de David
Lewis aboutit à une telle position. En général, la métaphysique humienne
mène à une attitude éliminativiste par rapport aux propriétés fonctionnelles
qui sont l’objet des sciences spéciales.
On peut illustrer cette conséquence éliminativiste en tenant compte de
la causalité mentale, plus précisément de la description de nous-mêmes en
tant que sujets agissants, description en termes mentaux de la psychologie.
En bref, nous sommes des sujets agissants si et seulement s’il y a un lien
entre l’intention d’action et le comportement tel que l’intention produit et
dès lors nécessite le comportement ; d’après la métaphysique humienne, par
contre, nous subissons simplement des suites contingentes d’occurrences de
propriétés qui se conforment à certaines régularités grâce à ce qui se passe
ailleurs dans le monde.16

16 Voir Michael Esfeld : Mental causation and the metaphysics of causation, à pa-
raître in Erkenntnis.
La philosophie comme métaphysique des sciences 75

Sur cette base, on peut développer un argument provenant des sciences


spéciales en faveur d’une métaphysique de pouvoirs. L’engagement ontolo-
gique des sciences spéciales envers des propriétés fonctionnelles est un enga-
gement ontologique envers des propriétés qui sont des pouvoirs, étant définis
par leurs effets. Si les propriétés des sciences spéciales sont des pouvoirs et si
ces propriétés surviennent sur les propriétés physiques fondamentales, alors
les propriétés à la base de survenance sont également des pouvoirs. Il ne peut
pas y avoir des propriétés survenantes établissant des connexions nécessai-
res sans que les propriétés de la base de survenance n’établissent également
des connexions nécessaires. A fortiori, si les occurrences de propriétés des
sciences spéciales sont identiques à des configurations d’occurrences de pro-
priétés physiques fondamentales, celles-ci sont également des pouvoirs.
En résumé, la physique est compatible avec la métaphysique de pouvoirs :
rien n’empêche de concevoir les propriétés, voire les structures (relations),
physiques fondamentales comme étant des pouvoirs. Cependant, il n’y a pas
d’argument physique qui nous engage à souscrire à une telle conception.
Néanmoins, il y a un argument en faveur des propriétés comme pouvoirs,
mais cet argument dérive des sciences spéciales. Comme à la fin de la sec-
tion précédente, on a ici de nouveau affaire à un raisonnement basé sur les
sciences spéciales qui a des conséquences pour l’interprétation des théories
de la physique fondamentale, voire l’ontologie de la physique fondamentale.
Il s’agit d’un argument de cohérence de notre savoir scientifique comme
tout : si l’on vise une vision complète et cohérente du monde au lieu d’un
réductionnisme éliminativiste, il faut concevoir les propriétés, voire les re-
lations qu’il y a dans le monde comme étant des pouvoirs, établissant des
connexions nécessaires.

4. Conclusion : le réductionnisme conservatif


et ses présuppositions

En guise de conclusion, revenons sur le point de départ de cet article. Le


principe de la complétude causale, nomologique et explicative des propriétés
physiques ainsi que celui de la survenance sont bien fondés. De ces prin-
cipes découle un argument concluant en faveur du réductionnisme onto-
logique, à savoir la thèse selon laquelle toutes les occurrences de propriétés
au monde sont identiques à des occurrences de propriétés physiques fonda-
mentales et leurs configurations. Ce réductionnisme ontologique entraîne
un réductionnisme épistémologique selon lequel les concepts, les descrip-
76 Michael Esfeld

tions et les lois des sciences spéciales peuvent en principe être réduits à des
concepts, des descriptions et des lois des théories physiques fondamentales
et universelles.
Néanmoins, ce réductionnisme n’empêche pas que les concepts, les des-
criptions et les lois des sciences spéciales puissent être indispensables pour
un système cohérent et complet de notre savoir. Bien au contraire, la possi-
bilité principale de réduction des théories des sciences spéciales est en effet
la seule voie ouverte pour revendiquer leur caractère scientifique face aux
principes susmentionnés. Autrement, elles seraient simplement éliminées
du système de du savoir scientifique (bien que possédant une valeur ins-
trumentale que personne ne remet en cause). Par conséquent, le réduction-
nisme auquel conduisent ces principes est convaincant si et seulement s’il
est un réductionnisme conservatif. Or, la métaphysique humienne – à savoir
la conception des propriétés ou relations physiques fondamentales comme
étant uniquement catégorielles au lieu d’être de pouvoirs – mène à un ré-
ductionnisme éliminativiste. Il y a dès lors un argument fort provenant des
sciences spéciales en faveur de concevoir les propriétés physiques comme
étant des pouvoirs.
Le physicalisme est donc bien fondé dans la mesure où il s’agit d’une
position métaphysique soutenant le réductionnisme ontologique et le réduc-
tionnisme épistémologique mentionnés. Il n’est pourtant pas convenable de
le concevoir en un sens méthodologique voulant dire que toute l’ontologie
dérive de l’interprétation la plus économe de la physique fondamentale. De
même, il n’est pas approprié de concevoir le principe de complétude men-
tionné dans un sens méthodologique. La méthodologie adéquate pour le
projet d’une métaphysique des sciences est celle de la cohérence des posi-
tions soutenues dans l’ensemble d’une vision complète du monde. Bien sûr,
comme le dit le réductionnisme épistémologique, il est en principe possible
de réduire toute description vraie du monde à une description physique fon-
damentale. Cependant, ce qu’est la description fondamentale du monde n’est
pas déterminé par les théories physiques fondamentales à elles seules ; il
faut tenir compte de considérations provenant des sciences spéciales. Selon
l’argumentation proposée dans cet article, la description fondamentale du
monde conçoit les propriétés comme étant des pouvoirs, et l’argument pour
cette conception de ce qu’il y a au fond dans le monde dérive des sciences
spéciales.
Studia philosophica 66/2007

C HRISTIAN SACHSE

La philosophie
comme réflexion sur les sciences*

One of the main issues in philosophy is the reflection on sciences. In order to concili-
ate the unity and plurality of sciences, this paper sets out a new strategy for theory
reduction by means of functional sub-concepts. This strategy is intended to get around
the multiple realization objection that leads to a dilemma for the scientific quality of
the special sciences. Taking Kim’s argument for token identity (ontological reduction-
ism) as starting point, I shall show a strategy to establish a systematic link between
concepts of the special sciences with physical concepts. By this means, a conservative
theory reduction is in principle possible despite multiple realization.

1. Introduction

Une tache principale de la philosophie est la réflexion sur les connaissances


que nous apportent les sciences. L’argument le plus fort en faveur de l’unité
des sciences est l’approche réductionniste des sciences spéciales. S’il est
possible de réduire les sciences spéciales à la physique, on arrive à l’unité des
sciences. Une telle approche est bien motivée par l’argument du réduction-
nisme ontologique et par la complétude de la physique (section 2). Par contre,
l’argument de la réalisation multiple semble empêcher une telle réduction
des sciences spéciales (section 3). Néanmoins, cet argument implique un
dilemme : la réalisation multiple n’empêche pas la réduction d’une manière
éliminativiste (section 4). Par conséquent, l’argument le plus fort contre une
réduction conduit à l’élimination des sciences spéciales.
Pour éviter une telle conséquence éliminativiste, et, donc, pour résoudre
ce dilemme, je propose une stratégie réductionniste qui peut incorporer la
réalisation multiple de manière suivante : on peut construire des sous-con-
cepts des concepts des sciences spéciales qui sont co-extensionnels avec des
concepts physiques. La différence entre un concept et ses sous-concepts est

* Le travail nécessaire à la réalisation de cet article a été soutenu par le Fonds


National de Suisse (FNS), bourse no. 100011-105218/1
78 Christian Sachse

le degré d’abstraction. Même si les concepts des sciences spéciales ne sont


pas co-extensionnels avec les concepts physiques, on peut les réduire à tra-
vers leurs sous-concepts. Une telle réduction n’est pas éliminativiste parce
que les concepts des sciences spéciales restent indispensables dans notre
système scientifique (section 5). En d’autres termes, l’unité et la pluralité
des sciences sont compatibles.

2. Réflexion de l’ontologie

Le but principal de cet article est de présenter une réflexion sur le rapport
entre une occurrence d’une propriété (property tokens) d’une science spé-
ciale et des propriétés physiques. La biologie est une science spéciale. Elle
considère un certains ensembles d’entités – comme des gènes qui sont dé-
finis par leurs effets phénotypiques. Par contre, la physique est une science
universelle parce que les concepts physiques s’appliquent à toutes les en-
tités dans le monde. Un gène est, d’un point de vue physique (simplifié),
une configuration d’atomes. En général, prenons comme point de départ le
fait qu’il y a dans le monde des occurrences de propriétés différentes. Cha-
que science spéciale décrit et explique certaines occurrences de propriétés.
Chaque occurrence d’un système d’une science spéciale possède également
des propriétés physiques – par exemple, un certain organisme possède une
masse, une charge, etc. Cela soulève la question suivante : Quel est le rapport
entre une occurrence d’une propriété d’une science spéciale et les propriétés
physiques ? En d’autres termes, est-ce qu’il y a une différence ontologique
entre un gène (décrit et expliqué par la biologie) et sa configuration d’atomes
(décrite et expliquée par la physique) ?
Pour examiner le rapport entre des occurrences de propriétés des scien-
ces différentes, référons-nous à la conception du monde en strates. Dans ce
contexte, j’ai l’intention de considérer un argument général en faveur d’une
identité des occurrences. Considérons des occurrences de propriétés biologi-
ques, chimiques, et physiques – par exemple, il y a des organismes, des gènes,
des molécules, des atomes, etc. Commençons avec les propriétés chimiques
et physiques : d’une part, il n’est pas le cas que chaque configuration d’occur-
rences de propriétés physiques est également une occurrence de propriétés
chimique. Il y a par exemple des atomes et des électrons tout seuls dans le
monde. En revanche, toutes les occurrences de propriétés chimiques sont
forcément composées d’une configuration d’occurrences de propriétés physi-
ques. Continuons avec le rapport entre des propriétés biologiques, chimiques
La philosophie comme réflexion sur les sciences 79

et physiques : chaque molécule, par exemple, est composée d’atomes. D’une


part, il n’est pas le cas que chaque configuration d’occurrences de propriétés
chimiques est également une occurrence de propriétés biologiques. En re-
vanche, toutes les occurrences de propriétés biologiques sont forcément com-
posées d’une configuration d’occurrences de propriétés physiques – et peut-
être également d’une configuration d’occurrences de propriétés chimiques.1
Cette asymétrie est illustrée dans la conception du monde en strates :

Les occurrences de propriétés biologiques

Les occurrences de propriétés chimiques

Les occurrences de propriétés physiques

Si un système chimique ou biologique est composé par une configuration


d’occurrences de propriétés physiques, quel est le rapport entre l’occurrence
de propriétés chimiques ou biologiques et sa composition physique ? Par
exemple, quel est le rapport entre un certain gène et sa configuration d’ato-
mes ? Peut-on identifier une occurrence de propriété chimique ou biologique
avec une configuration d’occurrence de propriétés physiques ou est-ce qu’il
y a une différence qualitative ou ontologique entre les deux ?
Pour examiner ce rapport, continuons avec le concept de survenance qui
précise la relation asymétrique entre les occurrences de propriétés des stra-
tes différentes. Tout d’abord, considérons la thèse suivante : chaque monde
possible qui est un double physique minimal du monde réel est un double
simpliciter du monde réel.2 En d’autres termes, si on duplique notre monde
physique, on duplique par la même les occurrences de propriétés chimiques
et biologiques dans le monde. Dans ce double, il y a des molécules, des
gènes, des plantes, etc.

1 Voir Jaegwon Kim : The Layered Model : Metaphysical Considerations, in Philo-


sophical Explorations 5 (2002) pp. 2-20. En page 17, Kim propose « a tree-like
structure with multiple branches, not a single ladder-like system ». L’argument
pour une structure comme un arbre est le suivant : il est possible qu’une occur-
rence de propriété psychologique n’est pas une occurrence de propriété bio-
logique. Mais quand même, c’est probablement une occurrence de propriétés
chimique, et sûrement une occurrence de propriétés physiques.
2 Voir Frank Jackson : From Metaphysics to Ethics (Oxford : Oxford University
Press, 1998) pp. 9-14.
80 Christian Sachse

Ensuite, pour examiner la dépendance de manière approfondie, assu-


mons une survenance plus locale. Une occurrence de propriété biologique,
b1, survient sur une configuration d’occurrences de propriétés physiques
spatio-temporellement limitée, p1 : pour tout changement d’une occurrence
de propriété biologique b1, un changement de sa configuration physique p1
est nécessaire. Par exemple, il n’est pas possible pour une plante de déve-
lopper des fleurs sans qu’il y ait également un changement de la configura-
tion d’atomes. En d’autres termes, s’il y a une différence biologique entre des
occurrences de propriétés biologiques, il y a par conséquent des différences
physiques entre les deux configurations physiques :

Différence biologique b1 z b2

implique (survient sur) (survient sur)

différence physique p1 z p2

Si on double la configuration d’occurrence de propriétés physiques p1, on


double aussi l’occurrence de la propriété biologique b1. Par exemple, un
gène (b1) survient sur sa configuration d’atomes ( p1). Si on duplique cette
configuration d’atomes, on duplique aussi le gène.

Double biologique b1 = b2

implique (survient sur) (survient sur)

double physique p1 = p2

Pour préparer un argument visant le réductionnisme ontologique, c’est-à-dire


l’identité des occurrences de propriétés biologiques avec des configurations
d’occurrences de propriétés physiques, regardons maintenant le principe de
la complétude de la physique. La complétude de la physique est une hypo-
thèse de travail qui est généralement admise en raison du succès de la physi-
que. Au fond, « pour toutes les occurrences de propriétés physiques, dans la
mesure où une occurrence d’une propriété physique possède une explication,
elle possède une explication en termes physiques ».3 Ainsi, pour l’explica-

3 Michael Esfeld : Philosophie des sciences (Lausanne : Presses polytechniques et


universitaires romandes, 2006) p. 214. Voir également l’introduction l’article de
Michael Esfeld dans ce volume.
La philosophie comme réflexion sur les sciences 81

tion d’un changement physique, une explication physique est toujours suffi-
sante. De ce fait, la physique est complète.
La physique est également complète de manière causale : pour tout
changement physique, il y a toujours une cause physique suffisante dans la
mesure où il y a des causes. Par exemple, pour un changement d’une configu-
ration d’atomes, il y a une cause physique suffisante dans la mesure où il y a
des causes. Par conséquent, pour l’explication suffisante de ce changement et
de cette relation causale, on n’a jamais besoin d’avoir recours à la chimie, ou
encore à la biologie. En d’autres termes, tout changement physique et toute
cause d’une occurrence de propriété physique est exclusivement explicable
seulement en termes de la physique :

Explication physique suffisante d’un changement physique (p1 Ö p2)

Une fois ce principe posé, on peut argumenter en faveur d’une réduction


ontologique de la façon suivante :4 tout d’abord, considérons l’occurrence
d’une propriété biologique b1 qui survient sur une configuration d’occur-
rences de propriétés physiques p1 (à savoir, p1 est suffisant pour b2). As-
sumons ensuite que b1 soit la cause d’une autre occurrence de propriété
biologique, b2. Etant donné le concept de la survenance, la relation causale
entre b1 et b2 implique qu’il y a en même temps un changement physique.
Par conséquent, b2 survient sur une configuration d’occurrences de proprié-
tés physiques p2 qui est distinct de p1. Par exemple, un gène (b1) cause des
fleurs rouges (b2) ; le gène et les fleurs rouges sont physiquement différents
( p1 ≠ p2).
Grâce à la complétude de la physique, il y a une explication physique
suffisante de p2. La configuration d’occurrences de propriétés physiques p2
possède une cause physique complète. Disons que p1 est la cause physique
complète de p2 :

b1 Ö b2 (b1 cause b2)

(survient sur) (survient sur)

p1 Ö p2 (p1 cause p2)

4 Voir Jaegwon Kim : Physicalism, or something near enough (Princeton : Prince-


ton University Press, 2005) pp. 32-69 qui considère cet argument en détail.
82 Christian Sachse

Etant donné p2, grâce à la relation de survenance, b2 est donné en même


temps ( p1 est suffisant pour b2). Toutefois, en produisant p2, p1 cause aussi
ce qui survient sur p2. Nous avons donc deux causes pour b2 : la cause bio-
logique b1 (b1 Ö b2) et la cause physique p1 pour la base de survenance p2 de
b2 ( p1 Ö p2 et b2 survient sur p2). En termes de notre exemple, la configura-
tion d’atomes du gène cause les changements physiques dans la cellule qui
déterminent les fleurs rouges.
Par conséquent, en général, les relations causales entre deux occurrences
de propriétés biologiques (des sciences spéciales) dépendent des relations
causales entre deux configurations d’occurrences de propriétés physiques.
À cause de la survenance, une relation causale entre deux occurrences de
propriétés biologiques (b1 Ö b2) n’est pas possible sans qu’il y ait une re-
lation causale entre leurs bases de survenance physiques ( p1 Ö p2). Il n’est
dès lors pas nécessaire de supposer une relation causale biologique en plus
d’une relation causale physique. La configuration d’occurrences de proprié-
tés physiques p1 est suffisante pour causer b2 en causant p2, et en tant que
base de survenance, p2 est une condition suffisante pour b2. En conséquence,
les causes physiques semblent ainsi faire déjà tout le travail que les causes
biologiques pourraient accomplir. En d’autres termes, les propriétés physi-
ques du gène en question sont suffisantes pour causer les fleurs rouges (en
causant la base de survenance des fleurs rouges).
C’est pourquoi il y a un argument causal pour identifier les causes bio-
logiques avec des causes physiques : si on ne peut pas distinguer causale-
ment b1 de p1, c’est un argument fort pour les identifier.5 La complétude de
la physique et la dépendance sous forme de survenance empêchent qu’il y
ait une causalité biologique qui soit différente de la causalité physique. Pour
distinguer l’occurrence de propriété biologique de la configuration d’oc-
currences de propriétés physiques en question (b1 et p1), il semble qu’une
différence causale soit nécessaire entre les deux. Une telle différence n’est
pas compatible avec la complétude de la physique et la survenance sur des
occurrences de propriétés physiques :6

5 Voir Michael Esfeld : La philosophie de l’esprit. De la relation entre l’esprit et


la nature (Paris : Armin Colin, 2005), ch. 1-4 qui considère en détail l’argument
et les alternatives possibles. Je ne considère pas d’alternatives d’une identité
(comme l’interactionnisme ou la surdétermination systématique par exemple)
parce qu’elles aboutissent à l’épiphénomènalisme qui n’est pas une position fa-
vorable dans la philosophie des sciences (un épiphénomène est causalement in-
efficace, donc, il n’est pas pertinent pour une explication).
6 Voir Kim : Physicalism, or something near enough, op. cit. pp. 70-92.
La philosophie comme réflexion sur les sciences 83

b1 Ö b2 (b1 cause b2)

(est identique à) (est identique à)

p1 Ö p2 (p1 cause p2)

En résumé, étant donné la complétude de la physique et la survenance des


occurrences de propriétés des sciences spéciales sur des configurations
d’occurrences de propriétés physiques, il y a un argument causal pour un
réductionnisme ontologique. Chaque occurrence, de propriété biologique par
exemple, est identique avec une configuration d’occurrences de propriétés
physiques (token identity). Le gène en question est identique avec quelque
chose de physique. Si l’on tient comme ce réductionnisme ontologique, quel
est le rapport entre des théories différentes ? En d’autres termes, quel est le
rapport entre la biologie et la physique s’il y a une identité entre le gène et sa
configuration d’atomes – c’est-à-dire, si ces théories se réfèrent aux mêmes
occurrences de propriétés ?

3. Réflexion sur les théories

Chaque théorie décrit des occurrences de propriétés en termes de types de


propriétés. La biologie décrit l’occurrence d’un gène comme un gène d’un
certain type – un gène qui cause des fleurs rouges par exemple. La physique
décrit l’occurrence d’une configuration d’atomes comme une configuration
d’un certain type. Pour examiner le rapport entre des théories différentes
qui se réfèrent aux mêmes occurrences de propriétés, considérons première-
ment le concept d’un type de propriété, deuxièmement un exemple pour
illustrer l’idée de la réalisation multiple comme argument standard contre
une position réductionniste, et dans ce contexte, à la fin, le concept de la
réalisation.
En général, un type de propriété est fonctionnellement défini dans les
sciences spéciales. L’argument est le suivant : on présuppose que chaque
occurrence d’une propriété d’une science spéciale est causalement efficace.
En conséquence, elle possède des effets. Dans notre exemple, il y a des oc-
currences de gènes qui causent des effets phénotypiques – des fleurs rouges
par exemple. Cette relation causale caractérise le type de propriété de ma-
nière suivante : chaque occurrence de gène qui cause des fleurs rouges est
du même type de gène. C’est une similarité pertinente entre des occurrences
de propriétés.
84 Christian Sachse

Considérons maintenant deux occurrences de gènes du même type de


propriété, disons b1 et b2 du type B. Chaque occurrence est identique à une
configuration d’occurrences de propriétés physiques, disons b1 = p1 et b2
= p2. Cependant, il est possible que les deux configurations d’occurrences
de propriétés physiques ne soient pas d’un seul type de propriété physique.
Grâce à la redondance du code génétique, par exemple, c’est possible que
les deux occurrences de gènes soient physiquement différentes. Les deux
occurrences de gènes sont deux configurations d’atomes différentes, donc,
ils sont, d’un point de vue physique, des configurations d’atomes de types
différentes. Néanmoins, les gènes en question causent des fleurs rouges.
Pour conclure, en général, il y a des occurrences de propriétés des sciences
spéciales qui sont d’un seul type de propriétés (parce qu’elles satisfont la
définition fonctionnelle du type de propriété en question) mais elles sont des
types différents de propriétés physiques (parce qu’il y a une différence dans
la composition d’atomes). C’est la réalisation multiple, comme illustrée par
le schéma suivant :

Type de propriété biologique : B

Occurrences de propriétés biologiques : b1 b2

(Identité)

Config. d’occur. de propr. physiques : p1 p2

Types de propriétés physiques : P1 P2

La conséquence de la réalisation multiple est qu’on ne peut pas corréler


bi-conditionnellement des types de propriétés biologiques avec des types
de propriétés physiques. C’est pour cette raison qu’il n’y a pas d’identité
des types de propriétés. Cette possibilité d’une réalisation multiple est co-
hérente avec le concept de survenance. Il est possible qu’il y ait une dif-
férence physique sans qu’il y ait une différence chimique, biologique, etc.
Dans ce contexte de la réalisation multiple et du réductionnisme ontologi-
que, l’idée du concept d’une réalisation peut être interprété comme suit :
dans le monde, il existe seulement des occurrences de propriétés, et chaque
occurrence d’une propriété d’une science spéciale est identique à quelque
La philosophie comme réflexion sur les sciences 85

chose de physique (réductionnisme ontologique). Si les types de propriétés


biologiques (par exemple) ne sont pas identiques aux types de propriétés
physiques, un type de propriété n’est pas quelque chose d’ontologique. Réa-
liser veut donc dire qu’une occurrence de propriété rend vraie l’application
d’un concept. Un type de propriété est un concept intégré dans une théorie :
si un énoncé sur le monde est vrai, il y a quelque chose dans le monde qui
rend vrai l’énoncé ; il y a des occurrences des propriétés dans le monde qui
rendent vrai des concepts différents.7 Dans le contexte de notre exemple, il y
a des gènes dans le monde qui rendent vrai l’application du concept « gène »,
mais certains gènes rendent vrai le concept physique « P1 », et d’autres gènes
rendent vrai le concept physique « P2 ». Il n’y a donc pas de co-extension
entre un concept biologique (« B ») et un seul concept physique (« P1 »
ou « P2 »).
En conséquence, une réduction épistémologique ne peut pas être menée
à bien : même si chaque occurrence de propriété biologique est identique à
quelque chose de physique, et donc, explicable en termes physiques, on ne
peut pas déduire les concepts, les lois, et les explications biologiques de la
physique. C’est l’argument de la réalisation multiple (ou plutôt référence
multiple) contre une position réductionniste par rapport aux théories. Ré-
sumons ce résultat dans le contexte de la conception du monde en strates :
il n’y a pas de strates ontologiques parce que chaque occurrence d’une pro-
priété d’une science spéciale est identique à quelque chose de physique.
À cause de ce réductionnisme ontologique et de la réalisation multiple, les
types de propriétés sont des concepts à l’intérieur de théories scientifiques,
et la conception du monde en strates représente une hiérarchie épistémo-
logique : les sciences spéciales considèrent des occurrences de propriétés
dans le monde en employant des concepts abstraits.

4. Dilemme de l’argument
de la réalisation multiple

On rencontre un dilemme : soit l’argument de la réalisation multiple n’em-


pêche pas la réduction d’une manière éliminativiste, soit l’argument de la
réalisation multiple n’est pas cohérent avec le réductionnisme ontologique

7 Voir John Heil : From an Ontological Point of View (Oxford : Clarendon Press,
2003) pp. 61-65.
86 Christian Sachse

et la complétude de la physique. Considérons les deux parties de ce dilemme


un peu plus en détails.
Premièrement, considérons l’argument selon lequel la réalisation multiple
n’empêche pas la réduction des théories. Cet argument est mis en évidence
par le « new wave reductionism » de John Bickle.8 Cette position accepte la
conséquence de la réalisation multiple, à savoir qu’on ne peut pas établir une
relation biconditionnelle entre un concept d’une science spéciale comme le
concept biologique « gène » et un concept physique. En d’autres termes, les
concepts abstraits des sciences spéciales ne sont pas coextensifs aux concepts
physiques. Cependant, on peut construire des théories physiques qui sont
partiellement coextensives aux théories des sciences spéciales. Prenons la
génétique comme exemple, la stratégie procède comme suivant : la génétique
et ses propres concepts s’appliquent à un certain ensemble d’entités – l’ex-
tension des concepts de la théorie en question. Chaque entité qui est décrite
et expliquée par la génétique est identique à quelque chose décrit par la
physique (réductionnisme ontologique). Par conséquent, on peut construire
une théorie physique qui s’applique seulement aux entités en question ou
à un sous-ensemble d’entités en question. En d’autres termes, on construit
une théorie physique avec la même extension comme la génétique ou la gé-
nétique qui s’applique à un certain sous-ensemble – comme les gènes dans
une certaine espèce qui est physiquement similaire. C’est l’intégration de la
réduction fonctionnelle de Kim. Néanmoins, si on compare la génétique (bio-
logique) avec cette génétique physique construite, on préfère la génétique
physique parce qu’elle est plus détaillée et complète (grâce à la complétude
de la physique). C’est l’argument pour lequel la réalisation multiple n’em-
pêche pas la réduction des théories d’une manière éliminativiste : chaque
science spéciale peut être remplacée par une théorie physique construite (ou
un ensemble de théories construites) qui est coextensive avec la théorie en
question. C’est la première partie du dilemme.
Si on admet la possibilité d’adopter la stratégie de Bickle (et Kim), tout
en voulant néanmoins empêcher l’élimination des sciences spéciales, on
doit argumenter en faveur de la valeur scientifique des sciences spéciales
par ses concepts abstraits. Selon Fodor 9 et Putnam,10 on prend l’argument

8 Voir John Bickle : Psychoneural reduction. The new wave (Cambridge : MIT
Press, 1998), surtout les chapitres 2-4.
9 Voir Jerry A. Fodor : Special Sciences (or : the disunitiy of science as a working
hypothesis), in Synthese 28 (1974) pp. 97-115.
10 Voir Hilary Putnam: The nature of mental states dans son livre Mind, language
La philosophie comme réflexion sur les sciences 87

de la réalisation multiple comme un argument anti-réductionniste et on dit


que les sciences spéciales sont scientifiquement indispensables parce qu’il
n’y a pas de concepts physiques qui sont coextensifs aux concepts de la
science spéciale en question. Pourtant la valeur scientifique d’un concept
(et, donc, la théorie en question) est mise en question s’il n’y a pas de lien
systématique aux concepts physiques. Pour justifier la qualité scientifique
de concepts abstraits de sciences spéciales sans établir un tel lien systéma-
tique aux concepts physiques, on doit dire que les concepts des sciences
spéciales (comme « gène » par exemple) montrent des aspects ontologiques
qui ne sont pas considérés par des concepts physiques. En d’autres termes,
c’est pour cette raison qu’on ne peut pas éliminer les concepts des sciences
spéciales (et, donc, les théories). Toutefois, une telle position implique que
le réductionnisme ontologique et la complétude de la physique ne soivent
pas correctes : il y a des aspects ontologiques dans le monde qui ne sont pas
physiques et qui n’admettent pas d’explication en termes physiques. C’est
la deuxième partie du dilemme : si on veut empêcher la conclusion de « new
wave reductionism » de Bickle, l’argument de la réalisation multiple comme
argument anti-réductionniste n’est pas cohérent avec la complétude de la
physique et le réductionnisme ontologique.

5. Réduction conservative

Pour résoudre ce dilemme, et donc pour éviter une telle conséquence élimi-
nativiste, j’aimerais proposer une stratégie réductionniste conservative (non-
éliminativiste) comme une autre position philosophique de réflexion sur les
sciences. La réalisation multiple n’empêche pas la possibilité d’établir un
lien systématique entre des concepts abstraits des sciences spéciales et des
concepts physiques parce que chaque différence physique implique une dif-
férence fonctionnelle. Par conséquent, on peut construire des sous-concepts
fonctionnels des concepts abstraits des sciences spéciales qui sont coexten-
sifs aux concepts physiques. La différence entre un concept et ses sous-con-
cepts est donc seulement le degré d’abstraction. Même si les concepts des
sciences spéciales ne sont pas coextensifs aux concepts physiques, on peut
les réduire au moyen de leurs sous-concepts. Une telle réduction n’est pas
éliminativiste parce que le caractère indispensable des sciences spéciales

and reality. Philosophical Papers Volume 2 (Cambridge : Cambridge University


Press, 1975) pp. 429–440.
88 Christian Sachse

dans notre système scientifique est revendiqué.11 Considérons chaque étape


de cet argument en détail.
Premièrement, examinons la thèse selon laquelle chaque différence phy-
sique implique une différence fonctionnelle. Prenons l’exemple des occur-
rences du gène du même type qui sont physiquement différents (réalisation
multiple). Supposons qu’il y a des entités qui sont décrites par le concept
« gène qui cause de fleurs rouges », et la moitié de ces gènes est décrite par
le concept physique « P1 » et l’autre moitié de ces gènes est décrite par le
concept physique « P2 ». Cette différence physique entre les gènes du type
physique « P1 » et du type physique « P2 » implique une différence causale. Il
n’est pas possible de distinguer des occurrences par des concepts (types) dif-
férents s’il n’y a pas de différence causale entre les occurrences.12 En d’autres
termes, pour distinguer des occurrences des gènes de « P1 » des occurrences
des gènes de « P2 », il est nécessaire qu’il y ait une différence physique entre
les occurrences des gènes de « P1 » et de « P2 ». Il y a donc une différence
causale.13 Les occurrences des gènes de « P1 » interagissent différemment
avec leur environnement physique par rapport aux occurrences des gènes de
« P2 ». Par exemple, les occurrences des gènes de « P1 » sont plus résistantes
contre le rayonnement ultraviolet que les occurrences des gènes de « P2 ».
Deuxièmement, on peut concevoir un environnement possible dans le-
quel une telle différence physique mène à une différence fonctionnelle du
point de vue biologique.14 Par exemple, les biologistes peuvent observer une
différence statistique dans le valeur du fitness des organismes qui possèdent
des gènes en question : les gènes qui sont décrits par le concept physique
« P1 » possèdent un avantage sélectif dans un environnement avec beaucoup
de rayonnement ultraviolet par rapport aux gènes qui sont décrits par le
concept physique « P2 ». C’est une différence fonctionnelle entre des oc-
currences de gènes du type « B » qui est observée par les biologistes, donc,
exprimé en termes biologiques.
Troisièmement, s’il y a une telle différence fonctionnelle (différence de
fitness par exemple) entre des occurrences des gènes décrits par le concept

11 Voir Christian Sachse : Reductionism in the philosophy of science (Frankfurt a. M. :


Ontos, 2007), chapitre II, sections XVIII-XXI.
12 Voir David Lewis : Causal Explanation dans son livre Philosophical Papers II
(Oxford : Oxford University Press, 1986) p. 217.
13 Voir Jaegwon Kim: Making sense of emergence, in Philosophical Studies 95
(1999) pp. 17-18.
14 Voir Alexander Rosenberg : Instrumental biology or the disunity of science (Chi-
cago : Chicago University Press, 1994) p. 32.
La philosophie comme réflexion sur les sciences 89

« gène » (« B »), on peut, en théorie, concevoir des sous-concepts différents –


disons, les occurrences de sous-type « B1 » et les occurrences de sous-type
« B2 ». Par conséquent, une connexion biconditionnelle entre les sous-con-
cepts « B1 » et « B2 » et les concepts physiques « P1 » et « P2 » est possible
(« B1 » Ù « P1 », « B2 » Ù « P2 »). En d’autres termes, il est, en théorie, pos-
sible d’établir une co-extension nomologique entre des sous-concepts bio-
logiques et des concepts physiques. L’argument pour la co-extension nomo-
logique est le suivant : pour chaque différence physique, qui implique une
différence causale-dispositionelle, on peut imaginer un environnement dans
lequel cette différence causale-dispositionelle se manifeste comme une dif-
férence fonctionnelle, à savoir une différence dans la valeur de fitness de
l’organisme en question. Pour conclure, une réduction des sous-concepts à
la physique s’avère dès lors possible. En plus, une théorie des sciences spé-
ciales qui considère des entités par les concepts abstraits est coextensive à
l’ensemble de sous-concepts de concepts abstraits en question. Cet ensemble
est une théorie construite, et une réduction épistémologique de cette théorie
à la physique s’avère possible parce que leur concepts (les sous-concepts)
sont nomologiquement coextensifs aux concepts physiques. En d’autres ter-
mes, une biologie construite considère seulement des sous-concepts qui sont
nomologiquement coextensifs aux concepts physique, et une telle biologie
construite est réductible à la physique.
Ce qui est le plus important que ce résultat intermédiaire, on peut égale-
ment réduire les concepts abstraits de la théorie en question, la biologie ori-
ginale. Par exemple, on peut réduire le concept biologique « gène » (« B »),
et donc, la biologie (qui ne considère pas seulement des sous-concepts) à la
physique. La seule différence entre « gène » (« B ») et ses sous-concepts « B1 »
et « B2 » et le degré d’abstraction : chaque sous-concept de « gène » contient
le concept « gène » et une spécification fonctionnelle comme « avantage sé-
lectif ». C’est pour cette raison que l’on peut déduire le concept « gène »
de chacun de ses sous-concepts. Par conséquent, la qualité scientifique du
concept abstrait comme « gène » est revendiquée : le concept abstrait reste
indispensable d’un point de vue scientifique parce qu’il n’y a pas de concept
physique qui est coextensif à ce concept abstrait. En d’autres termes, les
concepts abstraits de la biologie montrent des similarités pertinentes entre
des entités dans le monde que la physique n’est pas capable de mettre en
évidence. Cet avantage épistémologique de la biologie (et de ses concepts
abstraits) est revendiqué dans une position réductionniste – chaque concept
abstrait est lié, via ses sous-concepts, systématiquement avec les concepts
physiques :
90 Christian Sachse

Concept fonctionnel du gène : «B»

(déduction)

Sous-concepts fonctionnels du gène : « B1 » « B2 »

Occurrences de gènes : b1 b2

(co-extensionalité nomologique)

Concepts physiques : « P1 » « P2 »

En résumé, la philosophie – la philosophie comme réflexion sur les scien-


ces – considère le rapport entre des sciences différentes. L’argument en fa-
veur d’un réductionnisme ontologique est un argument causal qui se base
sur deux concepts philosophiques – le concept de survenance et celui de la
complétude de la physique. Mon argument en faveur d’un réductionnisme
épistémologique est également un argument causal qui se base sur un concept
philosophique – l’implication fonctionnelle d’une différence causale dans le
contexte de mondes possibles. En d’autres termes, si on peut concevoir pour
chaque différence physique un monde dans lequel cette différence physi-
que implique une différence fonctionnelle, le réductionnisme ontologique
n’est pas cohérent sans qu’il y ait un réductionnisme épistémologique. Pour
conclure, il est possible d’argumenter en faveur d’une unité des sciences sans
éliminer la pluralité des sciences.
Studia philosophica 66/2007

H ARRY L EHMANN

Was ist Philosophie?


Zur Koppelung und Entkoppelung
von Wissenschaft und Philosophie

History of philosophy can be written as a history of rearguard actions. The origin of


this obvious loss of competence lies in what has become the tenuous self-understand-
ing of philosophy as a science. Accordingly, one can assume that the question «What
is philosophy?» can rather be answered via an investigation of what has become the
problematic relation between science and philosophy. This relationship is unfolded
both in its historical dimensions and in terms of the nature of the matter. To start
off with, it is shown why philosophy in classical antiquity founded itself as scientific
philosophy and why the newly founded natural sciences in modernity could become
a decisive context that philosophy could borrow from.
Modern philosophy, in contrast, commences at the moment where this strict cou-
pling with the sciences is questioned. From now on one deals with a halved map
of philosophy, on which an analytic and a continental tradition thread are spun. A
dilemma grows out of this, a dilemma on which the question «What is philosophy?»
permanently feeds. That part of philosophy that considers itself as a science can at
best ignore the other part of philosophy which is critical of science, but it cannot
grasp the latter as philosophy. In turn, the philosophy that does not understand it-
self as science cannot acknowledge the forms of thought that conform to science as
philosophy in the true sense. This complementary visual impairment in relation to
each other should be corrected by a theoretical model which describes philosophy
as a social system with a specific social function that can be fulfilled by both the
science-conform and science-critical philosophy.

Jede Aussage, die mit den Worten beginnt: «Philosophie ist …», lässt sich be-
streiten. Es sind immer philosophische Schulen, Strömungen oder Positionen
zu finden, die jeden noch so vage formulierten Definitionsversuch unterlau-
fen. Eigentlich müsste man daraus den Schluss ziehen, dass die Philosophie
eine normative Disziplin sei, aber auch das könnten die wenigsten Philoso-
phen akzeptieren. Angesichts dieser fatalen Ausgangssituation lässt sich nur
ein ‹zweitbester Weg› einschlagen. Man setzt ein bestimmtes Grundverständ-
nis von Philosophie voraus – etwa die Prämisse, dass die Philosophie ihre
eigene Vergangenheit mitreflektieren muss –, arbeitet diese Position dann
92 Harry Lehmann

in all ihren Ausschließlichkeitsansprüchen aus und versucht anschließend,


den eigenen Standpunkt zu universalisieren. Das heißt zu erklären, weshalb
andere unter anderen Prämissen die Frage «Was ist Philosophie?» anders be-
antworten können, und zu zeigen, dass die eigene Konzeption einem solchen
Theorievergleich standhält.

1.

Wenn es einen historischen Parameter gibt, der sich in der Philosophie-


geschichte durchhält und über den sich leicht Einigkeit erzielen lässt, dann
ist es der schleichende Kompetenzverlust der Philosophie. Philosophie-
geschichte kann man als eine Geschichte von Rückzugsgefechten schreiben.
Ihren Ursprung haben diese Verlustgeschichten letztendlich in dem brüchig
gewordenen Selbstverständnis der Philosophie als einer Wissenschaft. Ent-
sprechend kann man davon ausgehen, dass sich die Frage «Was ist Philo-
sophie?» am ehesten über eine Untersuchung der problematisch gewordenen
Relation zwischen Wissenschaft und Philosophie beantworten lässt.
Eine Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Philosophie gehört seit
der Antike zum philosophischen Selbstverständnis, man kann sogar sagen:
diese Allianz war für die Philosophie konstitutiv. Platon bestimmte die Philo-
sophen in Absetzung von den Sophisten als diejenigen, denen es nicht um
das rhetorisch überzeugende Scheinwissen geht, sondern die sich wie die
Wissenschaftler auch um wahre Erkenntnisse bemühen: «Eine scheinbare
Erkenntnis also von allen Dingen, nicht aber die Wahrheit besitzend zeigt
sich der Sophist.»1 Abgestoßen von den Überredungskünsten dieser Rhe-
toriker und fasziniert von der Exaktheit des Wissens in der Arithmetik, der
Harmonielehre, der Astronomie und der Geometrie, kam die Philosophie vor
allem durch die Idee in die Welt, dass man vielleicht mit denselben Defini-
tionstechniken wie diese Wissenschaftler alle basalen Fragen des menschli-
chen Daseins ergründen könnte. So konstituiert sich die Philosophie als eine
solche Wissenschaft, welche deren Begründungsansprüche übernimmt und
im Sinne einer Letztbegründungswissenschaft sogar noch forciert. Philoso-
phie wird zur obersten Wissenschaft, was besonders anschaulich in Platons
Liniengleichnis zum Ausdruck kommt. Hier wird die Philosophie im Unter-
schied zu den «eigentlich so genannten Wissenschaften» als eine «dialek-
tische Wissenschaft» bezeichnet.2 Letztendlich spielt Platon sogar mit dem

1 Platon: Sophistes, 233c.


2 Platon: Politeia, 511c.
Was ist Philosophie? 93

Gedanken, den Namen der ‹Wissenschaft› ausschließlich für die Philosophie


zu reservieren und die herkömmlichen ‹Wissenschaften› anders zu bezeich-
nen, da sie diesen obersten Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht vollends
genügen können.3
Auch für Aristoteles ist die Philosophie eine Wissenschaft, und zwar
eine «auf die ersten Ursachen und Prinzipen gehende, theoretische [Wissen-
schaft]».4 Wichtig für die folgende Diskussion ist vor allem der Totalitäts-
anspruch, der mit dieser Konzeption verbunden ist. Aristoteles kommt zu
dem Schluss, dass «das Merkmal, alles zu verstehen (erkennen), dem zukom-
men [muss], der am meisten die Wissenschaft vom Allgemeinen hat; denn
diese weiß gewissermaßen alles Untergeordnete».5 Von dem hier die Rede ist,
ist kein anderer als der Philosoph, der ein Wissen von den ersten und damit
auch allgemeinsten Ursachen und Prinzipien besitzt, von denen man sich
wie von der Spitze einer Wissenspyramide herab in alle darunterliegenden
Wissensbereiche hinabreflektieren kann.
Der Startpunkt für alle weiteren Überlegungen ist relativ eindeutig: die
Philosophie begründete sich in der Antike selbst als Wissenschaftsavant-
garde. Bemerkenswert ist noch, dass bereits Platon eine Differenz zwischen
Philosophie und Wissenschaft artikuliert, an der die wissenschaftsskeptische
Philosophie der Moderne später anknüpfen kann. Es handelt sich um Platons
Schriftkritik aus seinem Siebenten Brief, wo ein ganz maßgeblicher Aspekt
aller modernen Wissenschaften schon vorab infrage gestellt wird, nämlich
ihre intersubjektive Vermittelbarkeit, welche unabhängig von mündlichen
Interaktionsverhältnissen funktionieren muss und die nicht der subjektiven
Interpretierbarkeit unterliegen darf. Vom höchsten philosophischen Wissen,
auf das all seine Bemühungen zielen und das man gewöhnlich als seine
«Ideenlehre» bezeichnet, sagt er:

das läßt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern aus dem
Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammen-
leben entsteht es plötzlich wie ein Licht, das von einem springenden Funken ent-
facht wird, in der Seele und nährt sich dann weiter.6

3 Vgl. ibid. 533a.


4 Aristoteles: Metaphysik, 982b.
5 Ibid. 982a
6 Platon: Der siebente Brief, 341c-d, übers. von E. Howald. Schleiermacher über-
setzt wörtlicher und spricht von «Lerngegenständen» anstelle von «Wissenschaf-
ten», aber von der Sache her ist Howalds Übertragung richtig.
94 Harry Lehmann

Die Philosophie wird hier als ein Gespräch verstanden, das sich nicht im
herkömmlichen Sinne aufschreiben lässt und nach den Maßstäben moderner
Wissenschaft auch nicht wissenschaftsfähig ist. Vielmehr bedarf die Philoso-
phie einer spezifischen Darstellungsform, welche diesen Gesprächscharakter
nachahmt. Hierin dürfte der eigentliche Grund für die erstaunliche Tatsache
liegen, dass diese ersten philosophischen Texte keine wissenschaftlichen Ab-
handlungen sind, sondern in Dialogform verfasst wurden.
Allein die Tatsache, dass Platon die bis dahin rudimentär entwickel-
ten Wissenschaften überhaupt nicht mehr als Wissenschaften gelten lassen
wollte und dass er eine derart interpretationsbedürftige und damit auch un-
exakte Darstellungsform wie den Dialog zur Vermittlung des philosophi-
schen Wissens favorisierte, macht deutlich, dass der damalige Begriff von
Wissenschaft nur beschränkt mit unseren heutigen Wissenschaftsverständ-
nis vergleichbar ist. Genaugenommen gehört das antike Selbstverständnis
der Philosophie als einer Wissenschaft noch zur Vorgeschichte der ‹wissen-
schaftlichen Philosophie›. Wenn man sich mithin der Frage nach der Relation
von Wissenschaft und Philosophie zuwendet, dann benötigt man zunächst
ein Geschichtsmodell, das die Ausbildung der modernen neuzeitlichen Wis-
senschaften plausibel macht, und von diesem Wissenschaftsbegriff aus kann
man dann auch rekonstruieren, wie sich die neuzeitliche Philosophie als
Wissenschaft definierte. Hierbei konnte man in der Renaissance durchaus
auf die wiederentdeckten antiken Philosophen zurückgreifen; was sich aber
grundlegend verändert hatte, ist die Wissenschaft, auf die sich diese neuzeit-
liche Philosophie vermeintlich ‹erneut› bezieht.

2.

Wie also kam es zur Ausbildung der modernen Naturwissenschaften, an


denen sich die neuzeitliche Philosophie orientiert? Was ist die spezifische
Differenz zwischen der rudimentären Wissenschaft in der Antike, die auf
einen kleinen Kreis von Forschenden beschränkt blieb und deren Wissen
kaum einmal gesellschaftlich relevant wurde, und der weltverändernden
Kraft jener von Galilei begründeten Naturwissenschaft?
Die soziologische Systemtheorie geht davon aus, dass es einen imma-
nenten Zusammenhang zwischen der Struktur einer Gesellschaft und ihrer
Semantik gibt. Die Gesellschaftsstruktur wird als Struktur der sozialen Kom-
munikation begriffen, man könnte auch sagen, es handelt sich um ihre basale
Kommunikationsform. Die Semantik einer Gesellschaft hingegen umfasst
Was ist Philosophie? 95

den gesamten Bedeutungshaushalt der verbalen und nonverbalen Zeichen,


über die sich die soziale Kommunikation konkret realisiert. Wenn man nun
die Semantik einer Gesellschaft daraufhin analysiert, welche Worte, Bedeu-
tungsgehalte und Zeichen in der Kommunikation eine besondere, heraus-
gehobene Funktion erfüllen, dann stößt man auf eine Reihe von Begriffen,
die für eine ganze Kommunikationssphäre von zentraler Bedeutung sind, bei
denen die Sinnfäden der Kommunikation einen Knotenpunkt bilden. Von den
Begriffen des Wahren, Guten und Schönen, aber auch von den Kategorien der
Gerechtigkeit, der Macht und des Reichtums gingen und gehen eine Unzahl
von Verweisungen aus und bilden ein Bedeutungszentrum mit gesteigerter
Anschlussfähigkeit. Es macht nun einen Unterschied ums Ganze, sprich um
die gesamte Form der Gesellschaft, in welchem Verhältnis diese Leitbegriffe
der Kommunikation zueinander stehen. Sie können nämlich entweder wie im
Mittelalter apriorisch miteinander verkoppelt sein, so dass das Wahre auch
gut, das Gute auch schön und das Schöne auch wahr ist, oder diese Leit-
ideen können aus ihrer wechselseitigen Verkettung herausbrechen und sich
in voneinander unabhängige Leitdifferenzen verwandeln, was den Beginn
der Neuzeit markiert.
Wovon hängt dies aber ab, ob die Anziehungs- oder die Abstoßungskräfte
zwischen diesen Leitideen überwiegen? Von der Struktur der Gesellschaft
selbst, lautet hier die komplementäre Antwort; davon, ob die Gesellschaft
ihre Primärkommunikation hierarchisch oder heterarchisch, vertikal oder
horizontal organisiert. Die christliche Religion vereint in ihrem Gottesbegriff
alle positiven Prädikate: Gott ist allmächtig, allwissend, absolut gut und er
kann sogar von sich sagen: «Ich bin die Wahrheit». Der christliche Gott wird
als Einheit aller Positivwerte gedacht und diese Einheit der positiven Prä-
dikate wurde im Mittelalter automatisch auf seine Stellvertreter auf Erden,
auf den Papst bzw. den Kaiser übertragen. Diese Bezugspersonen symboli-
sierten aber nicht nur den obersten Bezugspunkt aller Kommunikation, sie
standen auch real an der Spitze der Gesellschaftspyramide und vereinten bei
sich Wissen, Reichtum, Macht und Recht. Unter diesen Kommunikations-
verhältnissen hatte z. B. kein Gelehrter das Recht, Wissen zu verkünden,
das den Lehren der Kirche widersprach, und wenn er es dennoch öffentlich
vertrat, hatte er mit allen erdenklichen politischen, ökonomischen und recht-
lichen Konsequenzen zu rechnen. Die hierarchische Gesellschaftsstruktur
impliziert somit eine starke Dispräferenz für Abweichungen aller Art von
dem allseits legitimierten religiösen Weltbild – betreffen sie nun ästhetische,
wissenschaftliche, juristische und selbst ökonomische Innovationen. Diese
wechselseitige Restabilisierung der Semantik in den realen Herrschafts-
96 Harry Lehmann

verhältnissen und der hierarchischen Gesellschaftsstruktur in der zentrier-


ten Semantik verbürgte der mittelalterlichen Welt ihre große, über Jahrhun-
derte währende Stabilität der sozialen Ordnung. Permanent wurden Kriege
geführt, neue Herrscher inthronisiert und Grenzen neu gezogen, aber die
Ordnung selbst, in der dies alles geschah, blieb bestehen.
Unter diesen abweichungsresistenten Kommunikationsverhältnissen
konnte die Philosophie nur eine Dienstleistungsfunktion für die Theologie
erfüllen. Sie ebnete den Menschen mit Hilfe von Argumenten einen Weg in
den Glauben. Ihre rudimentäre Autonomie, welche sie in der griechischen
Demokratie einstmals erlangte, kam ihr in der mittelalterlichen, hierarchisch
differenzierten Gesellschaftsformation wieder abhanden. Die Philosophie
war ancilla theologiae, Magd der Theologie, wie dies im 11. Jahrhundert
der Scholastiker Petrus Damiani formuliert. Letztendlich konvergierten alle
philosophischen Gedankenexperimente der damaligen Zeit in ein und dem-
selben Abschlussgedanken: in Gott.
Im Europa des 15. Jahrhunderts kam es zu einem gesellschaftsstruktu-
rellen Bruch, zu einer Umstellung der primären Differenzierungsform aller
sozialen Kommunikation. Die mittelalterliche hierarchisch von oben nach
unten durchorganisierte Gesellschaft kippte in eine neuzeitliche heter-
archische Gesellschaft, die in gleichrangig nebeneinander operierende Funk-
tionssysteme gegliedert war. Und wieder lässt sich dies mit einem Entspre-
chungsverhältnis zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik erklären.
Die vordem fest aneinander gekoppelten Leitideen von Wahrheit, Schönheit,
Gerechtigkeit, Macht und Glauben verwandelten sich in sich selbst legiti-
mierende Leitdifferenzen, oder kurz gesagt: in einen Code. Vor allem die
Unterscheidung wahr/falsch konnte sich nun weitgehend unabhängig von
religiösen Rücksichtnahmen programmieren. Die sich ausbildenden Natur-
wissenschaften begannen nur noch ihren Experimenten und ihrer Mathema-
tik zu vertrauen, um zu beurteilen, ob eine Aussage über die Natur wahr ist
oder nicht. Alles, was sich nicht mathematisch oder experimentell beweisen
ließ, konnte weder wahr noch falsch sein, sondern wurde zum ausgeschlos-
senen Dritten, also zu etwas, was nicht länger zur Wissenschaft gehört. Der
Wahrheitscode definiert einen Sektor der Wissenschaftlichkeit und schneidet
ihn aus dem mittelalterlichen semantischen Kosmos heraus, in dem noch
alles mit allem zusammenhing. Unter dem bipolaren Mechanismus der Er-
kenntnisgewinnung beginnt sich in der Renaissance ein autonomes Wissen-
schaftssystem auszubilden, das auf der einen Seite unter dem wahr/falsch-
Code operiert und auf der anderen Seite diese Leitdifferenz über Methoden
und Theorien spezifiziert, die sich bereits als wissenschaftliche Erkenntnis-
Was ist Philosophie? 97

mittel bewährt haben.7 Das Wissenschaftssystem ist ein großer hermeneuti-


scher Zirkel, der ein Wissenskontinuum entfaltet, indem er sich selbst ent-
tautologisiert.
Für die Philosophie bedeutete diese Entwicklung ein Zweifaches: Sie
wird auf der einen Seite gegenüber der Religion autonom, und sie versteht
sich auf der anderen Seite zunehmend als eine Wissenschaft, die in den
neuen Naturwissenschaften ihr Vorbild sieht. Man könnte auch sagen, dass
die Philosophie ihren Anlehnungskontext wechselt und ihre Letztbegrün-
dungsfragen jetzt nicht länger in Bezug auf den Glauben, sondern in Bezug
auf diese Wissenschaften beantwortet. Exemplarisch kommt diese Doppel-
bewegung des philosophischen Denkens bei René Descartes zum Vorschein,
weshalb man den Startpunkt des modernen philosophischen Denkens zu
Recht auf sein Werk hin datiert. Der antireligiöse Impetus verbirgt sich be-
reits in seinem methodischen Zweifel: «So will ich denn annehmen, daß
nicht der allgütige Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser
Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß
daran gewandt, mich zu täuschen».8 Implizit heißt das, dass Gott als Quelle
der Wahrheit zu versiegen scheint und man auf die Wahrheit der offenbar-
ten Religion zumindest in der Philosophie nicht mehr blind vertrauen kann.
Anstelle eines religiösen Wahrheitsverständnisses tritt nun ein wissenschaft-
licher Wahrheitsbegriff, den Descartes aus der Mathematik und den Natur-
wissenschaften entlehnt: «Und so glaube ich bereits als allgemeine Regel
aufstellen zu dürfen, daß alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich
einsehe.»9 Zwar diente auch Descartes’ Wahrheitsauffassung letztendlich
dazu, einen Gottesbeweis zu führen, aber seine wissenschaftliche Methode
der Wahrheitssuche kehrte sich mehr und mehr gegen das religiöse Welt-
bild selbst und sollte es schließlich unterminieren – d. h., es zu einer reinen
Glaubenssache machen.
Auch Kant verfolgte das Ziel einer wissenschaftlichen Philosophie; seine
Leitfrage in der Kritik der reinen Vernunft lautete: «Wie ist Metaphysik als
Wissenschaft möglich?»,10 und die Antwort war: indem die Metaphysik die
revolutionäre Denkungsart der Wissenschaft zu kopieren versucht. Kants

7 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft (Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 21994), Kap. 5., insb. Abschnitt V, S. 194-209.
8 René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Hamburg:
Felix Meiner, 1960) S. 19.
9 Ibid. S. 31.
10 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 22.
98 Harry Lehmann

Leitidee ist, «die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch
eine auf einmal zu Stande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie
jetzt sind, wären […] soviel ihre Analogie […] mit der Metaphysik verstattet,
hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen».11 Unter diesem Methoden-
ideal lässt sich die Existenz Gottes nicht mehr objektiv beweisen, so dass sich
in der kritischen Philosophie Kants der gesamte Status des Gottesbegriffes
verändert: Gott verwandelt sich aus einer transzendenten Idee, die es zu
erkennen gilt, in ein transzendentales Ideal, das man unterstellen muss, um
die Vollständigkeit der menschlichen Erkenntnis zu garantieren.
Die Leitidee der neuzeitlichen Philosophie, die Metaphysik aus dem
Geiste der Naturwissenschaften neu zu begründen, wird in letzter Konse-
quenz erst im 20. Jahrhundert zu Ende gedacht, und zwar im Tractatus von
Ludwig Wittgenstein. Es war rund 250 Jahre später viel offensichtlicher
als zu Descartes’ Zeiten, was es heißt, dass etwas «wahr ist», weil man es
«ganz klar und deutlich einsehen» kann (s. o.). Man muss das jeweilige natur-
wissenschaftliche Programm mit seinen spezifischen Theorien und Metho-
den kennen, welche konkret festlegen, wann eine wissenschaftliche Aussage
wahr oder falsch ist. Das heißt nichts anderes, als dass sich die Wissenschaft
darüber definiert, dass sie unter dem wahr/falsch-Code des Wissenschafts-
systems operiert. Wittgensteins Verdienst ist es, dass er erstmals in der Phi-
losophiegeschichte zeigt, wie sich eine im strikten Sinne wissenschaftliche
Philosophie überflüssig macht, wenn sie sich beim Wort nimmt. Sein Fazit
lautet:

Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als
was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit
Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Meta-
physisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewisse Zeichen in seinen
Sätzen keine Bedeutung gegeben hat.12

Wittgensteins Tractatus reflektiert das von Descartes formulierte Methoden-


ideal einer intersubjektiven Klarheit noch einmal auf seine antiphilosophi-
schen Konsequenzen hin und stellt damit die Einheit von Philosophie und
Wissenschaft von innen her infrage. Sein Fazit ist: Wenn man sich auf den
Standpunkt einer streng naturwissenschaftlichen Philosophie stellt, dann
kommt man nicht umhin, ihr Ende zu denken.

11 Ibid. B XV f.
12 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (Leipzig: Reclam, 1990)
§ 6.53.
Was ist Philosophie? 99

Wittgenstein hat einen Unmöglichkeitsbeweis hinsichtlich einer streng


wissenschaftlichen Philosophie geführt, was aber an der Tatsache nicht viel
ändern konnte, dass ein Großteil der Philosophie nach wie vor an einem
wissenschaftlichen Selbstbild festhält. So wiederholt sich dann jene Auf-
klärungsgeschichte stets aufs Neue, es findet sich immer wieder ein enfant
terrible, das sich auf der offenen Szene dieses ‹Wissenschaftsbetriebes› aus
dessen Selbstverständnis herausreflektiert. Ein prominentes Beispiel hierfür
ist Richard Rorty, der in seinem Buch Der Spiegel der Natur die analyti-
sche Philosophie derart in Frage stellt. Es geht ihm darum, «die Idee einer
‹analytischen Philosophie› ihrerseits der Kritik zu unterziehen, ja der Philo-
sophie als solcher, wie sie sich seit Kants Zeiten verstanden hat».13 Zwi-
schen Kant, dem Neukantianismus und der Analytischen Philosophie lässt
sich eine Verbindungslinie ziehen, die letzten Endes auf der festen Koppe-
lung von wissenschaftlichem und philosophischem Denken beruht. Rorty
geht davon aus, dass das alte Selbstverständnis der Philosophie «als ‹Fun-
damentalwissenschaft›, die Erkenntnisansprüche ‹begründet›, im 19. Jahr-
hundert durch die Schriften der Neukantianer konsolidiert [wurde]»14 und
zeigt, «welche Form der neokantianischen Konsens in der Philosophie des
20. Jahrhunderts annahm und in welche Verwirrung eine Seite dieses Kon-
senses, die ‹analytischen Philosophie›, neuerdings geraten ist».15 Aus die-
sem Kontext der analytischen Philosophie heraus entwickelt Rorty seine
Argumentation gegen die «Kantische Konzeption von der Philosophie als
Fundamentalwissenschaft».16 Diese immanente Kritik der analytischen Phi-
losophie ist letztendlich eine Kritik an der Vorstellung einer Philosophie
als einer Wissenschaft überhaupt, wie sie sich in der Neuzeit als dominante
Strömung der Philosophie durchgesetzt hat.
Was sind die Konsequenzen dieser Selbstinfragestellung? Wenn man das
Projekt einer wissenschaftlichen Philosophie so radikal zu Ende denkt wie
Wittgenstein in seinem Frühwerk, wenn man die philosophische Sprache
also über dieselben Kriterien wie eine wissenschaftlichen Fachsprache de-
finiert, dann endet sie im «Schweigen». Der Tractatus bestimmt die philo-
sophischen Begriffe von «Sinn», «Gedanken», «Satz» und «Wahrheit» nach
dem Vorbild einer Wissenschaftssprache, deren Begriffe über Experimente

13 Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie (Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1987) S. 18.
14 Ibid. S. 14.
15 Ibid. S. 183.
16 Ibid. S. 15.
100 Harry Lehmann

und einen mathematischen Formelapparat für einen eindeutigen Gebrauch


präpariert sind. Unter diesen Voraussetzungen ist die Sprache die Gesamtheit
der Sätze, der Gedanke der sinnvolle Satz, der sinnvolle Satz Ausdruck seiner
Wahrheitsbedingungen und die Gesamtheit der wahren Sätze die Gesamtheit
der Naturwissenschaften.17 Genaugenommen ist der so definierte «sinnvolle
Satz» aber nur der Satz, der speziell für das Wissenschaftssystem Sinn macht.
Anschlussfähig sind dort nur Sätze, die entweder wahr oder falsch sein kön-
nen, aber nichts Drittes meinen. Ob aber ein Satz in diesem Sinne sinnvoll ist,
hängt davon ab, ob sich auf der Programmebene des Wissenschaftssystems
die entsprechenden Theorien und experimentellen Methoden finden lassen,
welche jene Wahrheitsbedingungen genau genug definieren – d. h., dass die
Sätze eindeutig, ohne missverständliche Alltagshermeneutik kommuniziert
werden können. Der sinnvolle Gedanke und der sinnvolle Satz im Tractatus
besagen nichts anderes, als dass jede Aussage im Wissenschaftssystem über
eine wahr/falsch-Distinktion codiert ist. Der Zweck der Philosophie erfüllt
sich dann in einer ‹logischen Klärung der Gedanken›, die im Tractatus um-
fassend und abschließend geleistet wäre.
Wittgensteins Frühwerk wird so zur Schocktherapie, welche die Sprache,
die sich selbst auf die Genauigkeitsstandards der Naturwissenschaften fest-
legt, ein für allemal gegen die Fabrikation von sprachlichem Unsinn immu-
nisiert. In seinem Spätwerk hingegen wird die Philosophie zur Dauerthera-
pie, weil jetzt damit zu rechnen ist, dass sich ein solcher Unsinn permanent
regeneriert: «Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres
Verstandes durch die Mittel der Sprache.»18 Der entscheidende Unterschied
zwischen seinem Früh- und seinem Spätwerk ist, dass Wittgenstein sich nicht
länger an der wissenschaftlichen Fachsprache, sondern an der Alltagssprache
orientiert. Hier lässt sich kein «Ideal der Genauigkeit»19 wie in den exak-
ten Wissenschaften formulieren, wo jeder ‹Gegenstand› durch Experimente
präpariert und Mathematik modelliert werden kann. Entsprechend kann
Wittgenstein für seine Philosophischen Untersuchungen festhalten: «Rich-
tig war, daß unsere Betrachtungen nicht wissenschaftliche Betrachtungen
sein durften.»20

17 Vgl. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, op. cit. § 4, § 4.001, § 4.431,


§ 4.11.
18 Ibid. § 109.
19 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp, 1984) § 88.
20 Ibid. § 109.
Was ist Philosophie? 101

Der Tractatus identifiziert sich mit dem Sprachspiel der Naturwissen-


schaften und kommt damit zu der finalen Einsicht, dass die Philosophie nur
noch Sätze der Naturwissenschaften formulieren dürfte, und weil dies nicht
ihre Aufgabe ist – zu schweigen hat.21 Die Philosophischen Untersuchungen
orientieren sich am alltäglichen Sprachspiel, vermeiden Fachterminologie
und benutzen sogar Metaphern als Mittel der sprachlichen Darstellung. Was
beide Werke eint, ist ein Ideal der Klarheit des Denkens und Sprechens, das
auf zwei sehr unterschiedlichen Wegen realisiert wird. Hier steht Wittgen-
stein immer noch in der Traditionslinie der wissenschaftlichen Philosophie,
welche bei Descartes ihren markanten Ausgangspunkt nahm und auf der
sein eigenes Werk einen vorläufigen Endpunkt markiert. Die Lehre aus dem
Tractatus ist, dass eine streng wissenschaftliche Philosophie keine Zukunft
hat und dass man entweder die Philosophie als solche oder die Idee, dass
die Philosophie eine Wissenschaft sei, preisgeben muss – von dieser zwei-
ten Option machte Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen
Gebrauch. Der Unterschied zwischen Wittgensteins Frühwerk und seinem
Spätwerk besteht vor allem darin, dass sich die Entkoppelung von Wissen-
schaft und Philosophie das eine Mal implizit und das andere Mal explizit
vollzieht.
In Rortys Der Spiegel der Natur finden sich beide Argumentations-
strategien zugleich wieder. Rorty unterscheidet nicht nur «normale» von
«revolutionären Philosophen», die wie im Wissenschaftssystem für die
maßgeblichen Innovationen verantwortlich sind, sondern auf der Seite der
Revolutionäre noch einmal zwischen den «systematischen» und den «bilden-
den Philosophen».22 Letztere versuchten zu verhindern, «daß unsere Gesprä-
che zu Forschungsprozessen degenerieren, zu einer Tauschbeziehung von
Theorien. Bildende Philosophen werden die Philosophie nicht zu einem Ende
bringen können, sie können jedoch verhindern, daß sie auf dem sicheren Pfad
einer Wissenschaft zu wandeln beginnt.»23 Rorty trifft eine «Unterscheidung
zwischen Gespräch und Wissenschaft»24 und verortet im Anschluss an seine
immanente Kritik der wissenschaftsorientierten analytischen Philosophie die

21 Natürlich sieht auch Wittgenstein noch ‹die andere Seite der Naturwissenschaf-
ten›, aber sie wird nicht von der Philosophie besetzt, sondern sie bleibt für «das
Mystische» reserviert. Die Philosophie kontrahiert zur Grenzlinie, die der Tracta-
tus zwischen Wissenschaft und Mystik zieht. Ibid. § 6.522.
22 Rorty: Der Spiegel der Natur, op. cit. S. 400.
23 Ibid. S. 403.
24 Ibid. S. 404.
102 Harry Lehmann

Philosophie auf der Seite des «Gesprächs». Die Funktion dieses «Gesprächs»
und damit auch die soziale Funktion der Philosophie – die nicht auf die Er-
kenntnisfunktion einer Wissenschaft zu verrechnen ist! – kann Rorty letzt-
endlich aber nur negativ bestimmen. Seine «bildende Philosophie» bleibt
immer ein reaktives Unternehmen gegenüber dem wissenschaftsförmigen
systematischen Philosophieren:

Bildende Philosophie ist nicht nur nichtnormal, sondern wesentlich reaktiv;


sie ist nur als Protest gegen das Unternehmen sinnvoll, durch irgendwelche
Vorschläge zur universalen Kommensuration und durch das Hypostasieren
eines privilegierten Systems von Beschreibungen dem Gespräch eine Ende zu
machen.25

Was Rorty nicht besitzt, ist ein eigenes Thema, eine eigene Frage, ein eigener
Erfahrungshorizont, eine eigene Theorietechnik oder ein eigener Denkstil,
wodurch jenes von ihm selbst gesuchte «Gespräch» angeregt werden könnte.
Auch dies ist noch eine Folge davon, dass Rorty die Entkoppelung von Wis-
senschaft und Philosophie von innen her, also aus dem Selbstverständnis-
horizont einer wissenschaftlichen Philosophie her betreibt. Damit drängt sich
die Frage auf, ob Rortys Philosophie tatsächlich so «bildend» sein könne,
wie er behauptet, wenn sie nicht systematisch verfahren will. Der Spiegel der
Natur sei als Buch «nicht konstruktiv, sondern therapeutisch», heißt es hierzu
lapidar.26 Es gibt aber auch einen Strang in der Philosophiegeschichte, der
die Trennung von Wissenschaft und Philosophie nicht nur negativ begründet
und der sich nicht nur als eine Reaktion auf das dominante Philosophiever-
ständnis der Neuzeit versteht, sondern wo die Philosophie sich über einen
eigenen positiven Wert bestimmt.

3.

Bereits drei Jahrzehnte, bevor Wittgenstein die Idee einer wissenschaftlichen


Philosophie immanent zu Ende gedacht hatte, stellte Friedrich Nietzsche die
Einheit von Wissenschaft und Philosophie ‹von außen›, sprich von einem
außerhalb der wissenschaftlichen Philosophie gelegenen Standpunkt her, in-
frage. Sein Argument zielte auf den Code des ganzen Wissenschaftssystems,
auf die stillschweigende Prämisse, dass in der Philosophie – so wie in jeder

25 Ibid. S. 408.
26 Ibid. S. 17.
Was ist Philosophie? 103

Wissenschaft – Wahrheit ein positiver und Unwahrheit ein negativer Wert


sei: «Gesetzt wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und
Ungewissheit? Selbst Unwissenheit? – Das Problem vom Werte der Wahr-
heit trat vor uns hin – oder waren wir’s, die vor das Problem hintraten?»27
Nietzsche zweifelt an dem «Grundglauben der Metaphysiker», von dem er
sagt, es sei «der Glaube an die Gegensätze der Werte». Und dieser Zweifel
bringt ihn dazu, die Wahrheit als einen positiven Wert selbst abzuwerten, und
zwar zugunsten des Scheins:
Bei allem Werte, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukom-
men mag: es wäre möglich, daß dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem
Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer
Wert zugeschrieben werden müßte.28

Was Wittgenstein und Nietzsche eint, ist ihr Unmöglichkeitsbeweis einer


wissenschaftlichen Philosophie. Wittgenstein zeigt im Tractatus, dass mit
einem wissenschaftlichen Wahrheitsverständnis die Philosophie ihren
Sinn verliert; Nietzsche führt in Jenseits von Gut und Böse vor, dass und
wie die Philosophie sich gegen das wissenschaftliche Wahrheitsverständ-
nis setzen kann. Die philosophiegeschichtliche Konsequenz beider Werke
ist, dass die Philosophie sich mit ihren eigenen Mitteln von den Wissen-
schaften emanzipiert, dass sie gegenüber dem Wissenschaftssystem auto-
nom wird und die bis dahin kaum je infrage gestellte Zusammengehörigkeit
von wissenschaftlichem und philosophischem Denken auflöst. Sobald die
Philosophie diese Trennung an sich selbst vollzieht und reflektiert, über-
schreitet sie die Epochenschwelle zur philosophischen Moderne – so wie
sich im gleichen Zeitraum auch eine spezifisch ästhetische Moderne aus-
gebildet hat.
Auch von Nietzsches Werk aus lässt sich eine Traditionslinie bis in die
Gegenwart ziehen. Autoren wie Heidegger oder Foucault folgen seiner Ar-
gumentationsfigur und lösen die Philosophie von ihrem wissenschaftlichen
Selbstbild ab, indem sie auf einen anderen Wert als auf den der wissen-
schaftlichen Erkenntnis setzen. So heißt es bei Heidegger: «Die Philosophen
sind ‹die› Denker. So heißen sie, weil sich das Denken eigentlich in der
Philosophie abspielt.»29 Skandalträchtig wird diese Aussage, weil die Wis-

27 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in KSA, Bd. 5, hg. von G. Colli,
M. Montinari, S. 15.
28 Ibid. S. 16f.
29 Martin Heidegger: Was heißt Denken? (Stuttgart: Reclam, 1992) S. 4.
104 Harry Lehmann

senschaft nur in einem ‹uneigentlichen› Sinne für sich beanspruchen könne


zu ‹denken›. Heidegger erläutert mit Hilfe der Differenz von Denken und
Nichtdenken die Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft.
Die philosophische Abhandlung, in der Heidegger die Frage «Was heißt
Denken?» diskutiert, begreift er als eine nichtwissenschaftliche Rede:

Es ist nämlich wahr, daß das bisher Gesagte und die ganze folgende Erörterung
mit Wissenschaft nichts zu tun hat, gerade dann, wenn die Erörterung ein Den-
ken sein dürfte. Der Grund dieses Sachverhalts liegt darin, daß die Wissenschaft
ihrerseits nicht denkt und nicht denken kann und zwar zu ihrem Glück und das
heißt hier zur Sicherung ihres eigenen festgelegten Ganges. Die Wissenschaft
denkt nicht.30

Was für Nietzsche «ein für alles Leben höherer und grundsätzlicher Wert»
(s. o.) ist, in dessen Namen er sich von der Wahrheitssuche der Wissen-
schaften distanziert, ist für Heidegger eine besondere Existenzform, die er
als «Offenheit des Daseins» oder als «Eigentlichsein» beschreibt. Insofern
es sich hierbei um keine vorhandene Wirklichkeit, sondern um eine Mög-
lichkeit handelt, die dem gewöhnlichen Leben verschlossen bleibt und ent-
sprechend erst durch die philosophische Rede freigelegt, erfahrbar und ver-
ständlich gemacht werden muss, lässt sich dieses Wissen auch von keiner
Fachsprache transportieren. Vielmehr soll es die philosophische Sprache
bzw. der philosophische Theoriestil dem Leser ermöglichen, sich in diese
Möglichkeit hineinzudenken. In diesem Sinne «denkt» die Wissenschaft für
Heidegger nicht.
Auch Michel Foucault stellt sich in eine Reihe mit jenen Philosophen,
«die in unserer Geschichte immer wieder versucht haben, diesen Willen zur
Wahrheit umzubiegen und ihn gegen die Wahrheit zu wenden, gerade dort,
wo die Wahrheit es unternimmt, das Verbot zu rechtfertigen und den Wahn-
sinn zu definieren».31 In der Nachfolge Nietzsches vertritt er die Auffassung:
«man muß unseren Willen zur Wahrheit in Frage stellen».32 Auch dieses
Philosophieverständnis richtet sich explizit gegen den Wissenschaftscode,
gegen die Direktive, jede wissenschaftliche Aussage unter die Alternative
von wahr und falsch zu stellen. Die Frage ist nur, welches Motiv steht hinter
dieser philosophischen Wissenschaftsfeindlichkeit! Offensichtlich wird der

30 Ibid. S. 8.
31 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 92003)
S. 17.
32 Ibid. S. 33.
Was ist Philosophie? 105

‹Wert der Wahrheit› selbst noch einmal gewertet und zwar in einer außer-
epistemischen, nicht auf Erkenntnisgewinne ausgerichteten Funktion. Hatte
Nietzsche kritisiert, dass der Schein und nicht das Streben nach Wahrheit
eine lebenssteigernde Wirkung hat und deswegen zu bevorzugen sei, so sieht
Foucault im Wahrheitsstreben einen Disziplinierungsmechanismus, den es
im Namen eines Freiheitsideals zu entlarven gilt. Die Wahrheit wird benutzt,
«Verbote zu rechtfertigen und den Wahnsinn zu definieren» oder kurz gesagt,
der wahrheitskritische Impuls seiner Philosophie lautet: Die Wahrheit steht
im Dienste von Herrschaft und Gewalt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Philosophie des Mittelalters
erfüllte eine Hilfsfunktion für die Theologie. Die Philosophie der Neuzeit
wurde gegenüber der Religion autonom, was unter anderem auch bedeutet,
dass sie nach ihren eigenen Methoden einen Gottesbeweis führt. Vor allem
aber fand sie in den Naturwissenschaften ihren neuen Anlehnungskontext
und realisierte sich dementsprechend als eine Wissenschaft. Die Philoso-
phie der Moderne setzt in dem Moment ein, wo diese strikte Koppelung an
die Wissenschaften aufgelöst wird. Man kann auch sagen: Die neuzeitliche
Philosophie endet, als sie daran zu zweifeln beginnt, dass ihr primärer An-
lehnungskontext wie bislang die Wissenschaft ist.

4.

Die Frage «Was ist Philosophie?» lässt sich nur beantworten, wenn man
weiß, was die Philosophie einstmals war – und was aus ihr geworden ist.
Dies war die Ausgangsthese, von der wir uns bisher leiten ließen. Sie wäre
falsch, wenn Kants epochemachende Idee, dass die Philosophie «den si-
cheren Gang einer Wissenschaft»33 einschlagen könne, sich als richtig er-
weisen würde. Keine Wissenschaft muss sich auf ihre eigene Wissenschafts-
geschichte besinnen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Der Begriff
der Wissenschaft ist für die Wissenschaft nicht konstitutiv. Vielmehr gibt es
eine Praxis, in der diese Frage immer schon beantwortet ist; und sollte an
den Forschungsrändern tatsächlich einmal eine Unbestimmtheit auftreten
und z. B.ein bahnbrechender Aufsatz wegen seiner scheinbaren ‹Unwissen-
schaftlichkeit› in einem Fachjournal nicht publiziert werden, dann kommu-
niziert man dies als einen Verfahrensfehler und korrigiert ihn. Was man in
einem solchen Fall aber nicht tut, ist, den Wissenschaftsbegriff zu diskutieren

33 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XV.


106 Harry Lehmann

und den Versuch zu unternehmen, die Grenze von Wissenschaft und Nicht-
wissenschaft neu zu definieren. Kurz gesagt: man beginnt nicht zu ‹philoso-
phieren›, wenn es zu solchen Fehlurteilen im Wissenschaftssystem kommt.
Auch dies spricht für die Entkoppelungsthese, denn es waren nicht nur die
Philosophen, welche das wissenschaftliche Selbstbild ihrer Disziplin argu-
mentativ zersetzten, sondern auch im Selbstverständnis der Wissenschaften
schlug sich die Erfahrung nieder, dass ihre eigene Forschung unabhängig
von philosophischen Überlegungen funktioniert und vor allem auch funk-
tionieren muss. Die feste Koppelung zwischen Wissenschaft und Philosophie
wurde somit von beiden Seiten her aufgelöst, nur dass sich dieser Vorgang
im Wissenschaftssystem geräuschlos vollzog und höchstens als allgemeiner
Kompetenzverlust der Philosophie bei der Lösung wissenschaftlicher Pro-
bleme mitgesehen und mitkommuniziert wurde.
Selbst die harmlos anmutende Prämisse, dass die Philosophie sich auf
ihre eigene Geschichte besinnen muss, um ihren eigenen Begriff zu bestim-
men, enthält mithin eine Vorentscheidung. Der Ansatz ist nur stimmig, wenn
es tatsächlich zur Trennung zwischen Wissenschaft und Philosophie kam –
was die zurückliegende Rekonstruktion der Philosophiegeschichte zu be-
weisen versucht. Letztendlich stößt man hier auf einen Bifurkationspunkt
des philosophischen Denkens, an dem sich die Frage, ob die Philosophie
eine Wissenschaft ist oder nicht, sowohl mit ja als auch mit nein beantworten
lässt. Zudem ist dieser Gegensatz nicht nur das Produkt eines Gedanken-
experiments, sondern spiegelt sich ganz real in zwei gegensätzlichen Strö-
mungen der Gegenwartsphilosophie wider. Gewöhnlich macht man hier den
idealtypischen Unterschied zwischen analytischer und kontinentaler Philo-
sophie. Wenn man die Frage nach der Philosophie aber nicht ideologisch
beantworten will, dann muss man beide Philosophiepole im Blick behalten.
Das aber bedeutet, dass damit die Bodenlosigkeit der eigenen Ausgangsthese
sichtbar wird.
Was man mit einer solchen Metareflexion gewinnt, ist eine Antinomie:
Wenn die Philosophie keine Wissenschaft ist, dann ist es möglich, sich an
ihrer eigenen Geschichte zu orientieren. Man kann anhand diverser Autoren
zeigen, dass es sich bei dem Projekt einer wissenschaftlichen Philosophie
nur um ein historisches Projekt gehandelt hat, das in der Neuzeit begann
und in der Moderne an ihr Ende kam. So betrachtet etwa Rorty ganz ohne
jeden Vorbehalt «die Geschichte der erkenntnistheoretisch orientierten Phi-
losophie als eine Episode der europäischen Kulturgeschichte».34 Wenn man

34 Rorty: Der Spiegel der Natur, op. cit. S. 422.


Was ist Philosophie? 107

aber davon ausgeht, dass die Philosophie nach wie vor eine Wissenschaft
ist, dann spielen historische Überlegungen und Argumente für ihre Selbst-
beschreibung keine Rolle.
Was folgt aus dieser Aporie, aus der man sich mit einem einfachen
Argument nicht herausreflektieren kann? Welche Auswirkungen hat diese
relativierende Betrachtung auf die Beweiskraft der historischen Zitate,
die für eine Entkoppelung sprechen sollen? Auf der einen Seite bleibt die
Einsicht, dass man die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Philoso-
phie nicht apodiktisch entscheiden kann, auf der anderen Seite focusiert
man damit ein Problem, das substanziell für die Beantwortung der Frage
«Was ist Philosophie?» ist. Das Argument funktioniert eher indirekt und
besteht darin, dass man die Argumentationslasten zusammenträgt, welche
die Gegenthese zu tragen hat. Wie kann die Philosophie, die mit einem wis-
senschaftlichen Selbstverständnis auftritt, mit Autoren wie Wittgenstein,
Nietzsche, Heidegger, Foucault und Rorty umgehen, die sich dezidiert
gegen deren Wahrheits-, Erkenntnis und Wissenschaftsansprüche stellen?
Wenn man sie als unwissenschaftliche Philosophien zurückweist oder
kritisiert, verfehlt man offenkundig das Problem – was sich von Lesern
beobachten lässt. Marginalisiert man diese Autoren, dann schreibt man in-
direkt an einer eigenen Philosophiegeschichte, die für eine wissenschaft-
liche Philosophie eigentlich ohne Bedeutung bleiben müsste. Auch wenn
sich gute Indizien finden lassen, dass die moderne Philosophie ihre Kom-
petenz als eine Wissenschaft verloren hat, so sind diese Gründe – eben weil
es eine nichtwissenschaftliche philosophische Argumentation ist – nicht
hinreichend, sondern beleuchten nur den blinden Fleck ihrer Gegenthese.
Die autonome Philosophie muss auf solche zweitbesten Gründe setzten, der
Nachweis von Reflexionsdefiziten wird für sie zur entscheidenden Plausi-
bilitätsressource im Argument. Es gibt zwar keine Letztbegründung für
die Strategie, sich an der Geschichte der Philosophie zu orientieren und
den Begriff der Philosophie entsprechend von dem der Wissenschaften zu
unterscheiden, aber eine Selbstbegründung, welche die Theorie als frei-
tragende Konstruktion transparent und mit anderen Theorien vergleichbar
macht.
Wohin führt nun die These, dass die Philosophie die Wissenschaft als
ihren angestammten Anlehnungskontext verloren hat? Lässt sie sich auch
theoretisch erhärten? Gefragt wäre ein Modell, an dem die strukturellen
Differenzen zwischen Wissenschaft und Philosophie ablesbar werden, an
dem sich zeigt, wie und warum die zeitgenössische Philosophie grundsätz-
lich anders als eine Wissenschaft funktioniert.
108 Harry Lehmann

5.

Die systemtheoretische Soziologie geht davon aus, dass die Wissenschaften


aufgrund der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in der Neuzeit
ein autonomes soziales System ausgebildet haben. Wie jedes Kommunika-
tionssystem besitzt auch das Wissenschaftssystem einen Code, eine Unter-
scheidung mit einem Positiv- und einem Negativwert, der bei jeder Ope-
ration im System mitläuft und präsent ist. In der Wissenschaft steht jedes
Experiment und jede Theorie unter der Fragealternative, ob sie wahr sind
oder falsch. Eine solche binäre Codierung der Kommunikation bringt ein
Abschlussproblem hervor, das mit dieser Binarisierung aller systeminternen
Sprechhandlungen noch keineswegs aufgelöst ist. Das Problem lautet, ob die
Unterscheidung zwischen wahr und falsch anzunehmen oder abzulehnen ist,
affirmiert oder negiert werden soll. Für die Wissenschaft gilt die Vorschrift,
dass das Unterscheiden zwischen ‹wahr› und ‹falsch› generell ‹wahr› ist.
Das mag paradox klingen, aber diese Paradoxie hat ihren objektiven
Grund. Besagtes Abschlussproblem besteht darin, dass in einem operativ
geschlossenen Funktionssystem eine Leitdifferenz mit Hilfe einer system-
immanenten Operation affirmiert werden muss. Für die Wissenschaft ste-
hen aber Werte wie ‹Gerechtigkeit›, ‹Profitabilität› oder ‹Schönheit› nicht
mehr zur Verfügung, weil sie nach Maßgabe der funktionalen Ausdifferen-
zierung für das Rechtssystem, das Wirtschaftssystem und das Kunstsystem
reserviert sind und für das Wissenschaftssystem gerade keinen universellen
Wert beanspruchen können. Gerade weil die Entflechtung der Werte zu den
konstitutiven Bedingungen von Funktionssystemen gehört, können keine
systemfremden anderen Werte diese Aufgabe erfüllen. Deshalb lässt sich
das Abschlussproblem in einem Funktionssystem nur durch eine paradoxe
Selbstanwendung des eigenen Codes auflösen. Im Wissenschaftssystems
führt dies zu der spezifischen Weisung, dass die Unterscheidung zwischen
wahr und falsch auf ihrer positiven Seite in sich selbst wieder eintritt. Der
Code der Wissenschaften ist damit doppelt bestimmt, und zwar erstens über
den Unterschied zwischen ihrem Positiv- von ihrem Negativwert und zwei-
tens über den Wiedereintritt – über ein so genanntes re-entry – dieser Unter-
scheidung auf ihrer positiven Seite: ↓ wahr | falsch _|
Damit ist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten verbindlich in die Wis-
senschaftskommunikation eingebaut: Wissenschaftliche Aussagen sind ent-
weder wahr oder falsch, aber nichts Drittes. Das ausgeschlossene Dritte ist
eine Kommunikation, die weder wahr noch falsch sein kann; sie fällt in die
Umwelt des Systems und wird a priori aus dem Wissenschaftssystem als eine
Was ist Philosophie? 109

unwissenschaftliche Behauptung ausgeschlossen. Man denke etwa an die


Parapsychologie, die sich mit seelischen Erscheinungen beschäftigt, für die
keine Theorien und Methoden auffindbar sind, mit denen sich entscheiden
ließe, dass es diese Phänomene gibt.
Aufgrund dieser universellen Geltung des Satzes vom ausgeschlosse-
nen Dritten ist das gesamte Wissenschaftssystem auf Widerspruchsfreiheit
hin programmiert. Das heißt, dass Unstimmigkeiten und Anomalien in der
Wissenschaft stets ein Anlass für weitere Forschung sind und nur temporär,
aber nicht substanziell ein Loch im Wissensnetz hinterlassen. Vor allem neue
Fakten und neue experimentelle Daten müssen theoretisch so aufgearbeitet
werden, dass die neuen Theorien das alte Wissen nicht einfach annullieren,
sondern nur deren Geltungsbereich neu begrenzen. Die Gesetze der klas-
sischen Mechanik werden durch die Relativitätstheorie oder die Quanten-
mechanik nicht etwa falsch, sondern ihr Wahrheitsanspruch wird auf ver-
gleichsweise geringe Geschwindigkeiten und Energien relativiert. Wissen-
schaftliches Wissen ist mithin systematisches Wissen, es ist von Anfang an
auf Vernetzung hin angelegt und untersteht einem Einheitsideal.
Die Form der Codierung impliziert in der Wissenschaft somit den Satz
vom ausgeschlossenen Dritten. Diese Logik der Widerspruchsfreiheit be-
wirkt, dass wissenschaftliches Wissen auf Systematizität hin angelegt ist und
entsprechend ein zusammenhängendes Wissenskontinuum ausbildet. Auf-
grund dieser Tatsache wächst die Sphäre des Wissens beständig an und es
kommt zu einer permanenten Wissensakkumulation. Das re-entry der wahr/
falsch-Codierung bewirkt also letztendlich den Erkenntnisfortschritt, und der
Preis hierfür ist, dass nur das, was entweder wahr oder falsch sein kann, im
Wissenschaftssystem auch wahrgenommen wird, alle anderen Phänomene
fallen in die unsichtbare Umwelt dieses Systems.
Auf diesen blinden Fleck des Wissenschaftssystems richtet sich das ge-
nuine Erkenntnisinteresse der Philosophie. Was die Wissenschaft von vorn-
herein nicht leisten kann und seit langem auch nicht mehr leisten will, ist,
am alten metaphysischen Projekt festzuhalten und die Welt in irgendeiner
Weise als Ganzes zu beschreiben. Es gibt in der Moderne keine Wissenschaft
mehr, die sich auf Totalitätsreflexionen verpflichten lässt. Vielmehr löst die
Wissenschaft ihr Komplexitätsproblem durch fortschreitende Spezialisierung
und interdisziplinäre Forschung an den sich überlappenden Disziplingren-
zen. Das Wissenschaftssystems bündelt die unzähligen Blindpunkte ihrer
Einzeldisziplinen zum blinden Fleck.
Die Philosophie hingegen ist so frei, mehr oder weniger explizit an ihrer
Tradition festzuhalten und nach wie vor ‹aufs Ganze› zu blicken. Der Ge-
110 Harry Lehmann

genstand dieser Totalitätsreflexion hat sich in der Moderne allerdings ra-


dikal verändert. Aristoteles ging es wie eingangs gesagt darum, «alles zu
verstehen», und er traute dies dem Philosophen zu, weil er «am meisten die
Wissenschaft vom Allgemeinen hat; denn diese weiß gewissermaßen alles
Untergeordnete».35 Das Wissen sollte in einer Erklärungspyramide organi-
siert werden, wo sich ausgehend von einem ersten Prinzip die Welt bis in
ihre letzten Phänomene durchdeklinieren lässt. Für eine hierarchisch diffe-
renzierte Gesellschaft war dies durchaus ein adäquates Erkenntnismodell,
zumal das Weltwissen von der Antike bis ins Mittelalter hinein noch einen
überschaubaren und stabilen Umfang besaß.
Diese Voraussetzungen haben sich in der Moderne radikal verändert. Es
gehört zu den unausweichlichen Folgen funktionaler Gesellschaftsdifferen-
zierung, dass die Gesellschaft aufgrund der freigesetzten Eigenevolution
ihrer Teilsysteme in einen Modus der permanenten Selbstveränderung und
Dauerevolution geraten ist. Die Welt in ihrem unveränderlichen absoluten
Sein beschreiben zu wollen, dieser alte Anspruch der Philosophie wird damit
absurd. Hegel hatte nicht das Ende der Geschichte gedacht, sondern seine
Systemphilosophie markiert vielmehr das Ende einer Welt, die man sich
noch als einen ontologisch oder teleologisch begrenzten Möglichkeitsraum
vorstellen konnte. Die Frage «Was ist Philosophie?» spitzt sich in der Mo-
derne noch einmal zu, weil man von nun an in einer Welt mit radikal offener
Zukunft lebt. Für Totalitätsreflexionen gibt es aber auch in dieser dynamisier-
ten Gesellschaft Bedarf, aber nicht länger als ‹vollständige Beschreibung›,
sondern im Sinne einer adäquaten Komplexitätsreduktion.
Um diese Behauptung verständlich zu machen, muss man sich noch ein-
mal die geläufigen Ressentiments gegenüber dem Systembegriff und das mit
ihm assoziierte philosophische Totalitätsdenken vergegenwärtigen. Etwas als
Ganzes denken, heißt, es als einen Zusammenhang seiner Teile zu begreifen.
In griechischer Übersetzung heißt Zusammenhang nichts anderes als ‹Sys-
tem›. Die Aversionen richten sich nicht gegen diesen schwachen System-
begriff, sondern gegen den alten Systemgedanken einer Wissenspyramide,
wie er von Aristoteles bis Hegel in einer analytischen und in einer dialekti-
schen Variante vertreten wurde. Das systematische Denken steht sofort unter
Metaphysikverdacht oder noch schlimmer, man hält das Unternehmen ‹Phi-
losophie› für totalitär – als ob der Gedanke des Ganzen automatisch darauf
zielte, die ganze Welt zu beherrschen.

35 Aristoteles: Metaphysik, 982a


Was ist Philosophie? 111

Bei Deleuze und Guattari heißt es zu diesem tiefsitzenden Vorurteil tref-


fend: «Jedenfalls haben wir niemals ein Problem mit dem Tod der Meta-
physik oder der Überwindung der Philosophie gehabt: das ist nutzloses, pein-
liches Gewäsch. Man spricht vom Scheitern der Systeme heute, während sich
doch nur der Systembegriff geändert hat.»36 Wie aber hat sich der System-
begriff verändert? Die antike Welt war noch in einer Weise übersichtlich und
ihr Erkenntnishorizont über Generationen hinweg stabil, so dass sich «der
Spiegel der Natur» als das epistemische Modell mit dem größten sozialen
Orientierungswert durchsetzen konnte. Diese Spiegelmetapher funktionierte
über Jahrtausende hinweg aber nur, weil das Problem der Komplexität noch
keine Rolle spielte. Die alte Welt wurde nicht als komplex erfahren, und
so war es scheinbar nur eine Frage der Zeit und des Arbeitsaufwandes, sie
vollständig zu beschreiben. Unter diesen Vorzeichen konnte man davon
ausgehen, dass die Welt auch als Ganzes von der Philosophie als oberster
Wissenschaft beschrieben werden kann. Die Ordnung der Welt lässt sich
unter diesen Voraussetzungen in die Ordnung eines hierarchisch gegliederten
Beschreibungssystems bringen.
Diese ursprüngliche Einheit von Welt und Weltbeschreibung zerbricht in
dem Moment, wo die Gesellschaft im Zeitmaß eines menschlichen Lebens
zu evolutionieren beginnt und unter permanenten Veränderungsdruck gerät.
Jetzt wird offensichtlich, dass eine Weltbeschreibung nur noch als Kom-
plexitätsreduktion zu haben ist. Insofern markiert Hegels Systemphilosophie
die Grenze zwischen Neuzeit und Moderne, weil er auf der einen Seite die
Dynamik der neuzeitlichen Welt registriert und auf der anderen Seite am
alten Systemgedanken festhält. Seine Idee war, die Gesamtheit aller dyna-
mischen Prozesse in der Welt teleologisch zu interpretieren, so dass sich
die Welt in ihrem geschichtsphilosophischen Fluchtpunkt noch einmal als
Totalität beschreiben ließ.
Die moderne Welt aber ist unreduzierbar komplex geworden und lässt
sich entsprechend nur noch als Komplexitätsreduktion beschreiben. Deshalb
treten Realität und Realitätsbild, Gesellschaft und Gesellschaftsbeschreibung
auseinander und können nicht mehr in Form eines hierarchisch gegliederten
Darstellungssystems zur Deckung gebracht werden. Aber aus dem Faktum,
dass es keine vollständigen Beschreibungen mehr gibt, folgt nicht, dass diese
Beschreibungen keinen inneren Zusammenhang aufweisen dürften. Vielmehr

36 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Was ist Philosophie? (Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
2000) S. 14.
112 Harry Lehmann

tritt das Problem in den Vordergrund, ob eine Beschreibung zu einem be-


stimmten Zweck besser oder schlechter konstruiert ist.
Jede Gesellschaft besitzt ein Bild von sich selbst, ein Selbstverständnis
bzw. eine Selbstbeschreibung, die normativ wirksam ist, insofern sie den
Freiraum für politische Entscheidungen begrenzt. Im Zuge der eigenen Evo-
lution werden diese vereinfachenden Spiegelbilder blind, sie beschreiben
mit Begriffskonstellationen von gestern die veränderten gesellschaftlichen
Verhältnisse von heute und invisibilisieren die Probleme, die aus den sozialen
Transformationsprozessen erwachsen. Solche Probleme sind in erster Linie
Orientierungsprobleme, die entstehen, weil die gebräuchlichen normativen
Differenzen mit der Zeit schief zur Situation stehen, die sie beschreiben
und bewerten sollen. Die gesellschaftliche Funktion des Philosophiesystems
liegt in seinem besonderen Beitrag, in der Gesellschaft eine problemscharfe
Beschreibung der Gesellschaft zu entwerfen.37
Diese Konstruktion geschieht nach wie vor im Medium des Begriffs und
in Form von Theorien, aber die philosophische Theoriebildung kann im Zeit-
alter der Moderne nicht mehr mit dem gleichen Wahrheitsverständnis und
der gleichen Systemlogik wie in den Wissenschaften (bzw. der wissenschaft-
lichen Philosophie der Neuzeit) realisiert werden. Die in einer Gesellschaft
normativ wirksamen Grundbegriffe und Leitideen – etwa die Vorstellungen
von Freiheit und Gerechtigkeit, Identität und Unterschied, Einheit und Plu-
ralität – werden in der historisch konkreten Kommunikation je anders an-
einander bestimmt und vor allem auch je anders gewichtet. Sie treten in eine
je andere historische Konstellation und bilden so etwas wie eine Gramma-
tik möglicher Selbstbeschreibungen in der Gesellschaft aus. Auf der Ebene
dieser allgemeinsten Verständigungskategorien experimentiert die Philoso-
phie und versucht diese Begriffe aneinander und in Bezug auf reale Erfah-
rungsgehalte den veränderten Weltverhältnissen anzupassen. So ließe sich
auch die von Deleuze und Guattari vorgeschlagene Philosophiedefinition
auslegen: «Im strengeren Sinne ist die Philosophie die Disziplin, die in der
Erschaffung der Begriffe besteht.»38 Der neu geschaffene philosophische
Begriff zielt auf eine Veränderung der Selbstbeschreibungsgrammatik und
damit indirekt auf eine neue Selbstbeschreibung in der modernen Gesell-
schaft. Der philosophische Begriff ist der Kristallisationspunkt, an dem die
Sprache der Gesellschaft wieder Problemschärfe gewinnt.

37 Harry Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann (Mün-
chen: Wilhelm Fink, 2006) S. 63-85.
38 Deleuze, Guattari: Was ist Philosophie?, op. cit. S. 9.
Was ist Philosophie? 113

Die Philosophie besitzt in der modernen Gesellschaft eine welterschlie-


ßende Funktion, kann sie aber nur erfüllen, weil sie den wahr/falsch-Code
im strengen Sinne des Wortes ‹unwissenschaftlich› gebraucht. Der Code
affirmiert sich nicht selbst, sondern er setzt sich vorsätzlich außer Kraft. Das
strikte Unterscheiden von wahr und falsch ist nicht wahr, sondern falsch. Die
Philosophie löst mithin ihr Abschlussproblem in entgegengesetzter Weise
wie das Wissenschaftssystem auf; sie nimmt ihren Wahrheitscode nicht an,
sondern sie lehnt ihn vorsätzlich ab. Die Unterscheidung von wahr und falsch
vollzieht keinen Wiedereintritt auf der Positivseite, sondern sie tritt auf der
Negativseite dieser Unterscheidung wieder aus. Dieses re-exit des Philo-
_
sophiecodes | wahr | falsch ↑ fungiert als ein Symbol der Diskontinuität
mit allen im System vorhandenen Methoden, Theorien und Programmen,
welche allesamt nicht hinreichend sind, die Welt in ihrer Andersheit neu zu
beschreiben. Insofern bildet die Philosophie auch kein Wissenskontinuum
wie eine Wissenschaft aus, sondern die philosophischen Theorien sind Tota-
litätsbeschreibungen, die singulär zueinander stehen. So wie es in der Kunst
unvergleichbare Werke gibt, so besteht die Philosophie aus einer Vielzahl
von singulären Weltsichtkonstrukten.
Damit ist natürlich auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten außer
Kraft gesetzt. Wir haben es jetzt vielmehr mit einer generalisierten Weisung
für die gesamte philosophische Kommunikation zu tun, ein aus den bisheri-
gen Weltentwürfen ausgeschlossenes Drittes in die Beschreibung der Gesell-
schaft einzuschließen. All jene Phänomene, Begriffsbildungen, Theorieent-
scheidungen, Methoden und Logiken, für die es im Philosophiesystem kei-
nerlei hinreichende Gründe und Kriterien gibt, dass sie wichtig, relevant oder
zielführend sind, die also auf der Programmebene des Philosophiesystems
keinen Sinn machen, können für die Philosophie interessant sein – wenn sich
mit ihrer Hilfe die Grammatik der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung
umschreiben lässt. Die Differenz zwischen Wissenschaft und Philosophie
hat etwas mit der grundsätzlich unterschiedlichen Art und Weise zu tun, in
der sich die Wissenschaft und die Philosophie auf ihre Außenseite, auf das,
was sie nicht sind, beziehen. Im Prinzip könnte man sagen: Die Wissenschaft
grenzt sich gegen jede nichtwissenschaftliche Kommunikation ab, die Philo-
sophie greift auf nichtphilosophische Kommunikation aus.
Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass die Philosophie sich in ihrem
normalen Erscheinungsbild wie eine Wissenschaft ausnimmt, was vor allem
etwas damit zu tun hat, dass ihr angestammter Ort die Universität ist, an der
sich die Wissenschaften versammeln. Wenn man immer wieder den Ein-
druck bekommt, dass die Philosophie wissenschaftsförmig organisiert ist,
114 Harry Lehmann

so hat das vor allem etwas damit zu tun, dass sie sich wie die Wissenschaf-
ten auch innerhalb eines Funktionssystems reproduziert. Charakteristika wie
Anschlussfähigkeit, Wiederholbarkeit, Kontrollierbarkeit und Vernetzbarkeit
der ‹Forschungsergebnisse› gehören aber zum Betriebsmodus beider Sys-
teme – ohne dass dies schon spezifisch etwas mit Wissenschaft zu tun hätte.
Ganz gleich, ob man nun in der analytischen oder in der kontinentalen Tra-
dition steht, man befindet sich zunächst einmal innerhalb eines bestimmten
Diskurses, wo ganz spezifische Regeln gelten, was als ein Argument gilt
und was nicht. Es ist diese interne Systematizität beider Systeme, welche
die theoretische Unterscheidbarkeit von Wissenschaft und Philosophie so
schwierig gestaltet bzw. dass sowohl die normale Wissenschaft als auch die
normale Philosophie systemspezifische Programme besitzen und auch der
Großteil der philosophischen Debatten im Philosophiesystem akademisch
organisiert sind und entsprechend auch systemkonform funktionieren. Wie
jede andere Geisteswissenschaft auch lebt die Philosophie von Publikatio-
nen, die zitiert und diskutiert werden; man schreibt Forschungsanträge, ver-
anstaltet Kongresse, und es bilden sich hochspezialisierte Fachdiskurse aus.
Die Differenz zwischen Wissenschaft und Philosophie kommt aber erst in
den Blick, wo es um die Erfindung von neuen Theorien geht. Hier zeigt sich,
dass die Philosophie gegensystemisch operieren kann, weltoffen ist, norma-
tive Beschreibungen liefert, dass ihr Wissen historisch und modal verfasst ist
und dass sie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten außer Kraft setzt, weil
sie den eigenen Code über ein re-exit definiert.

6.

Blickt man mit stereoskopischem Blick auf die zweigeteilte Landkarte der
Philosophie, dann steht man vor folgendem Dilemma: Die Philosophie, die
sich als Wissenschaft begreift, kann die wissenschaftskritische Philosophie
höchstens ignorieren, aber nicht als Philosophie begreifen. Die Philosophie,
die sich nicht als Wissenschaft versteht, kann das wissenschaftskonforme
Denken nicht als Philosophie im eigentliche Sinne gelten lassen. Diese kom-
plementären Sehschwäche kann das hier entwickelte Theoriemodell korri-
gieren. Wenn es ein vom Wissenschaftssystem unterschiedenes Philosophie-
system gibt, das die philosophische Kommunikation auf eine ganz spezifische
Weise miteinander vernetzt, dann besitzt dieses Funktionssystem auch eine
soziale Funktion, die sich weder durch Kunst, Wissenschaft, Lebensberatung
oder Zukunftsforschung ersetzten lässt. Wie ließe sie sich bestimmen?
Was ist Philosophie? 115

Die Funktion des Wissenschaftssystems ist es, sicheres Wissen zu pro-


duzieren. Die Philosophie zielt auf ein historisches Wissen, das an sich
unsicher ist. Vielmehr geht es ihr darum, die Konstruktion neuer problem-
scharfer Selbstbeschreibungen in der Gesellschaft zu ermöglichen, und diese
Aufgabe erfüllt sie, indem sie Schlüsselbegriffe der Selbstbeschreibungs-
grammatik neu formatiert. Die Frage nach der gesellschaftlichen Funk-
tion überbrückt bereits virtuell die Kluft zwischen wissenschaftlicher und
nichtwissenschaftlicher Philosophie. Wie also ließe sich in Bezug auf diese
Funktionsbestimmung die Einheit von analytischer und kontinentaler Phi-
losophie denken?39
Für die analytische Philosophie ist nicht nur eine formale, sondern auch
eine inhaltliche Anbindung an die Naturwissenschaften charakteristisch, so
dass man sagen kann, dass sie dieses Wissen auf sein Weltbildpotential hin
untersucht. Eine solche Spezialisierung macht Sinn, insofern das Selbstbild
einer modernen Gesellschaft durch neues Wissen, das ihr Wissenschafts-
system permanent produziert, automatisch an Problemschärfe und Prägnanz
verliert. Die Forschungsergebnisse von Evolutionstheorie, Relativitätstheo-
rie, Quantenmechanik, der Neurowissenschaften oder der Gentechnologie
erweitern und verändern nicht nur unsere Vorstellungen von der Welt, son-
dern sie lösen auch schwer kalkulierbare Begriffsverschiebungen in ihrem
Beschreibungsmuster aus. Die Weltbilder werden von dieser wissenschafts-
förmigen Philosophie nicht als solche neu entworfen, vielmehr werden
Schlüsselbegriffe wie etwa der der Freiheit in Bezug auf die neuesten neuro-
wissenschaftlichen Forschungsergebnissen analysiert. Dass die Diskurse
der analytischen Philosophie wissenschaftsförmig geführt werden, ist kein
Wesensmerkmal der Philosophie, sondern es handelt sich vielmehr um einen
spezifischen Philosophiestil, der sich neben vielen anderen Stilen im auto-
nom gewordenen Philosophiesystem benutzen lässt. Die kopernikanische
Revolution in der Philosophie ist zwar gescheitert, überlebt aber als Stil.
Die kontinentale Philosophie bezieht ihre Anregungen hingegen nicht
direkt aus dem Wissenschaftssystem. Sie testet nicht im Detail, ob und wie

39 Auf dem Fünften Kongress der Gesellschaft für Analytische Philosophie 2003
wurde dieser Lagerstreit exemplarisch ausgetragen. Für das kontinentale Phi-
losophieverständnis siehe Holm Tetens: Streit der Philosophen – und trotzdem
Wissenschaft?, in Philosophie und/als Wissenschaft – Hauptvorträge und Kol-
loquiumsbeiträge zu Gap. 5, hg. von Christian Nimtz, Ansgar Beckermann (Pa-
derborn: mentis, 2005) S. 97-110; für das analytische Philosophieverständnis
siehe hingegen Wolfgang Spohn: Ist Philosophie eine Wissenschaft?, in ibid.
S. 81-96.
116 Harry Lehmann

die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse das gesellschaftliche Selbst-


verständnis verändern könnten. Vielmehr geht sie von einem normativ ge-
haltvollen Gesichtspunkt aus und versucht von diesem her ein Gegenbild zur
vorherrschenden Gesellschaftsbeschreibung zu entwerfen. Marx ließ sich
in diesem Sinne von Einsichten in die Ökonomie des Kapitalismus leiten,
Nietzsche spielte den Gedanken der Ewigen Wiederkehr des Gleichen für
die Gattung Mensch durch, Adorno zog aus der Dialektik der Aufklärung
Konsequenzen für die moderne Kunst. Die kontinentale Philosophie arbei-
tet nicht am einzelnen Schlüsselbegriff, sondern denkt immer schon in einer
Konstellation von Grundbegriffen, welche die Selbstbeschreibungsgramma-
tik als ganze konfiguriert.
Es lässt sich somit nicht nur philosophiegeschichtlich belegen, dass es
zu einer Entkoppelung von Wissenschaft und Philosophie gekommen ist,
sondern diese Differenz lässt sich auch theoretisch erhärten, sprich auf eine
jeweils verschiedene Funktionsweise und Funktionsbestimmung der ent-
sprechenden Sozialsysteme bringen. Die Tatsache, dass ein Großteil der
Philosophie sich nach wie vor als Wissenschaft versteht, führt in diesem
Theoriemodell nicht zwangsläufig dazu, ihr den Philosophiestatus abzuspre-
chen, sondern es bietet sich die Option an, deren Selbstbild anders zu inter-
pretieren.
Streng genommen zeigt die zurückliegende Argumentation aber nur,
dass die Philosophie keine Naturwissenschaft ist. Ein naheliegender Ein-
wand richtet sich entsprechend auf den Wissenschaftsbegriff, mit dem hier
gearbeitet wird. Müsste man die Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Phi-
losophie nicht viel eher zu den Literatur-, Kultur- oder Theaterwissenschaf-
ten ziehen als sie ständig an den mathematischen Naturwissenschaften zu
messen? Zunächst einmal muss man sich an die Diskussionslage erinnern:
Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Philosophie wurde sowohl in
der Antike als auch in der Neuzeit in Bezug auf Mathematik und Physik
diskutiert. Die Geisteswissenschaften bilden sich erst im 19. Jahrhundert
aus und orientieren sich, wie es der Name sagt, am Geistbegriff der idealis-
tischen Philosophie. Dies ursprüngliche Anbindung an die Philosophie wird
aber sehr schnell von einem naturwissenschaftlichen Methodenideal ersetzt:
«Die logische Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften […] ist ganz vom
Vorbild der Naturwissenschaften beherrscht»,40 heißt es bei Hans-Georg
Gadamer. Seine Intention in Wahrheit und Methode ist es, das verschüttete

40 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen


Hermeneutik, in GW, Bd. 1 (Tübingen: Mohr, 1990) S. 9.
Was ist Philosophie? 117

philosophische Potential der Geisteswissenschaften erneut freizulegen, und


nicht etwa den Wissenschaftsstatus der Philosophie neu zu begründen. Diese
Ressource ist für Gadamer das «Verstehen», das immer schon Sinnüber-
schüsse in sich birgt, die man für die weitere Kommunikation blockieren
oder entfesseln kann. Die Geisteswissenschaften können offensichtlich beide
Strategien verfolgen, so dass es hier zur Ausbildung eines empirischen und
eines hermeneutischen Theoriestils kommen konnte. Letztendlich bleibt aber
auch bei Gadamer die Differenz zwischen Geisteswissenschaften und Phi-
losophie bestehen. Seine philosophische Hermeneutik vermag es allenfalls,
den Abstand zwischen beiden Disziplinen zu verkleinern: «So rücken die
Geisteswissenschaften mit Erfahrungsweisen zusammen, die außerhalb der
Wissenschaft liegen: mit der Erfahrung der Philosophie, mit der Erfahrung
der Kunst und mit der Erfahrung der Geschichte.»41

7.

Die Relation zwischen Wissenschaft und Philosophie ist eine historische,


die sich im Rahmen eines Ausdifferenzierungsmodells rekonstruieren lässt.
Von ihrem Ursprung her hat sich die Philosophie in der Antike als Wissen-
schaft definiert – aber in gleicher Weise war sie auch Theologie, Lebenskunst
und Politikberatung. In Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Dominanz
und Prägekraft dieser Bereiche konnte im Mittelalter die Theologie und in
der Neuzeit die Naturwissenschaft zum Anlehnungskontext der Philosophie
werden, sprich zu jenem Kontext, in dem man sich auf absolut plausible
Leitideen berufen konnte. In der Moderne wird offensichtlich, dass es An-
lehnungskontexte im eigentlichen Sinne des Wortes – als Kontexte, die selbst
nicht weiter hinterfragt werden brauchen und der Philosophie als eine außer-
philosophische Begründungsressource dienen – überhaupt nicht mehr gibt.
Weder die Theologie noch die Wissenschaft liefern erste oder letzte Prinzi-
pien, von denen sich die Welt als ganze beschreiben lässt.
Das gilt übrigens auch für die Kunst, dem dritten großen Anlehnungs-
kontext nach Religion und Wissenschaft, der genau in dem Moment aktuell
wurde, als man am wissenschaftlichen Weltbild der Neuzeit grundsätzlich zu
zweifeln begann, also zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Exemplarisch hierfür
steht die Philosophie von Schelling:

41 Ibid. S. 1f.
118 Harry Lehmann

Das Kunstwerk reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes ab-
solut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philosoph
schon im ersten Akt des Bewusstseins sich trennen lässt, wird, sonst für jede
Anschauung unzugänglich, durch das Wunder der Kunst aus ihrem Produkten
zurückgestrahlt.42

Der große gesellschaftsstrukturelle Bruch, der sich in der Neuzeit vollzog,


aber erst in der Moderne als solcher reflektiert wird, führte schließlich nicht
nur zur Entkoppelung der Philosophie von der Religion, sondern auch von
der Wissenschaft und der Kunst. Das heißt nicht, dass die Philosophie sich
auf diese Kontexte nicht weiterhin produktiv zu beziehen vermag, aber diese
Bezüge funktionieren nicht mehr wie ein Anlehnungskontext, der alle Argu-
mente auf ein gesamtgesellschaftlich evidentes Fundament stellt. Die Bezüge
der Philosophie zur Wissenschaft, Religion und Kunst sind mögliche, aber
keine notwendigen Bezüge mehr. Der Begriff der Entkoppelung verinner-
licht diese historische Selbsterfahrung der Philosophie, indem er auch die
Philosophiegeschichte als eine Geschichte von relativ stabilen Koppelungen
interpretiert, die aber eigentlich immer schon das waren, was sie heute sind:
eine kontingente Relation.
Die Folge dieser Entkoppelungsgeschichte ist, dass die Philosophie sich
über die traditionellen Anlehnungskontexte nicht mehr begründen kann, sie
muss vielmehr davon ausgehen, dass sie wesensmäßig keine Wissenschaft,
keine Theologie, keine Lebensberatung und keine Kunst ist. Nachdem alle
letzten Gründe in fremden Kontexten keinen Halt mehr versprechen, kann sie
ihren Begriff einzig und allein noch in einer Funktion finden, die von keiner
anderen Disziplin als von ihr selbst erfüllt werden kann. Die Idee war, dass
die Philosophie ihren Eigenwert in der Umschreibung der gesellschaftlich
relevanten Selbstbeschreibungsgrammatik findet. Diese These ist nicht mehr
rekonstruktiv, sondern konstruktiv, sie analysiert nicht nur, was die Philoso-
phie einmal war, sondern auch, was aus ihr geworden ist. Beweisen im wis-
senschaftlichen Sinne lässt sie sich nicht, man kann aber zeigen, was dieser
Philosophiebegriff leistet und welche Konsequenzen er hat.
Gesetzt also, die Umschreibung der Selbstbeschreibungsgrammatik wäre
die spezifische Funktion des autonomen Philosophiesystems: Wie sähe ein
solches Selbstbeschreibungsproblem heute aus? Selbstbeschreibungspro-
bleme sind Trägheitsprobleme einer Gesellschaft, die evolutioniert und per-
manent gezwungen ist, sich ein neues Bild von sich selbst zu entwerfen.

42 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus


(Hamburg: Felix Meiner, 1992) S. 296.
Was ist Philosophie? 119

Dass die Moderne sich verändert, gehört letztendlich zu ihrem Begriff. Die
Möglichkeiten einer Beschreibung sind stark limitiert; sie hängen von Wer-
ten und Kommunikationsstrukturen ab, welche zu ihrer Zeit in Gebrauch
sind und vorausgesetzt werden, damit Gesellschaft im Sinne eines umfas-
senden Kommunikationszusammenhanges überhaupt stattfinden kann. Mit
wissenschaftlicher Forschung, mit Theologie oder Kunst kommt man dieser
konstitutiven Blindheit der Moderne nicht bei – vielmehr eröffnet sich hier
das Feld für Philosophie.
Der philosophische Gedanke entsteht immer an den Bruchstellen von
alter und neuer Gesellschaftsbeschreibung. Das Nichtfunktionieren der alten
Beschreibung ist aber keineswegs evident, sondern muss als eine solche
Dysfunktionalität zuerst einmal sichtbar und begreifbar gemacht werde. Die
Philosophie muss auf der einen Seite die neuralgischen Phänomene ein-
sammeln und benennen, und sie muss auf der anderen Seite zeigen, dass
diese Probleme in der Tiefengrammatik der sozialen Kommunikation ver-
wurzelt sind. Die neue Beschreibung wird entsprechend nicht einfach erfun-
den, sondern geht, mehr oder weniger direkt oder indirekt, aus einer solchen
Kritik der alten Beschreibung hervor.
Die praktisch dominierende Selbstbeschreibung der Gesellschaft ist
immer noch ‹postmodern›. Es gibt eine Fülle von Indizien in der Alltagskom-
munikation bzw. eine ganze Reihe von ‹negativen Erfahrungen›, die ver-
muten lassen, dass diese Beschreibung an die Grenzen ihrer Leistungsfähig-
keit gestoßen ist. Vor allem die Rede von der «postmodernen Beliebigkeit»
bringt das Unbehagen an diesem Selbstverständnis auf den Punkt. Aber
wieso war die Postmoderne einst die Lösung und wird nun zum Problem?
Dieser Epochenbegriff bezeichnet selbst eine neue Beschreibung gegen-
über dem geschichtsphilosophischen Modell, das bis in die 70er Jahre hin-
ein die Diskurse strukturierte. Werke wie Sein und Zeit, die Dialektik der
Aufklärung, Wahrheit und Methode oder die Ästhetische Theorie nahmen
Letztbegründungsargumente in Anspruch, von denen aus sich die Welt als
Ganze noch einmal beschreiben und bewerten ließ – ohne mitzureflektieren,
dass es sich um eine Konstruktion gehandelt hat.43 Die philosophische Post-
moderne entsteht aus einer Kritik solcher Werke, aus der Einsicht, dass selbst
diese aufgeklärtesten Philosophiekonzepte der Moderne noch auf quasi-
metaphysischen Prämissen beruhen. Ihr methodologisches Leitmotiv heißt:

43 Eine solche Parallelisierung der Einwände gegenüber Hermeneutik und Kriti-


scher Theorie findet sich bei Rüdiger Bubner: Über einige Bedingungen gegen-
wärtiger Ästhetik, in Neue Hefte für Philosophie 5 (1973) S. 38-73.
120 Harry Lehmann

‹Dekonstruktion›. Mit seiner Hilfe lässt sich der Nachweis erbringen, dass
jede normative Unterscheidung eine Setzung ist – und sich dekonstruieren
lässt. Letztendlich hat Derrida hier das Prinzip aller Poesie auf den Begriff
gebraucht und philosophisch generalisiert: Ein Satz geht in seinem proposi-
tionalem Gehalt nicht auf, sondern besitzt einen performativen Verweisungs-
überschuss, an dem sich sinnwidrig zur Normalkommunikation anknüpfen
lässt. Das gilt natürlich nicht für die Fachsprachen der Wissenschaft, die sich
von der Alltagssprache eben dadurch unterscheiden, dass ihr performativer
Überschuss über Zusatzvorkehrungen kontrolliert werden kann. Empirische
Daten und theoretische Definitionen schränken dessen Anschlussfähigkeit
auf einen vernachlässigbaren Rest ein und blockieren systematisch jeden
Verweis aus der wissenschaftsinternen Kommunikation hinaus. Wenn man
die Dekonstruktion als Prinzip der Weltinterpretation generalisiert, wie dies
für die Postmoderne charakteristisch ist, dann kann man diesen Punkt nicht
akzeptieren und wird die Naturwissenschaften tendenziell als eine Art von
Kunst oder Mythos interpretieren. Paul Feyerabend hat diesen Gedanken in
seiner «Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie»44 voll ausgereizt,
wenn er behauptet: «Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied
zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist
eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht
unbedingt die beste.»45
Durchmustert man hingegen mit jener dekonstruktiven ‹Theorietechnik›
die Philosophiegeschichte, dann lässt sich bis in die Texte der avanciertesten
Metaphysikskeptiker, wie es Adorno und Heidegger waren, eine Différance
in ihren Begründungsansprüchen aufspüren. Ihre historische Evidenz ge-
wann die Dekonstruktion vor allem aus der Tatsache, dass sie das philosophi-
sche Ideal intellektueller Redlichkeit auf die Spitze treibt und auf ihre Weise
die Dialektik der Aufklärung fortschreiben kann. Verallgemeinert man diesen
‹Aufklärungsfortschritt›, wie dies kulturgeschichtlich in der Postmoderne
geschehen ist, dann kommt man dazu, Pluralität als Positivwert zu setzten.
An diesem Vorurteil ist die Selbstbeschreibungsgrammatik der Postmoderne
verankert; hier hat ihre charakteristische Präferenz für Ambivalenz und Dif-
ferenz ihren letzten Grund.46

44 Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 31991).


45 Ibid. S. 385.
46 Harry Lehmann: Neutralisierte Indifferenz – Das zentrale Bezugsproblem der
aktuellen Kunstphilosophie, in Limina. Zur Indifferenz in zeitgenössischer Kunst
und Musik, hg. von Patrik Frank (Saarbrücken: Pfau, 2007) S. 99-123.
Was ist Philosophie? 121

Normalerweise würde man denken, dass Begriffe wie Pluralität, Diffe-


renz, Ambivalenz rein deskriptive Kategorien sind. Wenn man aber ihre Welt-
bildfunktion analysiert, dann zeigt sich, dass ihnen selbst ein normieren-
der Wert zukommt. Normative Neutralität ist der unwahrscheinlichste Fall
schlechthin in einem geschichtlich vermittelten Beschreibungskontext, nur
braucht man sich normalerweise um diese Wertedifferenzen nicht zu küm-
mern, so wie man kein grammatikalisches Wissen von seiner Muttersprache
benötigt, um sie zu sprechen. Man könnte es eine Grunderfahrung des Philo-
sophierens nennen, dass ihre abstraktesten Grundbegriffe im Kontext einer
gesellschaftlichen Selbstbeschreibung normativ wirksam sind und in histori-
schen Umbruchzeiten ihren Wert verlieren oder gar vertauschen können. Ein
solcher Fall liegt vor, wenn man sich den Pluralitätsbegriff anschaut. Mag
‹Pluralität› eine produktive Antwort auf die Einheitsansprüche der Nach-
kriegsphilosophien gewesen sein, so hat sich doch heute der gesamtgesell-
schaftliche Problemhorizont längst soweit verschoben, dass seine negative
Seite mehr und mehr sichtbar wird. Pluralität mag in dem einen Kontext eine
bestimmte Form von Freiheit symbolisieren, in der Gegenwart legitimiert
sie soziale Indifferenz und bewirkt somit ihr Gegenteil. Sie rechtfertigt eine
Form von Unfreiheit, die vollkommen quer zu den bislang aktuellen Dis-
tinktionen von Freiheit und Unfreiheit steht, nämlich, dass eine Gesellschaft,
die unter hohem Entscheidungsdruck steht, aus Gründen ihres inadäquaten
Selbstbildes keine Entscheidungen treffen kann. Auf diesen blinden Fleck
kann die Philosophie heute ihre Theoriereflektoren richten, wobei es hier
nie bloß um einzelne Begriffe, sondern um ganze Begriffskonstellationen
geht, deren Relationsgefüge die Selbstbeschreibungsgrammatik einer Zeit
definiert.
Sicherlich kann man andere Abstoßungspunkte für eine zeitgenössische
Philosophie finden als den Pluralitätsbegriff, man wird aber kaum umhin-
kommen, das Verhältnis von Einheit und Differenz bzw. Identität und Unter-
schied neu zu bestimmen. Die selbstgewisse Kritik an den Einheitsdenkern
und Identitätsphilosophen läuft ins Leere. Die diskussionslose Präferenz für
das Differenzdenken und das fraglose Interesse für das Abweichende, Andere
und den Unterschied, von denen die Grammatik der Gegenwartsdiskurse ge-
prägt ist, signalisieren nicht länger Problembewusstsein, sondern Naivität.
Das Bezugsproblem der Philosophie wäre heute darin zu sehen, wie man
sich in Möglichkeitsräumen orientiert und in komplexen, unübersichtlichen
Entscheidungssituationen zu nachvollziehbaren Entscheidungen gelangt.
Betrachtet man die postmoderne Selbstbeschreibung der Gesellschaft
als das Bezugsproblem der Gegenwartsphilosophie, dann ergeben sich An-
122 Harry Lehmann

schlüsse zu soziologischen Theorien, die eine ähnliche Problembeschreibung


zum Ausgangspunkt nehmen. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass
man nach einem Epochenbegriff sucht, welcher den der Postmoderne ersetzt.
Das aussichtsreichste Nachfolgekonzept dürfte hierbei der von Ulrich Beck
geprägte Begriff der «reflexiven Modernisierung» sein.47 Was die Reflexive
Moderne von der Postmoderne unterscheidet, ist, dass hier die von der Ge-
sellschaft erzeugten Nebenfolgen systematisch in die Gesellschaft zurück-
reflektiert werden und damit als Folgelasten erscheinen – die alles andere
als nebensächlich sind.
Die Philosophie kann in Bezug auf diese Gesellschaftstheorie sich die
Frage stellen, welche grundbegrifflichen Blockaden einer solchen Umschrei-
bung entgegenstehen. Ihr Interesse gilt eher den Nebenfolgen des Denkens
und der Kommunikation, sprich den Möglichkeitsräumen, die sich in einer
Gesellschaft aufgrund ihre Selbstbeschreibungsgrammatik eröffnen und ver-
schließen. Die Philosophie formuliert keine direkten normativen Aussagen,
aber sie zeigt, wofür man sich entscheidet, wenn man sich (für ein bestimm-
tes soziales Sprachspiel) entscheidet. Einer solchen Philosophie wird es auf
der einen Seite darum gehen, dass sich die zur Orientierung nötige Welt-
komplexität in einer Komplexion von Grundbegriffen niederschlägt, und auf
der anderen Seite wird sie versuchen, diese Begriffsverhältnisse so selbst-
durchsichtig wie möglich zu gestalten. Oder kurz: Das Theorieideal dieser
Philosophie heißt: transparente Komplexität. Der postmodernen Philosophie
geht es um die Rettung der Sprache und der Phänomene gegenüber den Iden-
titätszumutungen von sozialer Realität und Theorie. Sie vermutet in allen
Haarrissen des Nichtidentischen ein Freiheitsversprechen, misstraut dem
identifizierenden Begriff und der definitiven Theorie und versucht, dieser
Idee entsprechend, sich auf nichts festzulegen und sich der Beobachtung zu
entziehen. Der Gedanke sucht sofort den Fluchtweg, sobald er das Gedan-
kengebäude betritt, das er baut. Heutzutage dürften sich Freiheit und Unfrei-
heit aufgrund eines vollkommen anderen Problembewusstseins ganz anders
definieren, womit auch ein eher stringenter als kontingenter Philosophiestil
anschlussfähig wird: eine Philosophie, die sich beobachtbar machen will und
als freitragende Theoriekonstruktion realisiert.
Freitragend ist die Philosophie vor allem deswegen, weil sie auf Letzt-
begründungspfeiler in ihrer Argumentation verzichtet und ihre Theorie-

47 Vgl. Ulrich Beck: Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Mo-
derne, in ders., A. Giddens, S. Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse
(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996) S. 19-112.
Was ist Philosophie? 123

brücken – von der alten in die neue Selbstbeschreibung der Gesellschaft –


an den Ufern der Lebenswelt, der Wissenschaften und der gesellschaftlichen
Realität verankert. Wenn solche Theorien gut konstruiert sind, dann liegen
sie an den Eigenwerten der Gesellschaft auf, also vor allem an allgemeinver-
bindlichen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Die Relation zu
diesen lebensweltlichen Werten garantiert, dass die philosophischen Theo-
rien keine Theoriekonstrukte bleiben, sondern praktisch normativ werden.
Sie machen die Implikationen basaler Begriffskonstellationen sichtbar und
zeigen, für welche Welt man sich entscheidet, wenn man sich für ein be-
stimmtes Weltbild entscheidet. Das heißt: Die Philosophie formuliert keine
Normen, sondern kategorische Konjunktive.48 So öffnen sich die Fenster in
den philosophischen Ideenhimmel zu jeder Zeit wieder neu, aber jeweils an
einem anderen Ort und nur für einen geschichtlichen Augenblick.

48 Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst, op. cit. S. 280 u. 295.
Philosophie, Literatur und Gesellschaft
Studia philosophica 66/2007

S EBASTIAN HÜSCH

Das Problem der Erkenntnis als Problem


der Form: Literatur und Philosophie

Since the late 18th century, philosophy has suffered from a «crisis of identity» and
other disciplines have menaced philosophy on her own territory. Literature, in par-
ticular, deals increasingly with genuinely philosophical questions. There seems to be
a close interconnection between the crisis of metaphysics and the epistemological
revalorisation of the Arts, particularly of literature. Literature, one might think, is
defying philosophy’s competency on issues of knowledge and meaning. If a closer
look reveals that, indeed, new literary styles of writing such as Friedrich Schlegel’s
or Søren Kierkegaard’s find their roots in the crisis of philosophy, it simultaneously
reveals that this does not necessarily mean that one has to speak of a «rivalry»
between philosophy and literature. Rather one could ask if philosophy, confronted
with the problem of the «ineffable», would not have to evolve into literature in order
to remain philosophy.

Was ist Philosophie? Diese leitende Fragestellung des diesjährigen Sympo-


siums der Schweizerischen Gesellschaft für Philosophie ist selbstverständ-
lich ebenso wichtig, wie sie unbeantwortbar ist. Mir kam dabei die folgende
Formulierung Friedrich Schlegels in den Sinn: «Der Begriff schon, der Name
selbst der Philosophie und auch ihre ganze Geschichte lehren es uns, sie
sei ein ewiges Suchen und Nichtfinden können».1 Diese Charakterisierung
scheint mir ein geeigneter Ausgangspunkt ganz besonders dann, wenn die
Philosophie sich selbst zum Gegenstand hat; und eine Antwort auf diese
Frage kann dann selbstverständlich, im Bewusstsein einer prinzipiellen Un-
beantwortbarkeit, immer nur darin bestehen, in stets neuen Anläufen den
Gegenstand zu umreißen zu versuchen.

1 KA III, S. 99; sämtliche Zitate Friedrich Schlegels werden zitiert nach der Kri-
tischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 22 Bde., hg. von Ernst Behler (Paderborn:
Schöningh, 1958ff.). Die Zitate werden unter Angabe der Nummer des Ban-
des und der Seitenzahl und ggf. der Nummer des zitierten Fragments nach-
gewiesen.
128 Sebastian Hüsch

Umreißen wiederum bedeutet, eine Linie zu ziehen um jenes Territo-


rium, das die Philosophie für sich beanspruchen darf – und wenn man sich
die Frage stellt, wo diese Grenzlinie gezogen werden soll, dann drängt sich
natürlich unmittelbar die Frage auf, was denn jenseits dieser Linie liegt.
Insofern scheint es sinnvoll, im Dienste einer Annäherung an eine Antwort
auf die Frage «Was ist Philosophie», die Philosophie mit jenen «benachbar-
ten» Gebieten zu konfrontieren, die, wie man erwarten darf, auf der anderen
Seite jenes zu umreißenden Territoriums liegen, um dieserart zu versuchen,
die Besonderheiten der Philosophie schärfer zu konturieren. Im Folgenden
möchte ich den Versuch unternehmen, das Verhältnis der Philosophie zu
einem dieser Territorien, und zwar dem der Literatur, näher zu beleuchten.
Vor dem Hintergrund einer Literatur, die seit dem 18. Jahrhundert mit ihren
Fragen und Themenstellungen immer mehr auf die Philosophie überzugrei-
fen scheint, verspricht es lohnenswert zu sein, sich gerade diesen Grenzbe-
reich näher anzusehen und ein wenig Licht in jene Regionen zu werfen, die
sich Philosophie und Literatur gegenseitig streitig machen. Als roter Faden
dieser Gegenüberstellung soll mir dabei die Frage nach dem Zusammenhang
von Erkenntnis und Form dienen.
Freilich steht in Anbetracht des auszuleuchtenden Grenzgebiets nicht
zu erwarten, dass solche Überlegungen auf die Möglichkeit einer scharfen
oder gar definitiven Grenzziehung hinauslaufen werden – eher schon, dass
diese Grenzbereiche sich gewissermaßen als «Grauzonen» präsentieren, in
denen die Zuordnung je nach Perspektive möglicherweise anders aussehen
könnte.
Um über die Konfrontierung von Philosophie und Literatur zu einer An-
näherung an eine Antwort auf die Frage «Was ist Philosophie?» zu gelangen,
möchte ich im Folgenden die Hintergründe der Genese dieser modernen
Rivalität2 zwischen Philosophie und Literatur etwas näher anschauen – und
zwar namentlich die mit der Krise der Philosophie seit der Aufklärung ein-
hergehende und aus ihr resultierende erkenntnistheoretische Aufwertung des
Ästhetischen,3 in deren Zug die Literatur als Medium der Erkenntnis an Be-
deutung gewinnt. Zugleich gilt es zu zeigen, dass dieser Erkenntnisanspruch

2 Ich spreche von einer «modernen» Rivalität, weil es ja auch eine «klassische»
Rivalität zwischen Philosophie und Dichtung gegeben hat, namentlich bei Platon.
In den weiteren Ausführungen wird deutlich werden, dass diese Problemkonstel-
lation von anderer Art war als diejenige, um die es im Folgenden gehen wird.
3 Vgl. dazu die Überlegungen von Odo Marquard: Kant und die Wende zur Ästhetik,
in Zeitschrift für philosophische Forschung 14 (1962) S. 231-243.
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 129

der Literatur ein besonderer ist. Abschließend werde ich fragen, welche Kon-
sequenzen sich daraus für die Philosophie ergeben.

1. Krise der Philosophie

Es ist ein auffallendes Kennzeichen der neueren kulturgeschichtlichen Ent-


wicklung besonders seit der Aufklärung, dass sich die wissenschaftlichen
Disziplinen mehr und mehr ausdifferenzieren.4 Bemerkenswert an diesem
Prozess ist ferner, dass sich die Philosophie im Laufe dieser Entwicklung
nicht nur, wie dies möglicherweise auf den ersten Blick zu erwarten wäre,
von einer Seite, nämlich von Seiten der Naturwissenschaften, zunehmend
herausgefordert sieht, sondern auch aus anderer Richtung: Die Philosophie,
insofern sie in einem klassischen, in einem sokratischen Sinne auch immer
eine Wissenschaft der «Lebenskunst» ist, sieht sich auf neue Weise kon-
frontiert mit konkurrierenden Erkenntnis- und Sinnangeboten, die sämtlich
jenseits der so genannten «exakten» Wissenschaften angesiedelt sind.
Dabei ist diese doppelseitige Herausforderung der Philosophie in ge-
wissem Sinne auch noch selbstverschuldet, insofern zunächst die «Ver-
wissenschaftlichung» der Welt philosophischem Denken entspringt, ge-
nauso wie letztlich diese durch die selbst initiierte Verwissenschaftlichung
wesentlich verantwortlich ist für die Krise der Philosophie, d. h. jenen Verlust
einer Transzendenzgarantie, den Niklas Luhmann als die «Katastrophe der
Modernität»5 bezeichnet hat und den schon Nietzsche auf den Punkt bringt,
wenn er den Tod Gottes verkünden lässt. Denn mit dem Tod Gottes ist be-
kanntermaßen nicht nur das von der Kirche vertretene christliche Weltbild ins
Wanken geraten, sondern mit ihm werden auch die erkenntnistheoretischen
und metaphysischen Voraussetzungen der abendländischen Philosophie in
ihrem Fundament erschüttert bzw. zum Einsturz gebracht. Luhmann spricht
treffend – und Religion und Philosophie gleichermaßen umfassend – von der
Entwurzelung unserer historischen Semantik.6

4 Wobei diese selbstverständlich, gewissermaßen als Kinder und Enkel, sämtlich


aus der Philosophie, der «Mutter» der modernen Wissenschaften, hervorgegangen
sind.
5 Niklas Luhmann: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in ders.:
Aufsätze und Reden (Stuttgart: Reclam, 2004) S. 262-298, hier S. 287 (Hervor-
hebung im Original).
6 Vgl. ibid.
130 Sebastian Hüsch

Mit dieser Krise einher geht der Verlust einer existentiellen Sinngewiss-
heit. Auch die spektakulären Erkenntnisfortschritte im Bereich der Natur-
wissenschaften vermögen diesen Verlust nicht im Geringsten zu kompen-
sieren. In diesem Sinne hatte ja bereits Pascal darauf hingewiesen, dass
naturwissenschaftliches Wissen als kontingentes Wissen nie Fundament für
Sinnhaftigkeit sein kann – ein Argument, das ihn selbst dazu veranlasst hatte,
sich von der Mathematik und Physik ab- und Fragen der menschlichen Exis-
tenz zuzuwenden.7
Und im gleichen Sinne hat Wittgenstein sehr zutreffend festgestellt: «Wir
fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beant-
wortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.»8 Und das
bedeutet nichts anderes, als dass ein streng wissenschaftliches Denken den
Menschen unter keinen Umständen einer Sinnhaftigkeit versichern kann.
Denn wissenschaftliche Fragen sind Fragen «aus dieser Welt»; ein möglicher
Sinn muss dagegen, wie Wittgenstein konstatiert, außerhalb ihrer liegen.9
Mit der Zerstörung der «historischen Semantik» gerät dieses «Außerhalb
dieser Welt», der Kernbereich der Metaphysik, außerhalb jenes Bereiches,
für den eine rationalistische Philosophie zuständig sein kann. Sie gerät hier
inhaltlich und sprachlich an ihre Grenzen.

2. Die erkenntnistheoretische Aufwertung des Ästhetischen

Aber die Leerstelle einer transzendenten Sinnhaftigkeit kann selbstverständ-


lich nicht unbesetzt bleiben und so gewinnen mit dieser «Vertrauenskrise»
der Metaphysik andere Formen von Sinn- und Erkenntnisangeboten an Be-
deutung. Aus einer diachronen Perspektive ist dabei besonders die mit der

7 Vgl. z. B. das Fragment 566 seiner Pensées, wo er diese Wendung erklärt : «J’avais
passé longtemps dans l’étude des sciences abstraites […]. Quand j’ai commencé
l’étude de l’homme, j’ai vu que ces sciences abstraites ne sont pas propres à
l’homme» (Blaise Pascal: Pensées, hg. von Philippe Sellier [Paris: Bordas, 1991]
S. 376).
8 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in ders.: Schriften. Trac-
tatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Unter-
suchungen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1960) 6.52 = S. 82 (Hervorhebung im
Original).
9 Vgl. ibid. 6.41 = S. 80: «Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der
Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen
Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert.»
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 131

Dekonstruktion der klassischen metaphysischen Philosophie einhergehende


erkenntnistheoretische Aufwertung des Ästhetischen interessant, und hier
ganz besonders die wachsende Bedeutung der Literatur. Die Literatur nimmt
sich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend zentraler Fragen der Philosophie
an und erhebt Erkenntnis- und Sinnansprüche.
In Deutschland wird Literatur bzw. Dichtung spätestens mit der deut-
schen Frühromantik zu einem Medium der Erkenntnis geadelt. Ich möchte
in diesem Zusammenhang kurz einige Überlegungen Schlegels skizzieren,
die diesen erkenntnistheoretischen Bedeutungszuwachs der Literatur ver-
deutlichen.

3. Friedrich Schlegels «Höhere Poesie»

Der Ausgangspunkt für Schlegels Aufwertung des Ästhetischen ist bekann-


termaßen die Problematik der Erkenntnis des Absoluten bzw. Unendlichen.
Hier wendet sich Schlegel explizit gegen jeden Versuch, das Absolute im
Sinne einer Demonstration beweisen zu wollen, ein Unterfangen, das Schle-
gel zufolge unweigerlich zum Scheitern verurteilt sei, denn Erkennen be-
zeichne in diesem Sinne immer ein bedingtes Wissen: «Die Nichterkennbar-
keit des Absoluten ist […] eine identische Trivialität.»10 Das bedeutet nichts
anderes, als dass das Absolute nicht mittels der Vernunft erkannt werden
kann, insofern als das Absolute un-denkbar ist.11 Die teilende menschliche
Vernunft kann das Absolute als das Unteilbare niemals fassen. Aber diese
Undenkbarkeit bedeutet für Schlegel weder, dass es das Absolute nicht gibt,
noch, dass es nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Vielmehr ändert
er hier im Vergleich zu einer traditionellen Grundsatzphilosophie, die eben
jenes Absolute zu beweisen bemüht ist, die Spielregeln, wenn er sagt, dass
etwas auch derart erkannt werden kann, dass es zwar nicht rational bewiesen,
wohl aber gewusst werden kann: «Die Hauptsache aber bleibt doch immer,
dass man etwas weiß […]. Es beweisen oder erklären zu wollen, ist in den
meisten Fällen herzlich überflüssig»,12 so lässt uns Schlegel im Athenäums-
Fragment 82 wissen.
Das Absolute ist also als das Undenkbare auch unbeweisbar, es wird aber
dennoch gewusst. Nun tritt aber eine neue Schwierigkeit auf: Insofern das

10 KA XVIII, S. 511, Nr. 64.


11 Vgl. KA XVIII, S. 512, Nr. 71: «Das Absolute selbst ist indemonstrabel.»
12 KA II, S. 177, Nr. 82.
132 Sebastian Hüsch

Absolute undenkbar ist, ist es ja auch zunächst einmal unsagbar, d. h. sprach-


lich nicht auf gewöhnliche Art darstellbar. Dieser Tatsache trägt Schlegel
Rechnung, indem er sagt, dass einzig der Verweis auf das Absolute möglich
sei. Die Sprache darf das Absolute nicht direkt aussagen wollen, sondern
muss vielmehr so beschaffen sein, dass sie das Absolute oder vielmehr den
Verweis auf das Absolute gleichsam durchscheinen lässt. Und ein solches
Verweisen auf das Undenkbare muss sich ganz besonderer Verfahren bedie-
nen. Es bedarf einer Sprechweise, die zwar die Limitationen der Sprache
nicht überwinden kann, gegenüber der auf Eindeutigkeit zielenden philoso-
phischen Sprache jedoch den Vorteil einer ihr impliziten Mehrdeutigkeit hat:
der literarischen Sprache – und insbesondere in der Form der Allegorie.13 Das
Absolute kann nicht ausgesagt werden, es ist unsagbar, aber es ist möglich,
durch den allegorischen Verweis ex negativo auf das Absolute zu verweisen:
«Das Bewußtsein d[es] Unendlichen muß constituirt werden – indem wir
d[as] Gegenteil annihiliren.»14 Und genau dies kann die Allegorie – unter
der Bedingung, dass es der allegorische Darstellung gelingt, die ihr eigene
Unzulänglichkeit in Bezug auf die Darstellung des Absoluten durchschei-
nen zu lassen und damit «die Einbildung des Endlichen»15 zu vernichten.
Die Poesie wird mithin zu einem Medium der Erkenntnis – oder besser: des
Verweises auf ein Wissen, das Wissen um das Absolute, das weder ausgesagt
noch bewiesen, auf das aber ver-wiesen werden kann.
Mit diesen Überlegungen will Schlegel jedoch weder das Ende der Philo-
sophie verkünden noch einer irrationalistischen Philosophie das Wort reden.
Im Gegenteil betont er immer wieder, dass die Philosophie die edelste Wis-
senschaft sei,16 genauso wie er die dialektische Methode als die Methode
der Philosophie expliziert.17 Schlegels Gang in die Poesie basiert vielmehr
auf der Überzeugung, dass die Philosophie da, wo sie konzeptuell an ihre

13 Vgl. folgende Aussage Ludovikos in dem Gespräch über Poesie: «Mit anderen
Worten: alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaus-
sprechlich ist, nur allegorisch sagen» (KA II, S. 324).
14 KA XVIII, S. 412, Nr. 1095.
15 Ibid.
16 Vgl. KA III, S. 98: «Die Wohlfahrt der Menschen und die Begründung aller hö-
heren Wissenschaft und Kunst ruht auf der Philosophie».
17 Vgl. ibid. S. 99: «[D]aher aber auch endlich diejenige Form der Philosophie,
welche unter allen Bedingungen und in allen Zuständen die bleibende und ihr
eigentlich wesentliche ist; die dialektische. Nicht bloß an die Nachbildung eines
Gesprächs gebunden, findet sie überall statt, wo ein schwebender Wechsel der Ge-
danken in fortgehender Verküpfung d. h. überall, wo Philosophie stattfindet».
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 133

Grenzen stößt – und das heißt da, wo die Vernunft nicht mehr weiter kann –
nicht eigentlich aufhören muss, sondern – in veränderter Form – als Poesie
ihre Mission fortsetzen kann und muss. Damit ist die Poesie, die an dieser
Stelle der Philosophie zur Hilfe eilt, nicht eine gewöhnliche Poesie, sondern
eine solche, die aus einer auf der Ratio beruhenden Philosophie hervorgeht;
und um diesen philosophischen Ursprung der Dichtung kenntlich zu ma-
chen, bezeichnet Schlegel diese aus der Philosophie hervorgehende Poesie
als «höhere Poesie».18
Damit wird deutlich, dass die Poesie hier bewusst eine philosophische
Aufgabe übernimmt – oder umgekehrt: dass es die Philosophie ist, die der
Poesie an dieser Stelle ihre Aufgabe zuweist. Genau das bedeutet sein Postu-
lat: Philosophie und Literatur sollen vereinigt sein.19 Und dieses Postulat
macht eines ganz deutlich: die höhere Poesie, die an jener Stelle ansetzt,
an der die Philosophie an ihre konzeptuellen Grenzen stößt, ist im eigent-
lichen Sinne weiterhin Philosophie – man könnte sagen, sie ist Philosophie
mit anderen Mitteln. Sehr anschaulich verdeutlicht Schlegel dies in einem
Abschnitt, der mit dem bezeichnenden Titel Über die Form der Philoso-
phie überschrieben ist.20 Darin expliziert er die fundamentale Bedeutung der
Form, insofern sich in der Form der Kern einer Philosophie manifestiere; und
er expliziert den Übergang von der Philosophie zur Poesie als einen inhalt-
lich notwendigen Übergang.21 Das heißt, wenn Philosophie zur allegorischen
Darstellung übergeht, hört sie nicht auf Philosophie zu sein, sondern sie passt
ihre Darstellungsform dem darzustellenden Inhalt an.
Mit Schlegels Hinwendung zur höheren Poesie wird sehr deutlich, wie
das Problem der Erkenntnis zu einer Frage der Form wird. Das Höchste, das
Ziel aller Philosophie, entzieht sich dem rationalen Diskurs, der sich hier an
den Grenzen der Sprache bricht und kann daher im eigentlichen Sinne nicht
erkannt werden. Allerdings bleibt es uns zugänglich als «Gewusstes». Aber
es ist die Philosophie, die uns zu diesem Wissen des Absoluten führt. Und
so könnte man Schlegels Postulat, wonach Poesie dort anfangen muss, wo

18 Vgl. ibid.
19 Vgl. KA II, S. 161, Nr. 115: «Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft
soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein».
20 KA III, S. 97ff.
21 Vgl. ibid. S. 99: «Daher endlich die Allegorie im Ausdruck des vollendeten po-
sitiven Philosophen; die Identität seiner Lehre und Erkenntnis mit Leben und
Religion, und der Übergang seiner Ansicht zur höhern Poesie» (meine Hervor-
hebung; S. H.).
134 Sebastian Hüsch

Philosophie aufhört22 auch paradox so formulieren, dass Philosophie bis-


weilen nicht Philosophie bleiben kann, wenn sie Philosophie bleiben will.

4. Sören Kierkegaard: Subjektivität und Erkenntnis

Unter einem etwas anderen Blickwinkel finden sich die Schlegel’schen


Überlegungen von einem Denker affirmiert, der von sich selbst bezeich-
nenderweise durchweg als «Schriftsteller» spricht, jedoch, was ebenso be-
merkenswert ist, fast ausschließlich als «Philosoph» rezipiert wird und der
unzutreffenderweise immer wieder kategorisch als ein Gegner der Früh-
romantik bezeichnet wird: Sören Kierkegaard.23 Wenn Kierkegaard sich
auch unzweifelhaft kritisch und bisweilen polemisch mit der deutschen Früh-
romantik auseinandersetzt,24 so scheint mir diese Auseinandersetzung ge-
rade der Beleg für seine große Nähe zum frühromantischen Denken zu sein.
Die Einflüsse Schlegels sind namentlich in Bezug auf die bei Kierkegaard
kaum zu überschätzenden Bedeutung der Form seines Werkes für ein inhalt-
liches Verständnis kaum zu übersehen. Die «in der Werkstruktur fundierte
[…] Sinnmöglichkeit»,25 wie Wolfgang Iser sagen würde, sowohl des Ge-
samtwerks wie von dessen einzelnen Teilen, beruht maßgeblich auf dessen
literarischem Charakter. Und dieser ist seinerseits erkenntnistheoretischen
und sprachkritischen Überlegungen Kierkegaards geschuldet. Wie Schlegel
postuliert, dass das epistemisch unzugängliche Absolute26 dennoch gewusst
und auch – per Verweis – dargestellt werden kann, genauso trägt Kierkegaard
mit seinem Konzept der «indirekten Mitteilung» dem Problem der Reflektivi-
tät Rechnung und greift genau deshalb zu einer literarischen Darstellungsart,

22 KA II, S. 261, Nr. 48.


23 Exemplarisch sei darauf verwiesen, dass ein Kapitel in seinen Schriften über sich
selbst über seine «Wirksamkeit als Schriftsteller» Rechnung ablegt (vgl. Sören
Kierkegaard: Die Schriften über sich selbst [München: Diederichs, 1960]; meine
Hervorhebung, S. H.).
24 Zu denken sei an Kierkegaards Dissertation, in der er den Ironiebegriff der Früh-
romantik scharf kritisiert (vgl. Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie
mit ständiger Rücksicht auf Sokrates [München: Diederichs, 1961]).
25 Wolfgang Iser: Die Wirklichkeit der Fiktion, in Rezeptionsästhetik. Theorie und
Praxis, hg. von Rainer Warning (München: Wilhelm Fink, 1988) S. 277-324, hier
S. 330.
26 Vgl. Manfred Frank: Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen
Frühromantik (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997) S. 859.
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 135

die in ganz eigener Weise dieses Problem mitreflektiert und es dieserart auf
eine höhere Ebene zu überführen und damit aufzulösen trachtet.
Freilich haben wenige Forscher der Literarizität des Werkes Kierkegaards
die nötige Bedeutung beigemessen und es ist noch immer eher die Regel
als die Ausnahme, dass aus den bewusst ambivalenten Ausführungen der
einzelnen Kierkegaard’schen Pseudonyme eine «Philosophie Kierkegaards»
destilliert wird. Zu den wenigen Ausnahmen zählt Erika Deiss, die in ihrer in
den 80er Jahren erschienenen Dissertation versucht hat, diesen besonderen
literarischen Charakter des Werkes Kierkegaards tatsächlich ernst zu nehmen
und zwar mit dem Vorschlag, Kierkegaards Erstling Entweder / Oder als einen
genuin literarischen Text, und mehr noch: ihn als romantischen Roman zu
lesen.27 Ich halte diese Anregung für alles andere als schlecht. Denn durch
eine solche Herangehensweise wird verhindert, dass der Leser einfach über
die literarische Struktur hinwegsieht als wäre sie bloß akzidentelles Moment
des Inhalts, um aus Kierkegaards Texten wie aus einem Lehrbuch jene ver-
meintliche «Lehre Kierkegaards» herauszulesen, nach der der Mensch vom
Ästhetischen über das Ethische zum Religiösen gelangen müsse.28 Schenkt
man der Form der Kierkegaard’schen Schriften die nötige Beachtung, dann
wird deutlich, dass gerade im literarischen, im spielerisch-ironischen Cha-
rakter der wahre Ernst der Texte steckt. Erst dann wird ersichtlich, dass das,
was der Text zu sagen hat, nicht explizit im Text steht, sondern es ihm in
subjektiver Auseinandersetzung «abgerungen» werden muss. Denn das Ziel
der pseudonymen Schriften Kierkegaards ist ja gerade nicht Eindeutigkeit.
Vielmehr sind sie, um der Subjektivität gerecht zu werden, explizit ambi-
valent, da es genau diese Mehrdeutigkeit ist, in die sich die Subjektivität des
Lesers einschreiben kann, die, anders gesagt, den Raum für eine subjektive
Aneignung des Inhalts lässt.29 Auch Kierkegaard weiß um die Möglichkeiten
und besonders um die Grenzen sprachlicher Mitteilung. Ging es bei Schlegel
um das Erkennen des Absoluten, so steht bei Kierkegaard die Subjektivität
im Zentrum seiner Reflexion. Die Subjektivität, verstanden als Unmittelbar-

27 Vgl. Erika Deiss: Entweder – Oder? oder: Kierkegaards Rache. Eine Einladung
an die Verächter des Ästhetischen, sich fortzubilden oder fortzumachen (Diss.
Heidelberg, 1984).
28 Vgl. zu solchen reduktionistischen Lesearten kritisch Kurt Röttgers: Lügen(-)
Texte oder nur Menschen, in Dichter lügen, hg. von dems., Monika Schmitz-
Emans (Essen: Die Blaue Eule, 2001) S. 37-60, hier S. 55.
29 Vgl. hierzu Sebastian Hüsch: Wer A sagt, muss auch B sagen? Zur Bedeutung
der Ironie in Sören Kierkegaards ‹Entweder / Oder›, in Conceptus 36 (2004),
Nr. 89/90, S. 105-130.
136 Sebastian Hüsch

keit, kann nicht über den gewöhnlichen Gebrauch der Sprache kommuniziert
werden. Subjektiv Erkanntes benötigt eine Form der Kommunikation, die
sich der direkten Mitteilung entzieht. Durch die literarische Form öffnet der
Kierkegaard’sche Text ein Spektrum möglicher Bedeutungen, und trägt so
dieser Schwierigkeit Rechnung. Wie die Schlegel’sche Erkenntnis des Ab-
soluten ist auch die subjektive Erkenntnis bei Kierkegaard angewiesen auf
den Verweis, und in beiden Fällen handelt es sich um eine Erkenntnis, die
jenseits des Sagbaren angesiedelt ist.

5. Literatur als eine Form


des philosophischen Schreibens

Ein genauerer Blick auf die Aufwertung der Dichtung als Medium der Er-
kenntnis deutet also darauf hin, dass die erkenntnistheoretische und meta-
physische Krise, die durch den Epochenbruch der Aufklärung ausgelöst
wurde, gar nicht eigentlich dazu führt, dass sich die Literatur als Rivalin
der Philosophie etabliert, vielmehr ergibt sich für die Philosophie die Not-
wendigkeit, ihre Möglichkeiten und Grenzen neu zu bestimmen. Und in
diesem Prozess differenzieren sich neue Schreibweisen aus, wobei es die
Philosophie selbst ist, die sich über sich selbst hinaus in die Literatur hinein
fortsetzt.
Das Entscheidende ist dabei die Einsicht, dass das Verhältnis von Er-
kenntnisinhalt und der Form, in der dieser präsentiert wird, eine immer
größere Rolle spielt, eine Entwicklung, die sich ja mit dem zunehmenden
Interesse der Philosophie an Sprache eindringlich belegen lässt. Die Philo-
sophie wird nicht nur mit der Fragen nach den Bedingungen ihrer eigenen
Möglichkeiten konfrontiert, sondern mit den Bedingungen der Möglichkeit
ihrer Darstellbarkeit. Es ist aber damit nicht unmittelbar ein Verdikt über tra-
ditionellere Formen der Darstellung von Philosophie gesprochen. Ob ange-
sichts dessen, was Jacques Bouveresse einmal als die questions importantes
«au sens important du mot ‹important›»30 bezeichnet hat, ob also angesichts
dieser existentiell wichtigen Fragen Philosophie tatsächlich entweder Poesie
werden muss oder zu verstummen hat, eine Antwort hierauf ist damit keines-
wegs abschließend gegeben. Zunächst ist damit nur gesagt, dass Philosophie
immer die Reflexion auf ihr Kommunikationsmedium in sich einschließen

30 Jacques Bouveresse: La science sourit dans sa barbe, in ders.: La voix de l’âme


et les chemins de l’esprit (Paris: Seuil, 2001) S. 85-122, hier S. 108.
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 137

muss. Der von der Frühromantik vorgeschlagene Gang in die Dichtung ist
dabei zunächst einmal als ein solcher Versuch zu begreifen, und zwar einer,
der, im Einklang mit dem frühromantischen Selbstverständnis, dass immer
bestenfalls Annäherungen möglich sind,31 keinerlei Anspruch auf Allgemein-
bzw. Alleingültigkeit erhebt.
Dichtung als Philosophie mit anderen Mitteln scheint freilich eine durch-
aus reizvolle Möglichkeit darzustellen, denn auf je eigenen Wegen sind auch
andere, spätere Denker auf diese Option gestoßen, zu denken wäre nicht
zuletzt an Robert Musil. Auch Musil hat verschiedene Schreibweisen jen-
seits des philosophischen Diskurses ausprobiert. Auch er hat sich intentional
und explizit gegen jede systematische Darstellung von Philosophie gewandt
und zunächst im Essay eine Alternative zum systematischen Philosophieren
gesehen. So lässt er den Erzähler im Mann ohne Eigenschaften den Essay
definieren als eine Textform, die es erlaube, in der Folge der Abschnitte
einen Gegenstand von den verschiedensten Seiten zu betrachten, ohne ihn
jedoch je ganz fassen zu können.32 Und genau dieses Nicht-ganz-Fassen
bzw. Nicht-ganz-Erfassen ist Ausdruck eines immer Unzureichenden, eines
Denkens-im-Werden und der Subjektivität. Letztlich aber ist Musil noch
einen Schritt weiter gegangen und hat «seine» Antwort – hier durchaus der
Frühromantik nahe – im Roman gefunden. Und vielleicht kann man nicht
nur sagen, er habe seine Antwort im Roman gefunden, sondern, dass er in
seinem Roman eine Antwort gefunden hat.33 Dabei handelt es sich freilich
um eine provisorische, eine skrupulöse, ja auch eine verschachtelte Antwort,
eine Antwort, fast als Frage formuliert.
Dass Form aber auch in ganz anderer Art und Weise wesentlicher Be-
standteil der philosophischen Botschaft werden kann, das zeigt sich bei
jenem Philosophen, der in prägnanter Weise alle Philosophie auf Sprach-
kritik reduzieren wollte: Ludwig Wittgenstein, dessen Schreibweise mit
Sicherheit als ungewöhnlich, vielleicht auch als aphoristisch oder frag-
mentarisch, aber schwerlich als «poetisch» bezeichnet werden kann, auch
wenn er selbst einmal notiert hat, dass man seine Stellung zur Philosophie

31 Vgl. zur Idee der Annäherung Manfred Frank: Unendliche Annäherung, op. cit.
32 Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Reinbek bei Hamburg: Ro-
wohlt, 1978) S. 250.
33 Und dabei hat Musil sogar letztlich einen Weg gefunden, Roman und Essay zu
verbinden, indem er den Essay gewissermaßen in doppelter Art und Weise (als
Figur und als Literaturform) in den Roman inkorporiert und ihn dadurch zu-
gleich wieder perspektivisch bricht; und erst diese Brechung lässt ihn zu jenem
Erkenntnisinstrument werden, das Musil sich von ihm versprochen hatte.
138 Sebastian Hüsch

eigentlich nur dichten dürfte;34 wobei die Verwendung des Konjunktivs da-
rauf schließen lässt, dass er selbst nicht glaubt, dies geleistet zu haben. Das
Entscheidende ist, dass sich auch bei Wittgenstein Sprachkritik in der Form
spiegelt. Wie sein Zeitgenosse Musil hat auch er hat für seine Gedanken
eine Form gefunden, die jenseits des traditionellen Diskurses anzusiedeln
ist, eine Form allerdings, die anders als beim Dichter Musil,35 diesseits der
Poesie verbleibt, dabei aber dennoch, ähnlich wie literarische Sprache, in
ganz eigener Weise in der Lage ist, Sinn entstehen zu lassen, auf Bedeutung
zu verweisen.

6. Philosophie und Stil

Und wenn ich mit Wittgenstein einen Philosophen genannt habe, der in die-
sem Sinne eine der philosophischen Problematik angepasste Form gefunden
hat, dann sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es in der For-
schung – gerade in Auseinandersetzung mit der Schreibweise Wittgensteins
– Bemühungen gab und gibt, sich einer solchen Philosophie mit Instrumen-
tarien zu nähern, die in der Lage sind, der Frage der Form bei einer Deutung
Rechnung zu tragen und die damit die Bedeutung der Form affirmieren –
und zwar über die Frage des Stils, wie Manfred Frank36 in Deutschland und
Gilles-Gaston Granger37 in Frankreich. So definiert Granger die Aufgabe der
Philosophie ganz explizit in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften, die
nach der erkenntnistheoretischen Krise der Philosophie zum eigentlichen
Bereich der Objektivität werden, folgendermaßen: «[P]ar opposition à la
science, constructrice de modèles, la philosophie aura pour tâche l’interpré-

34 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977)


S. 59.
35 Musil selbst verwendete vorzugsweise den Terminus «Dichter» und nicht den
des «Schriftstellers». Vgl. etwa den Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters,
in Robert Musil: Essays und Reden (Gesammelte Werke in neun Bänden, Bd. 8),
(Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978) S. 1025-1030 (meine Hervorhebung,
S. H.).
36 Vgl. Manfred Frank: Du style et de la signification. Wittgenstein, Musil et les
premiers romantiques, in Hommage à Musil, hg. von Marie-Louise Roth (Bern:
Peter Lang, 1995) S. 63-110.
37 Gilles-Gaston Granger: «Bild» et «Gleichnis»: remarques sur le style de Wittgen-
stein, in ders.: Invitation à la lecture de Wittgenstein (Aix-en-Provence: Alinea,
1990) S. 189-199.
Das Problem der Erkenntnis als Problem der Form 139

tation des significations».38 Derart bestimmt, öffnet sich ein Raum für Sub-
jektivität und diese manifestiert sich wiederum im Stil des philosophischen
Textes, der zugleich Ausweis der Methode wird.39 Grangers Beschreibung
des Sinnentfaltungsprozesses, der sich in der Interaktion zwischen philo-
sophischem Text und Leser abspielt, trifft sich letztlich mit den Intentionen
eines Schlegel oder Kierkegaard, die ihrerseits mit der literarischen Form die
Bedeutung des subjektiven Elementes in den Vordergrund rücken.

7. Fazit

Wenn also auf den ersten Blick der Eindruck entsteht, dass die Literatur einen
Platz für sich reklamiert, der traditionsgemäß als das ureigenste Terrain der
Philosophie betrachtet wird, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die
Herausforderung an die Philosophie möglicherweise anderer Art ist: Ein
Blick auf die Herausprägung der Literatur als Medium der Darstellung von
Erkenntnis, als Medium, das sich mit Sinnfragen befasst, zeigt, dass Literatur
mit einem derart erweiterten Anspruch aus philosophischen Schwierigkeiten
hervorgeht – und zumindest im Sinne eines Schlegel, Kierkegaard oder auch
Musil damit im eigentlichen Sinne nicht Rivalin der Philosophie ist, sondern
eine neue Art von Philosophie, eine neue Art des Philosophierens, das seine
eigene Methodenkritik in sich einschließt. Das aber bedeutet, dass die eigent-
liche Herausforderung für die Philosophie vermutlich weniger darin besteht,
sich gegen Versuche der Literatur zur Wehr zu setzen, philosophisches Ter-
ritorium zu besetzen, als vielmehr, Formenpluralität zuzulassen. Dies hieße
zunächst einmal, ein breites Spektrum von «Form-Möglichkeiten» zu ak-
zeptieren, das von der traditionellen diskursiven Form bis hin zur poetischen
Allegorie reichen könnte. Und erst die Prüfung des Zusammenspiels von
Form und Inhalt, d. h. inwieweit die Form Ausweis einer philosophischen
Methodenentscheidung und eines philosophischen Erkenntnisinteresses ist,
wäre dann Kriterium dafür, ob man es mit Philosophie zu tun hat oder nicht.
Dieserart würden weder allein formale noch allein inhaltliche Kriterien eine
«Kategorisierung» ermöglichen, sondern erst im Reflektieren auf die Inter-

38 Gérard Lebrun: De la spécificité de la connaissance philosophique, in La con-


naissance philosophique. Essais sur l’œuvre de Gilles-Gaston Granger, éd. par
Joëlle Proust, Elisabeth Schwartz (Paris: Presses Universitaires de France, 1995)
S. 21-34, hier S. 23.
39 Vgl. Granger: «Bild» et «Gleichnis», op. cit. S. 189.
140 Sebastian Hüsch

aktion beider miteinander würde erkennbar, ob wir es mit Philosophie zu


tun haben.
Eine solche Herangehensweise impliziert selbstverständlich ein hohes
Maß an Unübersichtlichkeit – aber dies zu akzeptieren sollte die Philosophie
durchaus in der Lage sein, schließlich sollte Übersichtlichkeit nicht zu Lasten
von willkürlichen Begrenzungen erkauft werden. Zugleich wäre das, was
ich eingangs als «Grauzone» bezeichnet habe, aus dieser Perspektive alles
andere als eine Grauzone, sondern vielmehr ein äußerst farbenfroher, ein
schillernder Bereich fließender Übergänge, in dem die verschiedensten For-
men und Darstellungsweisen philosophischen Denkens ihren Platz hätten.
Und selbstverständlich bleiben Zuordnungen auch mit einer solchen offe-
nen Herangehensweise weiterhin strittig. Das aber ist nur konsequent, denn
Philosophie ist ja bekanntlich ein Suchen und Nicht-Finden-Können.
Studia philosophica 66/2007

M ARIA-SIBYLLA L OTTER

Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken

Today, most professional philosophers understand philosophy as the analysis of


concepts and ideas. Still, there are two critical philosophical concerns which can,
for several reasons, not really be resolved by professional philosophy today. First, a
critique (and overcoming) of the bifurcation of knowledge which resulted from the
increasing specialization of the sciences. Second, a critique of importance, i. e. a con-
testing of what people, knowingly or unknowingly, take to be important or not.
In his impressive «Experience and Nature» John Dewey presents these unresolved
concerns as a kind of philosophical manifesto. I argue that, for several reasons,
Dewey’s idea of philosophy can hardly be realized, the reason being that his claims
for philosophy are both over-ambitious and overmodest. Still, there are various philo-
sophical traditions which, by widely differing methods, emphasize certain aspects
of the critical task. These include the revisionary metaphysics of Leibniz and White-
head, the untimely meditation – as Nietzsche called it –, and the late philosophy of
Stanley Cavell. Although these traditions differ widely with regard to their emphasis
on construction and deconstruction, they concur in emphasizing the development of
new encompassing ways of viewing things and understanding importance.

1. Die Philosophie und die Wissenschaften

Wer sein Leben aus seinen begrifflichen Grundlagen zu verstehen versucht


– wer in diesem Sinne philosophiert – hat es mit zweierlei Ebenen zu tun.
Einerseits geht es darum, das Implizite zu explizieren, d. h. allgemeine Prin-
zipien und Regeln herauszuarbeiten, denen wir in der sozialen Interaktion
und in Erkenntnisprozessen folgen, auch wenn wir nichts davon wissen, wie
das Kausalprinzip, gewisse Formen logischen Schließens oder die goldene
Regel. Andererseits ist man mit den ausdrücklichen Beschreibungen und
Erklärungen der Wirklichkeit konfrontiert, mit denen uns die Wissenschaf-
ten, die Religionen und Künste versehen, sowie den Ansprüchen einiger
Naturwissenschaften, über einen privilegierten Zugang zur tieferen Wirk-
lichkeit zu verfügen, der früher von der Religion erhoben wurde. In dieser
Hinsicht geht es nicht um Explikation, sondern um eine kritische Analyse
der Beschreibungen, der dabei erhobenen Geltungsansprüche und ihrer Be-
ziehungen untereinander.
142 Maria-Sibylla Lotter

Nun ist die moderne Philosophie hier mit einem Problem konfrontiert,
das die antike und die mittelalterliche Philosophie nicht hatten: sie muss sich
damit auseinandersetzen, dass mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn
nicht nur neue Erkenntnislücken erzeugt werden, sondern auch Vermittlungs-
probleme, die nicht von den Wissenschaften mit ihren jeweiligen Methoden
gelöst werden können. Die Zersplitterung des Wissens in professionalisierte
Einzelbereiche hat zur Folge, dass das Spezialgebiet der jeweiligen professio-
nellen Wissenschaftler zwar an Tiefenschärfe gewinnt, sein Zusammenhang
mit anderen Wissenschaftsbereichen und unserer Alltagserfahrung jedoch
den Status von Tatsachen verlieren und zum Streitpunkt werden kann; gleich-
zeitig werden die Medien kultureller Selbstverständigung von Ideen und
Behauptungen aus den Einzelwissenschaften überschwemmt, deren Reich-
weite und Aussagekraft für andere Lebensbereiche unklar ist (Man denke
an die gegenwärtige Auseinandersetzung über die Frage, ob einige Neuro-
wissenschaftler «entdeckt» haben, dass es keinen freien Willen gibt, ob ein
«freier Wille» überhaupt etwas in ihrem Erfahrungsgebiet zu suchen hat oder
ganz woanders beheimatet ist, wie sich diese «Entdeckung» auf das Recht
und die Moral auswirken müsste, wenn man sie ernst nähme, etc, etc.).
Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, was solche Auseinander-
setzungen für die Philosophie bedeuten – und welche Funktion sie selbst für
die Wissenschaften übernehmen kann. Dabei werde ich zunächst auf den
Ansatz John Deweys eingehen, der es als Aufgabe der Philosophie anzusehen
scheint, gegenüber den Wissenschaften die Rolle einer Vermittlerin und dabei
irgendwie auch Schiedsrichterin im Wettstreit um die Ansprüche auf privile-
gierten Zugang zu den wahren Tatsachen zu übernehmen. Anschließend werde
ich einige Überlegungen zu den Voraussetzungen und Grenzen eines solchen
Vorhabens anstellen. Und schließlich werde ich dafür plädieren, die Idee einer
Philosophie als Kritikerin von Kritiken nicht wie Dewey an ein spezielles me-
thodischen Programms mit speziellen (in seinen Fall instrumentalistischen und
naturalistischen) ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen zu
binden, sondern eher als eine Leitidee zu verstehen, die auf sehr unterschied-
liche methodische Weise eingelöst werden kann (und eingelöst worden ist).

2. Deweys Vision der Philosophie


als «Verbindungsoffizier» und «Kritikerin von Kritiken»

In seiner Schrift Erfahrung und Natur fordert John Dewey um 1925 nicht
weniger als eine grundlegende Umorientierung der gesamten Philosophie.
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 143

Schon an der damaligen Philosophie beklagte er, was mittlerweile in der ana-
lytischen Philosophie ganz andere Dimensionen angenommen hat: die Zer-
splitterung in Einzelbereiche und in Mikroaufgaben, die immer ausgedehnter
und professioneller bearbeitet werden, mit der Folge, dass die Schriften und
ihre Ergebnisse für Nichtphilosophen oft nicht mehr nachvollziehbar, ge-
schweige denn interessant sind. Anstatt im Bereich dieser selbst entwickelten
Aufgaben zu verweilen (und, so könnte man heute hinzufügen, anstatt im un-
endlichen Detail die Texte einzelner Fachleitwölfe aus dem angelsächsischen
Bereich zu diskutieren, nach dem Motto, dass sich der wahre Philosoph nur
für die je aktuellsten Themen und Autoren amerikanischer Fachzeitschriften
interessiert) soll die Philosophie im Ausgang von den Wissenschaften und
den Künsten Kultur- und Gesellschaftskritik leisten:
Philosophic discourse partakes both of scientific and literary discourse. Like
literature, it is a comment on nature and life in the interest of a more intense and
just appreciation of the meanings present in experience. Its business is reporto-
rial and transcriptive only in the sense in which the drama and poetry have that
office […]. It has no call to create a world of «reality» de novo, nor to delve into
secrets of Being hidden from common sense and science […].
Philosophy as a critical organ becomes in fact a messenger, a liaison officer,
making reciprocally intelligible voices speaking provincial tongues, and thereby
enlarging as well as rectifying the meanings with which they are charged.1

Deweys Konzept der Philosophie ist bekanntlich sehr komplex und integriert
verschiedene Ansätze des damaligen Pragmatismus wie William James’ Er-
fahrungsbegriff2 und einen wissenschaftstheoretischen Instrumentalismus.3
Im Folgenden werde ich mich nicht auf diesen Gesamtkomplex beziehen,
sondern mich allein auf Dewey programmatische Idee einer Philosophie
als Vermittlerin und Kritikerin der Wissenschaften und Künste konzentrie-
ren. Ganz im Geist des amerikanischen Pragmatismus beschreibt Dewey
die Philosophie nicht als reiche Wohltäterin, die über eigene begriffliche
Schätze in nur ihr zugänglichen Kammern verfügte, die sie dann zur För-
derung der Kommunikation zwischen den Wissenschaften und den Künsten
einsetzen könnte, sondern eher als ein Unternehmen, das voll und ganz vom
begrifflichen Ertrag seiner Arbeit lebt, nämlich der Vermittlung zwischen den
«provinziellen Sprachen» der Einzelwissenschaften. In dieser Funktion be-
zeichnet Dewey sie auch als einen Verbindungsoffizier zwischen den Wissen-

1 John Dewey: Experience and Nature (New York: Dover, 1958) S. 407, 410.
2 Ibid. S. 8.
3 Ibid. S. xii.
144 Maria-Sibylla Lotter

schaften und Künsten. Dieser leistet in diesem Fall jedoch einiges mehr, als
nur Mitteilungen anderer an andere zu überbringen. Die Vermittlung beruht
einerseits darauf, dass die Philosophie analog zu den Wissenschaften eine
empirische Seite hat, und zwar in einem zweifachen Sinne: Ihr empirisches
Material besteht nicht in Sinnesdaten, sondern in allen gegebenen Formen
der Reflexion auf Erfahrung, also den gegenwärtigen Begrifflichkeiten und
Annahmen der Einzelwissenschaften, der Künste und überhaupt des öffent-
lichen Lebens. Das ist sozusagen ihr Material, dem sie eine angemessene
Gestalt zu geben hat. Ihre eigentliche Arbeit soll nun darin bestehen, die
durch die vorgegebenen Interpretations- und Selektionsformen bedingten
Sichtweisen auf ihre Güte zu prüfen. Sie soll danach streben, durch die Kritik
und Vermittlung der gegebenen einzelwissenschaftlichen Reflexionsformen
ein kohärenteres und weniger einseitiges Verständnis unserer Erfahrung zu
erzeugen als die einseitigen Gesichtspunkte einzelwissenschaftlicher Leit-
ideen. Dabei sollte sie sich an der Frage orientieren, welchen Wert bestimmte
wissenschaftliche Leitideen und Vorstellungen für unser Leben haben. Ihre
Sprachanalyse und Begriffskritik sind also letztlich Instrument im Dienste
der Kritik unseres gegenwärtigen Lebens, unserer Gesellschaft und unserer
Kultur mit dem Ziel ihrer Verbesserung.
Its business is to accept and utilize for a purpose the best available knowledge
of its own time and place. And this purpose is criticism of beliefs, institutions,
customs, policies with respect to their bearing upon good.4

Unter Kritik versteht Dewey also nicht nur eine wertneutrale Analyse von
Bedeutungen, eine Rückführung von Vorstellungen auf ihre begrifflichen
Wurzeln, sondern die genaue Untersuchung des Werts eines bestimmten Din-
ges, einer mentalen Einstellung oder Praxis in Bezug auf ihre langfristigen
kulturellen und sozialen Wirkungen. Hier setzt die Philosophie etwas fort,
was nach Dewey schon in unserem Alltagsleben beginnt. Würden wir nur
in der Gegenwart leben, so Dewey, dann wären wir damit zufrieden, etwas
einfach zu genießen. Im Alltagsleben führt jedoch schon eine gewisse Zeit-
spanne zwangsläufig zur Reflexion, denn nach kurzer Zeit lernen wir, dass
gewisse Dinge süß sind, wenn wir sie genießen, aber einen bitteren Nach-
geschmack haben und auch bittere Folgen. Dann hat der Genuss aufgehört,
eine bloße Gegebenheit zu sein; er wird zum Problem.5 Das Problem ver-
langt eine intelligente Erforschung der Bedingungen und Folgen eines Wert-

4 Ibid. S. 407f.
5 Vgl. ibid. S. 398.
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 145

gegenstands; also Kritik. Während wir uns im Alltagsleben, mit Blick auf
die langfristigen Folgen für uns, mit der Kritik von Zucker, Alkohol, Drogen
und anderen im momentanen Genuss wohltuenden Gütern befassen, übt die
Philosophie Kritik auf einer höheren Ebene, nämlich Kritik von Kritiken, wie
es Dewey ausdrückt: «philosophy is inherently criticism, having its distinc-
tive position among various modes of criticism in its generality; a criticism
of criticism, as it were».6
Das heißt die Philosophie untersucht die nicht unmittelbar ersichtlichen
Auswirkungen einer bestimmten Einstellung, einer Begrifflichkeit oder einer
Praxis auf das gesellschaftliche Wohl – hier haben wir also nicht an Drogen,
sondern eher an Leitideen und ihre soziale Bewertung wie beispielsweise
den Wert der Arbeit, die Wichtigkeit des wirtschaftlichen Wachstum etc. zu
denken.
Fassen wir zusammen: Deweys Programm einer Philosophie als Kri-
tikerin von Kritiken ist weder im Sinne einer reduktionistischen Wissen-
schaftsphilosophie zu verstehen, die sich gar nicht mit Wertfragen befasst,
noch im Sinne einer reformerischen Sozialphilosophie, die von unhinter-
fragten Annahmen über die Gesellschaft und das Gute ausgeht. Die empiri-
sche Verpflichtung und der kritische Anspruch der Philosophie müssen im
Dewey’schen Rahmen vielmehr eine Verbindung eingehen. Dabei schreibt
er der Philosophie die drei folgenden Funktionen zu, die eng miteinander
verknüpft sind und demselben Ziel dienen: 1. eine Kritik gegenwärtiger
Vorstellungen, Begrifflichkeiten und Verhaltensgewohnheiten mit Blick auf
die Erfahrungen, die durch sie ausgeblendet oder verstellt werden, 2. die
Vermittlung einzelwissenschaftlicher und literarischer Diskurse im Verlauf
dieses kritischen Prozesses, mit dem Ziel, die Einseitigkeit der Sicht, die sie
jeweils auf unser Leben einnehmen, in ein umfassendes und differenziertes
Gesamtbild zu transformieren, und 3. eine Einschätzung der relativen Wahr-
heit oder Reichweite und des relativen Werts der kritisierten Vorstellungen
für unser Leben.
Während Dewey detailliert auf diese Aufgaben und Ziele eingeht, hat er
sich kaum zu den Schwierigkeiten geäußert, die mit einem solchen Vorhaben
verbunden sind. Um nur einige davon anzudeuten:
1. Nach welchen Maßstäben beispielsweise sollten die einzelwissen-
schaftlichen Konzeptionen in der philosophischen Kritik bewertet werden?
Dewey spricht hier von dem Maßstab einer möglichst reichhaltigen Erfah-
rung. Das mag als vage allgemeine Leitidee der Kritik plausibel sein, aber

6 Ibid. S. 398.
146 Maria-Sibylla Lotter

sind hieraus hinreichend bestimmte Normen herleitbar, um mit einem ge-


wissen Objektivitätsanspruch spezielle einzelwissenschaftliche Konzepte mit
Blick auf ihre Güte für das Leben zu kritisieren? So wie es verschiedene
Vorstellungen vom Guten geben kann, kann es schließlich auch verschie-
dene Vorstellungen davon geben, was unsere Erfahrung reichhaltig macht.
Wenn die Philosophie beansprucht, nicht bei diesen unterschiedlichen Vor-
stellungen stehen zu bleiben, sondern ihre relative Bedeutung und Güte be-
urteilen zu können, muss sie aber – was Dewey ihr abspricht – auch über
eigene ethische Gesichtspunkte und Methoden verfügen, die sich von denen
der Wissenschaften nicht nur durch einen höheren Grad an Allgemeinheit
unterscheiden. Andernfalls könnte sie nur sammeln, was die Wissenschaften
und Künste anbieten, und das Gesammelte allenfalls auf Ähnlichkeit und
Differenz hin analysieren.7
2. Die Philosophie existiert als Tätigkeit vieler verschiedener Individuen.
Wenn einzelne Philosophinnen bestimmte Verbindungen zwischen den Wis-
senschaften erkennen, mag dies für andere weniger sichtbar sein, die viel-
leicht ganz andere, für sie viel interessantere Zusammenhänge wittern. Wenn
einzelne Philosophen also nur für sich selbst, und nicht für «die Philosophie»
sprechen können, gerät ein autoritativer Anspruch der Vermittlung in Gefahr,
zur Rechthaberei zu werden. Und so wird er anscheinend oft auch wahrge-
nommen: Wenn man an die erwähnte Auseinandersetzung zwischen gewis-
sen Neurologen und Psychologen auf der einen, Philosophen auf der anderen
Seite zum Thema Freiheit denkt, stellt man immer wieder fest, dass die Ver-
treter der Einzelwissenschaften den einzelnen Philosophen keine Begriffs-
hoheit zugestehen, der sie sich zu fügen hätten. Neurologen wie Gerhard
Roth, die die Auffassung vertreten, dass wir in unserem Handeln nicht frei
und daher letztlich auch nicht verantwortlich wären, lassen sich wenig von
den Argumenten der Philosophen beeindrucken, der von ihnen unterstellte
Freiheitsbegriff sei dürftig und für Verantwortungsfragen nicht sonderlich
relevant. Manche mögen das mit gewissen Gründen als eine Sophisterei
betrachten, der es nicht um Wahrheit, sondern öffentliche Aufmerksamkeit,
Einfluss und Ressourcen geht – aber welches Begriffs-Gericht könnte hier
Recht sprechen und den wahren Tatbestand rekonstruieren? Gewiss nicht
eines der Philosophen, da sie nicht über ein verbindliches philosophisches
Begriffsregister verfügen, das einem Strafgesetzbuch entspräche, noch sich
selbst einig sind, was Freiheit denn nun bedeutet. Allein die konstante Tat-

7 Zu diesen und anderen Kritikpunkten vgl. auch Michael Hampe: Kritik und Spe-
kulation, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/1 (2001) S. 134f.
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 147

sache dieser Uneinigkeit zeigt an, dass ihre Kompetenz hier allenfalls in
der Strukturierung und Hilfestellung für die Auseinandersetzung, welche
Freiheitsbegriffe überhaupt praktisch relevant sind, liegen kann, aber nicht
in der verbindlichen Festlegung des allein wahren und richtigen Begriffs-
gebrauchs für alle.

3. Methodische Möglichkeiten einer Kritik von Kritiken

So viel versprechend das Dewey’sche Programm auch auftritt, so scheint es


doch kaum einlösbar, wenn man sowohl seinen restriktiven als auch seinen
expansiven Vorstellungen von den Gegenständen und Aufgaben der Philoso-
phie folgt. Anders als Dewey es sich offenbar dachte, könnte nur eine Philo-
sophie, die auf eigenen begrifflichen Beinen steht, Kritiken von Kritiken ent-
wickeln; wenn ihrer Vermittlungstätigkeit jedoch auch autoritativ sein soll,
müsste sie darüber hinaus von allen Einzelwissenschaften als Vermittlerin
und Reformatorin anerkannt werden – eine Autorität, die quasi die frühere
Autorität der gesamtchristlichen Kirche beerben würde, aber in einer Gesell-
schaft, wo Philosophen nicht als Vertreter einer Philosophenkirche, sondern
als fehlbare individuelle Denker agieren, höchst unrealistisch ist.
Dewey war selbst der Auffassung, dass es eine solche Philosophie noch
nicht gibt.8 Das trifft mit Blick auf die damalige und heutige universitäre
Fachphilosophie gewiss zu. Gleichwohl kann sich Deweys Konzept der Phi-
losophie als einer Kritikerin von Kritiken durchaus auf lebendige Traditionen
stützen, die sich in den Randbereichen der professionellen akademischen
Philosophie bewegen, oft aber auch von nichtprofessionellen Philosophen
und anderen Wissenschaftlern ausgehen. Dies wird deutlich, wenn man ei-
nerseits von seiner unrealistischen Vorstellung absieht, die Philosophie käme
ohne eigene Begrifflichkeiten und Methoden aus, andererseits die Aufgabe
der Philosophie als Vermittlerin und Kritikerin nicht mit der einer Begriffs-
richterin verwechselt. Dann scheint seine Idee der Philosophie als Kritikerin
von Kritiken nämlich durchaus eine Gemeinsamkeit oder Familienähnlich-
keit von verschiedenen Ansätzen anzuzeigen, die sich seit der Wende zum
18. Jahrhundert als eine Art Kompensation der professionalisierten Schul-
philosophie verstehen.

8 Zu dieser Auseinandersetzung vgl. die Sammlung von Stellungnahmen in: Hirn-


forschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, hg. von
Christian Geyer (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004).
148 Maria-Sibylla Lotter

Dieser Gesichtspunkt gewinnt einen zusätzlichen Reiz dadurch, dass er


methodisch scheinbar weit entfernte, wenn nicht gar konträre Ansätze ver-
eint: Nämlich auf der einen Seite vollständige metaphysische Systeme wie
die Metaphysiken von Leibniz und Whitehead, die dabei eine Vermittlung
von mathematischen, logischen, physikalischen und ethischen Begrifflich-
keiten anstrebten, auf der anderen Seite «unzeitgemässe Betrachtungen»
bestimmter kulturell dominanter Vorstellungen, wie sie nicht nur von Philo-
sophen wie Nietzsche vorgenommen werden, sowie eine eher antisystema-
tische Form der Überschreitung disziplinärer Grenzen, wie sie gegenwärtig
Stanley Cavell vertritt. Diese Zusammenstellung mag auf den ersten Blick
einen merkwürdigen Eindruck machen, weil wir gewohnt sind, Metaphysi-
ken wie die von Leibniz und Whitehead für grundsätzlich andere Theorie-
formen zu halten als die von Nietzsche, den Pragmatisten, Foucault oder
Cavell verfolgten Ansätze. Betrachten wir jedoch einmal folgende Stil-
richtungen:
1. Die unzeitgemäße Betrachtung, wie es Nietzsche genannt hat: Eine
Kritik an bestimmten Grundideen und damit verbundenen Wertvorstellun-
gen, die sowohl den Nutzen als auch die Selbstverständlichkeit dieser Ideen
in Zweifel zieht und dabei von der Überlegung ausgeht, dass gewissen kul-
turell dominanten Vorstellungen nicht zu allen Zeiten und an allen Orten
dieselbe Bedeutung und derselbe Wert zugeschrieben wurden. Für diese Art
der Kritik ist weniger eine Kenntnis der Philosophie als eine Kenntnis der
Geschichte und Kulturgeschichte erforderlich. Eine entsprechende Kritik
an bestimmten Vorstellungen von Moral kennen wir von Nietzsche, auch
Foucault hat entsprechend die Psychiatrie und die Vorstellungen von der
Sexualität kritisiert; Kritik in diesem Sinne geht aber oft auch von Personen
außerhalb der institutionalisierten Wissenschaft aus wie wenn der Chef der
deutschen Drogeriekette dm bei seiner Kritik an der Fixierung der gegenwär-
tigen Politik auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zur Ideenkritik übergeht
und die der Regierungshaltung zugrunde liegende Bedeutung der Arbeit für
unser Selbstverständnis kritisiert.
2. Revisionäre Metaphysiken. Darunter verstehe ich nicht die Beschrei-
bung oder gar Deduktion der allgemeinsten Züge zeitlosen Seins, sondern
den Versuch, alle Gesichtspunkte der Wissenschaften zu einem bestimmten
Zeitpunkt zusammen mit denen der gewöhnlichen Erfahrung und der Re-
ligion in einem genau definierten hypothetischen metaphysischen System
abzubilden. Ein solches System setzt Kenntnisse der philosophischen Tradi-
tion, aber gleichzeitig auch Kenntnisse der Wissenschaften voraus, über die
vermutlich nur wenige verfügen – insofern ist es kaum von der Schulphilo-
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 149

sophie einlösbar. Schon Leibniz’ Monadologie aus dem späten 17. Jahrhun-
dert ist eine solche revisionäre Metaphysik, die sowohl die ontologischen
Relationen zwischen den Gegenständen der gewöhnlichen Erfahrung und der
Wissenschaften als auch die Grundprinzipien ihrer Erkenntnis umfasst. In
der Auseinandersetzung mit Wissenschaftlern und Gelehrten wie Huygens,
Colbert, Malebranche und Arnaud in Paris, Oldenburg, Boyle und Newton
in London, Spinoza in Amsterdam war Leibniz damals mit allen wissen-
schaftlichen Themen und Denkrichtungen seiner Zeit in Kontakt gekommen
und hatte daraus seine eigene philosophische und naturwissenschaftliche
Position entwickeln können. Zugleich bemühte er sich auf verschiedenen
Ebenen, zwischen den verschiedenen Religionen, Rechtssystemen und poli-
tischen Gewalten seiner Zeit zu vermitteln. Daher wird seine Monadologie in
ihren wichtigsten Aussagen im Ausgang von ganz unterschiedlichen Wissen-
schafts- und Erkenntnisbereichen zugänglich, ist aber als Matrix von keiner
allein vollständig erschließbar. So kann man die Monadenlehre sowohl aus
begriffslogischen Überlegungen als auch aus Problemen der zeitgenössi-
schen Physik, der Metaphysik Descartes’ und der Mathematik erklären, aber
auch als eine religionsübergreifende Lösung theologischer Probleme.
Vergleichbares gilt für die spekulative Kosmologie Alfred North White-
heads, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Titel Process and
Reality vorgestellt hatte; sie sollte dazu beitragen, begriffliche Hindernisse
abzutragen, die den Austausch zwischen verschiedenen Erfahrungsbereichen
wie denen des Alltagslebens und denen der Einzelwissenschaften behindern.9
Wie Dewey schrieb Whitehead der Philosophie dabei eine experimentelle
und empirische Seite zu, die auf den vielen verschiedenen Begrifflichkeiten
beruht, die sie vorfindet: den so genannten Meinungen des gesunden Men-
schenverstandes, der philosophischen und religiösen Tradition, sowie den
Theorien und Ergebnissen der vielen Einzelwissenschaften. Sein System
sollte – wie das Leibniz’sche – dazu dienen, eine kohärente und vollstän-
dige Beschreibung der Welt zu liefern, die es dem Einzelnen ermöglicht,
sowohl seine Alltagserfahrungen als auch den Stand der Wissenschaften als
Sonderfall des allgemeinen Systems zu verstehen und entsprechend zu re-
lativieren – auch unter Wertgesichtspunkten. Philosophie muss daher nach
Whitehead konstruktiv und spekulativ sein; ihre Aufgabe liegt darin, durch
Konstruktion neuer Begrifflichkeiten eine neue Sicht der Erfahrungswirk-
lichkeit zu erzeugen. Philosophische Begriffe übernehmen hier die Funktion
von Arbeitshypothesen:

9 Vgl. Dewey: Experience and Nature, op. cit.


150 Maria-Sibylla Lotter

[S]peculative Philosophy embodies the method of the working hypothesis […].


Such a hypothesis directs observation and decides upon the mutual relevance of
various types of evidence. In short, it prescribed method.10
Mit Blick auf den pragmatistischen Charakter des methodischen Vorge-
hens überschneidet sich Whiteheads Systemdenken mit dem des damaligen
Pragmatismus von Josiah Royce, John Dewey und Mead, insofern es nicht
um den Beweis von Behauptungen geht, sondern darum, Begrifflichkeiten
zu entwickeln oder verschiedene Erfahrungsbereiche zugänglich zu ma-
chen, mit denen wichtige Phänomene oder Zusammenhänge sichtbar wer-
den, die mit der gewohnten Begrifflichkeit nicht genügend erfasst werden
können.
Der Unterschied dieser Methode der «Arbeitshypothese» zur argumen-
tierenden Vorgehensweise der gegenwärtigen Schulphilosophie lässt sich an
einem Beispiel aus der Medizin verdeutlichen, das Josiah Royce gerne zur
Erläuterung der pragmatistischen Theorieauffassung verwendete. Der Ber-
liner Arzt Rudolf Virchow hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
das Prinzip aufgestellt, dass Krankheiten nicht als autonome Organismen
zu denken sind, die in den Körper eindringen, sondern lediglich den Ver-
lauf der organischen Prozesse unter veränderten Bedingungen darstellen.
Ein solches Prinzip entspricht einer spekulativen metaphysischen Hypo-
these im Sinne Whiteheads, insofern es nicht testbar ist. Denn auch wenn
man entdeckte, dass Bakterien oder gar der Teufel die Krankheit verursa-
chen, ist damit das Prinzip nicht widerlegt. Das Prinzip verbietet ja nur, die
äußeren Faktoren schon mit der Krankheit zu identifizieren, und fordert,
das Verhältnis von Normalbedingungen und veränderten Bedingungen im
Organismus zu untersuchen. Es fördert also eine andere Art von Forschung
als die militaristische Leitidee der Krankheit als Attacke fremder Angreifer
auf das heimische Territorium. Ebenso wenig wie es in der Medizin darauf
ankommt, die Erklärung von Krankheiten durch externe Angreifer zu be-
weisen oder zu widerlegen, geht es auch nach Whitehead in der Philosophie
nicht primär darum, gegebene Annahmen zu widerlegen oder zu bewei-
sen, sondern die Begriffe für das Verständnis komplexer Zusammenhänge
einzusetzen.
3. Einen weiteren Typ der Vermittlung und «Kritik von Kritiken», dies-
mal nicht zwischen den Wissenschaften, sondern den Künsten, stellen die
Arbeiten des amerikanischen Gegenwartsphilosophen Stanley Cavells dar. In

10 Alfred North Whitehead: Adventures of Ideas [1933] (New York: Macmillan,


1961) S. 222.
Die Philosophie als Kritikerin von Kritiken 151

Cities of Words11 scheint er die Aufgabe der Philosophie als der einer Botin
zwischen der Literatur, der Musik, der Filmwissenschaft und den verschie-
denen Bereichen der Philosophie zu verstehen, die all diese Bereiche durch
ihre Spiegelung in anderen künstlerischen und theoretischen Formen zum
Ausdruck bringt. Ich möchte dies kurz am Beispiel eines seiner zentralen
Themen, nämlich den Hoffnungen und Abgründen des so genannten mora-
lischen Perfektionismus verdeutlichen. Der moralische Perfektionismus ist
selbst eine kritische Haltung, nämlich eine Kritik der gegenwärtigen Welt
mit dem Ziel – das Cavell symbolisch in Platons Höhlengleichnis darge-
stellt sieht – eine «in Verwirrung und Dunkelheit gefangene und entstellte
Seele ans freie Licht» zu führen. Der moralische Perfektionismus ist dabei
stets von der Gefahr bedroht, diese Aufgabe als Suche nach dem Absoluten
falsch zu verstehen. Speziell in der Philosophie erscheint diese Versuchung
als die der Erschaffung einer wahren Welt der reinen Ideen, die uns von den
Unvollkommenheiten der realen Welt absehen lässt. Der moralische Perfek-
tionismus stellt die Philosophie somit vor die Aufgabe, einerseits ausfindig
zu machen, was die Welt eigentlich so dunkel und unbefriedigend für die
Seele erscheinen lässt, andererseits zu ermitteln, wie es möglich ist, die ei-
gene, unter perfektionistischem Gesichtspunkt als mangelhaft wahrgenom-
mene Endlichkeit gleichwohl anzunehmen. In der methodischen Annäherung
an dieses Thema betätigt sich die Philosophie Cavells als Kritikerin von
Kritiken, d. h. problematischen oder sogar gefährlichen Perfektionismen,
deren einzelne Formen sie den Künsten entnimmt und durch Kontrastie-
rung mit anderen aussichtsreicheren Formen des Perfektionismus analysiert
und interpretiert.
Typisch für diese Methode ist, dass sie nicht von vornherein von einer
festen Definition des richtigen Perfektionismus ausgeht, sondern in der Aus-
einandersetzung mit dem Material – mit Filmen, mit der Sprachphilosophie,
mit der philosophischen Tradition von Platon über Emerson zu Nietzsche bis
hin zur Diagnose der politischen Gegenwart – verschiedene Aspekte dieses
Themas herausarbeitet. Dabei kann Cavell die Philosophie nutzbar machen,
um bestimmte Werke der Filmkunst in ihrem kritischen Gehalt verständlich
zu machen, aber auch umgekehrt diese benutzen, um einen neuen Zugang
zu jenen zu finden. Die Philosophie übt hier ihre Kritik an den Kritiken also
nicht mittels eines eigenen Begriffssystems, sondern anhand der allgemei-
neren Gesichtspunkte, die erst im Vergleich hervortreten.

11 Stanley Clavell: Cities of Words. Pedagogical Letters on a Register of the Moral


Life (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2004).
152 Maria-Sibylla Lotter

Diese Beispiele – denen gewiss weitere hinzugefügt werden könnten –


zeigen, dass der Gedanke einer Philosophie als Kritikerin von Kritiken so-
wohl als partikulare Kulturkritik wie als Metaphysik, und sowohl auf kon-
struktive als auch auf dekonstruktive Weise eingelöst werden kann. Die
scheinbare Gegensätzlichkeit zwischen diesen Theorieformen löst sich auf,
wenn man die Metaphysik selbst als Instrument der Kritik von Abstraktionen
versteht: als ein Versuch, die metaphysische Begrifflichkeit zur Kritik von
Abstraktionen und zur Gewinnung einer differenzierteren und vollständi-
geren Sicht auf das Leben einzusetzen.
Philosophie und Subjektivität
Studia philosophica 66/2007

M ANFRED F RANK

Subjektivität und Argumentation

Whoever wants to understand the successions of the history of philosophy, will not,
as Droysen mocked, only follow in «eunuch-like neutrality». He/she will want to enter
into a philosophising relationship to these successions. Now, philosophy is essentially
arguing. And arguments have a formal and a material aspect. The logical validity
in the truth-value preserving transition from premises to conclusions (1), is different
from the reasons for our conviction of this truth itself (2). For the second validity
claim we are differently accountable than we are when proving the formal consistency
of our belief connections. We must justify the assumption for which we argue on its
own, independently of whether it stands in analytically correct relations to others of
its own kind, or whichever conclusions we wish to draw from it.
Only the latter, the second, aspect makes philosophy an untargetted (though truth-
committed) endeavour, a dispute between materially competing intuitions. We argue,
yes we quarrel with philosophical theses. It would be naive to believe we could ever
be so certain of a position as if it were beyond reasonable doubt. «Whether or not it
would be nice to knock disagreeing philosophers down by sheer force of argument,
it cannot be done. Philosophical theories are never refuted conclusively. […] The
theory survives its refutation – at a price» (David Lewis).
The question hence is: what price are we prepared to pay for convictions with
which we sympathise? In this consideration I am primarily advised by Stephen Toul-
min, but also raise critical questions regarding Habermas’s consensualist reception
of Toulmin’s indeterminate argumentation theory.

Wenn wir Philosoph(inn)en gefragt werden, worin unsere Tätigkeit eigent-


lich bestehe, dann geraten wir gewöhnlich in Verlegenheit. Wir möchten
gerne antworten, dass sich die Philosophie, wie die Naturwissenschaft, um
wahre Beschreibungen der Wirklichkeit bemüht oder, wie (angeblich) die
Politik, um richtige Einsichten in das, was zu tun ist. Aber nun wird unser
Gesprächspartner spöttisch fragen, wie wir denn die Aussagen, zu denen wir
beim Philosophieren kommen, begründen.
In der Tat hat sich die Philosophie (von Kant bis Wittgenstein) als eine
apriorische Tätigkeit verstanden. Sie fragt nach Formbedingungen des Er-
kennens oder nach Grundstrukturen des Verstehens von Welt. Anders gesagt:
Der Weg, ihre Begründungen unter Verweis auf anerkannte Erfahrung (wie
156 Manfred Frank

Physik-Lehrbücher) oder kodifizierte Normen (wie Gesetzbücher) zu erbrin-


gen, ist ihr abgeschnitten. Sie reduziert sich aber auch nicht auf reine Logik.
Man hat die Philosophie darum auch eine Disziplin ‹zweiter Ordnung› ge-
nannt, die sich räsonnierend zu den einzelwissenschaftlichen Tätigkeiten
der Disziplinen ‹erster Ordnung› verhält.1 So stellt sich die Frage nach dem
Spezifikum der philosophischen Begründungsweise – etwa gegenüber der-
jenigen der Naturwissenschaften oder des positiven Rechts. Wir werden nun
wahrscheinlich antworten: Wir begründen unsere Behauptungen in Form
von Argumenten.
Was aber ist das, ein Argument? Wenn ich recht sehe, können wir uns
auf zwei geläufige Definitionen stützen. Die erste wird etwa sagen: «Ein Ar-
gument ist die Begründung, die uns motivieren soll, den Geltungsanspruch
einer Behauptung oder eines Gebots bzw. einer Bewertung anzuerkennen».2
Danach gäbe es also zwei Bereiche, für die typischerweise argumentiert
werden kann: die Wahrheit von Aussagen (also theoretische Geltungsansprü-
che) und die Richtigkeit von Normen (oder Bewertungen) – also praktische
Geltungsansprüche.3
Eine knappere Definition des Arguments lautet, es sei der wahrheitserhal-
tende Übergang von Prämissen zu einem Schluss.4 Zwar soll auch dieser De-
finition zufolge die Argumentation ein Verfahren sein, durch welches Gründe
für Überzeugungen angegeben werden. Aber der Begriff der Gültigkeit wird
hier formal – wir können auch sagen: analytisch – gefasst. Ein Schluss heißt
analytisch, wenn seine Wahrheit/Falschheit sich aus dem bloßen Verständnis

1 Jay F. Rosenberg: The Practice of Philosophy. A Handbook for Beginners (Engle-


wood Cliffs, NJ: Prentice Hall, 1984), chapt. i und Schluss von chapt. iv.
2 Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien, in ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur
Theorie des kommunikativen Handelns (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984) S. 127-
183, hier S. 163 u.
3 Ich übernehme die terminologische Differenzierung von ‹Wahrheit› (für theore-
tische Aussagen, sofern sie behauptet werden) und ‹Richtigkeit› (für praktische
Äußerungen, also für den Vorschlag von Normen oder Bewertungen) von Haber-
mas (Wahrheitstheorien, op. cit. S. 81f., 112f., 129, 157f.). Eine Pointe seiner
sprechakttheoretischen Einbettung der Wahrheitstheorie ist, dass Aussagen wahr
nur sind, wenn sie behauptet werden. Behauptungen sind aber Sprechakte, also
ihrerseits weder wahr noch falsch, sondern berechtigt oder unberechtigt.
4 Vgl. etwa Rosenberg: The Practice of Philosophy, op. cit. chapt. ii. Diese forma-
listische Definition impliziert, dass die Widerlegung von Argumenten sich auf
den Nachweis von Inkonsistenzen im Einzelnen oder von Inkohärenz im Ganzen
beschränkt, also nie geradehin auf die materielle Wahrheit oder Falschheit von
Prämissen eingeht (vgl. vor allem die Kapitel iii und vi).
Subjektivität und Argumentation 157

der (Bedeutung der) Prämissen und der Formwörter sowie der Beherrschung
der Schlussweisen ergibt. Dann aber leistet er keinen Beitrag zur Interpre-
tation der Welt. Denn über Wahrheit und Falschheit wird nicht formal, son-
dern in Auseinandersetzung mit der Welt (wir könnten auch sagen: inhaltlich
oder synthetisch) entschieden.
Nehmen wir ein beliebiges Beispiel für einen Schluss, der sich formal
gültig, also analytisch, aus den Prämissen ergibt. Ich glaube, dass Wale Lun-
gen haben. Diese Überzeugung begründe ich durch die Prämisse ‹Alle Fi-
sche haben Lungen› und den Untersatz ‹Wale sind Fische›. Von ihnen gehe
ich über zu dem Satz, der meine Überzeugung ausdrückt. Dieser Schluss ist
formal gültig, d. i. wahrheitserhaltend. Aber natürlich ist wahr im inhaltli-
chen Sinn nur die Konklusion. Sollen Argumente sich auf diese Inhaltsseite
mit erstrecken, müssen sie mehr als nur formal korrekt sein. Sonst könnten
wir drängende moralische Fragen wie die nach der Verantwortbarkeit von
Abtreibung oder Genmanipulation an Embryonen, ja einfachste Geschichts-
urteile nicht argumentförmig diskutieren. Wir könnten nur real ergehende
Äußerungen dazu auf ihre Konsistenz überprüfen.
Genau dies ist das Problem, auf das Stephen Toulmin schon Ende der
50er Jahre in seinem bedeutenden Buch The Uses of Argument den Finger
gelegt (und wacker gegen Hempels Einwände verteidigt) hatte.5 Er hatte
Argumente, die wir nicht allein aufgrund ihrer logischen Schlüssigkeit für
‹triftig› halten, ‹substantiell› genannt – im Gegensatz zu den ‹analytischen›,
die wir rein aus ihrer logischen Form als ‹schlüssig› erkennen. (‹Schlüssig-
keit› sei der Name für logische Konsequenz, ‹Triftigkeit› der für die Über-
zeugung erzielende Kraft nicht-deduktiver Argumente.)6 Im letzteren Falle
ist es logisch notwendig, von den Obersätzen zum Schlusssatz zu gehen;
im ersteren ist es nur möglich: Das heißt, wir müssen den Übergang nicht
vollziehen. Und dass wir das nicht müssen, hängt damit zusammen, dass
wir den Obersatz – im Normalfall einen allgemeinen Wenn-dann-Satz – nur
unter einer Zusatzbedingung als wahr (oder als richtig) anerkennen. Diese
Zusatzbedingung – Toulmin nennt sie ‹backing› (Abstützung) – liegt aber auf
einer anderen logischen Ebene als die Inferenzregel (die Toulmin ‹warrant›
nennt). ‹Sie liegt auf einer anderen logischen Ebene› meint dann: Sie unter-
hält keine logischen Beziehungen zum Warrant.

5 Stephen Toulmin: The Uses of Argument (Cambridge: Cambridge University


Press, 1958; paperback edition 1964), vor allem S. 121ff.; vgl. Habermas: Wahr-
heitstheorien, op. cit., vor allem S. 161ff.
6 Zum Wortgebrauch vgl. Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 162,3.
158 Manfred Frank

Grundsätzlicher kann man sagen, dass ein Argument substantiell ist, wenn
es kontingente Elemente in sich aufnimmt, also ohne Widerspruch bestritten
werden kann.7 Der Schluss – nehmen wir das ausgetretene, aber klassische
Beispiel: «Harry ist britischer Staatsbürger» – wird auf einen Untersatz (ein
‹Datum›) bezogen, der einen Grund (bzw. eine Ursache) dafür angibt. Das
Lemma (oder der Untersatz8) könnte etwa lauten: «Harry ist auf den Ber-
mudas geboren.» Um den Übergang von diesem ‹Datum› zur Konklusion
analytisch zwingend zu machen, bedarf es aber eines Brückenprinzips,9 wie
es die Induktion in den empirischen Wissenschaften darstellt. Das Datum
ist ja singulär. Ich brauche, um mit seiner Hilfe eine gültige Konklusion zu
erzeugen, einen All-Satz (einen Warrant) als Prämisse, also eine universelle
Hypothese oder Schlussregel.10 Sie hat die Form: ‹Wenn etwas ein F ist,
so ist es auch ein G.› Hier würde sie lauten: «Eine auf den Bermudas ge-
borene Person ist normalerweise ein(e) britische(r) Staatsbürger(in)» oder,
um den Schlusscharakter deutlicher hervortreten zu lassen: ‹Für alle x gilt:
wenn sie Menschen und auf den Bermudas geboren sind, dann sind sie (nor-
malerweise) britische Staatsbürger(innen).› Nimmt man diese Schlussregel
als Obersatz, folgt der Übergang vom Untersatz zur Konklusion analytisch.
Was macht das Ganze aber zu einem substantiellen Argument? Dies: dass
die Prämisse ihrerseits gar nicht ohne weiteres einleuchtet und mithin eine
Rechtfertigung, eine Abstützung (ein «backing») durch weitere Fakten oder
Meinungen verlangen kann.11 Ein solcher Beleg zur Stützung der Gültigkeit
des «warrant» wäre in unserem Beispiel etwa die Angabe von Abmachungen,

7 «[…] substantial ones (so that their soundness can be questioned without contra-
diction)» (Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 138 o.).
8 Ibid. S. 97.
9 Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 166f.; Toulmin spricht von «bridgelike
statements» (Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 105). Freilich denkt er
unter diesem Titel sonst eher an allgemeine Konditionalsätze (‹für alle x: wenn
sie F, dann sind sie auch G›), wie es die Prämisse (der Warrant) des Arguments
ist. Sie bilden darum Brücken, weil sie uns den Schritt weg aus der Singulärität
des Datums erlauben: «At this point, what are needed are general, hypothetical
statements, which can act as bridges, and authorise the sort of step to which our
particular argument commits us» (ibid. S. 98).
10 Natürlich gibt es auch Syllogismen mit zwei singulären oder mit zwei universellen
Obersätzen. Sie sind aber für diejenige Form der Argumentation uninteressant, die
uns allein interessiert: Argumente, durch die allgemeine Aussagen zur Rechtfer-
tigung einzelner Schlüsse über Individuen verwendet werden (vgl. ibid. S. 108).
11 «[W]e may be asked why in general this warrant should be accepted as having
authority» (ibid. S. 103).
Subjektivität und Argumentation 159

rechtskräftigen Vereinbarungen oder Gesetzen, die aus der unglückseligen


Kolonialgeschichte Groß-Britanniens datieren und durch die stipuliert ist,
unter welchen Bedingungen ein auf den Bermudas geborenes Individuum
ein Brite oder eine Britin ist.
Diese (grobe) Differenzierung im Sinn (ich werde sie gleich vertiefen),
können wir vorläufig verstehen, warum Philosophen immer wieder betont
haben, dass Syllogismen vielleicht ‹zwingend› sind, nicht aber echte, d. h. auf
Wahrheit oder Richtigkeit Anspruch erhebende Argumente. Die Zustimmung
zu einem substantiellen Argument sollte zwar ‹rational motiviert› sein – aber
dabei darf uns kein Zwang geschehen – also nicht so etwas, wie Fichte es im
Auge hatte, als er durch einen «[s]onnenklare[n] Bericht» seine Leser «zum
Verstehen […] zwingen» wollte.12 Oder genauer: Nichts zwingt uns in der
Weise, wie logische Schlüssigkeit ein intelligentes Wesen zur Zustimmung
veranlasst oder wie strikt kausal wirksame Ereignisse uns ‹zwingen› – etwa die
Lichteinwirkung zur Verengung der Pupille oder der Kniescheibenreflex zum
Ausschlag des Unterschenkels. Es scheint irgendwie in unserer Freiheit 13 zu
liegen, ob wir uns von Argumenten bewegen lassen wollen – oder nicht. Und
damit stellt sich auch gleich ein fundamentales Problem: Wo verläuft die To-
leranzgrenze zwischen Freiheit und blanker Unvernunft? Anders gesagt: Wie
viel Freiheit lässt mir die Vernunft, einem guten Argument zu widerstehen? Ist
die ‹Vernunft› ein übergeordnetes Regelwerk, dessen Befolgung die logische
Kluft schließt, die sich zwischen analytischen und substantiellen Argumen-
ten auftut? Oder muss ich einen irreduzibel subjektiven Faktor einräumen,
der sich auch durch wissenschaftliche oder normative Rationalität nicht
eliminieren lässt?14 Das sind die Fragen, die ich mir im Folgenden stelle.

12 Johann Gottlieb Fichte: Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte (Berlin: de
Gruyter, 1971) (= Nachdruck der Nachgelassenen Schriften [1834/35] und der
Sämtlichen Werke [1845/46]), Bd. 2, S. 323(ff.).
13 Vgl. Charles W. Kneupper: The Tyranny of Logic and the Freedom of Argumenta-
tion, in Pre/Text, Vol. 5, N. 2 (Arlington: Routledge, 1984) S. 113-121.
14 Das ist z. B. auch die Ansicht von Robert Nozick, der im Übrigen ziemlich harte
(spiel- und evolutionstheoretische) Standards für die Rationalität von Wahl oder
Überzeugungsbildung ansetzt: «rationality involves some degree of self-con-
sciousness» (The Nature of Rationality [Princeton: University Press] S. 74). Vgl.
S. 177: «Becoming self-conscious about reasons and reasoning adds another di-
mension of control and development. Philosophy was the first discipline to carry
this self-consciousness beyond the usual to reflective people in general by making
reasoning itself the subject matter. (Hegel and Fichte later made self-conscious-
ness their subject matter.)»
160 Manfred Frank

Für die These selbst beanspruche ich keine Originalität. Obwohl es ge-
rade in Fraktionen der analytischen Philosophie gang und gäbe war, ‹kraft-
volle›, ‹zwingende› oder ‹niederschmetternde› Argumente gegen die Vorga-
ben des Opponenten/der Opponentin vorzubringen (besonders, wenn diese[r]
ein[e] Vertreter[in] der so genannten kontinentalen Philosophie war), sind
zumal im angelsächsischen Sprachraum ernste Zweifel an solchem Sturm-
und-Drang-Vokabular laut geworden. Robert Nozick sprach sarkastisch vom
Stil der «Coercive Philosophy»:
arguments are powerful and best when they are knockdown, arguments force you
to a conclusion, if you believe the premisses you have to or must believe the con-
clusion, some arguments do not carry much punch, and so forth. A philosophical
argument is an attempt to get someone to believe something, whether he wants to
believe it or not. A successful philosophical argument, a strong argument, forces
someone to a belief.15
In Wahrheit sind solche Saft- und Kraftsprüche Papiertiger, die die Macht gar
nicht haben, einem etwas anzutun, der dem angedrohten Zwang widersteht
und auf die Schmähung, sich ‹irrational› zu benehmen, pfeift. Selten verliert
der Opponent eines philosophischen «your money or your life»-Arguments
wirklich sein Vermögen. Und überhaupt: Macht sich die Philosophie als Ver-
walterin einer sanften Verführung zum Wahren oder Richtigen16 glaubwür-
dig, wenn sie die Sprache des Krieges, der Gewalt, der Repression spricht?
Nozick plädiert für die ‹intellektuelle Satyagraha›, Gandhis Wort für gewalt-
losen Widerstand und fragt:

Is this the explanation of why philosophy department audiences try especially


to refute or poke holes in lectures? The lecturer is trying to ram an opinion into
their minds, so quite appropriately the audience resists, because even if it is
something they want to believe anyway, they don’t want to allow themselves to
be forced to believe it.17

Selbst ein so scharfsinniger und unbarmherziger Analytiker wie David Lewis


gibt Nozick Recht. In der Einleitung zu seinen Philosophical Papers warnt
er den Leser, der «knock-down arguments in favor of my theories» erwartet,
vor der sicheren Enttäuschung:

15 Robert Nozick: Philosophical Explanations (Cambridge, MA: Harvard Univer-


sity Press, 1981) S. 4ff.
16 Habermas spricht gern von der «Erfahrung des eigentümlich zwanglosen Zwangs des
besseren Argumentes» (z. B. Wahrheitstheorien, op. cit. S. 144, aber auch passim).
17 Nozick: Philosophical Explanations, op. cit. S. 5 Anm.
Subjektivität und Argumentation 161

Whether or not it would be nice to knock disagreeing philosophers down by sheer


force of argument, it cannot be done. Philosophical theories are never refuted
conclusively. (Or hardly ever. Gödel and Gettier may have done it.) The theory
survives its refutation – at a price.18

Diesen Preis müssen wir von Fall zu Fall ermessen. Und dass wir das tun
müssen, hängt mit einer Eigenschaft substantieller Argumente zusammen,
die wir uns nun aus größerer Nähe ansehen müssen: Sie besteht darin, dass
der Übergang vom «backing» zum «warrant» nicht deduktiv/analytisch ist.
Toulmin sprach – freilich in einem ganz anderen Sinne als Russell – von
einem ‹Typensprung›.19 Damit ist gemeint, dass die Statements von Warrant
und Backing nicht auf derselben logischen Ebene liegen. Nehmen wir den
einfachsten und gewöhnlichsten Fall eines Arguments modo ponente. Hier
ist der Warrant ein All-Satz; das Backing aber besteht in einer singulären
Tatsachen-Aussage. Formal klafft zwischen beiden ein Abgrund. Der Men-
gen-Satz impliziert Existenz, der Allsatz (wenigstens nach Auffassung der
modernen Logik) nicht. Das gilt, wohl bemerkt, auch für den Fall, dass eine
empirische Aussage eine Menge von Ereignissen vollständig beschreibt,20

18 David Lewis: Philosophical Papers, Vol. I (New York, Oxford: Oxford Univer-
sity Press, 1983) S. x. Vgl. Hilary Putnam: The Many Faces of Realism (LaSalle,
IL: Open Court, 1988) S. 29, David M. Armstrong: Universals. An Opinionated
Inroduction (Boulder, San Francisco, London: Westview Press, 1989) S. 18-20,
Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden (Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1984), Bd. 6, §§ 114ff., S. 79ff.
19 Toulmin im Vorwort von The Uses of Argument sprach von ‹trans-type inference›
(op. cit. S. vii), sonst auch von «type-jumps» (z. B. ibid. S. 167 u., 229ff.), von
«ways of bridging the logical gulf in substantial arguments» (ibid.) oder von
«type-differences between our assertions and the information with which we
support them» (ibid. S. 230 u.). – Die Rede vom Typen-Sprung hat keine Verbin-
dung mit Russells «Theorie der logischen Typen» (vgl. Bertrand Russell, Alfred
N. Whitehead: Vorwort und Einleitungen zu den Principia Mathematica [Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1986] S. 55-94). Bekanntlich hatte Russell zur Vermeidung
logischer Paradoxien ein ‹Zirkelfehlerprinzip› aufgestellt. Die Paradoxien ent-
stehen dadurch, dass man Totalitäten definiert, deren Elemente abermals in Ter-
mini der gesamten Totalität definiert werden müssen. Darum besagt das Prinzip,
dass keine Totalität Glieder enthalten darf, die nur in Termini dieser Totalität
definierbar sind (so Gödel, ibid. S. XII).
20 Vgl. ibid. S. 114f.: Das Backing kann direkt als Prämisse eines Arguments auf-
treten, so in der Formulierung: ‹Kein einziger Schwede ist in ein katholisches
Taufregister eingetragen.› Die Formulierung ist kategorisch, steht für eine fakti-
sche Null-Klasse und ist formal von der anderen unterschieden: ‹Kein Schwede
ist katholisch.› Diese Formulierung steht nicht für eine Tatsache, sondern für
162 Manfred Frank

also für den Fall, dass der Warrant durch das Backing ersetzt wird. So
könnte etwa eine testartig durchgeführte Erhebung des Glaubensbekennt-
nisses der Schweden zu einem Satz führen, der einem All-Satz grammatisch
ähnelt, nämlich diesem: ‹Alle Schweden – nämlich (da wir ja mit einem
Backing als Prämisse zu tun haben): jeder Schwede und jede Schwedin, alle
Staatsbürger(innen) einzeln durchgecheckt – sind Protestant(inn)en.› Hier
hätte ich eine Menge im Obersatz, und Mengen können sehr wohl als (ab-
strakte) Einzelgegenstände betrachtet werden (nämlich von einem ‹Klassen-
Nominalisten›, wie ihn etwa David Armstrong beschreibt).21 Dann dürfte ich
nicht mehr behaupten, dass, wenn Petterson Schwede ist, der Schluss auf sei-
nen Protestantismus eine «Konsequenz irgendwelcher formalen Eigenschaf-
ten seiner konstituierenden Teile ist».22 Es bleibt also dabei: Der Ausdruck,
der die Abstützung (B) wiedergibt, ist eine empirische (und mithin fallible)
Behauptung, kein universelles Konditional. Um aber analytisch hieb- und
stichfest zu sein, müsste der Übergang vom Backing zum Warrant durch ein
Brückenprinzip vermittelt werden, wie es die Induktion in den empirischen
Naturwissenschaften ist; und durch Induktion komme ich nie auf gewiss
geltende All-Sätze.23 Und was schließlich den Gedanken betrifft, es werden
sich schon Regeln finden lassen, durch die ich die Aufstellung von Prämissen
rational kontrolliere, so könnten diese Regeln, wenn es sie gäbe, unmöglich
deduktive Kraft haben. Denn in ihnen werden Sätze ja allererst aufgestellt,
aus denen sich dann – hypothetisch – allerlei ergibt. Aber die Aufstellung

eine allgemeine Hypothese: ‹Für alle x überhaupt gilt: Ist x ein Schwede, so ist
er nicht-katholisch.› Backings sind, wenn wahr, informativ und gelten katego-
risch, Prämissen gelten nur hypothetisch und sind per se nicht wahr/informativ
(sie berechtigen uns nur, schlüssig vom Datum zur Konklusion überzugehen).
So meinen einige Logiker, All-Sätze (‹Alle A sind B›) machten keine Existenz-
Annahme, im Gegensatz zu ‹Einige A sind B›. – Die Ansicht, dass Klassen keine
Universalien (‹Typen›) sind, sondern abstrakte Individuen (‹abstract particulars›),
vertritt z. B. D. M. Armstrong: Klassen sind ‹tokens›. So kann es nur eine Klasse
aller Elektronen geben. Klassen können, anders als Typen, nicht nach Rekur-
sionsregeln wiederholt werden; die Hinzufügung oder Wegnahme auch nur eines
Elements würde sofort die (Extension der) Klasse verändern.
21 Armstrong: Universals, op. cit. S. 8ff., 21ff. Nämlich vom Klassen-Nominalisten,
der Klassen als tokens, nicht als types konstruiert (jede Änderung der Mitglied-
schaft ändert die Klasse, aber nicht den Typ; Klassen sind ‹unwiederholbar›,
Typen nicht).
22 Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 119f.
23 Ibid. S. 138 o.; 105.
Subjektivität und Argumentation 163

selbst ist innovativ, und nicht analytisch. Und darum könnte sie unmöglich
durch Schlussfolgerung aus schon etablierten Prämissen erreicht werden.24
Wollen wir also den Übergang von einer (singulären und empirischen)
Stütze zu einer allgemeinen Schlussregel kontinuierlich und damit ‹zwin-
gend› machen, so bräuchten wir ein neues Brückenprinzip von der Art des
Warrant. Nun kann man leicht einsehen, dass, wenn wir für dieses erneut eine
Hintergrundstütze (B) bräuchten, wir in einen infiniten Begründungsregress
gerieten. Irgendwann müssen wir also beim substantiellen Argumentieren
springen, ohne für den Sprung uns auf etablierte Gewissheiten verlassen
oder an sichere Übergangsregeln halten zu können. Wir müssen Einsichten
akzeptieren, die nicht analytisch die Sicherheit der Berechtigung ihres Gel-
tungsanspruchs mit sich führen.25 Die Kette der logischen Schlüssigkeit (oder
der ‹formalen Gültigkeit› des Arguments) ist hier unterbrochen, die «formale
Eleganz des Arguments ruiniert».26
Auch Putnam besteht darauf, dass es mit den Prinzipien, die begründeten
Glauben (‹warranted belief›) und begründete Aussagen (‹assertion›) regie-
ren, eine besondere Bewandtnis habe.27 Rechtfertigung (‹justification›) ist
nämlich ein Begriff, der nur auf Arten von Sätzen anwendbar ist. Deweys
Begriff der ‹garantierten Zustimmbarkeit (warranted assertability)›, kurz:
‹warrant›, ist da toleranter. Zwar macht Putnam den Unterschied zwischen
Verbürgtheit und Zustimmung durch die Mehrheit (die Mehrheit kann be-
kanntlich irren). Aber er besteht doch auch darauf, dass 1. unsere Normen
und Standards historische Geschöpfe sind und dass sie 2. unsere Interessen,
Werte und Hintergrundsannahmen widerspiegeln. So werden Venusbewoh-
ner die Ursache für den Waldbrand, den wir im unausgelöschten Feuer der
Pfadfinder und im Westwind suchen, eher darin sehen, dass unser merkwür-

24 Vgl. ibid. S. 120f., unter Verweis auf Ryle.


25 «Wherever claims to knowledge have been seen to be based on evidence not en-
tailing analytically the correctness of the claims, a ‹logical gulf› has been felt to
exist which the philosophers must find a way either of bridging or of conjuring
away» (ibid. S. 9). Im III. Essay (The Layout of Argument) wird ‹analytisch›
auch durch ‹tautologisch› umschrieben: «In most of our arguments, therefore, the
statement obtaiend by writing ‹Datum; backing; and also conclusion› will be far
from a tautology – obvious it may be, where the legitimacy of the step involved
is transparent, but tautological it will not» (ibid. S. 125,1).
26 Ibid. S. 123.
27 Hilary Putnam: Realism with a Human Face (Cambridge, MA: Harvard Univer-
sity Press, 1990) S. 21.
164 Manfred Frank

diger Planet einen Sauerstoffgürtel hat.28 Das Beispiel (so dumm es auch ist)
zeigt, dass, was dem einen als Hintergrundsannahme gilt, dem anderen leicht
als Ursache erscheinen kann – dass wir also die Trennung vom Datum und
Backing nicht scharf ziehen können. Wollen wir nun nicht, wie es der meta-
physische Realist vorschlägt, den Gedanken der Wahrheit völlig abkoppeln
vom Gedanken der Belege, die wir für sie anführen können, so bleibt der
‹warrant› immer relativ auf diese geschichtlichen Standards und Interessen.29
Schlimmer noch: Selbst die Bedeutung der logischen Formwörter, selbst
diejenige des Existenzquantors bleibt relativ auf eine vorgängige Semantik
bzw. die (ontologische) Entscheidung, welche Gegenstände wir als existie-
rend durchgehen lassen – und welche nicht.30
Wenn das aber so ist (und wir haben wenig Grund, das zu bezweifeln):
Wie sollen wir uns dann den Schein von Plausibilität erklären, der in der Rede
von ‹zwingenden Argumenten› steckt? Ich habe in früheren Publikationen
vorgeschlagen, sich in diesem Zusammenhang einer nützlichen Unterschei-
dung der Phänomenologie (besonders Sartres) zu erinnern.31 Sie verläuft
zwischen Kausation und Motivation. Kausal verursacht wären Vorgänge, die
unter gegebenen empirischen Umständen (und bei Normalverhältnissen) un-
möglich nicht eintreten können: wie die Verengung der Pupille unter Licht-
wirkung oder der Ausschlag des Unterschenkels beim Kniescheibenreflex.
Motive wären dagegen Gründe, die meine Handlung nur im Lichte einer sie
allererst als Grund erschließenden vorgängigen Interpretation bestimmen.
Ein Handlungsauslöser, der seine Wirksamkeit erst kraft einer ihn als Grund
anerkennenden Interpretation entfaltet, kann nicht als kausale Ursache der
Handlung begriffen werden. Nehmen wir die Vorstellung eines Handlungs-

28 Hilary Putnam: Why there isn’t a ready-made world, in ders.: Realism and Rea-
son. Philosophical Papers, Vol. 3 (Cambridge: Cambridge University Press, 1983,
61992) S. 205-228, hier S. 212-214.

29 Was nach Putnams Überzeugung noch keinen Kultur-Relativismus impliziert.


(Realitäten können gleich gut von verschiedenen Interpretationen oder in ver-
schiedenen Begrifflichkeiten ausgelegt werden: je nach der gewählten Ontologie
kann ich ein Zimmer als aus Stuhl, Tisch und Teppich oder aus Billionen Mo-
lekülen bestehend ansehen. Lasse ich wie die polnischen Logiker Summen zu,
komme ich auch bei einer makroskopischen Ontologie im ersten Fall auf acht
Objekte, usw.)
30 Putnam: The Many Faces of Realism, op. cit. S. 19, 32ff.
31 Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpre-
tation nach Schleiermacher (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, 1985) S. 322ff.;
Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique (Paris:
Gallimard, 1943) S. 63.
Subjektivität und Argumentation 165

ziels. Als zukünftiger, erst durch meine Handlung herzustellender, Welt-


zustand existiert dies Ziel ja noch gar nicht; und als ein Nichtseiendes kann
es nicht physisch wirken. Ich kann mich aber, wenn ich will, von ihm zu
einer Handlung (teleologisch) bestimmen lassen. Und dann liegt ein Teil der
Handlungsauslösung, nämlich der mir allein eigenverantwortlich zurechen-
bare, bei mir. Ebenso verhält es sich mit einer Grammatik. Als eine Entität,
deren Seinsmodus die reine Virtualität ist, kann sie unmöglich kausal auf
meine Redehandlungen wirken. Es gibt eben keine ‹Polizei der Sprache›: und
nichts hindert innovatorische Sprachverwendungen. Wittgenstein mokierte
sich über die Vorstellung der sich magisch selbst erhaltenden ‹ideal starren›
Regelmaschine,32 die alle zukünftigen Zeichenverwendungen antizipierbar
macht. Das war übrigens eine Grundüberzeugung, die er mit Saussure, Peirce
und Schleiermacher teilte (um nur sie zu nennen). Trotzdem werde wir nicht
leugnen, dass wir uns beim Zeichenhandeln durch Habitualitäten leiten las-
sen, die mit Systemzwang so wenig zu tun wie mit Logik.
Dass der Übergang vom Backing zum Warrant nur durch die Motiva-
tionshilfe eines vorher bestehenden ‹Sprachsystems› gelingen wird, muss
übrigens auch der Rationalist und Antirealist Habermas zugeben. Freilich
will er – gut aufklärerisch – diese Motivationsvorgabe im nachhinein rational
hinterfragen und das heißt: entkräften. Da wir den Übergang, der uns vom
angeführten Beleg zur Prämisse (warrant) unseres Arguments trägt, nicht
als deduktiv denken können, brauchen wir ein Brückenprinzip. Es wird uns
aber nur dann dazu bewegen, den Übergang wirklich zu tun, wenn dieser
gleichsam von einer anerkannten Praxis der Sprachgemeinschaft, zu der ich
gehöre, empfohlen wird. Toulmin nennt das die ‹Feld-Abhängigkeit› jedes
Geltungsanspruchs: «validity is an intra-field, not an inter-field notion»:33
Bewertungsstandards (substantieller Argumente), die in einem Feld gelten,
können in einem anderen ihre Plausibilität einbüßen. So gibt mir die gewählte
Theorie/Sprache – gewöhnlich wähle ich sie natürlich nicht, sondern werde
in sie hineinerzogen – nicht nur die singulären Termini vor, mit denen ich
die Gegenstände, über die wir argumentieren, benenne (und nimmt so still-

32 Wittgenstein: Werke (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984), Bd. 1, S. 295, Nr. 97.
33 Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 255. «In all fields, the force of our
warrants is to authorise the step from certain types of data to certain types of
conclusions, but, after all we have seen about the field-dependence of the criteria
we employ in the practical business of argument, it is only natural to expect that
inference-warrants in different fields should need establishing by quite different
sorts of procedure» (ibid. S. 129).
166 Manfred Frank

schweigend eine ontologische Selektion vor, die von Sprache zu Sprache


variiert). Sie legt auch die Grundbegriffe fest, durch die wir die Gegenstände
charakterisieren (und auch der Prädikatenrahmen kann von Sprache zu Spra-
che differieren). Und sie leistet noch einiges andere mehr; z. B. gibt sie mir
pragmatisch bewährte Gewohnheiten des Sprachgebrauchs an die Hand, die
einen stillschweigend normativen Druck auf meine Intentionen ausüben. So
entscheidet sie etwa über die Klassen von Erfahrungen, die wir, um einge-
wöhnte Üblichkeiten nicht zu verletzen, beim Argumentieren als Belege an-
führen sollten, einschließlich derer, in der wir das Backing erfassen. So gibt
es habituell gewordene Weisen des Schließens, die als bloße Gewöhnungen
angefangen hatten und schließlich eine Art verpflichtender Verbindlichkeit
angenommen haben.34 Nur: Wenn wir uns einer konkreten Theorie/Sprache35

34 So Dewey in Logic: the Theory of Inquiry, zit. in Toulmin: The Uses of Argument,
op. cit. S. 3 u.
35 Zur Rechtfertigung der Gleichung einer Sprache mit einer Theorie vgl. Quine. Er
hat sie im Zusammenhang mit seiner bekannten These von der Unterbestimmt-
heit aller empirischen Theorien entwickelt. Diese These wieder wird aus der
Kombination zweier Annahmen begründet: 1. Peirce’s Vorschlag, die Bedeu-
tung eines Satzes als einen unser Interpretationsvermögen einbeziehenden, be-
währungsabhängigen Schlussprozess aufzufassen (die Bedeutung eines Satzes
ist, was durch das Gesamt der seine Wahrheit begründenden Aussagen gestützt
wird: dieser Prozess der Zeicheninterpretation ist empirisch unabschließbar). Aus
dieser Annahme folgt, dass Bedeutung und Information, Sprache und Theorie,
sich nicht trennen lassen. Als 2. Annahme fungiert der so genannte Holismus,
der möchte, dass Theorien nur als ganze, nicht in einzelnen Sätzen an der Wirk-
lichkeit erprobt werden. Ist sprachlich artikulierte Wirklichkeitsauffassung ins-
gesamt theorieimprägniert (mithin deutungsabhängig) – anders gesagt: macht
es überhaupt keinen Sinn mehr, eine Unterscheidung einzuführen zwischen ‹der
Art und Weise, wie die Welt wirklich ist›, und ‹unserer Weise, über sie zu spre-
chen› (Richard Rorty: Non-Reductive Physicalism, in Theorie der Subjektivität,
hg. von Konrad Cramer et al. [Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987] S. 282), dann
kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass ein und derselbe, durch
Experiment sichergestellte Erfahrungsbefund durch mehrere, untereinander in-
kompatible Theorien treffend interpretiert werden kann. «In a word, they can
be logically incompatible and empirically equivalent» (Willard V. O. Quine: On
the reasons for indeterminacy of translation, in The Journal of Philosophy 67
[1970] S. 179-183, hier S. 179). Nach welchen Kriterien wird man dann Theorien/
Sprachen auswählen? Quine lässt nur den pragmatischen Gesichtspunkt größt-
möglicher Brauchbarkeit in lebenspraktischer Absicht zu: Theorien sind nicht
Re-präsentation theorieunabhängiger Wirklichkeit, sondern ‹tools for handling
reality›. Ein solcher pragmatischer Gesichtspunkt ist z. B. die Einfachheit und
Übersichtlichkeit einer Theorie.
Subjektivität und Argumentation 167

anvertrauen, übernehmen wir deren Erbschaft an historisch gewachsenen


Kontingenzen. Anders gesagt: Die nicht-deduktiven Übergänge, zu denen
uns eine eingewöhnte Sprecherpraxis motiviert, müssen darum noch nicht
vernünftig (und in diesem Sinne: begründet/berechtigt) sein. Habermas
möchte darum – als guter Aufklärer – das Sprachsystem seinerseits unter dem
Gesichtspunkt seiner ‹Angemessenheit› überprüfen36 («hinterfragen», sagt
Habermas37). Nun betont Habermas selbst und zu Recht, dass Angemessen-
heit – etwa im Sinne von Piagets ‹Assimilation› und ‹Adaptation› eines
lebenden Organismus an seine Umwelt – aus kategorialen Gründen nichts
mit ‹Wahrheit› zu haben kann.38 Dennoch hält er die Prüfung der Angemes-
senheit für ein ihrerseits diskursfähiges Unternehmen. Um es aber erfolg-
reich durchführen zu können, bräuchte er so etwas wie eine rein rationale
Grammatik von der Art, wie es z. B. Leibniz oder den Autoren von Port-
Royal vorgeschwebt hatte: ein Sprachsystem, das ipso facto wahre und nur
wahre Sätze generieren würde.39 Ein solches wäre aber nicht das Mitteilungs-

36 Man wird ihn natürlich fragen: angemessen an was? Da doch nach Habermasens
Ansicht die Realität immer nur als gedeutete vorliegt. Habermasens Rede vom
«Hin- und Hergehen zwischen Begriff und Sache» (Habermas: Wahrheitstheo-
rien, op. cit. S. 171) macht eine realistische Voraussetzung, die zum sonstigen
durchgängigen Antirealismus seiner Konsenstheorie nicht passen will (wie kriege
ich die Sache begriffsfrei in den Blick?). – Die Rede von der Angemessenheit
des gewählten Systems scheint abermals auf Toulmin zurückzuführen. Der hatte
zwischen der ‹Korrektheit› (etwa einer mathematischer Rechnung) und ihrer
‹Angemessenheit (appropriateness)› an das zu lösende Problem unterschieden
(Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 102).
37 Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 172 o.
38 «Allein, Angemessenheit kognitiver Schemata (und entsprechender Sprachsys-
teme) an Objektbereiche (oder konstituierte Wirklichkeit) kann nicht als Wahrheit
begriffen werden, wenn nicht ‹Wahrheit› von dem mit Aussagen verknüpften Gel-
tungsanspruch völlig abgelöst, d. h. durch einen anderen Begriff ersetzt werden
soll» (Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 169). Das gilt entsprechend auch
für den Geltungsanspruch der ‹Richtigkeit›: «Freilich kann die Richtigkeit von
Geboten sowenig wie die Wahrheit von Aussagen auf die Angemessenheit von
Begriffen zurückgeführt werden» (ibid. S. 173).
39 Ein solches Konzept ist widersprüchlich. Denn auch wenn wir zugeben, dass nie
ein wahrer Satz den Wohlgeformtheitsbedingungen widersprechen könnte, wel-
che die Grammatik formuliert, liefert uns doch die Grammatik allein noch kein
Kriterium zur Auswahl der Menge aller wahren Sätze aus der der wohlgeformten.
Donald Davidson nannte eine solche Relation ‹Supervenienz›, z. B. in Mental
Events: «Such supervenience might be taken to mean that there cannot be two
events alike in all physical respects but differing in some mental respect, or that
168 Manfred Frank

medium endlicher Geister. Gewiss kann ich Mängel eines Sprachsystems


benennen und überwinden: z. B. durch semantische Innovation im System
oder durch Wechsel der Theorie/Sprache. Und natürlich kann ich für solche
Änderungen argumentieren. Nur wird die Überzeugungskraft meiner Argu-
mente darum nicht gleich derjenigen, die ein unendlicher Geist hätte, dessen
Theorie/Sprache jede Motivation, die von Argumenten ausgeht, damit schon
zu einer rationalen machte. So bringt uns die ‹Hinterfragbarkeit und Revi-
dierbarkeit unserer Begründungssprache›40 nicht schon aus dem Schneider/
Dilemma, das da lautet: Geltung versus Subjektivität.41 Und der Vorschlag,
die Veränderungen/Anpassungen unseres Sprachsystems selbst wieder unter
die Kontrolle von Argumenten zu bringen, öffnet nur einen Begründungs-
zirkel. Denn Argumente können diese Kontrolle ja nur unter der Bedingung
ausüben, dass sie rational sind. Und dafür haben wir keine unabhängigen
Kriterien. Letztlich rekurriert Habermas bekanntlich auf eine Idee im kan-
tischen Sinne (die ‹ideale Sprechsituation›).42 Aber damit ist dem Begrün-

an object cannot alter in some mental respect without altering in some physical
respect. Dependence or supervenience of this kind does not entail reducibility
through law or definition: if it did, we could reduce moral properties to descrip-
tive, and this there is good reason to believe cannot be done; and we might be able
to reduce truth in a formal system to syntactical properties, and this we know can-
not in general be done.» (Mental Events, in ders.: Essays on Actions and Events
[Oxford: Clarendon Press, 1980, 41986] S. 207-227, hier S. 214) Vgl. die entspre-
chende Formulierung in The Material Mind, in op. cit. S. 245-259, hier S. 253,2.
Vgl. ibid. S. 253f.: «If a certain psychological concept applies to one event and
not to another, there must be a difference describable in physical terms. But it
does not follow that/ there is a single physically describable difference that dis-
tinguishes any two events that differ in a given psychological respect.» – Das Bei-
spiel des Verhältnisses von Syntax zur Satzwahrheit findet sich in Mental Events,
op. cit. S. 214: «Think of the physical vocabulary as the entire vocabulary of some
language L with resources adequate to express a certain amount of mathematics,
and its own syntax. L' is L augmented with the truth predicate ‹true-in-L › which
is ‹mental›. In L (and hence L' ) it is possible to pick out, with a definite descrip-
tion or open sentence, each sentence in the extension of the truth predicate, but
if L is consistent there exists no predicate of syntax (of the ‹physical› vocabulary),
no matter how complex, that applies to all and only the true sentences of L.»
40 Habermas: Wahrheitstheorien, op. cit. S. 173 u.
41 Vgl. ibid. S. 172,2: «Eine Konsenstheorie der Richtigkeit setzt sich eher dem
Zweifel aus, ob praktische Fragen überhaupt wahrheitsfähig, ob die Richtig-
keit von Geboten oder Verboten überhaupt ein diskursiv einlösbarer Geltungs-
anspruch ist und nicht vielmehr etwas bloß Subjektives.»
42 Ibid. S. 174ff. Ich weiß: Habermas wehrt die Deutung der Vorgriffs auf die ideale
Subjektivität und Argumentation 169

dungsnotstand nur ein Name gegeben. Faktische Kontrolle über Kommuni-


kationsabläufe kann eine Idee nicht üben.
So scheint sich die Situation der Begründung von Argumenten tatsächlich
als ein unendlicher Regress darzustellen: Wir korrigieren eine angenom-
mene Begründungsbasis (ein akzeptiertes Sprachsystem) zugunsten einer
anderen, die diese Begründung wieder nicht ultimativ leisten kann, auf eine
dritte verweist und so immer weiter. – Die Alternative zum infiniten Be-
gründungsregress43 wäre der Aufweis einer grundlegenden Kenntnis,44 die
aus sich selbst einleuchtend wäre und alle anderen Kenntnisse zu begründen
fähig wäre, ohne selbst von einer weiteren abzuhängen. Das war Descartes’,
Jacobis, Reinholds und Fichtes Programm. Aber schon die Skeptiker um Er-
hard, Niethammer und Friedrich Schlegel haben es zum Einsturz gebracht.
Wäre – so argumentieren sie – Evidenz ein privates Bewusstseinserlebnis,
so eignete sie sich nicht zum Prinzip von Ableitungen, die von einem All-
Satz auszugehen haben. Der aber könnte nur hypothetische Geltung für sich
beanspruchen (von der Art, wie es kantische Ideen tun). Und so scheint kein
Weg an der These vorbeizuführen, dass ‹die Kette der Gründe ein Ende hat›.
Nicht, weil wir auf eine (intersubjektiv einleuchtende) Evidenz gestoßen
wären, «sondern weil es – in diesem System – keinen Grund gibt».45

Kommunikationssituation als regulative Idee ab (ibid. S. 181); aber ich glaube:


zu Unrecht. Er meint, dass wir diese Unterstellung «mit dem ersten Akt sprach-
licher Verständigung faktisch immer schon vornehmen». Aber eine tatsächlich
gemachte Voraussetzung macht die Geltung dieser Voraussetzung noch nicht zu
einer faktischen – nicht mehr, als im ontologischen Gottesbeweis Gott darum
faktisch existiert, weil es uns faktisch unmöglich ist, ein allerrealster Wesen ohne
Existenz zu denken.
43 Wie ihn – nach dem Vorbild des Aristoteles und des Sextus Empiricus – Fried-
rich Heinrich Jacobi in der VII. Beilage zur Zweitauflage seines Spinoza-Büch-
leins beschrieben hat: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses
Mendelssohn. Neue vermehrte Auflage (Breslau: Löwe, 1789) S. 389-434, bes.
422ff., 430ff. Kritische Neuausgabe in Friedrich Heinrich Jacobi: Werke, Bde. 1,1
und 1,2, Schriften zum Spinozastreit, hg. von Klaus Hammacher, Irmgard-Maria
Piske (Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt: Meiner, Frommann-Holzboog, 1989).
(Die Ausgabe gibt die Paginierung der Originaldrucke 1785 und 1789 am Rande
mit an.)
44 ‹Basic knowledge›, wie die zeitgenössischen Fundamentalisten sagen. Vgl. z. B.
Roderick Chisholm: The Directly Evident, in Theory of Knowledge (Englewood
Cliffs, NJ: Prentice Hall, 21977) S. 16-33.
45 Zettel, Nr. 301 (Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden, op. cit. Bd. 8, S. 342,
Nr. 301). Vgl. S. 345f., Nr. 314: «Die Schwierigkeit ist hier: Halt zu machen.»
170 Manfred Frank

Auch Toulmin muss der Grundsatzphilosophie letztlich eine Absage er-


teilen.46 Auch er sieht kein einiges Über-Prinzip, dessen Gewissheit uns zu
triftigen Überzeugungen führte. So muss er an eine «grundlegende Vernunft-
fähigkeit (basic rational competence)»47 appellieren, die gerade so wenig
lernbar ist wie das, was Kant ‹Urteilskraft› nannte und wovon er sagte,
ihr Mangel sei Dummheit, «und einem solchen Gebrechen [sei] gar nicht
abzuhelfen».48 Man kann sich rasch darüber klar werden, worin die Schwie-
rigkeit liegt: Man kann Begriffe als Regeln verstehen. Die Regeln subsu-
mieren besondere Fälle, auf die sie sich anwenden lassen. Aber wir kämen
in einen infiniten Regress, wenn wir die Anwendung der Regeln abermals
unter Regeln bringen wollten. Irgendwann muss ich also den Sprung vom
Allgemeinen in den (durchs Allgemeine unterbestimmten) Einzelfall wagen
– und dabei hilft mir nur meine Urteilskraft. Sie hat den Charakter einer
Kunst, verbürgt also (wie Schleiermacher sagt), nicht die Sicherheit ihrer
Anwendung. Und «so muß man von einem zum anderen übergehen, und wie
dies geschehen soll, darüber lassen sich keine Regeln geben».49
Ich kann auch in die umgekehrte Richtung blicken und mich fragen,
durch welche allgemeinen Prämissen ich den Einzelfall deuten soll – und das
wäre das Verfahren der Urteilskraft, das Kant ‹reflektierend› genannt hatte.
Auch hier habe ich keine Regeln für die Aufsuchung von Ableitungsregeln.
Aber selbst wenn ich so etwas wie die «Über ordnung» der Sprache hätte,
von der Wittgenstein redet50 und deren Fehlen Lyotard für die condition
postmoderne verantwortlich macht: Selbst dann wüsste ich ja nicht mit me-
chanischer Sicherheit, wie ich den Übergang zwischen dem Allgemeinen
und dem Einzelnen vollziehen soll. Lyotard glaubt mit dem späten Wittgen-
stein an eine Diversität von aufeinander irreduziblen Sprachspielen, die nicht

46 Toulmin: The Uses of Argument, op. cit. S. 135,1.


47 Ibid. S. 134. Auch «simple rational skill» (ibid. S. 135 o.).
48 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 134 = B 172f.
49 Friedrich D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang
sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. und eingeleitet von M. Frank
(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977) S. 81. Das Zitat fährt fort: «Das volle Ge-
schäft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten, aber nicht, als ob die
Ausführung in einem Kunstwerk endigte, sondern so, daß die Tätigkeit nur den
Charakter der Kunst an sich trägt, weil mit den Regeln nicht auch die Anwen-
dung gegeben ist, d. i. nicht mechanisiert werden kann.» Vgl. über den Regress
von Regeln, deren Anwendung abermals unter Regeln gebracht werden soll, auch
ibid. S. 360.
50 Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden, op. cit. Bd. 1, S. 295, Nr. 95.
Subjektivität und Argumentation 171

aus dem Oberbegriff einer einheitlichen Sprache abgeleitet werden können.


Innerhalb dieser Diversität von Regeln spezifizierten Sprachgebrauchs
macht er noch einmal einen Unterschied zwischen Satzverwendungsregeln
und Redegattungen. Letztere finalisieren Satzverwendungsregeln im Blick
auf «transphrastische» pragmatische Unternehmungen wie erzählen, eine
Vorlesung halten, jemanden verführen usw., treten aber ihrerseits in einem
irreduziblen Plural auf.51 Sowohl die Redegattungen wie die Satzverwen-
dungsregeln werden von Lyotard aufgefasst als spezifiziert durch Regeln,
die nur den jeweiligen Typ von Sprachgebrauch vorschreiben. Der Über-
gang zwischen Redeereignissen eines Typs zu einem solchen anderen Typs
bleibt mithin ungerechtfertigt – es gibt ja keine universelle Über-Regel, die
regelübergreifende Sprachverwendung abermals regelte, und so entsteht ein
Rechtfertigungs-Vakuum, das Lyotard tort nennt: ein kriterienloses und von
keiner Schlichtungsinstanz zu heilendes Unrecht/Übel. Da die inexistente
Überregel der Sprache das sein würde, was die Moderne Vernunft genannt
hat, können Konflikte zwischen pragmatischen Regeln fortan nicht mehr
vernünftig geschlichtet werden.
Dass es die ‹Über-Regel› nicht gibt, die den Übergang zwischen Rede-
handlungen vorschreibt, war auch eine Grundüberzeugung Wittgensteins.52
Und gerade Wittgenstein hat an den Regress erinnert, der im Gedanken einer
Regel steckt, die ihre eigene Anwendung abermals regelte. Löst man sich
außerdem – wie Wittgenstein, Lyotard, aber auch Habermas es tun – vom
repräsentationistischen Pardigma des Realismus (wonach Wörter Abbil-
der von Vorstellungen und diese wiederum von Aspekten der Wirklichkeit
wären),53 so muss man die relative Einträchtigkeit unserer Weltschematisie-
rung als über Bedeutungsregeln vermittelt denken. Die Verlässlichkeit der
Wirklichkeitswahrnehmung wird also durch die Eintracht unseres Redens
über sie ersetzt. Lässt sich auf diese semantischen Regeln nun weder das

51 Vgl. Manfred Frank: Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwi-
schen Lyotard und Habermas (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988).
52 Vgl. Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden, op. cit. Bd. 4, S. 56; Bd. 3, S. 155 o.;
Bd, 1, S. 340f., Nr. 193f.; Bd. 3, S. 154f.
53 Habermas (Wahrheitstheorien, op. cit. S. 107, 133) beruft sich auf Peirce, der
bemerkt hatte, dass wir den Ausdruck ‹Wirklichkeit› selbst nur über den ande-
ren der ‹wahren Aussage› einführen können. Ist das der Fall, so haben wir kein
Aussagesatz-unabhängiges Kriterium für die Wirklichkeit von Sachverhalten und
würden uns in einem Zirkel bewegen, wollten wir – wie es die realistische Kor-
respondenztheorie vorschlägt – die Wahrheit von Sätzen umgekehrt durch die
Wirklichkeit dessen definieren, was in ihnen behauptet wird.
172 Manfred Frank

Paradigma perzeptiver Evidenz54 noch dasjenige deduktiver Notwendigkeit55


noch auch dasjenige einer kausalen Determination56 anwenden, so kann nicht
nur nicht der Übergang zwischen Regelsystemen, sondern schon nicht einmal
die Anwendung einer Regel selbst als notwendig gedacht werden. Für die
‹Richtigkeit› oder ‹Falschheit› einer Regel(verwendung) gibt es – scheint’s
– keine außersprachlichen – und d. h. (denn wer spricht, nimmt an einer
gemeinsamen «Lebensform» teil) keine außersozialen – Kriterien: «Richtig
und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Men-
schen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der
Lebensform».57
Aber was folgt daraus? Ich meine: dies, dass wir in letzter Instanz wieder
auf die Subjektivität gestoßen werden. Sie zeigt sich als das einzige Abso-
lutum in einem Meer von Relativitäten. Kraft ihrer – natürlich in intersub-
jektiver Kooperation – gibt es so etwas wie Regeln, kraft ihrer so etwas wie
Standards der Rationalität. So wie aber Kant von den Übergangsregeln, die
er ‹Kategorien› nannte, nachwies, dass sie nicht angewendet werden dürfen
zur Bestimmung des Subjekts selbst, aus dem sie entspringen,58 so wenig
dürfen wir einen dergleichen ‹Paralogismus› begehen: Das Subjekt der Argu-
mentation kann selbst und als solches nicht von den Regeln her verständlich
gemacht werden, die kraft seiner bestehen. Und so scheint sich die Angst vor
der Rechtfertigungslosigkeit des Übergangs von einem kontingenten Beleg
zu einem universellen Ableitungsprinzip als die Angst herauszustellen, die
die Philosophie vor dem Subjekt als einer – im Wortsinne – anarchischen
Größe empfindet. Soviel ich sehe, führen aber alle Versuche, das Subjekt

54 Vgl. ibid. S. 135: «die methodische Inanspruchnahme von Erfahrung, z. B. im


Experiment, bleibt ihrerseits abhängig von Interpretationen, die ihre Geltung
nur im Diskurs bewähren können. Erfahrungen stützen den Wahrheitsanspruch
von Behauptungen; an ihm pflegen wir, solange keine dissonanten Erfahrungen
auftreten, festzuhalten. Aber einlösen lässt sich ein Wahrheitsanspruch nur durch
Argumente. Ein in Erfahrung fundierter Anspruch ist noch keineswegs ein be-
gründeter Anspruch.» Dass die subjektive Art und Weise, wie uns Gegenstände
sinnlich gegeben werden, Sätze nicht wahr macht, hat Habermas auch sonst be-
hauptet: ibid. S. 142ff., 151ff., 154ff.
55 Habermas identifiziert die Rede von deduktiver Notwendigkeit mit der (Toul-
min’schen) Analytizität (ibid. S. 164). So ist seine Pointe (anders als bei Toulmin),
dass weder sinnliche Evidenz noch analytische Schlüssigkeit einen genuinen
Beitrag zur argumentativen Triftigkeit leisten.
56 Vgl. Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden, op. cit. Bd. 1, S. 342, Nr. 195.
57 Ibid. Bd. 1, S. 356, Nr. 241.
58 Z. B. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 422.
Subjektivität und Argumentation 173

zu eliminieren oder an die lange Leine von Regeln zu nehmen, in Zirkel


oder Regresse. Das ist in der logizistisch verkürzten oder nomologisch ver-
krüppelten Argumentationstheorie nicht anders als in physikalistischen oder
sprachanalytischen Reduktionsversuchen. Mir scheint diese Konsequenz in
einem Charakter der Subjektivität zu gründen, der zugleich ihr unveräußer-
liches Humanum birgt. Wer ihn zum Epiphänomen übergeordneter anonymer
Prozesse – selbst einer subjektlos definierten Systemrationalität – machen
möchte, muss sich klar machen, welchen Preis er bezahlt. Wer Subjektivität
als etwas aus physischen Ereignissen oder vorbestehenden Argumentations-
Regeln oder selbst sozialer Rollenübernahme allererst ‹Resultierendes›59 be-
zeichnet, der hat sie aufgegeben. Es ist dann zu spät, ihr die Selbstständig-
keit und Würde wieder zuzuerkennen, auf deren Intuition z. B. die Men-
schenrechte beruhen. Denn Subjektivität muss in einem nicht-trivialen Sinne
ursprünglich sein, um überhaupt ein philosophisches Interesse auf sich zu
ziehen. Vor die Alternative gestellt, ob ich die Letztbegründung von Regeln
kommunikativen Miteinanders oder die ultimative Gewissheit selbstbewuss-
ter Subjektivität zur Disposition stelle, entscheide ich mich für das erstere.
Aber ich tue es im Vertrauen darauf, dass, wenn dieser Ausgangspunkt ein-
mal gesichert ist, alles andere, das der Philosophie not tut, sich von selbst
finden wird. Und in der Gewissheit, dass es nur unter dieser Bedingung als
ein Humanum sich ausweisen kann.

59 Manfred Frank: Subjektivität und Intersubjektivität, in ders.: Selbstbewußtsein


und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität
(Stuttgart: Reclam, 1991) S. 410-477, hier S. 413f.
Studia philosophica 66/2007

M ARKUS C HRISTEN

Autonomie – eine Aufgabe


für die Philosophie

In science, technology and social science, various projects can be identified that
intend to naturalize autonomy – a central philosophical concept, in particular in
ethics, philosophy of law and political philosophy. This contribution analyzes the
impact of this «naturalization» of the autonomous agent on the philosophical un-
derstanding of autonomy. First, an overview of the discussion on personal autonomy
within contemporary philosophy is given. In a second step, two different notions of
autonomy – strong and weak autonomy – are introduced. This basic distinction is
complemented with a general scheme of analysis that allows the build-up of a tax-
onomy of autonomy along four dimensions (qualitative, temporal and environmental
aspect of actions, and structural aspects of the autonomous agent). Third, the pos-
sible impact of naturalizing autonomous agency on the philosophical concept of au-
tonomy is exemplified in the field of neuroscience. Finally, limits of the naturalization
project are identified by introducing the concept of «Setzung» (determination) – an
act performed by an autonomous agent such that the agent is able to perceive him-
or herself as being autonomous. It is argued that this process of a «Setzung» cannot
be fully understood by empirical means and thus marks the limits of the project of
naturalizing autonomy.

1. Das Problem

Autonomie ist ein Zentralbegriff der Moderne. In der Philosophie spielt der
Begriff vorab in der Ethik, der Rechtsphilosophie und der politischen Philo-
sophie eine maßgebliche Rolle.1 Aber auch in anderen Wissenschaften wie
dem Recht generell, der Psychologie, der Pädagogik und den Politikwis-
senschaften finden sich Konzepte von Autonomie.2 In all diesen Bereichen
bringt der Begriff das Freiheitsbewusstsein und Selbstbestimmungsrecht des

1 Heiner Bielefeldt: Autonomie, in Handbuch Ethik, hg. von Marcus Düwell, Chris-
toph Hübenthal, Micha H. Werner (Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 2002) S. 305-
308.
2 Rosmarie Pohlmann: Autonomie, in Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 1 (Basel: Schwabe, 1971) S. 701-719.
176 Markus Christen

Einzelnen bzw. von Gruppen von Menschen zum Ausdruck. Er gilt im Wei-
teren als unabdingbare Komponente für die theoretische Fundierung ver-
schiedener normativer Ethiken und spielt auch in diversen Bereichen der
angewandten Ethik eine zentrale Rolle – beispielsweise in der Medizinethik.3
«Autonomie» prägt also wichtige Teilbereiche der Philosophie.
Demgegenüber bilden neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse über
die Natur der Autonomiefähigkeit – gewonnen vorab in der Neurowissen-
schaft – und tiefere Einsichten in die gegenseitige Abhängigkeit von Akteu-
ren in einer modernen, durch die wirtschaftliche Globalisierung geprägten
Gesellschaft eine Herausforderung für den klassischen Autonomiebegriff. Es
stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit das zunehmende Wissen über
innere Determiniertheit und extern gegebene Abhängigkeiten und Beziehun-
gen zwischen autonomen agents 4 den Begriff der Autonomie selbst tangie-
ren. Unter Einbezug der technischen Forschung mit dem Ziel der Konstruk-
tion künstlicher autonomer Systeme wird damit insgesamt ein Projekt einer
Naturalisierung von Autonomie sichtbar, das die philosophischen Aspekte
des Autonomiebegriffs beiseite zu schieben droht.
Der vorliegende Beitrag plädiert dafür, dass diese Erkenntnisse aus den
Natur- und Sozialwissenschaften zwar zu einer Theorie der Autonomie bei-
tragen müssen, diese Theoriebildung aber eine primär philosophische Auf-
gabe bleibt und kein rein natur- bzw. sozialwissenschaftliches Projekt ist.
Dies, weil der (noch zu erläuternde starke) Autonomiebegriff eine inhärent
normative Komponente beinhaltet. Dieser Autonomiebegriff erfordert Set-
zungen des agent hinsichtlich seiner Möglichkeiten und Grenzen der Wahr-
nehmung von Autonomie, wobei die Natur dieser Setzung nicht vollständig
naturwissenschaftlich erfasst werden kann. Es handelt sich vielmehr um
einen Akt, mit dem der agent die mit der naturwissenschaftlichen Erfassung
derart komplexer Phänomene einhergehenden Unschärfen umgeht, so dass
er sich selbst als handlungsfähig erlebt. Diese Setzung wird hier als Lösung

3 Tom L. Beauchamp, James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics (Oxford:


Oxford University Press, 2001), Kapitel 3.
4 Der Begriff «agent» («Agent», «Akteur») bezeichnet hier eine Entität, die auf-
grund innerer Randbedingungen und Regeln mit anderen agents sowie einer Um-
welt interagieren – Menschen, Tiere und auch künstliche Systeme können also
unter diesen Begriff fallen. Diese Definition ist nicht so zu verstehen, dass ein
agent bereits notwendigerweise autonom ist. Ein autonomer Akteur (autonomous
agent) wiederum kann autonom im starken oder nur im schwachen Sinn sein
(siehe Abschnitt 3.1. und 3.2.).
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 177

des Problems der naturalistischen Unterbestimmheit unserer Handlungs- und


Urteilsgründe5 postuliert.
Dennoch machen die verschiedenen Versuche zur Naturalisierung von
Autonomie deutlich, dass empirische Aspekte der Bestimmung von Auto-
nomiefähigkeit in sozialen Kontexten nicht einfach beiseite geschoben wer-
den können. Dazu ist die praktische Relevanz von Autonomie zu bedeutsam
– beispielsweise in dem Sinne, dass Grade der Autonomie von agents mit
einer unterschiedlich umfassenden Zuschreibung von Verantwortung an diese
agents einhergeht. Demnach liegt die Aufgabe der Philosophie betreffend
Autonomie auch in der Formulierung einer Theorie, welche Fragen der em-
pirischen Bestimmbarkeit von Graden von Autonomie – also die Erstellung
einer entsprechenden Taxonomie – mit einschließt, wobei dies eine Zusam-
menarbeit mit anderen Disziplinen bedingt. Im Rahmen dieser Taxonomie
hat die Philosophie deutlich zu machen, ab wann wir Autonomie als Setzung
durch das Individuum akzeptieren müssen, die empirisch nicht mehr wei-
ter hinterfragt werden kann, sondern vielmehr Teil der Wertebasis unserer
Gesellschaft ist. Diese theoretische Schärfung des Autonomiebegriffs hat
eine große praktische Bedeutung angesichts der vielfältigen Versuche, die
Grundlagen des menschlichen Verhaltens zu erklären, um damit den Men-
schen letztlich einer Kontrolle durch eine ausgefeilte Sozialtechnologie zu-
gänglich zu machen.
Der Beitrag gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil wird eine historisch
motivierte Annäherung an die zeitgenössische philosophische Diskussion
über den Autonomiebegriff geleistet. Dies ist nicht als erschöpfende Über-
sicht gedacht, sondern soll aufzeigen, dass sich die Philosophie den viel-
fältigen Problemen und daran anschließenden Differenzierungen des Auto-
nomiebegriffs durchaus bewusst ist. Der zweite Teil führt die Unterscheidung
zwischen einem starken und einem schwachen Autonomiebegriff ein und
postuliert ein Schema, das eine begriffliche und taxonomische Engfassung
des Autonomiebegriffs anhand von vier Dimensionen erlaubt. Im dritten
Teil wird das Projekt der Naturalisierung von Autonomie unter besonderer
Berücksichtigung der Neurowissenschaft kurz vorgestellt. Der vierte Teil
skizziert schließlich das oben angesprochene Konzept der Setzung. Damit
soll deutlich werden, inwiefern die Schaffung einer Theorie der Autonomie
weiterhin eine philosophische Aufgabe bleibt.

5 Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit (Stuttgart: Reclam, 2005)


S. 77-78.
178 Markus Christen

2. Eine Annäherung an das heutige Verständnis von Autonomie

2.1. Historische Wurzeln des Autonomiebegriffs

Der Autonomiebegriff findet Anwendung auf unterschiedlich große Gruppen


menschlicher agents – von der Einzelperson bis zum Staat. Damit werden
Bedeutungsübertragungen auf verschiedene Anwendungskontexte möglich.
So war «Autonomie» im antiken Griechenland vorwiegend eine zentrale
politische Kategorie.6 Sie besagte die innere und äußere Freiheit des Stadt-
staates im Gegensatz zur äußeren Abhängigkeit durch Fremdherrschaft oder
zur inneren Staatsform der Tyrannei.7 Der Kern des politischen Autonomie-
begriffs betrifft die Selbstgesetzgebung – die Frage, welche Art von «Selbst»
(wie definiert sich eine Gruppen von Personen als «autonom») sich auf wel-
che Weise (das Problem der Wahrnehmung von Autonomie) die zu befolgen-
den Regeln oder Gesetze auferlegen kann. Diese Formulierung des Problems
erlaubte es, dass der politische Autonomiebegriff auch auf Einzelpersonen
angewendet werden konnte.8
In einer Systematisierung lassen sich denn auch politische Konzepte von
Autonomie – bei welcher Autonomie von organisierten Gruppen von Per-
sonen wahrgenommen wird – und auf das Individuum bezogene Konzepte
unterscheiden. Erstere fanden Ausprägungen etwa im Kontext der konfessio-
nellen Diskussion nach der Reformation oder im sich ausbildenden Rechts-
system (Rechtssetzungs-Autonomie) – ein Themenkreis, der hier nicht weiter
behandelt wird. Letztere fand erst in der Moralphilosophie von Immanuel
Kant einen ersten Höhepunkt – also während einer Zeit, in der Ethik-Theo-
rien entwickelt wurden, welche Moralität als Ergebnis eines inneren Pro-
zesses der Selbstgesetzgebung ansahen, anstatt als Ergebnis des Befolgens
von Außen vorgegebener Regeln.9 Zweifellos hat Kant unser modernes Auto-

6 Gewiss fanden sich bereits bei antiken Autoren Unterschiede hinsichtlich der
Tragweite von Autonomie sowie gar Ausweitungen des Begriffs auf Einzelper-
sonen, siehe dazu Pohlmann: Autonomie, op. cit. S. 701.
7 Herodot: Historien (Stuttgart: Kröner, 1971) S. 46.
8 Ein Beispiel ist, dass Formen der Wahrnehmung von Autonomie auf der Ebene
von Gruppen von Personen metaphorisch auch auf Einzelpersonen selbst An-
wendung fanden – so die Metaphorik des «inneren Gerichtshofs», mit welcher
Kant die Funktion des Gewissens beschrieb (Die Metaphysik der Sitten [Stuttgart:
Reclam, 1990] S. 277-278).
9 Jerome B. Schneewind: The Invention of Autonomy (Cambridge: Cambridge Uni-
versity Press, 1998) S. 5-6.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 179

nomieverständnis entscheidend geprägt. In der Grundlegung zur Metaphysik


der Sitten 10 wurde Autonomie zu einem genuin ethischen Grundbegriff, mit
welchem die Forderung verbunden ist, dass der Mensch sich nicht von frem-
den Autoritäten und von Traditionen bestimmen lassen solle. Autonomie
wird vielmehr als Selbstbestimmung des Menschen verstanden, indem sich
der Wille ein eigenes Gesetz gibt. Autonomie beinhaltet aber nicht eine gren-
zenlose Freiheit des Individuums bei der Selbstgesetzgebung. Die Freiheit
findet ihre Grenzen im kategorischen Imperativ, der den Menschen bei der
Bestimmung der eigenen moralischen Gesetze zum Einnehmen einer «Dritt-
Person-Perspektive» auffordert, von welcher aus alle Menschen aus vernünf-
tigen Gründen dem Gesetz zustimmen können. Ein wichtiger Aspekt des
Kant’schen Autonomieverständnisses ist zudem, dass Autonomie die Fähig-
keit des freien Willens ausdrückt, die durch ihn verursachten Handlungen
unabhängig vom Mechanismus der Naturkausalität ausüben zu können. John
Stuart Mill hatte später den motivierenden Aspekt dieses Sachverhalts her-
vorgehoben, wonach das Wissen über die eigene Autonomie beim Indivi-
duum eine positive Gemütsstimmung hervorrufe.11 Autonomie in diesem
Sinne gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich die wesentlichen Ziele und
Normen des eigenen Lebens selbst zu setzen – was mit ein Grund für den
hohen Stellenwert des Autonomiebegriffs in der Moderne ist.

2.2. Die Diskussion um «Personal Autonomy»

Gewiss war Kants Konzeption des Begriffs keine endgültige Theorie von
Autonomie. Bereits kurz nach der Veröffentlichung der «Grundlegung»
wurde von einer Reihe von Philosophen betont, dass Autonomie im Sinn
von Selbstbestimmung durch Vernunft die Bindung des Menschen und sei-
ner Ethik an Gott verneine.12 Diese Kritiken gehören aber noch in den Dis-
kussionskontext der Entwicklung jener neuen ethischen Theorien, welche
Moral nicht mehr als Ergebnis des Befolgens extern vorgegebener Regeln

10 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in ders.: Werke in sechs
Bänden, Bd. 3 (Köln: Könemann, 1995) S. 440, Seitennummer gemäß Original-
ausgabe.
11 John Stuart Mill: Über die Freiheit (Stuttgart: Reclam, 1988) S. 86-88.
12 So etwa von Friedrich Heinrich Jacobi (1926), siehe dazu die Übersicht in Die
Schriften F. H. Jacobis, hg. von Leo Matthias (Berlin: Die Schmiede, 1926)
S. 23-37.
180 Markus Christen

verstehen. Heute jedoch werden die leiblichen und sozialen Dimensionen der
Begrenztheit der menschlichen Autonomiefähigkeit betont. Es ist offensicht-
lich, dass ein autonomer agent seine Autonomie nicht im «luftleeren Raum»
wahrnimmt, sondern dass diese in biologisch fundierten Fähigkeiten und
sozial gegebenen Möglichkeiten wurzelt. Der agent handelt zudem in der
Zeit, was diesen in psychologischer wie biologischer Hinsicht wandelt und
dessen soziale Einbettung verändert. Joel Feinberg identifizierte denn auch
mindestens vier Aspekte, welche Autonomie charakterisieren: Autonomie als
(innere) Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, als (äußere) reale Bedingung
der Selbstbeherrschung, als Tugendideal für die betreffende Person, sowie
als eine Menge von Regeln, die für die Selbstgesetzgebung nötig ist.13 Von
der zeitgenössischen Philosophie wurde damit der Autonomiebegriff unter
dem Stichwort «personal autonomy» im Hinblick auf die Wahrnehmung von
Autonomie durch Individuen ausdifferenziert.14
Nachfolgend wird «Autonomie» primär auf Handlungen 15 eines agent
bezogen bzw. es wird die Frage gestellt nach den Bedingungen, welche
Handlungen als solche eines autonomen Subjekts auszeichnen. Der Über-
blick (die genannten Autoren sind nur als Beispiele zu verstehen) über die
Diskussion um personal autonomy soll dazu dienen, Anknüpfungspunkte
für eine «Naturalisierung» von Autonomie offen zu legen, welche von den
nachfolgend in Abschnitt 4.1 vorgestellten, außerphilosophischer Diszipli-
nen angestrebt wird:
– Hierarchische Konzeptionen.16 Hierbei handelt es sich um den wohl
einflussreichsten Vorschlag im Hinblick auf die Bestimmung der Fähig-
keiten, welche die Wahrnehmung von Autonomie ermöglichen. Kurz ge-
sagt muss ein autonomer agent die Fähigkeit haben, motivierende Wün-
sche (Wünsche zweiter Stufe) zu entwickeln. «Hierarchisch» bedeutet
demzufolge, dass ein autonomer agent eine innere Struktur derart hat,
dass die Beweggründe für Handlungen reflektiert werden können. Im

13 Joel Feinberg: Autonomy, in The inner citadel: essays on individual autonomy,


ed. by John Christman (New York: Oxford University Press, 1989) S. 27-53.
14 Siehe dazu auch Stanford Encyclopedia of Philosophy zum Stichwort «personal
autonomy». Zugänglich unter: http://plato.stanford.edu.
15 Damit ist auch gesagt, dass der Begriff «Handlung» nicht so verstanden wird,
dass er nur auf agents mit starker Autonomie anwendbar ist.
16 Gerald Dworkin: The Theory and Practice of Autonomy (New York: Cambridge
University Press, 1988); Harry G. Frankfurt: Autonomy, Necessity and Love, in
Vernunftbegriffe in der Moderne, hg. von Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horst-
mann (Stuttgart: Clett-Kotta, 1994) S. 433-447.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 181

Hinblick auf eine allfällige Naturalisierung von Autonomie stellen hier-


archische Konzeptionen die Frage nach den (biologischen) Vorausset-
zungen des individuellen agents für eine solche Reflexionsfähigkeit.
– Rationalistische Konzeptionen.17 Unter «rationalistische» Konzeptionen
fallen hier jene Ansätze, bei welchen Autonomie in erster Linie zur Fä-
higkeit, Begründungen für eigenes Handeln zu finden, in Bezug gesetzt
wird. Demnach ist der agent dann autonom, wenn er seine Handlungen
nachvollziehbar begründen kann. In Anlehnung an Sellars kann man
also Autonomie als die Fähigkeit des agents verstehen, einen «Raum
der Gründe» aufzubauen und sich in einem abstrakten Sinne darin zu
bewegen, d. h. Begründungszusammenhänge finden zu können. Da so-
wohl der Aufbau eines «Raums der Gründe» durch den agent wie auch
der Vorgang des Begründens selbst im Rahmen von Interaktionen mit
anderen agents geschieht, fokussieren Ansätze zur Naturalisierung von
Autonomie unter diesem Blickwinkel soziale und sozialpsychologische
Aspekte der Autonomiefähigkeit.
– Autonomie und (Genese der) Person.18 Wird der zeitliche Aspekt der
Entstehung von Autonomiefähigkeit betont, so kann dies sowohl im
Hinblick auf die Person selbst, als auch im Hinblick auf deren soziale
Einbettung geschehen. Die erste Hinsicht fokussiert die Biographie
einer Person.19 Aus dieser Perspektive findet Autonomie ihren Ausdruck
in der Persönlichkeit, welche der agent entwickelt. «Persönlichkeit»
meint zum einen die von Volker Gerhardt betonte Idee, wonach das
autonome (selbstbestimmte) Individuum in der Lage ist, über sich selbst
zu verfügen. Es eignet sich die inneren und äußeren Bedingungen seiner
Existenz durch die Entwicklung von Einsichten und Normen an, die
für es selbst zum Grund seines Handelns werden.20 In diesen Bereich
fallen auch Vorschläge, welche einen Zusammenhang zwischen Auto-

17 Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind (Cambridge, MA: Har-
vard University Press, 1956); Dieter Sturma: Autonomie. Über Personen, Künstli-
che Intelligenz und Robotik, in Autonome Maschinen, hg. von Thomas Christaller,
Josef Wehner (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003) S. 38-55.
18 John Christman: Autonomy and personal history, in Canadian Journal of Phi-
losophy 21/1 (1991) S. 1-24; Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der
Individualität (Stuttgart: Reclam, 1999); Michael Pauen: Freiheit und Verantwor-
tung. Wille, Determinismus und der Begriff der Person, in Allgemeine Zeitschrift
für Philosophie 26/1 (2001), S. 23-44.
19 Z. B. Christman: Autonomy and personal history, op. cit.
20 Gerhardt: Selbstbestimmung, op. cit. S. 406-413.
182 Markus Christen

nomie und Urheberschaft von Handlungen sehen.21 Ansatzpunkte für


eine Naturalisierung von Autonomie bietet in diesem Kontext vorab die
psychologische Forschung.
– Autonomie und soziale Beziehungen.22 Wird die Autonomiefähigkeit
eines agents hinsichtlich dessen Einbettung in ein Beziehungsnetz mit
anderen agents bestimmt, fällt man in den Bereich der relational auton-
omy. Hier lassen sich Theorien unterscheiden, welche den Fokus mehr
auf das «nahe» Beziehungsnetz eines agents legen (also Beziehungen
betrachtet, welche der agent über relevante Zeiträume hinweg mit re-
lativ hoher Interaktionsdichte unterhält), und jene, welche mehr das
weitere «gesellschaftliche» Umfeld des agent fokussieren. Aus dieser
Perspektive wäre die Art der eingegangenen Beziehungen ein mögliches
empirisches Merkmal für wahrgenommene Autonomie.
– Autonomie und Determinismus.23 Dieser Diskussionsstrang geht der
Frage nach, inwieweit Autonomie und Determinismus kompatibel sind
oder nicht – er geht demnach auch in Richtung der Willensfreiheits-
Debatte. Hier geht es letztlich um die Frage, wie Autonomie mit dem
Wissen über naturgesetzliche Komponenten menschlicher Denkpro-
zesse und Handlungen vereinbar ist. Naturalisierungsstrategien in die-
sem Kontext bilden insbesondere die Versuche zur Konstruktion auto-
nom genannter Systeme.24
Diese Aufzählung ist nicht umfassend und übergeht beispielsweise Über-
legungen der existenzialistischen Philosophie, wonach der Anspruch der
Autonomie für den Einzelnen oft als eine kaum lebbare Bürde empfunden
werden kann.25 Sie zeigt aber die reichhaltige zeitgenössische philosophische
Diskussion zum Autonomiebegriff, welche eine gute Basis bildet, um Ten-
denzen zur Naturalisierung von Autonomie kritisch zu untersuchen.

21 Pauen: Freiheit und Verantwortung, op. cit.


22 Relational Autonomy: Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social
Self, ed. by Catriona Mackenzie, Natalie Stoljar (New York: Oxford University
Press, 2000).
23 Robert Kane: The Significance of Free Will (New York: Oxford University Press,
1996).
24 Vgl. dazu Markus Christen: Schuldige Maschinen? Autonome Systeme als Her-
ausforderung für das Konzept der Verantwortung, in Jahrbuch für Wissenschaft
und Ethik 9 (2004) S. 163-191.
25 Max Charlesworth: Leben und sterben lassen. Bioethik in der liberalen Gesell-
schaft (Hamburg: Rotbuch, 1997), Kapitel 1.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 183

3. Starke und schwache Autonomie

3.1. Starke Autonomie

Ein Blick auf die zeitgenössische Diskussion über naturwissenschaftliche


Konzeptionen von Autonomie26 zeigt, dass ein starker von einem schwa-
chen Autonomiebegriff unterschieden werden muss. Bei letzterem wird die
Kompatibilität von Autonomie mit naturwissenschaftlichen Theorien nicht
bestritten. Es handelt sich also um eine vollzogene Naturalisierung von Auto-
nomie, die von Seiten der Philosophie aber nicht als problematisch betrach-
tet wird, da der «relevante» Autonomiebegriff aus dieser Perspektive eine
«starke Autonomie» ist. Der Kern dieser starken Autonomie soll nachfolgend
herausgearbeitet werden.
Zunächst soll festgehalten werden, was «starke Autonomie» nicht ist:
«Strenge Autonomie»27 bzw. «Alternativismus»28 soll hier ausgeschlossen
werden. Beide Konzepte besagen im Kern, dass die Autonomie eines agent
– konkret war bei Pauen von «Personen» die Rede – sich dahingehend aus-
drücken würde, dass ein vor einer Handlungsalternative stehender agent
im Zustand X sowohl die Handlung A als auch die Handlung B ausführen
könne. Der Zustand X meint dabei die vollständige (physikalistische) Fest-
legung der Person und ihrer Umwelt. Eine Handlung wäre demnach nur dann
autonom, wenn sie unter identischen physikalischen Bedingungen, denen
der agent unterliegt, auch anders ausfallen könnte. Eine solche Position im-
pliziert einen ontologischen Dualismus, der angesichts des heutigen Wis-
sens über die naturalistische Basis unserer Handlungs- und Urteilsgründe
nicht haltbar ist. Auch wenn keineswegs klar ist, auf welche Weise etwa
bestimmte neurobiologische Prozesse mit handlungsmotivierenden Gedan-
ken einhergehen,29 so ist nicht bestreitbar, dass unsere Autonomiefähigkeit

26 Autonome Maschinen, op. cit.; Jan-Jan Van der Vyver, Markus Christen, Norbert
Stoop, Thomas Ott, Willi-Hans Steeb, Ruedi Stoop: Towards genuine machine
autonomy, in Robotics and Autonomous Systems 46/3 (2004) S. 151-157; Tim
Smithers: Autonomy in Robots and Other Agents, in Brain and Cognition 34
(1997) S. 88-106.
27 Pauen: Freiheit und Verantwortung, op. cit.
28 Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert
(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003) S. 496.
29 Der Begriff «einhergehen» ist bewusst offen gewählt worden und soll lediglich
zum Ausdruck bringen, dass biologische Prozesse «irgendwie» dazu beitragen,
einen Gedanken zu haben. Wie genau die kausale Struktur dieses Beitrags ist,
184 Markus Christen

auch auf einer «neurobiologischen Infrastruktur» beruht. Wollte man – um


die Autonomie-Problematik einmal nur auf das Gehirn einer Person zu be-
schränken – behaupten, ein identischer «Hirnzustand» könne dennoch die
Person sowohl zur Handlung A wie zur Handlung B befähigen, wäre dies
nur mit einem Rückgriff auf einen strengen cartesianischen Dualismus mög-
lich, der aus zahlreichen Gründen in der philosophischen Diskussion äußerst
kritisch betrachtet wird – abgesehen davon, dass eine «strenge Autonomie»
auch begriffliche Probleme im Hinblick auf die Urheberschaft eigener Hand-
lungen mit sich bringt.30 Aus diesen Gründen finden sich kaum Vertreter
eines «strengen» Autonomiebegriffs, obgleich in der Willensfreiheitsdebatte
der letzten Jahre zuweilen der Anschein erweckt wurde, dies sei so. Insofern
ist «strenge Autonomie» eher als rhetorisches Argument denn als ernstzu-
nehmende Position in der Debatte eingesetzt worden.
Man kann demnach davon ausgehen, dass auch ein starker Autonomie-
begriff durchaus die leiblichen und sozialen Dimensionen der Begrenztheit
der menschlichen Autonomiefähigkeit mit einschließen sollte – was ja auch
der Grund für die bereits stattgefundene Differenzierung des Begriffs ist. Dies
bedeutet aber auch, dass eine Definition des Begriffs «Autonomie» sich nicht
a priori von den Bedingungen der Wahrnehmung von Autonomie abkoppeln
lässt. Das Wechselspiel zwischen Autonomiebegriff und Autonomiefähigkeit
ist komplexer. Die Klärung dieses Zusammenhangs soll nachfolgend durch
eine erste Skizze einer Taxonomie von Autonomie versucht werden.
Bevor dieses Projekt an die Hand genommen werden kann, muss die
Unterscheidung zwischen starker und schwacher Autonomie klarer heraus-
gearbeitet werden. Es kann vorangeschickt werden, dass starke Autonomie
an eine Form von Bewusstsein gekettet ist, über die der agent verfügt –

inwieweit methodisch eine Bezugsetzung zwischen einer Klasse neurologischer


Prozesse mit einer Entität «handlungsmotivierender Gedanke» überhaupt funk-
tionieren kann, etc. wird offen gelassen. Auch der später folgende Begriff «Hirn-
zustand» soll lediglich zum Ausdruck bringen, dass das Gehirn eine physikalisch
endliche Entität ist (endliche Zahl von Teilchen, etc.) und es prinzipiell einen sehr
hochdimensionalen, aber endlichen Zustandsraum gibt, in welchem man diesen
«Hirnzustand» lokalisieren kann. In praktischer Hinsicht ist aber die Rede von
einem Hirnzustand problematisch (siehe dazu Markus Christen: Eine Neurobio-
logie der Moral? Einschätzung der Beiträge von Neurowissenschaft und Verhal-
tensforschung zum Verständnis moralischer Orientierung [Freiburg i. Br.: Alber,
2007, in press]) und es wäre beispielsweise falsch zu behaupten, dass bildgebende
Verfahren den «Hirnzustand» abbilden würden.
30 Siehe dazu Pauen: Freiheit und Verantwortung, op. cit.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 185

ohne hier weiter auf die zweifellos vielgestaltigen Probleme des Bewusst-
seinsbegriffs eingehen zu wollen. Dieses Bewusstsein ist einerseits Träger
der Handlungsgründe und beinhaltet also die Fähigkeit des agent, etwas
überhaupt als Grund für eine Handlung ansehen zu können. Andererseits
ermöglicht Bewusstsein das Einnehmen einer Außenperspektive gegen-
über den Sequenzen von Gründen,31 welche schließlich zu einer Handlung
A geführt haben. Starke Autonomie beinhaltet demnach die Fähigkeit, die
Sequenz eigener Handlungsgründe zu erkennen, neu zu beurteilen und zu
wissen, dass man die Sequenz dergestalt ändern kann, dass auch Schluss B
möglich gewesen wäre. Der Eingriff in die Sequenz von Handlungsgründen
kann dabei durchaus rein hypothetischer Natur sein – etwa im Sinn, dass
gewisse Handlungsgründe auf früher zurückliegende, nicht mehr rückgän-
gig machbare Entscheide beruhen. Im Kontext der vier von fünf vorgestell-
ten Strängen der zeitgenössischen Debatte um personal autonomy bedeutet
starke Autonomie zusammengefasst die Fähigkeit, Wünsche zweiter Stufe
zu entwickeln, das bewusste Bewegen im eigenen «Raum der Gründe», die
Entwicklung eines Selbstbildes von sich als autonomer Person und das damit
verbundene Gestalten einer «eigenen Lerngeschichte» durch Beziehungen
zu anderen agents.

3.2. Schwache Autonomie

Eine offene Frage in dieser Bestimmung von starker Autonomie ist, inwieweit
diese mit dem Determinismus kompatibel ist. Ein definitorischer Aspekt der
schwachen Autonomie hingegen ist, dass diese mit Determinismus vereinbar
ist. Bereits der Autonomiebegriff der Mathematik bringt dieses schwache
Autonomieverständnis auf den Punkt: Eine autonome Differentialgleichung
beschreibt ein System, dessen Dynamik von keinem externen, zeitabhängi-
gen Parameter abhängt. Das System selbst (bzw. dessen Dynamik) ist durch
die Differentialgleichung vollständig determiniert und die Autonomie des
Systems zeigt sich darin, dass es auf veränderte Randbedingungen (z. B.
Einschränkung des Zustandsraums) mit einem veränderten Verhalten reagiert
– beispielsweise dadurch, dass der Attraktor des dynamischen Systems sich

31 Gemeint ist damit, dass Handlungen meist nicht auf isolierte Gründe beruhen,
sondern auf einem (mehr oder weniger) kohärenten Begründungszusammenhang
beruhen, wobei sich die einzelnen Gründe hinsichtlich Bedeutsamkeit und Ur-
sprung gewichten lassen.
186 Markus Christen

von einem Grenzzyklus der Periodizität 2 zu einem Grenzzyklus der Pe-


riodizität 3 verändert.32 In dieses Bild können auch stochastische Elemente
einbezogen werden, indem dann gewisse Systemparameter nicht fix, son-
dern als Zufallsvariable mit definierter Verteilung beschrieben werden – man
würde das System dann zwar nicht mehr als strikt deterministisch bezeich-
nen, was aber kaum etwas am Kern des Problems ändert. Schwach auto-
nome Systeme lassen sich demnach so definieren, dass diese auf veränderte
Randbedingungen mit verändertem Verhalten zu reagieren vermögen (wobei
Lernprozesse diese Adaptionsleistung optimieren können) und dass diese
Systeme im Prinzip deterministisch (evt. mit probabilistischen Elementen)
vollständig beschrieben werden können – wobei in der Praxis diese Modell-
bildung natürlich sehr schwierig sein kann.
Dieses Autonomieverständnis ist insofern nichttrivial, als Determinismus
nicht notwendigerweise die Möglichkeit der Voraussage des Systemverhal-
tens impliziert. Im Gegenteil: bereits mathematisch sehr einfach zu beschrei-
bende Systeme können intrinsisch so aufgebaut sein, dass die Prognose-
fähigkeit exponentiell in der Zeit abnimmt. Gewiss ist unvorhersehbares
Verhalten eines Systems allein noch kein definitorisches Merkmal selbst
für schwache Autonomie, sondern höchstens ein Indiz – und charakterisiert
gleichzeitig eines der praktischen Probleme, die der Einsatz künstlicher auto-
nomer Systeme in Alltagsanwendungen mit sich bringen kann.33 Interessant
sind diesbezüglich insbesondere die Versuche zum Bau autonomer Roboter,34
wobei vorgeschlagen wurde, die Systeme dann als «autonom» zu bezeich-
nen, wenn sie nicht nur selbstregulierend sind (z. B. ein Roboter, der nicht
ständig ferngesteuert werden muss), sondern sich auch selbst Regeln oder
«Gesetze» geben können, die das künftige Systemverhalten verändern35 –
etwa im Sinn, dass ein mit entsprechender Sensorik ausgestatteter Roboter
lernen und sich damit die Regel geben kann, Situationen, die ihn beschädi-
gen könnten, zu meiden. Inwiefern die derzeit gebauten autonomen Systeme
diese Eigenschaft erfüllen, soll an dieser Stelle aber nicht weiter ausgeführt
werden.

32 Van der Vyver et al.: Towards genuine machine autonomy, op. cit.
33 Siehe dazu Christen: Schuldige Maschinen?, op. cit.
34 Autonome Maschinen, op. cit. S. 9-35.
35 Smithers: Autonomy in Robots and Other Agents, op. cit.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 187

3.3. Autonomie – ein Schema

Was passiert beim Übergang von schwacher zu starker Autonomie? Man


kann diese Frage als eine Ausprägung des klassischen Gehirn-Geist-Pro-
blems auffassen, zumal ja starke Autonomie eine Form von Bewusstsein
beim agent voraussetzt. Es geht letztlich um folgendes Problem: Aus der
naturwissenschaftlichen Perspektive resultiert das Verhalten eines autonomen
agents aus einer – je nach System schier unüberschaubaren – Zahl von Pro-
zessen, von denen wohl zahlreiche derart beschrieben werden können, dass
sie die Kriterien von schwacher Autonomie erfüllen (etwa wenn Teile des
Systems mittels neuronaler Netze modelliert werden können, welche ihre
Gewichte mittels unsupervised learning anpassen). Gelingt es, mehrere sol-
che Prozesse ausreichend empirisch zu erfassen und zu modellieren, kann
man durchaus ein gutes Verständnis der schwachen Autonomie gewinnen.
Starke Autonomie hingegen wird mit einer Begrifflichkeit erfasst, die aus
der Tradition der Philosophie, Psychologie und den Geistes- und Sozial-
wissenschaften stammt, und wird demnach vorwiegend dem Menschen zu-
geschrieben.36 Die oben skizzierte Argumentation gegen eine «strenge Auto-
nomie» umfasst implizit zwar die Vorstellung, dass das Zusammenwirken
zahlreicher (schwach autonomer) Prozesse letztlich «stark autonome» agents
hervorbringt. Doch man ist nicht nur weit von einer naturwissenschaftlichen
Klärung dieses Zusammenhangs entfernt, sondern auch mit einem methodi-
schen Problem konfrontiert, das als «methodischer Dualismus» bezeichnet
werden kann.37

36 Gewiss wäre hier die Frage interessant, inwieweit gewisse Primaten ebenfalls
«stark autonom» sind – was an dieser Stelle aber nicht weiter untersucht werden
kann.
37 Mit dem Stichwort «methodischer Dualismus» wird hier das bei der Korrelie-
rung psychischer mit neuronalen Phänomenen auftretende Problem bezeichnet.
Beispielsweise in der Neuronwissenschaft werden Hirnprozesse bzw. psychi-
sche Phänomene auf sehr unterschiedliche Weise beobachtet. Viele dieser Pro-
zesse sind auf einer sehr kurzen Zeitskala angesiedelt sind (z. B. EEG-Aktivität),
die nur schwer mit komplexen psychischen Entitäten korreliert werden können,
zumal diese vielleicht gar keine gar keine psychobiologischen Entitäten sind, son-
dern Manifestationen der verwendeten experimentellen Methoden und Theorien
(siehe dazu William R. Uttal: The New Phrenology. The Limits of Localizing Cog-
nitive Processes in the Brain [Cambridge: MIT Press, 2001], Kapitel 3). Vorab bei
psychischen Phänomenen wird man zudem ab einer gewissen Komplexitätsstufe
nicht darum herum kommen, die Innenperspektive mit einzubeziehen.
188 Markus Christen

Diese Ausführungen machen deutlich, dass zwischen schwacher und


starker Autonomie eine Lücke klafft, die letztlich durch das Hirn-Geist-
Problem aufgebrochen wird. Naturalisierung von Autonomie ist nicht not-
wendigerweise ein Projekt, das diese Lücke auffüllen will, sondern nährt
sich vielmehr aus einer Reihe sehr unterschiedlicher, meist praktischer Mo-
tive (siehe unten, Abschnitt 4.1.). Das Projekt einer Taxonomie von Auto-
nomie sollte sich demnach nicht in der Unterscheidung zwischen starker
und schwacher Autonomie erschöpfen. Vielmehr wird auf dem Hintergrund
der Differenzierungen der Debatte um personal autonomy vorgeschlagen,
die Bedingungen zur Fähigkeit der Wahrnehmung von Autonomie anhand
von vier Dimensionen zu untersuchen. Entlang jeder Dimension lassen sich
dann spezifische Bedingungen benennen, die entweder als Eigenschaft einer
starken oder einer schwachen Autonomie charakterisiert werden können.
Die Anwendung dieses Schema soll im Abschnitt 5 deutlich werden. Diese
Dimensionen sind:
(1) Handlungsqualität: Entlang dieser Achse werden Eigenschaften und
Fähigkeiten eines agent angeordnet, die im Vollzug einer autonomen
Handlung rekrutiert werden müssen. Kriterium für die Sequenzierung38
der Bedingungen entlang dieser Dimension ist deren Abstraktionsgrad.
(2) Zeitaspekt: Entlang dieser Achse werden Fähigkeiten des agent ange-
ordnet, die dieser nutzt, um mit den in der Zeit auf den agent einwir-
kenden Einflüssen, welche dessen Selbstbild und Einbettung in eine
Beziehungsstruktur beeinflussen, umgehen zu können. Hierbei handelt
es sich um Fähigkeiten, welche implizit die Autonomiefähigkeit des
agent beeinflussen. Kriterium für die Sequenzierung ist die Dauer des
Einflusses.
(3) Umweltaspekt: Entlang dieser Achse werden Einflüsse angeordnet, wel-
che explizit die Wahrnehmung von Autonomie durch den agent im Zeit-
raum realer Handlungen beeinflussen. Kriterium für die Sequenzierung ist
die Stärke des Einflusses im Sinn der Begrenzung des Handlungsraums.
(4) Innere Systemstruktur: Entlang dieser Achse werden Erkenntnisse hin-
sichtlich der Prozesse angeordnet, welche der agent bei der Wahrneh-
mung seiner Autonomie notwendigerweise nutzen muss. Kriterium für
die Sequenzierung ist der Grad der Prozess-Determiniertheit.
Die vierte Dimension kann durchaus auch als eine Fähigkeit des agents ver-
standen werden, zeigt sie doch gewissermaßen den Grad an Selbsterkennt-

38 «Sequenzierung» wird verstanden als Erstellung einer hierarchischen Liste der


Eigenschaften/Fähigkeiten.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 189

nis des agents hinsichtlich der Prozesse, welche seiner Autonomiefähigkeit


zugrunde liegen.

4. Neurowissenschaft und die Naturalisierung von Autonomie

4.1. Naturalisierung von Autonomie

Naturalisierung von Autonomie bedeutet, dass man über die empirische Spe-
zifizierung der Autonomiefähigkeit den Begriff der Autonomie selbst na-
turalisieren will – sprich Autonomie zu einer natürlichen Eigenschaft machen
will, die Systeme ab einer gewissen Komplexitätsstufe haben. Das Projekt
geht implizit davon aus, dass letztlich ein Verständnis von schwacher Auto-
nomie ausreichend ist, um starke Autonomie begreiflich zu machen – in dem
Sinne, dass man das Zusammenwirken schwach autonomer Prozesse der-
einst ausreichend verstehen wird, um damit die daraus resultierende starke
Autonomie zu erklären. Um den Prozess der Naturalisierung von Autonomie
verstehen zu können, muss weiter festgehalten werden, dass zahlreiche Mo-
tive und Anwendungsbereiche für dieses Projekt bestehen:
– In der Neurowissenschaft ist die Suche nach «neurobiologischen Grund-
lagen» von Entscheidungsfindung, von moral agency, und von Phäno-
menen mit begrifflicher Nähe zu Autonomie (Vertrauen, Kooperation
etc.) zu einem Trendthema geworden, in das aus unterschiedlichen
Gründen bedeutende Ressourcen gesteckt werden.39
– In der Medizin ist die Feststellung von Autonomiefähigkeit ein wich-
tiges empirisches Problem geworden, nachdem Autonomie zu einem
zentralen Element der Medizinethik geworden ist.40 Dieses Problem
stellt sich in besonderer Schärfe bei neurodegenerativen Krankheiten,
bei welchen die «Infrastruktur der Autonomiefähigkeit» (das Gehirn) ei-
nem langsamen, aber stetigen Verfall preisgegeben ist,41 und damit etwa
praktische Probleme im Rahmen des informed consent zu Behandlungen
zur Folge haben kann – zumal die informierte Zustimmung ja von einem
autonomen agent gegeben werden soll.

39 Christen: Eine Neurobiologie der Moral?, op. cit.


40 Beauchamp, Childress: Principles of Biomedical Ethics, op. cit., Kapitel 3)
41 Agnieszka Jaworska: Respecting the Margins of Agency: Alzheimer’s Patients and
the Capacity to Value, in Philosophy & Public Affairs 28/2 (1999) S. 105-138.
190 Markus Christen

– Im Bereich der Computertechnologie und Robotik ist der Bau auto-


nomer technischer Systeme Ziel umfassender Forschungen. Aufgrund
der zunehmenden Komplexität technischer Systeme sowie ihrer lau-
fend ausgeweiteten Einsatzräume sollen diese Artefakte Eigenschaften
wie Lernen, selbst gesteuertes Verhalten, automatisiertes Problemlösen
und Selbstreparatur aufweisen. Da zudem der Grad der Durchdringung
der modernen Gesellschaft durch technologische Systeme ein Ausmaß
erreicht hat, das die Steuerung dieser Systeme durch den Menschen er-
schwert, wird der «menschliche Faktor» zwecks Vermeidung von Feh-
lern zunehmend ausgeschaltet.42
– Auch in den Sozialwissenschaften lassen sich diverse Untersuchungen
sozialer Systeme im Sinn der Bestimmung «determinierender Elemente»
interagierender autonomomer agents finden – dies auch mit einer sozial-
technologischen Motivation. In diesem Kontext ist die zunehmende Be-
deutung der Simulationstechnik für die Sozialwissenschaften (agent-
based modelling) zu nennen, mit ihren noch unklaren Auswirkungen
auf die Methodologie und die Geltungskraft von Ergebnissen der Sozial-
wissenschaft.
Auch wenn man nicht behaupten kann, dass ein explizites Forschungspro-
gramm zur Naturalisierung von Autonomie besteht, lassen sich also eine
Vielzahl von Forschungen nennen, die Bausteine zu einem solchen Naturali-
sierungsprojekt liefern werden. Was dies für den Autonomiebegriff bedeutet,
soll am Beispiel der Neurowissenschaft genauer verdeutlicht werden.

4.2. Autonomie und Neurowissenschaft

Im Kontext der Debatte um Willensfreiheit äußerte sich Gerhard Roth wie


folgt: «Worum es letztlich geht ist die Autonomie menschlichen Handelns,
nicht Willensfreiheit. Autonomie ist die Fähigkeit unseres ganzen Wesens,
innengeleitet, aus individueller Erfahrung heraus zu handeln, und zwar
gleichgültig ob bewusst oder unbewusst».43 Der Begriff «Autonomie» wird
von Seiten der Neurowissenschaft also deshalb verwendet, weil dieser für
eine naturwissenschaftliche Herangehensweise und Klärung weit geeigneter
erscheint als «Willensfreiheit». Der von Roth verwendete Begriff «innen-
geleitet» kann hier mit «gehirngeleitet» übersetzt werden im Sinn, dass alle

42 Christen: Schuldige Maschinen?, op. cit.


43 Roth: Fühlen, Denken, Handeln, op. cit. S. 533.
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 191

relevanten Prozesse, welche das Agieren des autonomen agent ermöglichen,


ihre Quelle im Gehirn haben. Diese Prozesse wiederum sind mit dem Konzept
der schwachen Autonomie beschreibbar, so dass in der Neurowissenschaft
eben genau das passiert, was man Naturalisierung der Autonomie nennt.
Das Rückführen starker Autonomie als Ergebnis des Zusammenwirkens von
Prozessen schwacher Autonomie wird letztlich als ausreichend genannt, um
Autonomie an sich begrifflich fassen zu können. Darum ist die Prognose
nahe liegend, dass bei der Diskussion um Hirnforschung und Willensfreiheit
letztere bald durch den Begriff der «Autonomie» abgelöst werden wird. Die
Herausforderung der Hirnforschung besteht demnach nicht im Wegerklären
des freien Willens. Vielmehr will sie jene Bereiche im «Hirnzustandsraum»
identifizieren, in denen dem agent die Fähigkeit zur starken Autonomie nicht
mehr zugesprochen werden kann.44 Solche Forschungen können unter ande-
rem darauf hinzielen zu erkennen, ob ein Straftäter als «autonom» und damit
«verantwortlich» zu gelten hat oder nicht, indem man geeignete Untersu-
chungen seines Gehirns vornimmt. Dass damit zahlreiche ethische Probleme
verbunden sind, ist einleuchtend, aber nicht Gegenstand dieser Arbeit.

5. Autonomie als Setzung –


Grenzen einer naturalisierten Autonomie

5.1. Skizze einer Taxonomie von Autonomie

Nachfolgend soll in einem ersten Schritt eine Idee vermittelt werden, wie
anhand der vier vorgeschlagenen Dimensionen von Bedingungen für die
Fähigkeit der Wahrnehmung von Autonomie eine Taxonomie von Autonomie
erstellt werden kann. In einem zweiten Schritt wird dann auf die genannte
Setzung eingegangen. Zu den vier genannten Dimensionen lassen sich fol-
gende Beispiele von Eigenschaften und Fähigkeiten nennen, die Gegenstand
begrifflicher Klärungen und empirischer Erfassung sein könnten. Die Se-
quenzierung wird als «Annäherung» an den autonomen agent bezeichnet,
in dem Sinne, dass «nähere» Eigenschaften bzw. Fähigkeiten eine höhere
Wahrscheinlichkeit besitzen, vom agent selbst als Setzung im Hinblick auf
seinen Status eines autonomen agent verstanden zu werden:

44 Patricia S. Churchland: Moral decision-making and the brain, in Neuroethics.


Defining the Issue in Theory, Practice, and Policy, ed. by Judy Illes (Oxford: Ox-
ford University Press, 2005) S. 3-16.
192 Markus Christen

(1) Die Dimension «Handlungsqualität» umfasst Eigenschaften und Fähig-


keiten eines agent bei der Umsetzung einer Handlung. Anhand dreier
solcher Fähigkeiten soll verdeutlicht werden, wie die Sequenzierung an-
hand des Abstraktionsgrades geschehen soll. So muss der agent erstens
überhaupt einmal die Fähigkeit haben zu erkennen, dass eine Handlung
A angebracht ist (egal aus welchen Gründen). Das beinhaltet insbeson-
dere das Erkennen von Optionen von Handlungen, wobei per definitio-
nem mindestens zwei Optionen offen stehen (man tut A oder man tut
A nicht). Zweitens muss der agent die Fähigkeit zur Priorisierung der
Handlungsoptionen haben (egal welche Kriterien angewendet werden).
Drittens reflektiert der agent über die Art, wie die Priorisierung zustande
gekommen ist – das wäre möglicherweise der Ort, wo man von Wün-
schen zweiter Stufe sprechen könnte. Diese Reflexion kann den Beizug
von Rationalitätskriterien mit sich bringen, welche dann den Status einer
nicht mehr weiter hinterfragten Setzung erhalten können.
(2) Die Dimension «Zeit» umfasst Fähigkeiten für den Umgang mit Ein-
flüssen, welche die Autonomiefähigkeit prägen. Erstens umfasst dies
die Fähigkeit, eine Form von Gedächtnis zu haben, so dass der agent im
Hinblick auf die autonomierelevanten Funktionen eine Geschichte haben
kann. Zweitens kann die Fähigkeit genannt werden, dass der agent im
Zeitverlauf systematisch Einflüsse derart suchen kann, dass ein Prozess
des Lernens (egal von was) ablaufen kann. Drittens kann die Fähigkeit
genannt werden, dass der agent sich auf bestimmte frühere Ereignisse
beziehen kann und mit dem Aufrufen dieser Erinnerung die damit ver-
bundene Veränderung des eigenen Zustands für die Wahrnehmung von
Autonomie nutzen kann. So kann beispielsweise eine Erinnerung an
ein erfolgreiches «Durchsetzungsverhalten» emotionale Stimmungen
aufkommen lassen, welche bei einer aktuellen Entscheidungsproble-
matik von Nutzen sein können, indem sie den entscheidenden «Kick»
geben. Die dabei hervorgerufene Emotionen selbst werden nicht weiter
hinterfragt.
(3) Die Dimension «Umwelt» umfasst äußere Randbedingungen, welche
die Wahrnehmung von Autonomie im handlungsrelevanten Zeitraum
explizit beeinflussen. Erstens (geringste Einengung) umfasst dies die
Einschränkung des Zustandsraums auf das realphysikalisch Mögliche –
quasi in Abhängigkeit von den lokal geltenden Naturgesetzen und den
herrschenden physikalischen Randbedingungen. Zweiter Punkt wäre
das Netz von Beziehungen (vorab zu anderen agents), in welche der
agent eingebunden ist und die er nutzen kann bzw. die dessen Aktions-
Autonomie – eine Aufgabe für die Philosophie 193

feld beeinträchtigen. Dritter Punkt wäre dann der «akute Zwang» – also
jene Aspekte, welche die Handlung des agents im Moment des Handelns
beeinflussen. Zwangsbedingungen, über die der agent keinerlei Verfü-
gungsgewalt hat, hätten hier ebenfalls den Status einer Setzung.
(4) Die Dimension «innere Systemstruktur» betrifft die Prozesse im agent
selbst, die dessen Existenz als handelndes Wesen zugrunde liegen und
prinzipiell mit der Hilfe (natur-)wissenschaftlicher Methoden erfasst
werden können. Erstens betrifft das den generellen Stand des natur-
gesetzlichen Wissens, soweit dieses für die Beschreibung des agent
notwendig ist (beispielsweise die Anthropologie, wenn Menschen die
agents sein sollen). Zweitens wären dies die konkreten Modelle der Pro-
zesse, welche die innere Dynamik des agent bestimmen (beispielsweise
ein Robotermodell von Ameisen, wenn diese die zu untersuchenden
agents sind). Drittens kann schließlich die Frage des Prognosehorizonts,
der sich aus diesem Wissen ergibt, genannt werden.
Diese Ausführungen sind zweifellos erst eine Skizze und dienen hier in erster
Linie als Erläuterung des in Abschnitt 3.3. vorgestellten Schemas.

5.2. Autonomie und Setzung

Die hier vorgenommene Hierarchisierung von Fähigkeiten in diesen vier Di-


mensionen ist auch dadurch charakterisiert, dass es vom naturwissenschaft-
lichen Standpunkt immer schwieriger wird zu verstehen, welche Prozesse
und Gesetze diesen Fähigkeiten zu Grunde liegen. Beim Bau autonomer
Systeme beispielsweise hat man eine klare Vorstellung davon, wie die Ge-
dächtnisfähigkeit realisiert werden soll – nicht aber, wie man Emotionali-
tät einbringen kann. Offenbar hängt das damit zusammen, dass irgendwann
im Prozess dieser «Annäherung» die Innenperspektive des agents auf sich
selbst zentral wird. Dies zeigt einerseits, dass der Prozess der «Setzung» nur
durch einen agent, der über starke Autonomie verfügt, vorgenommen wird;
andererseits aber auch darin, dass die vom agent «gesetzten» Eigenschaften
und Fähigkeiten nicht mit jener der starken Autonomie zusammenfallen. Der
hinsichtlich seiner Autonomie bewusste agent steht vielmehr vor dem Pro-
blem abzuschätzen, wie sein Wissen über all die genannten Fähigkeiten seine
Wahrnehmung von Autonomie beeinflusst. Was bedeutet also Autonomie im
Wissen über solche Abhängigkeiten?
Das Phänomen der inneren Wahrnehmung von Autonomie wird demnach
vom agent selbst durch eine Form der Setzung erst etabliert – nicht im Sinn,
194 Markus Christen

dass der agent quasi axiomatisch sich als autonom definiert, sondern viel-
mehr, dass er hinsichtlich jeder der vier genannten Dimensionen zu einem
Punkt kommt, wo die Lebenswirklichkeit eine Setzung verlangt, die nicht
weiter hinterfragt wird.
Was zeichnet eine Setzung in theoretischer Hinsicht aus? Offenbar kommt
diese dann zum Zug, wenn das zu untersuchende Problem durch Rückbe-
züglichkeiten und kategorial verschiedene Aspekte beschrieben wird. Die
Setzung wird dabei nicht von jenen vorgenommen, welche den autonomen
agent möglichst umfassend beschreiben wollen und dabei an Erkenntnis-
grenzen stoßen, die sich aus dem jeweiligen Stand der (primär naturwissen-
schaftlichen) Methoden ergeben. Vielmehr nimmt der agent selbst diese
Setzung vor. Will er diese Setzung verstehen, kommt eine Kompetenz von
Philosophie zum Zug: ein multi-kategoriales Begründen von Setzungen in
methodisch unsicherem Gebiet, weil die diesbezügliche Unbestimmtheit mit
der Begründungsstrategie verschränkt ist und nicht vorgängig gelöst werden
kann. Insofern ist es falsch zu glauben, die Natur der Setzung sei rein als
psychologisches Problem zu verstehen und zu untersuchen – auch wenn
natürlich unterschiedliche agents unterschiedliche Setzungen machen, die
wiederum von den konkret zur Verfügung stehenden Fähigkeiten der agents
abhängen. Doch die Setzung umfasst möglicherweise auch schwierige wis-
senschaftsphilosophische Fragen – etwa das Problem der downward causa-
tion, die im Kontext der Emergenzdebatte aufgetaucht ist,45 zumal starke
Autonomie ihre physikalische Realisierung durch ein derart bezeichnetes
Phänomen erreichen könnte.
Offen bleibt in dieser Betrachtung die Frage, ob und wie man in diesem
Kontext die spezifischen moralischen Aspekte des Autonomieverständnisses
von Kant untersuchen soll. Interessant ist hier, dass die Wahrnehmung von
Autonomie im Sinne von Kant ja durchaus zu Einschränkungen des Han-
delns des agents führt – es geht also z. B. um ein bestimmtes Selbstbild und
um ein reguläres Sich-Bewegen im Raum der Gründe. Für Kant waren solche
Fragen dem Problem der Autonomie nachgeordnet, da Autonomie in diesem
Bild die Voraussetzung dafür ist, dass sich der agent ethische Einschränkun-
gen auferlegen kann. Insofern erscheint die Autonomie bei Kant selbst als
Setzung durch den agent. Möglicherweise ist das Verhältnis zwischen den
Setzungen des agent und den moralischen Einschränkungen, die er sich auf-
erlegt, aber komplexer als das von Kant suggerierte Bild.

45 Achim Stephan: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation


(Dresden: Dresden University Press, 1999).
Historische Bestimmungen
der Philosophie
Studia philosophica 66/2007

E RWIN S ONDEREGGER

Was wir nicht verlieren dürfen

Different reasons give rise to the question, what philosophy really is, and by tradi-
tion we know many answers. Plato’s answer can be found by examining his explicit
statements about philosophy in his dialogues, or by analyzing his representation of
Socrates – philosophy become flesh. But an other way to find an answer to the ques-
tion lies in examining the things which – according to Plato – we cannot do without.
There are three of them, namely the idea, logos and aporia. These three taken together
– the insight that we orient ourselves according to some unity in our different fields
of life; that we cannot dismiss dialogue and debate; and questions outlive answers –
paint a picture of philosophy as «unbehauptendes Denken»1 [undogmatic thought].
Such «unbehauptendes Denken» does not aim to insist on new claims against old
ones, but instead seeks to analyze and to reflect upon old views.

1. Einleitung

1.1 Anlässe, die Frage «Was ist Philosophie?» zu stellen

Im Laufe der Geschichte haben verschiedene Anlässe dazu geführt, die Frage
zu stellen: «Was ist Philosophie?» Einige davon werde ich nennen, um dann

1 Das Wort «unbehauptend» ist kein reguläres deutsches Wort, es ist nicht ein-
mal korrekt gebildet; die Wörter mit der Negation un- sind meist Adjektive (un-
glücklich) oder mit Ableitungen auf -bar (unsichtbar) oder passiven Parizipien
(unbemerkt) verbunden; Bildungen mit dem aktiven Partizip kommen eigentlich
nicht vor; «unbedeutend» ist eher den Adjektiven zuzurechnen. Eine Bildung mit
un- mit dem aktiven Partizip findet sich aber bei Goethe in den Gedichten Das
Göttliche («Denn unfühlend Ist die Natur») und Der Wanderer («Unfühlend, wel-
chen Zierat sie verklebt» sc. die Schwalbe, die ihr Nest baut). Mit dem un- scheint
mir die völlige Unmöglichkeit, das Negierte zu tun, ausgedrückt; die Natur hat
in keiner Weise ein «Gefühl» dafür, dass ihre Wirkung auf ganz unterschiedliche
Menschen trifft und sie verschieden betrifft. In gleicher Weise möchte ich mit
dem Ausdruck «unbehauptendes Denken» zu verstehen geben, dass diese Art
des Denkens mit Behaupten gar nichts zu tun hat. Ein nur nicht-behauptendes
Denken wäre dagegen ein Denken, das im Moment gerade nichts behauptet, doch
ansonsten durchaus danach gesonnen ist.
198 Erwin Sonderegger

auf drei Stellen bei Platon einzugehen, die auf indirekte Weise Platons Ant-
wort zeigen. Ich nenne die Antwort an diesen Stellen «indirekt», weil Platon
hier die Philosophie nicht definiert oder in anderer Art bestimmt, sondern nur
sagt, was wir nicht verlieren dürfen, wenn wir die Philosophie nicht verlieren
wollen: Die Idee nämlich, das Gespräch und die Aporie.
Die Frage, was Philosophie sei, taucht immer wieder auf und begleitet
das Philosophieren aller Zeiten. Allerdings nicht bei ihrem ersten Entstehen.
Um die Frage stellen zu können, muss schon eine Tradition der Philosophie
bestehen. Die Vorsokratiker als die Anfänger unserer Tradition haben sich
die Frage nicht gestellt. Sie haben sich nicht vorgenommen, «jetzt wollen
wir einmal philosophieren,» sondern sie haben eine gewisse reflektierte Ein-
stellung zu ihrer Welt eingenommen, die im Nachhinein für Philosophie
gehalten worden ist. Darauf konnte man fragen, was sie eigentlich unter
diesem Titel gemacht haben. Dass man das, was sie gemacht haben, später
für «Philosophie» gehalten hat, zeigt die Anekdote, die Pythagoras zum Er-
finder des Wortes gemacht hat.2 Erst dann, wenn ein Einzelner oder auch eine
Schule schon behauptet hat «Das, was wir tun, ist Philosophie,» ist die Frage
möglich. Das ist wohl schon vor Platon der Fall, bei ihm ist es aber speziell
in Texten fassbar. Vor ihm hat Herodot in der Geschichte von Krösus und
Solon σοφία und φιλοσοφεῖν kontrastiert, Platon gibt erstmals eine Defini-
tion. Im Symposium bestimmt er die Liebe zum Wissen im Gegensatz zu
dessen Besitz als Philosophie (Symposion, 203c-204b); in der Politeia be-
zeichnet er die Dialektik, den Höhepunkt im curriculum, als Philosophie.
Der Erste, der literarisch fassbar die Frage «Was ist Philosophie?» ge-
stellt hat, ist König Leon von Phlius; als dieser Pythagoras gefragt habe,
was er denn sei, habe dieser geantwortet «ein Philosoph». Das habe er durch
den Unterschied von drei Lebensweisen erläutert, die anlässlich eines Wett-
kampfspiels sichtbar werden. Neben den Athleten und den Händlern stünden
die Zuschauer, diese würden den Philosophen gleichen, weil sie das, was sie
tun, nicht um des Gewinns oder der Ehre willen tun. Nun war König Leon
von Phlius ein Außenstehender. Für ihn war die Frage echt. Wenn Philoso-
phen diese Frage stellen, ist dies seltener der Fall.

2 Diogenes Laertios: Vitae philosophorum, I, 12, referiert nach Herakleides Ponti-


kos, Pythagoras habe als erster das Wort «Philosophie» gebraucht; Cicero: Tuscu-
lanae Disputationes, V, 10 (nominis […] inventor); die Anekdote mit Pythagoras
und König Leon von Phlius in Diogenes Laertios: Vitae philosophorum, VIII, 8;
dazu W. Burkert: Platon oder Pythagoras? Zum Ursprung des Wortes «Philo-
sophie», in Hermes 88 (1960) S. 159-177.
Was wir nicht verlieren dürfen 199

Einen der Anlässe zu dieser Frage hat Cicero musterhaft formuliert, näm-
lich die Vielfalt sich widersprechender Meinungen von Philosophen.3 Der
Epikureer Velleius sagt mit Blick auf die damals noch kurze Geschichte
der Philosophie, exposui fere non philosophorum iudicia sed delirantium
somnia «was ich dargestellt habe, waren kaum Urteile von Philosophen,
sondern Träume von Wahnsinnigen». Heute wäre der Ausruf um nichts we-
niger berechtigt, und immer noch ist kein Kriterium zur Scheidung in dieser
Vielfalt von Behauptungen in Sicht. Kant hat zwar die Unbeweisbarkeit der
Außenwelt den «Skandal der Philosophie» genannt: «So bleibt es immer
ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Da-
sein außer uns […] bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es
jemandem einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis ent-
gegenstellen zu können»,4 aber die von Cicero genannte wirre Vielfalt der
Meinungen ist nicht weniger ein Skandal. Jedenfalls ist vor kurzem ein Buch
mit dem Titel Die Philosophie – ein Skandal erschienen, der sich darauf
bezieht.5 In dieser Situation ist es wohl gerechtfertigt, wieder zu fragen, was
diese einander Widersprechenden eigentlich tun; gelegentlich fragen diese
sich das selbst.
Diese Vielfalt der Meinungen ist aber nicht willkürlich, sondern sie be-
ruht darauf, dass die jeweils nachfolgenden Denker das, was ihre Vordenker
gedacht haben, sehr oft für ungenügend befanden. Die Philosophiegeschichte
ist voll von entsprechenden Beispielen und von der Bereinigung der dabei
stattfindenden Missverständnisse leben viele Philosophieprofessoren. Die so
genannte Ideen-Kritik durch Aristoteles ist ein Beispiel für dieses Feststellen
des Ungenügens, ein anderes die Umwertung, die Hegel an Idee und Dialek-
tik vornimmt, wie Kant sie verstanden hat, ein weiteres die heideggersche
Umorientierung von dem, was Husserl unter Phänomenologie verstanden

3 Cicero: De natura deorum, I, 42. – Für Cicero selbst ist die Philosophie vitae dux
(Tusc. 5, 5) und magistra vitae (Tusc. 2, 16).
4 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXXIX-XL. Darauf antwortet
Martin Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, 1927, 91960): «Der
‹Skandal der Philosophie› besteht nicht darin, dass dieser Beweis bislang noch
aussteht, sondern darin, dass solche Beweise immer wieder erwartet und versucht
werden», denn zu «beweisen ist nicht, dass und wie eine ‹Außenwelt› vorhanden
ist, sondern aufzuweisen ist, warum das Dasein als In-der-Welt-sein die Tendenz
hat, die ‹Außenwelt› zunächst ‹erkenntnistheoretisch› in Nichtigkeit zu begraben,
um sie dann erst zu beweisen» (§ 43a, S. 205f.).
5 Joachim Hofmann: Die Philosophie – ein Skandal (Donauwörth: Empeiria,
2005).
200 Erwin Sonderegger

hat. Dazwischen stehen die weiteren endlosen Streitigkeiten, die alle zu-
sammen dem Außenstehenden, am Streit nicht unmittelbar Beteiligten, die
Frage nach dem, was denn hier geschieht, sehr nahe legen, und das ist dann
eben die Frage «Was ist Philosophie?» Angesichts dieses Tatbestandes kann
sich ein unbeteiligter Beobachter sehr wohl fragen, ob tatsächlich immer
die Nachfahren klüger seien als ihre Vorfahren. Er kann sich auch fragen,
warum eigentlich die Vordenker immer etwas, meistens den «entscheidenden
Punkt» übersehen haben, wobei unterdessen voraussagbar ist, dass dies den
Nachdenkern unweigerlich auch wieder zustoßen wird, sobald sie durch den
Lauf der Zeit selbst Vordenker geworden sind.
Der historische Gang der Wissenschaften weg von der Philosophie be-
rechtigt ebenfalls zur Frage. Es ist ein übliches Schema der Wissenschafts-
geschichte, dass die Philosophie in ihren Anfängen noch alles, was es zu
wissen gab, unter ihren Fittiche hatte; im Laufe der Zeit aber verselbständigte
sich immer mehr davon. Je mehr Erfahrungen in einem Gebiet gemacht
worden waren, umso mehr etablierte sich das entsprechende Wissen als eine
eigene Wissenschaft; es war nicht mehr nötig «zu philosophieren», man hatte
Daten, machte Experimente und war Realist.
Medizin, Technik, Geographie, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie,
generell Naturwissenschaft, schließlich auch Psychologie, Wirtschaft, das
Wissen über die Gesellschaft und den Staat, kurz das Wissen über alles Wis-
senswerte, hat sich von der Philosophie emanzipiert. Comte hat diese Ent-
wicklung in die drei Stadien, die jede Wissenschaft durchläuft, zusammen-
gefasst: Sie beginnt als Theologie, und, sobald sie das metaphysische Stadium
hinter sich gebracht hat, erreicht sie im positiven Stadium ihre Wahrheit. In
diesem Strom schwimmen der Philosophie die Felle davon und es erhebt
sich die Frage, was der Philosophie eigentlich zu tun bleibe, da doch die
wesentlichen Fragen bei den Wissenschaften, wie es scheint, besser auf-
gehoben sind.6

1.2 Verschiedene Versuche, auf die Anlässe zur Frage zu reagieren

Solchen Zweifeln an der Philosophie wird in verschiedener Weise begegnet.


Es wird generell ein Feld der Zuständigkeit gesucht, das der Philosophie
nicht strittig gemacht wird oder gemacht werden kann.

6 Auguste Comte: Cours de philosophie positive (Paris: Hermann, 1975 [1830-


1842]).
Was wir nicht verlieren dürfen 201

Philosophie kann das reflektieren, was die Einzelwissenschaften mit


ihren Mitteln weder reflektieren können noch wollen, also etwa die Wissen-
schaftlichkeit als solche, den Begriff der Wissenschaft überhaupt. Man hat
sie deshalb einmal «Wissenschaft der Wissenschaften» genannt. Dies kann
man eher im pragmatischen Sinne verstehen, indem man darin teils die ver-
schiedenen notwendigen Reflexionen, teils aber auch Praktisches wie Wis-
senschaftspolitik zusammenfasst, oder man kann das philosophisch und
grundsätzlich meinen; Letzteres hat dazu geführt, dass im Deutschen Idea-
lismus «Wissenschaft» identisch mit «Philosophie» gebraucht wurde. Diese
Art von scientia scientiarum ist längst ausgestorben, der erste ist durch die
Wissenschaftstheorie ersetzt.
Wenn Newton in seiner Anmerkung zu den «Erklärungen» sagt:7 «Bis
jetzt habe ich zu erklären versucht, in welchem Sinne weniger bekannte Be-
nennungen in der Folge zu verstehen sind. Zeit, Raum Ort und Bewegung
als allen bekannt, erkläre ich nicht», dann öffnet sich eben damit das Feld
der Grundbegriffe als Arbeitsgebiet der Philosophie.
Im 20. Jahrhundert hat die ordinary language philosophy in einer ande-
ren Weise auf die Herausforderung geantwortet. Wenn man einen Anfang
des Denkens bezeichnen könnte, den niemand unbeachtet lassen kann, dann
wäre die Willkür der Fragen und Antworten gebrochen, es gäbe einen ge-
meinsamen ersten Anfang für alle, und das würde die Verbindlichkeit des
Fortgangs sichern. Als einen solchen nicht mehr hintergehbaren Anfang hat
sie den Gebrauch der Umgangssprache gefunden, und Philosophie war für
sie die Klärung dieses Gebrauchs.8 In ähnlicher Weise hat man auch die
Grundbegriffe des Alltags, des common sense, als das Feld der Philosophie
betrachtet.
Zu allen Zeiten haben einige aus der Not eine Tugend gemacht und sich
in Skeptizismus oder Agnostizismus begeben, da solche Haltungen von der
Pflicht, in schwierigen philosophischen Fragen Stellung beziehen zu müs-
sen, befreien. Ganz zuletzt hat man auch noch zum verzweifelten Mittel der
Athetese gegriffen: Es gibt die Philosophie gar nicht, oder sie muss nicht nur
aufgehoben oder dekonstruiert, sondern gleich richtig liquidiert werden.

7 Isaac Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica. Faksimile der


3. Aufl. 1716, hg. von A. Koyré, I. B. Cohen (Cambridge: Cambridge University
Press, 1972).
8 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, hg. von B. McGuiness, J.
Schulte (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989), 4.112: «Das Resultat der Philosophie
sind nicht ‹philosophische Sätze›, sondern das Klarwerden von Sätzen».
202 Erwin Sonderegger

1.3 Zur Methode der Frage

Wer sich erneut der Frage zuwendet, was Philosophie sei, muss dies in
Kenntnis davon tun, dass diese Frage schon unzählige Male in verschiedenen
Kontexten aus verschiedenen Gründen gestellt worden ist. Vorsichtigerweise
kann man die Antwort bei jemand anderem suchen. Es wäre zwar mutiger,
selbst etwas Originelles zu behaupten, aber der Mut kann sich ja auch in der
Auslegung bekannter Texte äußern. – Bei Platon kann man lernen, dass das,
was unter «philosophieren» zu verstehen ist, nicht nur an dem bemessen
werden kann, was jemand sagt oder schreibt, sondern besser noch daran,
was er tut. Es ist offensichtlich, dass Sokrates bei Platon das lebendige Phi-
losophieren ist. Man könnte sich also daran orientieren, was Sokrates tut, um
herauszufinden, was Platon unter philosophieren versteht.
Doch scheint dies in der Literatur zu Sokrates genügend oft, und besser,
als ich es tun könnte, gezeigt worden zu sein.9 Ich versuche deshalb das, was
Platon unter «philosophieren» versteht, und was durchaus auch wir heute
noch darunter verstehen können, darzustellen, indem ich mich daran orien-
tiere, was wir nach Platon nicht verlieren dürfen.
Es gibt nicht viel, was von Platon als positive Behauptung festgehalten
werden könnte. Das Wenige muss deswegen umso sorgfältiger bedacht wer-
den. Zu diesem Wenigen gehört dreierlei, das wir nicht verlieren dürfen. Wir
dürfen die Idee, das Gespräch und die Aporie nicht verlieren. Die drei Stellen,
an denen Platon dies sagt, befinden sich in der Gruppe der Spätdialoge.

2. Was wir nicht verlieren dürfen

2.1 Parmenides, 135b: Wir dürfen die Idee nicht verlieren

Der Dialog Parmenides hat im Lauf der Geschichte sehr unterschiedliche


Interpretationen erfahren; enthielt er nach neuplatonischer Auffassung die
Theologie Platons, so war er bei Burnet und Taylor als «Karikatur eleati-
scher Argumenationen» nicht viel mehr als ein schlechter Witz.10 – Nach der

9 Aspekte und Literatur dazu finden sich in: A Companion to Socrates, ed. by Sara
Ahbel-Rappe, Rachana Kamtekar (Oxford: Blackwell, 2006); von Donald Mor-
rison (ed.) ist angekündigt: The Cambridge Companion to Socrates (Cambridge:
Cambridge University Press).
10 Eine gute Übersicht bei Franz von Kutschera: Platons Parmenides (Berlin, New
Was wir nicht verlieren dürfen 203

Dialogregie jedenfalls soll Sokrates lernen, besser für seine Ideenhypothese


einzutreten.
Die hier relevante Stelle liegt zum Glück nicht im sehr kontroversen
Übungsteil, sondern im weniger umstrittenen Vorbereitungsteil. Der alte
Parmenides führt den jungen Sokrates mit einigen Argumenten in solche
Schwierigkeiten, dass dieser nicht mehr recht ein und aus weiß.11 An die-
ser überleitenden Stelle sagt Parmenides zu Sokrates, dass man trotz der
Schwierigkeiten mit dem Gedanken der Idee, die er selbst aufgezeigt habe,
auf «Ideen des Seienden» nicht verzichten könne, weil man sonst keinen
festen Ort mehr für das Denken habe und weil sonst die Möglichkeit des
Gesprächs zerstört würde. Diese Ideen dürfen wir also nicht verlieren.
Doch, was meint Parmenides hier mit «Ideen»? Ist es das, was sich er-
geben würde, wenn man alle Bestimmungen, die Parmenides und Sokrates
in den verschiedenen Argumenten gebrauchen, zusammenfasst? Ist es etwas
wie die Ähnlichkeit selbst gegenüber den ähnlichen Dingen, die Einheit
selbst gegenüber einzelnen einheitlichen Dingen; ist es das, woran die Dinge
teilhaben als dem Einen über dem Vielen, vergleichbar dem Tag über dem
vielen Täglichen? Oder sind es im Gegenteil die entsprechend korrigierten
Bestimmungen, wenn die Argumente im Parmenides absichtlich und kon-
sequent einen falschen Ideenbegriff unterstellen und dessen Kritik sind? Sind
es, nach der dramatischen Chronologie, Ideen, die dem historisch jungen
Sokrates zugesprochen werden könnten, oder sind es, der Werkchronologie
folgend, Ideen des späten Platon, also die Ideen, wie sie Platon zur Zeit der
Abfassung des Parmenides denkt?
Sind diese Ideen so stark, dass sie unbedenklich dieser Kritik ausgesetzt
werden können? Oder werden sie vielmehr durch die Kritik so schwach,
dass sie ersetzt werden müssen, z. B. durch die Ungeschriebene Lehre, durch
die Prinzipientheorie? Will Parmenides sagen, dass die Ideen trotz einer all-
fälligen Prinzipientheorie bleiben müssen? –
Es wäre unfair, nach so vielen Fragen nicht selbst eine Antwort wenigs-
tens zu skizzieren. – Mir scheint es am sinnvollsten anzunehmen, dass Par-
menides sagen will, dass wir alle, was auch immer wir sonst noch annehmen

York: de Gruyter, 1995); neue Interpretationsansätze bei Andreas Graeser: Pla-


tons Parmenides (Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Stutt-
gart: Franz Steiner, 2003).
11 Die Argumente des Parmenides stimmen in weiten Teilen mit den Argumenten
überein, die Aristoteles in De ideis und in Metaphysik A 6 und 9 sowie in Met. M
und N vorbringt.
204 Erwin Sonderegger

und denken, an «Ideen» festhalten müssen. Seine Forderung gilt also nicht
nur für den Platonischen Kontext, sondern ganz generell. Jeder der denkt,
muss an Ideen festhalten. – Das ergibt sich, meine ich, aus der Begründung,
weshalb wir die Ideen nicht verlieren dürfen, nämlich dass wir ohne Ideen
keinen Ort mehr hätten, an dem wir das Denken festmachen könnten und
deshalb das Gespräch verlieren würden. Dies, einen Orientierungspunkt für
Denken und Gespräch zu haben, ist völlig unabhängig vom Inhalt, um den
es geht und unabhängig von einer jeweiligen philosophischen Theorie, die
wir vertreten. Das Nicht-verlieren-Dürfen ist also ganz allgemein gemeint.
Es betrifft auch Realisten und Positivisten, die sagen, sie könnten mit Platons
Ideen gar nichts anfangen; sie bedürfen nicht weniger als alle anderen der
Orientierungspunkte für das Gespräch.
Nun aber, was für Ideen dürfen wir nicht verlieren? Ich muss voraus-
schicken, dass ich nicht an eine Ideenlehre glaube; das tun ja einige andere
vielleicht auch nicht. Für mich ergibt sich aber als Konsequenz daraus, dass
es auch keine Entwicklung einer Ideenlehre, keinen Ersatz, keine Revision
davon geben kann. Es ist in meinen Augen völlig unproblematisch, dass das,
was in den Dialogen dem korrespondiert, was in der Rezeption als angeb-
liche Ideenlehre rekonstruiert worden ist, sich gelegentlich widerspricht oder
wenigstens nicht auf eine Linie zu bringen ist. Wenn Platon über die Ideen
keine Lehre aufgestellt hat, dann ist diese Art von Konsistenz keine korrekte
Anforderung an die Ideen, sie müssen den Bedingungen einer Lehre nicht
genügen.
Ich halte die Ideen viel mehr für eine Art Vision oder Einsicht, die in
verschiedenen Situationen und in verschiedenen thematischen Zusammen-
hängen Ordnung schafft. Dass der Eindruck entsteht, dass Platon nicht über
die ganze Zeit seiner schriftstellerischen Tätigkeit konsistent von Ideen
rede, liegt deshalb weniger an einer durchaus möglichen und plausiblen
Entwicklung des Denkens und dergleichen, als eher daran, dass eine schwer
im Klartext formulierbare Einsicht in verschiedenen Zusammenhängen ak-
tiviert wird. Die Idee lässt sich auch nicht beweisen, weil jeder Beweis sie
schon braucht. Es ist diese Vision, von der Parmenides sagt, dass wir sie nicht
verlieren dürfen. Die Beurteilung der Ideen als poetischer Metaphern durch
Aristoteles ist deshalb weit davon entfernt, eine böse Kritik zu sein, sondern
es ist eine sehr treffende Charakterisierung. Natürlich sind Ideen poetische
Metaphern für eine Vision, zu der es keinen Klartext gibt. Sobald sie in be-
stimmte Worte gefasst wird, wird offensichtlich, dass sie nicht genau das
sagen, was man sagen wollte. Die Einsicht hat etwas Spekulatives an sich.
Ich versuche sie in einigen Ansätzen deutlich zu machen.
Was wir nicht verlieren dürfen 205

Wie es scheint, hat Platon die Erklärungskraft von dem, was er Idee
nannte, zuerst im Bereich des Handelns erfahren oder dargestellt. Wer sich
in diesem Bereich umsieht und nachdenkt, wird auf die Notwendigkeit von
Normen des Handelns stoßen. Da Normen Ansprüche an uns Handelnde
stellen, verlangen wir eine Begründung und Rechtfertigung dafür. Als solche
gilt uns nicht der bloße Wille des Herrschenden oder der gerade herrschenden
Schicht, auch wenn es oft Situationen gibt, in denen wir diesem Willen nicht
ausweichen können. Gerade dann, wenn wir in einer solchen Situation sind
und uns beugen müssen, empfinden wir dies als nicht richtig. Die Begrün-
dung dafür, dass wir so-und-so handeln müssen, muss über-persönlich sein.
Die Idee ist eine über-persönliche Begründung.
Platon illustriert das, was er unter Ideen versteht, oft mit Beispielen aus
dem Bereich des Herstellens. Hier muss sich also etwas an der Vision zeigen,
das besonders gut zu ihr führt. Der Herstellende muss ein Vorbild, ein Urbild
der Sache «in sich» haben, damit er das Ding herstellen kann. Hierin steckt zum
Einen das Vorweg-Haben der Sache, zum Anderen, dass das Vorweg-Seiende
das Nicht-Wahrnehmbare ist. Diese zwei Momente gehören offenbar auch
zur Vision der Idee. Die Idee ist das nichtwahrnehmbare Vorweg der Sache.
Der Bereich des Staates ist zwar im Bereich des Handelns mit inbegrif-
fen. Doch lassen sich an ihm auch noch andere Seiten thematisieren. Platon
findet im Ideal des Staates die auf Gerechtigkeit basierende Hierarchie, als
deren letzten Grund er die Idee des Guten bezeichnet. Die Idee begründet
die Ordnung von Sein und Erkennen; in ihr konkretisiert sich das uns un-
abdingbare Strukturwissen, das Wissen um die Welt vor der Welt.
Aus dem Bereich des Erkennens und Wissens entnimmt die Vision das
Nicht-Empirische als Fixpunkt des Denkens und des Gesprächs, das der
wandelbaren Erfahrung ihren Halt gibt.
Schließlich, das wird im Sophistes klar, muss im Zusammenhang mit der
Frage nach dem Sein zwingend auch der λόγος, die Rede und das Gespräch,
thematisiert werden. Rede und Gespräch erweisen sich als Verflechtung, oder
besser als Verbund, συμπλοκή, von Ideen. In der Idee steckt die Vision des
Verbunds der Ideen, der die Rede ausmacht, und darüber hinaus die Vision
des Zusammenhangs von Sein und Rede.

2.2 Sophistes, 260a: Wir dürfen das Gespräch nicht verlieren

Die zweite Stelle steht im eben zitierten Sophistes. Platon bringt gleich in
den ersten Sätzen die Differenz als das zentrale Thema des Dialogs ins Spiel.
206 Erwin Sonderegger

Man fragt halb scherzhaft nach dem Unterschied von Göttern und Menschen,
bei den Menschen nach dem Unterschied von Sophist, Politiker und Philo-
soph. Wie allbekannt, entwickelt der Gast aus Elea aus dem Versuch, den
Sophisten begrifflich zu fassen, das Problem des Nichtseienden, das zuletzt
ihn selbst statt des Sophisten in die Aporie stürzt. Das führt ihn zur Frage
(242b), wie man überhaupt mit dem Denken anfangen könne, wenn alles
unklar geworden sei. Man müsse das prüfen, was am selbstverständlichsten
und am klarsten zu sein scheine. Es scheint allen klar zu sein, was «sein»
heißt, denn alle bringen darüber Behauptungen vor, die einander allerdings
widersprechen. Der Gast hat bemerkt, dass die Klarheit nur Schein ist. Des-
wegen beginnt er jetzt mit der Entwicklung des Begriffs von «sein» (247ff.),
die in die so genannten fünf größten Gattungen mündet: «Sein» ist dabei
der thematische Begriff, «Bewegung» und «Stand» sind Begriffe, die ihn
inhaltlich füllen, und «Identität» und «Differenz» sind Reflexionsbegriffe,
auf die die Entwicklung der Seinsbegriffe «Bewegung» und «Stand» auf-
merksam gemacht hat.12 So wird es jetzt möglich, das Nichtseiende ver-
mittels der obersten Gattungen als das different Seiende zu bestimmen. Es
folgt die Frage nach der «Verbindbarkeit» der verschiedenen Ideen.13 Wenn
sich einige verbinden lassen, andere aber nicht, dann braucht es eine Regel
der Verbindung und für diese Regel muss ein bestimmtes Wissen zuständig
sein. Der Gast bestimmt die Dialektik als das dafür zuständige Wissen. Nun
heißt es 259e, wenn alles vollständig voneinander getrennt wäre, wäre das
die vollständigste Vernichtung der Rede, διὰ γὰρ τὴν ἀλλήλων τῶν εἰδῶν
συμπλοκὴν ὁ λόγος γέγονεν ἡμῖν, «denn die Rede ist uns entstanden durch
den Verbund der Ideen untereinander». Gleich darauf folgt die uns jetzt in-
teressierende Stelle (260a):
Schau, wie sehr zur guten Zeit wir darum kämpfen und darauf bestehen, dass wir
das eine mit dem anderen sich mischen lassen. – Wozu? – Dazu, dass die Rede
für uns zum Seienden gehört. Wenn diese uns weggenommen wird, wird uns
das Grösste, die Philosophie genommen. Und so müssen wir jetzt darin überein-
kommen, was die Rede eigentlich ist. Wenn uns diese genommen würde, und

12 Ich weise darauf hin, dass das hier vorgelegte Verständnis der fünf größten Gat-
tungen nicht mit dem in der Literatur zum Sophistes übereinstimmt. Nähere Be-
gründungen zu diesem Verständnis finden sich in Erwin Sonderegger: Aristoteles,
Metaphysik Z 1-12 (Bern: Haupt, 1993) S. 68-78.
13 Diese Frage hat enge Verbindung mit dem Parmenides, denn die dortigen zwei
Möglichkeiten, alles lasse sich unterschiedslos miteinander verbinden, und,
nichts lasse sich miteinander verbinden, werden hier durch die dritte Möglich-
keit ergänzt, dass einiges sich verbinden lasse, anderes nicht.
Was wir nicht verlieren dürfen 207

ganz und gar nicht mehr wäre, könnten wir nicht einmal mehr reden. Sie würde
uns aber genommen, wenn wir zugeben würden, dass es keine Mischung von
etwas mit etwas gäbe.
In dieser Weise also hat sich die Aussage, dass wir die Rede nicht verlieren
dürfen, aus dem Verlauf des Gesprächs ergeben.
Wenn es hier heißt, das Philosophieren gehe uns verloren, wenn wir des
λόγος beraubt wären, so ist zu fragen, was hier mit λόγος gemeint ist. Die
eine Antwort darauf ergibt sich aus dem unmittelbaren Kontext vor und nach
dieser Stelle, eine weitere Antwort aus allgemeineren Überlegungen. Unmit-
telbar vor dem Zitat heißt es, dass der λόγος für uns durch die συμπλοκὴ
εἰδῶν, durch den Verbund der Ideen, entstehe (259e). Die συμπλοκὴ εἰδῶν
ist gewiss eine vieldeutige Sache und als solche in ihrer Vieldeutigkeit zu
nehmen. Gewiss gehört zu ihr konstitutiv die Verbindung der ὀνόματα und
ῥήματα, der nicht-verbalen und der verbalen Elemente des Satzes, gewiss
gehört dazu auch die Verbindung der Gedanken in einem Satz zu einer Ein-
heit.14 Der Stelle folgt (261c-263) der Hinweis auf den Sinn als das Kriterium
der Verbindbarkeit, dann die Erläuterung von «Verbinden» und «Mischen»
als Prädizieren, der Hinweis darauf, dass jeder λόγος ein Worüber hat, dass
seine Wahrheit und Falschheit in eben der σύνθεσις, Verbindung,15 liege,
und schließlich auch noch eine Bemerkung zur Verlautbarung von dem, was
Gedanke und Meinung auch ohne Verlautbarung schon sind – alles Themen,
die Aristoteles in De Interpretatione aufgreift.
So ist der λόγος, den wir nicht verlieren dürfen, zunächst die Rede im
einfachen Sinn. Wesentlicher aber noch ist er das Gespräch, denn der Dia-
log Sophistes im Ganzen zielt auf die Rettung des Gesprächs, das durch
die behauptende Position des Sophisten in Gefahr gerät.16 Der Position des
Sophisten muss die unbehauptende Position des Gastes aus Elea gegenüber-
gestellt werden. Dies alles gehört dazu, wenn der λόγος nicht verloren gehen
soll: Die Möglichkeit der Prädikation und der Verbindung der Begriffe; vor
allem aber die Ersetzung der behauptenden Position, durch die das Gespräch
verloren geht, durch die unbehauptende.

14 J. L. Ackrill: Symploke eidon, in Studies in Plato’s Metaphysics, ed. by R. E. Allen


(London: Routledge & Kegan Paul, 1965); Parmenides, Plato, and the Semantics
of Not-Being, ed. by Francis Jeffry Pelletier (Chicago, London: University of
Chicago Press, 1990).
15 Es ist bemerkenswert, dass Platon den Begriff der Verbindung in verschiedener
Weise ausdrückt, σύνθεσις, συμπλοκή, μεῖξις. Er versucht also durch verschie-
dene Bilder klar zu machen, was er meint.
16 Sonderegger: Aristoteles, op. cit. § 2.
208 Erwin Sonderegger

2.3 Philebos, 34d: Wir dürfen die Aporie nicht verlieren

Im Philebos fragt Sokrates danach, was das höchste Gut für den Menschen
sei (19c). Nach dem Referat (11a-e) und der Zusammenfassung des voran-
gehenden Gesprächs mit Philebos (19b) geht es dabei um die Alternative,
ob dies die Lust oder die Vernunft sei. Dieser Alternative wird die weitere
Möglichkeit zugesellt, ob, nach einem Traum von Sokrates, ein Drittes, die
Mischung aus beidem, das Beste sei (20b, 27d).
In diesem Dialog müssen mehrere Stränge unterschieden werden. Selbst-
verständlich steht der thematische Strang im Vordergrund mit der Frage da-
nach, ob ein Leben der Lust oder ein Leben der Vernunft das beste sei. An-
dererseits durchzieht ein systematischer Strang in der Form von logischen
und ontologischen Exkursen den Dialog. Letztere sollen das Verständnis des
thematischen Strangs fördern. Neben diesen beiden Hauptstängen stehen
einige kleine eingestreute Nebenbemerkungen.
Zu dieser letzten Gruppe gehört die Stelle 34a; der Gesamtkontext ist
deshalb, wenigstens vorerst, nicht so wichtig, es genügt ein Blick auf den
unmittelbaren Kontext. Sokrates spricht von jenen Freuden (33c), die rein
in Gedächtnis und Erinnerung bestehen, und im Gegensatz dazu davon, dass
das, was wir nicht bemerken, für uns auch nicht ist. Gedächtnis und Erinne-
rung bewahren die Wahrnehmung auf, man kann sich dann an etwas freuen,
ohne die körperliche Wahrnehmung davon zu haben. Das macht plausibel,
dass es Freuden ohne unmittelbare körperliche Beteiligung überhaupt gibt. In
diesem Zusammenhang sagt Sokrates, dass neben der ἡδονή, der Lust, dem
Leitbegriff des Dialogs, auch noch die ἐπιθυμία, die Begierde, zu erforschen
sei. Darauf sagt Protarch «Dann wollen wir das eben auch noch betrachten,
wir verlieren ja nichts dabei,» worauf Sokrates entgegnet «Wir werden aller-
dings etwas verlieren. Wenn wir finden, was wir jetzt suchen, werden wir die
Aporie über eben dieses verlieren.»
Zum Verständnis von Protarchs Antwort ist nun doch der weitere Kon-
text von Bedeutung, zwar weniger wegen des Inhalt als vielmehr wegen des
Gesprächsverlaufs. Am Anfang des Dialogs scheint die einfache Frage des
thematischen Hauptstrangs vorzuliegen; es wird erwartet, dass sie mit einer
schlichten Entscheidung beantwortet wird. Sokrates aber kommt sozusagen
vom Hundertsten ins Tausendste. Statt über Lust und Vernunft, hat man über
das Eine und Viele, über Grenze und Unbegrenztes, über den Grund, über das
Wehr und Weniger gesprochen –, das sind alles Themen, die im Verständnis
von Philebos und Protarch mit der Frage der Lust gar nichts zu tun haben.
Protarchs Antwort «Wir verlieren ja nichts» ist aus der Resignation darüber
Was wir nicht verlieren dürfen 209

entstanden, im Thema zu einer schnellen Entscheidung zu kommen. Nach


all dem Gehabten macht es auch nichts mehr aus, denkt er, wenn wir neben
der Lust auch noch Überlegungen zur Begierde anstellen.
Sokrates sagt zwar nicht «Wir dürfen die Aporie nicht verlieren» sondern
nur «Dann verlieren wir die Aporie.» Ich muss also noch kurz darauf eingehen,
weshalb ich diesen bloßen Aussagesatz im strengeren Sinne verstehe. Zum
Einen ist Sokrates die Figur der Aporie, er ist die lebendig gewordenen Aporie.
Es kann also für Sokrates nicht eine Nebensache sein, wenn er die Aporie ver-
liert. Die Aporie ist ein Wert und eine wichtige Sache. Ohne die Aporie beginnt
das Fragen schon gar nicht. Entscheidend aber ist, dass wir die Aporie deshalb
nicht verlieren dürfen, weil wir sonst in die Position des Behauptenden fallen.
Wie das zu verstehen ist, versuche ich in meiner Schlussbemerkung zu er-
läutern.

3. Philosophie als unbehauptendes Denken

Aus allen Dialogen Platons wird klar, dass es unterschiedliche Positionen im


Gespräch gibt. Diese Positionen konkretisieren sich jeweils in der Begeg-
nung mit Sokrates. Es gibt die behauptende, die fragende, die zweifelnde, die
sich verweigernde, sowie weitere mögliche Positionen, die wir aus unseren
eigenen Gesprächen auch kennen. Natürlicherweise und im Alltag befinden
wir uns meistens in der behauptenden Position.
In der Figur des Sophisten wird diese Position am klarsten verkörpert, des-
halb ist «der Sophist» und nicht ein bestimmter Sophist oder eine sophistische
These Thema des Dialogs Sophistes. Wir alle aber agieren gleichsam diese Po-
siton ebenfalls in unserem Alltag. Zunächst, weil die behauptende Position die
natürliche und dem Alltag angemessene ist. Sie verdankt sich nicht einem De-
fekt oder einer Unaufmerksamkeit. Das Behaupten in dieser Positon geht aber
weit über das Behaupten von irgendwelchen Inhalten hinaus, denn in jeder be-
liebigen Behauptung ist unumgänglich auch ein je bestimmtes Verständnis von
«sein» eingeschlossen. «Sein» hat nicht immer den selben Inhalt, irgendeinen
hat es aber immer. Beispielsweise kann man modernerweise etwa unter «sein»
primär «existieren» oder «raum-zeitlich fassbar sein» verstehen; anderswo heißt
«sein» percipi; im Mittelalter hat man das Sein in einem nicht strengen Sinne
der Schöpfung zugesprochen, das Sein im eminenten Sinne dem Schöpfer.
Diesen jeweiligen Inhalt von «sein» unterstellen wir als Teilnehmer eines
Gesprächs gemeinsam dem, was wir sagen, ohne es je ausdrücklich zu sagen.
Wir tun das notwendigerweise, sonst fehlt unseren Aussagen etwas. Deshalb
sind in Behauptungen über Inhalte immer auch Behauptungen über «sein»
210 Erwin Sonderegger

eingeschlossen. Würde man diesen Teil des Gemeinten streichen, ergäbe sich
ein anderer oder gar kein Sinn. Insofern sind wir dann in der sophistischen
Position; dieses Behaupten des «Seins» ist der «Sophist in mir».17
Im Sophistes hat Platon an der Figur des Gastes aus Elea klar gemacht,
dass es die Möglichkeit gibt, aus dieser Position herauszutreten – zwar nicht
im Alltag, aber für die Reflexion. Der Gast ist durch seine Frage nach dem
Nichtseienden selbst in die Aporie geraten, und er sucht einen völlig neuen
Anfang. Als diesen bezeichnet er das, was wir je für selbstverständlich hal-
ten; es ist dasselbe, was ich den «Sophisten in mir» nenne, nämlich das
Behaupten über das Sein.
Der Gast bemerkt weiter, dass es ganz sinnlos ist, den bestehenden Be-
hauptungen über das Sein neue und andere entgegen zu stellen. Solche wären
einfach weitere Behauptungen neben den bestehenden. Hingegen kann der
Gast Behauptungen anderer auf ihre Prinzipien hin reflektieren ohne selbst
etwas behaupten zu müssen: Was ist der Kern der Ideenbehauptung? – Sein
ist Beständigkeit. – Was ist der Kern bei den Somatikern? – Sein ist Bewe-
gung. – Es zeigt sich also, dass in den herrschenden Meinungen sowohl Be-
wegung wie auch Stand das Sein ausmacht: Das ist keine neue Behauptung,
sondern nur Resultat einer Analyse herrschender Meinungen.
Wenn nun Sokrates Protarch im Philebos darauf hinweist, dass man in
einer bestimmten Situation die Aporie verliert, heißt das, dass derjenige, der
die Aporie verloren hat, in die behauptende Position gekommen ist. In dieser
hört die Philosophie und das Gespräch auf. Solche, die einander nur noch
Behauptungen mitteilen, führen kein Ge-Spräch mehr. Deshalb hat die bloße
Aussage «Dann werden wir die Aporie verlieren» den Sinn von «Wir dürfen
die Aporie nicht verlieren,» denn dann würden wir in die behauptenden Posi-
tion zurück fallen, damit würden wir auch außerhalb der Philosophie fallen.
Zum Schluss versuche ich, den Zusammenhang zwischen den drei «Din-
gen», die wir nicht verlieren dürfen, in Thesen festzuhalten:
(1) Wir dürfen die Idee nicht verlieren, weil wir sonst die Rede verlieren.
(2) Wenn wir die Rede verlieren, verlieren wir auch das Gespräch, den Ort
des Philosophierens.
(3) Wenn wir die Aporie verlieren, fallen wir in die Position des Behaupten-
den zurück, die ebenfalls das Gespräch verunmöglicht; diese Position
muss durch die Reflexion aufgeweicht werden, denn der Alltag gehört
zwar dem behauptenden Denken, die Philosophie aber ist das unbe-
hauptende Denken.

17 Ibid., spez. S. 66-67.


Studia philosophica 66/2007

DANIEL S CHULTHESS

Concorde philosophique
et réduplication chez Leibniz

Leibniz presents himself, especially in his late correspondence with Remond, as a


concordist: in other philosophical views, even distant and ancient ones, he sets out
to discover «traces of truth» that are already present there. According to the con-
cordist programme, Leibniz claims, philosophers are right in what they affirm, and
wrong in what they deny. This paradoxical asymmetry is given a logical explanation
in the paper, in connection with the topic of «reduplication», i. e. the introduction of
qualifications in otherwise simple categorical propositions. In order to be right in
affirming a complex disjunctive proposition, it is enough for one of the disjuncts to
be true; but in order to be right in negating a complex disjunctive proposition, it is
required for all of them to be false. Meanwhile, if one may «qualify» propositions by
different reduplications of their terms, in principle one of those qualified propositions
is bound to be true. On such presuppositions concordism can be expected to be quite
effective as a meta-philosophical perspective.

Dans le présent exposé, j’associe deux thèmes leibniziens : l’un populaire, le


programme d’une concorde philosophique, tout particulièrement développé
chez Leibniz ; l’autre plus recherché, les propositions dites réduplicatives,
dont la formation joue un rôle non négligeable parmi les procédés logi-
ques pratiqués et analysés par le philosophe. Je commence par ce second
thème.

1. Les propositions réduplicatives

Les propositions réduplicatives sont celles qui, en plus de la structure cano-


nique aristotélicienne d’une proposition catégorique simple avec les termes
sujet et prédicat, comportent un redoublement de l’un ou de l’autre : un com-
plément appelé réduplication. Ce complément s’introduit par une particule
spécifique, typiquement « en tant que », en latin quatenus, qua, inquantum,
etc. Voici un exemple traditionnel, avec à deux reprises une réduplication
rattachée au sujet :
212 Daniel Schulthess

« Fabius Maximus, en tant que consul, a autorité sur son père ; le même, en tant
que fils, se trouve sous l’autorité de son père. »1
Prenons la première proposition (j’écris PCS pour « proposition catégorique
simple » et PR pour « proposition réduplicative »). Si on dit seulement
(PCSFM) « Fabius Maximus a autorité sur son père »

on bute sur une difficulté et on ne sait pas facilement décider si (PCSFM) est
vraie ou fausse ; on est par contre en mesure de le faire une fois apporté le
complément nécessaire :
(PRFM) « Fabius Maximus, en tant que consul, a autorité sur son père ».

En définitive on pourra admettre, sur l’arrière-fond de cette précision, que


sont vraies ensemble (PCSFM) et (PRFM). En général, la proposition réduplica-
tive apporte une précision susceptible de lever différents types de difficultés
surgissant avec la proposition catégorique simple correspondante. Ce pro-
cédé s’avère très courant, même si l’étude exacte en reste assez ésotérique et
constitue un chapitre ardu de la logique traditionnelle, une logique qui ne
répond pas à des critères d’extensionalité stricts et part des propositions du
langage ordinaire.2 Ce qui m’intéresse ici, il est vrai, ce n’est pas la logique
des propositions réduplicatives, avec ses thèmes fondamentaux suivants :

1 « Q. Fabius Maximus, quatenus consul, jus habet in patrem ; Idem, quatenus filius,
in patris est potestate. » Pour l’origine de cet exemple traditionnel, cf. Plutarque:
Vie de Fabius Maximus, dans Vies, t. III, éd. par R. Flacelière, E. Chambry (Paris :
Belles-Lettres, 1964).
2 Les propositions réduplicatives ont eu des usages variés dans l’histoire de la
philosophie : résolution de sophismes, développement de perspectives métaphy-
siques diverses, explication des dogmes et élimination de contradictions poten-
tielles dans le domaine dogmatique. Le cas le plus fréquent, c’est l’explication
des dogmes de la Trinité et l’Incarnation du Christ. Cf. Allan Bäck: On Redupli-
cation : Logical Theories of Qualification (Leyde : Brill, 1996) chapitre 12. Sur
l’approche spécifiquement leibnizienne, voir Gabriel Nuchelmans: Judgement
and Proposition from Descartes to Kant (Amsterdam : North Holland, 1983)
pp. 223-232. – On trouve une étude détaillée des propositions réduplicatives dans
la Logica Hamburgensis (1638) de Joachim Jungius (1587-1657), une œuvre
souvent utilisée par Leibniz. Cf. Joachim Jungius: Logica hamburgensis, éd.
par R. W. Meyer (Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1957). Cf. les extraits
par Leibniz de la Logica hamburgensis, A VI 4, pp. 1059 s. Nous citons Leibniz
de la façon usuelle : Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz (Berlin :
Weidmann, 1875-1890, en abrégé GP) ; Sämtliche Schriften und Briefe (Berlin :
Akademie, depuis 1923, en abrégé A).
Concorde philosophique et réduplication chez Leibniz 213

classification des propositions réduplicatives ; possibilité de réduire les unes


aux autres ; effet de l’ajout de la réduplication dans une proposition sur les
valeurs de vérité ; impact des propositions réduplicatives sur la validité des
schémas d’inférence prévalant par ailleurs pour les propositions catégoriques
simples, etc. Non, ce qui m’intéresse se situe en amont de ces questions logi-
ques : c’est la démarche même par laquelle on juxtapose, à des propositions
catégoriques simples, des propositions réduplicatives.3 En effet, cette dé-
marche joue un rôle, me semble-t-il, dans le projet leibnizien d’une concorde
philosophique. Il est temps que je dise quelque chose de ce sujet.

2. Le projet d’une concorde philosophique

On le sait depuis toujours, entrer en philosophie, se mouvoir dans cet horizon


ouvert et incertain, c’est prendre acte du pluralisme philosophique. Cette
donne d’origine doit être affrontée, et par rapport à elle nous sommes « em-
barqués », pour reprendre l’image de B. Pascal dans son esquisse du « pari »
théologique. Sur l’arrière-fond de ce pluralisme, nous allons vers des prises
de parti. Nous avons coutume de construire les décisions à prendre comme
dotées de la structure suivante :
(1) traiter une thèse donnée (T) comme fausse

et
(2) lui opposer une autre thèse (T'), incompatible avec la première thèse (T).
Nous requérons alors que (T') soit vraie.

À la fin
(3) nous affirmons (T') et nions (T).

Le schéma précédent implique une certaine conception de l’activité philo-


sophique, sur l’arrière-fond d’un postulat simple sur la façon dont des po-
sitions différentes au sein du pluralisme philosophique se projettent dans le
langage et exigent d’être traitées : tantôt affirmées, tantôt niées. Ce postulat
est assez systématiquement présent, quoique en général implicite, dans l’ac-
tivité philosophique.

3 Nous présumons que la proposition catégorique simple PCS et la proposition


réduplicative PR correspondante peuvent être vraies ensemble.
214 Daniel Schulthess

Mais ce postulat un peu simple est battu en brèche par le thème leibni-
zien d’une concorde philosophique. Voici donc la variante concordiste de la
réponse au pluralisme philosophique :
(1) Nous traitons une thèse donnée (T) comme vraie

car, tout en lui imputant une certaine déficience,

(2) nous la « prenons en un bon sens » et de lui donnons à ce titre un prolongement


par une autre thèse (T') compatible avec la première (T). Ce prolongement
vient typiquement par une réduplication d’un des termes de (T), si bien que
(T) et (T') viennent à se comporter comme une PCS et la PR correspondante.

À la fin
(3) nous affirmons à la fois (T') et (T) !

Nous résumons ces données contrastives en un tableau.

Non-concordisme Concordisme

Etape 1 traiter une thèse donnée (T) traiter une thèse donnée (T)
comme fausse comme vraie

Etape 2 lui opposer une autre thèse « prendre en un bon sens » (T)
(T'), incompatible avec (T) et et de lui donner à ce titre un
requérir alors que (T') soit prolongement par une autre
vraie. thèse (T'), elle aussi vraie, et
compatible avec la première (T)

Etape 3 affirmer (T') et nier (T) affirmer à la fois (T') et (T)


(résultat)

Il y a dans cette différence sur les termes du débat philosophique quelque


chose de basique qui m’a poussé à proposer ce sujet pour un symposium
consacré à la question extraordinairement large « Qu’est-ce que la philo-
sophie ? » Je note que conformément à une image séculaire, Leibniz expri-
mait volontiers son approche de ces sujets méta-philosophiques en termes
de « traces de la vérité » :

La verité est plus repandue qu’on ne pense, mais elle est souvent fardée, et tres
souvent aussi enveloppée et même affoiblie, mutilée, corrompue par des addi-
tions qui la gâtent ou la rendent moins utile. En faisant remarquer ces traces de
Concorde philosophique et réduplication chez Leibniz 215

la verité dans les anciens, ou (pour parler plus generalement) dans les anterieurs,
on tireroit l’or de la boue, le diamant de sa mine, et la lumiere des tenebres ; et
ce seroit en effect perennis quaedam philosophia.4
Il convient de souligner que bien d’autres philosophes se tiennent à une ligne
concordiste, ainsi par exemple Henri Bergson :
Le oui et le non sont stériles en philosophie. Ce qui est intéressant, instructif,
fécond, c’est le dans quelle mesure ?5

Enfin, on doit relever que le concordisme ne concerne pas étroitement la phi-


losophie en tant que telle, mais peut s’étendre à d’autres disciplines, comme
l’indique ce passage de l’anthropologue et linguiste Georges Dumézil :

[D]es expériences déjà nombreuses ont montré que son office le plus sain, le plus
efficace [= celui du comparatiste, n. d. l’A.] est […] de concilier ce qui paraît
d’abord inconciliable : il faut bien qu’il y ait une parcelle ou un mirage de vérité
dans toute explication que propose un bon esprit ; quand plusieurs s’affrontent,
il n’est que de retrouver l’organisation probable des éléments de vérité dont cha-
cun, interprété hâtivement et sans regard sur les autres, et généralement alourdi
de déductions contestables, a été le germe d’une théorie. Un peu de réflexion
permettra de sauver, dans le cadre de considérations comparatives, à peu près
toutes les interprétations […] ; elles n’étaient pas fausses, mais incomplètes et
mal disposées.6

Je relève en tout cas un bon degré de « concorde » dans ces différentes for-
mulations du thème qui nous intéresse ici.

3. Les deux faces du concordisme

Dans les passages que nous avons de Leibniz sur cette question, le concor-
disme comporte deux faces, et je n’ai abordé jusqu’ici que la première. Pour
introduire la seconde, voici le genre de déclarations que nous rencontrons et
qui vont nous retenir maintenant :

4 Lettre à Remond du 26 août 1714, GP III, pp. 624-625. Cf. Leibniz: A VI, 4,
p. 2247, l. 21-22: « les semences des plus importantes verites ».
5 Henri Bergson: Le parallélisme psycho-physique et la métaphysique positive
(1901), dans Mélanges, éd. par A. Robinet (Paris : PUF, 1972) p. 477.
6 Georges Dumézil: Jupiter, Mars, Quirinus : Essai sur la conception indo-eu-
ropéenne de la société et sur les origines de Rome (Paris : Gallimard, 1942)
p. 77.
216 Daniel Schulthess

J’ay trouvé que la pluspart des sectes ont raison dans une bonne partie de ce
qu’elles avancent, mais non pas tant en ce qu’elles nient.7
La consideration de ce systeme [= celui de Leibniz, n. d. l’A.] fait voir aussi que
lorsqu’on entre dans le fond des choses, on remarque plus de la raison qu’on ne
croyoit dans la plupart des sectes des philosophes. [Toutes ces thèses] se trou-
vent reunies comme dans un centre de perspective, d’où l’object (embrouillé en
le regardant de tout autre endroit) fait voir sa regularité et la convenance de ses
parties : on a manqué le plus par un esprit de Secte, en se bornant par la rejection
des autres.8

Ces déclarations revêtent un air de paradoxe, au sens des paradoxes de l’hu-


manisme tardif : « Raison tu as en ce qu’affirmes, tort en ce que nies. » L’ha-
bitude que nous avons de cette formule chez Leibniz nous fait oublier son
caractère presque choquant. En effet, comment une telle chose est-elle pos-
sible ? Une négation n’est-elle pas une conséquence immédiate (ou simple)
d’une affirmation, et réciproquement ? C’est ce que montre la notion logique
d’opposition : quand des propositions sont opposées (comme dans les diffé-
rents carrés des oppositions logiques), de la vérité de l’une, nous concluons
à la fausseté de l’autre. Si nous affirmons à bon droit l’une, nous nions à
bon droit l’autre, et réciproquement.9 Comment le « paradoxe concordiste »
avec sa surprenante asymétrie systématique de l’affirmation et de la négation
peut-il se soutenir ?

4. Défense d’un paradoxe

Mon but maintenant est de donner un sens justifiable à cette formule para-
doxale. Je prends une autre philosophie que celle de Leibniz ; comme il va
de soi, elle dit des choses : on trouve la vérité dans ce qu’elle affirme, l’erreur
dans ce qu’elle nie. Voyons comment cela est possible !
Pour ne pas trop devoir développer mon propos, je me facilite la vie ;
je retiens ici une seule thèse de départ, et je montre comment les choses se

7 Lettre à Remond du 10 janvier 1714, GP III, pp. 605 s.


8 Eclaircissement des difficultés que Monsieur Bayle a trouvées dans le système
nouveau de l’union de l’âme et du corps, juillet 1698, GP IV, pp. 523-524 ; cf.
Nouveaux Essais, I.i, A VI 6, pp. 73-74.
9 Leibniz souscrit à ces principes : « Oppositio est quando duae propositiones
habent idem subjectum et idem praedicatum, et nos colligimus ex veritate unius
falsitatem alterius. » A VI 4, p. 235, l. 12-13.
Concorde philosophique et réduplication chez Leibniz 217

passent quand une secte l’affirme, et quand une autre secte la nie. Je retiens
arbitrairement un exemple leibnizien touchant à l’opposition des Scolasti-
ques et des Modernes sur la question des « formes substantielles ».10

5. Comment les choses se passent avec l’affirmation

Soit une thèse philosophique initiale, affirmée par une secte philosophique A,
les Scolastiques :
(PCSFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phéno-
mènes.

Cette thèse fait l’objet aussi d’un complément qui apporte une précision –
c’est ici qu’on forme la proposition réduplicative. Voici comment Leibniz
la présenterait :
(PRFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomè-
nes en tant que sujets à des lois générales.

Cette présentation en mains, revenons en arrière sur la thèse philosophique


initiale ; à la lumière des précisions apportées, celle-ci peut être restituée
maintenant en termes plus développés et à vrai dire disjonctifs (j’écris PID
pour « proposition initiale disjonctive »). Voici ce qui peut être envisagé à
cet égard :
(PIDFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomè-
nes en tant que sujets à des lois générales

ou bien
Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomènes en
tant qu’événements particuliers.

On maintiendra que l’école philosophique A a soutenu implicitement cette


disjonction. Dans ce qu’elle affirme, sous la surface d’une proposition caté-
gorique simple, se cache en fait une disjonction ; un des disjuncta est vrai,
l’autre faux, mais il suffit qu’un des disjuncta de la disjonction soit vrai pour
que de ce fait la disjonction soit vraie.

10 Voir à ce sujet le Discours de métaphysique (1684), A VI 4, pp. 1529-1588.


218 Daniel Schulthess

6. Comment les choses se passent avec la négation

Soit toujours cette même thèse philosophique initiale. Cette fois-ci elle est
niée par la secte B, les Modernes :
(PCSFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phéno-
mènes

Reprenons d’abord les éléments de l’analyse « affirmative ». Comme thèse


philosophique, elle avait fait l’objet d’une lecture initiale, puis de précisions
– c’est ici qu’on forme la proposition réduplicative
(PRFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomè-
nes en tant que sujets à des lois générales.

Mais évidemment la thèse philosophique initiale doit être restituée mainte-


nant en termes plus complexes et à vrai dire disjonctifs, comme on l’a vu
ci-dessus :
(PIDFSE) Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomè-
nes en tant que sujets à des lois générales

ou bien
Les formes substantielles interviennent dans l’explication des phénomènes en
tant qu’événements particuliers.

Et cela, il s’agit de le nier. On maintiendra que l’école philosophique B a nié


implicitement cette disjonction. Mais nier une disjonction, c’est nier chacun
des disjuncta. Ou bien, si l’on veut, en appliquant l’opposition logique, c’est
affirmer la fausseté de chacun des disjuncta. C’est bien une anticipation de
ce qu’on appelle en logique des propositions la loi de De Morgan, l’équi-
valence de la négation d’une disjonction avec la conjonction des négations,
bien connue déjà depuis le XIVe siècle.11
Mais un des disjuncta est vrai dans l’analyse présentée. Or on nie aussi
celui-là qui est vrai. En cela, pour reprendre la citation ci-dessus, « on a
manqué […] en se bornant par la rejection des autres ».12 Cela revient en
effet à affirmer la conjonction de la négation des diverses interprétations
possibles des thèses en discussion – parmi lesquelles il en est une qui peut

11 Cf. W. Kneale, M. Kneale: The Development of Logic (Oxford : Clarendon, 1962)


pp. 294-295.
12 Cf. note 8 ci-dessus.
Concorde philosophique et réduplication chez Leibniz 219

être « sauvée ». Et c’est ainsi qu’on retrouve le paradoxe : « Raison tu as en


ce qu’affirmes, tort en ce que nies » ! Bien sûr il y a des implications pour la
question évoquée ci-dessus des « conséquences immédiates » entre affirma-
tion et négation. Ces implications feront l’objet d’un autre travail.

7. Degrés de rigueur

Dans la ligne de ce qui précède, Leibniz est sensible à différents degrés de


précision avec lesquels une chose est dite, chaque fois correctement, mais en
conformité avec des standards différenciés. De cela, on a un exemple dans le
paragraphe ci-dessus, « Comment les choses se passent avec l’affirmation ».
Sans entrer dans les thèmes précis examinés, voici quelques formules exem-
plaires tirées de deux articles du Discours de métaphysique (27) :
ces sortes de Doxologies ou practicologies peuvent passer dans l’usage ordinaire13
on leur peut donner un bon sens, suivant lequel elles n’ont rien de faux14
quand il s’agit des verités Metaphysiques15
dans la rigueur de la verité Metaphysique.16

En conformité avec les possibilités logiques que nous avons décrites, une des
caractéristiques de la pensée de Leibniz est donc d’admettre en philosophie
des « degrés de rigueur », le degré supérieur étant celui de la « rigueur méta-
physique ». Une discussion pourrait s’ouvrir ici pour déterminer si l’échelle
de ces degrés est simplement relative (ce qui ouvrirait le champ de la per-
fectibilité) ou non (ce pour quoi Leibniz semble pencher le plus souvent).

8. Conclusion

Nous avons cherché ci-dessus à déterminer pourquoi « Raison tu as en ce


qu’affirmes, tort en ce que nies ». Ce paradoxe apparent, fondé sur des don-
nées d’ordre logique, comporte aussi chez Leibniz des aspects méthodo-
logiques, voire émotionnels :

13 § 27, A VI 4, pp. 1571-1572.


14 Ibid.
15 Ibid.
16 § 28 ; pour quelques autres exemples, cf. DM § 12, p. 1545, l. 5 « dans la rigueur
metaphysique » ; DM § 34, p. 1583, l. 11 ; A VI 4, p. 1638, l. 14 ; p. 1663, l. 12.
220 Daniel Schulthess

J’ai cette Maxime generale de mepriser bien peu de choses et de profiter de ce


qu’il y a de bon par tout.17
Je ne meprise presque rien (excepté l’Astrologie judiciaire et tromperies sembla-
bles), pas même les Mystiques ; leurs pensées sont le plus souvent confuses, mais
comme ils se servent ordinairement de belles allegories, ou images qui touchent,
cela peut servir à rendre les verités plus acceptables, pourveu qu’on donne un
bon sens à ces pensées confuses.18
Une sorte d’individualité philosophique émerge dans cette démarche « de
2e ordre » propre au concordisme – du moins pour l’époque moderne – presque
autant que dans les doctrines « de 1er ordre » de Leibniz. Cette « démarche « de
2e ordre » alimente de façon originale la thématique de la question « Qu’est-ce
que la philosophie ? » En effet, le champ philosophique se présente de façon
substantiellement différente pour le non-concordiste et le concordiste. Le
premier voit partout l’erreur et se doit d’entrer dans une bonne philosophie
partout à nouveaux frais ; le second en revanche voit partout des « traces de
vérité » et s’emploie à les développer.

17 Lettre à Coste du 4 juillet 1706, GP III, p. 384.


18 Lettre à Bourguet du 3 janvier 1714, GP III, p. 562. Dans le même sens : « J’ai été
d’esprit à choisir de réformer les idées reçues plutôt que de les renverser. C’est
de là que me sont venues les Méditations conciliantes. » Lettre à Des Bosses
du 2 février 1706, GP II, p. 295, trad. C. Frémont p. 76. Ce thème présente des
dimensions très variées, cf. Lettre à Burnett du 8/18 mai 1697, GP III, p. 205 ;
NE I.i, A VI, 6, pp. 71-72. Dans une perspective générale, cf. Tahar Ben Guiza:
Le Rationalisme concordataire de la philosophie de Leibniz (Tunis : Faculté des
sciences humaines et sociales, 2001).
Studia philosophica 66/2007

Würdigung

A NDREA POMA

Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit


Helmut Holzhey: Zu seinem 70. Geburtstag*

Die philosophische Arbeit Helmut Holzheys zu würdigen, verlangt im


Grunde, sie im Ganzen durchzugehen. Da aber die Autoren, mit denen er
sich im Lauf seiner philosophischen Arbeit beschäftigt hat, zahlreich, die
Themen vielseitig und die Probleme überaus mannigfaltig sind, würde dies
zwar eine rege Tätigkeit und umfangreiches Wissen offenbaren, nicht aber
die Bedeutung seines philosophischen Engagements hinreichend deutlich
machen. Ich werde also einen anderen Weg gehen, um den Kern der For-
schung Holzheys, ihren Leitfaden gewissermaßen, aufzuspüren. Hierbei ist
es für mich ermutigend, dass er selbst von Beginn seiner Tätigkeit an diese
Methode bevorzugte. Sein erstes Buch, das 1970 unter dem Titel Kants Er-
fahrungsbegriff erschien, war damals und ist heute maßgebend, nicht nur
für die eingehende historische und philologische Analyse kantischer Quel-
len, sondern auch, weil es ausdrücklich eine philosophische Exposition des
inspirierenden Prinzips der Kantischen Philosophie sein will. In der Einlei-
tung zur 1997 erschienenen italienischen Ausgabe dieses Werkes1 skizziert
Holzhey selbst einige Elemente seiner intellektuellen Biographie und erklärt
auf diese Weise die Entstehungsgeschichte und den Sinn dieses Buches. Er
erinnert daran, dass ihn eine Anspielung Gerhard Ebelings auf das Bedürfnis,

* Ich möchte mich bei Marco Giovanelli, Pierfrancesco Fiorato und Hartwig
Wiedebach bedanken, die mir bei der Übersetzung des Texts geholfen haben.
1 Vgl. Helmut Holzhey: Il concetto kantiano di esperienza. Ricerche filosofiche
delle fonti e dei significati. Con un’appendice sulla nozione platonico-aristo-
telica, Vorwort von G. Gigliotti, it. Übers. von A. Ermano (Firenze: Le Lettere,
1997) S. 3f.
222 Würdigung

Heideggers Erfahrungsbegriff näher zu analysieren, und daran anschließend


die Feststellung, dass gerade die Interpretation Kants der von Heidegger
bevorzugte Ort für diese Auseinandersetzung war, zu dieser stark von Hei-
degger geprägten Untersuchung geführt haben. Vorrangig unter Heideggers
Einfluss stand für Holzhey auch der Begriff der «Denkerfahrung», der das
Grundthema seines Kantbuches darstellt. So schreibt Holzhey etwa:

So versuchte ich, Kants Reflexionen und Aussagen über die Erfahrung, seine Er-
fahrungstheorie, in einer philosophischen ‹Erfahrung› zu verorten, die er ‹mit› dem
Denken gemacht hatte. Kants Texte waren nochmals daraufhin zu durchleuchten,
ob sich in ihnen Spuren einer solchen Denkerfahrung namhaft machen ließen.2

Was aber versteht Holzhey unter «Denkerfahrung»? Er beschreibt sie so:

Wir bezeichnen das durch πάθος angezeigte Widerfahrnis im Streben nach Wis-
sen, die philosophische conversio also, als Denkerfahrung. […] Denkerfahrung
[ist] ein Widerfahrnis im Denken, das es als solches betrifft und ihm (seinen Mög-
lichkeiten, Erwartungen und Zielen) eine wesentlich neue Richtung gibt (Platon
denkt an die «Umwendung der Seele» ins «dialektische Denken»).3

Die «Denkerfahrung», die also nach Holzhey Kants Philosophieren zugrunde


liegt, ist ein zentraler Bestandteil der Kantischen Auffassung von Vernunft
sowie des von ihm begründeten «kritischen Rationalismus». Obwohl die Ver-
nunft nur im Bereich der so genannten «Erfahrung» ihr wohlbegründetes und
legitimes erkennendes Vermögen als «Verstand» ausüben darf, ist sie stets
von einem «metaphysischen Bedürfnis» angespornt und angeregt. Dieses
Bedürfnis veranlasst sie, die Grenze der Erfahrung zu problematisieren und
auch über diese Grenze hinaus Erkenntnis zu suchen: «Kant würdigt in der
Unterscheidung von Verstand und Vernunft […] das berechtigte Bedürfnis
der Frage nach dem Unbedingten, die nur jenseits der im Bedingten fortlau-
fenden Erfahrung Antwort suchen kann. Die menschliche Vernunft will mehr
wissen, als sie erfahrend erkennen kann.»4
Von Kants Werken ist nach Holzheys Ansicht der, üblicherweise als klei-
nere vorkritische Schrift betrachtete, Text Träume eines Geistersehers, er-

2 Ibid. S. 8. Die auf Italienisch veröffentlichten Texte H. Holzheys werden hier und
im Folgenden aus der ursprünglichen deutschen Fassung zitiert, die der Verfasser
mir netterweise zur Verfügung gestellt hat.
3 Helmut Holzhey: Kants Erfahrungsbegriff. Quellengeschichtliche und bedeu-
tungsanalytische Untersuchungen (Basel, Stuttgart: Schwabe, 1970) S. 281.
4 Ibid. S. 279.
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 223

läutert durch Träume der Metaphysik aus dem Jahr 1776 von besonderer
Relevanz, und zwar deshalb, weil er dort eine ausdrückliche Kantische Re-
flexion über die eigene Grunderfahrung zu finden glaubt:
Ich meine, […] nicht nur in einigen Notizen, sondern insbesondere in der Schrift
Träume eines Geistersehers [Spuren von Kants Denkerfahrung] gefunden zu
haben, [in] einer Schrift [also], die in einer Phase der Skepsis gegenüber jeglicher
Metaphysik und damit in einer philosophischen Krise entstand. Die hier bezeugte
Denkerfahrung bot sich als Ursprung der Kantischen Verhältnisbestimmung von
Vernunft und Erfahrung geradezu an, als ihr «Sitz im Leben», will sagen: als ihr
«Ort» im Prozess philosophischer Selbstverständigung. Mit dem Resultat dieses
Prozesses, Kants Philosophiebegriff, war deshalb auch meine Untersuchung ab-
zuschließen.5

Die Auseinandersetzung mit Swedenborgs Esoterik, die den metaphysischen


Täuschungen durchaus kompatibel schien, ließ Kant die Eigenschaften der
«kritischen» Denkerfahrung zweifach definieren, einerseits per analogiam
und anderseits per differentiam: per analogiam, weil eine solche Denkerfah-
rung von der unwiderstehlichen Attraktion geprägt ist, die die Metaphysik
für die Vernunft hat. Hier geht es um ein «Schicksal» und ein «Bedürfnis»,
das die Vernunft schlechterdings nicht bestreiten kann. Per differentiam,
weil die kritische Vernunft zu diesen, d. h. metaphysischen Erkenntnissen
keinen Zugang hat und ihr unvermeidliches Scheitern erkennen muss. Die
Denkerfahrung der kritischen Vernunft besteht also in der unverzichtbaren
und dennoch unlösbaren Spannung zwischen der Attraktion des metaphysi-
schen Fragens und der Unmöglichkeit zu antworten. Es ist ein Widerstreit
zwischen dem «Verliebtsein»6 in die Metaphysik mit dem Bedürfnis zu
hoffen einerseits und dem unvermeidbaren Scheitern jedes entsprechenden
Erkenntnisversuchs anderseits. Gerade indem Holzhey diesen Kern des Kan-
tischen Denkens darlegt, erkennt er, wie ich später noch zeigen werde, auch
sich selbst. Er schreibt:
An dieser einen Erfahrung des Denkens lassen sich zwei Momente abheben:
das Widerfahrnis des überwältigenden spekulativen Interesses und das Wider-
fahrnis des Scheiterns in der Nichtbeachtung der Kluft zwischen Erfahrung und
Vernunft. Beide Momente wirken sich unmittelbar in Kants philosophischem
Selbstverständnis aus. Indem Kant einsieht, daß das spekulative Interesse den
denkerischen Selbstbetrug provoziert, verweist er das philosophische Denken

5 Holzhey: Il concetto kantiano di esperienza, op. cit. S. 8.


6 Vgl. Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, AA 2, 367; zit. nach: Holzhey:
Kants Erfahrungsbegriff, op. cit. S. 291.
224 Würdigung

an Erfahrung, ans sinnlich Gegebene, muß aber zugleich dem spekulativen Be-
dürfnis, das sich machtvoll bekundet hat, Rechnung tragen. Sein philosophischer
Weg kann also weder der eines einseitigen Empirismus noch eines unkritischen
‹Dogmatismus› sein.
Zunächst scheint der Autor der Träume eines Geistersehers aber von seiner Denk-
erfahrung derart betroffen, daß er auf das innerphilosophische Verständnis der
scheinerzeugenden Vernunft verzichtet: er verweist sie aus der Philosophie hin-
aus. Was bleibt in diesem Fall der Philosophie mit dem Rückzug auf Erfahrung,
nachdem die analytische Methode bzw. die Induktion von Erfahrungsbegriffen
gerade das philosophische Interesse nicht befriedigt? Wir versuchen eine Inter-
pretation. Die Erfahrungsdaten, die Kant als Basis philosophischer Erkenntnis
aufzählt, sind selbst ausgewählt. Prinzip der Auswahl ist die metaphysische
Fragestellung!7

Demzufolge soll es, so fährt Holzhey in der Analyse von Kants Denkerfah-
rung fort,

[in Konsequenz des Scheiterns eines ‹höheren› Anspruches] des Philosophen


Verpflichtung […] sein, sich ‹auf dem niedrigen Boden der Erfahrung und des ge-
meinen Verstandes› zu bescheiden, ja dort sein Glück zu finden. Das heißt nichts
anderes, als daß der Philosophie der Titel natürlicher praktischer Weltweisheit
zuteil wird. Deren Prinzipien legt «das unter den meisten Menschen einstimmige
Gesetz der Empfindung» bzw. das moralische Gefühl vor und der gemeine oder
gesunde Menschenverstand aus, indem er sich von der Lebenserfahrung leiten
läßt. Diese unmittelbare Folgerung aus der gemachten Erfahrung des Denkens,

7 Ibid. S. 294f. Die beiden «Momente» der Denkerfahrung, die Holzhey bei Kant
feststellt (das Widerfahrnis des überwältigenden spekulativen Interesses und das
Widerfahrnis des Scheiterns in der Nichtbeachtung der Kluft zwischen Erfahrung
und Vernunft), stehen bestimmt in einem Verhältnis und einer Beziehung (viel-
leicht in einem wesentlichen oder auch nur in einem scheinbaren Gegensatz: Die-
ser Punkt würde eine weitere Vertiefung verdienen, die ich hier nicht durchführen
kann, und über die Holzhey selbst uns zukünftig Licht schaffen könnte) mit den
zwei Momenten der «metaphysischen Erfahrung», die Wilhelm Weischedel be-
schreibt: «Sofern nun die Metaphysik in ihrem formalen Vollzug zunächst Frage
nach Sein und Seinsgrund und sodann Antwort auf die Frage ist, muß auch die
metaphysische Erfahrung als der Grund der Möglichkeit der Metaphysik dop-
pelt auftreten. Der metaphysischen Frage muß eine solche Weise metaphysischer
Erfahrung zugrundeliegen, in der Sein und Seinsgrund fragwürdig werden, der
metaphysischen Antwort eine andere Weise, in der Sein und Seinsgrund selber
– wenn auch durch das Seiende hindurch – erfahren werden. Sie bilden gleich-
sam zwei Stufen metaphysischer Erfahrung, die aber eng aufeinander bezogen
sind» (Wilhelm Weischedel: Zum Problem der metaphysischen Erfahrung, in
Zeitschrift für philosophische Forschung 9 [1955], Heft 3, S. 424). – Holzhey
erwähnt diesen Aufsatz in: Kants Erfahrungsbegriff, op. cit. S. 282, Anm.
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 225

so vorschnell und inadäquat sie sich in der weiteren Arbeit Kants erwiesen hat,
zeichnet in ihrer Tendenz, das Erfahrene sich im Selbstverständnis des Philo-
sophen auswirken zu lassen, wie in der Richtung, die das sich konzipierende
Philosophieverständnis nimmt, den Rahmen vor, in dem die Denkerfahrung den
Denkenden sich fortan zu bewegen zwingt.8

Der Weg, den Kant in späteren Schriften einschlägt, um dem metaphysischen


Bedürfnis Rechnung zu tragen, ohne der Illusion der Vernunft zu verfallen,
ist, wie bekannt, die praktische Philosophie: Moralphilosophie und Anthro-
pologie. Die Erhebung des Gemeinsinnes zum «gesunden Menschenver-
stande», die Bildung, die Weltweisheit, die Organisation des Wissens im
Blick auf die Ziele der Menschen, die Idee der universalen Menschheit:
Diese Themen umreißen den Horizont von Kants kritischer Vernunft, die,
ohne auf kritische Strenge zu verzichten, durch die sie sich selbst jede über
die Erfahrung hinausgehende Erkenntnis verbietet, dennoch ihr Bedürfnis
und ihr metaphysisches Interesse an den letzten Fragen festhält: «Was kann
ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?»
In dieser ungelösten und unlösbaren Spannung besteht die intimste Natur
des kritischen Denkens, sowohl gegenüber dem allzu reduktiven skeptischen
Empirismus als auch gegenüber den Täuschungen des metaphysischen Fun-
damentalismus. Darin besteht die grundlegende Denkerfahrung Kants und
auch die Größe seiner Philosophie. Holzhey schließt sein Buch über Kant
mit folgenden Worten:

Indem Kant seine Denkerfahrung nicht thematisiert, d. h. Denken nicht vom Er-
fahren her oder als Erfahren versteht, wahrt er dem Denken unzeitliches Einstim-
migsein mit sich selbst und dem animal rationale eine wesentlich ungeschicht-
liche Dimension, deren Ausdruck die Selbstgesetzgebung der Vernunft ist. Die
dritte Maxime [«Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken»] formuliert ver-
gleichsweise die «Zusammenstimmung des Richters mit sich selbst in Ansehung
der praeiudicata und postiudicanda». Zwischen prae und post, im Jetzt, geschieht
Erfahrung (Zeugeneinvernahme). Als Versuch, die Ambivalenz der Erfahrung
im Denken zu bewältigen, d. h. ihre Armut (ihre fehlende Einstimmigkeit, All-
gemeinheit, Notwendigkeit) nicht für den Reichtum ihrer Belehrung in Kauf zu
nehmen, sondern ihren Reichtum im reinen Denken zu bergen, hat Kants ‹Erfah-
rungsdenken› seine Größe und seine Voraussetzung.9

Nun mag es unangemessen scheinen, so lange über Holzheys Kantbuch zu


sprechen; denn darin geht es ja um Kant, während ich doch die Denkerfah-

8 Ibid. S. 296.
9 Ibid. S. 323.
226 Würdigung

rung Holzheys untersuchen wollte. Es ist jedoch festzustellen, – und natürlich


beginnt hier meine Interpretation, in der sich aber, wie ich hoffe, Helmut
Holzhey wiederfinden wird – dass er über Kant auch zu seiner eigenen Denk-
erfahrung gefunden hat: zu einer Denkerfahrung, anhand derer er in allen
diesen Jahren die zahlreichen Probleme, Themen und Autoren untersucht
hat, die er zum Gegenstand seiner philosophischen Untersuchungen gemacht
hat. Holzhey selbst versteht sich als Vertreter «eines postmetaphysischen
Idealismus im Sinne Kants».10 Es wäre müßig, die Frage zu stellen, ob seine
Denkerfahrung der Kantlektüre vorangegangen ist, oder ob es umgekehrt
war. Wie überall in menschlichen Beziehungen, so finden wir auch in der
Beziehung zu Philosophen nur das wieder, was wir immer schon gesucht
haben. Aber es gilt ebenso: Erst wenn wir etwas bei anderen gefunden haben,
werden wir uns dessen bewusst, was wir gesucht haben. Kant war und ist
ohne Zweifel der wichtigste Philosoph für Helmut Holzhey; denn von der
Verwandtschaft zum großen Begründer der kritischen Philosophie geht er
aus. Das bedeutet jedoch nicht, dass er bei Kant stehen geblieben wäre! Er
hat zwar mit Kant begonnen, ist dann aber, wenn auch in derselben Rich-
tung, über ihn im Sinn einer in ihrer eigentlichen und strengen kritischen
Bedeutung verstandenen Denkerfahrung des «metaphysischen Bedürfnisses»
hinausgegangen.
Holzhey selbst setzt die Begrenztheit von Kants Antwort ins Licht und
findet genau damit den Punkt, von dem aus er selbst auf Kants Weg wei-
tergeht. Kant hat das Schicksal des «metaphysischen Bedürfnisses» der
menschlichen Vernunft anerkannt, aber gleichzeitig die Unmöglichkeit sei-
ner Befriedigung behauptet. Er wandelte daher dieses Bedürfnis von einem
theoretischen in ein praktisches Problem um, d. h. in die «Aufgabe», sprich:
das moralische «Sollen» eines auf dem praktischen Interesse der menschli-
chen Person begründeten Vernunftglaubens.11 Diese Lösung ist nach Holzhey
allerdings eine zu weitgehende Konzession gegenüber dem Unvernünftigen.

10 Helmut Holzhey: Pantheismus, Ethik und Politik: Hermann Cohens Spinoza-


kritik, in Ethik, Recht und Politik bei Spinoza. Vorträge gehalten anlässlich des
6. Internationalen Kongresses der Spinoza-Gesellschaft vom 5. bis 7. Oktober
2000 an der Universität Zürich, hg. von M. Senn, M. Walther (Zürich: Schult-
hess, 2001) S. 240.
11 Vgl. Helmut Holzhey: Das metaphysische Bedürfnis, in Aufklärung als prakti-
sche Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag, hg. von F. Grunert,
F. Vollhardt (Tübingen: Max Niemeyer, 1998) S. 77-80 (ursprünglich auf Ita-
lienisch veröffentlicht: Il bisogno metafisico, in Annuario Filosofico 8 [1992]
S. 58-61).
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 227

Er empfiehlt dagegen eine Ethik des Suchens, die sich weder mit Glauben
noch mit Verzicht zufrieden gibt.
Holzhey trifft gegenüber dem von Kant eingeschlagenen Weg eine an-
dere Wahl (wobei er sich übrigens einer durchaus ehrwürdigen Tradition
anschließt, die fast eine Art Kantischer Nemesis darstellt): diejenige, noch
kantischer als Kant selbst sein zu wollen. Er schreibt nämlich:

Wie schon angedeutet, impliziert bereits die regulative Idee des unendlichen
Erfahrungsfortgangs ein Sollen. Das Ganze der Welt ist der Erkenntnis nie ge-
geben, sondern nur aufgegeben; Kant spricht von einer ‹Regel des Fortschritts
der Erfahrung›, die besagt, daß nie bei einem bestimmten Erkenntnisstand wie
vor einer absoluten Grenze Halt gemacht werden soll. Das Erkennen untersteht
einem ihm immanenten Sollen, über das es nie – im Sinne einer Erfüllung der
Aufgabe – hinausgelangt. Diese dem Erkenntnisprozess (Erfahrung) selbst zuge-
hörige Sollensbestimmtheit ist es, an die eine Ethik des metaphysischen Bedürf-
nisses anknüpfen müßte. Daß auch sie nicht der Ambivalenz des Menschlichen
entkommt, dafür sorgt in diesem Falle der Umstand, daß die Deontik der Erfah-
rung sowohl von einem Ethos des Fortschritts wie von einem Ethos der unab-
schließbaren Suche geprägt sein kann. Für mich besteht kein Zweifel, daß seine
philosophische Denkerfahrung Kant auf das Ethos der Suche verpflichtete.12

Dies ist nun der Punkt, an dem Helmut Holzheys Interesse an Hermann Cohen
und Paul Natorp erwacht – vor allem am Ersteren. Beide werden zum Ge-
genstand einer mehrjährigen Forschungsarbeit. Holzhey selbst schildert das
im bereits erwähnten autobiographischen Abriss: «So knüpfen auch meine
neueren Untersuchungen zu den Denkwegen der Marburger Neukantianer
der philosophischen Sache nach an die Exposition von Kants Denkerfahrung
im letzten Kapitel meiner Dissertation an».13
Damit sind wir bei Holzheys großen Verdiensten um die Förderung und
Weiterentwicklung der Cohen-Forschung. Es geht dabei nicht nur um Ver-
dienste in Fragen der Publicity oder der Organisation, obwohl auch sie be-
deutend sind: Die Vitalität der heutigen Cohen-Forschung und die Stelle,
die man diesem Denker inzwischen unter den Klassikern der Philosophie
zubilligt, wären ohne die fördernde Tätigkeit Helmut Holzheys undenkbar.
1969 gründete er in Zürich das Hermann-Cohen-Archiv, das dank seinem
Begründer und Leiter nicht nur zur Sammelstelle von veröffentlichten und
unveröffentlichten Materialien, sondern auch zu einem dynamischen Treff-

12 Ibid. S. 82 (it. Ausg., S. 63).


13 Holzhey: Il concetto kantiano di esperienza, op. cit. S. 10.
228 Würdigung

und Diskussionszentrum wurde. Des Weiteren fördert und leitet er bis heute
die Ausgabe von Cohens Werken, und schließlich ermöglichte er durch die
von ihm gegründeten und geleiteten Hermann-Cohen-Gesellschaft Forschern
aus aller Welt, sich regelmäßig zu treffen, um in echt wissenschaftlicher Ge-
meinschaft die philosophische Forschung voranzutreiben.
Zur historischen und systematischen Erforschung Cohens hat Holzhey
wesentlich beigetragen. Sowohl sein imposantes Buch Cohen und Natorp,
1986 in zwei Bänden erschienen, als auch seine darauf folgenden Beiträge
liefern grundlegende Einsichten in die Besonderheit der Cohen’schen Philo-
sophie und in die erhebliche Unterschiede, die sie von derjenigen Natorps
trennen. Cohens Gestalt wurde dadurch von der allzu leichtfertigen Identi-
fizierung mit einem pauschalen Begriff von der so genannten «Marburger
Schule» befreit, aber auch von einer reduktionistischen Auslegung des «Neu-
kantianismus» insgesamt. Holzheys Untersuchungen brachten Licht in wich-
tige Inspirationsquellen Cohens, vor allem im Blick auf Platon, und hoben
im historischen Zusammenhang die Aktualität vieler Cohen’scher Themen
hervor, vor allem in der Erkenntnistheorie, der Ethik, der Rechtsphilosophie
und der politischen Philosophie. Besonders hervorheben möchte ich Holz-
heys Beiträge zum Verständnis von Grundbegriffen wie «kritischer Idea-
lismus», «Methode der Reinheit», «offenes System in der Philosophie»,
«Prinzip des Ursprungs», «Hypothese», «Ideal» und «Verwirklichung»,
«Staat», «Gesellschaft» und «Sozialismus», sodann von Ideen wie «Kul-
tur» und «Menschheit», von «Individuum», sozialer «Solidarität», «Armut»
und «Gerechtigkeit».
Aber ich möchte doch, meinem Leitfaden folgend, nun etwas näher die
Bedeutung betrachten, die der «Denkerfahrung», d. h. des «metaphysischen
Bedürfnisses» in kritischer Bedeutung, in Holzheys Auseinandersetzung mit
Cohen zukommt.
In erster Linie wegen einer radikalen philosophischen Opposition zum
metaphysischen Fundamentalismus ist Cohen für Holzhey interessant. In
seinem denkwürdigen Festvortrag auf der ersten internationalen Cohen-Kon-
ferenz in Marburg vom 1. bis 4. Juli 1992 betonte Holzhey genau jene Op-
position als den ersten und wichtigsten Grund für eine bleibende Aktualität
Cohens: «Da ist», so führte er aus, vor allem
an den bedrohlich zunehmenden modernen Fundamentalismus zu denken, gleich-
viel ob ökologischer oder religiöser Provenienz. Cohen setzt ihm den kritischen
Idealismus entgegen: «Metaphysik» ist sein Name für das, was wir eben «Fun-
damentalismus» nennen. Der Unterschied zwischen Idealismus und Metaphysik
besteht in folgendem: «Dem Idealismus [und hier zitiert Holzhey aus der Logik
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 229

der reinen Erkenntnis, S. 303] sind die letzten Grundlagen der Wahrheit und der
Wissenschaft Grundlegungen; der Metaphysik sind sie absolute Grundlagen: so
im Sein wie im Denken, im Geiste gelegen und gegeben».14
Die radikale Opposition Cohens gegen einen dogmatischen Fundamenta-
lismus richtet sich bezeichnenderweise nicht nur gegen die Täuschung der
spekulativen Metaphysik, sondern auch gegen den naturalistischen Reduktio-
nismus des positivistischen Empirismus. Letzterer lehnt nämlich nur schein-
bar jede metaphysische Voraussetzung ab, denn indem er das «Gegebene»,
das sich als Objekt der empirischen Erkenntnis und der Naturwissenschaft
darstellt, als die einzig mögliche Bedeutung der «Welt» auffasst, teilt auch er
jene schwerwiegende dogmatische und metaphysische Voraussetzung, gegen
die Holzhey mehrfach seine philosophische Warnung ausspricht. Immer wie-
der erhebt er kritisch seine Stimme gegen den szientistischen Reduktionis-
mus unserer Kultur. Im Kampf gegen eine spekulativ irrationalistische oder
auch positivistisch empiristische Metaphysik fühlt sich Holzhey sowohl mit
Cohen als auch mit Kant verbunden. Bei Cohen aber findet er nicht nur jene
Denkerfahrung wieder, die er als Spannung zwischen dem «metaphysischen
Bedürfnis» und der Unfähigkeit zu seiner Befriedigung schon bei Kant dar-
gestellt hatte, sondern auch ein Modell für jene Ethik des Suchens, die er,
von Kants Weg abweichend, zu seinem eigenen philosophischen Programm
gemacht hat.
Auch bei Cohen gibt es nach Holzhey allerdings Schwächen. Das ist
indes nicht eine Schwäche gegenüber metaphysischer Täuschung. Cohens
kritischer, methodischer und wissenschaftlicher Rationalismus bildet dies-
bezüglich ein sicheres Bollwerk: Sein «Grundgesetz der Wahrheit», das auf
der systematischen Differenz zwischen dem Sein der Natur und dem Sein des
Sollens beruht, schließt jede Metaphysik der Identität und des Absoluten aus.
Seine Schwäche liegt vielmehr in einer gewissen, man könnte sagen: ‹Nach-
giebigkeit› gegenüber dem religiösen Glauben. Aus diesem Grund betrach-
tet Holzhey die religionsphilosophischen Werke Cohens und insbesondere
sein Nachlasswerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums
nicht ohne einen gewissen Verdacht. Immer wieder hat er Cohens radikale
Ethisierung der Religion hervorgehoben und geschätzt; eine Ethisierung in
der Tendenz der Aufklärung, die für Holzhey ein heute noch ungebrochen

14 Helmut Holzhey: Hermann Cohen: der Philosoph in Auseinandersetzung mit den


politischen und gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit, in Philosophisches Den-
ken – Politisches Wirken. Hermann-Cohen-Kolloquium Marburg 1992, hg. von
R. Brandt, F. Orlik (Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, 1993) S. 25.
230 Würdigung

aktuelles philosophisches und kulturelles Programm darstellt. In einer «post-


religiösen» Zeit – so Holzheys Ausdruck15 – wird diese Ethisierung Teil
des Versuchs, eine als Orientierung des Menschen in der Welt verstandene
«Kultur» zu erschaffen. Diese Kultur kann nicht auf Inhalte und Werte aus
religiöser Tradition verzichten, und insbesondere nicht auf solche, die, wie
Cohen gezeigt hat, ihre Wurzel im jüdischen prophetischen Messianismus
haben: auf die universale Menschheit, den ethischen Sozialismus, die Würde
der Armut und des Leidens und somit auch des Mitleids, auf die Würde der
Solidarität, der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens. Misstrauisch bleibt
Holzhey indes gegenüber dem ausdrücklichen Glaubensbekenntnis Cohens
zu den Texten und Institutionen positiver Religion, konkret also: denen des
Judentums. Vor diesem Hintergrund hat er in den letzten Jahren eine kritische
Position etwa gegenüber Cohens Einführung der «Idee Gottes» in die Ethik
eingenommen. Er sieht darin eine weder notwendige noch zu rechtfertigende
Kontamination der philosophischen Theorie. Cohen, so meint Holzhey, kon-
struiert künstlich eine Lücke in der ethischen Theorie, um dann, einem eige-
nen Wunsch und Bedürfnis affektiver Natur folgend, in diese Leerstelle die
Idee Gottes einzuführen.16
Dagegen aus Cohens Philosophie maßgebend ist für Holzhey immer
der emphatische Begriff der «Wahrhaftigkeit» geblieben. Bekanntlich zählt
Cohen sowohl in der Ethik als auch in der Religion die «Wahrhaftigkeit» zu
den Tugenden. Entgegen allem Anschein jedoch, es handle sich dabei mög-
licherweise nur um ein Thema unter vielen, rückt gerade diese Tugend in
eine zentrale Stellung, – und dies vor allem wiederum für Helmut Holzhey.
Kommen wir noch einmal auf unseren Versuch zurück, seine «Denkerfah-
rung» zu rekonstruieren.
Wir hatten sie schon als eine wichtige Voraussetzung für die Ethik der
Forschung kennengelernt, d. h. innerhalb der Spannung zwischen dem «meta-
physischen Bedürfnis» und der Unmöglichkeit, es durch die Vernunft zu
befriedigen – innerhalb einer Spannung also, die – und das lenkt den Blick
auf die «Wahrhaftigkeit» – für eine kritische und selbstkritische Vernunft
immer offenbleiben muss, ohne dem Verzicht oder trügerischen Lösungen

15 Vgl. Helmut Holzhey: Natur- und Geisteswissenschaften – Zwei Kulturen?, in


Natur- und Geisteswissenschaften – Zwei Kulturen, hg. von H. Reinhalter (Inns-
bruck, Wien, München: Studien Verlag, 1999) S. 48.
16 Vgl. Helmut Holzhey: Gott: die Zukunft einer Illusion. Religionskritik bei Freud
und Cohen, in Man and God in Hermann Cohen’s Philosophy, hg. von G. Gi-
gliotti, I. Kajon, A. Poma (Padova: CEDAM, 2003) S. 59f.
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 231

nachzugeben. Man sieht leicht, dass hier der wesentliche Inhalt der Philo-
sophie in der Haltung des Philosophierenden liegt. Die Wahrheit der Phi-
losophie ist mit der Wahrhaftigkeit des Philosophen eng verbunden, wenn
nicht sogar identisch. Holzhey hat diesem Thema aufschlussreiche Refle-
xionen gewidmet. Cohen wird darin zum Muster für eine Haltung, die so-
wohl jeden Zynismus einerseits als auch die moralische Überforderung in-
folge eines Anspruch auf vollkommener Kohärenz anderseits ablehnt. Dafür
bedarf es der «Wahrhaftigkeit». Es geht darum, «die Sittlichkeit […] als
‹ein Problem der Erkenntnis› zu bearbeiten, ‹in aller der Genauigkeit und
Nüchternheit und Sachlichkeit, welche jedes theoretische Problem erfordert›.
Ethik soll nicht mit Moral verwechselt werden».17 Trotzdem aber, so betont
Holzhey,

verkennt Cohen nicht, daß zwischen der «methodischen Arbeit» am Problem


der Sittlichkeit und dem «sittlichen Selbstbewußtsein» des Autors eine innere
Beziehung besteht. Gestiftet wird diese Beziehung durch ein Ethos, das ich das
Ethos der Suche nenne: eine Grundhaltung, welche die kognitive Arbeit an der
ethischen Theorie (mitsamt ihrem eigenen Ethos) in eine praktische Zielset-
zung einbindet, eine Zielsetzung, auf die hin, nicht von der her Ethik betrieben
wird […]. Cohen verbindet Haltung und Argument, indem er Erkenntnis, auch
ethische Erkenntnis, als problemorientierte Aufgabe begreift, die von sich her
auf ein Suchen festgelegt ist. Dieses Suchen bleibt nicht, so Cohen, ein bloß
theoretisches Untersuchen, sondern prägt sich im Ethiker zum Ethos des Ver-
langens «nach der Enthüllung» der «Menschheit in allen Völkern und in jedem
Menschen» aus. Dieses Ideal einer wahrhaft humanen Welt zeigt alle Merkmale
eines Ideals: das Bild einer Vollkommenheit, die durch Vervollkommnung an-
gestrebt, aber wegen der Unabschließbarkeit des Vervollkommnungsprozesses
mit dem Stigma der Unvollkommenheit gezeichnet ist. Ein solches Verlangen zu
tragen qualifiziert den Philosophen zum Ethiker: das Ethos des Ethikers besteht
darin, nicht an der Realität des Sittlichen angesichts der Tatsachen zu verzwei-
feln, nicht in seinem Denken dem «Irrewerden und […] Irremachen der sittlichen
Kultur an sich selber» nachzugeben.18

Die «Wahrhaftigkeit», so schreibt Cohen, ist die «Tugend der Philosophie».19

17 Helmut Holzhey: Hermann Cohen: «Ethik des reinen Willens», in Klassische


Werke der Philosophie. Von Aristoteles bis Habermas, hg. von R. Brandt, Th.
Sturm (Leipzig: Reclam, 2002) S. 213.
18 Ibid. S. 213f.
19 Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, in ders.: Werke, hg. vom Hermann-
Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der
Leitung von Helmut Holzhey, Introduction by Steven S. Schwarzschild, Bd. 7
(Hildesheim, New York: Georg Olms, 1981) S. 510.
232 Würdigung

In diesem Cohen’schen Begriff des Philosophierens als einer am Ziel der


Menschheit orientierten Forschung, die weder vollendbar noch der eigenen
Grundlagen je sicher sein kann, sondern unermüdlich die eigenen Grund-
legungen ergründet, findet Holzhey den Ertrag jener «Denkerfahrung» wie-
der, die er schon von Kant ausgehend entwickelt hatte, und die den Leitfaden
seines ganzen Philosophierens darstellt. Die Verantwortung der Wahrhaftig-
keit macht wegen der Spannung, die sie zwischen der Hoffnung des Findens
und der unendlichen und unvollendbaren Arbeit des Suchens aufrechterhält,
die eigentliche Mühe der Philosophie aus. Schon Kant selbst hat dies an einer
schönen Stelle im Streit der Fakultäten betont:
Mit dem Mathematiker, der seine Begriffe oder die Stellvertreter derselben (Grö-
ßen- und Zahlenzeichen) in der Anschauung vor sich hinstellen, und daß, so weit
er gegangen ist, alles richtig sei, versichert sein kann, ist es anders bewandt, als
mit dem Arbeiter im Fache der vornehmlich reinen Philosophie (Logik und Meta-
physik), der seinen Gegenstand in der Luft vor sich schwebend erhalten muß und
ihn nicht bloß theilweise, sondern jederzeit zugleich in einem Ganzen des Sy-
stems (der reinen Vernunft) sich darstellen und prüfen muß. Daher es eben nicht
zu verwundern ist, wenn ein Metaphysiker eher invalid wird, als der Studirende
in einem anderen Fache, ingleichen als Geschäftsphilosophen; indessen daß es
doch einige derer geben muß, die sich jenem ganz widmen, weil ohne Metaphysik
überhaupt es gar keine Philosophie geben könnte.20

Nicht unähnlich schreibt Holzhey mit Bezug auf Cohens Abschiedsvorlesung


1912 in Marburg: «Die Wehmut, das leise Schluchzen, als er geendet hatte,
deutete an, wie schwer es ist, authentisch Philosoph zu sein, ewig auf den
Messias zu warten».21
Was nun jedoch gerade diese Schwierigkeit des authentischen Philo-
sophierens betrifft, so setzen meines Erachtens Cohen und Holzhey den
Akzent ein wenig verschieden. Mit einigen Bemerkungen dazu möchte ich
schließen.
«Ewig auf den Messias warten»: Diese Wendung zeigt gut die Spannung
zwischen der Hoffnung («warten») und der unendlichen Unvollständigkeit
des Suchens («ewig») – oder, wenn wir die Ausdrücke benutzen wollen,
die Holzhey im Anschluss an Kant verwendet, zwischen dem «metaphysi-
schen Bedürfnis» und dem entsprechenden «Scheitern» seiner Befriedigung
durch Vernunft. Es handelt sich um zwei komplementäre und unverzichtbare

20 Immanuel Kant: Der Streit der Facultäten, AA 7, S. 113f.


21 Holzhey: Hermann Cohen: der Philosoph in Auseinandersetzung mit den politi-
schen und gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit, op. cit. S. 36.
A. Poma: Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit 233

Aspekte, aus denen sich sowohl bei Kant, als auch bei Cohen, und schließ-
lich bei Holzhey die Denkerfahrung zusammensetzt. Unterschiedlich blei-
ben jedoch ihre Ansätze, diese Elemente zu verbinden, ihre Proportionen
festzulegen und ihren Ton zu bestimmen. So behauptet Holzhey beispiels-
weise, dass der Philosoph der Hoffnung bedarf, ohne dass sie durch so ge-
nannte Fakten abgeschwächt werden dürfte; gleichzeitig erinnert er aber an
die Verpflichtung, diese Hoffnung auch zu begrenzen, damit sie nicht zur
Täuschung werde. So schreibt er etwa: «Bezeichnenderweise macht schon
der frühe Kant die Hoffnung dafür verantwortlich, daß sich die Waage der
Philosophie auf die Seite der Spekulation neige. Auch der Hoffnung müssen
also Grenze gesetzt werden».22 Sicherlich ist dies auch Cohens Meinung,
der aber immer wieder versucht, die «Zuversicht» als eine Notwendigkeit
zu erweisen. So schreibt er in der Ethik des reinen Willens:

Die Wahrhaftigkeit ist nicht nur ein ethischer Satz des Widerspruchs, der mich
vor der Unwahrhaftigkeit warnt; sondern sie ist in erster Linie die Kraft, welche
mein Handeln regsam und lebendig, freudig und getrost macht. Die Wahrhaftig-
keit ist die Kraft, welche die Sprache zum Bekenntnis erhebt; und das Bekenntnis
lässt die Einsicht zur Überzeugung erstarken. Das Bekenntnis ist die Huldigung,
welche der sittliche Geist dem Ideal darbringt.23

Hoffnung und Suche, kritische Kontrolle und Zuversicht sind also zwei ein-
ander ergänzende Elemente, die das authentische Philosophieren antreiben
und aufrecht halten. Das gilt sowohl für Cohen als auch für Holzhey. Trotz-
dem scheint mir, dass sie in Ton und Akzent verschieden nuancieren, was
in der Folge auch die verschiedene Haltung der beiden gegenüber der Reli-
gion erklären kann. Bei Cohen findet man einen ausgeprägten Optimismus
der Vernunft, den er mit der ausdrücklichen Anerkennung der Rationalität
des Gefühls und der Annahme des Affekts als einem Annex des Denkens
verbindet. Holzhey betont dagegen stärker die kritische Wachsamkeit der
Vernunft gegen Täuschungen und gegen alle Hirngespinste der Begierde
sowie gegen jede falsche Konzession an die Affekte. (Wozu ich ergänzen

22 Helmut Holzhey: Urteilskraft. Erwägungen zum Verhältnis von Vernunftkritik und


empirischer Psychologie, in Giudizio e Interpretazione in Kant. Atti del Convegno
Internazionale per il II Centenario della Critica del Giudizio di Immanuel Kant
(Macerata, 3-5 Ottobre 1990), hg. von G. Riconda, G. Ferretti, A. Poma (Genova:
Marietti, 1992) S. 113.
23 Cohen: Ethik des reinen Willens, op. cit. S. 522f.
234 Würdigung

möchte, dass eine solche Wachsamkeit gegenüber den negativen Affekten


sogar noch nötiger ist.)
Hier scheint mir ein Vergleich zweier Passagen von Holzhey aufschluss-
reich. Seine Vorlesung über die metaphysischen Probleme des Neukantia-
nismus anlässlich der Verleihung des Ehrendoktors der Universität Marburg
am 1. Oktober 2004 endet mit den Worten:

Ich schließe mit dem Zitat eines Zitats, in dem für mich die Seele der Marburger
Philosophie Hermann Cohens und Paul Natorps zur Sprache kommt. Es ent-
stammt Goethes Gedicht An Schwager Kronos und lautet: Nun schon wieder /
Den eratmenden Schritt. / Mühsam Berg hinauf. / Auf denn, nicht träge denn! /
Strebend und hoffend an. [Hamburger Ausg. I, 48].24

Ein Vierteljahr vorher, in seiner am 30. Juni 2004 in Zürich gehaltenen Ab-
schiedsvorlesung mit dem Titel Das Ende bedenken, schließt Holzhey je-
doch, der diesmal nicht von Cohen oder Natorp, sondern von sich selber
spricht, mit den Worten:

Existentiell wird man wohl immer mit der Angst vor dem Ende zu kämpfen
haben. Ich spreche mir und Ihnen Mut zu, indem ich den Satz zitiere, mit dem
Marc Aurel sein memento mori beschließt: «Dieses Winzige der Zeit naturgemäß
durchwandern und heiter enden, als fiele die Olive reif geworden herab, preisend
den Boden, der sie trug, und Dank wissend dem Baum, der sie wachsen ließ».25

Wie sollen wir diese Äußerung über sich selber verstehen? Bedeutet das
Marc Aurel-Zitat, wenn wir es mit dem von Cohen vergleichen, dass es in der
Philosophie Holzheys einen stoischen Zug gibt, eine «Trauer»26 des wahr-
haftigen und kritischen Philosophierens, die sich der (sonst so hartnäckig im
Alltag verteidigten) Zuversicht und Freude aus Cohen’scher Wahrhaftigkeit
gegenübersetzt? Die zukünftige Entwicklung im Denken Helmut Holzheys,
die Vertiefung seiner «Denkerfahrung» (die niemals von Lebenserfahrung
unabhängig sein wird, obwohl sie freilich nicht ihr unmittelbarer Ausdruck
sein kann oder soll) wird uns diese Frage beantworten müssen.

24 Helmut Holzhey: Das Rumoren metaphysischer Probleme im Marburger Neu-


kantianismus (Manuskript), S. 10.
25 Helmut Holzhey: Das Ende bedenken. Eine metaphysische Finissage im 200.
Todesjahr Kants (Manuskript), S. 10.
26 Vgl. Helmut Holzhey: Urteilskraft, op. cit. S. 116.
Studia philosophica 66/2007

Rezensionsabhandlung / Étude critique

M ARCELLO O STINELLI

Il senso della perplessità morale

Zu: Carla Bagnoli: Dilemmi morali


(Genova: De Ferrari, 2006)

La nostra esperienza ci pone spesso di fronte a difficili conflitti di valore.


Gli affetti privati reclamano una dedizione che potrebbe ostacolare l’assol-
vimento di taluni obblighi professionali. Coltivare un’amicizia può preclu-
dere il conseguimento di un risultato sportivo cui si assegna un significato
particolare. In certi momenti della vita ci si trova a dover scegliere tra valori
diversi, sapendo che optando per uno di essi saremo costretti a sacrificare gli
altri, una condizione che è illustrata in pagine famose della letteratura d’ogni
tempo: dalla scelta tragica cui è chiamato Agamennone che deve sacrificare
Ifigenia per assicurare il successo dell’esercito acheo; al conflitto interiore di
uno studente francese durante la seconda guerra mondiale diviso tra il dovere
civico di partire per l’Inghilterra per unirsi alle Forces Françaises Libres
nella lotta per liberare la patria dalle truppe naziste e il dovere filiale di restare
in Francia per prendersi cura della madre, descritto da Jean-Paul Sartre in una
pagina famosa de L’existentialisme est un humanisme.1 Il conflitto di valori
diventa un dilemma morale quando il soggetto si trova a dover scegliere tra
due obblighi morali incompatibili: deve fare A e deve fare B ma non può fare
l’uno e l’altro, perché fare B corrisponde a non fare A, oppure perché per
qualche ragione contingente non è possibile fare l’una e l’altra cosa.
Che cosa insegnano situazioni di questo tipo? La perplessità morale che
si prova in questi casi è un errore di valutazione oppure va interpretata come
un chiaro indizio che nella sfera dell’etica ogni teoria è destinata a rivelarsi
inadeguata proprio quando sarebbe importante averne una a cui affidarsi?

1 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme (Paris: Nagel, 1970)


pp. 39-43.
236 Rezensionsabhandlung / Étude critique

In effetti, la vita quotidiana ci pone di fronte sempre più frequentemente a


situazioni nelle quali non è sempre chiaro ciò che si deve fare a tal punto
che si potrebbe essere indotti a credere che qualunque cosa si scelga di fare
sembrerebbe sempre di sbagliare. In queste circostanze, la teoria etica ha un
compito da svolgere? Oppure dobbiamo pensare che il significato filosofico
della perplessità morale si debba cercare altrove? Che cos’è insomma un
dilemma morale?
Secondo una prima interpretazione, il dilemma morale è semplicemente
il risultato della difficoltà epistemica nella quale si trova il soggetto che non
sa propriamente che cosa deve fare. Il dilemma è tale perché il soggetto che
lo percepisce non dispone delle risorse cognitive e morali appropriate per
determinare quello che in situazioni del genere si deve fare. Si tratta di un’in-
capacità soggettiva di giudicare correttamente. La soluzione corretta esiste
ma il soggetto la ignora. Chi condivide questo punto di vista ritiene perciò
che non esistono dilemmi morali genuini.
Secondo gli scolastici occorre distinguere tra una perplexitas iuris ed una
perplexitas facti.2 Analogamente Tommaso distingue tra un dilemma simpli-
citer ed un dilemma secundum quid. Soltanto nel primo caso, qualora due
comandi morali si contraddicessero effettivamente, esisterebbe un dilemma
morale genuino; nel secondo caso il dilemma è soltanto apparente in quanto
è da ascrivere ad un precedente sbaglio morale del soggetto. Seconda la
teoria degli scolastici non esiste alcuna perplexitas iuris; la difficoltà in cui
si trova il soggetto morale è una perplexitas facti che non dipende da un’in-
sufficienza della teoria a prescrivere l’azione giusta ma dallo sbaglio morale
compiuto dal soggetto. Per evitare le situazioni difficili nelle quali talvolta
andiamo a cacciarci, basterebbe che fossimo più coerenti, più informati e più
virtuosi. La perplessità dipende unicamente da questi difetti logici, cognitivi
e morali del soggetto. Così, se qualcuno si è impegnato con due promesse in-
compatibili non c’è altro da fare che riconoscere il proprio sbaglio morale.
Una buona teoria etica è perciò tutto quanto di cui si deve disporre per
risolvere qualsiasi conflitto di doveri. Secondo questa concezione, l’esistenza
di una situazione in cui non si sa che cosa si deve fare e nella quale si è
indotti a credere che qualunque scelta facciamo sbagliamo decreterebbe il
fallimento della teoria etica. Così, tanto per Kant quanto per l’utilitarismo
non ci possono essere dilemmi morali autentici: in un caso come nell’altro
la teoria etica è in grado di decidere ciò che si deve fare.

2 Cfr. Artur Michael Landgraf: Der ‹casus perplexus› in der Frühscholastik, in


Collectanea Franciscana 29 (1959) pp. 74-86.
M. Ostinelli: Il senso della perplessità morale 237

Secondo Kant «non è concepibile alcuna collisione fra doveri e obbliga-


zioni». Se un dovere è un’azione necessaria, allora non è possibile che due
azioni contrapposte, una delle quali esclude l’altra, costituiscano entrambe
un dovere. Se di due azioni una soltanto è possibile mentre l’altra non lo è,
soltanto una delle due costituisce un dovere morale. Se non esiste un conflitto
reale di doveri, è tuttavia possibile che ci sia un conflitto tra ragioni obbli-
ganti (Gründe der Verbindlichkeit). In questo caso «una delle due ragioni non
è un dovere» e «il sopravvento non spetta tanto all’obbligazione più forte,
quanto piuttosto alla ragione obbligante più forte», vale a dire alla sola che
costituisce un dovere morale.3
Anche secondo l’utilitarismo, purché esso sia inteso come una teoria etica
monistica, non esistono dilemmi morali autentici. Se il principio di utilità
è quel criterio «con cui s’esige che siano in accordo tutte le altre regole di
condotta, e da cui tutte si possano dedurre come conseguenza ultima»,4 al-
lora ogni momentanea perplessità può essere risolta: fra due regole d’azione
che richiedono cose inconciliabili, si può invocare l’utilità «per decidere tra
l’una e l’altra».5
L’espressione più conseguente dell’idea che una buona teoria etica è in
grado di fugare qualsiasi perplessità morale si trova in Moral Thinking di
Richard M. Hare. Analogamente alla distinzione platonica tra «scienza» e
«retta opinione»,6 Hare distingue tra un livello critico, prioritario dal punto
di vista epistemologico, ed un livello intuitivo del pensiero morale, quello dei
principi prima facie. È a questo livello che un conflitto di doveri può sem-
brare insolubile. Non è difficile capire il perché. Solitamente le persone sono
state educate a dire la verità ed a mantenere la parola data. Nella situazioni
ordinarie della vita quotidiana entrambi questi obblighi devono essere rispet-
tati da chiunque. In particolari circostanze però potrebbe rivelarsi impossibile
fare entrambe le cose. Potrebbe darsi che se scegliessi di dire la verità non
potrei mantenere la parola data; e se scegliessi di mantenere una promessa

3 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, AA VI, p. 224 (Einleitung, IV), trad. it.
Metafisica dei costumi, a cura di Giuseppe Landolfi Petrone (Milano: Bompiani,
2006) p. 49.
4 John Stuart Mill: A System of Logic Ratiocinative and Inductive, cap. XII, § 7, trad.
it. Sistema di logica raziocinativa e induttiva (Roma: Ubaldini, 1968) pp. 941-942.
5 John Stuart Mill: Utilitarianism, cap. II, trad. it. Utilitarismo, in id.: La libertà.
L’utilitarismo. L’asservimento delle donne (Milano: RCS Libri, 1999) p. 268.
6 Platone: Menone, XL, 98b. Vedi al riguardo: Anton Hügli: Pflichtenkollision,
in Historisches Wörterbuch der Philosophie (Basel: Schwabe, 1989), vol. VII,
cc. 440-456, in particolare c. 440.
238 Rezensionsabhandlung / Étude critique

mi sarebbe preclusa la possibilità di dire la verità. Tuttavia, secondo Hare,


la risoluzione del dilemma esiste e la possiamo trovare se esaminassimo la
situazione al modo in cui apparirebbe ad un «prescrittore universale», per
il quale vale sempre e comunque la raccomandazione che un pastore dello
Yorkshire avrebbe scritto fuori dalla sua chiesa: «Se avete dei doveri contra-
stanti, uno di essi non è il vostro dovere».7 Quale dei due obblighi è quello
che nella circostanza deve essere adempiuto è il livello critico del pensiero
morale ad indicarlo.
Anche in questo caso la perplessità può essere fugata facendo ricorso
alla teoria. Se un filosofo è perplesso, vuol dire che la sua comprensione del
conflitto di doveri è rimasta superficiale: «Le diverse concezioni dei filosofi
morali nei riguardi del conflitto di doveri costituiscono un sintomo estrema-
mente chiaro del livello di comprensione e di penetrazione raggiunto dal
loro pensiero intorno alla moralità; forse è proprio nell’esame di ciò che
viene detto su questo argomento, che la superficialità si rivela nel modo più
immediato».8 Una teoria etica che ammetta al proprio interno degli obblighi
contraddittori è incoerente e incompleta e fallisce nel suo ruolo direttivo
della condotta. Il monismo sembra essere pertanto un requisito di una buona
teoria etica.
Malgrado il vantaggio che loro deriva dalla pretesa di ridurre qualsiasi
dilemma morale ad un conflitto apparente di doveri, le posizioni monistiche
(come quella utilitaristica di Hare) scontano però il difetto di fornire un
resoconto estremamente semplificato della nostra esperienza morale. Così
ritengono i critici del monismo etico. Più plausibile del monismo, sembra
essere il pluralismo, quanto meno perché sembra in grado di fornirci una
comprensione più articolata dell’esperienza quotidiana dell’esistenza di una
pluralità di valori tra i quali occorre scegliere quando sono in conflitto tra di
loro. Va detto però che il riconoscimento di un conflitto di valori non implica
necessariamente la conclusione che esistono dilemmi morali autentici. Al ri-
guardo l’argomento di Alan Donagan è convincente. Si consideri il conflitto
di doveri nel quale si trovasse qualcuno che di fronte a due vite in pericolo ne
potesse salvare una sola (supponendo che si tratti di una scelta perfettamente
simmetrica). Secondo Donagan la situazione non costituisce un dilemma mo-
rale: «Certamente non c’è nessun conflitto morale: dal fatto che ho il dovere

7 L’episodio è narrato da Richard Hare in Moral Thinking e gli sarebbe stato riferito
da Anthony Kenny.
8 Richard Hare: Moral Thinking (New York: Oxford University Press 1981) cap. II,
§ 1, trad. it. Il pensiero morale (Bologna: Il Mulino, 1989) p. 58.
M. Ostinelli: Il senso della perplessità morale 239

di salvare A o B, non segue che io abbia il dovere di salvare A e il dovere di


salvare B».9 Analogamente nel caso ipotetico proposta da Bernard Williams,
nel quale Jim è costretto a scegliere tra lasciare che accada che venti persone
innocenti vengano fucilate oppure essere l’autore dell’uccisione di una di
loro in cambio della vita salva di tutte le altre, si potrebbe obiettare contro
l’esistenza di un autentico dilemma morale, sostenendo che dal punto di vista
morale vada sempre considerato prioritariamente che «ognuno è responsa-
bile di ciò che egli stesso fa, piuttosto di quello che fanno gli altri».10 A Jim
si può chiedere di fare tutto quanto è in suo potere per evitare la fucilazione
di persone innocenti ma non lo si può costringere a venir meno all’obbligo
morale fondamentale di trattare qualunque persona sempre anche come un
fine in sé, ciò che nella fattispecie corrisponde al dovere di non usare la vita
di un innocente per salvare quella di altri diciannove.
In simili casi tragici andrebbe considerato però anche il sentimento di
inadeguatezza o di colpa di chi avendo salvato A non ha potuto salvare B
o di chi non essendo disposto a diventare il carnefice di un innocente ne ha
lasciato morire altri diciannove. Questa osservazione costituisce il punto
di partenza di una critica che Bernard Williams ha rivolto alle teorie etiche
che ritengono di poter liquidare il dilemma morale come un conflitto spurio
di doveri: «Mi sembra costituire una critica fondamentale per molte teorie
etiche l’osservazione che la loro spiegazione del conflitto morale e della sua
risoluzione non rende giustizia al fatto del rammarico e alle esperienze che
lo accompagnano: e ciò, fondamentalmente, perché quelle teorie eliminano
dalla scena il dovere che non si traduce in azione».11 Per queste teorie il
conflitto morale assomiglierebbe piuttosto ad un conflitto di credenze. In-
fatti l’idea che in un conflitto di obblighi sia possibile liquidarne uno perché
soltanto l’altro costituisce un dovere morale, secondo Williams sottinten-
derebbe una curiosa analogia tra obblighi e credenze: tanto della credenza
falsa quanto dell’obbligo apparente si richiede l’abbandono. Come nel caso

9 Alan Donagan: Consistency in Rationalist Moral Systems, in The Journal of


Philosophy 81 (1984) pp. 291-309, ristampato in Moral Dilemmas, ed. by Chris-
topher W. Gowans (New York: Oxford University Press, 1987) pp. 271-290, qui
pp. 286-287.
10 Bernard Williams: A Critique of Utilitarianism, in John J. C. Smart, id.: Utilitari-
anism: For and Against (Cambridge: Cambridge University Press, 1973), trad. it.
Utilitarismo: un confronto (Napoli: Bibliopolis, 1973), qui p. 124.
11 Bernard Williams: Ethical Consistency, in id.: Problems of the Self. Philosophical
Papers 1956-1972 (Cambridge: Cambridge University Press 1973) pp. 166-186,
trad. it. Problemi dell’io (Milano: Il Saggiatore 1990), qui p. 213.
240 Rezensionsabhandlung / Étude critique

del conflitto di credenze «si tratta solo di stabilire quale dei due asserti con-
flittuali indicanti un dovere sia quello vero, e poiché quegli asserti non pos-
sono essere entrambi veri, decidere correttamente per uno di essi non può
che voler dire sbarazzarsi dell’errore contenuto nell’altro».12 Invece i conflitti
di doveri non si possono evitare sistematicamente con una condotta accorta
(non sono tutti del genere che Tommaso definiva secundum quid ) e non si
possono risolvere senza residui (non possono essere dissolti come si trattasse
di una credenza falsa): «tenuto conto che la situazione è quella che è, io non
penso in termini di eliminazione dell’errore».13 Secondo Williams, il con-
flitto di doveri assomiglia per certi aspetti ad un conflitto di desideri: «porvi
termine giungendo a una decisione non significa necessariamente eliminare
una delle alternative in gioco; l’alternativa che in un conflitto morale non si è
tradotta in azione può persistere, per esempio, sotto forma di rammarico»,14
che è la sorte che solitamente tocca anche al desiderio che non è stato sod-
disfatto. Non vi è «errore nel pensare» se devo fare due cose incompatibili:
e anche quando scelgo di farne una, posso continuare a pensare che dovevo
fare anche l’altra, avendo «motivo di rammarico»; «e posso farlo perfino
una volta che abbia trovato una ragione morale per preferire di agire confor-
memente all’uno anziché all’altro»15 fino al punto che, sia che faccia l’una
oppure che faccia l’altra cosa, continuerò a sentirmi colpevole poiché in un
caso come nell’altro avrò fatto quella sbagliata.16
Per la verità non è affatto chiaro che cosa ciò possa voler dire; non pare
neppure che il solo sentimento di colpa possa costituire una prova sufficiente
per credere che fosse sbagliato compiere un’azione piuttosto che un’altra;17
né l’argomento del residuo emotivo (remainder) basta a dimostrare l’esi-
stenza di un dilemma morale. Se ci fosse un dilemma tra due obblighi morali
incompatibili avremmo ragione di provare questo residuo emotivo: il ram-
marico, il rincrescimento, il sentimento di colpa. Però l’esistenza di questo

12 Ibid. p. 213.
13 Ibid. p. 210.
14 Ibid. p. 217.
15 Ibid. p. 233.
16 Ruth B. Marcus: Moral Dilemmas and Consistency, in The Journal of Philosophy
77 (1980) pp. 121-136, ristampato in Moral Dilemmas, ed. by Christopher W.
Gowans (New York: Oxford University Press, 1987) pp. 189-204.
17 Philippa Foot: Moral Dilemmas Revisited, in Modality, Morality, and Belief, ed.
by Walter Sinnott-Armstrong (Cambridge: Cambridge University Press, 1995)
pp. 117-128, ristampato in Philippa Foot: Moral Dilemmas and Other Topics
(Oxford: Clarendon Press, 2002) pp. 175-188, qui pp. 184-185.
M. Ostinelli: Il senso della perplessità morale 241

sentimento non prova che il conflitto di obblighi fosse un dilemma morale.


Potremmo infatti sentirci colpevoli per uno sbaglio che però non abbiamo
realmente compiuto. Poiché i due doveri erano incompatibili ne abbiamo
compiuto uno solo, ma se fosse stato possibile avremmo adempiuto anche
l’altro. Ora, il fatto che abbiamo adempiuto soltanto il dovere tutto consi-
derato soverchiante non implica affatto che abbiamo sbagliato. Né il rin-
crescimento prova, da solo, che, qualunque cosa avessimo fatto, avremmo
sbagliato. Ciò che l’esperienza del rincrescimento è in grado di provare è sol-
tanto che l’obbligo che non abbiamo adempiuto non è stato completamente
cancellato dalla nostra coscienza. Non molto, per la verità.
C’è un altro modo di concepire il conflitto tra doveri? Che cosa ci insegna
l’esperienza della perplessità, cioè la difficoltà del soggetto di giudicare nella
sfera pratica, se decidiamo di prenderla sul serio? Sono questi gli interroga-
tivi che hanno spinto la filosofa italiana Carla Bagnoli a proporre una nuova
interpretazione di questa materia, diversa tanto da quella che considera il
dilemma morale come un mero errore soggettivo, quanto da quella che lo
considera un conflitto tra due doveri morali incompatibili e forse anche tra
valori incommensurabili.18
Bagnoli sostiene che l’elemento saliente del dilemma morale è proprio la
perplessità del soggetto: «l’agente che esperisce il dilemma è un agente per-
plesso che patisce l’arbitrarietà di tutte le alternative che gli si prospettano».19
È appunto lo stato di perplessità morale dell’agente che la teoria deve pren-
dere sul serio. Secondo l’autrice ciò che è rilevante per una teoria etica plau-
sibile non è la sua determinatezza normativa, vale a dire la sua capacità di
determinare l’azione che si deve fare, anche in una situazione di conflitto
di doveri; quanto piuttosto la sua adeguatezza descrittiva, vale a dire la sua
prossimità al punto di vista dell’agente, nella fattispecie la capacità di for-
nire un resoconto attendibile dell’atteggiamento con cui l’agente affronta
il conflitto e sopporta le conseguenze di una scelta arbitraria. Di fronte ad
un dilemma morale autentico, nessuna delle ragioni di cui l’agente dispone
giustifica una linea di condotta. Qualunque sia la scelta, essa si rivela arbi-
traria: «Dopo aver dato fondo a tutte le sue risorse deliberative, il soggetto

18 Carla Bagnoli: Dilemmi morali (Genova: De Ferrari, 2006). Di Carla Bagnoli


sullo stesso tema vedi inoltre: Il dilemma morale e i limiti della teoria etica
(Milano: LED, 2000); Breaking Ties: The Significance of Choice in Symmetrical
Moral Dilemmas, in Dialectica 60 (2006) pp. 157-169; Deliberare, comparare,
misurare, in Ragion Pratica 26 (2006) pp. 65-79.
19 Bagnoli: Dilemmi morali, op. cit. pp. 57-58.
242 Rezensionsabhandlung / Étude critique

morale conclude che nessuna delle ragioni per l’azione è determinante, cioè
predominante e non predominata da altre ragioni».20
Secondo questa interpretazione, è rilevante la comprensione degli at-
teggiamenti che consentono al soggetto morale di far fronte all’arbitrarietà
della scelta cui il dilemma lo ha costretto. Questi atteggiamenti costitui-
scono altrettante risorse emotive che consentono di ricostruire l’integrità
della persona. Si va dalla disperazione alla rabbia, dall’umiliazione al rin-
crescimento. «In condizioni dilemmatiche di scelta, gli atteggiamenti con
cui l’agente affronta il conflitto e sopporta le conseguenze della sua azione
arbitraria sono più espressivi e anzi costitutivi dell’integrità dell’agente che
non l’azione».21 Si tratta di «modalità autentiche di definizione del sé»,22
dopo che l’azione con cui abbiamo risposto al dilemma ci si è mostrata in
tutta la sua arbitrarietà. Per questa ragione, se nel dilemma morale la scelta
è per definizione arbitraria, «l’agente non può far altro che rincrescersi».23 In
questa situazione ci è offerta soltanto la possibilità di rispondere con un’emo-
zione appropriata ed è la capacità che la persona ha di dare questa risposta
emotiva che dovrà essere giudicata, vale a dire che va considerata la capacità
di fornire la risposta che in quella particolare situazione è «espressiva delle
persone che siamo».24 Bagnoli ritiene pertanto che l’interpretazione di questi
sentimenti morali che li associa principalmente alla «funzione auto-punitiva
e auto-sanzionatoria» dell’agente sia oltremodo riduttiva. Più che qualcosa
che riguarda il deficit della teoria o del soggetto, la perplessità morale e ciò
che emotivamente l’accompagna sono rilevanti per la comprensione di sé
dell’agente. Insomma, il dilemma, più che un problema epistemico, si rivela
un problema che riguarda l’integrità morale dell’agente. Secondo l’autrice
è proprio a questa peculiare fenomenologia della vita morale della persona
che la teoria etica deve rivolgere i suoi strumenti di analisi se vuole intendere
la rilevanza dei dilemmi.
Anche lo studio di Carla Bagnoli evidenzia l’importanza teorica della per-
plessità. Però, a confronto con le precedenti interpretazioni canoniche della
materia, non si rivolge alla perplessità per scoprire gli sbagli morali del sog-
getto o la sua limitata, superficiale capacità di valutazione; né vi ricorre per
concludere, come suggerì Bernard Williams, che ogni teoria etica è irrilevante

20 Ibid. p. 80.
21 Ibid. p. 95.
22 Ibid. p. 96.
23 Ibid. p. 96.
24 Ibid. p. 149.
M. Ostinelli: Il senso della perplessità morale 243

dal punto di vista pratico. Bagnoli la ritiene una via di accesso privilegiata alla
comprensione della fenomenologia dell’esperienza morale. La teoria etica
ne trae degli insegnamenti ma indirettamente, perché quel che conta è che il
dilemma «è un problema per noi agenti».25 Da questo punto di vista i guada-
gni per la comprensione del processo di deliberazione sono importanti, so-
prattutto in relazione alla precisazione dell’idea di integrità della persona.
Ci sono però almeno due punti di insoddisfazione. Anzitutto non è affatto
detto che questa fenomenologia dell’esperienza soggettiva, che ruota attorno
alla ricostruzione del processo di deliberazione ed in particolare al ruolo che
in essa svolgono alcune caratteristiche reazioni emotive, sia specifica delle
situazioni che si ascrivono normalmente ad un dilemma morale. Si può pro-
vare rincrescimento anche in un conflitto pratico, cioè quando in questione
non vi sono doveri morali.
D’altra parte si è tentati di usare nei confronti di Bagnoli la stessa obie-
zione che Philippa Foot usò contro Bernard Williams e Susan Marcus. Per
quanto importante e significativa sia l’esperienza personale dei residui emo-
tivi, essa non basta a provare che il conflitto esperito fosse un autentico di-
lemma morale. Credo che anche per Bagnoli sia evidente che l’esperienza
della perplessità e delle sue conseguenze emotive non consenta alcuna conclu-
sione sull’esistenza di dilemmi morali: «chiedersi se vi siano dilemmi morali
non è come chiedersi se vi siano unicorni. La definizione di unicorno non è
materia di discussione e la questione se ve ne siano può essere determinata
attraverso un’indagine empirica. Non così per il dilemma»,26 scrive nell’in-
cipit. Certo, se si ritiene che qualsiasi conflitto pratico costituisca un dilemma
morale, allora gli argomenti di Bagnoli potrebbero risultare non soltanto ri-
levanti ma perfino decisivi nella disputa secolare sulla materia. È però discuti-
bile che la sfera di pertinenza della teoria etica coincida con quella di qualsiasi
questione pratica rilevante. Poiché al riguardo Bagnoli non fornisce ragioni
convincenti per giustificare una tale estensione della teoria, sembra preferi-
bile mantenere di essa quella invalsa in gran parte della comunità filosofica,
che delimita strettamente la moralità rispetto ad altri ambiti della vita.
Insomma questa nuova e originale ricerca sui dilemmi morali è un testo
filosofico avvincente che offre una raffinata interpretazione di una delle più
difficili esperienze della nostra vita morale. Che però la sua sofisticata argo-
mentazione sia in grado di scalzare definitivamente le interpretazioni rivali
dei dilemmi morali mi pare che non si possa affermare.

25 Ibid. p. 57.
26 Ibid. p. 7.
Studia philosophica 66/2007

Buchbesprechungen / Comptes rendus

Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einer begrenzten


Welt, hg. vom Deutschen Studienpreis (Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften,
2007) 255 S.
Wie lassen sich die sozioökonomischen und ökologischen Schwierigkeiten einer
sich rasant entwickelnden und zunehmend globalisierten Gemeinschaft in den Griff
kriegen? Bietet das viel beschworene Wachstum tatsächlich eine realistische Lösung
dieser Probleme? Das Thema, dem sich dieser Sammelband widmet, ist aktuell und
politisch brisant. Wie vielschichtig und komplex die Problemlage ist, wird in der
Einleitung Entgrenzte Welt – Begrenztes Denken? des Stuttgarter Umweltsoziologen
Ortwin Renn klar. Anhand einer exemplarischen Darstellung von sieben «Makro-
trends der globalen Entwicklung» – die Phänomene wie die Überbevölkerung und
den Klimawandel bis zur Identitätskrise vieler Menschen in einer säkularisierten und
globalisierten Welt umfassen – zeigt Renn pointiert die Herausforderungen der Gegen-
wart auf. Der Aktualität und Komplexität dieses Problems ist es wohl auch geschuldet,
dass die Körber-Stiftung im Jahr 2006 den seit 1996 existierenden Deutschen Studien-
preis zu dieser Frage ausgeschrieben hat. Jungen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern, die «Lösungswege jenseits der ausgetretenen Wege der wissenschaftlichen
und politischen Diskussion» (S. 9) einschlagen und ein Problem aus unterschied-
lichen fachlichen Perspektiven beleuchten, traut man wohl am ehesten zu, dass sie
eine Antwort auf ein Problem finden, an dem traditionelle Theorien scheitern.
Wie jedoch deutlich wird, haben auch die die elf Preisträgerinnen und Preisträger
des Deutschen Studienpreises, deren Vorschläge in diesem Band versammelt sind,
keine einfache Lösung zu bieten. Dies nicht aus mangelnder Phantasie, sondern mit
guten Gründen: Ihre Analysen zeigen, dass es hier keine einfache Antwort geben
kann und dass das oft angepriesene Wirtschaftswachstum alleine nicht weiterhilft.
Das ergibt sich besonders eindrucksvoll aus dem zweiten Teil des Bandes «Wachstum
und Beschäftigung», in dem vier ökonomisch ausgerichtete Beiträge «den Zusam-
menhang zwischen wirtschaftlicher Dynamik und Arbeitsmarkt» (S. 10) analysieren.
Das Autoren-Quartett von Stefanie Ebbers, Johannes Heskamp, Markus Kuppe und
Hendrik Schulze Nünning stellt in seinem Aufsatz Beschäftigungsschwellen, Wachs-
tum und Wirtschaftspolitik fest, dass in Deutschland das Wirtschaftswachstum relativ
stark ansteigen muss, damit sich dies auch in einer Erhöhung der Beschäftigtenzahlen
auswirkt. Aus diesem Grund plädieren die Autoren für verstärkte bildungspolitische
Maßnahmen, da Wissen der wichtigste Rohstoff Deutschlands sei (S. 58) und weil
dadurch die Innovation und damit die Wirtschaft insgesamt gestärkt würde (S. 155).
Eine Förderung der Bildung neben einer Familienpolitik, die Anreize für Kinder
bietet, und eine arbeitsmarktorientierte Einwanderungspolitik hält auch Tobias Keil
246 Buchbesprechungen

für unabdingbar (S. 134), nachdem er in seinem Beitrag Der demografische Wan-
del als Grenze des Wirtschaftswachstums? untersucht hat, wie der demografische
Wandel (d. h. der Umstand, dass es immer weniger Kinder gibt und die Menschen
immer älter werden) das Wirtschaftswachstum bremsen kann. Dass Bildung alleine
jedoch auch nicht alle wirtschaftlichen Probleme löst, stellt Oliver Nikutoski heraus,
der in seinem Aufsatz Technologischer Fortschritt, die Signalwirkung von Bildungs-
abschlüssen und die Dynamik der Lohnstruktur zu erklären versucht, warum mit
der steigenden Anzahl von Akademikern auch die Löhne immer weiter auseinander
gehen, und schlecht qualifizierte Arbeitnehmer Einkommen einbüßen müssen. In
diesen Beiträgen wird deutlich, dass das Wachstum das Problem der Arbeitslosigkeit
nur begrenzt löst und durch den demografischen Wandel bedroht ist. Eine höhere
Bildung allerdings, die das Wachstum hinreichend antreiben könnte, zieht eine Ver-
schärfung sozialer Ungleichheit mit sich. Dem versucht Tobias Lorenz zu begegnen,
indem er ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle fordert. Das sei nicht nur
aus sozialen Erwägungen die beste Lösung, sondern dem Wachstum selbst förder-
lich. Denn, so lautet Lorenz’ konsequenzialistische Argumentation, Wachstum bedarf
der Innovation, Innovation der Kreativität und Kreativität gibt es vermehrt dort, wo
Menschen Risiken eingehen können. Den Rahmen für solche kreativitätsfördernden
Risiken wiederum könnte man durch ein bedingungsloses Grundeinkommen gewähr-
leisten (S. 184). Auch wenn Tobias Lorenz ein Computerprogramm entwickelt hat,
mit dessen Hilfe sich das Steuerwesen einer Gesellschaft, die ein Grundeinkommen
auszahlt, simulieren lässt, sagt er leider nichts darüber, wie sich die Einführung eines
Grundeinkommens auf die Steuerbelastung auswirkte.
Indem man in die Bildung investiert und ein Grundeinkommen auszahlt, könnte
man das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Aber wo gibt es konkrete Wachstumspoten-
ziale? Dieser Frage nehmen sich die drei Beiträge des letzten Teils «Wachstum und
Märkte» an, die mit jeweils unterschiedlichen Ideen für wachstumsfähige Produkte
aufwarten. Elena Kikina führt in ihrem Beitrag «Schnittstelle» ihre Modekollektion
vor, die mit besonders schlichten Schnittmustern den Stoffaufwand zu reduzieren
versucht. Dadurch wird sowohl Material als auch Arbeitszeit eingespart. Eine andere
Wachstumsmöglichkeit sieht Till Hardy im deutschen Film. Wie er in seinem Auf-
satz Neuer deutscher Film, die Zweite: Wachstum durch Mikro-Budget-Produktionen
zeigt, können durch digitale Kamera- und Schnitttechniken Kinofilme wesentlich ein-
facher und billiger produziert und vertrieben werden. Das erlaubt eine größere Vielfalt
kleiner Kinoproduktionen. Auch der Handel mit dem Recht auf Emissionen könnte in
einer Zeit, in der Klimaschutz in aller Munde ist, wachsen. Dies aber, so argumentiert
Pieter De Vos in seinem Aufsatz Auswirkungen des europäischen Emissionsrecht-
handels auf den Strommarkt und wachstumsfreundliche Alternativen minutiös, liefe
den klimafreundlichen Absichten zuwider. Als viel effizientere Methode zur Senkung
des CO2-Austoßes erweise sich die Einführung von Öko-Steuern (S. 230).
Die Beiträge der letzten beiden Teile skizzieren Möglichkeiten, wie das Wirt-
schaftswachstum gefördert werden kann. Dabei gehen die Autorinnen und Autoren
stets davon aus, dass Wachstum ein Ausweg und damit erstrebenswert ist. Ob Wachs-
tum tatsächlich das Heilmittel unserer gesellschaftlichen Probleme sein kann, wird in
den vier Beiträgen des ersten Teils «Wachstum und Gesellschaft» kritisch untersucht.
Comptes rendus 247

Dass das Wachstum zumindest für das Glücksempfinden der Einzelnen eine eher un-
tergeordnete Rolle spielt, zeigt Peter Schwarz in seinem Beitrag Wie bedeutend sind
relative Präferenzen für die Lebenszufriedenheit? anhand einer Analyse des Wohl-
befindens von Bürgern aus West- und Ostdeutschland. Sein Ergebnis lautet: «Rela-
tive Präferenzen üben einen stärkeren Effekt auf die Realisierung der Lebensvor-
stellungen aus als bspw. ein hohes Einkommen.» (S. 110) Für das Glücksempfinden
scheint es also wichtiger zu sein, dass man gegenüber anderen eine bessere Position
einnimmt, als dass man mehr Geld verdient. Nicht aus ökonomischer, sondern aus
philosophischer Perspektive untersuchen Marius Christen und Emilio Marti das Phä-
nomen des Wachstums, weshalb ich auf diesen Beitrag etwas ausführlicher eingehe.
Ihrem Essay liegt die Unterscheidung zwischen der Wachstumsart, die sich noch-
mals in qualitatives und quantitatives Wachstum unterteilt, und einem dazu gehörigen
Wachstumsbewusstsein zugrunde. Die beiden Philosophen argumentieren dafür, dass
Wachstumsart und Wachstumsbewusstsein in einem systematischen Zusammenhang
stehen und «dass sich qualitatives Wachstum ohne Einbezug des Wachstumsbewusst-
seins weder vollständig begründen noch vermehrt verwirklichen lässt» (S. 44). Den
verschiedenen Wachstumsarten entsprechen je unterschiedliche Formen des Wachs-
tumsbewusstseins. Dem quantitativen Wachstum entspricht das richtungsorientierte,
dem qualitativen das zielorientierte Wachstumsbewusstsein. Wachstum alleine für
unsere Lebensqualität verantwortlich zu machen, halten Christen und Marti für ver-
kürzt: Ebenfalls wichtig für unsere Lebensqualität, so argumentieren die Autoren
mit Aristoteles, seien unsere Verhaltensdispositionen, die von unserem Wachstums-
bewusstsein abhängen (S. 45). Wer ein richtungsorientiertes Wachstumsbewusstsein
habe, der gehe z. B. davon aus, dass es ein grenzenloses Wachstum geben könnte,
und gibt somit seiner Disposition zur Unersättlichkeit nach (S. 56). Eine Anhängerin
des zielorientierten Wachstumsbewusstseins allerdings sehe ein, dass Wachstum ein
natürliches Ziel oder telos habe, weshalb die Disposition zur Genügsamkeit geför-
dert würde (S. 59). Nicht ganz klar ist hier der Status dieser Thesen – und das ist
eine Unklarheit, die den ganzen Aufsatz Wachstumsart und Wachstumsbewusstsein
durchzieht. Ist die Aussage, dass ein zielorientiertes Wachstumsbewusstsein zur Ge-
nügsamkeit führt, sozial-psychologisch zu verstehen, in dem Sinne, dass sie durch
empirische Ergebnisse widerlegt werden könnte, oder handelt es sich hier vielmehr
um eine begriffliche Aussage, wonach der Begriff des zielorientierten Wachstumsbe-
wusstseins gleichsam analytisch mit dem der Disposition zur Genügsamkeit verbun-
den ist? Für das erste Verständnis spricht, dass die Autoren aus ihren Überlegungen
konkrete Maßnahmen zur Förderung des zielorientierten Wachstumsbewusstseins
vorschlagen, um ein qualitatives Wachstum herbeizuführen (S. 60f.). Für die zweite
Lesart spricht, dass sich Christen und Marti darum bemühen, die unterschiedlichen
Formen des Wachstumsbewusstseins rein begrifflich oder phänomenologisch aus den
beiden Wachstumsarten zu deduzieren (S. 51-53; 57-59). Die Unklarheit des Status
von Christens und Martis Aussagen zeigt sich auch in der Formulierung ihrer These,
in der sie betonen, dass es ihnen sowohl um die Begründung (logisch) als auch um die
Verwirklichung (kausal) des qualitativen Wachstums ginge, und zu ihrer Erhärtung
immer wieder auf die historische Entwicklung des Wachstumsbewusstseins einge-
hen. In diesen Passagen wird deutlich, dass der Zusammenhang zwischen Wachs-
248 Buchbesprechungen

tumsart und Wachstumsbewusstsein als ein empirischer zu verstehen ist. Durch die
nachträgliche «Deduktion» des Wachstumsbewussteins von der Wachstumsart wird
dieser Umstand jedoch verwischt. Christen und Marti vertreten eigentlich empirische
Thesen, belegen diese aber weniger mit empirischen Studien als mit einer phänome-
nologischen Betrachtung des ‹Wachstums›. Ist dieses Vorgehen auch etwas zweifel-
haft, so machen die Autoren doch deutlich, dass man sich nicht unabhängig von einer
gewissen Beschreibung auf Phänomene beziehen kann und demnach auch das Wachs-
tum wesentlich von dem beeinflusst wird, was wir unter Wachstum verstehen. Dieser
sich hier abzeichnenden konstruktiven Macht der Sprache geht auch Philipp Krohn
in seinem Beitrag Ausweg Wachstum? Sprache in einer begrenzten Welt nach, wenn
er untersucht, wie unser Denken und Reden über ökonomische Phänomene durch die
Organismus-Metapher strukturiert wird. Würden wir uns eine Wirtschaft nicht als
lebendigen Körper denken, könnten wir nicht in aller Selbstverständlichkeit davon
sprechen, dass sich eine kranke Wirtschaft von einem Börsencrash erholen müsse.
Eben diese Macht der Sprache möchte auch Uta Hanft in ihrem Aufsatz Hauptsache
Freie Zeit! ausnutzen, wenn sie vorschlägt, die Arbeitslosen Versicherung durch eine
Freie Zeitversicherung zu ersetzen, die Nicht-Erwerbstätige von ihrer sozialen Stig-
matisierung befreit. Wenn man freie Zeit als wertvolle Ressource erkennt, dann sähen
sich Erwerbslose weniger als Opfer, sondern eher als Privilegierte, die sich «Freie
Zeit zum Lernen und Leben» (S. 83) gönnen. Damit steigt die Stimmung, mit der
Stimmung die Innovation und damit letztlich auch wieder das Wirtschaftswachstum.
Wenn Hanft am Ende ihres Beitrages «selbst Vollbeschäftigung nicht mehr abwegig
erscheint» (S. 90), wird man ob all dem Enthusiasmus und der Einfachheit der Lösung
etwas skeptisch und fragt sich, ob die Diagnose, die am Anfang ihrer Untersuchung
stand, stichhaltig ist. Ist es tatsächlich so, dass wir nicht kündigen können, ohne einen
Arbeitsplatz in Aussicht zu haben, «weil es für diese Art der Kündigung […] im
Grunde gar keine Umgangssprache gibt» (S. 79f.)? Sicher spielen dabei auch soziale
Zwänge eine große Rolle, die sich mit anderen Sprechweisen alleine nicht einfach
auflösen lassen wie sich philosophische Probleme nach Wittgenstein auflösen lassen.
Deshalb sind die sozio-ökonomischen Probleme unserer Zeit wohl auch keine genuin
philosophischen Probleme. Wie auch die in diesem Band versammelten Beiträge
nicht genuin philosophisch sind. Vielleicht sind sie aber gerade deshalb voller guter,
positiver Ratschläge, wie diese Probleme angegangen werden können.

Stephan Schmid (Berlin)

Harry Lehmann : Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann
(München: Wilhelm Fink, 2006) 393 S., 13 Abb.
Gut zehn Jahre nach Luhmanns Monographie Die Kunst der Gesellschaft er-
scheint mit Harry Lehmanns virtuos gebauter und streng durchdachter Dissertation
Die flüchtige Wahrheit der Kunst die erste große philosophische Auseinandersetzung
mit diesem Werk. Lehmann gibt sich hier nicht nur als scharfsinniger, sondern auch
als eigenständiger Denker zu erkennen. Der Untertitel Ästhetik nach Luhmann ist
ebenso sehr zu lesen als Fortführung des philosophischen Ästhetikdiskurses nach
Comptes rendus 249

Luhmanns provokativen Aufmischungen wie Ästhetik gemäß Luhmann. Lehmann ar-


gumentiert mit Luhmann gegen Luhmann.
Niklas Luhmann ehrgeiziges Projekt einer universalen Gesellschaftstheorie kann
ihrem Anspruch nur dadurch gerecht werden, dass sie so unterschiedliche Systeme
wie z. B. Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und Liebe mit Hilfe einer allgemei-
nen Theorie sozialer Systeme beschreibt. In einer langen Reihe von gesellschaftlichen
Subsystemen, die einer systemtheoretischen Analyse unterzogen worden sind, hat
mit dem 1995 veröffentlichten Werk Die Kunst der Gesellschaft auch das System
der Kunst seinen Platz gefunden. Die Stärke der Systemtheorie liegt wohl gerade in
ihrem universellen Anspruch, darin also, dass sie unterschiedlichste soziale Systeme
vergleichbar macht und gleichzeitig die jeweilige Eigenart zu bewahren sucht. Die-
ser Spagat zwischen Einordnung in ein übergeordnetes Ganzes und Bewahrung der
Spezifizität kann dabei mehr oder weniger gelingen.
Die ausgezeichnete Stellung des Kunstsystems für die Gesellschaft, und damit
zusammenhängend: die hohe Bedeutung von Luhmanns Kunstbuch für seine Gesell-
schaftstheorie ist unbestritten. Die Kunst der Gesellschaft, so bemerkte bereits Fried-
rich Balke, ist ein Buch, das – anders als die übrigen Teilsystembeschreibungen, die
Luhmann vorgelegt hat – durchaus doppelsinnig verstanden werden will. Gemeint ist
nicht nur die Kunst der Gesellschaft als abgrenzbares, nach eigener Logik funktionie-
rendes Teilsystem, sondern auch die Kunst, mit der sich die Gesellschaft insgesamt
unter den extrem ‹unwahrscheinlichen› Bedingungen der Moderne laufend reprodu-
ziert. Im Verhältnis zu anderen Teilsystemen und zur Gesellschaft insgesamt kommt
der Kunst das Privileg zu, den «Möglichkeitssinn», der auch sonst schon überall
institutionalisiert ist, ungehemmter und systematischer zum Zuge zu bringen (vgl.
Friedrich Balke: Dichter, Denker und Niklas Luhmann. Über den Sinnzwang in der
Systemtheorie, in Widerstände der Systemtheorie: Kulturtheoretische Analysen zum
Werk von Niklas Luhmann, hg. von Albrecht Koschorke, Cornelia Vismann [Berlin:
Akademie, 1999] S. 148f.).
In keinem anderen Funktionssystem der Gesellschaft ist die Emanzipation der
Kontingenz so weit fortgeschritten wie im Kunstsystem. Kontingenz ist aber nicht
etwas, das von der Kunst gemacht wird, etwas, das es ohne sie nicht gäbe. Kontingenz
ist eine gesellschaftliche Tatsache, sie ist eine notwendige Begleiterscheinung funk-
tionaler Differenzierung. Die Kunst ist insofern ein Modell der Gesellschaft in der
Gesellschaft, ja schlechthin «das Paradigma der modernen Gesellschaft» (Luhmann),
als die Kontingenz hier zu ihrem Recht kommt und nicht als etwas zu Vermeidendes,
als etwas Minderwertiges angesehen wird. In der Kunst emanzipiert sich die Kon-
tingenz. Kontingenz ist ein genuin gesellschaftliches Faktum, und das Kunstsystem
zeigt, wie mit ihr umgegangen werden kann.
Man gewinnt bei der Lektüre der Kunst der Gesellschaft den Eindruck, als ob
das Kunstsystem die Aufgabe übernommen hätte, Luhmanns systemtheoretisches
Verständnis von Gesellschaft zu exemplifizieren. Denn Kunstwerke lösen – unter er-
schwerten Bedingungen, da sie nicht über äußere Zwecke verfügen – jene Probleme,
welche die von der Systemtheorie beobachtete Gesellschaft ebenfalls zu lösen hat:
Wie kann Ordnung geschaffen werden, wenn keine letzten gemeinsamen, weder
vernunftrechtliche noch metaphysische, Grundlagen bestehen?
250 Buchbesprechungen

Die der Kunst von Luhmann zugewiesene Funktion, d. h. das Problem, welches
das Kunstsystem für die Gesellschaft löst, ist ein zumindest teilweise von Luhmann
selbst geschaffenes Problem. Die Funktion der Kontingenzbewältigung wird dazu
benötigt und eingesetzt, eine drängende Aufgabe nicht nur der Gesellschaft, sondern
vor allem der Luhmann’schen Theorie der Gesellschaft zu lösen. Harry Lehmanns
hier anzuzeigende Studie Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann
kritisiert zu Recht diese Funktionsbestimmung der Kunst und zielt so geradezu ins
Herz der Systemtheorie. Lehmann sieht darin eine «Fremdbestimmung der Kunst
[…] durch Systemtheorie». «Die Zuschreibung der gesellschaftlichen Funktion», so
seine Kritik, «erweist sich als eine Funktionalisierung der Kunst» (S. 21), weil die
Funktion des Kunstsystems als Vermittlung eines propositionalen Wissens bzw. einer
einfachen Aussagewahrheit gedacht wird. Wenn dieses Wissen aber einmal vermittelt
ist – so die Überlegung des Autors – dann läßt sich der Sinn neuer Kunst überhaupt
nicht mehr legitimieren, sie verlöre schlichtweg ihre gesellschaftliche Funktion. Des-
halb versucht Lehmann zunächst einmal, die in der Kunst der Gesellschaft formulierte
Funktionsbestimmung in ihrer Wahrheit und in ihrem Schein verständlich zu machen.
Was Luhmanns Kunstfunktion eigentlich besagt, legt Lehmann in den folgenden Aus-
führungen dar, denen der Rezensent auf ganzer Linie zustimmen kann:

Die abstrakte Formel von der Ordnungsfähigkeit des Möglichen […] lässt sich
[…] als untergründige Polemik der Systemtheorie gegen die derzeit herrschende
Selbstbeschreibung der Gesellschaft verstehen, mit der sie konkurriert – der Post-
moderne. […] Der Verzicht auf Autorität und Repräsentation ist ein Topos der
Postmoderne; ihr immer augenscheinlicher gewordenes Defizit besteht darin,
dass sie die Negation der traditionellen Ordnungsmuster positiv lediglich als
Weltanschauung der Pluralität, Ambiguität und Unentscheidbarkeit artikulieren
kann. Diese Position der sprichwörtlich gewordenen Beliebigkeit haben dann
«Traditionalisten» im Blick und setzen wegen der praktisch schwer akzeptier-
baren Konsequenzen eines solchen generalisieren «Ordnungsverzichts» erneut
auf autoritäre und repräsentationale Orientierungsformen.
Luhmanns Gesellschaftstheorie zielt, nachdem sie mit der Postmoderne das Zer-
brechen der alten Ordnung konstatiert, auf das neue Problem, das hieraus ent-
steht: «sich überhaupt an Möglichkeiten zu orientieren». Das erkenntnistheore-
tische Programm des Konstruktivismus, auf das Luhmann dabei zurückgreift,
wird zum Nachfolgeprogramm der Postmoderne, welche dieses Orientierungs-
problem überhaupt nicht sieht. […] Unverkennbar wird das Kunstwerk nach
Luhmanns Funktionsbestimmung zu einem zweiseitigen Sinnbild – zum Bild
seiner systemtheoretischen Gesellschaftsbeschreibung auf der einen und zum
Gegenbild der Postmoderne auf der anderen Seite. (S. 26ff.)

Lehmann entwickelt im Anschluss an seine Kritik an der Luhmann’schen Funktions-


bestimmung von Kunst eine eigenständige ästhetische Position, indem er «mit der
Systemtheorie gegen die Systemtheorie denkt» (S. 9). Seine Leitfrage zielt auf den
Wahrheitsgehalt von Kunst ab und lautet, «wie diese ästhetische Wahrheit zu denken
sei, wenn die moderne Gesellschaft im großen und ganzen so funktioniert, wie sie
Comptes rendus 251

Luhmanns Systemtheorie beschreibt» (S. 330). Gegen Lehmanns Projekt spricht, wie
er selber ausdrücklich betont, dass es im Verständnis der systemtheoretischen Ge-
sellschaftstheorie zur funktionalen Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Kunst
gekommen ist und somit Wahrheit im engeren Sinn nur noch der Wissenschaft,
nicht aber der Kunst zugesprochen werden kann. Die Wahrheit der Kunst muss ent-
sprechend als eine nichtpropositionale Wahrheit gedacht werden.
Lehmann entwickelt, da laut ihm Luhmann die funktionale Bestimmung der Kunst
nicht überzeugend gelingt, einen Gegenvorschlag zur Funktion der Kunst: «Kunst
findet ihren sozialen Sinn […] in der Provokation neuer gesellschaftlicher Selbst-
beschreibungen und wendet sich damit auch kritisch gegen das Bild, dass sich die Gesell-
schaft bislang von sich selbst machte und an dem sie sich aktuell orientiert» (S. 10).
Weit über Luhmann hinausgehend sieht der Autor das Bezugsproblem der Kunst
in der mangelnden Resonanzfähigkeit der modernen Gesellschaft. Die allgemeine
gesellschaftliche Funktion, welche die Kunst mit der Philosophie und der Religion
teilt, ist Problemfindung. Die spezifische «Funktion der Kunst wäre es dann, die Welt,
wie sie geworden ist, wie sie in ihrem aktuellen Problemhorizont von den verfügbaren
Selbstbeschreibungsmustern der Massenmedien überhaupt noch nicht erfasst werden
kann, in eben dieser Welt der öffentlichen Meinung erscheinen zu lassen» (S. 80f.).
Ausgehend von dieser Revision des kunstsystemischen Funktionsbegriffs nimmt
Lehmann weit reichende Umstrukturierungen der Luhmann’schen Systemtheorie in
Angriff. Mit guten Argumenten fasst er Kunst, Liebe, Religion und Philosophie in der
von ihm so benannten Kategorie der «Humanmedien» zusammen, deren Kommuni-
kation nicht mit einem re-entry – so die weitreichende These –, sondern mit einem
re-exit codiert sei. Dieser mutige Eingriff verändert in maßgebender Weise das Bild,
das Luhmann von der modernen Gesellschaft zeichnet und bezieht seine Plausibilität
aus einer werkgenetischen Beobachtung: Luhmann, so die vertretene These, habe
seine systemtheoretischen Grundbegriffe primär in Bezug zum Rechts-, Wirtschafts-,
Wissenschafts- und Politiksystem definiert und seine Thematisierung des Religions-,
Intim- und Kunstsystems ermangle deshalb nicht selten der Plausibilität, weil die
spätere Übertragung der einmal gewonnen Grundbegriffe problematisch sei.
Die Einschreibung der postulierten Humanmedien in Luhmanns Gesellschafts-
theorie führt zu einer Modifikation der Sinnkategorie und verändert von da aus nach-
haltig das Kategoriengefüge der Systemtheorie. Denn letztlich, so die Begründung
für diese tief greifende Korrektur,

schließt es die Systemtheorie deswegen kategorisch aus, Wahrheit anders denn als
wissenschaftliche Wahrheit zu verstehen, weil ihr dies bereits in ihrer Kategorie
des Sinns eingeschrieben ist. Läuft die Sinnverarbeitung in der modernen Gesell-
schaft aber zweigleisig, dann muss auch der Sinnbegriff als der eigentliche Letzt-
begriff der Systemtheorie in sich unterschieden werden. Wo es emphatischen
Sinn gibt, verdoppeln sich alle wesentlichen Grundbegriffe der Systemtheorie:
Es gibt nicht nur die realisierbare, sondern auch die erst zu erschließende unmög-
liche Möglichkeit […], auf diese Un-Möglichkeit richtet sich nicht die normale
Beobachtung des unterscheidenden Bezeichnens, sondern ein interpretatives Be-
obachten (S. 290f.).
252 Buchbesprechungen

Dieses Zitat macht eindrücklich greifbar, mit welcher Virtuosität und Kreativität
sich der Autor die Systemtheorie zu Eigen macht. Lehmanns Eingriffe in Luhmanns
Soziologie sind letztlich Ausdruck eines Interesses am Geiste von Adornos Kritischer
Theorie, deren zentrale Motive hier der Luhmann’schen Kunstsoziologie eingeschrie-
ben werden. Obwohl der Autor sich und seinen Lesern solch radikale Eingriffe in
die Architektur einer Theorie zumutet, die als solche schon in ihren verschiedenen
komplexen Begriffsfeldern denkerisch nur mit großer Ausdauer und Mühe zu bewäl-
tigen ist, bleiben seine Ausführungen nicht in der Luft hängen. Dieses Verdienst ist
in erster Linie auf Lehmanns sorgfältige und auf genauen Beobachtungen basierende
Diskussionen von einzelnen Kunstwerken zurückzuführen. Es gelingt dem Autor
dabei, seine abstrakten Ausführungen anschaulich werden zu lassen. Die Stärke und
Griffigkeit seiner Theorie wird gerade in ihrer Anwendung an einem Beispiel am
offensichtlichsten, welches Luhmann selbst auch schon analysiert hat: An Frederick
D. Bunsens Kabelkalb.
Wer an einer engagierten Vermittlung zwischen Systemtheorie und Kritischer
Theorie, an einer produktiven Um- und Weiterschreibung der Luhmann’schen Kunst-
theorie interessiert ist, wird diese weit reichende philosophische Studie mit großem
Gewinn lesen.

Markus Koller (Zürich)

Dominik Perler : Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter


(Frankfurt a. M.: Klostermann, 2006) [Philosophische Abhandlungen 92] XII, 443 S.
Seit die neuzeitliche Philosophie eine epistemische Wende vollzog und ihr Selbst-
verständnis gerade darin sah, wurden die epistemischen Theorien und Debatten des
Mittelalters für sie uninteressant. Skeptische Argumente in diesen Debatten waren
noch weniger der Aufmerksamkeit wert, insbesondere auch seit Richard Popkin eine
Krise in der Philosophie diagnostizierte, die in der Renaissance die Übersetzung der
Texte der Pyrrhonischen Skepsis auslösten und die gemäß einem philosophiehisto-
rischen Vorurteil zur neuzeitlichen Erkenntnistheorie führte. Skeptizismus und mit-
telalterliche Epistemologie war nur von Interesse in der im Anschluss an Michalski
von Gilson vertretenen These, dass es im 14. Jahrhundert einen Skeptizismus, auch
als philosophische Position, gab. Er wurde im Rahmen des Ockhamismus geortet
und dann vielerorts als Verfallserscheinung gewertet. Gerade dieses einerseits ver-
nachlässigte, andrerseits ideologisch aufgeladene Thema «Skeptische Debatten in
der Epistemologie des Hoch- und Spätmittelalters» untersucht Perler in seiner über
400 Seiten starken, Ruedi Imbach gewidmeten Studie. Die Resultate sind erstaun-
lich und erfreulich. Die historiographische These wird als Fiktion entlarvt und es
zeigt sich, wie intensiv skeptische Argumente benutzt wurden und methodisch zu
einer radikalen Zuspitzung der epistemologischen Fragen beitrugen. Perler gelingt
es zudem aufzuweisen, dass manche Unterscheidung und These der gegenwärtigen
Epistemologie bereits im 13. und 14. Jahrhundert gebraucht und verfochten wurde.
Er tut das möglichst sorgfältig und methodisch bewusst: nicht so, dass er anachro-
nistisch Gegenwartsphilosophie in die Geschichte hineininterpretiert, sondern auf-
Comptes rendus 253

weist, dass moderne Unterscheidungen und Thesen (Externalismus, Reliabilismus,


etc.) in den historischen Debatten selbst zum Vorschein kommen. So kann sie Perler
dann auch gekonnt als systematische Beiträge zur Gegenwartsdiskussion einbringen
und diskutieren. Da und dort birgt dieses Verfahren jedoch die Schwierigkeit, dass
bei Einwänden nicht immer klar gemacht wird, ob sie nun historisch sind oder aus
dem systematischen Verständnis Perlers entspringen.
Perler studiert, welche skeptischen Argumente zwischen Thomas von Aquins
Summa theologiae sowie seinem De anima – Kommentar einerseits und dem Sen-
tenzen-Kommentar des Pierre d’Ailly andererseits überhaupt ausgetauscht wurden,
welche Bedeutung ihnen in den epistemologischen Debatten um den Wissensbegriff
zugemessen wurde und welche Art von Gewissheit des Wissens sie voraussetzten.
Skeptische Argumente, z. B. die pyrrhonischen Argumentationsmuster (etwa das
«Münchhausen-Trilemma», die Gleichwertigkeit der Meinungen oder die Tropen)
wie auch die durch Cicero und Augustin vermittelten akademischen Argumenta-
tionsmuster (Täuschungsszenarien, Differenz von Wahrheitsähnlichem und Wahren)
wurden im Mittelalter, so Perler, weder destruktiv verstanden noch führten sie zum
Einnehmen einer skeptischen Position. Sie wurden vielmehr methodisch eingesetzt
– nämlich insofern sie zu den Grundproblemen der Erkenntnistheorie führen, ins-
besondere zum Problem der Rechtfertigung und damit zum Problem des Gewissheits-
anspruchs des Wissens. Das Ideal des sicheren Wissens stand zur Prüfung an. Der
Rahmen, in dem skeptische Argumente vorgetragen werden, ist also die Epistemo-
logie, genauer das Konzept oder die Theorie des (gewissen) Wissens.
Einleitend diskutiert Perler die antiken Quellen im Mittelalter. Die anonyme in
drei Handschriften überlieferte, Ende des 13. Jahrhunderts entstandene lateinische
Übersetzung von Sextus’ Pyrrhonischer Skepsis war kaum einflussreich und wurde
nicht zitiert; die Übersetzung von Sextus’ Contra mathematicos erfolgte erst in der
Renaissance. Auch oder gerade wenn sich erweist, dass die ausgetauschten skepti-
schen Argumente kein Rezeptionsphänomen sind, wäre es wünschenswert gewesen,
dass Perler auf mögliche Quellen skeptischer Argumente aus der Antike etwas aus-
führlichen eingegangen wäre. So wird die lateinische Übersetzung von Diogenes
Laertios, dessen De vitis dogmatis et apophtegmatis clarorum philosophorum libri X
auch Passagen über Pyrrho von Elis enthält, nur erwähnt, aber nicht im Lichte der
neuesten Forschungen für die Thematik ausgewertet. Unerwähnt bleibt der «Cicero
Christianus» genannte Laktanz, der in seinen Divinae institutiones (Buch III: De
falsa sapientia) über die Skepsis schrieb und nach Charles Schmitt für die Tradierung
dieses Ansatzes in das Mittelalter wichtig war. Über eine allfällige Rezeption oder
Fortführung der akademisch-skeptischen, fallibilistischen Tradition, die Johannes
von Salisbury, den Grellard vor kurzem auch «Montaigne médiéval» nannte, vertrat,
die m. E. durch Boethius’ Bevorzugung der Dialektik gegenüber der Analytik (bzw.
des Umgangs mit dem Wahrscheinlichen, dem endoxon, gegenüber dem Wahren)
motiviert war, hätte man gerne noch etwas erfahren.
Typisch mittelalterliche Formen skeptischer Argumente werden, so weist Perler
auf, über die Argumente der akademischen Skepsis – pyrrhonische Argumentations-
muster waren kaum verbreitet – hinaus, in verschiedenen Kontexten geschmiedet.
Zu nennen ist hier zum einen die theologische Omnipotenzlehre: Gott kann als Erst-
254 Buchbesprechungen

ursache alles bewirken, was eine Zweitursache bewirken kann. Wichtig ist in diesem
Zusammenhang die Theorie der intuitiven Erkenntnis. Der allmächtige Gott kann
bewirken, dass ich eine intuitive Erkenntnis eines nicht-existierenden Gegenstandes
habe. Andrerseits werden skeptische Argumente virulent in der im 13. Jahrhundert
voll entwickelten Spezies-Theorie, die arabischen und lateinischen Ursprungs ist und
das Affiziertwerden durch einen Gegenstand erklärt. Heinrich von Gent, Johannes
Petrus Olivi und Crathorn sehen in dieser Theorie die (skeptische) Gefahr, die man in
der Neuzeit «Repräsentationalismus» nannte. Das Auftauchen skeptischer Argumente
in mittelalterlichen Debatten ist also nicht als Rezeptionsphänomen zu werten – min-
destens nicht als Rezeption der antiken Skepsis. Es steht eher im Zusammenhang mit
einer andern Rezeption: Der Rezeption von Aristoteles’ De anima, die für die Dis-
kussion der Begriffe der Wahrnehmung und des Intellekts von Bedeutung ist, sowie
derjenigen der Analytica Posteriora, wo es um das Konzept von scientia und um die
kritische Frage nach der Möglichkeit des strikten Wissens und der Absolutheit bzw.
den Graden der Gewissheit geht. Auch diese Diskussion ist nicht nur als Rezeptions-
phänomen beschreibbar; es geht im 13. und 14. Jahrhundert darum, welche Disziplin
in welcher Weise «Wissenschaft» genannt werden kann. Das war inhaltlich ebenso
wie institutionell im 13. und 14. Jahrhundert von großer Signifikanz.
Die erste von Perler dargestellte epistemologische Debatte, in der skeptische Ar-
gumentationen auftauchen, wurde zwischen Heinrich von Gent und Duns Scotus zu
einem anspruchsvollen mittelalterlichen Wissensbegriff ausgetragen (Kap. I). Hein-
rich setze sich mit der akademischen Skepsis (Cicero und Augustin) auseinander und
frage grundsätzlich: Ist Wissen überhaupt möglich? Duns Scotus, der ein antiskep-
tisches, positives, natürliches Wissen verteidigen wolle, werfe Heinrich vor, seine
Argumente zugunsten einer augustinischen Illuminationstheorie für die Erklärung der
Spezies-Theorie würden nur für die Position der akademischen Skeptiker sprechen.
Heinrich verschiebe aber – wie Austin im 20. Jahrhundert – die Beweislast im Falle
der Sinnestäuschung auf die Skeptiker, da, um überhaupt Täuschungsfälle also solche
bezeichnen zu können, eine normale Funktion der Sinneswahrnehmung vorausge-
setzt werden müsse. Duns Scotus versuche zu zeigen, dass sicheres, gewisses Wissen
auch ohne Illumination, durch rein natürliche Prozesse erwerbbar sei: durch analyti-
sche Erkenntnis, induktive Erkenntnis kausaler Zusammenhänge, Erkenntnis eigener
Akte oder Erkenntnis wahrnehmbarer Eigenschaften. Beide seien keine Skeptiker,
ein (allzu) anspruchsvoller essentialistischer Wissensbegriff – Wissen zielt immer auf
das Wesen einer Sache – und die Spezies-Theorie aber provozierten zusammen eine
skeptische Argumentation in der Frage des Konzepts des gewissen Wissens.
Kapitel II untersucht die Zweifel an der absoluten Gewissheit, die Thomas von
Aquin, Siger von Brabant, Petrus Johannes Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes Ro-
dington, Gregor von Rimini und Peter von Ailly hegten. Wurde da die Erkenntnis-
gewissheit tatsächlich aufgelöst und entstand eine neue intellektuelle Krankheit
(Gilson) oder, wie in Blumenbergs Legende diagnostiziert, eine Epochenkrise, in
der jedes Weltvertrauen verloren ging? Bei Thomas werde die radikal skeptische
Hypothese, der zufolge ein Dämon mein ganzes Denken manipulieren könnte, von
vornherein ausgeschlossen. Der menschliche Intellekt sei aufgrund seiner Natur auf
die Dinge der Außenwelt abgestimmt und habe durchaus die Fähigkeit, das Wesen
Comptes rendus 255

der Dinge korrekt zu erfassen. In unseren kognitiven Zuständen würden wir die For-
men der Gegenstände in uns aufnehmen. Die Identitätstheorie, wonach die Form
des Eingesehenen mit der Form des Gegenstandes identisch ist, und die These der
mehrfachen Existenzweise, nach der Formen nicht nur in individuierten materiellen
Gegenständen, sondern in universeller Weise auch im Intellekt vorkommen kön-
nen, setzt dabei universale reale Formen voraus. Zur Zurückweisung der skeptischen
These setze Thomas einen metaphysischen (es gibt universale Formen), epistemo-
logischen (der menschliche Intellekt ist von Natur aus imstande) und einen theolo-
gischen Optimismus (Gott täuscht nicht) voraus. Siger von Brabant diskutiere die
skeptische These, dass wir nicht die Dinge der materiellen Welt erfassten, sondern
nur die Erscheinungs- oder Vorstellungsbilder, und dass diese Bilder wie Träume
seien, so dass wir uns der Existenz keiner Sache gewiss sein könnten. Eine solche
Vorform eines Außenweltskeptizismus lehne Siger aber mit Kohärenz-Argumenten
ab. Crathorns Thesen zielen in Perlers Auslegung – ich würde diese Thesen allerdings
harmloser interpretieren – ebenfalls auf einen Aussenweltskeptizismus ab. Crathorn
argumentiere seinerseits nicht mit einem epistemologischen Optimismus gegen den
Skeptizismus, sondern damit, dass es undenkbar sei, dass Gott uns täuschen wolle.
Dass der Anspruch auf absolute Gewissheit aber trotzdem aufzugeben sei, hänge mit
seiner «repräsentationalistischen» Spezies-Theorie zusammen, so Perler. Johannes
Petrus Olivi hingegen entwickle das skeptische Szenario nur mit dem Ziel, die Spe-
zies-Theorie zugunsten eines direkten Realismus ad absurdum zu führen. Johannes
Rodington setze hingegen die Hypothese des bösen Dämon in methodischer Hinsicht
ein. Sie sei bei ihm aber nur ein Gedankenexperiment, das zeigen soll, dass man
keinen Anspruch auf ein absolut sicheres Wissen haben könne. Pierre d’Ailly nehme
eine Mittelposition zwischen radikalem Skeptizismus und Dogmatismus ein, indem
er nicht in einer fundamentalistischen Strategie gleichsam auf einen den Skeptizismus
verunmöglichenden Dogmatismus zurückgreife, sondern in einer Differenzierungs-
strategie die These vertrete, dass man Erkenntnis einschränken und mit Bedingungen
versehen müsse. Gregor von Rimini lehne im Rückgriff auf die Theorie der Lüge,
die traditionell die Intentionsbedingung und Behauptungsbedingung impliziert, die
Möglichkeit einer göttlichen Täuschung ab.
Keiner der dargestellten mittelalterlichen Autoren ist also der radikalen Meinung,
dass Täuschungsszenarien, die von der Allmacht Gottes her motiviert sind, mehr als
rein fiktive Gedankenexperimente sind; solche skeptischen Argumente werden ledig-
lich in methodischer Hinsicht eingesetzt, um zu prüfen, welcher Erkenntnisanspruch
erhoben werden kann. Das Ziel war eine bessere Differenzierung und Begründung der
Erkenntnisansprüche, nicht eine Infragestellung der gesamten Erkenntnis. Daraus re-
sultiert, dass die bisher geschilderte Skeptizismusdiskussion im Mittelalter keine Vor-
geschichte des Cartesianismus ist, insofern Descartes keine hypothetische Gewissheit
zulässt, sondern, so Perler, mit der absoluten Gewissheit auch jede Gewissheit un-
seres Wissens von der materiellen Welt schlechthin aufhebt. Die genannten Autoren
verfolgten dagegen ein reliabilistisches und internalistisches Projekt der Erkenntnis
und strebten nicht nach einer einzigen absolut unbezweifelbaren Grundlage, sondern
untersuchten, welche kognitiven Mechanismen vorliegen müssen, damit korrekte Er-
kenntnis gewonnen werden könne. Die Beweislast dafür, dass aus der bloß bedingten
256 Buchbesprechungen

Gewissheit folgen könnte, dass Erkenntnis gleich in allen Fällen zweifelhaft wird,
habe man dem Skeptiker übertragen.
In Kapitel III behandelt Perler die skeptischen Zweifel im Zusammenhang mit
der Theorie der intuitiven Erkenntnis. Mit dem metaphysischen Optimismus ruht das
Erkenntnismodell bei Thomas auf einem Universalienrealismus, den z. B. Ockham
nicht teilt. Ockham muss also eine andere «antiskeptische» Strategie verfolgen. Sein
antifundamentalistischer, fallibilistischer Erklärungsansatz der Erkenntnis gehe von
einer direkten Perzeption aus und vertrete eine externalistische Konzeption, für die
Wissen zu haben nicht impliziere, dass man aufgrund eines inneren Kriteriums auch
weiß, dass man weiß. Seine kausale Wahrnehmungs- und Kognitionstheorie enthalte
die naturalistische und reliabilistische Annahme, dass im Prinzip korrekte Sinnes-
eindrücke und damit auch im Prinzip wahre Urteile zustande kämen. Auch für
Wodehams Fallibilismus sei es klar, dass alles Wissbare bezweifelbar ist und dass es
unangemessen sei, so etwas wie eine absolute Garantie für unser Wissen einzufordern.
Der aristotelische Erkenntnisoptimismus sei allerdings nie verlassen worden.
In Kapitel IV behandelt Perler die Diskussion um den Aristotelismus zwischen
Nikolaus von Autrécourt und Johannes Buridan, die in der Forschungsliteratur als
Auseinandersetzung zwischen Skeptizismus und Antiskeptizismus dargestellt wird.
Perler aber beschreibt den Streit erfrischend anders: Nikolaus erweist sich dabei nicht
als radikaler Skeptizist, sondern als Vertreter eines epistemologischen Fundamen-
talismus – Perler charakterisiert ihn als «monolithischen Fundamentalismus» – der
behaupte, dass es eine absolut sichere Grundlage für unser Wissen (scil. das Prinzip
des ausgeschlossenen Widerspruchs) gebe und dass alle Wissensansprüche auf diese
Grundlage gestellt werden müssten. Buridan gehe hingegen von einer kohärentisti-
schen, reliabilistischen Wissenskonzeption aus, die Naturalismus und Empirismus
verbinde. Auch diese beiden benutzten skeptische Argumente nicht um einer skepti-
schen Position willen, sondern um ihr Konzept von Wissen zu explizieren. Buridan
und Nikolaus können in dem Sinne nicht als Vorläufer neuzeitlicher Philosophen
(z. B. Nikolaus als «mittelalterlicher Hume») bezeichnet werden, als sie bei ihrer
Diskussion skeptischer Argumente die Zuverlässigkeit der kognitiven Vermögen nicht
prinzipiell in Frage stellten. Deshalb war die radikale Skepsis für sie auch keine
Option.
Das Ziel, für das diese mittelalterlichen Autoren skeptische Argumente einsetzen,
war also nicht – wie in der antiken Skepsis – eine Position der praktischen Vernunft,
einen «Skeptizismus ohne Theorie» (Williams), zu erreichen oder einzunehmen,
nämlich die Erlangung der Seelenruhe. Keiner der verhandelten Autoren nahm eine
von Grund auf skeptische Position ein; dadurch ist die am Anfang erwähnte historio-
graphische Meinung überzeugend als Konstruktion entlarvt. Ihr Ziel war vielmehr,
die epistemologische Frage nach Konzept und Theorie des (gewissen) Wissens grund-
sätzlich zu klären und zu beantworten. Dazu wurden die skeptischen Argumente im
Mittelalter in dieser Zeitspanne – wie notabene in der gegenwärtigen Epistemologie
auch – vorab aus methodischen Gründen eingesetzt. Die eher kritische als skeptische
Grundfragestellung dazu liefert Heinrich von Gent: Utrum contingat hominem aliquid
scire? (Summa, art. 1, q. 2). Im Verlaufe der Debatten wird der Wissensbegriff dif-
ferenziert und gradiert – insbesondere im Blick auf die Gewissheit. Die vorliegende
Comptes rendus 257

ausgezeichnete Studie zeigt somit nicht nur überzeugend auf, dass die mittelalterliche
Epistemologie, insbesondere die Reflexion auf das Konzept des Wissens, im Hoch-
und Spätmittelalter stets auf Skepsis aufmerksam war, sondern bietet gleichzeitig
einen gegenwärtig seinesgleichen suchenden Ansatz und Aufriss der noch ziemlich
im Dunkeln liegenden (spät)mittelalterlichen Erkenntnislehre oder genauer: einer
Theorie des Konzeptes des Wissens. Er macht Lust und motiviert, mit viel Gewinn für
gegenwärtige Diskussionen weiterzuforschen. Als Desiderate für eine das Phänomen
des Wissensbegriffs auslotende umfassende epistemologische Studie drängen sich
Studien auf zur Abgrenzung der dialektisch-topischen Aspekte des Wissens von den
analytischen (im Gefolge von Johannes von Salisbury), zur hypothetischen scientia
bei Boethius von Dacien, zur Gewissheitsproblematik im Felde des Glaubens und
Wissens und da auch zu einem christlich motivierten Skeptizismus.

Peter Schulthess (Zürich)


Adressen der Autoren / Adresses des auteurs

Markus Christen, Dr. sc. ETH, University Research Priority Program Ethics,
Klosbachstraße 107, CH-8032 Zürich
Michael Esfeld, Prof. Dr. phil., Université de Lausanne, Section de philo-
sophie, CH-1015 Lausanne
Manfred Frank, Prof. Dr. phil., Universität Tübingen, Philosophisches Se-
minar, Bursagasse 1, D-72070 Tübingen
Stefan Heßbrüggen-Walter, Dr. phil., FernUniversität in Hagen, Institut für
Philosophie, Universitätsstraße 41, D-58097 Hagen
Sebastian Hüsch, Dr. phil., Universität Basel, Philosophisches Seminar,
Nadelberg 6-8, CH-4051 Basel
Harry Lehmann, Dr. phil., Akademie Schloss Solitude, Solitude 3, D-70197
Stuttgart
Maria-Sibylla Lotter, Dr. phil., Universität Konstanz, Fachbereich Philo-
sophie, Universitätsstraße 10, D-78464 Konstanz
Marcello Ostinelli, Dr. phil., professore all’Alta Scuola Pedagogica, Piazza
San Francesco, CH-6600 Locarno
Andrea Poma, Prof. Dr. phil., Università di Torino, Facoltà di Lettere e Filo-
sofia, Dipartimento di Filosofia, Via S. Ottavio 20, I-10124 Torino
Christian Sachse, Dr ès lettres, maître d’enseignement et de recherche à
l’Université de Lausanne, Section de philosophie, CH-1015 Lausanne
Herbert Schnädelbach, Prof. em. Dr. phil., Humboldt-Universität zu Berlin,
Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin
Daniel Schulthess, Dr ès lettres, professeur à l’Université de Neuchâtel,
Institut de philosophie, Case postale, CH-2001 Neuchâtel
Gerhard Seel, Prof. em. Dr. phil., Universität Bern, Institut für Philosophie,
Unitobler, Länggassstraße 49a, CH-3000 Bern 9
Erwin Sonderegger, Prof. Dr. phil., Eichweidstraße 30, CH-8820 Wädenswil

Redaktion / Rédaction

Anton Hügli, Prof. em. Dr. phil., Universität Basel, Philosophisches Semi-
nar, Nadelberg 6-8, CH-4051 Basel
Curzio Chiesa, Dr ès lettres, maître d’enseignement et de recherche à l’Uni-
versité de Genève, Département de philosophie, CH-1211 Genève 4
Das Signet des 1488 gegründeten
Druck- und Verlagshauses Schwabe
reicht zurück in die Anfänge der
Buchdruckerkunst und stammt aus
dem Umkreis von Hans Holbein.
Es ist die Druckermarke der Petri;
sie illustriert die Bibelstelle
Jeremia 23,29: «Ist nicht mein Wort
wie Feuer, spricht der Herr,
und wie ein Hammer, der Felsen
zerschmettert?»
Die gegenwärtige Philosophie ist durch eine Aufsplitterung gekennzeichnet, die so
weit reicht, dass die einzelnen philosophischen Disziplinen sich häufig gänzlich un-
abhängig voneinander weiterentwickeln. Entsprechend drängt sich die Frage auf,
ob die Philosophie als solche überhaupt noch über so etwas wie einen spezifischen
Gegenstandsbereich verfüge. Zunehmend schwieriger wird auch die Abgrenzung
der Philosophie zu den Einzelwissenschaften. Die Beziehungen zwischen der
Philosophie und anderen Wissenszweigen wie beispielsweise den Neurowissenschaf-
ten, der Psychologie, den Lebenswissenschaften oder den Gesellschaftswissenschaf-
ten genauer auszuloten, ist darum heute eine dringend notwendige Aufgabe. Die
möglichen Antworten werden selbstverständlich sehr verschieden ausfallen, je nach
Ausrichtung, Herkunft und allgemeinem theoretischen Hintergrund des Autors
oder der Autorin. Es stellt sich darum auch immer wieder die metaphilosophische
Frage, ob es zwischen den philosophischen Richtungen der heutigen Zeit über-
haupt noch einen gemeinsamen Grund gebe, auf dem man sich treffen könne.
Anton Hügli, geb. 1939, studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik/Nordistik
und Mathematik in Basel und Kopenhagen. Er war von 1981 bis 2001 Direktor des
Pädagogischen Instituts Basel-Stadt und ab 1981 Privatdozent, dann ausserordent-
licher Professor und von 2001 bis 2005 vollamtlicher Professor für Philosophie und
Pädagogik an der Universität Basel.
Curzio Chiesa, geb. 1953, studierte Philosophie in Genf, Paris und Cambridge.
Er ist seit 1978 Maître d’enseignement et de recherche für antike und mittelalter-
liche Philosophie an der Universität Genf.

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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