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Martin Disselkamp / Fausto Testa (Hg.

Winckelmann
Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
Martin Disselkamp / Fausto Testa (Hg.)

Winckelmann-Handbuch
Leben – Werk – Wirkung
Mit 39 Abbildungen

J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Martin Disselkamp lehrt Deutsche Literaturwissenschaft an
der TU Berlin und ist Leiter der Arbeitsstelle
Kritische-Karl-Philipp-Moritz-Ausgabe am Zentrum
„Preußen – Berlin« der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften.
Fausto Testa ist Professor für Architekturgeschichte
am Dipartimento di Architettura e Studi Urbani am
Politecnico Mailand.

Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
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über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler ist Teil von Springer Nature. Die eingetragene
Gesellschaft ist Springer-Verlag GmbH Deutschland
ISBN 978-3-476-02484-8 www.metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-05354-1 (eBook) info@metzlerverlag.de

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Inhalt

Vorwort VIII III Werke

14 Das Briefwerk Martin Disselkamp 114


I Biographie 15 »Gedancken über die Nachahmung der
Griechischen Werke in der Mahlerey und Bild-
1 Herkunft, Kindheit, Schulzeit hauer-Kunst« und zugehörige Schriften
Agnes Kunze / Max Kunze 2 Martin Dönike 126
2 Studienzeit in Halle (Saale) und Jena 16 Kunstbeschreibungen 136
Klaus-Werner Haupt 6 16.1 »Beschreibung der vorzüglichsten
3 Hauslehrer- und Konrektorenjahre Gemählde der Dresdner Galerie«
Agnes Kunze / Max Kunze 9 Gabriella Catalano 136
4 Nöthnitz und Dresden 16.2 Winckelmanns Kunstbeschreibungen und
Wolfgang von Wangenheim 13 die Traditionen der Beschreibungs-
5 Winckelmann in Italien Steffi Roettgen 18 literatur Gabriella Catalano 140
16.3 Beschreibungen des Torso und des Apollo
im Belvedere Gabriella Catalano 145
II Systematische Aspekte 16.4 Kunstbeschreibung und Patho-
gnomik Federica La Manna 151
6 Philologie bei Winckelmann Susanne Kochs 50 17 »Von der Restauration der Antiquen«
7 Winckelmanns Schreibweisen Fausto Testa 157
Stefano Ferrari 58 18 Winckelmann und die Ausgrabungen in
8 Winckelmann – Homosexualität, schwule Kultur, Herculaneum und Pompeji
Queer Theory Robert Deam Tobin 65 Eric M. Moormann 164
9 Kunstsammlung und Kunsthandel in Winckel- 19 Winckelmann und die griechischen Tempel von
manns Welt und in seinem Werk Agrigento Eric M. Moormann 180
Orietta Rossi Pinelli 73 20 »Grazie« (Gratie) Thomas Franke 184
10 Klassizistische Kunstprogrammatik vor und zur 21 Kunstbetrachtung, Kunsthermeneutik, Kunst-
Zeit von Winckelmann Elena Agazzi 80 pädagogik Kathrin Schade 192
11 Winckelmann, die Ursprungsmythen der Auf- 21.1 »Erinnerung über die Betrachtung
klärung und die Begründung der Kunst der Werke der Kunst« 192
Fausto Testa 88 21.2 »Abhandlung von der Fähigkeit der Emp-
12 Winckelmann und die Naturwissen- findung des Schönen in der Kunst, und dem
schaften Thomas Franke 100 Unterrichte in derselben« 193
13 Griechenland als Kulturentwurf 22 »Description des pierres gravées du feu Baron
Martin Disselkamp 105 de Stosch« Jörn Lang 199
23 »Anmerkungen über die Baukunst der
Alten« Fausto Testa 210
24 »Geschichte der Kunst des Alterthums« und
»Anmerkungen über die Geschichte der Kunst
des Alterthums« Élisabeth Décultot 224
VI Inhalt

25 »Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst. 32 Winckelmann als Symbolfigur der Kunst-
Johannes Rößler 242 geschichte des 19. Jahrhunderts
26 »Monumenti antichi inediti« Christoph Schmälzle 306
Mathias René Hofter 249 33 Winckelmann und die Kultur der Umriss-
zeichnung im Neoklassizismus 319
Piera Giovanna Tordella
IV Rezeption
C Philologie und Altertumswissenschaft
A Literatur 34 Publikationsgeschichte, Übersetzungen und Edi-
27 Kritische Zeitgenossen: Lessing, Heyne, tionsgeschichte (1755–1834)
Herder Katherine Harloe 258 Stefano Ferrari 330
28 Die Winckelmann-Rezeption der klassisch- 35 Winckelmann in der Altertumskunde:
romantischen Moderne um 1800 Wissenschaftsgeschichte und Wissenschafts-
Harald Tausch 267 institutionen Adolf H. Borbein 339
29 Winckelmann-Verehrung und Winckelmann-
Biographik Johannes Rößler 278
30 Winckelmann in der fiktionalen V Anhang
Literatur Federica La Manna 289
Siglen und Abkürzungen 348
B Bildende Kunst Abbildungs- und Bildquellenverzeichnis 350
31 Die authentischen Porträts Autorinnen und Autoren 352
Winckelmanns Reimar F. Lacher 296 Register der Werke Winckelmanns 354
Personenregister 356
Sachregister 367
Vorwort

Johann Joachim Winckelmann war zu seiner Zeit der Jahren und Jahrzehnten entstanden sind. Damit mei-
zweifellos namhafteste und wirkungsmächtigste nen wir vor allem eine fortschreitende Intensivierung
Kenner der antiken Kunst. Sein Einfluss strahlt weit und Diversifikation der Winckelmann-Forschung.
über die Archäologie hinaus auf Sammlungskultur, Winckelmanns Werk liegt im Schnittpunkt mehrerer
Antikenrestauration, Geschmacksbildung, Ästhetik, wissenschaftlicher Disziplinen – vor allem der Ar-
Kunstproduktion und Literatur aus. Gewiss – selbst chäologie (für die er ein früher Vertreter der Fach-
den Lesenden ist Winckelmanns Name in der Gegen- geschichte ist), der Kunstgeschichte und der Literatur-
wart weniger geläufig, als er es den Gebildeten am wissenschaft. In zunehmendem Maß hat sich die For-
Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh. war. Wer sich schung mittlerweile den Quellen zugewandt, die Win-
für die Zeit der Aufklärung, für Klassizismus und Ro- ckelmann zugänglich waren und die er verwendet hat.
mantik interessiert, wird jedoch früher oder später Eine eigene Rolle spielt dabei die Berücksichtigung
auf Winckelmann stoßen. Jeder Versuch, ein Hand- seines handschriftlichen Nachlasses, der zu einem
buch zu Winckelmanns Leben und Werk im Vorwort großen Teil aus Exzerpten besteht und Einblick in
mit der Bedeutung dieses Archäologen zu begrün- Quellenkenntnisse und Arbeitsmethodik des Verfas-
den, wäre, so gesehen, redundant. sers gewährt. Die kritische Werkausgabe (Schriften
Allerdings sind Anlässe gegeben, ein solches Hand- und Nachlass) erschließt die archäologischen Zeug-
buch jetzt zu veröffentlichen. Winckelmann wurde am nisse, auf die Winckelmann Bezug nimmt, ebenso die
9. Dezember 1717 in Stendal in der Altmark geboren Quellen, die in seine Schriften eingehen; sie macht da-
und am 8. Juni 1768 in Triest ermordet. Auf das Jahr rüber hinaus unpublizierte Schriften und Vorstufen
2017 fällt sein dreihundertster Geburtstag, auf das zugänglich. Auch solche Winckelmann-Schriften, die
Jahr 2018 sein zweihundertfünzigster Todestag. Schon lange ein Schattendasein führten und wenig Beach-
von beiden Gedenkjahren für sich genommen geht tung fanden oder – wie die Briefe – selten als litera-
ein hinreichender Anstoß aus, um Person und Werk risch eigenständiger Teil des Gesamtwerks angesehen
neu zu würdigen und eine Bestandsaufnahme des ak- wurden, lassen sich jetzt detailreicher und genauer in
tuellen Wissens vorzunehmen. Für weitere Begrün- ihren Problemstellungen beschreiben und breiter
dungen des Unternehmens sorgt die Forschungslage; kontextualisieren. Wissensbereiche, an denen Win-
denn in Hinblick auf den Diskussionsstand ist ein Re- ckelmann in der einen oder anderen Weise partizi-
ferenzwerk ohnehin überfällig. Wer nach einer Ge- pierte, treten deutlicher ins Licht und zeigen ein diffe-
samtdarstellung zu Winckelmann sucht, sieht sich renzierteres Profil. Zu ihnen gehört vor allem die zeit-
nach wie vor auf Biographien angewiesen – allen vo- genössische Altertumskunde mit ihren verschiedenen
ran auf Carl Justis wiederholt aufgelegtes Werk Win- Unterabteilungen. Die Winckelmann-Rezeption bie-
ckelmann und seine Zeitgenossen, das erstmals 1866– tet ihrerseits ein zerklüftetes Bild. Das Handbuch ver-
1872 erschien. Dass der Winckelmann-Überblick bis- sucht, verschiedenen ihrer Aspekte angemessenen
lang eine Sache der biographischen Literatur war, ist Raum zuzugestehen.
kein Zufall: Zum Ruhm des Archäologen trug sein Le- Hohe Zeit jedenfalls, Leben und Werk des Alter-
benslauf nicht weniger bei als seine Veröffentlichun- tumskenners einer Sichtung zu unterwerfen. Der For-
gen und Briefe. schungslage entsprechend, zu der Vertreter mehrerer
Das Winckelmann-Handbuch kann und will die Disziplinen aus vielen Ländern ihren Beitrag leisten,
biographisch orientierte Winckelmann-Literatur aus ist das vorliegende Handbuch in seinem Ursprung ein
einer Hand nicht ersetzen. Es möchte sich vielmehr italienisch-deutsches ›Joint venture‹-Projekt, in sei-
Herausforderungen stellen, die in den vergangenen nem Ergebnis hingegen ein Gemeinschaftswerk zahl-
VIII Inhalt

reicher Winckelmann-Kenner aus Europa und Nord- stehen müssen, wenn sie sich, zumal unter einem ge-
amerika. Es ist der Ausgangslage gemäß, dass ein viel- wissen Druck der Termine, auf ein Handbuchprojekt
stimmiges Publikationsvorhaben wie das vorliegende einlassen. Den Herausgebern liegt daran, die kon-
kein in sich geschlossenes Winckelmann-Bild ergibt, struktive Zusammenarbeit mit allen Beteiligten her-
ja nicht einmal frei von unterschiedlichen Perspekti- vorzuheben: Die Verfasser waren bereit, neben ihren
ven und inneren Spannungen bleibt. übrigen Verpflichtungen, zuweilen trotz erheblicher
Zwar – die Arbeit an einem Handbuch ist für jeden gesundheitlicher Einschränkungen, die Arbeit an
Autor auch ein Entsagungsgeschäft und steht unter Handbuchbeiträgen auf sich zu nehmen. Die meisten
anderen Gesetzen als die Arbeit an einem üblichen Leerstellen, die aus unterschiedlichen Gründen bei
Sammelband-Beitrag. In erster Linie sind die Beiträge der Arbeit entstanden, konnten wir mit spontaner Un-
keine Wortmeldungen der Autoren in eigener Sache, terstützung durch Fachleute füllen. Für ihre Bereit-
sondern, dem Charakter eines Referenzwerks gemäß, schaft zur Mitarbeit an dem Handbuch danken wir an
Überblicksdarstellungen mit Einführungscharakter. dieser Stelle allen Autoren, die darin vertreten sind.
Dennoch hatten die Beiträger die Freiheit, den Auf- Das Winckelmann-Handbuch ist ihre Leistung. – Ein
bau, erst recht natürlich die Zielrichtung ihrer Darle- eigener Dank geht an den Metzler-Verlag, der sich auf
gungen selbst zu entwickeln und eigene Akzente zu das Projekt einließ, die Rahmenbedingungen zur Ver-
setzen. Auf jeden Fall treffen im Winckelmann-Hand- fügung stellte, die Vielsprachigkeit der Beiträge ent-
buch auch unterschiedliche Argumentationskulturen, wirrte und uns in den verschiedenen Stadien der Ent-
Darstellungsweisen und Diktionen aufeinander. Das stehung unterstützte.
Handbuch entspricht dann den Absichten der He- Niemand weiß besser als die Herausgeber, dass das
rausgeber, wenn es, wenigstens im Ansatz, gelungen Handbuch in Konzeption und Ausführung Wünsche
ist, gerade so Sachlage und Forschungsstand zu reprä- offen lässt. Für Unzulänglichkeiten, die nicht zu behe-
sentieren und beide auch den Nichtspezialisten näher ben waren, nicht weniger für solche, die uns entgan-
zu bringen. Winckelmann, wie er sich in der gegen- gen sind, übernehmen die Herausgeber allein die Ver-
wärtigen Forschungslandschaft zeigt, bildet weniger antwortung.
als je ein geschlossenes Ganzes.
Den Stoff zu einer eigenen Erzählung könnten die Berlin, im Februar 2017
Aventüren abgeben, die Autoren und Herausgeber be- Martin Disselkamp
I Biographie
1 Herkunft, Kindheit, Schulzeit rer Einbindung in die kulturgeschichtliche Situation
Preußens, die heute durch neuere Biographien wie
Quellen und Literatur
die von Leppmann (1971) ergänzt wird. Den sozial-
Die Quellen zu W.s altmärkischer, insbesondere und bildungsgeschichtlichen Kontext der Zeit neu
Stendaler Zeit sind dürftig. Mit Ausnahme zweier aufgearbeitet hat jüngst Harloe (2013), basierend auf
eigenhändiger lateinischer Stipendiengesuche vom der Arbeit von La Vopa (1988).
9. April 1734 und 7. Januar 1738, letzteres unpubli-
ziert (Bruer 2007, 11–12; Winckelmann: Lettere
Stendal im 18. Jahrhundert
2016, 92–96) sind Aufzeichnungen und Briefe W.s
nicht erhalten; sie beginnen erst 1742. Auf die Zeit Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, mehrere
vor Nöthnitz geht W. ausführlich im Bewerbungs- Pestwellen und folgenreiche Brände waren Ursache
schreiben an Bünau 1748 ein (Br. I, 79–81; hier dt. zit. dafür, dass es in Stendal, der einstigen Hansestadt und
nach Segelken 1917, 26–27). So ist man für die frühe Hauptstadt der Altmark, 1719 nur noch 601 bewohnte
Zeit auf Familiennachrichten (Br. IV, 371–381) und Häuser und 60 wüste Stellen gab. Die Einwohnerzahl
Erinnerungen von Uden (Br. IV, 167–172) an die ge- war (1723) auf etwa 3000 zurückgegangen. Stendal
meinsame Schulzeit 1733–1735 angewiesen. Für den wurde aber Garnisonsstandort, was einerseits eine ho-
Salzwedler und Seehausener Aufenthalt sind u. a. he steuerliche Belastung für die Bevölkerung bedeute-
Aufzeichnungen von Kleinow (Cleinow), den W. in te, andererseits aber der heimischen Tuchmacherei
Stendal kennenlernte, hilfreich (Br. IV, 180–183). Be- (1723: 78) und Leinenweberei (1723: 20) Aufschwung
reits 1764 veröffentlichte der Rektor der Schule in gab (Enders 2008, 97) und auch den 59 Schustern
Seehausen, Paalzow, eine »Kurzgefaßte Lebens- (Götze 1873, 524; Koch 2015, 27), darunter W.s Vater
geschichte« (Br. IV 167–172; Irmscher 1986, 31–35). Martin, zunächst Einkünfte, wenn auch sehr beschei-
Weitere Zeitzeugnisse für die Hadmerslebener und dene, verschaffte. Die hohe Zahl von Schustern erklärt
Seehausener Jahre bieten Berichte von Boysen und sich auch daraus, dass seitens des Staates und der Kir-
die Briefe an Nolte (zusammengefasst und bewertet che Arbeit bzw. Berufstätigkeit als Bedingung für die
bei Irmscher 1986, 32–35). Die wortreiche Biogra- Unterstützung bei Armut oder im Alter galt. Für das
phie des späteren Stendaler Rektors Walther (Br. IV, Ausüben des Schuhmacherhandwerks waren zudem
189–193) von 1780 sowie spätere Berichte (Br. IV, nur geringe Qualifikations- und Kapitalvoraussetzun-
193–202) tendieren dazu, W.s Zeit in Italien von den gen nötig, so dass die Meisterzahlen im 18. Jh. in Rela-
»dunklen« dreißig Lebensjahren in der Altmark und tion zur Bevölkerung überproportional anstiegen
in Halle scharf abzusetzen, wie es W. seit 1748 gele- (Grießinger 1990, 227; Enders 2008, 949; 1697: 34;
gentlich selbst tat (z. B. Br. I, 119: »Du weißt, wie sau- 1800: 97). Es wundert nicht, dass die Bürgerrolle Sten-
er es mir geworden, durch Mangel und Armuth dals von 1723 das Auskommen der meisten Schuster
durch Mühe und Noth habe ich mir müßen Bahn als ›notdürftig‹ ausweist.
machen. Fast in allen bin ich mein eigener Führer ge-
wesen.«). Goethe nannte W. 1805 daher eine »antike
Die Familie Winckelmann
Natur«, der »dreißig Jahre Niedrigkeit, Unbehagen
und Kummer« unbeschadet überstanden habe (Goe- Die Winckelmanns waren eine alteingesessene Sten-
the 1969, 210). Die Gegenüberstellung der beiden Le- daler Schuhmacherfamilie, die sich bis ins 16. Jh. zu-
bensabschnitte führte zu einem biographischen Mus- rückverfolgen lässt (Br. IV, 371). Der Großvater Niko-
ter, in dem Details aus der späteren Karriere im Sinne laus ging 1720 (gest. 1726) in den Ruhestand und zog
einer »inneren Berufung« fiktiv bis in die Kindheit in das St. Georg Hospital, wo er das Amt des Hofmeis-
(früheste Kenntnisse von Altertümern, Ausgraben ters übernahm (Wolf 1938, 282; Br. IV, 371–372). Mar-
von Urnen und Gräbern usw.) angesiedelt werden. tin, W.s Vater, wurde nach Wanderjahren ebenfalls
Nicht ganz frei davon, dennoch lesenswert und fun- Meister in Stendal. Laut Hypothekenbuch hat er 1716
diert ist noch heute die Biographie Justis (1956) in ih- »das Haus mit der Frau geheiratet« (Boenigk 1909,

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_1, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
1 Herkunft, Kindheit, Schulzeit 3

383); die Mutter stammte aus einer angesehenen Sten-


Schulzeit in Stendal
daler Tuchmacherfamilie. Am 9. Dezember 1717 wur-
de ihr einziger Sohn Johann Joachim geboren und drei Über die ersten Schuljahre W.s haben wir keine Nach-
Tage später getauft (s. Kirchenbucheintrag St. Petri, Br. richten, außer dass er bereits mit 5 Jahren zur Schule
IV, 374; s. auch Aufzeichnung des Vaters, Br. IV, 372). ging, vermutlich in die Küsterschule St. Petri; Küster-
Der Stendaler Bürgerrolle von 1723 (Br. IV, 373) ist zu schulen waren an die vier Hauptkirchen in Stendal an-
entnehmen, dass Martin W. mit »nohtdürfftig[em]« geschlossen (Schule 1992, 147). Eine höhere Schule zu
Auskommen einen Sohn von fünf Jahren hat, der be- besuchen, setzte mindestens die Lesefähigkeit voraus.
reits in die Schule geht. Durch Krankheit und Schul- Frühzeitig scherte der junge W. aus der familiären
den waren W.s Eltern gezwungen, 1738 das Haus zu Schuhmacher-Tradition aus, indem er sich für die La-
verkaufen; sie zogen mittellos in ein Nebenhaus des teinschule bewarb, die er etwa seit 1726 besuchte, in
St. Georg Hospitals (Segelken 1917, 2). W. erwähnte Stendal nur »Große Stadtschule« genannt. Sein Schul-
oft die bittere Armut der Eltern, die in einem winzigen und Jugendfreund Uden bescheinigt ihm diesen früh-
strohgedeckten Haus in der Lehmstraße 263 auf engs- zeitigen Bildungshunger (Br. IV, 168). W. war wegen
ten Raum wohnten und arbeiteten. der prekären finanziellen Situation der Eltern auf eine
der wenigen geförderten Kurrende-Plätze angewiesen
(1719: 11 Schüler. s. Götze 1865, 53). Kurrende-Klas-
Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten in Preußen
sen wurden als »Wohltätigkeitsanstalt« betrachtet
»Eine niedrige Kindheit, unzulänglicher Unterricht in (Götze 1865, 53), weil Kurrende-Schüler Kleidung,
der Jugend, zerrissene, zerstreute Studien im Jüng- Nahrung und Schulmittel kostenlos bekamen, aber
lingsalter, der Druck eines Schulamtes [...] hat er mit durch die Stadt ziehend Geld mit ihrem Gesang erbet-
vielen anderen geduldet.« So fasste Goethe (1969, teln mussten (Biester 2003, 85). Als W. »durch seinen
210) die Jugendzeit W.s zusammen und verweist da- Fleiß in die höheren Classen« gekommen war (Uden,
mit auf ein gängiges Phänomen von Aufstiegsmög- Br. IV, 167), wurde er Chormitglied, von 1734–35 so-
lichkeiten für eine heranwachsende Schicht Bildungs- gar Präfekt des Chores, der auch Orgel spielte (was er
suchender aus untersten Bevölkerungsschichten in schon in Hadmersleben angeblich wieder verlernt hat-
Preußen. Unter Friedrich Wilhelm I. wurde das preu- te; Br. I, 45). Chorschüler trugen meist lateinische Ge-
ßische Heer von 13 000 auf 80 000 Mann aufgestockt, sänge vor, »wurden in Figuralchören sorgsam aus-
dessen Führungspositionen der Adel einnahm, eben- gebildet und intonierten ihre mehrstimmigen Gesän-
so wie die höchsten Stellen der Zivilverwaltung. Der ge zumeist stehend vor den Häusern [der Reichen]«
Adel war kaum noch bereit, weniger lukrative kirchli- (Biester 2003, 85). Das tägliche Leben besonders der
che und administrative Stellen zu besetzen. Es bildete Kurrende-, aber auch der Chorschüler war hart, der
sich, eingebettet in die ohnehin stark karitativ wir- eigentliche Schulunterricht wurde oft unterbrochen,
kende lutherische Kirche, ein System von Förder- und da sie zudem ständig als Begleitung der Gottesdienste,
Sponsorenmöglichkeiten für hochbegabte Kinder der Begräbnisse, Hochzeiten, Taufen und an diversen
untersten, traditionell bildungsfernen Schichten he- kirchlichen Feiertagen eingesetzt wurden. Das Geld,
raus, von der Lateinschule bis zu einer auf zwei Jah- das die Choristen ersangen, war ansehnlich, insbeson-
re festgelegten Universitätsausbildung. Man brauch- dere der Chorpräfekt erhielt eine erhebliche Summe,
te qualifizierten Nachwuchs für den gewachsenen mit der W. seine Eltern auch unterstützen konnte. Die
Staatsapparat der aufgeklärten Monarchie und für die Choristen waren dem Kantor der Marienkirche, dem
Kirchenämter, die quasi Staatsämter waren (»geför- dritten Lehrer der Schule, zugeteilt. Den Oberküster
derte Mobilität«, Vierhaus 1981, 20–21; La Volpa Fulß, den Pastor der Marienkirche Schröder und sei-
1984; Harloe 2013, 35–38). Die ersten dreißig Lebens- nen Lehrer Rassbach, zuständig für die Kurrende-
jahre W.s sind typisch für dieses Fördersystem, das Klasse, grüßte W. noch von Rom aus und nannte sie
auch eine Kehrseite hatte: es war stets verbunden mit die »theuren Freunde und meine Wohlthäter und
bleibenden finanziellen Abhängigkeiten und auferleg- Lehrer« (Br. I, 226). Auch verdingte sich W. als ›Päda-
ten erniedrigenden Tätigkeiten, begleitet von Wider- goge‹, der Kinder beaufsichtigte und jüngeren Schü-
ständen des Mittelstandes gegen Aufsteiger innerhalb lern Unterricht erteilte (Uden, in: Br. IV, 167).
der noch funktionierenden Ständegesellschaft. Erst Die Lateinschule war im Chor der aufgelassenen
langsam wuchs das soziale Bewusstsein der gebildeten Franziskanerkirche Stendals untergebracht, der in zwei
Schichten. Etagen geteilt war; die untere gehörte zur Schule, die
4 I Biographie

obere diente als Ratskornboden (Enders 2008, 1228– tener Disputation der Schulbibliothek eine umfangrei-
1229; Habendorf 2011, 14). Dort war ein Raum ge- che theologische Schrift des französischen Protestan-
schaffen für die Prima und Secunda, ein weiterer für ten Pierre Du Moulin (1568–1658) von 1640 (Justi I,
die Tertia, von der mit einer Bretterwand die Quarta 33), versehen mit seiner Widmung. Als Uden 1733 auf
und Quinta abgetrennt wurde. Rektor war Tappert, der die Schule kam, hatte W. bereits die Aufsicht über den
in seiner Antrittsrede von 1696 über die Nachahmung Bücherschrank, die sog. Schulbibliothek (Justi I, 29–
des Ciceronischen Lateins sprach (Götze 1865, 191; 30). Er erinnerte sich an die »schönen Ausgaben Latei-
Justi I, 31). Es wundert nicht, dass W. sich seit der nischer Schriftsteller [und] auch [an] einige Bände von
Schulzeit am Ciceronischen Stil orientierte. Uden ver- dem neu eröffneten Adelichen Ritterplatze« (Br. IV,
merkte, dass er in Latein und Griechisch solche Fort- 167), die W. aber kaum, wie Uden meinte, »die Idee von
schritte gemacht habe, dass er »allen seinen Mitschü- den berühmten Kunstwerken der Mahlerey und Bild-
lern zum Muster vorgestellet wurde« (Br. IV, 167). Tap- hauerkunst« vermittelt haben dürften. Nur zwei
pert, fast erblindet, nahm 1732 W. als Famulus in sein schmale Kapitel berühren alte und neue Münzen, In-
Haus auf (Br. IV 167, 184). Der öffentliche Unterricht schriften aller Völker sowie ein »Antiqvitäten-Zim-
betrug wöchentlich 20 Stunden und wurde durch Pri- mer«, allerdings ohne antike Kunstwerke vorzuführen
vatunterricht (als Einnahmequelle der Lehrer) ergänzt. oder abzubilden. Der sechzehnjährige W. war bereits
Noch weitgehend nach Melanchthon standen Latein, im April 1734 entschlossen zu studieren. So verfassten
Katechismus und Singen im Zentrum, lateinische Tappert, der Vater und W. (er in Latein) Stipendienge-
Sprachkompetenz galt als Grundlage theologischen suche, die zunächst abschlägig beschieden wurden.
Urteilsvermögens, erstrebt waren das Beherrschen Der Vater betonte, dass es nicht gelungen sei, den Sohn
rhetorischer Muster und die Fähigkeit, selbstständig la- zu überreden, ebenfalls ein Handwerk zu erlernen,
teinische Gedichte, Aufsätze und Reden zu verfassen vielmehr sei er »bei seinem Vorhaben [zu studieren]
(Koerrenz 2001, Sp. 91); solche lateinische Musterbrie- beständig geblieben« (Bruer 2007, 20), während W. da-
fe von W. sind erhalten (Hamburger Nachlass N IV,82 rum bat, »daß Ihr, um Eurer Güte gegen die Studien der
fol. 172a: »Fasciculus epistolarum latinarum a. d. xxvi. schönen Künste und Wissenschaften willen, mich Ar-
Jul. 1732«). Griechisch wurde in der Tertia in zwei, men! mit der Wohltat unterstützt, mit der Ihr diejeni-
dann in drei Stunden wöchentlich unterrichtet; eine gen Kinder von Bürgern guten Leumunds auszuzeich-
Stunde davon galt den klassischen Autoren; gelehrt nen pflegt, die ernsthaft studieren« (Bruer 2007, 21; so
wurden die Anfänge des Hebräischen als dritte Sprache auch Uden, Br. IV, 168). Erst ein Bittschreiben vom Ja-
der Bibel. Das Griechische, in dem Tappert offensicht- nuar 1738 führte zum Stipendium. Im Winter 1735
lich weniger bewandert war, beschränkte sich auf Texte verließ W. die Stendaler Stadtschule. Wie aus dem fol-
aus Anthologien zu Isokrates, Hesiod, Phokylides oder genden Wechsel der Schule zu schließen ist, lag der
Theognis (Kochs 2005, 16). Die Fächer Geschichte und Grund in dem Wunsch, das mangelnde Griechisch auf
Geographie wurden in Privatstunden gegeben, die einem Gymnasium zu verbessern.
Tappert aber auch für arme Schüler kostenlos erteilt
haben soll. Ob Mathematik und Geometrie im öffent-
Suche nach Bildung: Unterricht in Berlin
lichen Unterricht gelehrt wurden, ist unklar, zumin-
dest hatte Tappert 1719 die Fächer beantragt (Götze Auf Empfehlung von Tappert besuchte der siebzehn-
1865, 126). Neu war die Einführung in die deutsche jährige W. vom 18. März 1735 bis Herbst 1736 das
Poetik, dem allgemeinen Trend folgend, den Regional- Cöllnische Gymnasium in Berlin (Br. III, 523) und er-
und Nationalsprachen wachsende Bedeutung ein- wirkte bei der Schönbeckschen Stiftung Stendal Bü-
zuräumen (Koerrenz 2001, Sp. 92; Arnold 1711, 431). chergeld (Br. IV, 375–376). Rektor Bake, ein Altmär-
Der Schulactus von 1732, an dem W. als Schüler der ker, nahm ihn bei sich auf, dafür übernahm W. die
Mittelprima teilnahm, war in Latein, Deutsch und Aufsicht über dessen Kinder und unterrichtete sie
Französisch gehalten (Götze 1865, 126; 193–194). W. (Justi I, 35). Er genoss auch die Gastlichkeit des alt-
sprach »Von dem Wunderbahren Rath Gottes, wie sol- märkischen Pastor Kühze (Segelken 1917, 9; Br. I, 432,
cher an den Salzburgischen Emigranten herrlich aus- 535) und wurde bekannt mit Frisch, dem Rektor des
geführet« und hatte darüber zu disputieren, ob das Gymnasiums zum Grauen Kloster (Justi I, 35). In der
Gottesbild dem ersten Menschen anerschaffen oder als Prima wurden hier in Griechisch Herodians Kaiser-
eine natürliche Gabe zur Entwicklung gelangt sei (Br. geschichten und Homer in wöchentlich zwei Stunden
IV, 375). Der fünfzehnjährige W. schenkte nach gehal- gelesen (Kochs 2005, 17). Die Anfänge von W.s le-
1 Herkunft, Kindheit, Schulzeit 5

benslanger Beschäftigung mit Homer dürften in das Literatur


Berliner Jahr zurückgehen. Konrektor und damit Arnold, Gottfried: Der Woleingerichtete Schul-Bau: Nach
auch W.s Lehrer war Damm, der gerade am Beginn denen vornehmsten Stücken einer Christlichen Schule
[...]. Leipzig; Stendal 1711.
seiner Karriere stand und später Lehrer von Moses Bäbler, Balbina: Winckelmanns lateinische Gedichte aus Ho-
Mendelsohn war. Damms erste Veröffentlichungen mer. In: Lehmann, G. A./Engster, D./Nuss, A. (Hg.): Von
galten u. a. der Pseudo-Homerischen Batrachomyo- der bronzezeitlichen Geschichte zur modernen Antiken-
machie (1735), die auch Unterrichtslektüre war rezeption. Göttingen 2012, 163–182.
(Kochs 2005, 16–17). Zwar interessierte Damm nicht Biester, Matthias/Vohn-Fortage, Klaus: Armut, Bettel und
Gesang: Hamelner Kurrende. Hameln 2003.
die Dichtkunst Homers, sondern nur das homerische
Boenigk, Otto von: Winckelmanns Abstammung. In: Beiträ-
Vokabular, doch war er überzeugt, »dass die Nach- ge zur Geschichte, Landes- und Volkskunde der Altmark
ahmung der Griechen zur Hebung des kulturellen Ni- 2 (1909) 6, 380–385.
veaus in Deutschland« führen würde; auch galt für Bruer, Stephanie-Gerrit: Winckelmann-Museum: Ein Gang
ihn eine Überlegenheit der griechischen über die la- durch die Ausstellung. Hg. von Max Kunze. Stendal 2007.
teinischen Schriftsteller – zwei spätere Leitgedanken Danneil, Johann Friedrich: Geschichte des Gymnasiums zu
Salzwedel. Salzwedel 1822 (Reprint 2006).
W.s (Bäbler 2012, 180). Eine neue Welt, die der Bü-
Enders, Liselotte: Die Altmark: Geschichte einer kurmärki-
cher, eröffnete sich ihm in Berlin: Er besuchte die schen Landschaft in der Frühzeit (Ende d. 15. bis Anfang
Churfürstliche Bibliothek, deren Buchbestand bis d. 19. Jh.). Berlin [2008].
1740 auf 72000 Bände angewachsen war (Kunze 1961, Goethe, Johann Wolfgang von: Winckelmann und sein Jahr-
10). Gerade war die Societät der Wissenschaften da- hundert: in Briefen und Aufsätzen. Leipzig 1969.
bei, die mathematische und medizinische Literatur Götze, Ludwig: Geschichte des Gymnasiums zu Stendal von
den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Stendal 1865.
aus dem Gesamtbestand herauszulösen (Harnack Götze, Ludwig: Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal.
1901, 180), was die wachsende Bedeutung dieser Dis- Stendal 1873. (Leipziger Verlagsgesellschaft 1993).
ziplinen unterstreicht, für die sich W. wenige Jahre Grießinger, Andreas: Schuhmacher. In: Lexikon des alten
später interessieren wird. Keinen Hinweis gibt es, dass Handwerks: Vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert.
er mit Begers »Thesaurus Brandenburgicus« (1696– München 1990, 224–230.
Habendorf, Simone: Stendaler Große Schule. In: Winckel-
1701) bekannt wurde und damit mit dem Antiken-
mann-Blätter 19 (2011), 10–17.
bestand. Im Einschreibebuch notierte Bake bei W.s Harloe, Katherine: Winckelmann and the invention of anti-
Abgang treffend, er sei ein »homo vagus et incon- quity: History and aesthetics in the age of Altertumswis-
stans« (Richter 1968, 746). senschaft. Oxford 2013.
Harnack, Adolf: Geschichte der königlich-preußischen Aka-
demie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1901.
Suche nach Bildung: Unterricht in Salzwedel Irmscher, Johannes: Johann Joachim Winckelmann in der
Sicht seiner altmärkischen Zeitgenossen. In: Gaethgens,
Von Berlin nach Stendal zurückgekehrt, ging W. noch Thomas W. (Hg.): Johann Joachim Winckelmann: 1717–
im selben Jahr nach Salzwedel. Im Schulbuch der Alt- 1768. Hamburg 1986, 31–40.
städter Schule wurde er am 15.11.1736 eingetragen Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 3 Bde.
(Br. IV, 180; Danneil 1822, 62–63). Rektor der Schule Köln 51956.
Koch, Detlef: Stendals Straßen: Geschichte und Geschich-
war Scholle (Schwarz 1882, 2), der u. a. gute Sprach-
ten. Stendal 2015.
kenntnisse auch des Griechischen besaß (Justi I, 50, Kochs, Susanne: Winckelmanns Studien der antiken griechi-
Br. I, 114). In Salzwedel war der Unterricht in der Pri- schen Literatur. Ruhpolding 2005.
ma erstaunlich substanziell: Zwei Wochenstunden Koerrenz, Ralf: Lateinschule. In: DNP 15/1, 90–92.
wurden auf das Neue Testament verwendet; in vier Kunze, Horst/Dube, Werner: Zur Vorgeschichte der Deut-
weiteren Stunden wurden Platons Apologie des So- schen Staatsbibliothek. In: Deutsche Staatsbibliothek
1661–1961: Geschichte und Gegenwart. Leipzig 1961,
krates, Hesiods Werke und Tage, Aristoteles’ Rhetorik,
1–48.
Theophrasts Charaktere und Xenophons Erziehung La Vopa, Anthony: Grace, talent and merit: Poor students,
des Kyros gelesen (Kochs 2005, 19). Durch Privat- clerical careers, and professional ideology in eighteenth-
unterricht versuchte W. sich selbst zu finanzieren. Sein century Germany. Cambrigde 1988.
erwachter Bücherhunger führte ihn zu Fuß bis nach Leppmann, Wolfgang: Eine Biographie. Frankfurt a. M.
Hamburg, um aus der Bibliothek des 1737 verstorbe- 1971.
Richter, Wolfgang: »Homo vagus et inconstans«: Ein Urteil
nen Fabricius griechische und lateinische Autoren zu über Winckelmann. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der
erwerben, vor der offiziellen Versteigerung 1741 Universität Rostock I (1968), 7/8, 731–746.
(Kochs 2005, 19).
6 I Biographie

Schule und Absolutismus in Preussen: Akten zum preußi-


schen Elementarschulwesen bis 1806. Bearb. u. hg. von
2 Studienzeit in Halle (Saale) und
Wolfgang Neugebauer. Berlin 1992. Jena
Schwarz, Paul: Einiges zur Geschichte des Salzwedeler Gym-
nasiums, Salzwedel 1822.
Segelken, [Heinrich]: Winckelmann 1717–1768: Ein Le- Die Friedrichs-Universität Halle zählte zu Beginn des
bensbericht zum 200. Geburtstage seiner Geburt. Stendal 18. Jh. zu den meistbesuchten Universitäten Deutsch-
1917.
lands. Aus ihr gingen so berühmte Persönlichkeiten
Winckelmann, Johann Joachim: Lettere. Hg. von Maria Fan-
celli und Joselita Raspi Serra. 3 Bde. Roma 2016. hervor wie der Komponist Georg Friedrich Händel
Wolf, Siegmund A.: Johann Joachim Winckelmanns Vorfah- (1685–1759), der Historiker Johann Christoph von
ren. In: Montagsblatt: Wissenschaftliche Beilage der Mag- Dreyhaupt (1699–1768) und Dorothea Christiana
deburgischen Zeitung, Nr. 36 vom 05.09.1938, 281–283. Erxleben (1715–1762), die erste ordentlich promo-
Vierhaus, Rudolf: Deutschland im 18. Jahrhundert: soziales vierte Ärztin Deutschlands. Ursprüngliches Anliegen
Gefüge, politische Verfassung, geistige Bewegung. In: Das
pädagogische Jahrhundert: Volksaufklärung und Erzie- der 1694 gegründeten Universität war die Ausbildung
hung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland. von Standespersonen zu leitenden Beamten des Mi-
Weinheim 1981, 15–28. litär- und Zivildienstes. Das Lehrangebot umfasste
sowohl Staats- als auch Naturwissenschaften. Unter
Agnes Kunze / Max Kunze
dem Einfluss des Rechtsgelehrten und Philosophen
Christian Thomasius (1655–1728) und des Universal-
gelehrten Christian Wolff (1679–1754) wurde die
Universität zu einem Ausgangspunkt der deutschen
Aufklärung. Auf pietistischen Druck 1723 aus Halle
verbannt, kehrte Wolff erst im Dezember 1740 dort-
hin zurück.
Im Jahre 1737 erneuerte Friedrich Wilhelm I. sein
am 1. November 1727 erlassenes Edikt, »jeder an-
gehende evangelisch-lutherische Pfarrer in des Königs
Landen« habe eine zweijährige Studienzeit in Halle zu
absolvieren (Wallmann 2008, 392). W. hätte wohl gern
Medizin studiert, doch die Theologische Fakultät war
die einzige, die mittellosen Studenten die Studien-
gebühren erließ. Auf Fürsprache des Rektors der Sten-
daler Lateinschule Esaias Wilhelm Tappert gewährte
die Stiftung des 1605 in Stendal verstorbenen Bürger-
meisters Bartholomäus Schönbeck und seiner Frau
Margarethe (Sitz Marienkirche Stendal) 1736 bereits
ein Bücherstipendium und nun ein zweijähriges Uni-
versitätsstipendium. Am 4. April 1738 schrieb sich W.
in der neben dem Alten Rathaus gelegenen Ratswaage,
dem damaligen Hauptgebäude, unter der Nummer 29
in die Matrikel ein (Justi 1866–1872 I, 46). Sowohl
sein Matrikeleintrag als auch seine obligatorischen
Collegien werden von Justi (ebd. I, 483) dokumen-
tiert, darunter diejenigen des Professors Siegmund Ja-
kob Baumgarten (1706–1757) über den Römer- und
den Hebräerbrief.
Baumgartens Bedeutung liegt in der Anwendung
der Wolffschen Philosophie auf die Theologie und in
dem Versuch, die Dogmen mit rationaler Beweisfüh-
rung zu stützen oder einzuschränken. Baumgarten
gilt zudem als Wegbereiter der historisch-kritischen
Methode. Voltaire nannte ihn »die Krone der deut-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_2, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
2 Studienzeit in Halle (Saale) und Jena 7

schen Gelehrten« (Allgemeine Deutsche Biographie »Das Leben der Studierenden spielte sich nicht in
II, 161). Baumgartens vielbändige Übersetzung der den Hörsälen, Seminarräumen, Bibliotheken und
Allgemeinen Welthistorie [...] (Halle 1744–1759) aus Sammlungen ab. Es war eines der mehr oder minder
dem Englischen diente W. später als historische Quelle gelehrten Konversation, die offenbar den ganzen
(Demandt 1986, 308). Als er sich im Sommer 1748 auf Nachmittag einnahm und am Abend in den Wein-
dem Weg nach Nöthnitz befand, stattete er Baumgar- schenken der Stadt mit weitgereisten Fremden fort-
ten einen Besuch ab. gesetzt wurde« (Dilly 2002, 285–286). W. teilte sich ei-
Der Theologe Joachim Lange (1670–1744) war ne Stube mit dem Medizinstudenten Samuel Benedict
Nutznießer der Vertreibung Wolffs aus Halle. Drei Se- Lucius aus Freystadt [poln. Kożuchów], Niederschle-
mester lang hörte W. den knapp siebzigjährigen Pro- sien. Vormittags saß er über geliehenen Büchern, die
fessor zur Oeconomia Salutis Evangelica, Eaqve Dog- Abende genoss er im Kreise von Freunden, unter ih-
matica [...] (Justi 1866–1872 I, 483). nen die Jurastudenten Hieronymus Dietrich Berendis
Bei dem Privatdozenten und Professor für Philoso- aus Seehausen (Altmark) und Friedrich Wilhelm
phie Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), Marpurg vom altmärkischen Seehof (heute OT Neu
dem jüngeren Bruder Siegmund Jakob Baumgartens, Goldbeck, Wendemark) sowie Gottlob Burchard
hörte W. Logik und Geschichte der alten Philosophie, Genzmer aus Hohen-Lübbichow (poln. Cedynia), der
Metaphysik und schließlich philosophische Enzyklo- gerade sein Theologiestudium absolviert hatte. 1740
pädie (Justi 1866–1872 I, 90). Mit seiner Dissertation stieß der junge Karl Theophil Guichard aus Magde-
Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema per- burg, Student der Theologie und alter Sprachen, dazu.
tinentibus (Philosophische Betrachtungen über einige Erwähnt werden weiterhin die Landsleute Martin
Bedingungen des Gedichtes, 1735) begründete Baum- Damke, Johann Kütze sowie Christian Friedrich Be-
garten die Ästhetik als philosophische Disziplin und rendis (Irmscher 1986, 32).
legte die Grundlagen zur Theorie der sinnlichen Er- Als W.s Seelsorger wird der aus Neuruppin stam-
kenntnis. Laut Friedrich Eberhard Boysen hat W. mende Pastor Adam Struensee (1708–1798) genannt,
»kein Collegium ganz ausgehalten, außer Alexand. der an der Universität auch über Moral und Exegese
Gottl. Baumgartens Publicum, worin er die Encyclo- las (Justi 1866–1872 I, 58). Nach vier Semestern brach
pädie vortrug; und dieses wegen der Bücherkenntniß, W. sein Studium ab. Am 22. Februar 1740 händigte
die dabey vorkam« (Br. IV, 173). Im Jahre 1740 wurde Christian Benedict Michaelis, Dekan der Theologi-
Alexander Gottlieb Baumgarten Professor der Welt- schen Fakultät, »Ioannes Georgius Winckelmann« ein
weisheit und der schönen Wissenschaften an der zwar wohlwollendes, aber nach W.s eigenen Angaben
Brandenburgischen Universität Frankfurt. nur »sehr kahles Theol. Zeugniß« (Br. III, 462) aus.
Der Ordinarius der Theologischen Fakultät Chris- Über seinen Seelenzustand habe die Fakultät nicht ge-
tian Benedict Michaelis (1680–1764), auch Professor nügend erfahren können, hieß es. Da er aber regel-
der orientalischen Sprachen und des Griechischen, mäßig zu den Vorlesungen erschienen sei, bestehe die
interpretierte die Bibel unter sprachwissenschaftli- Hoffnung, er habe »einige Frucht« mitnehmen kön-
chem, quellen- und textkritischem Aspekt. Der be- nen (Br. IV, 377).
reits erwähnte Friedrich Eberhard Boysen, der späte- W. blieb in Halle und sammelte praktische Erfah-
re Übersetzer des Koran, war ab 1737 sein Student rungen. Im Sommer 1740 vertraute ihm der 72-jähri-
(Hentrich 2010, 42–45). W.s vornehmliches Interesse ge Kanzler und erste Ordinarius der Juristischen Fa-
war bekanntlich auf die Studien griechischer Schrif- kultät Johann Peter von Ludewig (1668–1743) die
ten gerichtet, wozu er – soweit möglich – die Bestände Neuordnung seiner Privatbibliothek an. Mit nahezu
der öffentlichen Bibliotheken nutzte. Die Univer- 13476 Bänden und mehr als 900 Handschriften war
sitätsbibliothek in der Waage umfasste kaum 10.000 Ludewigs Sammlung weit umfangreicher als die Uni-
Bände und war an drei Nachmittagen von 1 bis 2 Uhr versitätsbibliothek (Schnelling u. a. 2011, 332). Zwei
geöffnet. Jahre zuvor hatte der Student der Rechtswissenschaf-
Auch die Kulissenbibliothek des Franckeschen ten Johann Ludwig Gleim versucht, Ordnung in die
Waisenhauses öffnete nur an drei Tagen von 1 bis 3 Bibliothek zu bringen und damit die Grundlagen für
Uhr, aber sie bot jene Werke, die auch W.s Interesse seine eigene Sammlertätigkeit gelegt. Ludewig war
fanden (Justi 1866–1872 I, 48). Dagegen war die Ma- Professor für Geschichte und zählt wie Heinrich
rienbibliothek eine ununterbrochen zugängliche Reichsgraf von Bünau zu den namhaften Vertretern
evangelische Kirchenbibliothek. der Reichsgeschichtsschreibung. Seine Bibliothek
8 I Biographie

nutzte W. zum Selbststudium und Anfertigen von Ex- Lebensunterhalt zu bestreiten, verdorben wurde, ließ
zerpten (Müller 2017, 135). Darüber hinaus erhielt er es kaum zu, dass ich zur Ruhe komme. Was auch im-
private Lektionen zum Lehnswesen. Als Hofhistorio- mer aber es sei, das ich von da als Ertrag heimbrachte,
graf und königlich preußischer Geheimrat hatte Lude- so gestehe ich, verdanke ich wohl ganz und gar dem
wig Zugang zu bedeutenden Archiven. äußerst scharfsinnigen Hamberger. Bevor ich aber ab-
Der um sechs Monate verlängerte Aufenthalt in reiste, habe ich mich intensiv der Aneignung der
Halle bot W. Gelegenheit, Lehrveranstaltungen zu be- Grundlagen des Italienischen und der Sprache der
suchen, die seinen Neigungen entsprachen. Gottfried Engländer gewidmet« (Übersetzung nach Kochs
Sell (um 1704–1767), der später W.s Geschichte der 2007, 23). W.s Name ist weder in der Matrikel der Uni-
Kunst ins Französische übersetzte, las neben Rechts- versität noch in einem der Stammbücher Jenaer Stu-
geschichte über Naturwissenschaften und führte phy- denten nachgewiesen; vielleicht hat er sich gar nicht
sikalische Experimente durch. Darüber hinaus beein- immatrikulieren lassen (freundliche Auskunft von
druckte er als Publizist und Übersetzer. Von eminen- Uwe Dathe, ThULB Jena).
ter Bedeutung für W.s Karriere ist die Begegnung mit Der im Brief erwähnte Georg Erhard Hamberger
Johann Heinrich Schulze (1687–1744), Professor für (1697–1755) wohnte im sogannten Weigelschen Haus,
Medizin, Beredsamkeit und Altertumskunde. Dessen Johannisgasse 26. Das Haus, unweit der Stadtkirche,
Sammlung griechischer und römischer Münzen mit verdankte seinen Ruhm der ungewöhnlichen tech-
mythologischen Darstellungen bildete später den nischen Ausstattung, die der Mathematikprofessor Er-
Grundstock der archäologischen Universitätssamm- hard Weigel (1625–1699) dort installieren ließ (Kochs
lung. Bereits im Sommersemester 1738 folgte W. einer 2007, 25). Hamberger war Mediziner und lehrte seit
Einladung zu Schulzes »Collegio privato über die 1737 in Jena als Professor für Mathematik und Physik.
Müntz-Wissenschaft«. Er war »der Letzte, der noch gegen die Mitte des Jahr-
Während seiner mehrmonatigen Tätigkeit als Pri- hunderts hin an dem iatrometrischen System mit aller
vatlehrer im altmärkischen Osterburg ersparte W. die Strenge festhielt« (Justi 1866–1872 I, 97), d. h. das
notwendigen Mittel für die Fortsetzung seines Studi- Funktionieren des menschlichen Organismus mithilfe
ums. Er wollte sich nun den Naturwissenschaften und physikalischer Gesetze erklärte. Die bei Hamberger er-
neueren Sprachen widmen. Im Herbst des Jahres 1741 worbenen anatomischen Kenntnisse könnten sich für
ging er nach Jena (Herzogtum Sachsen-Weimar-Eise- W. später als hilfreich bei der Beschreibung antiker
nach). Am 1558 gegründeten Collegium Jenense hat- Kunstwerke erwiesen haben. »Die Naturwissenschaf-
ten die Naturwissenschaften – Botanik, Chemie, As- ten und die Medizin haben nie aufgehört, Winckel-
tronomie, Mathematik und Anatomie – oberste Prio- mann von Zeit zu Zeit zu beschäftigen; obwohl ihm nie
rität. Zu den namhaften Absolventen der Universität Muße für zusammenhängende Studien zu Theil wur-
zählten der Philologe Johann Matthias Gesner (1691– de« (Justi 1866–1872 I, 98).
1761) und der Archäologe Johann Friedrich Christ 1740 existierten in Jena die Schlossbibliothek, die
(1701–1756). Obwohl der regierende Herzog Ernst allerdings Repräsentanten des Hofs vorbehalten war,
August I. (1688–1748) wenig in die Bildungseinrich- gut ausgestattete Privatbibliotheken der Professoren
tungen seines Landes investierte (Seemann 2012, 64), und das von dem Historiker und Philologen Johannes
zählte Jena zu den begehrten Universitätsstandorten. Andreas Bose (1626–1674) hinterlassene Münzkabi-
Die Studenten – im Gegensatz zu Halle vor allem nett (Zenker 1836, 59). Im Refektorium des ehema-
bürgerlicher Herkunft – waren eine wichtige Einnah- ligen Dominikanerklosters (Collegienhof, heutige Ko-
mequelle: Bier- und Weinseligkeit, Magisteressen und legiengasse 10) befand sich die akademische Biblio-
Doktorschmäuse leerten ihre Geldbeutel (Hill/Kös- thek des Collegium Jenense. Sie enthielt wertvolle
ling 2012, 61). Obwohl die Studiengebühren deutlich Handschriftenraritäten und war öffentlich zugänglich
unter denen anderer Universitätsstädte lagen, musste (Hellmann/Weiland 2008, 20–22). Dort soll W. auf den
W. seinen Unterhalt mit Privatstunden absichern. In Rysselschen Catalog gestoßen sein (Justi I, 105). Der
seinem lateinischen Bewerbungsschreiben an den 1741 von Friedrich Jakob von Ryssel herausgegebene
Reichsgrafen von Bünau (Br. I, 80) heißt es: »Nach Je- Band dokumentiert die griechische Handschriften-
na bin ich gegangen, ich war entschlossen, meinen sammlung der königlichen Bibliothek zu Paris (Hôtel
Geist auf die Medizin zu richten und bei der höheren de Nevers, heute Rue de Richelieu). Diese originalen
Mathematik ins Schwitzen zu kommen. Die Tätigkeit Schriften wollte W. mit eigenen Augen sehen. Für seine
aber, die bei meinen privaten Bemühungen, meinen ›akademische Reise‹ verkaufte er sogar seine Bücher.
3 Hauslehrer- und Konrektorenjahre 9

Im Spätsommer 1741 verließ er Jena. Laut Genzmer – 3 Hauslehrer- und Konrektorenjahre


inzwischen Pastor und Propst in Stargard (Mecklen-
Der Hauslehrer Winckelmann
burg) – war W.s Budget jedoch bereits in Gelnhausen
(Hessen) erschöpft, weshalb er unverrichteter Dinge Auf der Suche nach Aufstiegsmöglichkeiten nach dem
habe zurückkehren müssen (Br. IV, 174). Studium diente zur Überbrückung die Tätigkeit als
Hauslehrer oder Hofmeister. Die Arbeitsbedingungen
Literatur waren aber äußerst unterschiedlich und schwankten
Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. II. Leipzig 1875. zwischen Akzeptanz und Förderung oder Ausnützung
Bulling, Karl (Hg.): Geschichte der Universitätsbibliothek und Demütigung (Schiffler/Winkeler 1983, 94). W.s
Jena 1549–1945. Weimar 1958.
Demandt, Alexander: Winckelmann und die Alte Geschich-
erste Stelle als Hauslehrer war nicht weit von Stendal
te. In: Gaehtgens, Thomas (Hg.): Johann Joachim Win- entfernt gewählt, auch um den im Hospiz lebenden
ckelmann 1717–1768. Hamburg 1986, 301–313. Eltern näher zu sein. Im Frühjahr 1740 trat W. für ein
Dilly, Heinrich: Johann Joachim Winckelmann in Halle. In: Jahr in den Dienst von Grolmann in Osterburg. Es
Rupieper, Hermann J. (Hg.): Beiträge zur Geschichte der wurde eine anregende Zwischenetappe, um ein für
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1502 bis
seine Karriere zwar nicht notwendiges, aber ihm sinn-
2002. Halle 2002, 279–289.
Hellmann, Birgitt/Weilandt, Doris: Jena musarum salana- voll erscheinendes weiterführendes Studium in Halle
rum sedes: 450 Jahre Universitätsstadt Jena. Jena 2008. oder Jena zu finanzieren. W. unterrichtete den ältesten
Hentrich, Martin: Friedrich Eberhard Boysen. Ein Halber- Sohn, Friedrich Georg Ludwig (geb. 1726), in Ge-
städter übersetzt den Koran. In: Zwischen Harz und schichte und Philosophie, ein weiterer französischer
Bruch. Heimatzeitschrift für Halberstadt und Umgebung. Hauslehrer unterrichtete Französisch, Italienisch,
Dritte Reihe, H. 61 (2010), 41–45.
Geometrie und Taktik. In dem seine Biographie um-
Hill, Christian/Kösling, Barbara: Jenaer Tischgeschichten.
Eine kulinarische Reise durch fünf Jahrhunderte. Erfurt reißenden Bewerbungsbrief an Bünau (Br. I, 79) lobt
2012. W. die freundliche Behandlung in dem durch franzö-
Irmscher, Johannes: Winckelmann und seine altmärkischen sische Bildung geprägten Haus, das Frau von Grol-
Zeitgenossen. In: Gaehtgens, Thomas (Hg.): Johann Joa- mann führte. Diese geistig anregende Umgebung
chim Winckelmann 1717–1768. Hamburg 1986, 31–40. zeigte ihm seine Unkenntnis der neueren Sprachen
Jaeger, Henrik: Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung
der deutschen Aufklärung? Jesuiten als Brückenbauer und Literatur, so dass er auf eigene Faust begann, sich
zwischen den Welten. Gastvortrag am 21. Mai 2012 an der mit Englisch, Französisch und Italienisch zu beschäf-
Münchner Hochschule für Philosophie. https://www.uni- tigen (Leppmann 1971, 51). Auch wenn W. seine Bil-
hildesheim.de/media/fb2/philosophie/J%C3 %A4ger_ dungsgrenzen zu spüren bekam, fand er sich schnell
AZP-Artikel.pdf, 1–25. in die neue Rolle hinein, da er in Berlin und Salzwedel
Justi, Carl: Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine
bereits als ›paedagogus‹ tätig gewesen war.
Zeitgenossen. 2 Bde. Leipzig 1866–1872.
Kochs, Susanne: Suche nach der Lebensaufgabe. Winckel- Nach seinem Studium in Jena und der abgebroche-
mann als Jenaer Student. In: Kunze, Max (Hg.): Johann nen ›akademischen Reise‹ suchte W. erneut eine An-
Joachim Winckelmann. Seine Wirkung in Weimar und stellung. Schon zuvor hatte Nolte, Schulmann und Ge-
Jena. Stendal 2007, 23–27. neralsuperintendent der Altmark und Priegnitz (Ah-
Müller, Adelheid: Herder auf der Spur Winckelmanns. In: rendt 1974, 34), ihn auf eine Lehrerstelle in Seehausen
Bomski, Franziska/Seemann, Hellmut/Valk, Thorsten
(Hg.): Die Erfindung des Klassischen. Winckelmann-Lek-
hingewiesen, die er wegen der Reise ebenso abgelehnt
türen in Weimar. Göttingen 2017, 117–140. hatte wie eine weitere in Arneburg ein Jahr später;
Schnelling, Heiner/von Cieminski, Marita/Sommer, Doro- denn dort sollte er neben dem Schuldienst auch predi-
thea/Wöllenweber, Heidrun: Bestände des 18. Jahrhun- gen, Orgel spielen und vorsingen (Justi I, 138). Statt-
derts aus der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen- dessen verdingte er sich als Hauslehrer in Hadmers-
Anhalt in Halle – eine Auswahl. In: Dziekan, Katrin/Pott,
leben (Frühjahr 1742 bis Frühjahr 1743). Da er inzwi-
Ute (Hg.): Lesewelten. Historische Bibliotheken. Halle
2011, 331–354. schen akademisch gebildet und durchaus selbst-
Seemann, Annette: Weimar: Eine Kulturgeschichte. Mün- bewusster geworden war, kam es diesmal gelegentlich
chen 2012. zu Problemen im Dienst des Oberamtmanns des Mag-
Wallmann, Johannes: Pietismus-Studien. Gesammelte Auf- deburgischen Domkapitels, Lamprecht. W. unterrich-
sätze II. Tübingen 2008. tete dessen ältesten Sohn Friedrich Wilhelm Peter. Für
Zenker, Jonathan Carl: Historisch-topographisches Ta-
schenbuch von Jena und seiner Umgebung. Jena 1836.
W. erwuchs daraus eine – pädagogisch intendierte
und zelebrierte – Liebesbeziehung, die homoerotische
Klaus-Werner Haupt Züge hatte, eine, unter steter Betonung antiker Vorbil-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_3, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
10 I Biographie

der, tiefe Zuneigung, die sich über Jahre spannungs- 8. April 1743 hielt W. in Seehausen seine Probevor-
voll zwischen Gefühlsdichte und Bitterkeit bewegte. lesung, die zugleich das in Halle nicht abgelegte theo-
Die zärtlich-schwärmerischen Briefstellen an Lam- logische Examen ersetzte (Paulsen II 1921, 578–579).
precht wiederholen sich aber auch gegenüber anderen Er las in der Theologie über das Dogma von der Erlö-
Freunden wie Genzmer und Berendis und gehören sung Christi und in der Philosophie über die Ideen. In
zum Freundschaftskult der Zeit (Bäbler 2012, 173). Latein (Ciceros Briefe, Ovid), Griechisch und Hebrä-
Lamprecht folgte W. anderthalb Jahre später nach See- isch gab er Proben. Tage später, eingeführt durch den
hausen, wo er bis Anfang 1746 blieb (Br. I, 309–310). Rektor Paalzow, hielt W. eine lateinische Rede (Br. IV,
»Dort in Hadmersleben widmete ich mich der Ge- 378). Er unterrichtete alte und neuere Geschichte,
schichte, unter Hintansetzung aller übrigen Wissen- auch als Privatunterricht: »Die Geschichte behandelte
schaften«, schrieb W. an Bünau rückblickend (s. o.), ich mit Söhnen der dortigen Adelsfamilien, von denen
was auch für die ersten Jahre in Seehausen zutrifft, da ich den einen oder den anderen in meiner Wohnung
er sein »Glück auf [der] Universität finden« wollte: besonders unterrichtete.« (Br. I, 80). Zu diesem Kreis
»Mein Hauptwerk muß die Geschichte sein.« (Br. I, gehörten von Bülow (bis 1747) und der junge Lam-
37). Doch blieb W.s Wissensdrang weiter enzyklopä- precht (bis Frühjahr 1746; Justi I, 153). »So trug ich,
disch und war abhängig von zugänglichen Bibliothe- mit dem 15. Jahrhundert beginnend, täglich 5 Jahre
ken. Er interessierte sich weiterhin für griechische lang vor, und nachdem ich die Geschehnisse im deut-
Schriften mathematisch-philosophischen und medi- schen Reiche beendigt hatte, nahm ich alle Herrscher-
zinischen Inhalts wie in Jena. Mit einigen Bibliotheks- häuser durch, prägte meinen Schülern die chronologi-
besitzern wie Hanses, einem früheren dänischen Ge- sche Folge ein, und gab ihnen einen Begriff von den
sandschaftssekretär, unweit von Hadmersleben le- Stammbäumen und Genealogien. [...] Auf diese Weise
bend, entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis (Justi durcheilte ich die Jahrhunderte, ich pflegte noch ein
I, 128) und ein reger Briefkontakt. Hanses besaß das Jahr über das Pensum hinauszugehen [...], arbeitete
»Dictionnaire historique et critique« (1697) von Bay- [...] das Kriegs- und Friedensrecht von Grotius durch
le, das W. in der Zeit zwischen Halle und Nöthnitz mit den Anmerkungen von Gronovius und Barbeira-
»zweimal in deutscher Übersetzung [exzerpierte] und tius.« (Br. I, 80). Zu W.s Fächern gehörten auch Geo-
drei Serien von Exzerpten anfertige: das erste Heft von metrie mit praktischen Übungen im Gelände (nach
etwa 1400 Seiten, dann zwei von jeweils 40 Blättern« Walther, in Br. IV, 190, vgl. auch Br. I, 48), Logik, Phi-
(Décultot 2004, 37). Weitere Reisen sind belegt, etwa losophie (Br. IV, 79) und natürlich Latein, Griechisch
nach Halle, um in der Privatbibliothek von S. J. Baum- und Hebräisch. Hatte Boysen erfolgreich den Latein-
garten eine Stelle nachzuschlagen, was diesen so be- unterricht, auch didaktisch, verbessert, so suchte W.
eindruckte, dass er W. als Magister nach Halle holen das Griechische voranzutreiben, den Schülern grie-
wollte (Justi I, 128). chische Literatur und Kultur zu vermitteln, aus der
Überzeugung (wie Damm sie vertrat) heraus, dadurch
das allgemeine Bildungsniveau zu verbessern. Neben
Das Konrektorat in Seehausen
dem Neuen Testament las er profane Texte griechi-
Als W. hörte, dass Boysen, Konrektor in Seehausen, ei- scher und lateinischer Autoren und machte sich aus
nen Nachfolger suchte, traf er sogleich mit ihm zu- Mangel an Schulbüchern daran, »die auserlesensten
sammen. Durch Boysen war die Schule an Ansehen Stellen aus den griechischen Schriftstellern eigenhän-
gewachsen, da er die Lehrmethoden mit Erfolg mo- dig abzuschreiben« und zu verteilen (an Walther, in
dernisiert und das Lateinische vorangebracht hatte. Br. IV, 190). Dieser Versuch schlug offensichtlich fehl.
Mehr Schüler als zuvor gingen von Seehausen zum Ein Grund dürfte in der Sozialstruktur der von Acker-
Studium (Justi I 1956, 140–141). Da W. ihn »durch be- bau, Viehzucht, Brauerei und Kornhandel geprägten
wundernswürdige Proben von seinen großen Talen- Kleinstadt Seehausen mit nur 245 Feuerstellen (1719)
ten, und von der Stärke in der griechischen Litteratur« zu suchen sein (Enders 2008, 947–948), die weniger
(Br. IV, 175) überzeugte, setzte sich Boysen für ihn als als halb so viele Einwohner wie Stendal hatte.
zukünftigen Nachfolger ein. Boysen fand es zudem Bereits im November 1744 kam es nach dem Exa-
bemerkenswert, dass W. Herodot nicht nur übersetzt, men zu einer Rebellion der Schüler gegen W.; der ent-
sondern auch erklärt habe (Br. IV, 175–176). Aller- standene Streit musste von der Stadt gerichtlich ent-
dings vermerkt er, dass W. im Hebräischen zurück schieden werden. Bereits in den ersten Jahren seines
und mittelmäßig in Latein gewesen sei (ebd.). Am Wirkens kam es zu vielen Schulabgängen bzw. Schul-
3 Hauslehrer- und Konrektorenjahre 11

wechseln (Schulbuch, Stendal, Winckelmann-Mu- recht und Staatskunde, vom ausgiebigen Exzerpieren
seum), was auch Boysen kritisch vermerkt (Br. IV, aus Zedlers Universallexikon (Br. I, 25, 28), vor allem
177). Heftige Kritik bekam W. auch von kirchlicher von einer wachsenden Hinwendung zum Griechi-
Seite, weil er die aktive Teilnahme am kirchlichen Le- schen. W. wurde mit den maßgeblichen Ausgaben
ben verweigerte, etwa die Mitwirkung im Chor bei griechischer Schriftsteller bekannt (Kochs 2005, 25; Br.
kirchlichen Amtshandlungen und beim Predigen. Es I, 20), las und exzerpierte Plutarch, Hesiod, Stobaios
war die enge Bindung des Lehrerberufs an die Kirche, und Lukian. Den »Sophokles, den ich kaum aus der
die W. neben seinem Desinteresse an theologischen Hand lege«, verbesserte W. »und interpunktierte [ihn]
Fragen widerstrebte. Waren doch Pfarrer und Lehrer mit Hilfe der griechischen Scholien und Konjekturen
in Kleidung und Haartracht nicht zu unterscheiden an sehr vielen Stellen« (Br. I, 80), vertiefte sich in Pau-
(Fooken 1967, 30), weil es Lehrern verboten war, sanias, Platon und Xenophon und zog den »Thesaurus
prächtige Kleidung zu tragen (Walz 1988, 49). Er aber Graecae linguae« von Henri Estienne für Aristoteles-
habe dafür gesorgt, schrieb W. an Bünau, »mir in Leip- Texte heran (weitere Autoren bei Kochs 2005, 24). Er
zig, wohin ich fast jedes Jahr einmal reise, einfache erstellte ein alphabetisches Register griechischer Epi-
Anzüge in einfachen Farben zu kaufen, damit ich gramme und beschäftigte sich mit griechischen Schrif-
mich nicht schämen brauche, wenn ich unter vorneh- ten zu mathematisch-philosophischen Themen (Kochs
me Leute gehe.« Er wolle sich nicht »nach schulmeis- 2005, 23). Homers Epen standen bald im Zentrum: W.
terlicher Art in schwarze Lappen gehüllt [zeigen]« (Br. glaubte von sich, »ein einsamer Pionier der Homerlek-
I, 80). Mit dem Kircheninspektor und ersten Prediger türe zu sein« (Bäbler 2012, 176), wie aus einem lateini-
von St. Petri, Schnakenburg, kam es zum Zerwürfnis, schen Gedicht zu entnehmen ist. Darin erinnert er an
weil W. während der Predigt im Homer gelesen haben die Hochschätzung Homers in der Renaissance: »Nicht
soll. »Ich war verfolgt in meinem Vaterlande und als ging der Knabe [...] weg / wenn er nicht zuvor auch die
ein Gottesleugner ausgeschrien und mit Entsetzung Ilias richtig kennengelernt hatte / [...] Jetzt liegt Homer
und Verweisung bedrohet«, schrieb W. rückblickend weggeworfen und in den Tartaros geschickt da.«
im September 1757 in Rom (Br. I, 320). Als Folge durf- (übers. Bäbler 2012, 165) – Verse, die W. in den Rei-
te er nur noch Elementarunterricht leisten, an den er feren Gedancken über die Nachahmung der Alten
sich noch 1764 bitter erinnerte, als er »Kindern mit (1756/57) aufgreifen wird. Er las intensiv, exzerpierte
grindigten Köpfen das Abc lesen [liess], wenn ich mehr als 300 Verse aus der Odyssee und der Ilias –
während dieses Zeitvertreibs sehnlich wünschte, zur auch als eigene innerste Daseinsbeschreibung, um et-
Kenntnis des Schönen zu gelangen, und Gleichniße wa seinem Seehausener Leiden zu trotzen: »Ich unter-
aus dem Homerus betete.« (Br. III, 673). Seine innere liege nicht. Ich bin erprobt im Leiden.« (Kraus 1935;
Berufung als Erzieher der Jugend (»ad iuventutem Schadewaldt 1940, 15). Auch widmete er sich intensiv
erudiendam natus«, Br. I, 68 und öfters) betont er der lateinischen Literatur, indem er Verse von Ovid,
noch in Italien. Vergil und Horaz in einem speziellen Heft exzerpierte,
W.s Ansehen in der Stadt hat durch solche Mei- das den Titel »Von den Frühstunden« trägt (Bäbler
nungsverschiedenheiten wohl nicht wirklich gelitten. 2010, 22–23), las Livius und fertigte einen Kommentar
Dreimal wurde W. Pate von Kindern aus Seehäuser zu Juvenal an. »Die noch übrigen Nachtstunden füllte
Familien, häufiger als andere Lehrer (Kleinert 1990, ich mit den besten Dichtern Frankreichs, Englands
8–9). Zeitgenossen beschreiben ihn als gastlich, aber und Italien aus« (Br. I, 67–68; 80–81); so verbesserte
selbst äußerst bescheiden in seinen Ansprüchen. W. bzw. erlernte W. Italienisch und Englisch.
ließ sich einige der Freitische auszahlen (Br. IV, 380), Zahlreiche Reisen zur Literatursuche unternahm
um sich Bücherwünsche zu erfüllen, kam nach eige- W. von Seehausen aus – ihm wurde die Gabe zu-
ner Aussage mit zwei bis drei Stunden Schlaf aus (Br. I, geschrieben, ohne Geld reisen zu können. Er nutzte
79), oft nur in einem Lehnstuhl schlafend (Br. IV, 169). weiterhin die Bibliothek von Hanses, studierte in
Im Brief an Bünau betonte er: »Mein Körper ist näm- Magdeburg in Boysens Privatbibliothek, machte sich
lich schwächlich und von mäßiger Statur. Schon von zu Fuß auf nach Halle, Leipzig und Braunschweig
Kindheit an hinderte mich meine Schwäche größere (Kochs 2005, 32), frequentierte Adelssitze und Pfarr-
Arbeiten zu verrichten [...]« (s. o.), aber bis zur Er- häuser der Altmark und unterhielt viele Bekannt-
schöpfung zu arbeiten, sei er gewohnt. schaften nur um der Bücher willen (Justi I, 144). Zu
Die Seehausener Zeit ist geprägt von rastlosen eige- W.s Freunden dieser Jahre gehörten Berendis, dessen
nen Studien, etwa zur neueren Geschichte, zu Völker- Familie mehrmals das Bürgermeisteramt in Seehau-
12 I Biographie

sen bekleidete (Justi I, 151), Gottlob Burchard Genz- nischen Gymnasiums: während seiner Vereinigung mit
mer, Konrektor in Havelberg, Prinzenerzieher des dem Berlinischen Gymnasium. Berlin 1825.
herzoglichen Hauses Mecklenburg-Strelitz und lang- Kraus, Konrad: Winckelmann und Homer: mit Benutzung
der Hamburger Homer-Ausschreibungen Winckelmanns.
jähriger Korrespondent W.s sowie Samuel Buchholtz, Berlin 1935.
Konrektor in Werben/Elbe, ferner sein Bruder, Kantor Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf
in Havelberg. Man traf sich in dem nahegelegenen Ha- den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang
velberg und Werben (Klöden 1825, 16) und diskutier- des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rück-
te über Literatur und bildende Kunst. W.s Hinwen- sicht auf den klassischen Unterricht. Hg. und in einem
Anhang fortgesetzt von Dr. Rudolf Lehmann. 1. Band
dung zur bildenden Kunst ist in diesem Kreis erstmals
Leipzig 31919.
greifbar. Aus einem Brief an Genzmer (Br. I, 75–76) Schadewaldt, Wolfgang: Winckelmann und Homer. Leipzig
geht hervor, dass er die Gemäldesammlung von Jo- 1941.
hann Friedrich Conradi in Celle mit Arbeiten von van Schiffler, Horst; Winkeler, Rolf: Tausend Jahre Schule: Eine
Dyck, Rubens, Veronese, Holbein, Tintoretto, Cra- Kulturgeschichte des Lernens in Bildern. Stuttgart 1985.
nach kannte, ebenso Stiche und Stichwerke nach Walz, Ursula: Eselarbeit für Zeisigfutter: Die Geschichte des
Lehrers. Frankfurt a. M. 1988.
Kunstwerken, die er genau studierte, etwa Sandrarts
Teutsche Academie, Nürnberg 1675–1680, mit zahlrei- Agnes Kunze / Max Kunze
chen Stichen nach berühmten Antiken. Brieflich be-
wundert er aber nicht die abgebildeten Antiken son-
dern den Stecher und dessen raffinierte Haargestal-
tung bei der antiken ›Knöchelspielerin‹ (Br. I, 76 und
Komm.).
1747 war W. dreißig Jahre alt und als Konrektor de-
klassiert; seine Pensionäre waren ausgezogen: Die Su-
che nach einer neuen Stelle als Lehrer beschäftigte ihn
schon ein Jahr. Dann kam der Tod seiner Mutter am
8. März 1747. W. legte am 10. August 1748 sein Amt
als Konrektor nieder, um in Nöthnitz ein Probejahr zu
wagen. Nolte schrieb ihm ein Zeugnis aus: W. »hat in
der Griechischen Litteratur mehr als gemeine Kennt-
nisse erlangt, welche einer bessern Belohnung wären
werth gewesen, wenn man sie in den hiesigen Gegen-
den hätte ertheilen können.« (Br. IV, 380).

Literatur
Ahrendt, Otto: Winckelmann als Lehrer in Seehausen. In:
Das Altertum 20 (1974), 34–41.
Bäbler, Balbina: Winckelmann und Hannibal: Ein unver-
öffentlichtes Gedicht J. J. Winckelmanns aus seiner See-
hausener Zeit. In: Jahresheft des Vereins der antiken Lite-
ratur 9 (2010), 21–32.
Bäbler, Balbina: Winckelmanns lateinische Gedichte aus Ho-
mer. In: Lehmann, G. A./Engster, D./Nuss, A. (Hg.): Von
der bronzezeitlichen Geschichte zur modernen Antiken-
rezeption. Göttingen 2012, 163–182.
Décultot, Élisabeth: Untersuchungen zu Winckelmanns Ex-
zerpt-Heften: Ein Beitrag zur Genealogie der Kunst-
geschichte im 18. Jahrhundert. Ruhpolding 2004.
Fooken, Enno: Die geistliche Schulaufsicht und ihre Kritiker
im 18. Jahrhundert. Wiesbaden/Dotzheim 1967.
Kleinert, Jochen: Joh. Joachim Winckelmann – Konrektor in
Seehausen. In: Festschrift der Johann Joachim Winckel-
mann Schule Seehausen/Altmark 1865–1990. Seehausen
1990, 7–9.
Klöden, Karl F./Schmidt, H.: Die ältere Geschichte des Köll-
4 Nöthnitz und Dresden 13

4 Nöthnitz und Dresden von Titeln – zuletzt über 40.000 – leicht auffindbar ge-
macht durch die Systematik des Bibliothekars Francke.
W.s Umzug aus Seehausen nach Dresden im Herbst Tagsüber musste W. nach jenen Belegen suchen,
1748 ist ein Schritt in eine freiere Welt und führt gegen welche den beschriebenen Gang der Ereignisse kon-
Ende zum eigenen, selbstbestimmten Arbeiten. Aus kretisieren. »Zu meinem eignen Studiren wende ich
dem Kreis von Lateinlehrern und Pastoren hebt er die Morgenstunden an von 3 Uhr bis 7 vor und nach
sich, in dienender Funktion als Gelehrter anerkannt, Tische und ein paar Stunden des Abends. [...] Die
empor in eine Welt wohlhabender Gelehrsamkeit und Morgenstunden aber sind dem Griechischen gewid-
des Kunstgenusses. Aus der auch an Büchern armen met.« (Br. I, 94) Das Eigene musste der Dienstzeit
Altmark zieht er direkt in eine reich ausgestattete pri- mühsam abgerungen werden. Aus Nöthnitz kam er
vate Bibliothek. Aus einer an Kunstwerken extrem un- zunächst kaum heraus. Der ungeheure Zeitaufwand
terversorgten Region verschlägt es ihn an einen zen- für die »ReichsGeschichte« erlaube ihm nicht einmal,
tralen Sitz der Künste mit einer opulenten Gemälde- »der schönen Gegend zu genießen« (Br. I, 87). Parallel
galerie. zur dieser Arbeit trat eine zweite, nicht weniger zeit-
raubende. Francke hatte damit begonnen, die von ihm
reformierte Anordnung des Bestandes zu krönen
Schloss Nöthnitz
durch einen gedruckten Katalog. Dem musste W. zu-
Vier Kilometer südlich von Dresden liegt ein Gutshof, arbeiten. Auch Bibliografieren kostet Zeit.
erweitert zu einem Herrenhaus, in dessen linkem Flü- Ein Jahr verging, ehe er die Residenz mit der nöti-
gel der Hausherr Heinrich Graf von Bünau (1697– gen Muße besuchen und besichtigen konnte. Dann
1762) seine ständig wachsende Bibliothek unter- aber schildert er sie seinen märkischen Freunden in
gebracht hatte. Aus sächsischer Adelsfamilie stam- den höchsten Tönen: »wer Dreßden nicht siehet hat
mend, begann er eine Karriere am Dresdner Hof. Die nichts schönes gesehen.« (Br. I, 91) Er tadelt die
jedoch störte und verhinderte Graf Heinrich von Prunksucht des Hofes und genießt den Aufwand. Zu
Brühl (1700–1763), dessen Macht- und Prachtentfal- Konzerten mit den berühmtesten Sängern lädt die ka-
tung der des Königs nur wenig nachstand. Bünau zog tholische Kirche; die königlichen Schlösser und Gär-
sich zurück auf seine Güter und wandte sich, als stu- ten stehen den Bürgern offen. Und allem voran: Die
dierter Jurist mit dem Schwerpunkt Rechtsgeschichte, »BilderGallerie ist [...] die schönste in der Welt.« (Br.
forschend und schreibend der allgemeinen deutschen I, 91) Sie ist die erste, die er je besucht hat. Sie war die
Geschichte zu; erschienen war bereits, verfasst in erste ihrer Art.
deutscher Sprache anstelle des akademischen Lateins
seine Genaue und umständliche teutsche Kayser- und
Dresden
Reichsgeschichte (Bd. 1–4. Leipzig 1728–1743). Sie be-
ginnt mit den Karolingern und endet mit dem Tode Der Graf residierte mit Frau und Kindern im Land-
des fränkischen Königs Konrad I. im Jahr 918. Nun schloss Dahlen; nach Nöthnitz kam er vor allem zum
war das Wirken der sächsischen Herrscher darzustel- Arbeiten. W. wohnte im Schloss, wo für alle Bewohner
len. Auch hierzu gab es nur allgemein gehaltene Lite- gekocht wurde. An Sonntagen konnte er ausgehen;
ratur und reiche Legendenbildung. Daten und Fakten um in die Stadt zu gelangen, brauchte er zwei Stunden
mussten erst mühevoll aus unzähligen Urkunden und für jeden der beiden Wege. Dort erwarb er jene Kunst
anderen Quellen zusammen gesucht werden. Der des Sehens, welche er in Rom lehren wird.
Graf konnte das nicht allein bewältigen und suchte ei- Kurz vor seiner Vollendung stand der Bau der ka-
nen Adlatus mit solider Kenntnis des Lateinischen. tholischen Hofkirche, entworfen von dem italie-
Nicht diese Tätigkeit war es, die W. anzog, wohl nischen Architekten Gaetano Chiaveri (1689–1770),
aber der Arbeitsplatz. Bünau erwarb alle wichtigen in einem etwas altmodischen, himmlisch eleganten
Bücher zu Themen von Neuzeit, Mittelalter und Anti- Barock; das Schiff ist auffallend in die Länge gezogen
ke; zu Religion, Philosophie, Recht, Naturwissen- wegen der Prozessionen, die hier drinnen stattfinden
schaft, Kunst und Literatur. Das meiste las er selbst. müssen, da sie beim Umzug durch die Straßen der
Hier standen die Ausgaben antiker und neuerer Auto- Stadt protestantische Proteste hervorrufen würden.
ren, an die W. bisher nur nach langen Fußmärschen zu Bereits fertig war das formale Gegenstück, die städti-
den Eigentümern hatte herankommen können, über- sche Frauenkirche von Georg Bär (1666–1738), ein
sichtlich beisammen und, trotz der gewaltigen Anzahl resoluter Zentralbau mit seiner graziös in vier leichte

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_4, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
14 I Biographie

Haltepunkte ausschwingenden Kuppel und einer gestattete Bibliothek des Grafen Brühl nahe der Gal-
wohl etwas zu wuchtigen Laterne; sowie der damals lerie. Diese selbst aber studierte er in anderer Absicht.
schönste neuere Schlossbau, das Sommerpalais auf Er, der ganze Hefte gefüllt hat mit Exzerpten aus Bü-
dem Gelände des ehemaligen Tier-Gartens, darum chern, die er selbst nicht kaufen konnte; der bisher,
Zwinger genannt, von Matthäus Daniel Pöppelmann mit seiner schönen Handschrift, an Eigenem nur Brie-
(1662–1736). fe geschrieben hatte: er begann nunmehr, die bewun-
Zum ersten Mal sah W. originale antike Skulpturen; derten Bilder gedanklich zu ordnen und schreibend
sie waren vor kurzem erworben worden und standen zu bewerten. Er wurde zum Autor, indem er reflektier-
fürs erste, wartend auf ihren künftigen Ruhm, dicht te über Werke der bildenden Kunst. Sein frühester
gedrängt in einem Pavillon neben dem Palais im Gro- Text dieser Art, der unvollendet blieb, galt der Be-
ßen Garten. Drei von ihnen, Frauen in elegantem Ge- schreibung der vorzüglichsten Gemählde der Dreßdner
wand, ausgegraben in Herculaneum bei Neapel und Gallerie.
zuletzt Teil der Sammlung des Prinzen Eugen von Sa-
voyen in Wien, wird er später, aus der Ferne, empha-
Geliebte, Freunde, Bekannte
tisch beschreiben.
Die meiste freie Zeit verbrachte er in der Königli- Aus den Briefen an Studienfreunde erfahren wir vieles
chen Gemäldesammlung. über W.s Alltag und seine Pläne; aus jenen an zwei ge-
liebte Schüler nur so viel, dass sie seines früheren Un-
terrichts gerne gedenken, ihm selbst aber nicht wirk-
Die Dresdner Galerie
lich näher kommen möchten. Um sie wiederzusehen,
»Ich trat in dieses Heiligtum, und meine Verwun- besucht er sie, nicht sie ihn. Bei beiden war er eine
derung überstieg jeden Begriff [...]. Dieser [....] Saal, in Zeitlang »Hofmeister«, also Privaterzieher gewesen;
welchem Pracht und Reinlichkeit bei der größten Stil- als er eine Stelle als Lateinlehrer in Seehausen an-
le herrschten, die blendenden Rahmen, [....], der ge- genommen hatte, hatte jeder der beiden eine Zeit lang
bohnte Fußboden, die mehr von Schauenden betrete- dort bei ihm gewohnt. Der eine, Friedrich Ulrich Ar-
nen als von Arbeitenden benutzten Räume gaben ein wed von Bülow (1726–1807), aufgewachsen auf dem
Gefühl von Feierlichkeit, einzig in seiner Art, das um Gut der Familie, hatte auf W.s Drängen verletzend rea-
so mehr der Empfindung ähnelte, womit man ein Got- giert, ihn später jedoch eingeladen, aus Nöthnitz zu
teshaus betritt, als der Schmuck so manches Tempels, ihm ins Gutshaus zu ziehen. Das wurde versucht und
der Gegenstand so mancher Anbetung hier abermals, hielt nur kurze Zeit. Der andere, Friedrich Wilhelm
nur zu heiligen Kunstzwecken ausgestellt erschien.« Peter Lamprecht (um 1727–1797) war der Sohn eines
(Goethe 1981, 320) Gutsverwalters mit dem Titel Amtmann. Seine Liebe
In den ehemaligen Marstall hatte August III., Kur- zu ihm hat W. noch in Rom bewegt. Im März 1752 be-
fürst von Sachsen und König von Polen, ein Kunst- suchte er ihn in Potsdam, in der Hoffnung, ihn nach
museum einbauen lassen: das erste öffentlich zugäng- Dresden holen zu können. Der hielt ihn freundlich
liche überhaupt. W. besuchte es zwei Jahrzehnte vor hin und lieh sich von ihm Geld. Als sich die Möglich-
dem jungen Goethe; damals war der zweite Umbau keit auftat, nach Rom zu gehen, hoffte der Lehrer, dort
gerade beendet, waren die Gemälde neu gehängt. Im aus dem Schüler seinen Lebensgefährten machen zu
Lauf von vier Jahren wurde er hier zum Kunstkenner. können. Der wich aus, schwieg, verschwand. Zu jun-
»Es hat mich nicht wenig Mühe gekostet, einen Zutritt gen Sachsen scheint es derartige Gefühle nicht gege-
[...] zu bekommen, daß ich allenthalben, allein, auch ben zu haben. Wohl aber hat W. in Dresden etliche
an Tagen, wo niemand zugelaßen wurde, zum Exem- nützliche Bekanntschaften gemacht und ein paar neue
pel des Sonntag[s], an Catholischen Festtagen, Galla- Freunde gewonnen.
Tagen und dergl. die Gallerie habe frequentiren kön- Graf Bünau, gelehrt und sprachenfest, forderte zu-
nen. Dieß hat mich verhindert, nur ein einiges mahl nächst einen immensen Zeitaufwand. Nach seinem
eine Promenade in Dreßden zu genießen. Ich bin etwa Weggang als Statthalter des Herzogs von Gotha nach
alle 14 oder 8 Tage nach Tisch hineingelaufen oder Eisenach, dann nach Weimar als Premierminister
früh und gegen Tische wieder heraus.« (Br. I, 125) wurde ihr Umgang vertrauter. Mit seinem Kollegen,
Für ihn begann eine neue Art des Lernens und Stu- dem Bibliothekar Johann Michael Francke (1717–
dierens. Zwar nutzte er weiterhin die Schätze seiner 1775), verstand W. sich zunächst gut. Später muss es
Bibliothek und frequentirte obendrein die reich aus- eine Verstimmung gegeben haben, doch von Rom aus
4 Nöthnitz und Dresden 15

suchte W. die Verbindung erneut und betonte in sei- seine entschiedene Bevorzugung der neuzeitlichen
nen Briefen ihre Freundschaft. Kunst tadeln, doch von Rom aus brieflich mit ihm in
In der Bibliothek des Grafen Brühl lernte W. den freundlicher Verbindung bleiben.
Hofmeister von dessen Söhnen kennen, Christian Philipp Daniel Lippert (1702–1785) war Zeichen-
Gottlob Heyne (1729–1812), der sich, wie er, aus gro- lehrer der königlichen Pagen in Dresden, wurde zum
ßer Armut zum Gelehrten empor gearbeitet hatte und Kenner und Liebhaber antiker Gemmen und, vor al-
später, 1763, an der neu gegründeten Göttinger Uni- lem, von deren Abdrücken in Gips, mit denen er einen
versität der erste namhafte Altphilologe wird. Von florierenden Handel betrieb. Seine Daktylotheken ha-
Rom aus wird W. bei ihm anfragen, ob er sich dort, in ben die Form riesiger lederbezogener Bücher, sind
Göttingen, um einen Lehrstuhl für die Kunst des Al- aber Kommoden, in deren Schubladen die kleinen Re-
tertums bewerben könne, verfolgt das Projekt dann liefs, oval oder kreisrund, geordnet nach Bildthemen,
aber nicht weiter. Zehn Jahre nach W.s Ermordung dem Betrachter einen Bereich der plastischen Kunst
wird Heyne dem Aufruf des Landgrafen von Hessen- der Antike in der originalen Form eröffnen. Als Oe-
Kassel folgen und eine Lobschrift auf Winkelmann ver- sers umzogen in eine größere Wohnung der Neustadt
fassen (Schulz 1963). und W. mit ihnen, da wurden sie Nachbarn. Beide
Drei Dresdner Maler wurden für ihn wichtig. Chris- Häuser auf der Königstraße stehen noch. – Der Ver-
tian Wilhelm Ernst Dietrich (1712–1774) besuchte er leger Georg Conrad Walther (1706–1778), den W. zu-
und erwähnte seine Gemälde lobend. Bei Adam Fried- nächst nur oberflächlich kennen lernte, wird fast alle
rich Oeser (1717–1799) und seiner Familie nahm er seine Bücher und Druckschriften, die er in Rom
1754 Wohnung, in der großen Frauengasse neben der schreibt, in Dresden drucken und verlegen.
Kirche gleichen Namens; dort wohnte er bis zu seiner Die Residenz zog Italiener an, unter ihnen Maler,
Abreise und nahm bei Oeser selbst Zeichenunterricht. Bildhauer, Handwerker, Schauspieler und Sänger.
Den für ihn wichtigsten, Anton Raphael Mengs (1728– Theater und Oper wurden auf Italienisch geboten, da-
1779) hatte er in Dresden verpasst; als er dessen meis- zu viele Texte der geistlichen Musik. W. sucht ihren
terhaftes Jugendwerk sah, die Porträts der königlichen Umgang und begann, auch diese Sprache zu lernen;
Familie, war jener bereits nach Rom entsandt mit dem dies waren seine ersten Schritte auf dem Weg nach
Auftrag, dort das Altarbild für die Hofkirche zu malen. Rom. Zwei Italiener insbesondere sollten helfen, ihn zu
Versehen mit einem Empfehlungsschreiben von Diet- ebnen. Mit beiden unterhielt er sich zunächst auf Fran-
rich, wird W. in Rom zuerst bei ihm unterkommen. zösisch. Giovanni Lodovico Bianconi (1717–1781) aus
Und dort, in täglicher Diskussion mit Mengs, wird er Bologna, Leibarzt des Kurprinzen Friedrich Christian,
seine erste große Kunstschrift entwerfen. nahm W. auf in seinen geselligen Abendkreis. Nach
Carl Heinrich Heinecken (1706–1791) war zu- dem frühen Tod des Prinzen wird er 1764 sächsischer
nächst Hofmeister bei den Söhnen des Grafen Brühl, Ministerresident, das heißt Botschafter, in Rom. Auf
wurde dann Direktor von dessen Galerie, später der seiner großen Reise wird W. bei dessen Bruder Michel-
aller Dresdner Galerien und Kunst-Kabinette; 1754 angelo in Bologna Station machen. (Br. I, 185)
geadelt, gab er einen der frühesten Bildbände zur Alberico Graf von Archinto (1698–1758) war Erz-
Kunst heraus, das Galeriewerk, mit Radierungen nach bischof, Kardinal und päpstlicher Nuntius am säch-
den wichtigsten Werken der Sammlungen. Er war sisch-polnischen Hof. Bei ihm konvertierte W. zur ka-
Kunstschriftsteller und Schöpfer des dortigen Kupfer- tholischen Konfession. In Rom treffen sie sich wieder;
stich-Kabinetts. Er scheint intrigant gewesen zu sein. bei ihm wird er seine erste feste Anstellung finden, als
W. mied den Umgang mit ihm wie auch den mit Brühl. Bibliothekar, wieder mit Wohnsitz in einer Bibliothek
1758 wird Heinecken um die Mitarbeit an seinem in einem Schloss. Die des Kardinals war untergebracht
Künstlerlexikon bitten und ihm mitteilen, er habe vor, im Palast der Cancelleria am Campo dei Fiori.
ihn »in Rom aufzusuchen« (Heres 1991, 97). W. rea-
gierte nicht.
Der »kühneste Schritt«
Ganz anders stand W. zu Christian Ludwig von Ha-
gedorn (1730–1780), dem Kunstautor und Kunst- Seit Graf Bünau 1751 als Statthalter des Herzogs von
dozenten, der nach der Entlassung von Heinecken Weimar nach Eisenach gezogen war mit seiner Fami-
dessen Nachfolger wurde. Von der ersten Wohnung lie, und nachdem W.s Eltern, für deren Versorgung er
Oesers war es nur ein Schritt bis zur seinigen. Er wird hatte aufkommen müssen, in Stendal gestorben wa-
W.s erste Schrift zur Kunst emphatisch loben; W. wird ren, begann er, seinen alten Wunsch mit neuer Ener-
16 I Biographie

gie in die Tat umzusetzen: einen Aufenthalt im dama- sind hier sehr streitig bey mir: aber die Parthey der
ligen Zentrum der Altertumskunde. Das jedoch konn- letzten ist stärcker. Die Vernunft [...] tritt derselben
te ihm bei seiner materiellen Bedürftigkeit nur gelin- bey. Sie ist bey mir der Meinung, man könne aus Liebe
gen durch höhere Hilfe. zu den Wißenschafften über etliche Theatralische
Rom war der weltliche Sitz des Herrn über ein Drit- Gaukeleyen hinsehen: der wahre Gottesdienst sey al-
tel der Christenheit. Sachsen gehörte zu den festen lenthalben nur bey wenigen Auserwählten in allen
Burgen des Luthertums. August der Starke hatte sich Kirchen zu suchen. [...] Gott aber kann kein Mensch
und seine Familie in eine katholische Enclave verwan- betriegen.« (Br. I, 120) »Es ist der kühneste Schritt,
delt, denn nur unter dieser Bedingung wurde der Kur- den ich in meinem Leben gethan, und ich thue eine
fürst wählbar für die Königswürde im katholischen Po- Reise, die so völlig wie ich vielleicht keiner der theuren
len. Als der Erbprinz, der spätere große Kunstsammler, Märcker in 2 Seculis gethan.« (Br. I,124) W. bittet den
Italien bereiste, hatte ihm der Papst, der seiner politisch Freund, dem er zuvor eine Stelle bei Bünau verschafft
motivierten Konversion misstraute, das Betreten des hatte und der mit diesem nach Weimar gegangen war,
Kirchenstaates und damit von ganz Mittelitalien ver- es »Seiner Exzellenz« schonend beizubringen. »Mir
boten. Erst dessen Sohn, dem W. von Rom aus seine wird Angst und bange ums Hertz, wenn ich daran ge-
Geschichte der Kunst des Alterthums widmen wird, war dencke.« (Br. I, 125)
willkommen, als er, noch ganz jung, in Rom als Spon- Der Graf zeigte Verständnis, wofür ihm W. über-
sor auftrat; sein Porträt hängt neben dem der Königin schwänglich dankte. Doch ihm selbst waren noch
Christina von Schweden, auch sie Konvertitin, im Vor- schwere Bedenken gekommen; er zog sich zurück und
raum der Biblioteca Angelica, 1760 entworfen von Lui- hielt den Pater ein Jahr lang hin. Dann geschah es. Den
gi Vanvitelli im Zusammenhang mit dem Neubau des letzten Anstoß gab sein Besuch der kleinen Kirche von
Klosters St. Agostino. Hier werden die Hinterlassen- Leubnitz, zu der Nöthnitz damals gehörte und die auf
schaften vieler hoher kirchlicher und weltlicher Biblio- dem Weg nach Dresden liegt. Sein Vorhaben hatte sich
philen gesammelt; hierher wird auch die Bibliothek ei- inzwischen doch herumgesprochen; und als er, aus al-
nes der wichtigsten Förderer W.s in Rom gelangen, die ter Gewohnheit, hineinging – der Gottesdienst hatte
des Kardinalbibliothekars der Vaticana, Domenico längst begonnen –, da unterbrach der Pfarrer seine Pre-
Passionei (1682–1761; Justi 1923, III, 21). digt und begrüßte emphatisch das »verlorene Schaf«.
W. verhandelte, ohne Wissen des Grafen, mit Ar- W. machte auf dem Absatz kehrt und »ging zur Kirche
chinto sowie mit dem Jesuitenpater Leo Rauch (1696– hinaus – für ein und allemal.« (Justi 1923, I, 353)
1775), dem Beichtvater des Königs. Jener versprach Dafür nun: Hochamt mit Hoforchester, und zuvor
ihm eine Stelle als Bibliothekar in Rom; dieser bemüh- die Beichte! An Berendis, zwei Jahre später: »Anfäng-
te sich um ein kleines Stipendium (das er, nach Aus- lich, da mich einige Ketzer die mich kennen, in der
kunft von Heres, aus eigener Tasche bezahlte). Bis zu- Meße knieen sahen, habe ich mich geschämet, allein
letzt hatte der Bittsteller gehofft, sein Ziel ohne vorhe- ich werde dreister. Es würde mich aber niemand sehen,
rige Konversion erreichen zu können. Nach langwie- wenn ich nicht die Meße hörete von 11 bis 12, da die
rigen Verhandlungen berichtet er seinem Freund Music ist. Mein Vater hat [...] keinen Catholiken aus
Berendis am 6. Januar 1753, dem Tag Epiphanias: mir machen wollen:« der, von Beruf Schuster, habe
»Mein Schatz! Du weißt, daß ich allen plaisirs abge- ihm »ein gar zu dünnes empfindliches Knie-Leder ge-
saget und daß ich allein Wahrheit und Wissenschafft macht, als man haben muß, um mit guter Grace katho-
gesuchet. [...] Die Liebe zu den Wissenschafften ist es, lisch zu knieen. [...] Ich mercke, es fehlet mir noch sehr
und die allein, welche mich [hat] bewegen können, viel zu meiner Seeligkeit. [...] Ich habe auch von neuem
dem mir gethanen Anschlag, Gehör zu geben. [...] gebeichtet. Allerhand schöne Sachen, die sich beßer in
Gott und die Natur haben wollen einen Mahler, einen Latein als in der Frau Mutter-Sprache sagen laßen.
großen Mahler aus mir machen, und beyden zum Man hat hier Gelegenheit mit Petronio und Martiali zu
Trotz sollte ich ein Pfarrer werden. Nunmehro ist sprechen, je natürlicher, je aufrichtiger.« (Br. I, 168)
Pfarrer und Mahler an mir verdorben. Allein mein
gantzes Hertz hänget an der Kenntniß der Mahlerey
Reden und Schreiben
und Alterthümer, die ich durch fertigere Zeichnung
gründlicher machen muß.« (Br. I, 119) Die jahrelange Arbeit an Gegenständen der Geschich-
Der »Anschlag« kam von Pater Rauch und enthielt te mit Hilfe von Werken älterer Historiografie hat zu
eine »conditio sine qua non«: »Eusebie und die Musen einem der ersten eigenen Texte geführt, den Gedanken
4 Nöthnitz und Dresden 17

vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Ge- ne eindrucksfähigsten Jahre in Schul- und Bibliothek-
schichte, verfasst im Jahr 1754. Es ist das Fragment ei- stuben, in den Sandebenen und Nebeln des Nordens
nes Essays mit Vorschlägen, wie man einen weit zu- zugebracht, der bis in die Mitte der Dreißiger von
rück liegenden historischen Vorgang anschaulich und Kunstwerken entfernt gelebt und keine Kreide in die
lebendig machen kann durch »eine erleuchtete Kürt- Hand genommen hatte, daß dieser Mann [...] eine
ze« und durch Einsprengsel von Anekdotischem. Vor Schrift hinwirft, die den Beifall der ersten Kenner des
allem aber sei es leichter, frei zu reden als frei zu kunstreichsten Hofes der Welt erhält, die als Bahn
schreiben: »da ein mündlicher Vortrag mehrere Frey- zum guten Geschmack gepriesen wird: dies ist umso
heit gestattet Helden und Printzen die Larve abzuzie- merkwürdiger, als die kleine Schrift sich in der Folge
hen; so erkühne man sich zu sagen, daß Carl I. in En- als die Skizze eines stattlichen Gebäudes erwies.« (Jus-
geland ein Tyrann, Leopold der Große ein schwacher ti 1923, I, 472)
Printz und Philipp V. ein Narr gewesen.« (KS 19) W. wird seine Laufbahn als schreibender Kunst-
Fragment geblieben ist auch die Beschreibung der historiker auf zwei Quellen stützen: erstens auf die
vorzüglichsten Gemälde der Dreßdner Gallerie. Ent- Autopsie, auf das mit eigenen Augen vielfach Gesehe-
worfen wurde der Text als Muster in Stichworten für ne; und zweitens auf das zuvor in der Altmark und in
die Führung eines jungen Adligen; also mündlicher Dresden Gelesene. Die umfänglichen Abschriften und
Vortrag auch hier. Los geht es mit einer großformati- Auszüge werden als Vademecum die Entstehung sei-
gen Madonna des Correggio, dem damals beliebtesten ner römischen Werke begleiten; sie werden, verbun-
unter den großen Meistern; Raffael wird nicht direkt den mit der Untersuchung der einzelnen Kunstwerke,
angesprochen. Zur Meisterschaft der Führung von zur Basis seiner Wissenschaft.
Licht und Schatten, dem Beitrag des Malerischen zum
Gehalt des Kunstwerks schreibt W., was er später in Quellen
ähnlichen Worten wiederholen wird: »Es läßet sich Bünau, Heinrich von: Genaue und umständliche teutsche
nur sehen, nicht sagen.« (KS 6) Kayser- und Reichsgeschichte. 4 Bde. Leipzig 1728–1743.
Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit. Aus
Fertig wurde die dritte der kleinen Schriften, die in meinem Leben. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich
Dresden entstanden, ein Heftchen, gedruckt auf Kos- Trunz. Bd. 9. München 1981.
ten von Pater Rauch, verteilt an Freunde und Kultur- Schulz, Arthur (Hg.): Die Kasseler Lobschriften auf Win-
instanzen. Die Gedancken über die Nachahmung der ckelmann. Berlin 1963.
Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-
Kunst machten W. im ganzen Heiligen Römischen Forschung
Reich Deutscher Nation berühmt und alsbald durch Heres, Gerald: Winckelmann in Sachsen. Berlin/Leipzig
1991.
Übersetzungen in ganz Europa bekannt. Er besorgte
Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Dritte
sofort einen Nachdruck, vermehrt um einen selbst Aufl. Leipzig 1923.
verfassten Widerspruch und einen Einspruch da- Wangenheim, Wolfgang von: Der verworfene Stein. Win-
gegen: ein fingierter Dialog, in seiner Prägnanz und ckelmanns Leben. Berlin 2005.
Anschaulichkeit nahe am Sprechtext, am mündlichen
Wolfgang von Wangenheim
Vortrag.
Parallel zu dem damals wahrhaft kühnen »Schritt«
der Konversion, hat W. in Dresden etwas vollbracht,
das man nur als »Sprung« bezeichnen kann. Mit einer
Fülle von Zitaten und Paraphrasen aus der Literatur
zur Kunst und ihrer Geschichte, vor allem aus dem
Französischen, die er in bündiger Formulierung und
reduziert auf das Wesentliche vorträgt, wagte er als
Autor den Einstieg in eine Wissenschaft, die er selbst
erst begründen musste. In seinem »Rückblick« auf die
Entstehung der Dresdener Schriften zieht Justi die ge-
waltigen Dimensionen des Geleisteten zusammen in
einen einzigen Satz: »Daß jemand, dessen erste Au-
genweide ein Raum war, der zugleich als Schuster-
werkstätte, Wohn- und Schlafzimmer diente, der sei-
18 I Biographie

5 Winckelmann in Italien nur so lange seiner verbal oft exzessiven Sympathie er-
freuen, wie sie seine Eitelkeit und Empfindlichkeit
Insgesamt hat W. zwölfeinhalb Jahre in Italien gelebt, nicht verletzten. Dies gilt es bei seinen Aussagen über
von denen er elf Jahre in Rom, neun Monate in Florenz den Personenkreis berücksichtigen, mit dem er in
und – verteilt auf vier Reisen – sechseinhalb Monate in Rom verkehrte. Ihnen liegt eine selbstbezügliche Op-
Neapel verbrachte. Das meiste, was über diesen Teil tik zugrunde, die sich jedoch mit scharfer Beobach-
seiner Biographie bekannt ist, basiert auf Eigenquellen tungsgabe verbindet. In ihrer Gesamtheit generieren
(Br. I–III), die nur durch wenige Zeugnisse seiner Kor- seine Selbstzeugnisse, die Tagebuchersatz und propa-
respondenten und Zeitgenossen ergänzt werden (Br. gandistisches Vehikel zugleich waren, ein einzigartiges
IV). Trotz einiger Retuschen und Ergänzungen, die vor Abbild der römischen Welt des 18. Jh., aber auch der
allem die Bewertung und Gewichtung von Personen menschlichen Schwächen ihres Verfassers, die ihm
betreffen, ist Carl Justis Monographie (Justi 1866– selbst teilweise durchaus bewusst waren (Br. I, 121–22;
1872), die W.s Wirken in seinen kulturgeschichtlichen II, 291, 614). Seine Aussagen über Rom und aktuelle
Kontext gestellt hat, immer noch das Referenzwerk Ereignisse oder Fakten haben für bestimmte Bereiche
schlechthin. Das gilt besonders für die italienische Pe- den Wert von authentischen Quellen. Kaum weniger
riode, für die Justi in Rom umfangreiche Recherchen signifikant sind jedoch seine Lücken und Auslassun-
in Archiven und Bibliotheken betrieb. Da die Briefe, gen (Osterkamp 1988). Seine Eigenwahrnehmung
und hier besonders die an Berendis, seit ihrer Erst- wirkt oft repetitiv und ist verständlicherweise egozen-
publikation durch Goethe (Goethe 1805) nicht nur ei- trisch. Wie seine Zeitgenossen ihn gesehen haben, be-
ne Fundgrube an Fakten sind, sondern eine suggestive legen nur wenige Zeugnisse, darunter die von Giaco-
Prägnanz und Aussagekraft haben wie nur wenige mo und Giovanni Casanova, Bartolomeo Cavaceppi,
deutsche Epistolarien, hat die biographische Literatur Leonhard Usteri, Heinrich Füssli, Berenhorst, Fried-
für mehr als 200 Jahre an dem von W. durch seine Brie- rich von Erdmannsdorff und Francke.
fe kontrollierten Blick auf sich selbst, auf seine Zeitge-
nossen und die römische Welt kaum Korrekturen vor-
Reise in ein neues Leben
genommen. Erst nach der letzten W.-Biographie
(Leppmann 1971), die W.s Leben auf Justis Spuren ak- »Ich habe mich von allen Verbindungen loßgemacht,
tualisiert und zusammengefasst hat, eröffneten sich und werde mit einer sehr mäßigen, für mich aber zu-
neue Perspektiven, die sowohl seine Methoden der länglichen Pension auf zwey Jahre nach Rom gehen,
Wissensaneignung betrafen (Décultot 2000) als auch um ruhig zu leben und zu studiren, mit dem Verspre-
seine Wahrnehmung Italiens und der Italiener. Das chen, nach meiner Rückkunft, mich hier gebrauchen
rhetorische Kaleidoskop, das W. in Rom ansetzte, um zu lassen.« Mit diesen Worten kündigt W. dem Grafen
seine Erlebnisse und Erfahrungen zu kommunizieren, Bünau am 5. Juni 1755 die entscheidendste Verände-
wurde kritisch hinterfragt und analysiert (Sichter- rung seines Lebens an (Br. I, 177). Die Abreise von
mann 1986, Osterkamp 1988, Disselkamp 1993). Dresden wurde mehrfach verschoben: am 25. Juli
Den ersten Impuls dazu gab der Herausgeber der 1755 schreibt W. an Berendis, dass er unpässlich gewe-
italienischsprachigen Korrespondenz (Zampa 1961), sen sei. Als Abreisedatum wird wegen der Sommer-
der den seit Goethe durch Bewunderung und Verklä- hitze der 24. August anvisiert (Br. I, 178). Tatsächlich
rung bestimmten deutschen Blick auf W. durch eine erfolgte die Abreise von Dresden, für die W. mit 80
kritische Perspektive relativiert hat. W.s Urteile über Dukaten Reisegeld (Noack 1907, 74) nicht gerade üp-
das italienische Leben und die italienischen Kollegen pig ausgestattet war, erst am 20. (Rossetti 1823, 134)
waren von Anfang an von Vorurteilen geprägt, die sich bzw. am 24. (Justi 31923, II, 7) September 1755.
mit den Jahren nur teilweise milderten. Besonders der In Venedig traf W. am 29. Oktober ein, hielt sich
Blick auf ihm Wohlgesonnene und Förderer wie Albe- dort fünf Tage auf und sah alles an, was ohne große
rico Archinto und Gian Ludovico Bianconi war vom Kosten zugänglich war: Kirchen, Paläste und das Arse-
Eigeninteresse dominiert (Zampa 1961, XXII–XXV, nal. Die Weiterreise nach Bologna erfolgte auf dem
Disselkamp 1993, 309–318). Die Äußerungen über an- Wasserweg von Malamocco aus über den Po. In Bolog-
dere Zeitgenossen, denen W. in Rom begegnete, d. h. na verweilte W. fünf Tage als Gast im Haus der Familie
Gelehrte, reisende Kavaliere, Diplomaten und Reprä- Bianconi, wo er Freundschaft mit Michelangelo Bian-
sentanten des europäischen Hochadels, waren kaum coni schloss. Sein brieflich durch Gian Ludovico Bian-
weniger pointiert. Viele Gleichgesinnte konnten sich coni vorbereitetes Besichtigungsprogramm umfasste

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_5, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
5 Winckelmann in Italien 19

den Besuch der Bibliothek von San Salvatore und meh- Anziehungspunkt für Künstler aus ganz Europa ge-
rerer Kirchen mit ihren Gemälden. Für die letzte Etap- worden war. Hier fand W. sein erstes Refugium (Br. I,
pe, die mit einer Postkutsche absolviert wurde, benö- 190). Zum engsten Umkreis von Mengs gehörten da-
tigte er elf Tage. Die Route ging über Faenza, Forlì, Ce- mals Giovanni Casanova, Nikolaus Mosmann, Adolf
sena, Rimini, Ancona und Loreto und führte dann auf Friedrich Harper und Anton von Maron. Sein erstes
der Via Flaminia durch die auf W. öd und verlassen festes Quartier nahm W. bald darauf direkt gegenüber
wirkende Campagna di Roma an das Ziel (Br. I, 193). von Mengs’ Wohnung im Palazzo Zuccari für eine
Am 18. November 1755, drei Wochen nach dem monatliche Miete von einer Zecchine (Noack 1907,
Erdbeben von Lissabon, traf W. in Rom ein und nahm 361) und war hier Nachbar von Nicolas Guibal. Im
vermutlich in einem der beiden deutschen Gasthäuser Künstlerquartier um die Spanische Treppe partizi-
in der Via Condotti Quartier (Noack 1907, 93), bevor pierte er an der anregenden und lockeren Atmosphä-
er sich zu Alberico Archinto begab, dem ehemaligen re, kleidete sich leger in einen grauen Knierock (Ro-
Nuntius am sächsisch-polnischen Hof, der inzwischen quelaure) »ohne Oberhemd«, speiste mit Künstlern,
zum Governatore di Roma ernannt worden war. Des- vermisste die »deutsche Zurichtung der Speisen« (Br.
sen erneutes Angebot, bei ihm Logis und Kost zu neh- I, 190) und besuchte das Café degli Inglesi in der Via
men und sich beim Kardinal Passionei für ein Monats- Condotti, das der wichtigste Treffpunkt der Ausländer
gehalt von 7 Scudi als Bibliothekar zu verdingen, lehnte war (Noack 1907, 95–96). An den Sonntagen besich-
W. zu Archintos Bedauern ab. Die ersten vierzehn Tage tigte er mit deutschen und französischen Künstlern,
durchstreifte W. Rom, erspähte den Papst Benedikt darunter vermutlich Harper, Wiedewelt, Clérisseau,
XIV., der ihm kurz darauf eine private Audienz ge- Guibal und Mengs römische Galerien, die Villa Medi-
währte (Br. I, 202), und suchte von den öffentlich zu- ci mit ihren Antiken, die Villa Borghese und die frei
gänglichen Bibliotheken zuerst die gut bestückte Bi- zugängliche Accademia del Nudo auf dem Kapitol, wo
bliothek im Palazzo Corsini in Trastevere auf, deren er wohl auch selbst gezeichnet hat (Br. I, 195). Nach-
Kustode der Florentiner Giovanni Gaetano Bottari dem er sich auf kurze Zeit als »Artist« gebärdet hatte,
war. Dazu kamen bald die Bibliothek Barberini, die des konzentrierte sich W. jedoch bald darauf, sein bereits
Collegio Romano, die Biblioteca Imperiali, die dem in Dresden formuliertes Programm zu verwirklichen:
Kardinal Spinelli gehörte und vor allem die des Kardi- den »Umgang mit dem Kunstwerk« »wie mit einem
nals Passionei im Palazzo della Consulta (Br. I, 203). Freund« (Gedancken1, KS 30). Die meisten Künstler,
Da W.s finanzielle Mittel von der Reise erschöpft mit denen W. in den römischen Jahren engeren Kon-
waren und die Wechsel aus Dresden auf sich warten takt hatte, waren Ausländer; bei den römischen Künst-
ließen, fürchtete er nun sogar, ausgerechnet hier die lern beschränkte sich der Umgang auf solche, deren
»Freiheit« zu verlieren, deren Verwirklichung er sich Interessen mit den seinen harmonierten. Zu ihnen ge-
gerade von Rom erhofft hatte. Der erste, an Gian Lu- hörte der betagte Nicolò Ricciolini, den er weniger
dovico Bianconi gerichtete Brief aus Rom vom wegen seiner Malerei als seiner Kenntnisse schätzte
7.12.1755 gibt beredtes Zeugnis von diesem miserab- und der ihm die Bekanntschaft mit Michelangelo Gia-
len Zustand, aber auch von dem eisernen Willen, sich comelli vermittelte (Br. I, 276). Ungeachtet gelegentli-
den Umständen nicht zu beugen und den eigenen cher Kritik hat er Pompeo Batoni als den damals be-
Weg zu gehen (Br. I, 186–187). In der Vorrede zur GK1 kanntesten Maler Roms sehr geschätzt (Br. II, 53). Die
hat W. dazu eine offizielle Version vorgelegt, in der er freundschaftliche Beziehung zu ihm war für W., nicht
sich rechtfertigt: »Diese meine Absicht zu erreichen, zuletzt wegen der britischen Aristokraten, die er in
schlug ich alles aus, was mir sowohl vor meiner Reise Rom zu führen hatte, wichtig, da einige von ihnen
von Rom aus, als auch nach meiner Ankunft in Rom durch Batoni porträtiert wurden (Br. II, 53, 350). Be-
von zween wohlbekannten Kardinälen angetragen sonders beeindruckt war W. von Batonis Deckenge-
wurde; denn ohne Unabhänglichkeit würde ich mei- mälden im Palazzo Colonna (Raspi-Serra 2000, 140).
nen Zweck verfehlt haben.« (GK1, II). Besser gefiel ihm allerdings der strengere Modus Ga-
vin Hamiltons, der nicht nur Maler war, sondern als
Antiquar dieselbe britische Klientel bediente, die W.
In der Welt der Künstler
begleitete (Br. II, 53). Entgegen der verbreiteten An-
Eine vorläufige Rettung ergab sich aus dem Empfeh- sicht, dass W. und Piranesi Kontrahenten gewesen wä-
lungsbrief des Dresdner Malers Dietrich an Mengs, ren (Miller 1978), ist daran zu erinnern, dass Piranesi
dessen Haus und Atelier in der Via Sistina zu einem zur Entourage des Kardinals Albani gehörte und dass
20 I Biographie

W. seine Werke immer lobend erwähnt hat (Roettgen er auch für andere Projekte einsetzen wollte (Br. III,
1981, 153). Wie schon Justi betonte, lassen sich zwi- 305). Mogalli, der als »famigliare« Zugang zu seiner
schen W.s verbaler Beschwörung der Größe der anti- Wohnung hatte (Br. IV, 268), wurde von ihm testa-
ken Skulptur und Piranesis visueller Revokation der mentarisch mit einem Legat von 350 Zecchinen be-
Architektur des antiken Rom durchaus Parallelen er- dacht (Br. IV, 387). Eng und stetig war auch der Kon-
kennen (Justi II, 416). takt zu Bartolomeo Cavaceppi, der über viele Jahre als
Unter den nichtitalienischen Künstlern war W. be- Restaurator der Albani-Antiken eng mit ihm zusam-
sonders jenen zugetan, die sich für seine Ideale begeis- menarbeitete. Cavaceppi, der eine umfangreiche, von
terten und sie teilten. Neben Mengs waren dies der dä- W. bewunderte (Br. III, 41) Zeichnungssammlung be-
nische Bildhauer Wiedewelt, der französische Archi- saß (Vermeulen 2003), die nach seinem Tod (1799)
tekt Clérisseau, Christian von Mechel und die deut- zerstreut wurde, begleitete W. auf seiner Reise nach
schen Architekten Erdmannsdorff und Christian Deutschland bis Wien und publizierte nach seinem
Traugott Weinlig, die zu wichtigen Botschaftern sei- Tod einen Bericht über die Ereignisse während dieser
ner Kunstauffassung wurden. Auffällig ist, dass aus- Reise (Cavaceppi 1769, Br. IV 265–270).
gerechnet die Maler, von denen W. porträtiert wurde
– der Däne Peder Als (Br. II, 73, 77, 84. 391–392), An-
Rom und seine Kunstwerke
gelika Kauffmann und Anton von Maron – in der Kor-
respondenz mit Dritten kaum eine Rolle spielen, ob- Mit welchen nichtantiken Kunstwerken sich W. wäh-
wohl er zu ihnen ein engeres persönliches Verhältnis rend seiner Gänge als Cicerone in Rom auseinander-
gehabt haben muss. Auch der Berliner Maler Reclam, setzte und welche er schätzte, ergibt sich aus den Ende
die Landschaftsmaler Weirotter und Harper, der spä- Juli 1766 in Italienisch verfassten Anweisungen für
tere Stuttgarter Hofmaler Nicolas Guibal, die Stein- Paul Usteri und Mechel (Br. IV, 36–43), aus den Auf-
schneider Anton und Giovanni Pichler (Br. II, 103) zeichnungen des MS 68 im Pariser Nachlass (Raspi
hinterließen nur flüchtige Spuren in der Korrespon- Serra 2000) sowie aus dem Bericht von Johann Hein-
denz (Br. III, 20). Da seinen deutschen Korresponden- rich Füssli an Vögelin (Br. IV, 234–243). Die Bandbrei-
ten, unter denen kaum Künstler waren, die römische te seines Spektrums, das ausnahmslos dem akademi-
Künstler- und Kunstwelt nicht vertraut war, war es schen Kanon folgt, ist beeindruckend. Während er im
kaum sinnvoll, sich darüber auszulassen. Im Brief- Palazzo Barberini Sacchis Deckenbild der Divina Sa-
wechsel mit Künstlern stellte er sich dagegen auf deren pienza als Werk im »alten« Stil lobt und das große Fres-
Perspektive ein, wie die Briefe an Mengs und Cléris- ko Pietro da Cortonas übergeht, erwähnt er dessen Ge-
seau zeigen, in denen er deutlich mehr auf künstleri- mälde L ’Adultera als das beste Gemälde in der Galerie
sche Nachrichten eingeht, aber auch die an Martin des Palazzo Mattei. Er empfiehlt außerdem Gemälde
Knoller, dem W. mehrfach in Rom begegnet war und von Barocci, Guercino, Caravaggio, Maratti und Bacic-
der sich 1766 wegen ikonographischer Details der cio oder weist auf Übermalungen in einem Gemälde
antiken römischen Senatorenkleidung aus Mailand an Domenichinos im Casino Rospigliosi hin. W.s Kennt-
ihn wandte (Br. III, 153, 166). nisse der Malerei in den römischen Sammlungen gin-
Geringe Resonanz finden in den Briefen die Künst- gen jedenfalls weit über das damals einem Reisenden
ler, die für seine Publikationen gearbeitet haben. Ne- zugängliche Repertoire hinaus. So kannte er Poussins
ben den drei nicht bekannten Kupferstechern der Mo- Serie der Sieben Sakramente im Palazzo Boccapaduli
numenti antichi inediti (Br. III, 114) gehören dazu der oder riet dazu, sich im Palazzo Rondanini mit seiner
Mengs-Schüler Nikolaus Mosmann, der für ihn ge- Empfehlung vorzustellen, um Zugang zur Sammlung
zeichnet hat, und der seit 1750 in Rom lebende Maler zu erhalten. W.s Kennerschaft in der Malerei beruhte
Georg Adam Nagel, der für ihn die Vignette zum nicht zuletzt auf seinem jahrelangen Zugang zur be-
Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen deutenden Zeichnungssammlung des Kardinal Albani
zeichnete (Br. II, 355). Nach Casanovas Rückkehr (Br. II, 426), die zu seinem großen Leidwesen 1762
nach Deutschland im Jahr 1764 und der erst danach durch James Adam für König Georg IV. von England
aufgedeckten Fälschungsaffäre engagierte W. 1765 als erworben wurde (Roettgen 1982, 135–136).
Zeichner und Stecher für die Monumenti antichi inedi- Vielleicht angeregt durch Contucci, der die Text-
ti Niccolò Mogalli, der zuvor in Florenz für den Mar- kommentare zu Piranesis Stichwerken verfasste (Justi
chese Andrea Gerini gearbeitet hatte (Ingendaay II, 148), hat sich W. intensiv mit der Urbanistik des anti-
2014) und für Contuccis Museo Kirkeriano, und den ken Rom beschäftigt. Theoretische Ausführungen dazu
5 Winckelmann in Italien 21

hielt er allerdings für überflüssig. Man solle sich nur das währte, wird fast ausschließlich wegen der Arbeit an
merken von der Lage des alten Roms »wovon ein Bild der Beschreibung der Gemmen der Sammlung Stosch
im Gedächtniß bleiben kann«, d. h. es ging ihm vor al- beachtet. Die negativen und abschätzigen Urteile, die
lem in der Vermittlung an die Rombesucher darum, aus W. über Florenz, seine Kunst und vor allem über seine
dem noch Vorhandenen auf das Gewesene zu schlie- Gelehrten verbreitete (Justi II, 275–283), wurden nur
ßen: »Was nicht mehr ist, ist als wenn es nimmermehr selten relativiert oder hinterfragt (Cristofani 1983,
gewesen ist.« Grundsätzlich war er der Ansicht, dass 142–156). Obwohl W. wenig über Florenz berichtet,
»die neuern Werke nicht weniger Aufmerksamkeit als erlauben seine Äußerungen relativ viele Rückschlüsse
die alten« verdienen (Sendschreiben Rom; Br. IV, 32). auf sein dortiges Leben und auf die Kreise, in denen er
Die Ausnahme, die er dabei machte, betraf die mo- sich bewegte (Fancelli 2016). Der Anlass zur Reise
derne Skulptur. Seine Verdammung Berninis und sei- nach Florenz ergab sich aus dem Angebot von Hein-
ner Schule und Nachfolger war gnadenlos: »Bernini rich Wilhelm Muzell-Stosch, einen Katalog der Gem-
ist der größte Esel unter den Neuern, die Franzosen mensammlung seines verstorbenen Onkels zu erstel-
ausgenommen; denen man die Ehre in dieser Art la- len, der als Grundlage für den Verkauf dienen sollte.
ßen muß« (an Berendis, Br. I, 235). Wenn es aber da- Das ehemalige Domizil Philipp von Stoschs, in dem
rum ging, Klarheit über die damals noch modern er- sein von ihm adoptierter Neffe seit 1756 lebte, befand
gänzten Unterschenkel des Herkules Farnese zu ge- sich in dem ansehnlichen, von Ammanati erbauten
winnen, so notierte er sich in seinen »Desiderata« die und mit einer reichen Graffitto-Bemalung versehenen
Autopsie dreier berühmter Bildwerke: des Moses von Palazzo Ramirez de Montalvo im Borgo degli Albizzi.
Michelangelo, des hl. Andreas von Duquesnoy und W. hatte eine bestens ausgestattete Bibliothek und eine
des Attila von Algardi (Raspi Serra 2000, 370), d. h. er Münzsammlung zur alleinigen Verfügung, konnte
benutzte bei seinen Überlegungen zur Restaurierung sich aber auch an der dort gut vertretenen anzüglichen
der Antike die auch heute noch von der Kunst- Belletristik ergötzen (Br. I, 443–444).
geschichte praktizierte Methode des vergleichenden Eine zentrale Figur des gesellschaftlichen Lebens in
Sehens. Sankt Peter war für ihn der bedeutendste Bau Florenz war seit 1737 der britische Gesandte Horace
der Nachantike, der die Antike an »Baukunst und Mann, dessen Position umso wichtiger war, als es im
Pracht« übertreffe. Er bedauerte es jedoch, dass man päpstlichen Rom keine britische Gesandtschaft gab.
später vom Entwurf Michelangelos abgewichen sei Zu seinem römischen Informantennetz gehörte u. a.
(Br. IV, 31–36). Das einzige Gegenstück dazu im Be- Alessandro Albani. Zu Manns Salon im Palazzo Ma-
reich der profanen Architektur war für ihn die Villa netti fand W. durch Muzell-Stosch schnell Zutritt und
Albani (Br. III, 88). Deren Gestaltung hat W. in den traf dort auf Personen, die nach seinem Geschmack
Jahren seiner Zugehörigkeit zu Albanis Haushalt in waren (Br. I, 413), darunter auch die ebenso kluge wie
seinen Briefen vielfach kommentiert und auf diese exzentrische Lady Orford (Borroni Salvadori 1983),
Weise dazu beigetragen, dass ihre Bau- und Ausstat- die den sich nun im Stil eines »Abbate Cavaliere« ge-
tungsphasen für die Jahre 1758 bis 1767 in einigen Zü- rierenden W. (Br. I, 428) nach seinen Ausführungen
gen rekonstruiert werden können (Roettgen 1982, über die Idealschönheit in der Antike zum »uomo
153–159). Außerdem hat W. in dieser seinen Vorstel- d’un gusto squisito« erklärte (Br. I, 424). Er sollte noch
lungen von der Wiedererweckung der Antike entspre- mehrfach in seinem Leben, vor allem in Neapel, mit
chenden creatio ex nihilo das Vorbild für andere Wie- ihr zu tun haben, obwohl er sie wegen ihrer Lebens-
dererweckungen gesehen, die er auch unter nordi- weise verachtete (Br. II, 82). Um zur Gemmen- und
schem Himmel für realisierbar hielt. Wenn er den Be- Medaillensammlung der Großherzöge Zutritt zu er-
suchern der Villa ihre Schätze erklärte, so war er dabei langen, musste er sich bei dem jungen Raimondo
auch von dem Gedanken beseelt, die Mächtigen seiner Cocchi vorstellen. Er pflegte engen Kontakt zum
Zeit zur Nachahmung anzuspornen. Apostolischen Nuntius Borromeo, der nach seiner
Aussage dafür sorgte, dass er zum Mitglied der Acca-
demia Etrusca in Cortona ernannt wurde (Br. IV, 382).
»Firenze non è Roma«
Formell vorgeschlagen wurde W. jedoch von Joannon
Mit diesen Worten teilt W. einem römischen Bekann- de Saint-Laurent, dem französischen Korrektor der
ten seine ersten Florentiner Eindrücke mit (Br. I, 233). Description (Cristofani 1983, 146). Zur Zeit seiner Er-
Sein neunmonatiger Aufenthalt in Florenz, der von nennung (1760) war ihr Präsident (»Lucumone«) der
Ende August 1758 (Br. III, 406) bis Mitte April 1759 Marchese Antonio Nicolini (Bruschetti 1980, 43). Mit
22 I Biographie

scharfen Worten bedenkt er neben Ottaviano Buonac- I, 415). Im Palazzo Pitti bewunderte er die Gemälde
corsi (Br. II, 96), einem der Testamentsvollstrecker Raffaels, fand aber auch Gefallen an den Fresken von
von Philipp von Stosch, vor allem Giovanni Lami, den Giovanni da Sangiovanni in der Sala Terrena (Br. I,
Herausgeber der Zeitschrift Novelle letterarie fiorenti- 414). Vor den antiken Statuen der Uffizien machte er
ne, den auch andere Zeitgenossen als kauzigen Son- sich anscheinend Notizen, die in die Geschichte der
derling beschreiben (Justi II, 281). Das Schweizer Café Kunst des Althertums einflossen. In Stoschs Papieren
in Florenz, das Lami und andere Gelehrte frequentier- fand er neben den Zeichnungen Raffaels und Michel-
ten, bezeichnet er spöttisch als »Sitz der Unwissen- angelos, die er sorgfältig inspizierte (Br. I, 414), eine
heit« (Br. II, 97). Angelo Maria Bandini, damals Bi- Notiz zum Sterbedatum und einem Werk Correggios
bliothekar der Marucelliana, kam nicht viel besser in sowie den Archivauszug einer Zahlung an Michel-
W.s Urteil weg (Br. I, 233), auch weil er griechische angelo, die er Heinecken mitteilte (Br. I, 427). Durch
Texte edierte, ohne laut W. des Griechischen mächtig Horace Mann, der seinen Besuchern in seinem Haus
zu sein (Br. III, 89). Das bestätigte später Christoph Jo- die Lektüre der Neuigkeiten des europäischen Buch-
seph Jagemann, damals Beichtvater der Deutschen in markts ermöglichte, auch solcher, die im Kirchenstaat
Florenz, den W. in der Laurenziana mehrfach traf und auf dem Index standen, lernte W. eine Publikation von
dessen lateinische Übersetzung von griechischen Tex- Horace Walpole kennen, die ihn sehr beeindruckte (Br.
ten er korrigiert hat (Br. III, 226). I, 439). Besuche in den umliegenden Landhäusern ge-
Besonders erfreut war W., als der Graf Firmian, mit hörten ebenso zu seinem Programm wie der rege
dem er seit seiner Neapelreise in engerem Kontakt Opern- und Komödienbesuch (Br. I, 421).
stand, auf dem Weg nach Mailand in Florenz Station Obwohl ihm die Stadt rein äußerlich, vor allem im
machte (Br. I, 243). Firmian stand in Briefwechsel mit Vergleich mit Neapel, gefiel, waren seine Vorurteile
Lorenzo Mehus, dem Kustos der Laurenziana (Garms- unüberwindlich: gegen die Florentiner, die sich mit
Cornides 2013), der auch die Stosch’sche Bibliothek Mänteln bekleiden – für W. nicht ein Zeichen der win-
betreute und 1759 deren Versteigerungskatalog ver- terlichen Kälte, sondern der Armut –, gegen ihre ihm
fasste. Es ist daher davon auszugehen, dass W. ihm im unverständliche und unsympathische Aussprache und
Hause Stosch begegnet ist, auch wenn er ihn nicht er- ihren seiner Meinung nach unbegründeten Anspruch,
wähnt hat. Durch Muzell-Stosch lernte er auch den bessere Galerien als die Römer zu besitzen (Br. III,
Kunsthändler William Kent kennen, der gerade zahl- 188). Ein amouröses Abenteuer, bei dem er nach eige-
reiche Gemälde aus der Sammlung Arnaldi und die ner Diktion seine »Jungfräulichkeit« verlor (Br. I, 454),
Altmeisterzeichnungen aus Stoschs Nachlass erwarb bereitete ihm gesundheitliche Probleme, wie er Bian-
(Ingamells 1997, 571–572) und bei dem er danach in coni gegenüber andeutet (Br. I, 454). Obwohl er an den
Rom einige Male zum Essen eingeladen wurde (Br. II, Maler und Mengs-Schüler Franz Stauder in Rom sehn-
85, 90, 195). süchtige Briefe schrieb (Br. I, 417), verliebte er sich in
Auch wenn er wenig darüber schreibt, absolvierte einen Jüngling, der für ihn unerreichbar blieb (Br. II,
W. in Florenz das obligate Besichtigungsprogramm: 296). Aufs Ganze besehen, war der Aufenthalt in Flo-
die Sammlungen im Palazzo Pitti und den Uffizien, die renz eine Übergangsphase, deutlich markiert durch
Neue Sakristei bei S. Lorenzo mit Michelangelos Tages- den Tod Archintos und durch das Angebot Albanis,
zeiten, die ihm nicht zusagten, und wohl auch die eine sein Bibliothekar zu werden. Außerdem nahm W. nach
oder andere Kirche. Nur so erklärt sich sein abfälliges Rom die dauerhafte Brief-Freundschaft zu Muzell-
Urteil über die Malerei in Florenz, die er als trocken, Stosch mit, die ihm für die kommenden Jahre eine in
hart und übertrieben bezeichnet. Er zieht von ihr und mancher Hinsicht hilfreiche Stütze wurde.
von Michelangelo Parallelen zur etruskischen Kunst,
die er in Florenz kennen-, aber nicht schätzen lernte
Aus Freundschaft wird Feindschaft: Anton
(Grazie, KS 161). Das könnte der Grund dafür sein,
Raphael Mengs und Giovanni Casanova
dass er von den ursprünglich geplanten Exkursionen,
die er teils auf der Rückreise nach Rom (Arezzo, Cor- Die Begegnung mit Mengs war für W.s weiteren Weg
tona, Montepulciano, Chiusi, Perugia, Foligno), teils entscheidend, wie vor allem Goethe klar gesehen hat
von Florenz aus zu Pferd (Volterra, Livorno und Pisa) (Goethe 1805, 410). Die Freundschaft mit dem deut-
unternehmen wollte (Br. I, 421), nur die Reise nach Li- schen Maler hat ihm einen wichtigen Rückhalt in der
vorno (Br. I, 432) realisiert hat. Auch in Siena ist er ge- Eingewöhnungsphase geboten. Der elf Jahre jüngere
wesen, wo er schönere Mädchen sah als in Florenz (Br. Mengs, der 1755 schon auf eine steile Karriere als
5 Winckelmann in Italien 23

sächsisch-polnischer Hofmaler zurückblickte, wurde trat nun der Briefwechsel. Das Konvolut mit den Brie-
gleich nach W.s Ankunft in Rom sein wichtigster Ge- fen W.s, das Carlo Fea 1779 von Mengs’ Erben erhielt
sprächspartner. Die Beziehung zwischen W. und und das nur einen geringen Teil der ursprünglichen
Mengs lässt sich in vier Abschnitte unterteilen: 1. Die Korrespondenz darstellt (Azara-Fea 1787), dokumen-
Jahre des permanenten und vertraulichen Umgangs tiert die Gegenseitigkeit ihrer Freundschaft (Br. II,
in Rom (1755–1761), 2. die Jahre der regelmäßigen 185, 196, 217, 287), den intensiven Austausch über ar-
Korrespondenz (1761–1763), 3. die Affäre zwischen chäologische und künstlerische Themen, römische
W. und Margarita Mengs (Ende 1763–September Neuigkeiten und über die Publikationsprojekte (Dis-
1764) und 4. die Irritationen, die mit dem Abbruch selkamp 1993, 243–254). Ab Mai 1763 kam es jedoch
der Korrespondenz von Seiten W.s endeten (1764– zu verschiedenen Missverständnissen (Br. II, 319–
1766). Die Konsonanzen zwischen beiden Männern 320): so beschwerte sich W. darüber, dass der Freund
ergaben sich aus gleich gerichteten Interessen und ihn nicht zu seiner Ernennung zum »Prefetto delle
Neigungen, künstlerischen Präferenzen und gewissen Antichità di Roma« (MI II, Titelblatt) beglückwünscht
Parallelen in ihrem Schicksal: die widrigen und har- hatte und ihm zu selten schreibe (Br. II, 234).
ten äußeren Umstände, die überwunden werden Neuen Auftrieb erhielt die Freundschaft durch die
mussten, bevor sich der Traum von Rom als dem Ziel Rückkehr von Mengs’ Frau Margarita Ende November
ihrer Wünsche erfüllte, aber auch hier ein ständiger 1763. Während ihres knapp einjährigen Aufenthaltes
Kampf, um diesen Status zu bewahren. Was sie außer- in Rom (bis Anfang September 1764) entwickelte sich
dem verband, war der Konfessionswechsel, der bei ein enges Verhältnis zu W., das die Freundschaft mit
Mengs allerdings persönlich motiviert war (Roettgen Mengs laut W. vollständig »wiederherstellte« (Br. III,
2003, 97). Dazu kamen ab September 1756 die Folgen 104), so dass Mengs ihm sogar einen Vorschuss zur Fi-
des Siebenjährigen Krieges, unter denen beide finan- nanzierung der Monumenti antichi inediti anbot (Br.
ziell zu leiden hatten. III, 200) und W. darüber nachdachte, nach Spanien zu
Schon bald schrieb W. seine Briefe im Haus von reisen (Br. III, 39). Die erotische Komponente dieser
Mengs, diente ihm gelegentlich als Sekretär für fran- Liaison hat W. erst mehrere Monate danach gegenüber
zösische Briefe und konnte sich in dieser ungezwun- Muzell-Stosch bekannt, den er in Herzensangelegen-
genen Umgebung so zu Hause fühlen, dass er seine heiten mehrfach ins Vertrauen zog. Er schreibt im Fe-
Schriften und Bücher hier deponierte. Anfangs ein re- bruar 1765, dass Mengs von dieser Affäre durch W.s
gelmäßiger Tischgast (Br. I, 266), speiste er später »Liebesbriefe« erfuhr, die er bei seiner Frau gefunden
nach seinem Umzug an die Piazza Barberini, wo er für hatte, was verständlicherweise bei Mengs zu Irritatio-
ein halbes Jahr ›Untermieter‹ von Wiedewelt war nen führte. Die Sache sei jedoch beigelegt worden, mit
(Noack 1907, 79), seltener bei Mengs (Br. I, 266). dem Vorsatz, nach der Rückkehr des Ehepaares nach
Mengs erfüllte W.s Wunsch, der Künstler möge »die Rom eine Art von »Menage a trois« zu führen. (Br. III,
Feder ergreifen, und die Geheimnisse der Kunst den- 79–80). Tatsächlich wurde der Briefwechsel mit ihr
jenigen, welche sie zu nutzen verstehen, entdecken und Mengs fortgesetzt, wie sich aus einem Brief an Be-
möchte« (KS 75). W. setzte sich für die Publikation rendis ergibt (Br. III, 112). Den Anlass zum Bruch gab
von Mengs’ Schrift ein, die anonym (Br. II, 239) und erst die Publikation von Giovanni Casanovas am
mit einer Widmung an ihn in Zürich erschien (Mengs 20.10.1766 erschienener Erklärung, in der dieser sich
1762). Engagiert regelte er brieflich mit Caspar Füssli als Urheber von zwei Zeichnungen bekannte, die in
in Zürich die Einzelheiten der Drucklegung. der Geschichte der Kunst des Althertums abgebildet
Den Höhepunkt und Abschluss dieser Phase der worden waren (Kanz 2008, 46–60). W. veranlasste da-
Freundschaft bildete das Engagement für die Villa Al- raufhin die Streichung des Textes und der Stiche für
bani. Auch wenn W. keinen erkennbaren Einfluss auf die geplante zweite Edition (Br. III, 154). Weil er Mengs
deren künstlerische Gestaltung genommen hat, war er verdächtigte, in das Komplott gegen ihn involviert zu
ab 1759 als ständiger Gesprächspartner des Bauherrn sein, brach er den Kontakt im November 1766 ab (Br.
in viele auf die Villa bezogene Entscheidungen invol- III, 219). Auch der Text über das nicht in der Geschich-
viert (Roettgen 1982, 153–159, Assunto 1985). Auf te der Kunst abgebildete, von ihm aber hochgepriesene
dem Weg nach Neapel, von wo Mengs zu Schiff nach Fresko Jupiter küsst Ganymed (Abb. 5.1) sollte eli-
Madrid ging, sahen sich die beiden Freunde Mitte Au- miniert werden, obwohl es W. nach wie vor für antik
gust 1761 in Castel Gandolfo zum letzten Mal (Br. II, hielt (Allegorie, 136). Erst 1772 stellte Casanova in
170, Roettgen 2003, 219). An die Stelle der Gespräche Dresden eine Zeichnung nach dem Fresko aus, »worü-
24 I Biographie

ber der bekannte Streit mit Winkelmann entstanden«, nova (Kanz 2008, 181) geht hervor, wie eng die Kon-
und erklärte sich nicht nur zu dessen Urheber, sondern takte zwischen ihm selbst und Amidei, Diel de Mar-
rechtfertigte sich damit, dass er W.s mangelnde Kom- cilly, Cavaceppi und d’Hancarville waren, den W. als
petenz als Kritiker bloßstellen wollte (Neue Bibliothek einen »Menschen von großen Talenten« bezeichnete
1772, 131). (Br. II, 131), obwohl er wusste, wie zweifelhaft dessen
Casanova, der zuvor von W. als »bester Zeichner Geschäftsmoral war. Mit ziemlicher Sicherheit blieben
Roms« (nach Antiken) gerühmt worden war (Br. II, ihm auch nicht die krummen Geschäfte verborgen, die
23), wurde aufgrund der Fälschungsaffäre öffentlich im römischen Kunsthandel abliefen (Kanz 2008, 181–
zum »Schelm« erklärt (Kanz 2008, 72–77). Paradoxer- 182), zumal er als Albanis antiquarischer Adlatus per-
weise hat gerade er durch seine Vorlesungen an der manent mit derartigen Praktiken zu tun hatte. Mengs,
Dresdner Akademie nachhaltig für die Verbreitung der nach neuen Erkenntnissen von Beginn an ein
des Wissens über die antike Bildwelt in Deutschland Hauptakteur in der Fälschungsaffäre war, in die neben
gesorgt (Kanz 2005). Bei dieser Affäre, an der die Casanova wohl auch Cavaceppi involviert war (Roett-
Freundschaft zwischen Mengs und Casanova zu W. gen 2017), kam die Veröffentlichung der Fälschungen
zerbrach, bleiben viele Fragen offen. in der Geschichte der Kunst des Althertums nicht gele-
Vermutlich besteht ein Zusammenhang zwischen gen, da sie die ursprünglichen Absichten dieser Aktion
der Fälschung und dem Prozess wegen Wechselfäl- durchkreuzte. Die brieflich fortgeführte Freundschaft
schung, der von dem Kunsthändler Belisario Amidei der beiden Männer hielt diesen Belastungen nicht
in Rom gegen Casanova angestrengt worden war und stand. Mengs bedauerte dies zutiefst (Roettgen 2003,
der zur Verurteilung des Beklagten führte (Br. III, 516: 30.6.1766) und versuchte vergeblich, den Brief-
211). W. kannte Amidei als Zulieferer für die Samm- wechsel wieder aufzunehmen (Br. III, 327). Er distan-
lung Albani (Br. II, 105, 304), ebenso den Chevalier zierte sich seinerseits von Giovanni Casanova (Roett-
Diel de Marsilly, der mit Casanova befreundet war gen 2003, 538), und nach der Rückkehr nach Rom
(Kanz 2008, 181) und dem das Fresko gehörte (Br. II, (1777) exponierte er sich als Sachwalter von W.s Anse-
171, 177). Aus der Darstellung der Affäre durch Casa- hen (Roettgen 2003, 159, 560), was sich vor allem in
dem posthum gemalten Bildnis des Freundes nieder-
schlug (Roettgen 1999, 306–307). Von Gewissensbis-
sen geplagt, bat er schließlich auf dem Totenbett seine
Schwester Therese Maron, bekannt zu machen, dass er
der Urheber des als antik ausgegebenen Freskos sei
(Roettgen 1973, 268). Da zum Zeitpunkt der Ver-
öffentlichung dieser Erklärung (Azara-Fea 1787) au-
ßer W. und Mengs noch alle Beteiligten lebten, ist an
der Verlässlichkeit dieser Angabe nicht zu zweifeln,
obwohl sie von Goethe und von Meyer erneut in Frage
gestellt wurde (Verspohl 2004, 32–33).

Die vier Neapelreisen (1758, 1762, 1764, 1767)


W.s Begegnung mit Neapel stand von Beginn an unter
dem Vorzeichen des Zuganges zu den Funden und
Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji. Für
die Stadt selbst und ihre zu dieser Zeit in Blüte stehen-
de Kunst hatte er weder Auge noch Ohr. Während der
ersten Reise nach Neapel von Februar bis Anfang Mai
1758 logierte er fast fünf Wochen lang in Portici als
Gast des Padre Antonio Piaggi, der eine Maschine zur
Entrollung der in Herculaneum gefunden Papyri er-
funden hatte (Abb. 5.2), deren Mechanismus W. akri-
Abb. 5.1 Anton Raphael Mengs: Jupiter küsst Ganymed, bisch beschrieben hat (Br. I, 345–347). Diese erste Rei-
1760. Rom, Galleria Nazionale dell’Arte antica. se war finanziell und organisatorisch die schwierigste
5 Winckelmann in Italien 25

der vier Reisen. Da der bereits 1756 gefasste Plan, ge- ni um eine andere Bleibe bemühen musste. Da bot
meinsam mit Mengs dorthin zu gehen (Br. I, 222, 225), ihm der Padre Antonio Piaggi Logis und Kost in sei-
aus verschiedenen Gründen fallen gelassen werden ner Wohnung im Casino di S. Antonio in der Nähe des
musste, bemühte sich W. ein ganzes Jahr lang um die Palastes von Portici an (Knight 1996, 13). In Piaggis
finanzielle Absicherung dieser Reise. Da der sächsi- Begleitung gelang es ihm offenbar, unerkannt in das
sche Kurprinz begierig auf die Berichte von der Reise Museum zu gelangen, das sich, angelegt auf siebzehn
wartete, um genauer über die spektakulären Ent- Räume, von denen aber erst fünf eingerichtet waren,
deckungen in Herculaneum unterrichtet zu werden, in einem Flügel des Königspalastes befand (Br. I, 362).
war ihm klar, dass dies der sicherste Weg zu einer Dieses Gebäude, einen stattlichen Neubau mit Villen-
künftigen Anstellung in Dresden sein würde. Wegen charakter (Abb. 5.3), tut W. mit den folgenden Worten
des Krieges trafen jedoch die Wechsel aus Dresden, ab: »Der Königl. Pallast ist von abscheulicher Bauart,
die halbjährig zu je 100 Reichstalern fällig waren, mit und kein Augsburger Fratzen-Mahler könnte einen
Verspätung ein (Br. I, 363). Im Dezember 1757 wollte schlechteren Entwurf machen« (Br. I, 353). Dank den
W. die Reise, in die er bereits 100 Dukaten investiert Empfehlungsschreiben, um die er sich zuvor intensiv
hatte, jedoch nicht mehr aufschieben (Br. I, 323–4). bemüht hatte, erhoffte er sich eine Audienz bei der Kö-
Anfang Februar 1758 (Br. IV, 404) reiste er schließlich nigin Maria Amalia, die ihm auf seine Bitte hin ein
mit der Postkutsche (Br. I, 367). Das versprochene Exemplar der begehrten Pitture di Ercolano sowie ei-
Quartier in Neapel stand ihm nur für drei Tage zur nen Plan des im Bau begriffenen Schlosses in Caserta
Verfügung, sodass er sich über den Nuntius Pallavici- (Br. I, 355) schenkte. Die Personen, denen er in dieser
Sache ein Komplott gegen ihn unterstellte, waren der
deutsche Beichtvater der Königin und der Museums-
direktor Camillo Paderni, nach W.s Einschätzung ein
»großer Betrüger, und Ertz-Ignorant« (Br. I, 355, 366),
sowie der mächtige Minister Bernardo Tanucci, dem
er schriftlich versichern musste, während seines Be-
suches im Museum keinerlei Zeichnung oder Aqua-
relle (»pennellata«) zu machen (Br. IV, 405). Diese Re-
gel war jedoch keine persönliche Schikane, sondern
entsprach den Direktiven des Königs: Karl VII. und
Tanucci wollten so unterbinden, dass die Funde in Eu-
ropa bekannt wurden, bevor ihre allerdings ziemlich
langsame wissenschaftliche Publikation vollendet
war. Diese war der Zweck der von Tanucci gegründe-
ten »Accademia Ercolanense«, der angesehene nea-
politanische Gelehrte angehörten, wie der Marchese
Berardo Galiani, der Vitruv übersetzt hatte, und der
betagte Kanoniker Mazocchi, ein berühmter Gräzist,
von dem W. jedoch den Eindruck gewann, mit seinen
77 Jahren sei er »halb kindisch« (Br. I, 367). Als Maz-
zocchis Konkurrent galt Jacopo Martorelli, Professor
für griechische Literatur an der Universität von Nea-
pel. W. lernte auch ihn kennen und machte hier, wie
wenig später in Florenz, die Erfahrung, dass die italie-
nische Gelehrsamkeit alten Stils nicht seine Sache war.
In seiner dritten Relazione für Bianconi macht er sich
über Martorelli und seine Publikation über ein antikes
Tintenfass lustig (Br. I, 385–386).
Der schlechte Geschmack und eine kauzige und
Abb. 5.2 Maschine für die Entrollung der Papyri. Konstruk-
ineffiziente Gelehrsamkeit waren für ihn zwei Seiten
tion von Antonio Piaggi. In: G. Castrucci: La Real Officina einer Medaille. In der Bibliothek des Principe di Tarsia
dei Papiri Ercolenensi. Neapel 1852. stellte er fest, dass die »Vergüldungen mehr als die Bü-
26 I Biographie

Abb. 5.3 Giovan Battista Lusieri: Ansicht von Portici mit Königspalast und Vesuv, ca. 1780. Turin, Privatsammlung.

cher kosten« (Br. 352); ihm entging jedoch, wie ambi- Firmian, den er durch eine Empfehlung von Muzell-
tiös und fortschrittlich diese Bibliothek und die ihr Stosch kennengelernt hatte (Br. I, 334). Vermutlich
angeschlossenen Einrichtungen waren, die der Princi- traf W. hier auch auf den Maler Martin Knoller, den er
pe di Tarsia 1747 in seinem Palast einer größeren Öf- schon aus Rom kannte. Firmian beeindruckte W.
fentlichkeit zugänglich gemacht hatte (Bertucci 2013). durch seine Gelehrsamkeit, seinen Kunstsinn und
Auch das Urteil über den gelehrten Duca di Noja, Ur- sein Interesse an seinen Schriften und Ansichten (Br.
heber des ersten bedeutenden Stadtplanes von Neapel I, 338). W. sollte ihm erneut in Florenz begegnen, als
(Sforza 2005), dessen Münzkabinett W. mehrfach auf- er auf dem Weg zu seinem neuen Amt als kaiserlicher
suchte und das ihm »sehr viel Einsicht gegeben«, ist Gouverneur der Lombardei war (Br. I, 443). 1762
gnadenlos: »als einer von Stande« sei er »ein Charla- wollte ihm Firmian eine Anstellung in Wien beim
tan von Geburt«, im Übrigen aber »ein ehrlicher Erzbischof Migazzi vermitteln, was W. jedoch ablehn-
Mann« (Br. I, 378). Da der erste Band der Pitture di Er- te (Br. II, 208).
colano soeben erschienen war und W. ihn kurz vor sei- Von Neapel aus unternahm W. mehrere Fahrten
ner Abreise beim Kardinal Passionei gerade noch hat- in die nähere und weitere Umgebung, an der ihn vor
te durchblättern können (Br. I, 327), hielt er sich ge- allem die Überreste der römischen Bauten interessier-
genüber Tanucci – und dies in Gegenwart »mehrerer ten. Dazu gehörten Pozzuoli, Bajae und Cap Miseno,
Gesandter« – mit seiner Kritik an der Qualität der Sti- aber auch das noch im Bau befindliche Schloss in Ca-
che nicht zurück: der Kupferstich mit Achilles und serta, das er wohl in Begleitung des Architekten Luigi
Chiron (Abb. 5.4) mache »dem Original Schande« und Vanvitelli besichtigt hat. Andernfalls wäre es ihm
– so schreibt er an Berendis - »Es gereuet mich nicht, kaum möglich gewesen, so genaue Angaben über die
daß ich so geredet habe« (Br. I, 352). Derartige Ge- monolithischen Alabastersäulen zu machen (Br. I,
spräche, mit denen sich W. keine Freunde in Neapel 351). Mit Genugtuung stellte er fest, dass durch diese
machte, dürften während der mittäglichen Essen statt- Residenz Versailles »verdunkelt« werde. Besonders
gefunden haben, zu denen er geladen war. So oft er beeindruckte ihn das gerade im Bau befindliche
sich von Portici aus nach Neapel begab, speiste er ent- Acquedotto Carolino von Luigi Vanvitelli, eines der
weder beim Nuntius Lazzaro Pallavicini, beim Mar- großen Werke der Ingenieurskunst des 18. Jh.
chese Galiani oder beim kaiserlichen Gesandten Karl (Abb. 5.5), das errichtet wurde, um die Brunnen von
5 Winckelmann in Italien 27

te dar, einer königlichen Residenz, die eigens für die


berühmte, aus Parma überführte Sammlung Farnese
errichtet worden war, bestehend aus einer großen
Sammlung griechischer Münzen, der Bibliothek sowie
389 Gemälden, die in »20 großen Zimmern« auf-
gestellt waren (Br. I, 397). Tizians Porträt Pauls III. mit
seinen Neffen steht für ihn weiter unter Raffaels Por-
trät Leos X. mit seinen Beratern (Br. I, 363), das so
»göttlich gemahlet« ist, »daß es Mengs nicht höher ge-
bracht hat in Portraits, welches alles gesagt heißt« (Br.
I, 367). Mit dem Physiker Giovanni Maria della Torre,
der die Sammlungen betreute, trat W. in ein so ange-
nehmes Verhältnis, dass er erwog, dessen Einladung
für einen zweiten längeren Aufenthalt in Neapel an-
zunehmen, an den sich eine Reise nach Kalabrien an-
schließen sollte, die ihn so gut wie nichts gekostet
hätte (Br. I, 370). W. verbrachte in der Gesellschaft des
Padre, der ihn dort sogar bewirtete, mehrere Tage in
Capodimonte und zog aus dem Studium der Münz-
sammlung »mehr Erleuchtung als aus vielen anderen
Museen, die ich besucht habe«; Br. I, 390).
Den Höhepunkt dieser ersten Neapelreise bildete
die Exkursion nach Paestum im April 1758. Nach ei-
ner mühseligen Schiffspassage in Gesellschaft zweier
unbekannter Kammerherrn aus Köln und J. J. Volk-
Abb. 5.4 Achilles wird von Chiron unterrichtet. In: manns nahm er die drei Tempel in der nur von ärmli-
Le Pitture d’Ercolano I, 1757, Tafel VIII. chen Hütten besiedelten sumpfigen Ebene als »cosa
stupenda« wahr. Als er, vielleicht mit Hilfe eines un-
Caserta und die landwirtschaftlichen Nutzflächen der genannten französischen Architekten, der ebenfalls
Ebene zu versorgen. Einen weiteren Höhepunkt der zur Reisegesellschaft gehörte (Br. I, 356), die Maße der
Reise stellten die mehrfachen Besuche in Capodimon- Säulen aufgenommen hatte, war er sich aufgrund der

Abb. 5.5 Luigi Vanvitelli:


Sog. ›Aquedotto Carolino‹
in der Valle dei Maddaloni
bei Caserta, 1762 fertig-
gestellt.
28 I Biographie

ungewöhnlichen Proportionen sicher, dass die Tem- auch den erneuten Besuch Casertas und der Insel Is-
pel älter sein mussten als alles was in Griechenland chia nur kurz erwähnt (Br. III, 31). Dort traf er Angeli-
überlebt hatte (Br. I, 356). Das Erlebnis der unberühr- ka Kauffmann, ihren Vater und Reiffenstein, die schon
ten antiken Tempel in einer nahezu menschenleeren länger in Neapel weilten und die anscheinend mit ihm
Natur scheint ihn umso mehr beeindruckt zu haben, zusammen nach Rom zurückkehrten. Unter einem für
als ihm Johann Jakob Volkmann, den er bei Firmian in W. interessanteren Vorzeichen stand die vierte und
Neapel getroffen hatte, »Stellen aus Hrn. Gessners letzte Reise, die vom 19. September bis zum 19. No-
Idyllen« vortrug (Br. I, 400). vember 1767 währte. Ihr war ein längerer Briefwechsel
Die zweite Reise, die W. im Frühjahr 1762 unter- mit William Hamilton vorausgegangen, der ihn für die
nahm, und zwar in Begleitung eines die militärische Publikation seiner Vasensammlung gewinnen wollte
Karriere anstrebenden Sohnes des Ministers Heinrich (Br. III, 230). Da er seinerseits Hamilton darum gebe-
Graf Brühl, war mit drei Wochen sein kürzester und ten hatte, ihm beim Vertrieb der Monumenti antichi
offenbar auch sein unerfreulichster Aufenthalt in Nea- inediti in England behilflich zu sein (Br. III, 223),
pel (Br. II, 278). Es handelte sich um eine offizielle Rei- konnte er das Angebot nicht ablehnen. Die Verhand-
se, deren Regie bei dem sächsischen »Geheimen Lega- lung mit Hamilton, der den inzwischen in Neapel le-
tionsrat« Johann Heinrich Kauderbach lag, der seinen benden d’Hancarville mit der Herausgabe des Vasen-
eigenen Sohn und den jungen Brühl begleitete und auf werkes (d’Hancarville 1767–1776) beauftragt hatte,
dessen Kosten auch W. reiste. Vieles spricht dafür, dass zog sich über mehrere Monate hin. W. zögerte seine
W. sich nur mit Rücksicht auf die Macht des Ministers Reise hinaus, weil er nicht bei d’Hancarville wohnen
Brühl in Dresden bereit erklärt hatte, die sächsische wollte, wie ihm dieser angeboten hatte, und zwar in
Reisegesellschaft nach Neapel zu begleiten. Obwohl »Betrachtung seines nicht wieder erlangten guten Na-
der junge Brühl, der gerade zum sächsischen Oberst- mens« (Br. III, 267). Anscheinend reiste er deswegen
leutnant ernannt worden war, für ihn genau in die Ka- im späten Frühjahr incognito nach Neapel, um Hamil-
tegorie jener deutschen Kavaliere gehörte, die er ver- ton allein zu treffen. Diese bisher unbeachtete, wohl
achtete – »der Graf Brühl war 6 Monat in Florenz und sehr kurze Neapelreise, die nur durch einen Brief an
18 Tage in Rom« (Br. II, 343) – hat er ihm das 1762 er- Berendis dokumentiert ist, muss nach der Villeggia-
schienene Sendschreiben von den Herculanischen Ent- tura in Porto d’Anzio stattgefunden haben (Br. III,
deckungen dediziert, vielleicht in der Hoffnung, sich 280–281). Während der beiden Herbstmonate wohnte
beim Vater in Erinnerung zu rufen. Das einzig bemer- W. beim Baron von Riedesel, speiste bei d’Hancarville
kenswerte Vorkommnis, über das W. brieflich berich- oder bei Hamilton und brachte manche Tage an den
tet, war der kühle Empfang durch Tanucci, der wahr- Abhängen des Vesuv im Landhaus der Lady Orford zu,
scheinlich inzwischen von W.s Berichten über Hercu- die er hier nach fast zehn Jahren wiedertraf und die im-
laneum unterrichtet war. W. beschloss jedenfalls, ihn mer noch mit dem Florentiner Mathematiker und
künftig als seinen Feind anzusehen (Br. II, 278). Unter Dichter Giulio Mozzi liiert war, den W. respektlos ih-
einem günstigeren Stern stand dagegen die dritte Rei- ren »Bereiter« nennt (Br. III, 316). Mit Hamilton un-
se, die ebenfalls nur knapp einen Monat dauerte. Er ternahm er zahlreiche Exkursionen in die Umgebung,
unternahm sie im März 1764 zusammen mit Peter allein zwanzig Mal nach Portici und vier Mal nach
Dietrich Volkmann, dem jüngeren Bruder Johann Ja- Pompeji. Das durch die französische Übersetzung des
kobs, und mit Johann Heinrich Füssli, d. h. zwei jun- Sendschreibens von den Herculanischen Entdeckungen
gen Männern, denen er als inzwischen erfahrener extrem gespannte Verhältnis zum Hof lockerte sich,
Kenner viel Wissen vermitteln konnte, während er vielleicht auch, weil sich die Situation am Hofe seit der
selbst wohl kaum von den Besichtigungen profitierte, Volljährigkeit König Ferdinands IV. verändert hatte;
außer von den Exkursionen nach Pozzuoli, Cumae, jedenfalls habe er mit dem Minister Tanucci »so wohl
Bajae und Caserta (Br. III, 28). Inzwischen herrschte als mit anderen die beleidiget schienen Frieden gema-
Gewissheit darüber, dass die neuen Ausgrabungen, die chet« (Br. III, 337). Obwohl W. den Lebens- und Herr-
er schon zuvor besichtigt hatte, nicht Stabiae, sondern schaftsstil Ferdinands IV. auf das Schärfste verurteilte
Pompeji zu Tage förderten. Von der Hungersnot, die und ihn als »ungezogener Pursch« bezeichnete, resü-
Neapel in dieser Zeit heimsuchte und auf die eine ka- mierte er: »Neapel diesesmal völlig nach meinem Sin-
tastrophale Pestepidemie folgte, scheint W. nichts be- ne genossen zu haben« (Br. III, 328).
merkt zu haben. Er stand unter so starkem zeitlichen Das aufregendste Erlebnis dieser zwei Monate war
Druck, dass er kaum zum Briefeschreiben kam und der Ausbruch des Vesuv Ende Oktober, der an Intensi-
5 Winckelmann in Italien 29

tät weit über die Eruptionen der früheren Jahre hi- lige Nuntius ihn nur nach Rom ziehen wollte, um ihn
nausging und der zeitlich mit der Exkursion zusam- dort als Konvertit vorzuzeigen und für seine Interes-
menfiel, die W. zusammen mit Riedesel und d’Han- sen zu vereinnahmen. Genauso suspekt war ihm
carville unternahm. Er hat das abenteuerliche und schon in Dresden das Angebot des Kardinals Passio-
wahrscheinlich auch nicht ganz ungefährliche Erleb- nei gewesen, ihn als Bibliothekar anzustellen. Hier
nis in mehreren Briefen geschildert und damit nicht und auch später reagierte er allergisch auf jede ver-
unerheblich zum steigenden Interesse der deutschen meintliche Beeinträchtigung seiner »Freiheit«, unter
Reisenden der nächsten Generation an einer Bestei- der er in erster Linie das Privileg verstand, unein-
gung des Vulkans beigetragen. geschränkt über seine Zeit zu verfügen (Br. I, 296).
Da die Konversion für W. Mittel zum Zweck ge-
wesen war, blieb mit der Person Archintos (Abb. 5.7)
Vom Bibliothekar zum Präfekten der römischen
zeitlebens ein unangenehmes Gefühl verbunden, das
Altertümer
ihn daran hinderte, dessen Generosität und Wohl-
Im römischen Einwohnerspiegel (Stato d’anime) des wollen zu erkennen. Archinto war allerdings nicht
Jahres 1757 wird im Palazzo della Cancelleria nur der ranghöchste Kleriker nach dem Papst, son-
(Abb. 5.6) ein gewisser »Widman bibliote [...] archi- dern auch ein aussichtsreicher Kandidat im bevorste-
vista« (Noack 1907, 362) aufgeführt. Seit Anfang des henden Konklave. Die Chancen, die sich aus dieser
Jahres 1757 bewohnte W. im Piano Nobile unentgelt- Perspektive für seine Karriere ergeben hätten, waren
lich eine geräumige Fünfzimmer-Wohnung mit ei- W. sehr wohl bewusst, ebenso alle anderen Vorteile,
nem großen Balkon auf die Piazza della Cancelleria die ihm der direkte Kontakt zu einem hohen Kirchen-
(Br. I, 266). Es handelte sich dabei um dieselbe Woh- fürsten verschaffte, sei es für die Genehmigung von
nung, die ehemals der Maler Francesco Trevisani be- Ausgrabungen (Br. I, 308), Empfehlungsschreiben
wohnt hatte, der für den Kardinal Ottoboni gearbeitet (Br. I, 334) oder dessen raffinierte Mittagstafel (Br. I,
hatte. Im besonders heißen Sommer 1757 stellte ihm 333). Wie verengt die Perspektive war, aus der W. den
Archinto sogar ein »appartamento nobile« mit dem Kardinal wahrnahm, zeigt der Blick auf seinen
Zugang auf die offene Loggia des Innenhofes der Can- Freund Mengs, der sich glücklich schätzte, in Archin-
celleria zur Verfügung (Br. I, 293). Als Gegenleistung to seinen »protettore« und Mäzen zu finden (Roett-
kümmerte sich W. um die später nach Spanien ver- gen 2003,168) und der daher seinen ältesten Sohn
kaufte Bibliothek des Kardinals (Br. I, 276, 283), der nach ihm benannte. Es gibt mehrere Gründe für W.s
selbst im päpstlichen Palast auf dem Quirinal lebte. trotzig wirkende Undankbarkeit gegenüber Archinto,
Das Verhältnis zwischen W. und Archinto war seit der wichtigste dürfte jedoch die biographisch beding-
Dresden gespannt, weil W. vermutete, dass der dama- te Antipathie gewesen sein, die W. selbst deutlich er-

Abb. 5.6 Giuseppe Vasi:


Ansicht des Palazzo della
Cancelleria mit dem Bal-
kon zur Piazza della Can-
celleria, der zu Winckel-
manns Wohnung gehörte.
In: Giuseppe Vasi:
I Palazzi e le vie più celebri.
Rom 1754, T. 74
30 I Biographie

die das Markenzeichen der römischen Villeggiatura


war (Br. I, 289).
Die Zugehörigkeit der beiden Kardinäle zu gegen-
sätzlichen politischen Faktionen spielte W. geschickt zu
seinem Vorteil aus. Er taktierte wie ein gewiefter Höf-
ling, indem er Archintos Eifersucht erregte, als er in der
Kutsche Passioneis an ihm vorbeifuhr. Am Ende er-
reichte er sein Ziel, nämlich sowohl bei Archinto als bei
Passionei zur Tafel gebeten zu werden (Br. I, 333). Diese
doppelgleisige Strategie sollte für W.s Verhalten gegen-
über der hohen römischen Geistlichkeit charakteris-
tisch bleiben. Abgesehen von für ihn eher nebensächli-
chen Figuren wie Niccolò Antonelli (Br. III, 184) und
Andrea Corsini (Br. III, 222) achtete er genau darauf,
sich für den Ernstfall zu rüsten, und lernte gemäß den
Regeln zu agieren, die man in Rom beherrschen muss-
te, um zu reüssieren; denn es war nie sicher, welche
Machtkonstellation das nächste Konklave hervorbrin-
gen würde. In der Person von Alessandro Albani, der
nach Passioneis Tod im Juli 1761 zum Kardinalbiblio-
thekar der Vaticana ernannt wurde, hatte sich W. seit
1757 gezielt einen zusätzlichen Protektor aufgebaut.
Gegenüber seinen deutschen Briefpartnern nannte er
freimütig die Gründe dafür. Er brauchte einen »dritten
Abb. 5.7 Anton Raphael Mengs: Bildnis Kardinal Alberico
Kardinal«, der ihm im Fall der Fälle ein Beneficium
Archinto, 1758. Lyon, Musée des Beaux-Arts.
verschaffen konnte (Br. I, 313). Mit seinen 65 Jahren
kannte, als er Jahre später zugab, dass »dieser Mann, war Albani nicht wegen seines Alters oder seines politi-
welcher in Dresden das Werkzeug meiner Bekehrung schen Einflusses der Richtige dafür, sondern wegen sei-
war, nicht nach meinem Sinne geschnitten war« (Br. ner antiquarischen Interessen und seiner Sammlung
II, 275). Archintos weltmännische Überlegenheit und von antiken Skulpturen (Roettgen 1981, 123–152).
aristokratische Distanz machten W. bewusst, wie sehr Kurze Zeit nach Archintos Tod bot ihm Albani schrift-
ihm selbst die Weltläufigkeit fehlte. Der Antipode zu lich Logis und ein monatliches Gehalt von 10 Scudi an,
Archinto wurde ausgerechnet jener Kardinal, bei dem worauf sich W. bereit erklärte, sich um die Bibliothek
er nach Archintos Plan hätte Bibliothekar werden sol- sowie die Zeichnungssammlung und die Antiken zu
len. W. erhielt durch die Vermittlung von Giacomelli kümmern. Stolz verkündete er, dass er sich bei Albani
Zutritt zu Passioneis Tafel und gewann aufgrund ge- selbst eingeführt habe, was jedoch nicht zutrifft (Br. I,
meinsamer Interessen schnell sein Vertrauen (Br. I, 444), und war davon überzeugt, dass er sich in dieser
328). Außerdem fühlte er sich von der Zwang- und neuen Abhängigkeit nicht als Bibliothekar missbrau-
Formlosigkeit des persönlichen Umganges mit ihm chen lassen musste (Br. I, 428).
angezogen (Br. I, 431). Die Frankophilie des beken- Nach seiner Rückkehr aus Florenz zog W. am
nenden Anhängers des Jansenismus störte ihn nicht, 18. Juni 1759 (Br. IV, 153) in den Palazzo Albani bei
solange er davon nicht betroffen war. Erst als er sich Quattro Fontane ein (Abb. 5.8), wo er im obersten
zu einer impulsiven Geste hinreißen ließ, die Passio- Stockwerk eine geräumige Vierzimmerwohnung mit
nei veranlasste, sich von der Tafel zu entfernen (Br. I, Blick auf die Castelli Romani erhielt (Noack 1907,
307), kam es zu einer Abkühlung der Beziehung. Be- 362). Er richtete sich hier ein Studiolo ein, das er mit
sonders beglückt war W. von den Aufenthalten in der Gipsabgüssen und mit Antikaglien ausstattete, die
Villa bei Frascati, wo sich Passionei im Bereich des ihm Albani schenkte (Br. II, 8), und das sich im Lauf
Konvents der Camaldolenser durch Ferdinando Fuga der Jahre so füllte, dass er den angeblich antiken, in
eine prachtvolle und nach seinem Tod abgerissene Wahrheit aber wohl durch Cavaceppi manipulierten
Residenz (Antinori 2004) hatte errichten lassen, in Faunskopf (Abb. 5.9) darin nicht mehr unterbringen
der die lockere und zwanglose Atmosphäre herrschte, konnte (Br. III, 304). Auch das von Maron gemalte
5 Winckelmann in Italien 31

Abb. 5.8 Palazzo Albani bei Quattro Fontane in Rom mit Abb. 5.9 Der sogenannte »Winckelmannsche Faun«.
der Wohnung Winckelmanns im vierten Stockwerk. München, Glyptothek.

Porträt hing in diesem »Museum« (Br. IV, 258). In Nur in den verschiedenen Villeggiaturen – vor allem
der Beziehung zu Albani gab es aber wie zuvor bei in Porto d’Anzio – entfielen derartige Rücksichten auf
seinen früheren ›Dienstherren‹ Höhen und Tiefen. das Zeremoniell. In späteren Jahren war W. öfters mit
Die oft von W. betonte Vertrautheit und der freund- der betagten Prinzessin Teresa Albani allein in Porto
schaftliche Umgang wurden gelegentlich durch die d’Anzio und scheint sich mit ihr gut unterhalten zu
impulsive Unbeherrschtheit des Kardinals getrübt, haben (Br. III, 240, 246).
der sich in dieser Hinsicht keine Hemmungen auf- Die gesellschaftlichen Pflichten als Begleiter des
erlegte (Br. II, 340). So sicher sich W. anfangs war, Kardinals wurden ihm mit der Zeit immer lästiger (Br.
dass Albani ihn als »Freund« halten würde (Br. I, III, 48), obwohl er sich schrittweise seine Privatsphäre
440), musste er bald feststellen, dass er als Vertrauter eroberte (Br. III, 273), besonders in der Villa an der
letztlich in der Rolle eines Untergebenen blieb, so et- Via Salaria (Abb. 5.10), die im Sommer Schauplatz
wa, wenn er ihm bis tief in die Nacht hinein Gesell- großer Feste und Empfänge war (Br. III, 116). Ein Jahr
schaft leisten und ständig mit ihm in die Villa fahren später konnte er sich in ein Haus zurückziehen, das an
musste (Br. II, 71) oder wenn er, zumindest in den der Straße neu errichtet worden war und das somit et-
ersten Jahren, im Palast vom Mittagstisch aus- was entfernt vom turbulenten Geschehen lag (Br. III,
geschlossen blieb, weil der Hausherr mit den Prinzen 110). Um dem Festlärm zu entgehen, musste er nicht
und Prinzessinnen seiner Familie speiste (Br. II, 58). mehr abends in die Stadt zurückkehren und vor Son-
32 I Biographie

nenaufgang wieder herauskommen (Br. III, 44). Gele- als Handreichungen für Besucher gedacht waren
gentlich, vor allem im heißen August (Br. III, 170), (Moisy 1987, 53–58).
weilte er allein in der Villa (Br. II, 298), deren Anzie- Mit den Jahren veränderte sich W.s Status, wozu die
hungskraft von Jahr zu Jahr zunahm, wie sich an der öffentliche Karriere beitrug, die er vor allem dank Al-
steigenden Anzahl der Besucher ablesen lässt. Er sah banis Fürsprache am päpstlichen Hof machen konnte.
sich, besonders in den ersten Jahren, gern in der Rolle Albani verfolgte dabei durchaus Eigeninteressen, nicht
des Türöffners, der darüber entschied, wer Zutritt zur zuletzt, weil er immer knapp bei Kasse war und seine
Villa erhielt und wer nicht (Br. II, 81,102). Obwohl W. »famiglia« nicht regelmäßig entlohnte (Roettgen 1982,
versuchte, nur die von ihm für würdig gehaltenen Be- 139). Trotz seiner guten Beziehungen zu Passionei,
sucher zu führen, verlangte Albani diesen Dienst auch dem damaligen Kardinalbibliothekar, war es W. wäh-
für die politische Prominenz, die W. nicht interessier- rend der ersten römischen Jahre nicht gelungen, Zu-
te, wie etwa den Grafen Orsini-Rosenberg, der Minis- gang zu den Manuskripten der Vaticana zu bekom-
ter des Großherzogs von Toskana war (Br. III, 174). men. Dieses Problem war ein häufiges Thema seiner
Die Frage, in welchen Bereichen W. Einfluss auf Briefe (Br. I, 324), verlor aber mit seiner Ernennung
die Gestaltung der Villa Albani genommen hat, ist zum Scriptor linguae teutonicae im Mai 1763 an Be-
lange und kontrovers diskutiert worden (Allroggen- deutung (Br. II, 317). Neben Albani verdankte er diese
Bedel 1981, 327–333). Als gewiss kann gelten, dass ei- Stelle dem Kardinal Spinelli, zu dem er nach Passioneis
nige Ankäufe ab 1759 mit seiner Billigung erfolgten Tod dank Paciaudis Vermittlung in engeren Kontakt
(Br. III, 75) und dass er auch auf die Ergänzungen der getreten war (Br. II, 291). Die neue Stellung als Skriptor
Skulpturen Einfluss nahm (Gesche 1981, 340), zumal erforderte seine regelmäßige Präsenz an allen Vormit-
er Zugang zu Cavaceppis Werkstatt in der Villa hatte tagen außer Sonntag und Donnerstag (Br. II, 355), wo
(Br. IV, 258). Bei der nicht erhaltenen Ausmalung des er allerdings aus dem vormittäglichen Klatsch der an-
Caféhauses nach Entwürfen des mit ihm befreundeten deren zwölf Skriptoren das in Rom notwendige In-
Clérisseau hat W. mit Sicherheit eine maßgebliche siderwissen bezog (Br. II, 335, III, 69). Nur wenn er,
Rolle gespielt (McCormick 1990, 100–103) und auch wie in den Jahren 1766 und 1767, hochrangige Rom-
die Konzeption des Parnass von Mengs in der Galerie besucher zu führen hatte, konnte er in der Bibliothek
dürfte ihm einiges verdanken (Roettgen 2003, 186). für längere Zeit Dispens erlangen (Br. III, 209).
Die Leistung, die Albani von ihm eigentlich erwartete, Während für ihn das Amt des Präfekten, das er am
war eine Beschreibung, deren Niederschrift W. jedoch 11. April 1763 antrat, »senza fatica« (ohne Mühe) war
immer wieder hinausschob (Br. II, 134, III, 10, 80). Die (Br. II, 305), da der jährliche Aufwand nicht mehr als
erhaltenen Beschreibungen sind kurze Texte, die eher zehn Stunden betrug (Br. III, 300), fing er bald an, über

Abb. 5.10 Giovanni Paolo


Pannini: Hauptportikus des
Casino der Villa Albani, ca.
1760. Privatsammlung.
5 Winckelmann in Italien 33

die Amtspflichten als Skriptor zu klagen. Mitte 1766 (Roettgen 1999, 561). Da er weitere 140 Scudi von Al-
fand er einen Vorwand, nicht mehr in die Vaticana zu bani erhielt und für seine gelegentliche Tätigkeit als
gehen, da er damit rechnete, dass er dank der Interven- Cicerone in Form von »Geschenken« ebenfalls hono-
tion Albanis die Stelle des zweiten Kustoden der Biblio- riert wurde, bezifferte er sein Jahreseinkommen 1764
thek mit 400 Scudi Jahresgehalt »ohne die aller gerings- auf 400 Scudi (Br. III, 18). Angesichts des freien Logis
te Arbeit« erhalten würde, zumal er seit dem 5. August und der häufigen Einladungen zu Mittagstischen er-
1764 (Ruprecht 2011, 170–171) kraft eines päpstlichen möglichte ihm dies eine komfortable Lebensweise. So
Breve die garantierte Anwartschaft für ein griechisches konnte er sich in späteren Jahren überlegen, einen Be-
Skriptorat besaß. Nachdem er 1767 dem Papst ein ge- dienten zu halten (Br. III, 702), und lernte es, »zuwei-
drucktes Exemplar der Monumenti antichi inediti per- len artige Essen zu geben« (Br. III, 40).
sönlich überreicht hatte (Br. III, 222, 274), ging er da- Albani, den W. mit den Jahren zunehmend kriti-
von aus, dass ihm die nächste Vakanz in der Bibliothek scher beurteilte (Br. III, 266, 273, 309), vermittelte ihm
die begehrte Stelle bringen würde. Clemens XIII. Rez- 1766 die Bekanntschaft mit dem Kardinal Giovanni
zonico, den sein Freund Mengs 1758 porträtiert hatte, Francesco Stoppani (Br. III, 125–126), der unter die
war W. zweifellos gewogen: schon 1763 hatte W. ihm in »Papabili« gerechnet wurde. Um sich für den Fall von
Castel Gandolfo, einer weiteren Villa des Kardinals Al- Stoppanis Wahl nicht die Gelegenheit zur Berufung
bani, in der W. häufig zur Villeggiatura weilte, aus den auf die anvisierte Kustodenstelle entgehen zu lassen,
Monumenti antichi inediti vorlesen dürfen (Br. II, 349). erwog W. 1768 sogar, seine Reise nach Deutschland
Außer der Ernennungsurkunde (Br. IV, 393–394) aufzuschieben (Br. III, 365). Sein Trachten richtete sich
haben sich bisher nur sehr wenige Schriftstücke aus auf eine Pfründe, d. h. eine jener im päpstlichen Rom
W.s Amtszeit als Präfekt finden lassen, da die Lizenzen so begehrten Versorgungsstellen, die größtmögliche
für Ausgrabungen von den ihm untergeordneten As- Freiheit gewährten und kaum Pflichten auferlegten.
sessoren Alessandro Bracci und G. B. Cantoni aus- Dies wird verständlich, wenn man sich seine beiden
gestellt wurden (Fröhlich 2011, 57). Tatsächlich scheint Obsessionen vor Augen führt, die der drohenden Mit-
sich W. nur dann persönlich um die Lizenzen zur Aus- tellosigkeit und die, als »Lakai mißbraucht zu werden«
fuhr von Kunstwerken gekümmert zu haben, wenn ihn (Br. IV, 252), die beide in der Korrespondenz reichen
die Objekte interessierten und wenn er sie für so wich- Niederschlag gefunden haben. Nicht immer entsprach
tig hielt, dass er die Ausfuhr untersagte (Br. III, 214). diese Sorge der Realität, denn W. konnte sich gepflegt
Durch diese auch nach außen sichtbare Kompetenz und standesgemäß kleiden. Wenn sich ihm die hohen
wuchs W. in Rom eine neue Autorität zu, die seine seit geistlichen Würdenträger im Negligé zeigten, entband
Jahren bestehenden Kontakte zum Kunsthandel ver- ihn dies keineswegs von der Einhaltung der formalen
änderte. Was sich hinter den Kulissen abspielte, ist Etikette, die ihm sein Status als abhängiger »famiglia-
nicht dokumentiert, aber es erscheint als durchaus re« auferlegte. Auch wenn er sich im Laufe der rö-
möglich, dass der Präfekt auch gelegentlich ein Auge mischen Jahre nicht die »gallantry of a lively french
zugedrückt hat. Unter seiner Amtsführung wurden je- Abbé« aneignete, wie John Wilkes bemerkte (Br. IV,
denfalls Lizenzen an Personen erteilt, mit denen er be- 245), gewann er durch seinen Umgang eine gewisse
freundet war, wie Francesco Barazzi, Cavaceppi, Clé- Weltläufigkeit, die sich vor allem in der Kleidung und
risseau und den General von Wallmoden (Fröhlich in seinem Lebensstil äußerte: »Schwerlich wird ein
2011, 59). Sein Einsatz in den Ämtern, die er bekleide- Mensch eine so verschiedene von der Alten Gestalt an-
te, war so minimal als möglich. Von Anfang an hatte er genommen haben, als in mir, ohne Künsteley, nach
es abgelehnt, Führungen für hochstehende Besucher und nach durch den Umgang mit großen Leuten, und
des Vatikans zu übernehmen, die sein Vorgänger Ri- vornehmen Personen, geschehen ist.« (Br. III, 39).
dolfino Venuti angeboten hatte, um seine finanzielle
Lage zu verbessern (Br. II, 42, 309). Vom Museo Profa-
In der »Welthauptstadt«: Begegnungen mit
no, dessen Kustode er war, spricht er nur en passant
Römern und Nichtrömern
(Br. II, 285, 317). Es ist daher sehr zweifelhaft, ob er
den Aufbau dieses Museums entscheidend geprägt hat, Die Personen, mit denen W. in Rom verkehrte, lassen
wie jüngst vorgeschlagen wurde (Ruprecht 2011, 71). sich, abgesehen von den Künstlern und den Personen
Sein Jahreseinkommen aus diesen beiden Ämtern be- seines ständigen beruflichen und persönlichen Um-
lief sich auf 210 Scudi und entsprach damit in etwa gangs, in vier Gruppen unterscheiden: 1. Gelehrte
dem Jahresgehalt des Generals der Schweizer Garde meistens geistlichen Standes, die zum römischen Es-
34 I Biographie

tablishment gehörten, 2. Antiquare und Intellektuelle »Herunterlassung, ja Verläugnung alles Verdienstes«


anderer Nationalitäten, die ihn aus seinen Publikatio- bewunderte (Br. I, 326). Bereits 1756 lernte er den Je-
nen kannten und deswegen den Dialog mit ihm such- suitenpater Contucci kennen, der die Bibliothek der
ten, 3. Rombesucher aus deutschen Ländern, die ihn Jesuiten im Collegio Romano leitete, die W. damit
aufsuchten, um von ihm belehrt und begleitet zu wer- ebenso zugänglich wurde wie das dort befindliche
den, 4. Prinzen und Fürsten, denen er als Cicerone Museum mit etruskischen Altertümern. Er sah hier
Rom nahebrachte und an die er wegen ihrer politi- auch zahlreiche angeblich antike Gemälde (Raspi Ser-
schen Funktion als Regenten besonders hohe Ansprü- ra 2000, 133–135), deren Echtheit W. zu Recht bezwei-
che stellte. Der Gelehrte müsse sich in Rom eine lange felt hat, wie er bereits 1758 in einem Bericht an Bian-
Zeit aufhalten »von welcher der Eitelkeit nichts hin- coni darlegte (Br. I, 287). Der Gelehrte, den W. am
zuwerfen ist«. In dem 1762 niedergeschriebenen Send- meisten schätzte und mit dem er, ebenso wie Mengs
schreiben von der Reise eines Gelehrten (Br. IV, 17–20) (Roettgen 2003, 493), gut befreundet war (Br. II, 354),
spiegeln sich W. persönliche Erfahrungen in der rö- war Costantino Ruggieri, Leiter der Druckerei im Pa-
mischen Gelehrtenwelt, die er als weitgehend positiv lazzo della Propaganda Fide und Schützling und Bi-
wahrnahm. Er schätzte an den Gelehrten geistlichen bliothekar des Kardinal Spinelli. Er litt allerdings un-
Standes ihre Genügsamkeit, ferner, dass sie an einem ter melancholischer Schwermut und beendete sein Le-
Hof, der mehr als andere »auf Gelehrsamkeit besteht«, ben als Selbstmörder durch einen Pistolenschuss in
»in der Stille« leben können und wahre Philosophen den Hals (Justi III, 36), was W. sehr erschütterte (Br. II,
seien ohne es zu scheinen (Br. IV, 19). Unschwer lassen 354). Den Marchese Lucatelli, Kustode des Museo Ca-
sich hinter dieser euphemistischen Schilderung die pitolino, Ridolfino Venuti, damals Präfekt der Altertü-
beiden Männer ausmachen, die W. vor allem diesen mer Roms, und Giovanni Gaetano Bottari, Autor des
Eindruck vermittelt hatten. Dies waren Giacomelli Katalogs der Skulpturen des Museo Capitolino und
und Baldani. Michelangelo Giacomelli war ein an- Freund Passioneis, kannte er gut genug, um sie bitten
erkannter Kirchenhistoriker und Übersetzer klassi- zu können, seine italienischen Texte zu begutachten
scher griechischer Texte, der damals schon auf eine und sprachlich zu korrigieren (Br. I, 335).
lange klerikale Karriere zurückblickte, die ihren Hö- Zugleich war ihm aber der »Schwarm von Antiqua-
hepunkt aber erst nach der Wahl Clemens’ XIII. riis« suspekt, da »dergleichen Großsprecher glauben,
(1758) erreichte. Als Toskaner versuchte er, W. Dante ich meße ihre Wißenschaft nach ihren Jahren.« (Br. I,
schmackhaft zu machen (Br. I, 276). Antonio Baldani, 301). Als W. besser mit der römischen Gelehrtenwelt
der Alessandro Albanis famigliare war und selbst eine vertraut wurde, ließ seine Hochschätzung deutlich
große Bibliothek besaß, war laut W. einer der weises- nach. So äußerte er sich hochnäsig über die »beyden
ten Männer in Rom und »einer von den gewöhnlichen Assemanni«, ihres Zeichens Kustoden der Biblioteca
Genies der Welschen die keinen Kitzel haben zu Vaticana, weil sie die arabische Sprache »nur lesen«
schreiben« (Br. I, 276). Daher schmeichelte es ihm könnten (Br. III, 323). Zu den römischen Gelehrten
sehr, als er zu Beginn des Jahres 1758 von Giacomelli und Antiquaren, die nach anfänglicher Begeisterung
und Baldani aufgefordert wurde, an ihren sonntägli- (Br. I, 271, 276) schnell von W. deklassiert wurden,
chen Konversationen über archäologische Fragen teil- zählt der Franziskanerpater Bianchi, der in seiner
zunehmen, und zwar mit den Worten Giacomellis: Klosterzelle in S. Bartolomeo auf der Tiberinsel ein
»Mein Freund, Ihr sollt, wenn Ihr wollt, der Dritte großes Münzkabinett beherbergte und viel vom Thea-
seyn.« (Br. I, 324–5). Diese Rangerhöhung löste in ihm ter verstand (Justi II, 152). Er könne, tönt W., »viel wi-
Euphorie aus: neben Giacomelli, der »für den größten ßen, aber in der Kunst ist er dumm wie ein Rindvieh.«
Gelehrten in Italien gehalten wird, und ist«, sei er nun (Br. I, 301). Eine noch polemischere Tonart schlug er
»der größte Grieche in Rom« (Br. I, 328). Baldani, der gegenüber dem Florentiner Domenico Augusto Brac-
laut W. monatlich über 100 Dukaten Einkünfte ver- ci an, der sich in Rom als Cicerone verdingte und sich
fügte, hat ihm bei der Abfassung der Monumenti anti- gleichzeitig mit wenig Expertise und wenig Glück auf
chi inediti sowohl in sprachlichen Fragen wie auch als das Studium der antiken Glyptik verlegte. W. nannte
kritischer Leser assistiert (Br. II, 356). ihn »armselig« (Br. II, 103).
Zu den »Philosophen« rechnete W. auch Odoardo Zum Kreis der professionellen Kontakte gehörte
Corsini, den General der Padri Scolopi, zu dem er we- auch der Theatinerpater Paciaudi, durch den er den
gen seiner Kenntnis des Griechischen Verbindung Kardinal Spinelli kennengelernt hatte und mit dem er
suchte und an dem er, als ihm dies gelungen war, seine seit dessen Übersiedlung nach Parma (1761) einen re-
5 Winckelmann in Italien 35

Abb. 5.11 Carles-Louis


Clerisseau: Ruinenzimmer
im Konvent der Péres
Minimes bei S. Trinita ai
Monti in Rom, ca. 1766.

gelmäßigen Briefwechsel pflegte. Paciaudi hatte enge nimes Jacquier und Lesueur gemacht hatte (Br. II,
Verbindungen nach Paris, vor allem zu Caylus, und 346). Im Dezember 1767 hat er sie dann zusammen
versuchte, für diesen Zeichnungen in der Villa Albani mit Filippo Farsetti, einem umtriebigen venezia-
anfertigen zu lassen, was W. zu verhindern wusste (Br. nischen Kunstsammler, in S. Trinità ai Monti in dem
II, 102). Andererseits bat er Paciaudi 1763 darum, ein heute berühmten, von Clérisseau ausgemalten Zim-
gutes Wort für ihn einzulegen, um in die Pariser Aka- mer aufgesucht (Abb. 5.11) und wünschte sich, wie er
demie aufgenommen zu werden (Br. II, 314). 1760 dem Maler schrieb, »ein gleiches Werk in Paris, das
wandte sich W. an den inzwischen zum Direktor des Ihnen sicherlich Ehre machen würde, da dieses male-
königlichen Münzkabinettes ernannten Pater Barthé- rische Genre wegen seiner Seltenheit dort noch mehr
lemy und erinnerte sich in diesem Zusammenhang, Wirkung haben würde als hier« (Br. III, 349).
dass er diesen 1756 beim Kardinal Passionei mehr- Seine Kontakte zu Franzosen waren aus der Nähe
mals gesehen habe, damals aber so ängstlich und besehen demnach sehr viel besser als seine brieflichen
schüchtern gewesen sei, dass er es nicht gewagt habe, Invektiven vermuten lassen. Dies trifft in besonderem
sich ihm zu nähern (Br. II; 99). Es entspann sich nun Maße auf Watelet zu, der für ihn zunächst ein »übel
jedoch ein anspruchsvoller antiquarischer Briefwech- berichteter und irriger Skribent« war. Als er aber 1763
sel, aus dem man u. a. erfährt, dass W. durch den Kar- nach Rom kam und W. ihn näher kennenlernte, ent-
dinal Spinelli die Bekanntschaft der beiden Pères mi- deckte er in ihm einen kultivierten und angenehmen
36 I Biographie

Gesprächspartner, so dass er sich mit ihm sogar nach W.s Verhältnis zu den Briten war weniger gestört
Torre Astura begab, um nach einer Villa Ciceros zu su- als das zu den Franzosen. Eine der ersten Bekannt-
chen (Br. III, 152). Das harsche Urteil über seine schaften war die mit dem schottischen Maler Colin
Schriften in der Geschichte der Kunst des Alterthums Morison, den er 1758 bei Mengs kennenlernte und
hätte er nun gern gemildert, denn »es ist derselbe so mit dem er sofort eine gemeinsame Reise nach Grie-
bescheiden, daß er in Rom eingesehen, wo er geirret, chenland plante, der erste von vielen folgenden und
und daß es besser gewesen wäre, nach seiner Rückrei- vergeblichen Versuchen, das Land seiner Sehnsucht
se zu schreiben.« (Br. III, 152). Auch in einem anderen zu erreichen (Br. I, 436). Für die Briten, die er in Rom
Fall revidierte W. seine antifranzösischen Ressenti- traf, war dieses Ziel weitaus realistischer, und auch das
ments, und zwar bei der Bekanntschaft mit dem Geo- faszinierte W. an ihnen. Morison wurde später in Rom
logen Nicolas Desmarest, der den Duc de Rochefou- ein begehrter Cicerone für englische Reisende. Auch
cault nach Rom begleitete und den er bat, bei Watelet an James Adam, der 1762 Albanis Zeichnungssamm-
ein gutes Wort für ihn einzulegen (Br. III, 263). Mit lung gleichsam unter seinen Händen nach London
Desmarest verbrachte er 1766 so unterhaltsame Stun- entführte (Br. II, 255), interessierten W. die griechi-
den, dass er an Paciaudi schrieb, er könne mit ihm sche Reisepläne, aber auch die angekündigte Publika-
kaum ein ernsthaftes Wort wechseln, weil ihre Ge- tion des Kaiserpalasts in Spalato. Außerdem war er
spräche regelmäßig in Scherze ausarteten (Br. III, wohl neidisch darauf, wie professionell und effizient
136). In allerhöchstes Entzücken versetzte ihn schließ- Adam in Rom alle Baudenkmäler aufnehmen ließ (Br.
lich der junge und großzügige Duc de La Rochefou- II, 243, 248).
cault selbst, den er 1766 in Rom führte und der sich Nähere Bekanntschaft schloss W. mit Edward
bei ihm mit einem Geschenk von 100 Scudi bedankte, Wortley Montagu, den er 1762 kennenlernte und der
die für die Publikation der Monumenti antichi inediti von 1763 bis 1764 Ägypten und Kleinasien bereiste,
dienen sollten (Br. III, 163). wohin ihn W. gern begleitet hätte. Trotz seines skan-
Unter den nichtitalienischen Gelehrten, mit denen dalträchtigen Lebenswandels (Br. II, 68) schätzte ihn
W. in Rom zusammentraf, waren abgesehen von dem W. wegen seiner Gelehrsamkeit und korrespondierte
jungen Schweizer Johann Heinrich Füssli keine Deut- über mehrere Jahre intensiv mit ihm. Montagu ver-
schen, was sich aus deren finanziell und sozial meis- anlasste ihn zu der Äußerung, dass die Engländer
tens miserabler Lage erklärt, die sie, wie W. bestens doch die einzige weise Nation seien (Br. II, 243). Die-
wusste (Br. IV, 19–20), dazu zwang sich in der Hoff- ses Urteil revidierte er schnell, als er in den Jahren
nung auf eine spätere Universitätskarriere als Hausleh- 1763 und 1764 Angehörige der britischen High Socie-
rer oder Bibliothekar zu verdingen. Wenn überhaupt, ty zu begleiten hatte, die für Albani wegen seiner Rolle
traten sie in Rom als Reisebegleiter von Aristokraten in als Informant von Horace Mann eine wichtige Klientel
Erscheinung, wie dies bei Johann Friedrich Reiffen- waren. Zu ihnen gehörten, um nur die bekanntesten
stein der Fall war, der 1762 mit dem Grafen Lynar nach zu nennen, Lord Baltimore (Ingamells 1997, 46, Br. II,
Rom kam, dem es aber gelang, sich dort dauerhaft zu 285), der Duke of Gordon (Ingamells 1997, 407, Br. II,
etablieren. W. lernte ihn kennen, stellte ihn dem Kardi- 297), Lord und Lady Spencer (Ingamells 1997, 882–
nal Albani vor und entwickelte mit den Jahren ein 885, Br. II, 353), und vor allem der jüngere Bruder des
freundschaftliches und vertrauensvolles Verhältnis zu englischen Königs, Edward Duke of York, der im März
ihm, so dass er ihn als Cicerone und als Agenten für 1764 nach Rom kam und bei Francesco Barazza in der
Kunstankäufe empfahl. Reiffenstein teilte zwar mit W. via della Croce logierte. Als W. ihn auf Wunsch Alba-
das Interesse an Rom, war aber weltläufiger, pflegte op- nis (Lewis 1961, 206) im April 1764 in der Villa Albani
timale Kontakte nach Paris und nach Deutschland und führte, wo für ihn auch ein großer Empfang gegeben
Osteuropa, und engagierte sich für die Kunst und die wurde (Lewis 1961, 207), nannte er ihn »das größte
Künstler seiner Zeit. W. konnte nicht umhin zu be- fürstliche Vieh, das ich kenne« (Br. III, 40).
wundern, dass es »Reiffstein« – wie er ihn nannte –, Eine der denkwürdigsten Bekanntschaften W.s war
der damals mit der Erfindung einer Glaspaste experi- die mit dem englischen Politiker und Schriftsteller
mentierte (AGK, 9), gelang, sich »ohne Glaubenswech- John Wilkes, der nach seiner Verbannung aus England
sel [...] von der Arbeit seiner Hände« zu nähren (Br. III, auf den Kontinent geflohen war und 1765 in Florenz
263–264). Nach W.s Tod wurde Reiffenstein zum wich- durch Horace Mann mit einem Brief an W. versehen
tigsten Vermittler römischer Kunst- und Kulturgüter wurde (Lewis 1961, 110). Die Schätzung war gegen-
nach Mittel- und Osteuropa. seitig, wobei W. von Wilkes’ unkonventioneller Le-
5 Winckelmann in Italien 37

bensweise ebenso fasziniert war wie von seinen demo- phile Kaufmann, Antiquar und Bankier Francesco Ba-
kratischen Überzeugungen (Br. III, 289–291). Wilkes razza(i) in der Via della Croce, der sich um seine fi-
seinerseits sah in W. einen verwandten Geist, wie sei- nanziellen Angelegenheiten kümmerte und ihm beim
ne Erinnerung an ihn belegt, »durchglüht vom Geist Versand der Monumenti antichi inediti behilflich war
der Freiheit und von Gefühlen, die der freiesten Repu- (Br. III, 268). Auch die Kunsthändler Amidei und Al-
bliken der Antike würdig sind, da, wenn ich mich fani (Br. II, 372) gehörten zu dem von W. regelmäßig
nicht irre, die meisten modernen Republiken zu kor- frequentierten Personenkreis, ebenso wie das Ehepaar
rupten Adelsherrschaften degeneriert sind«; Br. IV, Maron, und hier vor allem Therese Mengs-Maron, die
245). Einen weiteren nicht unbedeutenden Engländer ihn bei der Anstellung eines Bedienten beriet (Br. III,
hat W. in Rom gut gekannt, obwohl er ihn nur beiläu- 702). Bei ihrer Heirat mit Anton Maron am 14. August
fig erwähnt. Dies war Daniel Webb, der 1759 in Rom 1765 fungierte W. neben den Malern Nikolas Mos-
war und dort mit Mengs und W. Umgang pflegte und mann und Friedrich Anders sowie Bartolomeo Cava-
dem W. zugesteht, »die Gemählde mehr als sonst je- ceppi als Trauzeuge. Zu seiner Person macht er hier
mand« studiert zu haben (Br. II, 273). Es ist davon aus- die Angabe: »Ich wohne in der Pfarrei von S. Susanna,
zugehen, dass W. alle damals in Rom als Cicerone und im Palast des Kardinal Albani, wo ich Kammerherr
Antiquare tätigen Briten kannte. Neben Colin Mori- bin« (Michel 1996, 392–393).
son erwähnt er den Maler John Parker (Br. II, 104), ei- Unter den »Absenzen« in W.s Briefwelt ist Giaco-
nen Schüler von Benefial, Thomas Jenkins und Gavin mo Casanova zu erwähnen, den er 1760 im römischen
Hamilton, nicht aber James Byres. Salon der Marchesa Cheroffini an der Piazza della Pi-
Nicht mit allen Engländern war W.s Kontakt jedoch lotta (Noack 1907, 83) kennenlernte und der in seinen
unbelastet. Während sich James Boswell in einem Ta- Memoiren mehrere amüsante und brisante Episoden
gebuch vom Mai 1765 alle Treffen mit W. notierte und über ihn zum Besten gibt (Br. IV, 222–226; Irmscher
mit ihm die Villa Albani besichtigte (Br. IV, 244), 1990). Auch wenn seine Angaben nicht in jeder Hin-
brachte W. den Maler James Barry und andere Englän- sicht verlässlich sind, ist ihr Wahrheitsgehalt nicht
der 1766 in Rom gegen sich auf wegen seiner auch von grundsätzlich zu bezweifeln (Osterkamp 1988). Unter
der Londoner Presse kommentierten Attacke in der seinen kuriosesten Bekanntschaften findet sich die
französischen Ausgabe der Geschichte der Kunst des Kurtisane Viscioletta, in die sich Giacomo Casanova
Althertums, die den Engländern die Begabung zur heftig verliebte (Casanova 1985, XII, 163–164). W.
Kunst absprach (Br. III, 227). Barry schrieb darüber an ging sie öfters besuchen, »aber in allen Züchten«, und
Edmund Burke: »Ich möchte Ihnen von dem merk- hielt denjenigen, die sie für ebenso schön erklärten
würdigen System des Abbate Winckelmann berichten, wie die Venus von Medici, entgegen, dass sie entblößt
mit dem ich mich über die künstlerische Begabung gegenüber der Venus »als ein Scheusal erscheinen«
der Nordländer auf ewig zerstritten habe«; Br. II, 480). würde (Br. III, 195).
Während die markanten Persönlichkeiten, mit de- Eine besondere Rolle in W.s Leben spielt der mit
nen W. aus karrierepolitischen und professionellen ihm gleichaltrige Arzt und gelehrte Dilettant Gian Lu-
Gründen zu tun hatte, in seinen Briefen gut repräsen- dovico Bianconi, eine der interessanten Gestalten ita-
tiert sind, bleiben die Personen seines täglichen Um- lienischer Zunge in W.s Umfeld. Auch nach 1755 setzte
gangs im Schatten. Einer von ihnen war der Buch- er sich als Leibarzt des sächsischen Kurprinzen Fried-
händler und Verleger Niccolò Pagliarini, bei dem W. rich Christian von Dresden aus immer wieder für ihn
ein häufiger Mittagsgast war (Br. I, 333). Mehrfach ein, ermunterte ihn zu Publikationen und hatte eine
speiste er auch im Palazzo Farnese beim Duca di Ceri- Zeit lang durchaus W.s Vertrauen, so dass 1758 sogar
sano, dem neapolitanischen Botschafter (Br. I, 325), eine gemeinsame Reise nach Griechenland erwogen
der ihn »seinen Freund nennet« (Br. I, 334) und der wurde (Br. I, 436, IV, 148). Von Zeit zu Zeit regten sich
1756 mit Mengs über dessen Neapelreise verhandelt jedoch in W. Misstrauen und der Verdacht, Bianconi
hatte (Roettgen 2003, 480). W. erfreute sich auch der wolle ihn für seine Interessen einspannen, so dass er
Gastfreundschaft des meistens nur kurz erwähnten mehrfach den Kontakt zu ihm abbrach. Als Bianconi
Baron de Saint-Odile, der als Gesandter des Großher- schließlich 1764 als sächsischer Resident (Gesandter)
zogs von Toskana ihm außerdem Zugang zu antiken nach Rom kam, blieb das Verhältnis kühl. Zwar be-
Monumenten in der Villa Medici verschaffen konnte, diente sich W. gern des diplomatischen Kuriers für sei-
die normalerweise unter Verschluss waren (Br. II, ne sächsischen Postangelegenheiten, aber die alte
105). Eine wichtige Person war für ihn auch der anglo- Herzlichkeit und Spontaneität stellte sich nicht wieder
38 I Biographie

ein, wohl auch, weil Bianconi einen großen Teil des Keyßler« (Br. IV, 13). Er war zudem überzeugt davon,
Jahres in Siena weilte, wo seine Töchter erzogen wur- dass er als Ausländer bessere Ratschläge und Handrei-
den (Justi III, 319). In seinem letzten Brief an ihn aus chungen für die Reisenden geben könne als ein Römer,
Venedig bat W. ihn, einen Sack mit Kaffee und einen »weil wir gegen das was uns beständig vor Augen ist,
Korb mit allen Utensilien für die Kaffeezubereitung bis gleich gültig werden« (Br. IV, 13).
zu seiner Rückkehr zu verwahren (Br. IV, 950a). In dem Maße, wie W. sich über seinen steigenden
europäischen Ruhm Rechenschaft ablegte, veränderte
er sein Verhalten gegenüber denen, die ihn kontak-
Praeceptor der Eliten und der Fürsten
tierten, um durch ihn Rom und die Villa Albani ken-
Die zahlenmäßig größte Gruppe von W.s Rombe- nenzulernen. Er konnte es sich immer mehr leisten, zu
kanntschaften bilden die kurzzeitigen Besucher. Unter selektieren und sich zu verweigern, gab aber umso
ihnen stechen vor allem die heraus, die nach ihrer eher nach, je hochrangiger die Person war, die sich an
Rückkehr zu seinen Briefpartnern wurden, wie Leon- ihn wandte. Sein wichtigstes Kriterium war die eines
hard und Paul Usteri, Johann Heinrich Füssli, Her- ernsthaften Interesses an Rom und der Kunst. Ein we-
mann von Riedesel, Friedrich Reinhold von Berg, J. F. sentlicher Aspekt bei seiner »Missionierung« der po-
von Werthern-Beichlingen, Friedrich Wilhelm von litischen Klasse des Ancien Regime war für ihn, »die-
Schlabrendorf, Christian von Mechel und Johann Ja- selben nicht in schlechte Hände zu laßen« (Br. III,
kob Volkmann. So unterschiedlich ihr soziales Milieu 148). Mit dem ursprünglich für den Spätherbst 1767
und ihre Lebensbereiche und Tätigkeiten waren, ge- (Br. III, 312), dann für das Frühjahr 1768 (Br. III, 353)
hörten sie doch allesamt zu der durch die Romreise angesetzten und schließlich auf 1769 verschobenen
geeinten Spezies der »Liebhaber der Künste«, als de- Rombesuch Kaiser Josephs II. und des Großherzogs
ren Erzieher sich W. verstand. Wie meistens in W.s von Toskana, die in der Villa Albani wohnen und von
Wahrnehmung gab es neben den jungen und begeiste- W. geführt werden sollten, wären W.s Ambitionen als
rungsfähigen Reisenden auch die schwarzen Schafe. Erzieher auf höchster Ebene erfüllt worden. Er hätte
Eines von ihnen war Albert Christian Heinrich Graf dafür sogar auf die Deutschlandreise verzichtet und so
Brühl, jüngster Sohn des sächsischen Ministers Brühl, vielleicht das eigene Leben retten können.
den er im Januar 1762 nach Neapel begleitete. Der ernsthaft an der Kunst interessierte, ebenso
Das Tagebuch des Grafen Lynar vom Mai 1762 gibt uneitle wie unprätentiöse Herrscher war das Ideal,
eine gute Vorstellung vom Ablauf einer Führung durch nach dem er sein Leben lang gesucht hat. Zunächst
W. Den Auftakt bildete ein Besuch in der Accademia hatte er gehofft, es im sächsischen Kurprinzen Fried-
del Nudo auf dem Kapitol, wo man den Künstlern rich Christian zu finden, den er unterrichten wollte
beim Zeichnen zusah. Es folgten das Kapitolinische (Br. II, 292), dem jedoch nur eine zweimonatige Re-
Museum und die Villa Borghese einschließlich der Pa- gierungszeit vergönnt war. Sein Tod im Dezember
lazzina, abends gab es ein Konzert. Am nächsten Tag 1763 beraubte W. nicht nur der Hoffnung auf eine
stellte W. den Grafen dem Kardinal Albani vor; danach Stellung am Dresdner Hof (Br. III, 4), sondern beküm-
begab man sich in die Villa Negroni. Es folgten in den merte ihn, weil er aus seiner Sicht dieses Ideal verkör-
nächsten Tagen St. Peter, der vatikanische Palast und pert hatte (»jener Fürst, der das ähnlichste und leben-
die Biblioteca Vaticana, wo nur die von Keyssler er- digste Abbild der Gottheit war«; Br. III, 21).
wähnten Codices zu sehen waren (Br. IV, 231). W. hat Der zweite Hoffnungsträger war Friedrich II. von
die Ziele und Inhalte seiner erzieherischen Mission ge- Preußen, für den W. ein zwischen Abneigung und Be-
nau durchdacht. An keiner Stelle ist dies deutlicher wunderung schwankendes, aber stets engagiertes In-
zum Ausdruck gebracht als im Sendschreiben von der teresse bekundete. Als ihm schließlich 1765 eine Stelle
Reise eines Liebhabers der Künste für Riedesel und Me- als Ober-Bibliothekar der königlichen Kunst- und
chel: »Der Liebhaber der Künste muß die Baukunst, Münzsammlung in Berlin angeboten wurde, schraub-
Bildhauerey und Mahlerey mit einander vereinigen, te er jedoch seine Forderungen so hoch (Br. III, 279),
von welchen Rom die Schule und der höchste Lehrer dass sich diese Lösung zerschlug. Dahinter stand die
ist, und in jeder Kunst verdienen die neuern Werke Angst vor der sozialen Geringschätzung und vor der
nicht weniger Aufmerksamkeit als die alten« (KS 207). Abhängigkeit von einem Dienstherrn, aus der sich die
Auf der Grundlage seines Wissens über Rom sah er meisten seiner karrierepolitischen Entscheidungen
sich auch in der Lage, einen »Wegweiser« zu verfassen, erklären. Ganz anders verhielt es sich, sobald sich ein
mit »Nachrichten, die wichtiger sind als die aus dem Herrscher außerhalb des Systems bewegte, das ihn
5 Winckelmann in Italien 39

nicht nur unnahbar machte, sondern ihm auch die 250–257). Nach der Abreise des Herzogs im April
menschliche Dimension nahm. Wäre Friedrich II. 1766 verweilte Erdmannsdorff noch für einige Zeit in
nach Rom gekommen, wie W. 1764 hoffte (Br. III, 39), Rom und setzte hier seine Exkursionen unter W.s Ägi-
so hätte sich vielleicht ein größeres gegenseitiges Ver- de fort (Erdmannsdorff 2001, 296). Später schrieb er
ständnis entwickelt. aus der Erinnerung auf, wie sich ihm die sechs Monate
In den letzten beiden römischen Jahren realisierte in Rom eingeprägt hatten. Während dieser Zeit habe
sich für W. in Rom eine Konstellation, die ihm den er W. täglich gesehen, der des Morgens gegen neun
Glauben zurückgab, dass es – ungeachtet seiner Über- Uhr in das Hotel (Albergo di Londra) an der Piazza di
zeugung »Alle große Herren sind eine Art von Tyran- Spagna gekommen sei, um die Reisegesellschaft dann
nen, wenn man ihnen nicht den Kopf bieten will oder auf den Gängen durch die Stadt zu begleiten. Die Ex-
kann« (Br. II, 207) – einen idealen Herrscher geben kursionen dauerten meistens bis 3 oder 4 Uhr nach-
könnte. Wahrscheinlich war die Begegnung mit dem mittags; danach speiste man gemeinsam und vertiefte
Prinzen Georg zu Mecklenburg, einem Bruder der dabei die Eindrücke. Erdmannsdorff berichtet auch
englischen Königin, der Anfang November 1765 in von den Landpartien nach Tivoli, Frascati und Castel
Rom eintraf, durch den seit Jahren mit W. im Brief- Gandolfo, wo W. durch seine »Herzensgüte und seine
wechsel stehenden Probst Genzmer vorbereitet wor- einfache und offenherzige Denkweise« fesselte (Erd-
den, der den damals Siebzehnjährigen erzogen hatte. mannsdorff 2001, 310). Weitere Details finden sich bei
W. nahm sich in einem Maße der Bildung und Beleh- Berenhorst, dessen Berichte über die Ausflüge mit W.
rung des jungen Mannes an, die über seine früheren im März und April 1766 von W.s Schwächen sprechen.
Engagements weit hinausging. Er sei ihm Freund, Er habe viele Vorurteile, dulde, vor allem bei Tisch,
Sohn, Schüler und Spielgeselle und kehre mit ihm »zu keinen Widerspruch und errege sich leicht, besonders
meiner verfloßenen Jugend zurück« (Br. III, 133). Er nach übermäßigem Weingenuss (Br. IV, 256).
zeigte ihm neue antike Funde, erklärte sie ihm und war Anfang November 1766 begleitete W. einen weite-
höchst zufrieden damit, dass dieser Prinz »wider aller
Deutschen Gewohnheit, der Einsicht, welche Rom er-
fordert, gemäß zugeschnitten ist« (Br. II, 138). Schon
zwei Monate später traf der Herzog Leopold III. Franz
von Anhalt in Rom ein, der sich – offenbar unerwartet
– zu Fuß und spät am Abend ohne Begleitung in W.s
»Hütte« begab. Gelegentlich ließ W. den Herzog nun in
der Obhut des Prinzen, der dort seine Stelle vertrat (Br.
III, 148). Gleichzeitig war auch noch der General von
Wallmoden in Rom, und W. rechnete mit Riedesels
baldigem Eintreffen. Diese Kumulation von hochran-
gigen Deutschen, die sich alle für die Kunst, die Antike
und ihn selbst interessierten, verschaffte W. höchste
Befriedigung. Allerdings kam er dadurch erheblich ins
Gedränge, da ihm nun die Zeit für seine eigene Arbeit
abging (Br. III, 151), und bald klagte er darüber, dass
der Prinz nicht ohne ihn aus dem Haus gehe und er
zwei Stunden für das Essen verliere, »da ich mit einer
Viertelstunde fertig werden könnte« (Br. III, 155).
Als regierender Landesherr war Leopold Franz von
Anhalt ihm dann doch wichtiger, zumal er ihn bei sei-
nem ersten Besuch mit den Worten begrüßt hatte:
»Ich bin von Dessau, mein lieber Winckelmann; ich
komme nach Rom, zu lernen, und ich habe Sie nötig.«
(Br. III, 156). Die beiden Begleiter des Herzogs waren
Berenhorst und Erdmannsdorff. Beide haben W. in ih- Abb. 5.12 Pompeo Batoni: Bildnis Erbprinz Carl Ludwig
ren Aufzeichnungen, die auch das Besichtigungspro- Ferdinand von Braunschweig, 1767. Braunschweig, Herzog
gramm nachzeichnen, ausführlich gewürdigt (Br. IV, Anton Ulrich-Museum.
40 I Biographie

ren deutschen Fürsten. Der wegen seiner militärischen Prinzen beschert hat. Für das Bildnis des Herzogs
Meriten von W. als »deutscher Achilles«, später aber Franz von Anhalt-Dessau (Abb. 5.13), das durch eine
auch weniger schmeichelhaft als Tydeus bezeichnete plastisch dekorierte antike Marmorvase als Rompor-
Erbprinz von Braunschweig wirkte auf W. schweigsam trät ausgewiesen ist, hatte sich W. an Maron gewandt
und verschlossen, aber ebenso wie er selbst war er gut und kam dadurch auf die Idee, sich ebenfalls von Ma-
zu Fuß, und so erwanderten sich die beiden Männer ron porträtieren zu lassen (Br. III, 197).
Rom in Fußmärschen, die sieben bis acht Stunden Wenn W. von Leopold von Anhalt als dem »Phoe-
dauerten. W. versuchte ihn aufzumuntern und dankte nix der Prinzen« spricht, der »ein Kayser seyn sollte,
Gott dafür, »kein großer Herr zu seyn; die wahre Frö- so wie er ein Menschenfreund ist« (Br. III, 213, 177),
lichkeit ist nicht ihr Antheil. Wie oft habe ich diesem so werden hieran seine Erwartungen an einen moder-
würdigen Prinzen wiederholet, daß nicht ich, sondern nen, aufgeklärten und kultivierten Herrscher ablesbar.
er, unglücklich seyn könne.« (Br. III, 218 ). Wahr- Keiner der drei Fürsten, denen W. als noch jungen
scheinlich durch W. veranlasst, ließ sich der Erbprinz Männern Rom vermittelt hat, wurde nach der Rück-
von Pompeo Batoni porträtieren (Abb. 5.12), zwar in kehr aus Italien zu einem markanten politischen
höfischer Kleidung und mit dem Degen an der Seite, Machtträger. Am stärksten identifizierte sich Franz
aber gestützt auf einen antiken Glockenkrater, den W. von Anhalt-Dessau mit W.s Idealen. Seine und Erd-
in den Monumenti antichi inediti abgebildet hat. Der mannsdorffs Schöpfung des Garten- und Musen-
heute im Louvre befindliche Krater, der damals Mengs reichs Wörlitz, in der sich das Rom-Ideal mit einer
gehörte (Roettgen 1981, 129–130), war von W. mit Be- englisch geprägten Arkadien-Vision verbindet, wurde
dacht gewählt worden, denn auf der Vorderseite ist zum wirksamsten Symbol von W.s Einfluss auf das
Pallas Athena dargestellt, die Herkules aus einer Karaf- deutsche Kulturleben des 18. Jh.
fe einschenkt. Man geht kaum fehl, darin eine be-
absichtigte Allegorie auf die geistigen Erquickungen zu
Privates und Alltag
sehen, die der Umgang mit W. dem kampferprobten
Goethe hat W.s Hang zum »Erzählen von Kleinigkei-
ten« betont und erklärte ihn mit »jener alterthümli-
chen Eigenheit, daß er sich immer mit sich selbst be-
schäftigte« und das Zutrauen habe, »daß seine Freunde
sich auch dafür interessiren werden« (Goethe 1805,
431). Tatsächlich hat W. durch seine Korrespondenz
der Nachwelt einen für die Zeit ungewöhnlich direkten
Einblick in seine Empfindungen und in sein Privatle-
ben hinterlassen. Manchmal verrät er auch intime De-
tails, die auf die frühen Editoren seiner Briefe offenbar
verstörend wirkten (Br. I, 464). Besonders den deut-
schen Jugendfreunden, aber auch Bianconi und Mu-
zell-Stosch teilte er viele Einzelheiten über seinen All-
tag und seinen Umgang mit, so dass daraus ein leben-
diges Bild seines römischen Lebens entsteht. Seine
brieflichen Mitteilungen über private Dinge wie Woh-
nung, Kleidung, Ess-, Trink- und Schlafgewohnheiten,
Gesundheit und körperliches Befinden künden davon,
wie wichtig es ihm war, die fernen Freunde an dem
neuen Leben teilhaben zu lassen und damit zu de-
monstrieren, dass er sich gut in Rom einlebte. Er kom-
mentiert die schon im frühen Februar einsetzende
Mandelblüte, aber auch die winterliche Kälte, die er
bald stärker empfand als im kalten Deutschland, die
gelegentlichen Schneefälle oder die über dem Durch-
Abb. 5.13 Anton von Maron: Bildnis Leopold Franz schnitt liegende Sommerhitze des Jahres 1757. Letztere
von Dessau. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum. veranlasste ihn dazu, schwimmen zu lernen, und zwar
5 Winckelmann in Italien 41

eine Stunde nach Sonnenuntergang in dem großen mit Unterziehstrümpfen und einem Pelz ein, vor allem
und nicht zu tiefen Becken der Fontana Paolina auf aber mit Leibwäsche, da in Rom »alles Leinen-Gerä-
dem Gianicolo (Br. I, 290–291). Im weiteren Verlauf the« teuer sei (Br. I, 127). Anfänglich sparte W. in Rom
dieses heißen Sommers badete er dann jeden Abend sehr an der Kleidung, trug seinen grauen Roquelaure
im Tiber, »wozu Bequemlichkeit gemacht ist, aber es ohne Oberhemd ließ seine Kleidung notfalls »menagi-
half nicht viel gegen die Hitze der Nacht« (Br. I, 305). ren«, d. h. ändern und ausbessern (Br. I, 206). Im No-
Ungezwungen und kritisch berichtet W. auch über vember 1757 entschloss er sich im Hinblick auf die be-
seine Gesundheit und darüber, wie er die altersbeding- vorstehende Reise nach Neapel, das »Kleid eines Ab-
ten Veränderungen seiner Physis wahrnahm. So kon- bate« anzulegen, »aus keiner anderen Ursach, als die
statiert er, dass seit seiner Ankunft in Rom das Erinne- Kosten an diesem schimmernden Hofe, in Kleidung zu
rungsvermögen nachgelassen habe, erklärt dies aber ersparen« (Br. I, 306). Für die Reise ließ er sich aber
damit, dass die Menge der neuen Eindrücke das alte auch ein »Campagne-Kleid« aus einem »Caffe-brau-
Wissen verdrängt habe (Br. I, 279). Geradezu modern nen Drap d’Abbeville«, d. h. dem besten französischen
wirkt er in der aufmerksamen Beobachtung seines Wolltuch, machen (Br. I, 329). Zur Begründung
körperlichen Zustandes, etwa wenn er zugenommen schreibt er an Bianconi, dass sein Status und die Ach-
hatte. Ebenso notiert er, dass er, wenn er allein speise, tung, die er sich erworben habe, diesen »decoro« erfor-
zu viel esse, weil er nicht gut genug kaue (Br. I, 277). dern (Br. IV, 104). Nach der ersten Neapelreise (1758)
Am häufigsten räsoniert er über seine Trinkgewohn- lässt er sich zwei neue leichte Kleider für den rö-
heiten. Der wohlfeile Weißwein aus Orvieto und der mischen Sommer anfertigen, eines in Seide und das
Rotwein aus Montepulciano machten es ihm leicht, andere in leichter Leinwandgaze (Br. I, 363). Später
ihn entgegen der italienischen Sitte nicht mit Wasser kleidete er sich, zumindest während der Sommerauf-
zu mischen. Besonders schätzte er den noch heute be- enthalte in der Villa Albani, auch »farbigt« (Br. III,
liebten neapolitanischen Rotwein Lagrima di Cristo, 116). Erdmannsdorff schrieb dagegen 1780 aus der Er-
auch wenn er dessen Genuss in späteren Jahren redu- innerung auf, dass seine Garderobe nur aus zwei
zieren musste, denn »das Gewebe meines Gehirns ist schwarzen Anzügen und einem großen Pelz bestanden
nicht mehr, wie es war; es ist noch närrisch genug, aber habe, den er aus Deutschland mitgebracht hatte (Br. IV,
es ist auch etwas weiser geworden« (Br. III, 14). 249). Dem entsprechen auch die Angaben im Nach-
Die Offenheit solcher Bekenntnisse gegenüber sei- lassinventar (Pagnini/Stoll 1965, 148).
nen Freunden lässt erahnen, wie intensiv W.s Selbst- Abgesehen von zwei Fiebererkrankungen im Jahr
beobachtung war. Seine Empfindlichkeit gegenüber 1763, sich mit den Jahren häufenden Schwindelanfäl-
dem Straßenlärm im Sommer äußerte sich in Schlaf- len, einem empfindlichen Magen und Augenschwä-
losigkeit, unter der er aber schon in seiner Jugend ge- che in den letzten Jahren spricht W. nie von schwere-
litten hatte (Br. IV, 191). Dem römischen Winter in ren Krankheiten, sondern betont mehrfach, dass er
normalerweise ungeheizten Räumen begegnete er, in- sich gesund fühle und beweglich zu Fuß und zu
dem er Bettwärmer benutzte (Br. I, 325) und mit dem Pferde sei (Br. II, 426). Noch 1766 erklärt er, dass er
Zwiebelprinzip, d. h. er hüllte sich in mehrere Schals »mit allen jungen Leuten um die Wette« laufe und
und Mützen und trug in der Wohnung Pelzstiefel (Br. klettere (Br. III, 156). Er schmeichelte sich auch damit,
I, 333). Auch über seine Wäscheausstattung sind wir dass man ihm seine Jahre nicht ansehe, wie ihm die
gut unterrichtet, da er in einem Brief an Niccolò Pa- Römer gemäß einem bis heute anhaltenden Brauch
gliarini genau beschreibt, welche wärmenden Klei- versicherten (Br. III, 40). Allein die Strapazen der Ve-
dungsstücke, darunter ein Moltonfell, dieser aus einer suv-Besteigung im Jahr 1767 zeigen, dass er seinem
Truhe in seiner Wohnung in der Cancelleria holen durch vieles Laufen trainierten Körper einiges zumu-
sollte, um sie ihm nach Florenz zu schicken, wo der ten konnte.
Winter noch kälter war als in Rom (Br. I, 420). Auch über W.s römische Essgewohnheiten wissen
Die Kleidung ist ein häufiges Thema in W.s Brief- wir einiges: er liebte Broccoli mit Essig und Öl, Blu-
wechsel. Seine Bemerkungen erlauben es, seine zuneh- menkohl, junge Erbsen, trank gern Schokolade und
mende Sorgfalt für eine gepflegte äußere Erscheinung Kaffee, weniger gern Limonade, und war ein an-
als Indiz seines sozialen und kulturellen Aufstiegs in spruchsvoller Gast, was die Küche betraf. Die rö-
der römischen Gesellschaft zu interpretieren. In Dres- mische Bürgerküche – mit Ausnahme der im Haus
den machte er sich bereits Gedanken darüber, welche Mengs – behagte ihm nicht, er bevorzugte die deut-
Kleidung für die Reise angemessen sei, und deckte sich sche Küche, jedenfalls in den ersten Jahren, und mo-
42 I Biographie

kierte sich darüber, dass der Verleger Niccolò Pagliari- sau griff W. 1766 den Plan einer Reise über die Alpen
ni, bei dem er häufig aß, zwar meinte, eine feine eng- wieder auf, nun allerdings zog es ihn hauptsächlich
lische Küche zu offerieren, die aber, da durch Einhei- nach Dessau und nach Berlin, wo Muzell-Stosch in-
mische besorgt, italienisch schmeckte (Br. I, 333). zwischen lebte und ihn erwartete (Br. III, 191). Nach
Johann Heinrich Füssli erinnerte sich, dass W. Tabak genauerem Nachdenken erwog W., über die Schweiz
schnupfte, dabei aber sehr reinlich war (Br. IV, 243). und Straßburg, Leipzig und Dessau nach Berlin zu ge-
Ein Thema der Briefe nach Deutschland ist W. s hen und auf der Rückreise in Dresden Station zu ma-
Wahrnehmung der südlichen Landschaft und der Na- chen (Br. III, 200). Im Spätsommer 1766 hat er diese
tur. So genießt er die »aria felice« in der Albani-Villa Reise dann für den Herbst 1767 angesetzt, um »ehe ich
in Castel Gandolfo, die er als einen glückseligen und sterbe mein Vaterland wider zu sehen« (Br. IV, 202). Je
paradiesischen Ort erlebt (Br. I, 165). Besonders in- näher jedoch der Termin rückte, umso unrealistischer
tensiv war das Erlebnis des Meeres während seiner wurde er. Im Juni 1767 schlug ihm »ein Negotiant aus
meistens in die Karnevalszeit fallenden Aufenthalte in Marseille« – es handelte sich um Pierre-Auguste Guy
der Villa Albani in Porto d’Anzio (Nettuno), das er – eine Reise nach Griechenland vor, die dieser dann
den »Ort meiner Seligkeit« nennt. Hier stand er früh ohne W. durchgeführt und beschrieben hat (Br. IV,
auf, machte sich mit Myrthenholz Feuer im Kamin, 526). Kurz darauf bot Riedesel erneut die schon seit
um sich seine morgendliche Schokolade zuzubereiten, langem diskutierte Reise an die Ostküste Siziliens an,
und nach drei Stunden Lektüre unternahm er am Ufer an der W. die Aussicht reizte, die Antiquitäten und Va-
des Meeres lange Spaziergänge, bei denen er seinen sen in der bekannten Sammlung des Principe Biscari
Freund Francke gern als Begleiter gehabt hätte, um in Catania zu sehen und durch Mogalli zeichnen zu
»unter dem mit Myrthen bewachsenen hohen Gesta- lassen (Br. III, 301, 308), damit er sie in den dritten
de sorgenlos zu schleichen, und auch, wenn das Meer Band der Monumenti antichi inediti aufnehmen könn-
wütet und tobt, dasselbe (...) von dem Balcon meiner te. Kurz darauf erfuhr W. jedoch davon, dass er Ende
Zimmer selbst, ruhig anzuschauen« (Br. III, 365–366). November 1767 Kaiser Joseph II. und seinen Bruder
Romantisch angehaucht sind auch die Bemerkungen Pietro Leopoldo durch Rom führen sollte, und redu-
über die Spaziergänge in den römischen Villen, be- zierte daher das Projekt der Sizilienreise auf eine Reise
sonders im zeitigen Frühjahr, wenn die Mandelbäume nach Neapel zu Riedesel (Br. III, 314).
anfangen zu blühen (Br. I, 221). Obwohl er die Stadt In Neapel erfuhr er, dass die Reise des Kaisers nicht
Neapel nicht liebte, stellte er sich aus der Ferne vor, stattfinden werde (Br. III, 318), erklärte aber dennoch,
wie er dort den »griechischen Himmel« genießen wer- wegen der Arbeit an der französischen Übersetzung
de (Br. III, 14). Insgesamt sind sehnsüchtige Projektio- der Geschichte der Kunst die Reise nach Deutschland
nen ein Leitmotiv von W. Italienerlebnis, was sich in verschieben zu wollen (Br. III, 318). Im Winter 1767–
der Wahrnehmung von Orten und Menschen zeigt, an 1768 erwog W. verschiedene Lösungen seiner Nord-
und in denen ihm Natur und Kunst eins zu werden reise, u. a. liebäugelte er auch mit dem Gedanken,
schienen. So entdeckte er an den Einwohnern von Ti- nach Paris zu gehen, wie er an Clérisseau schrieb (Br.
voli und an einem jungen Römer das »klassische Pro- III, 345). Sobald es an die konkrete Planung der Reise
fil«. Dies bestätigte ihn in seiner Überzeugung, dass nach dem Norden ging, für die er ein Jahr veranschlag-
»die Natur in ihrer schönsten Bildung so wenig als te, taten sich neue Hindernisse auf, mit denen W. nicht
möglich von der geraden Linie der Stirn und Nase ab- gerechnet hatte. Als Amtsträger der Kurie bedurfte er
gegangen« (Br. I, 314–315). für seine längere Abwesenheit der Erlaubnis des Paps-
tes, ja er musste sich sogar um einen Stellvertreter be-
mühen, den er in letzter Minute in Giovanni Battista
Zwischen Vorstellung und Wirklichkeit: die
Visconti fand (Br. III, 383). Zu Beginn des Jahres 1768
gescheiterte Deutschlandreise
schien es endlich klar, dass W. die Nordreise unter-
In einem Brief des Jahres 1763, als W. davon überzeugt nehmen würde (Br. III, 350). Kurz darauf wurde die
war, dass er in Rom bleiben würde, tauchte erstmals Reise des Kaisers jedoch erneut aktuell und W. be-
der Gedanke an eine Reise nach Sachsen auf (Br. II, fürchtete, dass sich seine Reise nach Deutschland da-
300). Diese für 1764 vorgesehene Reise wurde jedoch durch auf den nächsten Winter verschieben werde (Br.
wegen der Arbeit an den Monumenti antichi inediti III, 353). Gleichwohl behielt er noch den Plan bei,
und anderen Reiseplänen (Neapel) fallen gelassen. über Zürich nach Deutschland zu gehen. Zehn Tage
Erst nach der Begegnung mit Franz von Anhalt-Des- später berichtete er an Muzell-Stosch, dass die Reise
5 Winckelmann in Italien 43

des Kaisers abgesagt sei und somit seiner Reise nach folglich die diplomatischen Verhandlungen wider, die
Berlin keine Hindernisse im Wege stünden (Br. III, zwischen Wien, Florenz und Rom geführt wurden,
356). Wiederum zwei Wochen später sah die Situation um den günstigsten Zeitpunkt für die Romreise des
erneut anders aus. Der Kaiser werde – so teilt W. Kaisers und seines jüngeren Bruders zu eruieren. W.
Francke mit – für Ende Mai erwartet, und daher kön- war nur ein kleiner Akteur in diesem politischen Kon-
ne er nicht abreisen (Br. III, 365). Auch wegen des im- text, aber er sollte der einzige der Beteiligten sein, des-
mer wahrscheinlicher werdenden Ablebens des Paps- sen Schicksal durch die definitive Verschiebung der
tes und der Chancen, die Stoppani im Konklave ein- Romreise eine tragische Wendung nahm.
geräumt wurden, mit möglichen Folgen für die eige- Am 19. März 1768 wusste W. definitiv, dass er ab-
nen Ambitionen auf eine Kustodenstelle an der reisen konnte, denn er schrieb unter diesem Datum an
Vaticana, zögerte W. nun seinerseits (Br. III, 365), die Schlabrendorf, dass er ihn im Juni in Berlin umarmen
Reise anzutreten. Stattdessen dachte er über regel- werde (Br. III, 377). Nun gab er auch den Namen sei-
mäßige Reisen zweimal im Jahr nach Neapel nach, wo nes Reisegefährten Bartolomeo Cavaceppi (Abb. 5.14)
ihm d’Hancarville ein Studierzimmer eingerichtet bekannt (Br. III, 379), obwohl dies schon länger aus-
hatte (Br. III, 366). Erst Ende Februar 1768 hatte sich gemacht war (Br. IV, 259). Gleichzeitig informierte er
die Lage so weit geklärt, dass er Muzell-Stosch wieder alle Korrespondenten, denen er seit langem seinen Be-
Hoffnung auf gemeinsame kleinere Reisen von Berlin such in Aussicht gestellt hatte, über seine bevorstehen-
aus machte, nach Dessau, nach Braunschweig und de Abreise: Francke in Nöthnitz, den Erbprinzen von
nach Salzdahlum (Br. III, 372). An Mechel schrieb er Braunschweig, den Herzog Franz von Anhalt-Dessau,
dagegen nur wenige Tage später, dass die Reise nach Christian von Mechel in Basel, Heyne in Göttingen,
Deutschland wegen des hohen Besuchs auf das kom- Münchhausen in Hannover (Br. III, 379–381). Die
mende Jahr verschoben werde (Br. III, 372). Der Vor- Reiseroute wurde jedoch geändert und war strecken-
wand kam ihm nicht ungelegen, da er so von Arbeit weise nun identisch mit der seiner Romreise von 1755.
»überhäuft« war, das er fürchtete »unter derselben zu Cavaceppi hat 1769 einen Bericht über die Reise pu-
unterliegen« (Br. III, 376).
Nur eine Woche später, am 23. März 1768, teilte er
Muzell-Stosch mit, dass er spätestens am 10. April ab-
reisen werde und damit rechne, Mitte Mai in Berlin zu
sein (Br. III, 377). In der Zwischenzeit hatte er den
päpstlichen Dispens vom Amt als Kommissar der Al-
tertümer, vor allem aber die Erlaubnis des Kardinal
Albani erhalten, sich von Rom zu entfernen. Als Pro-
tektor des Hl. Römischen Reiches beim Hl. Stuhl war
Albani offenbar über die Wiener Planungen infor-
miert. Die Erlaubnis zur Reise nach dem Norden hing
davon ab, ob der Kaiser nach Rom kommen würde
oder nicht (WB III, 371). Die Verschiebung der Rom-
reise Kaiser Josephs II. erklärt sich nicht nur aus in-
nenpolitischen Erwägungen am Wiener Hof, sondern
geschah auch in Anbetracht der aktuellen Situation in
Rom. Erst nachdem Papst Clemens XIII. am 2. Febru-
ar 1769 gestorben war, entschloss sich Joseph II. im
März 1769 kurzfristig zu einem 15-tägigen Romauf-
enthalt, da während des Konklaves alle zeremoniellen
Aufwendungen entfielen und er auf diese Weise sei-
nen Optionen für die Papstwahl Nachdruck verleihen
konnte. Sein Rombesuch – der erste eines Kaisers
nach Karl V. – hätte, selbst wenn er incognito erfolgt
wäre, unausweichlich jene pompöse Maschinerie in
Gang gesetzt, die ihm wiederstrebte. In den ständig Abb. 5.14 Anton von Maron: Bildnis Bartolomeo Cavaceppi,
sich ändernden Plänen der Reise W.s spiegeln sich 1768. Berlin, Kupferstichkabinett.
44 I Biographie

bliziert (Br. IV, 265–270), der 1780 ins Deutsche über- Schmidtmayr, den Albani später für seine Aufwen-
setzt wurde (Dassdorf 1780, 358–372). Hier ist der dungen bezahlt hat (Br. IV, 278). In Rom hatte sich
Reiseverlauf festgehalten, der vor dem Hintergrund mittlerweile herumgesprochen, dass W. im Begriff
der späteren Ereignisse eine schicksalhafte Dimension war zurückzukehren. Reiffenstein, der bei Maron von
gewinnt. Im Sanktuarium von Loreto erfüllten beide W.s Brief an Mogalli erfuhr und diesen Brief auch ge-
ihre religiösen Pflichten, besahen aber auch die lesen hat, vermutete, dass es W. leid gewesen sei, »sich
Schatzkammer (Tesoro) der Basilika und entdeckten in Teutschland mit Cavaceppi, als einem Römischen
viele schöne geschnittene Steine, von denen allerdings Wunder Thier herumzuschleppen« (Br. IV, 272). Auch
die wenigsten antik waren. Die nächste Station war wenn er damit vielleicht Recht hatte – schließlich
Bologna, wo Cavaceppi außer der Enthauptung des hl. kannte er beide – erklärt dies kaum die melancho-
Paulus von Alessandro Algardi keine guten Skulptu- lische Stimmung W.s während der ganzen Reise, die
ren finden konnte. In Venedig sah W. die Antiken der W. selbst in seinen in Wien verfassten Schreiben an
Sammlung Grimani in der Biblioteca Marciana und Michelangelo Bianconi, Muzell-Stosch und Franz von
die Skulpturen im Palazzo Grimani. Cavaceppi da- Anhalt-Dessau als Grund für seine Rückkehr nach
gegen bewunderte die Bronzepferde an der Fassade Rom angegeben hat. Die Frage nach den Gründen für
von S. Marco. Die nächste und letzte italienische Stati- diesen Schritt ist nie verstummt (Justi III, 457–459).
on war Verona, wo die Sammlung des Scipione Maffei Unter den Ursachen, die Goethe für W.s »innere
die Reisenden eher enttäuschte, weil viele als antik Unruhe« genannt hat, ist das »unwiderstehliche Ver-
ausgegebene Stücke modern waren. Seine Bewun- langen nach abwesenden Freunden« (Goethe 1805,
derung erregte hier die Sammlung von Kaiserbüsten 438) vielleicht die entscheidende gewesen. Es hatte W.
und andere schöne Statuen im Palazzo Bevilacqua. dazu verführt, sich von der Arbeit am dritten Band der
Außerdem stattete Cavaceppi dem Maler Cignaroli ei- Monumenti antichi inediti und an der neuen französi-
nen Besuch ab, um, vermutlich in Begleitung W. s., schen Übersetzung der Geschichte der Kunst zu entfer-
dessen Ölskizzen anzusehen. nen bzw. zu glauben, dass er beide Ziele miteinander
Während der Alpendurchquerung empfand W. die verbinden könne, was sich aber in der Realität als illu-
hohen Berge als bedrohlich, in Deutschland störten sorisch erwies, zumal er in Rom die besseren Arbeits-
ihn die spitzen Dächer der Häuser. Noch vor der An- bedingungen gehabt hätte. Die Reise war außerdem
kunft in Augsburg, wo sie jenen Kanoniker Bassi be- schlecht geplant und wurde übereilt angetreten. W.
suchten, den W. 1755 verfehlt hatte (Br. III, 394), er- glaubte anscheinend, diesen ›Konstruktionsfehler‹
klärte W., er wolle die Reise abbrechen. Während der durch seine Rückkehr nach Rom reparieren zu kön-
Weiterreise nach München wurde er immer melan- nen, und war davon überzeugt, »daß für mich außer
cholischer und insistierte auf der Rückkehr nach Rom. Rom kein wahres Vergnügen zu hoffen ist« (Br. III,
Cavaceppi berichtet, wie W. in München mit allen ihm 389). Die Aussicht, in Berlin nur für kurze Zeit den
gebührenden Ehren empfangen wurde und einen anti- »Genuß der Ruhe« zu finden und auf der Rückreise »in
ken Cameo zum Geschenk erhielt. In Regensburg an- hundert Städten anhalten und eben so oft von neuen
gekommen, schrieb W. einen Brief an Alessandro Al- zu leben anfangen« zu müssen, lastete schwer auf ihm,
bani, in dem er seine Rückkehr nach Rom ankündigte, wie er aus Wien an Muzell-Stosch schrieb (Br. III, 389).
und einen weiteren an Mogalli, in dem er ihn bat, seine Auf einen weiteren möglichen Grund für den Abbruch
Wohnung herzurichten. Cavaceppi konnte ihn nur der Reise deutet ein Brief von Francke hin (Br. IV, 322).
noch dazu bewegen, ihn bis Wien zu begleiten, wo sie Hier berichtet W., dass Giovanni Casanova schon in
nach fünfwöchiger Reise am 12. Mai 1768 eintrafen. Dresden auf W. gewartet habe, um ihn wegen der öf-
W. wurde hier vom Fürsten Kaunitz empfangen, fentlichen Verleumdung seiner Person zu verklagen.
der ebenfalls vergeblich versuchte, W. von seinem Ent- Möglicherweise wusste W. durch Francke von dieser
schluss abzubringen. Er wurde in Schönbrunn durch Gefahr, was ihm den Gedanken an einen Aufenthalt in
Joseph von Sperges der Kaiserin Maria Theresia und Dresden verleidet haben dürfte (Kanz 2013, 214–215).
ihrer Familie vorgestellt, sah also hier wohl auch Kai-
ser Joseph II. und besuchte alle berühmten Kabinette
Tod in Triest
und Sammlungen, darunter die des Fürsten Liechten-
stein, sowie die Hofbibliothek (Br. IV, 137). Als er an Als W. am 1. Juni 1768 in Triest eintraf – Maria There-
einem Fieber erkrankte, beschloss Cavaceppi abzurei- sia hatte ihn nicht nur mit einer goldenen und zwei
sen und ließ ihn in der Fürsorge des Bankiers Joachim silbernen Münzen beschenkt (Pagnini/Stoll 1965,
5 Winckelmann in Italien 45

Abb. 5.15 Triest, Piazza


Grande mit Albergo Gran-
de auf der rechten Seite
im Mittelgrund, Zustand
im 18. Jahrhundert.

149), sondern ihm auch einen Reisewagen zur Ver- mit dem Messer fünf Stiche versetzte (Pagnini/Stoll
fügung gestellt (Br. IV, 280) –, hatte er sich gesundheit- 1965, 117), von denen sich nach der Obduktion vier
lich erholt und war im Hinblick auf seine baldige Reise als tödlich erwiesen (Pagnini/Stoll 1965, 134). Wäh-
nach Rom anscheinend guter Dinge. Er quartierte sich rend Arcangeli flüchtete, schleppte sich W. ins Trep-
in der Osteria Grande auf der Piazza Grande (heute S. penhaus und rief um Hilfe. Vier Stunden später, nach-
Pietro) ein und bezog das Zimmer Nr. 10 mit Blick auf dem er über den Hergang ausgesagt, sein Testament
den Platz (Abb. 5.15). diktiert und die Sterbesakramente empfangen hatte,
Sein Zimmernachbar war ein aus der Nähe von verschied er gegen 4 Uhr nachmittags. Nach der Ob-
Pistoia stammender Koch namens Francesco Arcan- duktion wurde er am nächsten Tag vom Mesner der
geli, zu dem er Vertrauen fasste, so dass er viele Stun- Kirche San Sebastiano in einem Gemeinschaftsgrab
den der kommenden Woche in seiner Gesellschaft bestattet. Die sofort einsetzende Verfolgung des flüch-
verbrachte und mit ihm häufig in dessen Zimmer tigen Mörders führte zu dessen Ergreifung und hatte
speiste. Er besuchte mit ihm das Kaffeehaus des Gas- einen aufwendig geführten Strafprozess zur Folge, der
paro Griotti aus Celerina in Graubünden (Pagnini/ zu den bestdokumentierten Kriminalfällen des 18. Jh.
Stoll 1965, 72) und lud ihn ein, nach Rom zu kommen, gehört (Rossetti 1823, Pagnini 1964, Pagnini/Stoll
wo er ihm den Palazzo Albani zeigen wollte. Arcangeli 1965). Der vorbestrafte Arcangeli versuchte zunächst,
sagte während des Prozesses vor Gericht aus, W. habe die Schuld auf W. zu schieben, der ihn durch ihren
ihm die Münzen aus Wien gezeigt und habe mit ihm vertrauten Umgang und durch die Münzen selbst zu
Freundschaft schließen wollen. So habe er »acht Tage dieser Tat verführt hätte. Später sah er seine Schuld
und mehr den Diener für ihn gemacht« (Pagnini/Stoll ein, gab aber an, W. wäre in geheimer politischer Mis-
1965, 128). Am Morgen des 8. Juni 1768, eines Mitt- sion unterwegs gewesen, was nach den bisher bekann-
wochs, gegen 10 Uhr morgens betrat Arcangeli W.s ten Akten ausgeschlossen werden kann (Pagnini/Stoll
Zimmer und forderte ihn auf, die Münzen der Kaise- 1965, 168). Arcangeli wurde am 20. Juli 1768 auf der
rin »bei der Tafel« zu zeigen, was W. ablehnte: Wäh- Piazza Grande, genau gegenüber dem Ort der Tat und
rend sich W. nun mit dem Rücken zu ihm an den Tisch am gleichen Wochentag und zur Zeit der Tat, lebendig
setzte, warf ihm Arcangeli von hinten eine zuvor von aufs Rad geflochten.
ihm geknüpfte Schlinge um den Hals. W. sprang auf W. hatte sich seinen Abschied von der Welt, über
und wehrte sich vehement, während Arcangeli nun den er in den Monaten vor seiner Abreise nach
sein Messer zog. Während des Handgemenges, in dem Deutschland öfters nachdachte, friedlicher vorgestellt.
W. zunächst die Oberhand hatte, rutschte er aus und An Heyne schrieb er am 23. Januar 1768: »denn ich ge-
fiel rücklings zu Boden, woraufhin ihm der Mörder he, wie ein leichter Fußgänger, mit fröhlichem Gesich-
46 I Biographie

te aus der Welt, und arm, wie ich gekommen bin.« (Br. Forschung
III, 366). Er war bei seinem Hingang weder fröhlich Allroggen-Bedel, Agnes: Die Antikensammlung in der Villa
noch arm. Seine Hinterlassenschaft wurde in dem in Albani zur Zeit Winckelmanns. In: Beck, Herbert/Bol, Pe-
ter C. (Hg.): Forschungen zur Villa Albani. Antike Kunst
Triest aufgenommenen Inventar auf 17.877,4 Lire ge- und die Epoche der Aufklärung. Berlin 1982, 301–380.
schätzt (Pagnini/Stoll 1965, 147–151). Zu seinem Uni- Assunto, Rosario: Winckelmann a Villa Albani: il giardino,
versalerben hatte W. Alessandro Albani eingesetzt. Al- luogo del rimpatrio. In: Debenedetti, E. (Hg.): Commit-
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beitsmaterial, wurden zunächst nach Wien, und von
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dort aus nach einem längeren Briefwechsel zwischen Colaresu, Melissa/Hills, Helen (Hg.): New Approaches to
Kaunitz und Albani (Br. IV, 311–312) nach Rom über- Naples c. 1500–c. 1800. Farnham u. a. 2013, 149–174.
stellt. Reiffenstein berichtet, dass Albani darüber klag- Borroni-Salvadori, Fabia: Francesco Maria Gaburri e gli ar-
te, dass er nun niemanden mehr hatte, mit dem er die tisti contemporanei. In: Annali della Scuola superiore
Freude an seinen antiken Schätzen teilen konnte (Br. Normale di Pisa. Cl. Lettere e Filosofia. Ser. 3, 4/4 (1974),
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Roettgen, Steffi: Zum Antikenbesitz des Anton Raphael
Steffi Roettgen
II Systematische Aspekte
6 Philologie bei Winckelmann scher und lateinischer Autoren waren zwar seit dem
16. Jh. in großer Zahl erschienen, allerdings außerhalb
W., der nie einen griechischen oder lateinischen Au- Deutschlands. Die alten Sprachen führten an Schulen
tor ediert und keine rein philologischen Schriften und Universitäten eine nachrangige Existenz, europa-
(sieht man von dem kleinen Aufsatz Über Xenophon weit anerkannte Philologen suchte man in Deutsch-
ab) hinterlassen hat, wird man nicht ohne weiteres als land eher vergebens (Pfeiffer 1982, 127–203; Muhlack
Philologen im klassischen Sinn bezeichnen wollen. 1985, 105–106).
Dennoch scheint es lohnenswert, in diesem Kunst- Im Rahmen der Schulausbildung, die auch W. zu-
historiker und Archäologen dem Philologen nach- nächst auf der Stendaler Lateinschule, später auf dem
zuspüren. Köllnischen Gymnasium in Berlin genoss, wurde die
Obwohl bereits Joseph Justus Scaliger (1540–1609) lateinische Sprache vor allem mit dem Ziel aktiver
zu der Erkenntnis gekommen war, dass der Alter- Sprachbeherrschung durch Nachahmung der Klassi-
tumsgelehrte sowohl über philologisches als auch ker unterrichtet. Im Zentrum des Spracherwerbs
über historisches Wissen verfügen muss (Pfeiffer stand daher die Aneignung eines sicheren grammati-
1982, 147–151), bildete sich die Idee einer Altertums- schen Wissens und eines breiten Repertoires meist
wissenschaft, die Einzeldisziplinen wie Linguistik, moralisierender Sprüche und Phrasen. Das Griechi-
Textkritik, Hermeneutik, Alte Geschichte, Geogra- sche, in starkem Maße rückläufig, fand seine Recht-
phie, Archäologie, Numismatik, Epigraphik umfasst, fertigung vorrangig als Hilfsdisziplin zur Ausbildung
nicht vor der zweiten Hälfte des 18. Jh. Erst zur Zeit zukünftiger Theologen. Literarhistorische Betrach-
der neuhumanistischen Philologen Christian Gottlob tungen, gar Textinterpretationen, spielten keine Rolle
Heyne (1729–1812) und Friedrich August Wolf (Götze 1865, 22–34; Abel 1979, 193–199; Paulsen
(1759–1824) festigte sich das Bewusstsein von der Al- 1919, 599–614; Justi 1983, I, 32–33, 42–43; Décultot
tertumswissenschaft als Rahmen für die Erforschung 2005, 82–85).
aller Aspekte der Antike; der Philologie der alten Der Schüler W. hatte das Glück, dass Lehrer sein In-
Sprachen fiel nun nicht mehr nur der Rang einer teresse und Potenzial auf dem Gebiet der Alten Spra-
Hilfsdisziplin der Theologie und Jurisprudenz zu, chen erkannten und – wenn auch in bescheidenem
sondern der einer eigenständigen Wissenschaft. Nicht Rahmen – förderten. So stellte ihm Esaias Wilhelm
zuletzt Gelehrten wie ihnen ist es zu verdanken, dass Tappert (1666–1738), Rektor der Stendaler Latein-
die klassischen Sprachen, vor allem das Griechische, schule, seine Privatbibliothek zur Verfügung und
in Deutschland am Ende des 18. Jh. Konjunktur hat- übertrug ihm die Aufsicht über die kleine Schulbiblio-
ten (Hammerstein/Herrmann 2005, 381–382; Paulsen thek. Hier kam W. erstmals mit einer Büchersamm-
1921, 210–229; Pfeiffer 1982, 214–233; Wülfing 1985, lung in Berührung. Um insbesondere seine Grie-
15; Goethe 1969, 240; Bursian 1883, 521, 548). Wel- chischkenntnisse zu vertiefen, ging W. mit 17 Jahren
chen Anteil W. an dieser Entwicklung der Philologie nach Berlin-Cölln, wo er für ein Jahr das Gymnasium
zu einer Kerndisziplin der Altertumskunde hat, wird besuchte. Immerhin hatte das Cöllnische Gymnasium
zu zeigen sein. in seinem Konrektor Christian Tobias Damm einen
Lehrer mit großem Interesse an der griechischen
Sprache und Literatur (Paulsen 1919, 614–615; Justi
Winckelmanns Schulausbildung, Studienzeit
1983, I, 42–47; Kochs 2005, 15–18).
und Konrektorat in Seehausen – Eckpunkte
1738 schrieb sich W. in Halle als Student der Theo-
seines philologischen Wissenserwerbs und
logie ein, verfolgte allerdings nicht das Ziel, Theologe
Interesses
zu werden. Sein Urteil über das Studienangebot in den
Betrachtet man die Klassische Philologie im Europa klassischen Sprachen fällt enttäuschend aus; auch die
des 18. Jh., so ist festzustellen, dass Zentren vor allem juristischen Lehrveranstaltungen, die W. besuchte, be-
in Frankreich (z. B. Bernard de Montfaucon, 1655– friedigten ihn nicht (z. B. Br. I, 79; über den desolaten
1741), England (v. a. Richard Bentley, 1662–1742) und Zustand der Altphilologie an der Universität Halle s. a.
Holland (z. B. Tiberius Hemsterhuys, 1685–1766; Lo- Décultot 2005, 83–84). Dennoch – Johann Heinrich
dewijk Caspar Valckenaer, 1715–1785; David Ruhn- Schulze, Professor der Arzneigelehrtheit und Altertü-
ken 1723–1798) zu finden sind. In Deutschland war mer, gab ihm Impulse für Studien im Kontext von Me-
die Philologie bis auf wenige Gelehrte zu einem Still- dizin, Physiognomik und griechischer Kunst. W.s me-
stand gekommen. Bedeutende Textausgaben griechi- dizinische Studien, deren Anfänge in Halle liegen und

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_6, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
6 Philologie bei Winckelmann 51

die er später in Jena bei dem berühmten Iatromathe- Pausanias u. a. (Nachlass Paris, Bd. 63, fol. 66–115).
matiker Georg Erhard Hamberger fortführte, waren Seine Seehausener Tätigkeit als Lehrer, in deren
auch für die späteren Kunststudien von Belang. Rahmen er auch Mathematik unterrichten musste,
Grundlegend war neben der Lektüre moderner Fach- veranlasste ihn, sich mathematisch-philosophischen
literatur die Auseinandersetzung mit antiken griechi- Studien zu widmen, beispielsweise der Elemente
schen Autoren, allen voran Hippokrates, Galen und (Στοιχεῖα) des Euklid in griechisch-lateinischer Aus-
Dioskurides (zu W.s Medizinstudien siehe Wiesner gabe (Br. I, 48–51).
1953; Décultot 2011; Kochs 2005, 19–21). Das Exzerpieren war eine Kulturtechnik mit langer
Als er die Universitäten verließ, war W. bereits ein Tradition. W. pflegte seit seiner Jugend diese in der
Kenner der altgriechischen Literatur. Über den an- Gelehrtenwelt übliche Methode, aus Büchern Aus-
gehenden Konrektor der Lateinschule in Seehausen züge anzufertigen. Bis zu seinem Tode entstand ein
bemerkt sein Vorgänger Friedrich Eberhard Boysen: Korpus im Umfang von etwa 7500 Seiten, das im
»Ich nahm mich seiner, nachdem er mich durch be- Nachlass erhalten ist und dessen Großteil in der Pari-
wunderungswürdige Proben von seinen großen Ta- ser Bibliothèque Nationale aufbewahrt wird (Décul-
lenten, und von der Stärke in der griechischen Littera- tot 2002, 2005, 2013). W. schrieb aus gelesenen Bü-
tur überzeugt hatte, aus allen Kräften an.« (Br. IV, chern oft sogar dann lange Passagen ab, wenn er die
175). Weiter bescheinigt er W., »daß er den Herodot Drucke selbst besaß, wie z. B. Diogenes Laertios’ Phi-
nicht nur übersezt, sondern diesen Schriftsteller auch, losophiegeschichte (Kochs 2005, 24–25). Die Manu-
als ob ein Genius ihn inspirirt hätte, erklärt.« (Br. IV, skripte, in sorgfältiger Schrift gehalten, dokumentie-
175–176). Um griechische Texte zu lesen, war W. auf ren den Wert, den W. ihnen beimaß. Eine 17seitige
Bibliotheken angewiesen: Schulbibliotheken, Bücher- Abschrift der anakreontischen Verse etwa weist ein
sammlungen seiner Lehrer und Gönner, städtische sauberes, gleichmäßiges und doch eigenwilliges
und andere öffentliche Bibliotheken, Universitäts- Schriftbild auf (Nachlass Hamburg, 145a-153; Kochs
bibliotheken (Kochs 2005, 15, 18–21, 31–32). So 2005, 29–30). So gab W. antiker Lyik einen Rahmen,
schreibt Boysen an Johann Wilhelm Ludwig Gleim: der selbst ästhetischen Wert beanspruchen kann, und
»Er hat mit uns in Halle studirt, und Sie müssen ihn brachte damit Inhalt und äußere Form in Überein-
auf den öffentlichen Bibliotheken oft gesehen haben. stimmung. Dem Betrachter dieser Blätter offenbart
Weil er sehr dürftig ist, konnte er sich keine Bücher sich W. als Philologe im ursprünglichen Sinn, als
anschaffen. Daher besuchte er den Büchersaal auf Liebhaber des Wortes, der seine Neigung zur Poesie
dem Waisenhause, bey der Universität und Marktkir- zum Ausdruck bringt.
che, und las daselbst die Schriften der alten Griechen.«
(Br. IV, 175).
Nöthnitz und Dresden
In Deutschland waren, wie schon bemerkt, seit
Anfang des 17. Jh. nur wenige nennenswerte antike Als W. 1748 in den Dienst des Grafen Heinrich von
Textausgaben erschienen; im Ausland erschienene Bünau trat und seine Mitarbeit an dessen Kayser-
Editionen waren nicht allgemein verfügbar bzw. sehr und Reichs-Historie begann, sah er sich mit der Auf-
teuer (Justi 1983, I, 161–162; Décultot 2005, 14–16, gabe kritischen Studiums der Originalquellen kon-
82–85; Kochs 2005, 13, 25–26). Der Leser war zum frontiert:
großen Teil auf Anthologien angewiesen. W. arbeitete
unter anderem mit den Veterum Poetarum Graeco- »Es müßen alle Nachrichten aller Scribenten sowohl
rum Poemata, Aut Poematum Apospasmatia Selecta, alter als neuer gegen einander gehalten und geprüfet
u. a. Berlin 1674 des Johannes Vorstius (Br. I, 54). W.s werden. Die Verschiedenheit aber und Unrichtigkeit ist
Lektüre, die dem Primat der Verfügbarkeit von Tex- so groß die man allenthalben antrifft, daß man oft
ten unterlag, gestaltete sich zunächst wenig zielge- nicht weiß, wie man es ins Geschick drehen soll. Man
richtet. Die inhaltliche Breite bezeugen drei Exzerpt- muß sich aber wundern, wie fast kein einziger, von de-
hefte, wahrscheinlich in Seehausen entstanden, in de- nen, die sich post renata studia, an die deutsche Ge-
nen sich W. Auszüge aus Werken griechischer Auto- schichte gewaget, richtig ist, wenn man jeden gegen
ren notiert – aus Xenophon, Longinos, Demetrios authentique Nachrichten hält.« (Br. I, 94)
von Phaleron, Dionysios von Halikarnass, Diodor
von Sizilien, Athenaios, Epiktet, Plutarch, Sextus Em- Dass belastbare Erkenntnisse durch das Studium der
piricus, Platon, Arrian, Diogenes Laertios, Älian und Primärquellen zu gewinnen und Sekundärquellen kri-
52 II Systematische Aspekte

tisch zu beurteilen sind, ist ein philologisch-historio- Die Übersiedlung nach Rom gab ihm hingegen Gele-
graphischer Ansatz, der auch bei der Beschreibung genheit, antike Kunstobjekte unmittelbar in Augen-
und Beurteilung von Statuen, wie zu zeigen sein wird, schein zu nehmen. Sein aus Textquellen gesammelter
Anwendung findet. Für die Lektüre von Originaltex- Wissensschatz geht nun in Betrachtung und Deu-
ten standen W. sowohl die umfangreiche Bibliothek tung antiker Kunst ein. Von jetzt an stellt sich W.
des Grafen als auch die Bibliotheken in Dresden zur gern als Seher dar. Seine Kritik trifft die ›Stubenge-
Verfügung. Er gewann Zugang zu einer bis dahin un- lehrten‹ (z. B. Br. III, 257), deren Urteil sich auf die
gekannten Bücherfülle, auch an griechischen und la- Lektüre und Exegese von Texten und auf den Hand-
teinischen Autoren (Kochs 2005, 37–40). Dies belegen schriftenvergleich stütze. So schreibt er in der Vor-
Briefe, Schriften, vor allem aber eine riesige Menge an rede seiner Geschichte der Kunst des Alterthums: »Es
Exzerpten. W. befasst sich erneut mit medizinischer sind einige Schriften unter dem Namen einer Ge-
Literatur, mit den Tragikern Euripides und Sophokles, schichte der Kunst an das Licht getreten; aber die
mit Aristophanes, aber auch mit Theokrit (Kochs Kunst hat einen geringen Antheil an denselben: denn
2005, 41–49). Für seine erste eigene Abhandlung ihre Verfasser haben sich mit derselben nicht genug
nimmt er die Historiker Xenophon, Herodot, Thuky- bekannt gemacht, und konnten also nichts geben, als
dides und Diodor von Sizilien, aber auch Caesar er- was sie aus Büchern, oder vom Sagenhören hatten«
neut zur Hand. Der Fragment gebliebene Aufsatz (GK2, SN IV,1, XVII). Wie Markus Käfer nachweist,
Über Xenophon (KS 13–16) ist der eines Philologen. verfolgt W. das Ziel, eine Geschichte der Kunst im
W. vergleicht die Eingangspassagen der Anabasis mit Sinne des griechischen Wortes ἱστορία zu verfassen,
Herodots Historien und Diodors Bibliothek unter sti- nämlich als »die auf die Vergangenheit bezogene Tä-
listischen, kompositorischen und rhetorischen Ge- tigkeit des Erforschens, des Erkundens durch eigenes
sichtspunkten und berücksichtigt weitere Historio- Betrachten und Anschauen und Vergleichen.« (GK1,
graphen wie Caesar und Thukydides sowie rhetori- SN IV,1, XVI; Käfer 1986, 37; Hervorhebung d.
sche Analysen von Dionysios von Halikarnass Verf.). Gleichwohl gibt er das Lesen und auch das
(Epistula ad Cn. Pompeium Geminum), Aristoteles Exzerpieren nicht auf. Zwar halten die römischen Bi-
(Ars rhetorica) und Cicero (De oratore). So erscheint bliotheken nach W.s erstem Urteil dem Vergleich mit
W. als Gelehrter, der die Quellen, die ihm zugänglich der Bünauschen Bibliothek in Nöthnitz nicht stand
sind, nutzt, um Informationen über Antikes zu erhal- (Br. I, 187, 196), zunehmend erhält W. jedoch Zu-
ten. Er liest Schriften griechischer und römischer Au- gang zu bedeutenden Büchersammlungen. Bereits
toren, breit gefächert, aber doch auch hier und da wenige Monate nach seiner Ankunft in Rom plant er
schwerpunktmäßig, oft versehen mit Scholien und eigene Publikationen. Mit dem Maler Anton Raphael
Kommentaren, und studiert Sammelwerke wie die Mengs möchte er eine Schrift von dem Geschmack
vierzehnbändige Bibliotheca Graeca des Johann Albert der griechischen Künstler veröffentlichen. Für dieses
Fabricius, wissenschaftliche Zeitschriften wie die Acta Vorhaben liest er 1756/57 erneut Schriften griechi-
eruditorum, und nicht zuletzt Wörterbücher und En- scher Autoren, insbesondere Pausanias, Strabon und
zyklopädien wie Pierre Bayles Dictionnaire historique Lukian (Br. I, 197, 201, 208, 212; Kochs 2005, 76–78).
et critique (Décultot 2005, 35–37). Aus diesen Quellen Zahlreiche Exzerpte bezeugen diese Lektüre. Ein
fertigt W. Exzerpte, handgeschriebene Register und Heft mit dem Titel Collectanea ad Historiam Artis,
Notizen an. Beispielhaft für ein derartiges selbst- eingeteilt in Rubriken wie De Architectura, De Sepul-
geschaffenes Nachschlagewerk ist ein alphabetischer cris Graecorum u. a. (Nachlass Paris, Bd. 57, fol. 198–
Index der Anfänge griechischer Epigramme aus der 233. In: SN IV,5, 99–179; s. a. Nachlass Paris, Bd. 59,
Anthologia Graeca des Henri Étienne (Nachlass Paris, fol. 214–229) enthält Auszüge vor allem der genann-
Bd. 60, fol. 202–222). ten Autoren. Darüber hinaus sind Homer, Diodor
von Sizilien, Theokrit, Kallimachos, Euripides, Me-
nander u. a. zu nennen. Umfangreiche Notizen ent-
Rom
stehen aber auch aus Franciscus Junius’ Catalogus
Wenn man von Besuchen in der Dresdner Gemälde- Architectorum, Mechanicorum, Pictorum Aliorumque
galerie absieht, wie sie in der Fragment gebliebenen Artificum Veterum, den sich W. 1756 kaufte (Nachlass
Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde der Florenz, 43–59). Ergebnis der Sammeltätigkeit sind
Dreßdner Gallerie dokumentiert sind, so eignete sich zunächst kleinere Exkurse, wie Von den Vergehungen
W. in Deutschland überwiegend Bücherwissen an. der Scribenten über die Ergäntzungen, Von der Res-
6 Philologie bei Winckelmann 53

tauration der Antiquen und Sachen welche von neuen mich im Stand zu setzen, viele noch ungedruckte Re-
zu untersuchen sind zur Abhandlung der Restaur[ati- den des Libanius aus der Vaticana und Barberina mit
on] der Antiquen (SN I), die schließlich in die Be- meiner Übersetzung ans Licht zu stellen.« (Br. I, 275
schreibungen der Statuen im Belvedere münden. Im vom 9.3.1757). Noch im Februar 1758 schreibt W.:
Unterschied zu den Exzerpten, die W. in Deutsch- »Es ist nöthig, daß ich mich in der Griechischen Litte-
land anfertigte, behandeln diese Notizen und Ab- ratur mit etwas zeige; ich finde aber noch nichts was
schriften zielorientiert antiquarische und kunsthis- mir gefällt. Ich lese daher die alten Griechen von neu-
torische Themen. W. wählt nicht nur zweckgerichtet en in dieser Absicht, und mache mir Register von al-
Literatur zu einem bestimmten Sachverhalt aus, son- len Worten, wo keine sind; als über die drey Tragi-
dern er sortiert, systematisiert und organisiert die schen Dichter. Den Aeschylus habe ich auf diese Wei-
gefundenen Erkenntnisse, offenbar in der Absicht, se geendiget.« (Br. I, 325). Im Pariser Nachlass findet
diese Vorarbeiten zu eigener schriftstellerischer Pro- sich ein Heft mit dem Titel Aeschylus, das ein Wort-
duktion zu nutzen. register enthält, teilweise mit lateinischer Überset-
zung oder Scholiastenbemerkungen (Nachlass Paris,
Bd. 59, fol. 332–387; Abb. 6.1). Allerdings setzt W.
Philologische Publikationspläne
keines der philologischen Projekte in die Tat um.
Um in die römische Gelehrtenwelt Einlass zu finden Friedrich August Wolf urteilt 1805: »Allein, dann
und sein Auskommen in Rom dauerhaft zu sichern, mißkannte er offenbar seinen Beruf, wenn er von Zeit
will sich W. als Spezialist für griechische Literatur ei- zu Zeit den Vorsatz fasste, an die philologisch-kri-
nen Namen machen: »Es ist nöthig, daß ich mich in tische Bearbeitung eines Griechen heranzugehen«
der Griechischen Gelehrsamkeit hier zeige, wenn ich (Goethe 1969, 243).
sollte genöthiget werden, meine Hütte hier auf-
zuschlagen.« (Br. I, 314 vom 20.11.1757). Die Fach-
Die Ambivalenz in der Hermeneutik von Text und
kenntnis der römischen Gelehrten auf dem Gebiet
Kunstwerk
der griechischen Literatur schätzt er gering: »In der
Griechischen Litteratur ist lauter Finsterniß in Rom.« W.s wissenschaftliche Arbeit ist charakterisiert durch
(Br. I, 237 vom 7.7.1756). Vor diesem Hintergrund die Dualität von Philologie und Archäologie und folgt
scheint er eine Chance zur eigenen Profilierung zu su- darin den Spuren der antiquarischen Gelehrsamkeit.
chen. Sein Vorhaben ist philologischer Natur – die Zentraler Punkt ist das Zusammenführen beider Be-
Publikation bisher unedierter griechischer Kodizes. trachtungsweisen. Die Autopsie von Statuen, Reliefs
Das Bemühen, Zugang zu den unedierten Hand- und Gemmen wird zur Voraussetzung für Emendati-
schriften der Vatikanischen Bibliothek zu erhalten, on und Erläuterung antiker Texte: »Avec le secours de
scheitert allerdings, denn man zeigt ihm nur die be- tant de Monumens j’ai été en état d’éclaircir des passa-
reits edierten Manuskripte: »Meine Absicht war, auch ges des anciens Auteurs qui n’ont pas été entendu, et
etwas von Griechischen Anecdoten in der Vaticana zu dans plusieurs autres passages j’ai corrigé le texte.« (Br.
erwischen; aber es ist kein Mittel dahin zu gelangen. II, 347 vom 30.9.1763; Übers.: Mit Hilfe vieler Denk-
Manuscripte von herausgegebenen Werken sind zu mäler war ich in der Lage, Stellen der alten Autoren zu
erhalten; aber jene nicht. Einige Griechische Inschrif- erklären, die nicht verstanden wurden, und an mehre-
ten habe ich verbessert, und das ist alles, was ich in ren anderen Stellen habe ich den Text korrigiert).
dieser Art habe thun können.« (Br. I, 232–233 vom Ähnliche Aussagen zu seiner Methodik und seiner
7.7.1756). Auch plant W., gemeinsam mit dem Präla- Zielsetzung findet man an weiteren Stellen (Käfer
ten Michelangelo Giacomelli die unedierten Reden 1986, 45). Zur Veranschaulichung ein Beispiel aus den
des Libanios herauszugeben: »Wir haben beyde Lust, Anmerkungen über die Baukunst der alten Tempel zu
des Libanii noch nicht herausgegebene Griechische Girgenti in Sicilien:
Reden aus zween Manuscripten der Vaticanischen
und Barberinischen Bibliothek ans Licht zu stellen« »Da nun der Tempel des Jupiters [...] nicht geendigt
(Br. I, 263 vom 29.1.1757). Im Zuge der Material- wurde; so geschahe es mit der Zeit, daß man ganz na-
sammlung für die geplante Geschichte der Kunst son- he an dem Tempel hinan Häuser bauete, und endlich
diert W. die Texte zugleich nach Erträgen für seine wurde der Tempel ganz von andern Gebäuden umge-
philologische Arbeit: »Bey Lesung der Alten aber ben: dieses ist der Verstand der Worte des Diodorus,
merke ich zugleich an, was die Sprache angehet, um die, wie es mir scheint, von niemanden verstanden
54 II Systematische Aspekte

Abb. 6.1 Notizen zu


Aischylos, Sieben gegen
Theben (Nachlass Paris,
Bd. 59 / fol. 374).

sind. Τῶν ἄλλων ἢ μέχρι τοίχων τοῦς νεὼς ὀικοδομούντων, ßeling suchet beyde Wörter zu behalten, und meinet,
ἢ κυκλώσι τοῦς ὀὶκους περιλαμβανόντων. Die lateinische man müsse κυκλῳ κίοσι, oder κυκλώσι κιόνων lesen. Ich
Uebersetzung des ersten Comma ist: Cum alii ad pa- bleibe hier bey dem gedruckten Text [...].« (Baukunst
rietes usque templa educant. Man lese an statt τοὺς Girgenti, SN III,11)
νεὼς, τοὺ νὲω, und übersetze es: Cum alii ad parietes
usque templi aedificiis fabricandis accederent. Im Umgekehrt schließt W. eine Erhellung des Objekts
zweyten Comma lesen Henr. Stephanus und Rhodo- durch den Text nicht aus; insbesondere dichte-
mann, an statt Κυκλώσι in circuitu, κίοσι, columnis. We- risch-mythologische Überlieferungen sind wichtige
6 Philologie bei Winckelmann 55

Grundlage zur ikonographischen Analyse von nen geübten Künstler unter der Aufsicht eines fach-
Kunst, so in der Description des pierres gravées: »Les kundigen Antiquars erfolgen (SN I,23). W.s Kritik an
preuves que nous avons tirés des monuments anti- zeitgenössischen Gelehrten, die sich über antike
ques sont souténues par des citations d’Auteurs fort Kunst und ihre Historie äußern, bezieht sich auf
exactes, & comme il sautera aux yeux, que toutes ces mehrere Punkte: Zum einen beklagt er, dass Autoren
citations sont puisées dans les premiéres sources, ces wie Bernard de Montfaucon (1655–1741) ohne
citations mêmes pourront être de quelque utilité.« Autopsie antiker Monumente kunsthistorische Aus-
(SN VII,1, 8; Übers.: Die Beweise, die wir antiken sagen treffen. Anhand von Kupferstichen und Zeich-
Monumenten entnommen haben, stützen sich auf nungen könne man jedoch nicht sicher zwischen
sehr genaue Zitate von Autoren, und da es offen- Original und Ergänzungen unterscheiden; die man-
sichtlich ist, dass alle diese Zitate Primärquellen ent- gelhafte Qualität der Reproduktionen und die zwei-
nommen sind, können diese Zitate selbst von gewis- dimensionale Abbildung eines dreidimensionalen
sem Nutzen sein). W. wendet also eine text-kunst- Objektes führten zu Fehleinschätzungen (Vorrede zu
exegetische Methode an. GK1, SN IV,1, XXII, XXIV, XXVI; GK2, SN IV,1, 69).
Zum anderen distanziert sich W. von Philologen wie
Jacob Philippe d’Orville (1696–1751), die ihr Augen-
Analyse von Statuen mit philologischem Blick
merk vorrangig auf detaillierte Textarbeit legten und
Noch im 18. Jh. pflegte man antike Statuen zu restau- die ihnen zugänglichen Kunstobjekte außer Acht lie-
rieren, indem man fehlende Teile durch Fundstücke ßen. Abwertend schreibt er:
oder Neuanfertigungen ergänzte. Wissenschaftlich
problematisch wurde diese Methode vor allem da- »so bin ich umso vielmehr zufrieden, daß ich die weni-
durch, dass die Ergänzungen oftmals nicht mehr als ge Zeit meines Lebens nicht verlohren in alten abge-
solche wahrgenommen werden konnten und zu griffenen Handschriften, wozu ich alle erwünschte Ge-
Fehldeutungen führten. Auf zahlreiche Fehlinterpre- legenheit gehabt hätte. Ich habe mir allezeit, diesen
tationen namhafter Kunstgelehrter verweisend, wen- Kützel zu unterdrücken, den berühmten Orville vor-
det sich W. gegen die Methodik der Ergänzung: »Die gestellet, welcher ein paar Jahre in Rom angewendet,
mehresten Vergehungen der Gelehrten in Sachen Al- alle Morgen nach der Vaticanischen Bibliothec zu ge-
terthümer rühren aus Unachtsamkeit der Ergäntzun- hen, um den Heidelbergischen Codex der Griechischen
gen her: denn man hat die Zusätze anstatt der ver- Anthologie theils mit dem gedruckten zu vergleichen,
stümmelten und verlohrnen Stücke von dem wahren theils diesen aus jenen zu verbessern und zu ergän-
Alten nicht zu unterscheiden verstanden.« (Vorrede zen.« (Vorrede AGK, KS 257)
zu GK1, SN IV,1, XXIV). Wie Élisabeth Décultot
(2005, 144–145) zeigt, bedient sich W. bei der Ana- Reine Textkritik ist offenbar nicht W.s Metier; in die-
lyse der Statuen und ihrer Ergänzungen philologi- sem Sinn schreibt jedenfalls Friedrich August Wolf an
scher Verfahrensweisen und plädiert dafür, den Ur- Goethe: »in historischer Kritik ist er gar nicht gewandt
bestand eines Objektes zu ergründen und von späte- und nicht gewissenhaft genug« (Goethe 1969, 20).
ren Ergänzungen zu unterscheiden (auch Käfer 1986, Doch zeigt sich, dass W. in seiner Kunstkritik, ins-
46–49). Insofern bringt er die Methode der Textkritik besondere in der Beurteilung von Statuen, philologi-
als eine solche der Kunstkritik in Anwendung. Er schen Prinzipien und Methoden folgt.
sucht nach parallelen Objekten (Heuristik), bei-
spielsweise nach Paralleldarstellungen auf Münzen
Winckelmann und Homer
oder weiteren Statuen, stellt diese vergleichend ne-
beneinander (Kollation), versucht, sie anhand stilisti- An W.s Homer-Verehrung lassen schon frühe Briefe
scher Merkmale zu analysieren und zu beurteilen keinen Zweifel. In einem Brief aus Nöthnitz liest man:
(Recensio und Examinatio) und schließlich Korrek-
turen oder Ergänzungen vorzunehmen, um nach »Ich habe mich gewundert, daß ich seit einiger Zeit mit
Möglichkeit die ursprüngliche Form wiederherzu- einer gantz andern Einsicht, sonderlich die Alten, an-
stellen (Emendatio). Als Beispiel vergleiche man die gefangen habe zu lesen. Den Homer allein habe ich
Beschreibung der Statue der sogenannten Cleopatra diesen Winter 3mahl mit aller application, die ein so
(SN IV,5, 39–41). W. lehnt also Ergänzungen nicht göttliches Werck erfordert gelesen: vor der Zeit habe
grundsätzlich ab, allerdings müssten solche durch ei- ich ihn bey nahe nicht anders geschmecket, als Leute,
56 II Systematische Aspekte

die ihn in einer prosaischen Uebersetzung gelesen. ein wichtiger Schritt zur Homer-Renaissance in der
Meine Extraits sind auf einen gantz anderen Fuß ein- zweiten Hälfte des 18. Jh. (Kunze 2002; 1999, 8–10;
gerichtet, und sehr angewachsen. Ich habe sie sehr Farina 2012).
sauber geschrieben: ich halte sie nunmehro vor einen Die essenzielle Erkenntnis W.s, dass sich »der Sinn
großen Schatz.« (Br. I, 142 vom 6.7.1754) eines Kunstwerkes [...] aus der zuvor aus der Mytholo-
gie, Philosophie und Geschichtsschreibung erschlos-
Aus Homer macht sich W. auch später immer wieder senen Sinnganzheit der antiken Welt« erschließt (Zel-
Notizen. Bemerkenswert sind im Hamburger Nach- ler 1955, 74), legt den Grund für ein wachsendes Ver-
lass befindliche Exzerpte aus der Ilias und der Odys- ständnis von Altertumswissenschaft als Einheit ko-
see (Cod. hist. art. Nr. 1,2 Bd. Nr. 6). Sie umfassen operierender Spezialdisziplinen (Wolf 1807, 5, 30–31,
312 Verse oder Versteile auf feinem Papier in hand- 124–125, 139–140). Der Philologie kommt dabei die
lichem Format. Entstanden sind sie in Seehausen. W. zentrale Aufgabe zu, ȟber die historisch-kritische
notiert Verse, deren besondere sprachlich-stilistische Aufbereitung der Dokumente eine historische An-
Formung und Rhythmik ihm auffielen, sowie präg- schauung des Altertums zu erreichen« (Muhlack
nante Wendungen und Gleichnisse (zum Ganzen 1985, 99).
siehe Kraus 1935). Das Interesse an Homer ist ein
mehrfaches: Zum einen wendet W. die text-kunst- Quellen
exegetische Methode gerade auf Homerstellen an. Es Bayle, Pierre: Historisches und critisches Wörterbuch. 4 Bde.
ist nicht zu übersehen, dass Homer unter den Auto- Leipzig 1741–1744.
Fabricius, Johann Albert: Bibliotheca Graeca, sive notitia
ren, deren Texte in Beziehung zu Kunstobjekten ge- scriptorum veterum Graecorum [...]. 14 Bde. Hamburg
setzt werden bzw. Ausgangspunkt antiquarischer 1705–1728.
Studien sind, eine Spitzenstellung einnimmt (Farina Goethe, Johann Wolfgang: Winckelmann und sein Jahrhun-
2012, 26; Kunze 2002). Die Kenntnis der home- dert in Briefen und Aufsätzen. Mit einer Einleitung und
rischen Epen führte zu vielen zutreffenden Deutun- einem erläuternden Register von Helmut Holtzhauer.
Leipzig 1969.
gen von Antiken als Darstellungen zu griechischen,
Junius, Franciscus: Catalogus Architectorum, Mechanico-
nicht römischen Mythen (Himmelmann 1971, 6). rum, Pictorum Aliorumque Artificum Veterum. Rotter-
Zum anderen zeigen schon die genannten Exzerpte dam 1694.
W.s Sensibilität für das über das Verbale hinaus- Vorstius, Johannes: Veterum Poetarum Graecorum
gehende Wirken homerischer Worte. Deutlich wird Poemata, Aut Poematium Apospasmatia Selecta. Berlin
dies beispielsweise in der Erläuterung der Gedanken 1674.
Wolf, Friedrich August: Darstellung der Altertumswissen-
von der Nachahmung: »Zwey Verse im Homer ma-
schaft. Berlin 1807.
chen den Druck, die Geschwindigkeit, die vermin-
derte Kraft im eindringen, die Langsamkeit im Forschung
durchfahren, und den gehemmten Fortgang des Abel, Walther: Lateinisch und Griechisch an Berliner Schu-
Pfeils, welchen Pandarus auf den Menelaus abschoß, len. Ein Epilog. In: Arenhövel, Willmuth/Schreiber,
sinnlicher durch den Klang als durch die Worte Christa (Hg.): Berlin und die Antike. Berlin 1979, 193–
selbst. Man glaubt den Pfeil wahrhaftig abgedruckt, 213.
Bursian, Conrad: Geschichte der classischen Philologie in
durch die Luft fahren, und in den Schild des Mene-
Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mün-
laus eindringen zu sehen.« (KS 101–102 mit Fußnote chen/Leipzig 1883.
W.s: Iliad. δ’ v. 135; Kraus 1935, 39–41; Kunze 2002, Décultot, Élisabeth: Theorie und Praxis der Nachahmung.
249–250). W.s Wahrnehmung beschränkt sich nicht Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. In:
auf die Wortbedeutung. Sein eigener Stil steht unter DVjs 76 (1/2002), 27–49.
dem Einfluss des antiken Dichters. Die Entwürfe und Décultot, Élisabeth: Untersuchungen zu Winckelmanns Ex-
zerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunst-
Fassungen der Beschreibung des Apollo im Belvedere
geschichte im 18. Jahrhundert. Ruhpolding 2005.
zeigen, wie sich W. den gleichnishaften Charakter Décultot, Élisabeth: Winckelmanns Lese- und Exzerpier-
homerischen Sprechens zu eigen machte (SN IV,5, kunst. Übernahme und Subversion einer gelehrten
3–15; Kraus 1935; Wohlleben 1990, 13–14; Zeller Praxis. In: Gemmel, Mirko/Vogt, Margrit (Hg.): Wissens-
1955). Die sprachliche Schönheit und Ausdrucks- räume. Bibliotheken in der Literatur. Berlin 2013, 137–
stärke Homers vermittelt sich dem Leser allerdings 165.
Décultot, Élisabeth: Winckelmanns Medizinstudien. Zur
nur durch die Lektüre des Originals (Abhandlung, KS Wechselwirkung von kunstgeschichtlichen und medizi-
222). Die besondere Verehrung W.s für Homer war
6 Philologie bei Winckelmann 57

nischen Studien. In: Eisenhut, Heidi/Lütteken, Anett/Zel- Wülfing, Peter: Altertumswissenschaft und Philologie. In:
le, Carsten (Hg.): Heilkunst und schöne Künste. Wechsel- Gymnasium 92 (1985), 12–29.
wirkungen von Medizin, Literatur und bildender Kunst Zeller, Hans: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im
im 18. Jahrhundert. Göttingen 2011, 108–130. Belvedere. Zürich 1955.
Diterich, Martin: Berlinische Closter- und Schul-Historie,
welche die Stiftung und Merckwürdigkeiten des Francis- Susanne Kochs
caner-Closters in Berlin, die Aufrichtung des Gymnasii in
demselben [...] in sich fasset. Berlin 1732.
Farina, Franco: Winckelmann und Homer. In: Dummer,
Jürgen (Hg.): Homer im 18. Jahrhundert. Stendal 2012,
24–31.
Götze, Ludwig: Geschichte des Gymnasiums zu Stendal
von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Stendal
1865.
Hammerstein, Notker/Herrmann, Ulrich (Hg.): Handbuch
der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2. München
2005.
Harloe, Katherine: Winckelmann and the Invention of Anti-
quity. Oxford 2013.
Himmelmann, Nikolaus: Winckelmanns Hermeneutik.
Mainz 1971.
Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 2 Bde.
Hildesheim u. a. 1983 (Nachdr. der Ausgabe Leipzig
1943).
Käfer, Markus: Winckelmanns hermeneutische Prinzipien.
Heidelberg 1986.
Kochs, Susanne: Winckelmanns Studien der antiken griechi-
schen Literatur. Ruhpolding 2005.
Kraus, Konrad: Winckelmann und Homer. Berlin 1935.
Kroll, Wilhelm: Geschichte der Klassischen Philologie. Ber-
lin/Leipzig 1919.
Kunze, Max: Der »rote Faden« Winckelmanns – Homer. In:
Wiegels, Rainer (Hg.): Antike neu entdeckt. Aspekte der
Antike-Rezeption im 18. Jahrhundert unter besonderer
Berücksichtigung der Osnabrücker Region. Möhnesee
2002, 243–251.
Kunze, Max (Hg.): Wiedergeburt griechischer Götter und
Helden – Homer in der Kunst der Goethezeit. Eine Aus-
stellung der Winckelmann-Gesellschaft im Winckel-
mann-Museum Stendal. Mainz 1999.
Muhlack, Ulrich: Philologie zwischen Humanismus und
Neuhumanismus. In: Vierhaus, Rudolf (Hg.): Wissen-
schaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985,
92–119.
Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts.
2 Bde. Berlin/Leipzig 1919, 1921.
Pfeiffer, Rudolf: Die Klassische Philologie von Petrarca bis
Mommsen. München 1982.
Schadewaldt, Wolfgang: Winckelmann und Homer. In:
Ders. (Hg.): Hellas und Hesperien. Bd. 2. Zürich/Stuttgart
1970, 37–73.
Schadewaldt, Wolfgang: Winckelmann als Exzerptor und
Selbstdarsteller. In: Ders. (Hg.): Hellas und Hesperien.
Bd. 2. Zürich/Stuttgart 1970, 74–95.
von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich: Geschichte der Phi-
lologie. Leipzig 1959.
Wiesner, Joseph: Winckelmann und Hippokrates. Zu Win-
ckelmanns naturwissenschaftlich-medizinischen Studien.
In: Gymnasium 60 (1953), 149–167.
Wohlleben, Joachim: Die Sonne Homers. Göttingen 1990.
58 II Systematische Aspekte

7 Winckelmanns Schreibweisen Das Format seiner gedruckten Werke ist maßgeb-


lich von der Praxis des Exzerpierens beeinflusst. Die
Exzerpieren und Schreiben
1755 veröffentlichten Gedancken über die Nach-
Für W. teilen Kunst und Schreiben ein gemeinsames ahmung der Griechischen Wercke, eine kleine, vierzig-
Schicksal. In den Erläuterungen der Gedanken über die seitige Schrift in Quartformat, gehören zur Gattung
Nachahmung der Griechischen Werke von 1756 erklärt des kurzen Essays und gehen auf Konfrontationskurs
er: »Allein die Kunst ist unerschöpflich, und man muß zur Gelehrtentradition. Auch die 1764 in Druck ge-
nicht alles schreiben wollen« (KS 144). Die Un- gangene Geschichte der Kunst des Alterthums nimmt
erschöpflichkeit der Kunst entspricht auch der Un- Abstand von dem Vorbild der antiquarischen Schrif-
erschöpflichkeit des Schreibens. Schon von Beginn ten des 17. und 18. Jh. In einem Quartband von 431
seiner Gelehrtenlaufbahn an stellt sich ihm dieses Seiten behandelt W. eine Thematik, für die beispiels-
Problem, das ihn bis ans Ende seines Lebens begleiten weise Bernard de Montfaucon in L ’antiquité expliquée
sollte, die Frage nach der Unvollendetheit seines lite- et représentée en figures ganze 15 Foliobände benötigt
rarischen Schaffens. Er ist nicht in der Lage, die eige- hatte. Doch bestimmt die »Ars excerpendi« auch Stil
nen Werke zu Ende zu bringen, da ihn die Unendlich- und Inhalt von W.s Werken. In den betont uneinheitli-
keit des Kunstdiskurses daran hindert. Kaum sind sie chen Gedancken über die Nachahmung wechseln sich
veröffentlichungsreif, sieht er sich gezwungen, sie zu übergangslos allgemeine Beobachtungen mit ausführ-
aktualisieren und neue Entwicklungen, Ergänzungen lichen Detailbeschreibungen, Informationen über die
und Verbesserungen einzuarbeiten. Wie bei anderen Antiken mit Betrachtungen zu den Modernen ab. Der
klassischen Autoren sind seine Werke nie vollendet, Diskurs zerfällt in Fragmente, die bisweilen auch den
sondern offene Paralipomena, die in diesem Stadium Charakter von aphoristischen Bemerkungen anneh-
bleiben oder zu wahren Texten werden können. men. Der Text gliedert sich in eine Reihe von kurzen
Hinzu kommt ein weiterer, weniger offensicht- Absätzen, ist mit Fußnoten von unterschiedlicher
licher Grund, der den unabgeschlossenen Charakter Länge versehen und beruht auf Exzerpten, die W. bis
von W.s literarischer Produktion erklärt. Er liegt in dato gesammelt hatte. Einige davon überträgt er sogar
W.s Arbeitsweise, der Élisabeth Décultot in den letz- direkt aus seinen Heften, ohne aber die jeweiligen
ten Jahren besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Quellen anzugeben. Plinius der Ältere, Giovanni Pie-
Ein Großteil von W.s Forschungstätigkeit basiert auf tro Bellori, Jean-Baptiste Dubos, Charles Perrault,
den Exzerptheften, die er während seiner gesamten Christina von Schweden, La Bruyère, Alexander Pope,
intellektuellen Biographie zusammengetragen hat. Madame Dacier sind nur einige der Autoren, aus de-
Diese Praxis geht auf eine alte Kulturtradition zu- ren Exzperten W. sein Werk zusammensetzt. Den
rück, die bis ins späte 19. Jh. nicht nur gepflegt, son- Auszügen aus dem Ouvrage de loisir ou Maximes et
dern auch zum Gegenstand einer breiten theoreti- sentences der Christina von Schweden entnimmt er
schen Debatte gemacht wurde (vgl. Décultot 2014). z. B. den berühmten Vergleich, der das Meer als Spie-
Wie so oft nimmt W. jedoch auch gegenüber diesem gel der Seele beschreibt: »Das Meer ist ein Bild großer
kompilatorischen Modell eine ambivalente Haltung Seelen: wie aufgewühlt sie auch scheinen mögen, ihre
ein, die zwischen Rückschau und zukunftsgerichteter Tiefe ist doch immer ruhig« (»La mer est à l’ image des
Erneuerung schwankt. Er erstellt die Exzerpte nach grands ames: quelque agitées qu’elles paraissent, leur
und nach während des Lesens, ohne sie freilich zu fond est toujours tranquille«; vgl. Décultot 2014, 150).
klassifizieren und vorbestimmten Kategorien zu- Bei W. heißt es: »So wie die Tiefe des Meers allezeit ru-
zuordnen. Statt sie nach dem konventionellen topi- hig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so
schen System zu gliedern, folgt er einer subjektiven zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey
und autoreferentiellen Ordnung. Außerdem versieht allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele«
er seine Extrakte nie mit persönlichen Kommentaren (Gedancken1, 43). Auch eine der bekanntesten For-
oder formalen Änderungen, sondern schreibt die meln von W.s Schrift ist die geradezu wörtliche Über-
Teile des Originaltextes aus, die ihn am meisten be- setzung eines Exzerptes, das sich in einem seiner
eindrucken. Auch in diesem Fall zieht er den tradi- handgeschriebenen Hefte findet. Der Satz »Der ein-
tionellen Adversaria die Objektivität des Zitates vor zige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, un-
und ergänzt es um genaue bibliographische Angaben: nachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Al-
Name des Autors, Titel, Nummer des Bandes und ten, [...]« (Gedancken1, 29) ist eine Adaptation des
Seitenzahl. folgenden Passus in La Bruyères Caractères: »Man

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_7, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
7 Winckelmanns Schreibweisen 59

könnte im Schreiben keine Vollendung erreichen terungen der Gedanken, wo er Auszüge verwertet, die
oder, wenn möglich, die Alten übertreffen, außer er in der ersten Auflage der Gedancken nicht hatte be-
durch ihre Nachahmung« (»On ne saurait en écrivant nutzen können.
rencontrer le parfait et s’il se peut surpasser les An- Auch die spätere literarische Produktion ist durch
ciens que par leur imitation«; vgl. Décultot 2014, 150). das Prinzip der »Ökonomie des Schreibens« inspi-
In der daran anschließenden Stelle »was jemand vom riert. Für die 1762 publizierten Anmerkungen über die
Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, Baukunst der Alten macht W. großzügig Gebrauch von
der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den einem um 1754 erstellten Faszikel seiner hand-
Kunst-Wercken der Alten, sonderlich der Griechen« geschriebenen Werke, der ausschließlich der Archi-
(Gedancken1, 29–30) gibt W. fast wortgetreu einen tektur gewidmet ist. Unter den darin gesammelten Ex-
Auszug aus der französischen Übersetzung von Ale- zerpten sind besonders die aus Les Dix livres d’archi-
xander Popes Essai sur la critique wieder: »Wenn man tecture de Vitruve (1684) von Claude Perrault hervor-
ihn recht zu verstehen weiß, weiß man ihn auch zu be- zuheben, und zwar wegen der Bedeutung, die W. dem
wundern; nur mit sich selbst darf man ihn verglei- römischen Baumeister in den Anmerkungen über die
chen« (»Quand on sait bien l’ entendre [Homere], on Baukunst der Alten zubilligt (vgl. Testa 2009). Auch
sait bien l’ admirer / Lui-même avec lui il faut le com- sein Opus magnum, die Geschichte der Kunst, ist das
parer«; vgl. Décultot 2014, 151). Ergebnis von Überarbeitungen, bei denen W. immer
Schließlich ist »Man muß mit ihnen, wie mit seinem wieder aus seinen Exzerptheften schöpft. Die älteren
Freunde, bekannt geworden sein, um den Laokoon Exzerpte werden im Lauf der Zeit durch neuere er-
ebenso unnachahmlich als den Homer zu finden« (Ge- gänzt; sie stammen vor allem aus kunstgeschicht-
dancken1, 30) die Variation eines Topos, der sich schon lichen Werken und aus der klassischen Literatur, die er
in Madame Dacier, der berühmten französischen Ho- während seiner Jahre in Rom in den dortigen Biblio-
mer-Übersetzerin, findet: »Ich habe Homer wiederholt theken konsultiert. Zwischen 1756 und 1757 kündigt
gelesen, denn ich spüre dieselbe Leidenschaft für ihn W. in seinen Briefen die Vorbereitung einer Geschich-
wie der Philosoph Arkesilaos, der keinen Abend und te der Kunst an. Am 29. August schreibt er an Giovan-
Morgen vergehen ließ, ohne einige Stellen dieses Dich- ni Lodovico Bianconi: »Ich bin auf den Einfall geraten,
ters zu lesen, und der, wenn er zu seinem Buch griff, an einer Geschichte der Kunst zu arbeiten: ich habe
jedes Mal sprach, er gehe zu seinen Geliebten« (»J’ai lu darüber nachgedacht und suche die Materialien dazu.
Homère plusieurs fois, car j’ai pour lui la même passion Fast wäre ich versucht, lateinisch zu schreiben« (»Il
qu’avait le philosophe Arcésilas qui soir et matin ne m’est venuë [...] l’ idée de travailler à une Histoire de
manquait jamais de lire quelque endroit de ce poète, et l’ Art: j’y ai pensé et j’en cherche les materiaux. Je serois
qui disait toujours en prenant son livre ›qu’il allait à ses presque tenté de l’ ecrire en Latin«; Br. I, 242–243).
amours‹«; vgl. Décultot 2014, 151). Nach einer ersten Fassung von 1759, die der Dresdner
Hinter dem gesamten literarischen Werk W.s lässt Verleger Walther ablehnt, weil sie nicht umfassend ge-
sich ein ebenso gewissenhafter wie wohl kalkulierter nug ist, arbeitet W. an einer neuen Version des Werkes,
Umgang mit der Exzerptsammlung vermuten, der die er 1761 nach Deutschland schickt. Währenddes-
darauf ausgerichtet ist, die ungeheure Menge der Auf- sen fügt er Auszüge in die Geschichte ein, die in der
zeichnungen so ökonomisch wie möglich zu verwer- ersten Fassung keine Verwendung gefunden hatten.
ten. Nachdem er in der ersten Auflage der Gedancken Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die lange
über die Nachahmung seinen Vorrat aus klassischen Liste zitierter Werke gleich nach dem Inhaltsverzeich-
Schriftstellern erschöpft hatte, bleiben viele Exzerpte nis zu durchlaufen; sie umfasst mehr oder weniger die
aus modernen Autoren ungenutzt, die er dann in ein Texte, aus denen W. viele Exzerpte gewonnen hat. Un-
zweites, 1756 veröffentlichtes Werk, das Sendschreiben mittelbar nach dem Erscheinen der Geschichte Ende
über die Gedanken, einbringt. Letzteres ist eine Vertei- 1763 – auch wenn auf dem Titelblatt 1764 steht –
digung der Modernen, die auf Materialien von Auto- schickt sich W. an, eine neue Fassung auszuarbeiten.
ren des 17. und 18. Jh. aufbaut ; darunter finden sich Am 13. Juli 1765 vertraut er Christian Gottlob Heyne
Filippo Baldinuccis Vita del Cavalier Bernini, die Dis- an: »So bald ich Luft bekomme, werde ich eine voll-
sertation sur les ouvrages des plus fameux peintres von ständigere Ausgabe der Geschichte der Kunst besor-
Roger de Piles und das Abrégé de la vie des plus fameux gen. Wir sind heute klüger, als wir gestern waren« (Br.
peintres des Dézallier d’Argenville. Dieselbe Methode III, 111). Die Arbeit an anderen Schriften wie den Mo-
wendet W. auch in einem dritten Werk an, den Erläu- numenti antichi inediti und den Anmerkungen über die
60 II Systematische Aspekte

Geschichte der Kunst, die er unbedingt zu Ende brin- montagnes entieres de porphyre rouge, dans un passa-
gen möchte und die 1767 publiziert wurden, hinderte ge si serré entre ces montagnes et le fleuve que les voi-
ihn allerdings daran, die Neuauflage der Geschichte tures qui le traversent frottent de l’ aissieu contre le
der Kunst wie geplant voranzutreiben. Erst zu Beginn porphyre«; vgl. Ferrari 2011, 208). Aus unerklärlichen
des Sommers 1767 berichtet W. seinen wichtigsten Gründen wird diese Notiz nicht in die Wiener Neu-
Korrespondenten wieder von einem Neudruck seines auflage der Geschichte der Kunst eingehen.
Hauptwerks. Von Juni 1767 bis Juni 1768, im letzten So wie W.s Nachlass beschaffen ist und verwaltet
Jahr seines Lebens, arbeitet er unermüdlich an der Ak- wird, muss man mit Überraschungen und Risiken
tualisierung und Verbesserung der Schrift, da eine rechnen. Solange er am Leben ist, gelingt es dem Kunst-
neue Auflage in Aussicht steht. historiker, selbst aus bruchstückhaftem Rohmaterial
Das Manuskript für die Neuauflage der 1776 pos- neue Werke zu schaffen. Seine früheren unvollendeten
tum in Wien veröffentlichten Geschichte der Kunst und uneinheitlichen Schriften verlangen geradezu
ging aber verloren, so dass es nicht möglich ist, präzi- nach Erweiterung und Verbesserung, ganz anders als
sere Hypothesen zur Art der geplanten Änderungen die Projekte, die er für die Zukunft geplant hatte. Doch
zu entwickeln. Immerhin lässt sich nachweisen, dass statt nach W.s Tod Ordnung in die Materialien zu brin-
W. in der letzten Fassung verschiedene Teile aus den gen und alle zum Nachlass gehörenden Papiere auf-
Anmerkungen über die Geschichte der Kunst übernom- zubewahren, verlieren seine Nachfolger und Kommen-
men hat, die ihrerseits als Ergänzung zur ersten Auf- tatoren einen Teil davon oder übergehen sie, wie im
lage der Geschichte der Kunst gedacht waren. Fall der Porphyrberge, ohne einleuchtenden Grund.
Aus der Praxis des Exzerpierens hat er ein regel- Die Neuauflage von 1776 hätte den verlegerischen
rechtes Schreibmodell entwickelt. Das in Paris auf- Wechselfällen der Geschichte der Kunst ein Ende berei-
bewahrte Manuskript der Anmerkungen über die Ge- ten können; stattdessen wird sie zu einem recht heiklen
schichte der Kunst ähnelt einer geometrischen Baum- philologischen Problem. W.s Exegeten sind sich bis
struktur: Aus dem Stamm, der Geschichte der Kunst, in heute uneins, wie weit diese Auflage textkritisch zuver-
der linken Spalte wächst der Spross, die Anmerkungen lässig ist. Die Entscheidung, die intellektuelle Leistung
über die Geschichte der Kunst, in der rechten Spalte des Gelehrten mithilfe eines einzigen, wenn auch
hervor. In diese sehr aufwändige Überarbeitung flie- scheinbar tadellosen Druckwerks zu veranschauli-
ßen viele von W.s jüngsten Lektüren ein, aber auch Er- chen, ist nicht nur gewagt, sondern auch kulturell eng-
kenntnisse, zu denen er u. a. nach Gesprächen mit stirnig, da der komplexen und schwierigen Vorberei-
dem Wissenschaftler Nicolas Desmarest über den Ur- tungsphase keinerlei Rechnung getragen wird.
sprung des Granit- und Porphyrgesteins oder mit dem Den Monumenti antichi inediti, der einzigen
Künstler Martin Knoller über die Kleidung der alten Schrift, die W. auf Italienisch verfasst und drucken
Römer gelangt war (Br. III, 166). Alles, was er sieht, lässt, ist ein ähnliches Schicksal wie der Geschichte der
hört oder liest, ist von Interesse für seine Schreibtätig- Kunst beschieden. Als sie im Frühjahr 1767 in zwei
keit, wird zuerst als Notiz oder Exzerpt und später in Bänden erscheinen, plant W. umgehend einen dritten
Form von Reinschrift verwertet. Während der Reise Band. Die Arbeiten an der Geschichte der Kunst und
im Frühjahr 1768, die ihn nach einer Abwesenheit von am »großen Italienischen Werk«, so nennt er es in sei-
dreizehn Jahren in die Heimat zurückführt, stößt W. ner Korrespondenz, verlaufen oft parallel, da beide
auf dem Weg von Bozen nach Brixen auf ganz aus Por- mit analogen Zielvorstellungen verbunden sind. Am
phyr bestehende Berge. In seinen Aufzeichnungen 6. Februar 1768 vertraut der Gelehrte seinem Freund
wird er diese Entdeckung im Detail festhalten und Johann Michael Francke an: »Ich schlage das Buch
auch einigen seiner Briefpartner davon berichten (Br. [die Geschichte der Kunst] zuweilen nur auf, um frö-
IV, 305–305). Als er am 1. Juni in Triest eintrifft, legt er lich zu seyn; denn ich bin völlig mit mir zufrieden. Ich
sie in ein durchschossenes Exemplar der Geschichte verstund noch nicht zu schreiben, da ich mich an die-
der Kunst ein, das François-Vincent Toussaint nach selbe machte; die Gedanken sind noch nicht gekettet
seinem Tod ins Französische übersetzen wird: »zwi- genug; es fehlet der Übergang von vielen in diejeni-
schen Colman und Deutsch findet man ganze Berge gen, die folgen, worinne die größte Kunst bestehet.
aus rotem Porphyr, in einer so zerklüfteten Passage Die Beweise haben nicht alle mögliche Stärke, und ich
zwischen diesen Bergen und dem Fluss, dass die Wa- hätte hier und da noch mit mehrern Feuer schreiben
gen, die hindurchfahren, mit der Achse den Porphyr können. Diese Mängel hat mich das große Italienische
streifen« (»entre Colman et Deutsch on rencontre des Werk gelehret, da das Theater weit gefährlicher war,
7 Winckelmanns Schreibweisen 61

wo ich aufzutreten gedachte, und der Höchste hat Se- Die Tatsache, dass W. ausgiebigen Gebrauch von
gen und Gedeyen gegeben. seiner handgeschriebenen Bibliothek macht, darf den
Ich glaube außerdem, daß an hundert Stellen alter modernen Leser aber nicht dazu verleiten, deren kon-
Scribenten von neuen in jenem Werke erklärt und krete historische Bedeutung misszuverstehen, wie es
theils verbessert werden« (Br. III, 366–367). indes einige der größten Exegeten W.s um die Wende
Wie Élisabeth Décultot zu Recht ausführt, kann vom 19. zum 20. Jh. taten. Während man über die No-
W.s Werk in zwei unterschiedliche, wenn auch kom- tizensammlungen den ursprünglichen Schreibprozess
plementäre Kategorien unterteilt werden: zum einen nachverfolgen kann, trifft für die Exzerpthefte genau
die Urschriften wie die Gedancken über die Nach- das Gegenteil zu: Da sie aus der Lektüre verschiedens-
ahmung, die erste Auflage der Geschichte der Kunst ter Quellen stammen, führen sie den gedruckten Text
und die Monumenti antichi inediti; zum anderen die nicht auf einen unanfechtbaren Ursprung zurück,
Addenda wie die Anmerkungen über die Geschichte der sondern auf eine unbegrenzt Zahl möglicher Ur-
Kunst, die zweite Auflage der Geschichte der Kunst und sprünge. Statt einen sicheren Ausgangspunkt zu mar-
der dritte Band der Monumenti antichi inediti. Erstere kieren, verleiten sie dazu, rückwärts zu blicken und
sind Übergangsstadien eines stets in Veränderung be- nach der Verkettung zu suchen, aus der das letzte Ex-
griffenen Werks, letztere ergänzen, bereichern und zerpt hervorgeht. W. ist kein Epigone, der sich hinter
verbessern die bereits publizierten Texte. einem Schriftsteller versteckt, aber ebenso wenig ist er
Die Ars excerpendi ist nicht nur die Grundlage von ein absolut origineller Schöpfer. Er ist zugleich Erfin-
W.s offizieller und öffentlicher literarischer Produkti- der und Kopist oder, besser gesagt, ein Erfinder, der
on, sondern auch die seiner persönlichen und pri- kopiert. Die kulturelle Methode des Exzerpierens teilt
vaten Schriften. Seitdem er in Italien lebt, exzerpiert er er mit vielen Intellektuellen seiner und auch späterer
nicht nur aus neuem Lesestoff, sondern beginnt auch, Zeiten, von Montesquieu bis Georg Christoph Lich-
den eigenen Fundus an Manuskripten zu katalogisie- tenberg, von Johann Gottfried Herder bis Johann
ren, um ihn künftig wieder verwenden zu können. Georg Hamann, von Jean Paul bis Johann Jakob Wil-
Nicht selten verfasst er Auszüge aus den eigenen Aus- helm Heinse, von Louis-Sébastien Mercier bis Giaco-
zügen. 1767, ein Jahr vor seinem Tod, erstellt er ein mo Leopardi. Das ist der Hauptgrund, weshalb seine
Heft mit dem Titel Collectanea zu meinem Leben, das Forschungstätigkeit im Vergleich mit derjenigen an-
heute in Savignano sul Rubicone aufbewahrt wird und derer nicht geringer geschätzt werden darf.
offenbar nicht für den Druck bestimmt war. Es han-
delt sich um einen autobiographischen Zibaldone, in
Kunstbeschreibungen
dem er anhand von Zitaten aus antiken und moder-
nen Autoren, die aus seiner handgeschriebenen Bi- Ein Element, das es erlaubt, W.s literarische Produkti-
bliothek stammen, Augenblicke seines Lebens Revue on und sein Verhältnis zum Schreiben besser zu ver-
passieren lässt. Leider ist es nicht immer leicht, den stehen, ist die Kunstbeschreibung. Als er gleich nach
genauen Zusammenhang zwischen der gewählten seiner Ankunft in Rom die im Cortile des Palazzo del
Passage und einer bestimmten Begebenheit in seinem Belvedere aufgestellten Meisterwerke der klassischen
Leben nachzuvollziehen. Die wenigen Studien, die es Bildhauerei persönlich besichtigen kann, kündigt er
bisher zu diesem Heft gibt, sind sich in ihren Deu- seine Absicht an, eine genaue Beschreibung davon an-
tungsversuchen nicht immer einig. Um zum Beispiel zufertigen. Einen Großteil des Jahres 1756 arbeitet er
seine eigene Arbeitsweise zu veranschaulichen, wählt an diesem Projekt, das er freilich schon zu Beginn des
W. eine Stelle aus Aristoteles: »Der Anfang, sagt man, folgenden Jahres unterbrechen muss, da ihm bewusst
sei die Hälfte des Ganzen« (Pol., 5.1303b.30). Als er wird, wie komplex und aufwändig das Vorhaben ist.
das notdürftige Leben in seiner Jugend schildert, zi- Die zu diesem Zwecke geschriebenen Texte sollten
tiert er einen Satz von Ovid: »Und meinem Leben ist weitgehend in die Geschichte der Kunst einfließen.
ein hartes Gepräge gegeben« (Heroid., 15.82). Wie er Auch wenn W. das Projekt nicht zu Ende führt, er-
berühmt geworden ist, erfahren wir über Euripides: probt er dabei doch eine neue Methode, antike Sta-
»Ruhm gewann ich, nicht ohne viele Mühen« (Andro- tuen zu beschreiben, die bei seinen Zeitgenossen und
meda, Fr. 134). An die Reiseerlebnisse vieler Auslän- der Nachwelt große Bewunderung auslösen wird. Sie
der, die er durch Rom oder Neapel begleitet hat, er- beruht vor allem auf einer kategorischen Absage, sei es
innert uns eine Stelle aus Sallust: »gleich Pilgrimen, an die alte ekphrastische Literatur eines Philostratos,
durchs Leben gegangen« (Cat., 2.8). Lukian oder Kallistratos, die er für überholt und un-
62 II Systematische Aspekte

produktiv hält, sei es an die Gemälde- und Statuen- rungsprozesses mit dem Werk (Gedancken1, 43); die
beschreibungen Vasaris und seiner Epigonen, die für Details hingegen sind den vielen Exzerpten zu ver-
W. zu stark an die Lebensgeschichten der Künstler ge- danken, die W. in den vorangehenden Jahren bei der
bunden sind. Seinen Vorgängern wirft er in erster Li- Lektüre von medizinischen, humanphysiologischen
nie vor, sie hätten die Anliegen der Kunst und die Su- und naturgeschichtlichen Werken angefertigt hatte
che nach dem Schönen vernachlässigt. So schreibt er (Florentiner Winckelmann-Manuskript, 9–11). Diese
in der Vorrede der Geschichte der Kunst: »Unter- doppelte Herangehensweise wendet er auch bei ande-
suchungen und Kenntnisse der Kunst wird man ver- ren berühmten Statuen der Antike an, ohne dabei frei-
gebens suchen in den großen und kostbaren Werken lich immer der gleichen gedanklichen Verknüpfung
von Beschreibung alter Statuen, die bis jetzt bekannt zu folgen wie beim Laokoon. Der Gelehrte ist stets
gemacht worden sind. Die Beschreibung einer Statue hin- und hergerissen zwischen der ideellen und der
soll die Ursache der Schönheit derselben beweisen realen Dimension. Zuweilen trennt er beide, dann
und das Besondere in dem Stile der Kunst angeben: es wieder verbindet er sie miteinander; denn er ist un-
müssen also die Teile der Kunst berührt werden, ehe schlüssig, welcher Seite er den Vorrang geben soll. Die
man zu einem Urteile von Werken derselben gelangen Beschreibungen des Apollo von Belvedere bezeugen
kann« (GK1, XI). Die Beschreibung eines Kunstwerks dieses anhaltende Zögern. Die erste bekannte Fas-
solle also vor allen Dingen nach den Ursachen seiner sung, heute in Florenz aufbewahrt, ist voller realisti-
Schönheit forschen und die Besonderheit seines scher Anmerkungen, in denen die anatomischen For-
künstlerischen Stils bestimmen. In der Beschreibung men des Gottes auf nüchterne, ja beinahe neutrale
des Torso im Belvedere zu Rom von 1759 wird W. noch Weise festgehalten werden (Florentiner Winckelmann-
deutlicher: »es ist nicht genug, zu sagen, daß etwas Manuskript, 5–9). Spätere Versionen stellen die erste
schön ist: man soll auch wissen, in welchem Grade in Frage: Allzu erfahrungsnahe oder übermäßig kriti-
und warum es schön sei« (KS 169). Die Schilderung sche Details sind gestrichen (Zeller 1955, Beilage).
eines Kunstwerks ist vor allem eine Form des Schrei- Schließlich tritt uns in der Fassung, die in der Ge-
bens, bei der das Aufeinandertreffen von poetischer schichte der Kunst publiziert wird, eine reine Idealfigur
und künstlerischer Sprache besondere Bedeutung ge- entgegen, die Verkörperung des höchsten Schönen,
winnt. Als Kunstschriftsteller beginnt W., offene Skep- aller überflüssiger anatomischer Einzelheiten entle-
sis gegenüber der klassischen Formel des »ut pictura digt: »Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der
poësis« zu äußern. Bei der Beschreibung einiger der Kunst unter allen Werken des Altertums, die der Zer-
berühmtesten Statuen des Belvedere wird ihm be- störung derselben entgangen sind. Der Künstler der-
wusst, dass zwischen Kunst und Poesie eher Distanz selben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut,
als wirkliche semiotische Nähe besteht. So erklären und er hat nur ebenso viel von der Materie dazu ge-
sich auch die zahlreichen, in Paris und Florenz auf- nommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen
bewahrten handschriftlichen Fassungen zum Apollo, und sichtbar zu machen« (GK1, 392).
Torso und Laokoon, in denen der Autor große Mühe Für die Kunstbeschreibungen ruft W. auch die Vor-
darauf verwendet, poetisch nuanciert das »Wesen« stellungskraft zu Hilfe. Seinem Verständnis nach
dieser bildhauerischen Meisterwerke zu erfassen übernimmt sie sowohl bei der Produktion als auch bei
(Nachlass Paris; Nachlass Florenz). W. plant immer der Rezeption von Kunstwerken eine Schlüsselrolle.
wieder neue Beschreibungen, verschmilzt frühere Raffael und die griechischen Künstler bilden die »Göt-
und spätere Versionen, überdenkt die verwendeten ter und Menschen«, indem sie aus »einer gewissen
Metaphern und erfindet neue Bilder. Dennoch stellen Idee« der »Einbildung« schöpfen (KS 35). Auch bei
ihn die Versuche, diese Meisterwerke der Skulptur in der Kunstbeschreibung ist die Einbildungskraft im
Worte zu kleiden, fast nie zufrieden. Spiel, wie W.s Statuenbeschreibungen zeigen. Die be-
In den Beschreibungen dominieren empirische rühmte Studie des Apollo von Belvedere in der Ge-
Daten nie über die Kenntnisse, die W. in seiner hand- schichte der Kunst ist das Ergebnis einer minutiösen
geschriebenen Bibliothek zusammengetragen hat. Im Schilderung der Phantasiearbeit, die nicht nur der
Falle des Laokoon schildert W. z. B. zunächst den Ein- Schriftsteller, sondern auch der Leser zu leisten hat:
druck körperloser Idealität, den die Skulptur vermit- »Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses
telt, um anschließend zu den zahlreichen anatomi- Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen
schen Details überzugehen. Der erstgenannte Ein- erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschau-
druck ist das Ergebnis eines empathischen Identifizie- en. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erwei-
7 Winckelmanns Schreibweisen 63

tern und zu erheben, wie diejenigen, die ich wie vom chen‹ Wesens der Statue, trotz der Schwierigkeiten, sie
Geiste der Weissagung aufgeschwellt sehe, und ich mit Worten darzustellen, lässt W. nicht davon ab, sie zu
fühle mich weggerückt nach Delos und in die Lyci- beschreiben. Der einzige Ausweg aus dieser Aporie be-
schen Hayne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegen- steht darin, ein verbales Meisterwerk zu schaffen, das
wart beehrte: denn mein Bild scheint Leben und Be- dem künstlerischen gleichkommt. Um die Tätigkeit
wegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schön- des Bildhauers zu veranschaulichen, muss der Schrift-
heit« (GK1, 393). Auf dieselbe Weise ist es bei der Be- steller seinerseits zu einem Bildhauer des Textes wer-
schreibung des Torso von Belvedere möglich, dank den – wohlwissend, dass die verbale und die künstleri-
der Vorstellungskraft den Anblick eines bloßen stei- sche Sprache zwei völlig unterschiedlichen semioti-
nernen Rumpfes ohne Arme und Beine in einen kom- schen Bereichen angehören. Da es unmöglich ist, die
pletten Körper mit Gesicht, Gliedmaßen und Haltung Schönheit der Skulptur nach der alten Formel »ut pic-
zu verwandeln: »Ich sehe in den mächtigen Umrissen tura poësis« zu beschreiben, kommt es darauf an, einen
dieses Leibes die unüberwundene Kraft des Besiegers Text zu schaffen, dessen Eigenschaften denen der Plas-
der gewaltigen Riesen, die sich wider die Götter em- tik analog sind. Ein dichterisch sprachmächtiger Text
pörten und in den phlegräischen Feldern von ihm er- transkribiert und beschwört die Statue, wird aber nie
legt wurden, und zu gleicher Zeit stellen mir die sanf- ihr genaues Abbild sein. In dem Wissen, dass sich lite-
ten Züge dieser Umrisse, die das Gebäude des Leibes rarisches und künstlerisches Idiom semiotisch unter-
leicht gelenksam machen, die geschwinden Wendun- scheiden, schafft W. einen sehr eigenwilligen Beschrei-
gen desselben in dem Kampfe mit dem Achelous vor, bungsstil. Um formale Merkmale einer Statue wieder-
der mit allen vielförmigen Verwandlungen seinen zugeben, muss man zu angemessenen sprachlichen
Händen nicht entgehen konnte« (KS 170). W. spricht Ausdrucksmitteln greifen. Die sublime Schönheit des
sich entschieden gegen die These aus, der künstleri- Apollo von Belvedere muss auf sublime Weise be-
sche Akt sei lediglich das Kumulieren und Erfassen schrieben werden. Am 20. März 1756 schreibt W. an
objektiver Tatsachen. Seiner Auffassung nach fällt der seinen Freund Francke: »Die Beschreibung des Apollo
Phantasie eine entscheidende Rolle zu; sie setzt den erfordert den höchsten Stil, eine Erhebung über alles
Betrachter in die Lage, das Schöne unmittelbar und was menschlich ist« (Br. I, 212) . Obgleich W.s Kunst-
augenblicklich wahrzunehmen. beschreibung bald die scharfe Kritik von Karl Philipp
Im Zentrum von W.s Beschreibungsmethode steht Moritz (Moritz 1997–1999, II, 1002), bald das leiden-
allerdings ein letzter Aspekt, der nicht minder relevant schaftliche Lob Herders (Herder 1993, 335) erntete, ist
ist als die anderen, und zwar der Standpunkt des sie zweifellos eines der wichtigsten heuristischen In-
Schreibenden. Das beschreibende Ich, das sich fast im- strumente, die der deutsche Kunsthistoriker der Nach-
mer mit dem Autor gleichsetzt, will dem Leser nicht welt hinterlassen hat. Zwar glaubt W. zunächst an die
seine auktoriale Autorität aufzwingen, sondern betont Formel des »ut pictura poësis«, doch durch die Be-
die Relativität seines Standpunktes und die Labilität schreibung der Meisterwerke der antiken Bildhauerei
seines Verfahrens. In seinen Betrachtungen macht W. wird ihm klar, dass diese klassische Formel ihre Gel-
keinen Hehl aus der Mühe und der Anstrengung, die tung verloren hat. Die Gewissheit, eine Statue direkt in
ihn das Schreiben kostet. Er spricht von der Schwierig- Worte verwandeln zu können, wird abgelöst von dem
keit, die Kunst in Worte zu fassen und den Marmor in unumkehrbaren Wissen, dass zwischen beiden media-
einen Text zu verwandeln. In der Beschreibung des len Codes kein Durchlässigkeitsverhältnis besteht,
Apollo von Belvedere erklärt er weiter: »Wie ist es sondern höchstens ein solches von distanzierter An-
möglich, es zu malen und zu beschreiben. Die Kunst passung und mimischer Evokation.
selbst müßte mir rathen und die Hand leiten, die ersten
Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig aus- Quellen
zuführen. Ich lege den Begriff, welchen ich von diesem Baldinucci, Filippo: Vita del Cavalier Giovanni Lorenzo Ber-
Bilde gegeben habe, zu dessen Füßen, wie die Kränze nini. Florenz 1682.
Christine de Suède: Ouvrage de loisir ou Maximes et senten-
derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche sie ces. Leipzig 1751.
krönen wollten, nicht erreichen konnten« (GK1, 393– Dézallier d’Argenville, Antoine Joseph: Abrégé de la vie des
394). Es handelt sich hier nicht um ein rhetorisches plus fameux peintres. Paris 1745–1752.
Mittel, das ein Gefühl der Wehmut vermitteln soll, son- Herder, Johann Gottfried: Schriften zur Ästhetik und Litera-
dern um eine bewusstgemachte Herausforderung der tur 1767–1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M.
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Skulptur an den Schriftsteller. Trotz des ›unbeschreibli-
64 II Systematische Aspekte

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8 Winckelmann – Homosexualität, schwule Kultur, Queer Theory 65

8 Winckelmann – Homosexualität, nur einmahl die Woche sprechen: des Sonntags


schwule Kultur, Queer Theory Abends speiset er bey mir« (Br. I, 266). W. erzählt von
einem relativ sorglosen und vergnügten Leben, das
nicht durch Angst oder Schuldgefühle getrübt
Bereits zu seinen Lebzeiten war W. für seine enthu- scheint.
siastische sinnliche Liebe zu jungen Männern be- Neben dem schönen jungen blonden Römer gab es
kannt. Seine Veranlagung wurde bemerkenswert of- den Florentiner Niccolò Castellani »aus einem der
fen besprochen, manchmal sogar positiv bewertet, besten Häuser« (18.3.1763; Br. II, 296), aber auch
und von Anfang an mit seiner kunsthistorischen Ar- Franz Stauder, der bei W.s Freund, dem Künstler An-
beit in Verbindung gebracht. Obwohl W. fast genau ton Raphael Mengs, in der Lehre war. W. verkehrte
einhundert Jahre vor der Einführung des modernen darüber hinaus mit Eunuchen, die in Rom wegen ih-
Begriffs »Homosexualität« ermordet wurde, fand er rer Rolle als Kastraten im Chor der Sixtinischen Ka-
bald Aufnahme in die Reihe berühmter Homosexuel- pelle eine gewisse Prominenz besaßen. Über all das
ler. Noch heute bleibt sein Werk wichtig sowohl für die konnte er offen mit seinem Mäzen, dem Kardinal Al-
Geschichte der modernen Sexualität als auch für die bani, plaudern, wie er Berendis am 28. September
Queer Theory. 1761 berichtet: »Der Cardinal von 70 Jahren ist mein
Vertrauter, und ich unterhalte ihn öfters von meinen
Amours« (Br. II, 176). W. stellte dem Kardinal sogar
Winckelmanns Leben und Lieben
einen »Protegé« (Br. II, 75) vor. Er hoffte, ihm eine
Über W.s Neigungen besteht in der Forschung Über- Stelle als Kammerdiener beim Marchese Salviati zu
einstimmung. Nach seinem Umzug nach Rom im Jah- verschaffen, was dann zum Verlust desselben führte,
re 1755 scheint er ein Leben voll mannmännlicher wie er am 16. Januar 1760 an Wilhelm Muzell-Stosch
Erotik gelebt zu haben, samt schönen italienischen schrieb: »Ich wurde denselben dadurch loß und käme
Jünglingen, Kastraten, gesprächigen reichen alten einen Schritt näher zur Weißheit, die ich als ein Vier-
Kardinälen, vermögenden unverheirateten Kunst- zigjähriger muß anfangen zu suchen« (Br. II, 72).
sammlern und deutschen Aristokraten, die ihm das Wenn W. erläutert, dass sich »hier in Rom [...] Cardi-
Herz brachen. Sein Biograph Wolfgang Leppmann ist näle und Damen in dergleichen Händel« interessie-
überzeugt, dass W. in Rom sexuelle Beziehungen zu ren (Br. II, 72), so könnte dies nahelegen, dass er in
anderen Männern gehabt habe (Leppmann 1970, der Hochschätzung männlicher Schönheit nicht al-
209). In seiner bahnbrechenden Arbeit über Homo- lein war (Potts 1994, 209).
sexualität in der deutschen Literatur stellt Paul Derks Unter den vielen »Amours« gab es zwei, die W. als
fest, W. sei »der wohl erste in einer Geschichte des besonders wichtig hervorhob. Schon als junger Mann,
deutschen Ich, der nicht vereinzelte sodomitische Ak- während seiner Zeit als Schullehrer, verliebte er sich in
te betrieb, sondern als Homosexueller lebte, dachte, seinen Schüler F. W. Peter Lamprecht, mit dem er etwa
wirkte und dieses Leben, Denken, Wirken in seine Le- ein Jahr lang zusammenlebte und dem er Geld lieh,
bensarbeit hineintrug und diese aus jenem speiste« ohne es je zurückzubekommen. Obwohl er manchen
(Derks 1990, 183). Obwohl es den modernen Begriff Bekannten die etwas unplausible Geschichte erzählte,
im 18. Jh. noch nicht gab, hält Alex Potts in seiner dass er nachts auf seinem Stuhl saß, während der jun-
theoretisch gut begründeten und sorgfältigen Unter- ge Mann im einzigen Bett in der Wohnung schlief
suchung Flesh and the Ideal das Wort »homosexuell« (Wangenheim 2005, 61–62), scheint die Trennung ihn
für das passendste, um W.s Leben zu charakterisieren sehr verletzt zu haben. Wie Leppmann glaubt, kann
(Potts 1994, 5) man die Briefe, in denen W. das Verhältnis zu Lam-
W. schrieb viel und oft über die Männer in seinem precht kommentiert, kaum anders denn als Zeugnisse
Leben. Über einen von ihnen berichtet er in einem einer zu Ende gegangenen Liebesbeziehung verstehen
Brief vom 29. Januar 1757 an seinen vertrauten Alt- (Leppmann 1970, 50).
freund aus der Universitätszeit in Halle, Hieronymus Später verliebte sich W. in Friedrich Reinhold von
Dietrich Berendis: »Ich kann also vergnügt seyn und Berg, dem er die Abhandlung von der Fähigkeit der
es macht mir nichts Sorge als meine Schriften; ich ha- Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unter-
be sogar jemand gefunden, mit dem ich von Liebe re- richte in derselben (1764) widmete. An Berg schreibt er
de: ein junger schöner blonder Römer von 16 Jahren, am 9. Juni 1762 eine bewegende Liebeserklärung, in
einen halben Kopf größer als ich: aber ich kann ihn der er auch auf die alte Liebe zu Lamprecht anspielt:

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_8, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
66 II Systematische Aspekte

»Ein unbegreiflicher Zug zu Ihnen, den nicht Gestalt In Triest lernte er im Wirtshaus einen gewissen Fran-
und Gewächs allein erwecket, ließ mich von dem ers- cesco Arcangeli kennen, mit dem zusammen er einige
ten Augenblicke an, da ich Sie sahe, eine Spur von der- Tage verbrachte. Nachdem W. Arcangeli das Medail-
jenigen Harmonie fühlen, die über menschliche Begrif- lon gezeigt hatte, das er aus Wien mitgebracht hatte,
fe gehet, und von der ewigen Verbindung der Dinge erstach dieser den Reisenden. Im darauffolgenden Ge-
angestimmet wird. In 40 Jahren meines Lebens ist die- richtsprozess erfuhr man, dass Arcangeli kurz zuvor
ses der zweyte Fall, in welchem ich mich befunden, wegen Diebstahls im Gefängnis gesessen hatte. Arcan-
und es wird vermuthlich der letzte seyn.« (Br. II, 232) geli gestand und wurde gerädert.
Es ist nicht absolut sicher, dass die Beziehung zwi-
Er fährt fort: »Mein werther Freund, eine gleich starke schen W. und Arcangeli sexuell war. Manche Histori-
Neigung kann kein Mensch in der Welt gegen Sie tra- ker meinen, Arcangeli – pockennarbig und 36 Jahre
gen: denn eine völlige Uebereinstimmung der Seelen alt – sei nicht attraktiv genug für den ästhetisch an-
ist nur allein zwischen zween möglich.« Um zu beto- spruchsvollen W. gewesen (Leppmann 1970, 11). Et-
nen, dass er nicht die übliche Freundschaft des 18. Jh. was schwerer wiegt das Argument, dass Arcangeli in
meint, fügt er hinzu: »dieser göttliche Trieb ist den seiner Verteidigung nicht behauptete, W. habe ihm
mehresten Menschen unbekannt, und wird daher von sexuelle Avancen gemacht, was zu einer Milderung
vielen übelverstanden gedeutet« (Br. II, 232). Die Be- der Strafe hätte führen können. Wie Derks heraus-
merkung, dass der Trieb »übelverstanden gedeutet« fand, war die zeitgenössische Presse in dieser Hin-
werde, macht klar, dass nicht von einer unverbindli- sicht jedoch relativ sicher: Die Augspurgische Ordina-
chen Bekanntschaft die Rede ist. W. betont das Ris- ri-Post-Zeitung berichtete am 30. Juni 1768: »als sie
kante dieser Freundschaft, die er mit der antiken aber hierauf mit einander in das nämliche Zimmer zu
Freundschaft zwischen Achilles und Patroclus ver- Bette gegangen waren, überfiel ihn der Fremde«. Die
gleicht, wenn er schließt: »Die christliche Moral lehret Frankfurter Kayserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zei-
dieselbe nicht; aber die Heiden beteten dieselbe an« tung meldete am 2. Juli 1768: »Beyde schliefen in ei-
(Br. II, 233). Während diese Liebe im Licht der Antike nem Zimmer beysammen; in demselben überfiel der
»göttlich« ist, bleibt sie suspekt in den Augen der Unbekannte den offenherzigen Herrn Winkelmann«
christlichen Kirche. (Derks 1990, 188). Zwar war es keine Seltenheit, dass
Über Berg schreibt W. am 6. August 1763 an seinen mehrere Personen im selben Bett übernachteten, aber
jungen Freund aus der Schweiz, Leonhard Usteri, ganz die Beachtung, die die Presse diesem Umstand
offen: »Ich war verliebt, und wie! in einen jungen Lief- schenkt, verleiht ihm besonderes Gewicht.
länder« (Br. II, 333). Als der Angebetete nicht an- Der ausgeprägte Freundschaftskult des 18. Jh., der
gemessen dankbar dafür ist, dass W. ihm seine Ab- sich auch zwischen Männern einer üppigen Sprache
handlung gewidmet hat, beklagt sich der Kunsthistori- der Liebe bedient, macht es im Allgemeinen schwie-
ker in seinem Brief an seinen Freund Stosch vom rig, die Gefühle zu deuten, die in zeitgenössischen
12. August 1764 wie ein vernachlässigter Liebhaber: Texten beschrieben werden. Die Tatsache, dass man-
»Der Liefländer, dem ich die kleine Schrift zugeschrie- che schwärmerische Liebeserklärung zwischen Män-
ben, hat nicht einmahl geantwortet. Allein, wie sie sa- nern nicht homosexuell gemeint war, lässt allerdings
gen: man ist nur im reifen Alter der Freundschaft fä- nicht den Umkehrschluss auf ausschließlich hetero-
hig« (Br. III, 53). sexuelle Beziehungen zu (Tobin 2000, 35–39). Zu W.s
Am 8. Juni 1768 wurde W. ermordet, als er, von Zeit gab es weder die eine noch die andere Kategorie:
Wien kommend, in Triest auf ein Schiff wartete, das das Wort »homosexuell« ist erstmals 1869 in einem of-
ihn mit einem Medaillon der Kaiserin Maria Theresia fenen Brief von Karl Maria Kertbeny nachweisbar. In
(Wangenheim 2005, 300–301) – und vielleicht auch der Sache hingegen begann man schon im Aufklä-
geheimen Botschaften an den Papst (Leppmann 1970, rungsjahrhundert zu differenzieren (Tobin 2015, 32–
10) – nach Venedig bringen sollte, von wo aus er nach 35). Der Diplomat und Kunsthistoriker Friedrich Wil-
Rom weiterzureisen beabsichtigte. W. hatte in Beglei- helm Basilius Ramdohr, der übrigens auch viel Zeit in
tung des Bildhauers Bartolomeo Cavaceppi eine Reise Rom verbracht hatte, schlug am Ende des 18. Jh. in sei-
nach Deutschland unternommen. Als sie die Alpen ner vierteiligen Schrift Venus Urania: Ueber die Natur
überquerten, erlitt W. jedoch eine Art Nervenzusam- der Liebe, ueber ihre Veredelung und Verschönerung ei-
menbruch. Er brach die Reise ab und trat, mit einer ne »Semiotik, Zeichenlehre, zu Unterscheidung der
Zwischenstation in Wien, die Rückreise nach Rom an. Freundschaft von der Geschlechtszärtlichkeit« vor
8 Winckelmann – Homosexualität, schwule Kultur, Queer Theory 67

(Ramdohr 1798, I, 229). Wenn W. betont, dass er eine geworden war. Aus Solidarität bot Goethe ihm Unter-
Freundschaft beschreibe, die oft missverstanden und stützung in Weimar an.
von der christlichen Moral abgelehnt werde, weist dies
darauf hin, dass er an eine erotische mannmännliche
Winckelmann und der homosexuelle Kanon
Liebe dachte.
Viele der Briefe, in denen W. von seinen Liebschaf- W.s öffentliches Leben, vermittelt durch die Berichte
ten berichtet, sind an den Baron Wilhelm Stosch (oft über ihn und durch seine eigenen Briefe, spielte also
Muzell-Stosch) adressiert. Seine Freundschaft mit eine Rolle bei der Etablierung einer proto-homo-
dem Baron lässt einen Blick zu in die Welt, die sich sexuellen oder vor-homosexuellen Identität, so wie
männerliebende Männer der intellektuellen Elite im Oscar Wilde etwa ein Jahrhundert später das Bild des
18. Jh. einrichten konnten. Geboren als Heinrich Wil- modernen Homosexuellen prägen sollte (Setz 1996,
helm Muzel, Sohn eines Gymnasialprofessors in Ber- 7–25). In der Tat wurde W. schnell bekannt als ein
lin, hatte W.s Freund in Italien seinen Onkel, den rei- Mann, der Männer liebte, und bald zu einer Ikone der
chen Kunstsammler Baron Philipp von Stosch ken- frühen homosexuellen Emanzipationsbewegung. In
nengelernt. Dieser adoptierte seinen Neffen, der eben- seinen Memoiren erzählt Giacomo Casanova etwas
falls nie heiratete. W. bereitete einen Katalog der hämisch, wie er W. in Rom in einer intimen Situation
Sammlung des alten Barons vor und widmete ihn dem mit einem jungen Italiener ertappte: der Kunsthistori-
jüngeren. Auch vor der Erfindung des modernen ker soll sein Benehmen dadurch entschuldigt haben,
Wortschatzes der »Homosexualität« gab es Möglich- dass er behauptete, kein Päderast zu sein, sondern ein
keiten, ein Leben zu führen, in dem mannmännliche Schüler der Altgriechen, der einfach lernen wolle, was
Liebe vorherrschte. diese so begeistert hätte (Casanova 1961, VII/VIII,
Wir wissen viel über W.s Privatleben, weil seine 197–198). Viel warmherziger rühmte Johann Gott-
Briefe bemerkenswert früh veröffentlicht wurden. fried Herder W. als tragisch um sein Leben gebrachten
Goethes berühmte Abhandlung Winckelmann und griechischen Liebhaber: »Du strecktest Deinen Arm
sein Jahrhundert endet mit einer Auflistung von fünf in die Ferne, um Freundschaft zu finden, Griechische
Sammlungen von Briefen W.s (einige in mehreren Tei- Freundschaft, die Du Dir wünschtest. Da kam der Tod
len), die zwischen 1777 und 1805 erschienen waren. und faßte und umschlang Dich mit eisernem Arm
Wie Katherine Harloe betont, weisen diese Veröffent- und der Traum Deines Lebens sank dahin und lag zer-
lichungen auf die wachsende Faszination durch W.s schlagen« (Herder 1877, VIII, 481).
Leben hin, die die Deutung seiner Werke beeinflusste In Winckelmann und sein Jahrhundert untersucht
(Harloe 2013, 134). Simon Richter vermutet, dass das Goethe offen W.s Beziehungen zu Männern und deren
Bild, das man von W. in seinen Briefen fand (»his Bedeutung für sein Werk. Er weist auf das Zusammen-
language, his life, his friendships«), in europaweiten spiel von Leben und Arbeit bei W.s hin, wenn er be-
Netzwerken von Männern zirkulierte, die andere tont: »Seine Werke, verbunden mit seinen Briefen,
Männer liebten, sodass sie sich an ihm orientieren sind eine Lebensdarstellung, sind ein Leben selbst«
konnten (Richter 1996, 39). Die veröffentlichten Brie- (Goethe 1982, XII, 18). Laut Goethe war W. »oft in
fe standen, wie die Sexualität selbst, an der Schnittstel- Verhältnis mit schönen Jünglingen, und niemals er-
le zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. scheint er belebter und liebenswürdiger, als in sol-
Als Beispiel führt Richter vor allem Johannes von chen, oft nur flüchtigen Augenblicken« (Goethe 1982,
Müller an, den Schweizer Historiker, der sich auch se- XII, 104). Gleichzeitig unterstreicht Goethe die Männ-
xuell für Männer interessierte und wegen seiner Ver- lichkeit W.s, sogar im Moment seiner Ermordung: »Er
anlagung berufliche Rückschläge in Kauf nehmen hat als Mann gelebt, und ist als ein vollständiger Mann
musste, als diese an die Öffentlichkeit kam. Müllers von hinnen gegangen« (Goethe 1982, XII, 129).
Schüler Fritz Hartenberg hatte einen ungarischen Derks zufolge erkannte Goethe, dass W.s Klassizis-
Herzog namens Louis Batthyani erfunden, einen an- mus in seiner mannmännlichen Liebe seine Wurzeln
geblichen unehelichen Sohn der Herzogin Marie The- hatte: »Was Goethe hier seinen Lesern mitteilt, ist
resia von Falkenstein, der sich – so hieß es – in Müller nichts Geringeres als die fundamentale Einsicht, daß
wegen dessen Schriften verliebt hätte. Obwohl die Be- die von Goethe inaugurierte Klassik ihr Schönheitside-
ziehung, die sich daraus entspann, nur in Briefen statt- al einem Homosexuellen verdanke, der es so nur ent-
fand, musste der öffentlich bloßgestellte Müller seine wickeln und eindringlich darstellen konnte, weil er ho-
Stelle in Wien aufgeben, nachdem der Betrug bekannt mosexuell war« (Derks 1990, 208). In seiner positiven
68 II Systematische Aspekte

W.-Bewertung bekämpft Goethe neuere moralisieren- Zeitgenosse, Karl Heinrich Ulrichs, der das Wort »Ur-
de Tendenzen, die zum Beispiel in der Behandlung ning« dem »Homosexuellen« vorzog, schließt auch W.
Müllers nach seinem Skandal auftauchten. Daniel Wil- in jenem Begriff ein (Ulrichs 1994, VII,2, 131). Inte-
son legt überzeugend dar, dass Goethe seinen Aufsatz ressanterweise verlässt sich Ulrichs auf die dreibändi-
zum Teil aus Empörung über Müllers Schicksal schrieb: ge W.-Biographie von Carl Justi, die 1866 bis 1872 er-
»Als Goethe die schändliche Ausgrenzung miterlebte, schienen war und auch manchmal W.s Liebe zu Män-
die ein Männerliebhaber seiner Bekanntschaft zu erlei- nern erwähnt (Ulrichs 1994, X, 6).
den hatte, gab er seine Diskretion auf, ergriff Partei und Für Ulrichs war ein »Urning« wie W. eine weibliche
erhob seine Stimme« (Wilson 2012, 135). Es ist wahr- Seele in einem männlichen Körper. Sexologen wie Ri-
scheinlich, dass Goethes Aufsatz W.s Ruf vor den chard von Krafft-Ebing und Magnus Hirschfeld haben
Schmähungen prüderer Zeiten geschützt hat. mit diesem Verständnis von homosexueller Begierde
In anderen Texten, die zwar allgemein wenig be- weitergearbeitet. Hirschfeld führte W.s Deutung der
kannt, aber für die heranwachsende homosexuelle griechischen Statuen wenigstens zum Teil auf seine
Emanzipationsbewegung zunehmend zentral waren, »urnische« – beziehungsweise weibliche – Begierde
taucht W. regelmäßig auf. Der Diplomat und Kunst- zurück (Hirschfeld 1914, 101–102).
historiker Ramdohr findet bei W. Spuren einer »Ge- Während Ulrichs und Hirschfeld die Weiblichkeit
schlechtssympathie« zwischen Männern: »Es ist schon von »Urningen« wie W. betonten, hoben andere Auto-
oft gesagt, daß der verewigte Winkelmann bey seiner ren umgekehrt die Männlichkeit von männerlieben-
enthusiastischen Anhänglichkeit von zarten männ- den Männern hervor. Im Jahre 1900 zitierte Elisar von
lichen Schönheiten den Einfluß der körperlichen Ge- Kupffer, ein führender Denker dieser sogenannten
schlechtssympathie dunkel empfunden habe« (Ram- Maskulinisten, zustimmend Goethes Zitat über W.s
dohr 1798, II, 134). »Schande über den«, fährt er fort, Männlichkeit in der polemischen Einleitung zu seiner
»der hier schändlich muthmaßet! Es geschah unbe- Sammlung von Literatur über die mannmännliche
fangen, es geschah öffentlich« (Ramdohr 1798, II, Liebe, Lieblingminne und Freundsliebe in der Weltlitte-
134). Während Ramdohr die Existenz dieser »Ge- ratur (Kupffer 1995, 16). Im selben Manifest findet
schlechtssympathie« anerkennt, ist er weniger kon- man längere Stellen aus W.s Briefen an Berg und aus
sequent in der Beantwortung der Frage, ob man den Goethes W.-Aufsatz. Neben kriegerischen Fürsten wie
»dunklen Trieb« befriedigen dürfe. Eindeutig stimmt Alexander dem Großen und Friedrich dem Großen
er jedoch mit Goethe überein, dass W.s Sexualität für stand W. – nicht zuletzt dank Goethes Bemerkungen –
seine Arbeit wichtig war, gerade weil er sich öffentlich als einer der männlichen Männer, die Männer liebten.
in den Briefen und in den Werken zu ihr bekannte. Ob – wie bei Ulrichs und Hirschfeld – als weiblich
Im Gegensatz zu Ramdohr verteidigt Heinrich Empfindender oder – wie bei Kupffer – als männlich
Hössli vehement die »griechische Liebe« und ihre Gesinnter, W. war bald fest situiert im homosexuellen
Auslebung in seinem zweibändigen Eros. Die Männer- Kanon. Sein Name ist Standardbestandteil von Auf-
liebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Er- zählungen berühmter Homosexueller. Der gefeierte
ziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten englische Literaturwissenschaftler A. L. Rowse wid-
(1836/38), einem der ersten deutschsprachigen Wer- met W. einige Seiten in seiner Untersuchung Homo-
ke, die das Thema der mannmännlichen Liebe aus- sexuals in History (1977). Im Katalog zur bedeutenden
führlich behandeln. In Eros zitiert Hössli W. wieder- Ausstellung von Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwu-
holt als Experten für die Griechen, die er als moralisch lenbewegung (1997) wird der Kunsthistoriker eben-
und ästhetisch überragend ansieht, trotz oder viel- falls erwähnt: »Winckelmanns erotisches Interesse an
mehr wegen ihrer Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Jünglingen war den Zeitgenossen durchaus bekannt
Liebe. Laut Hössli haben nur »Winckelmann und Sei- und fand als Motor seiner wissenschaftlichen For-
nesgleichen« »die jungfräuliche Männlichkeit« der schung Niederschlag in seinen Beschreibungen der
Griechen verstanden, »welche ohne den Eros und sei- Antike« (Hingst/Herzer 1997, 24–25). In den Medien
ne Natur in der Sphäre der Kunst und Wissenschaft bleibt W.s Rolle in der Etablierung einer modernen
uns ein so seltsames Unding ist« (Hössli 1996, II, 325). homosexuellen Kultur unangefochten: Tilman Krause
Karl Maria Kertbeny, der 1869 als erster das Wort zum Beispiel formulierte 2015 in der Welt in einem
»homosexuell« in einer Veröffentlichung gebraucht, kurzen Überblick über die Geschichte der gleich-
führt W. mehrmals in seinen Katalogen bekannter geschlechtlichen Liebe: »Mit Winckelmann kam der
Homosexueller auf (Kertbeny 2000, 120; 289). Sein Durchbruch« (Krause 2015).
8 Winckelmann – Homosexualität, schwule Kultur, Queer Theory 69

losophischen Schriften (1775) lesen konnte. Wie jene


Winckelmann und die Geschichte der Sexualität
Philosophen betont W. schon 1755 in den Gedanken
In dieser kanonischen Rolle etablierte der »Mythos über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der
W.« einige feste Tropen über die mannmännliche Lie- Mahlerey und Bildhauer-Kunst die Bedeutung der
be, die historisch bestimmend wurden. Beispiele sind Gymnasien in der altgriechischen Kultur, wo die jun-
die Verbindungen zwischen Homosexualität auf der gen Männer vor den Augen ihrer Lehrer nackt trai-
einen, Italien, der Klassik, und dem Tod auf der ande- nierten: »Die Schule der Künstler war in den Gymna-
ren Seite. sien, wo die jungen Leute, welche die öffentliche
W.s Lebensgeschichte verfestigte in der nordeuro- Schamhaftigkeit bedeckte, gantz nackend ihre Leibes-
päischen Imagination die Assoziation gleich- Übungen trieben. Der Weise und der Künstler gien-
geschlechtlicher Liebe mit dem Mittelmeer-Raum, gen dahin: Socrates den Charmides, den Autolycus,
insbesondere mit Italien. In der Tat muss Italien im den Lysis zu lehren; ein Phidias, aus diesen schönen
18. Jh. eine Offenbarung gewesen sein. Leppmann be- Geschöpfen seine Kunst zu bereichern« (KS 33).
schreibt, wie zu W.s Zeit nordeuropäische Touristen Diese antike Tradition verlieh der homosexuellen
erstaunt über die athletischen männlichen Neapolita- Emanzipationsbewegung Rechtfertigung und Würde.
ner nach Hause schrieben, die nackt am Strand liefen In der ersten Hälfte des 19. Jh. behandelte Hössli in
und spielten (Leppmann 1970, 172). Am 29. Dezem- seinem Eros den Diskurs der »griechischen Liebe«;
ber 1787 schickte Goethe dem Herzog Carl August aus 1896 betitelte Hirschfeld sein erstes Buch Sappho und
Italien einen Brief, der »ein sonderbar Phänomen« er- Sokrates oder wie erklärt sich die Liebe der Männer und
wähnt: »die Liebe der Männer untereinander«. Wie er Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts. Wie ande-
berichtet, sah er »die schönsten Erscheinungen davon, re fand Hirschfeld das Prestige der antiken Welt wich-
welche wir nur aus griechischen Überlieferungen ha- tig, wenn er über die gleichgeschlechtliche Liebe
ben [...] hier mit eignen Augen«, und schließt: »Es ist schreiben wollte. Auch im 20. Jh. wurde Bahnbre-
eine Materie von der sich kaum reden, geschweige chendes in schwullesbischen Studien und Queer
schreiben läßt« (Goethe 1968, II, 75). Neben den Mög- Theory (z. B. David Halperins One Hundred Years of
lichkeiten, in Italien relativ frei zu leben, gab es histori- Homosexuality and Other Essays on Greek Love, 1990)
sche Exempla: die männerliebende Seite von Renais- oft zuerst im Bereich der Altertumswissenschaft ver-
sance-Künstlern wie Michelangelo, Leonardo, Cellini öffentlicht.
und Caravaggio waren bekannt. Es war kein Zufall, Auch W.s Tod trug, laut Wolfgang von Wangen-
dass W. in Italien Männer wie den Baron Stosch traf. heim, zum Aufbau des Klischees »vom gewaltsamen
Auch nach W.s Tod blieb Italien anziehend: Der Dich- Tod des Homosexuellen« bei (Wangenheim 1997,
ter August von Platen-Hallermünde, von dem schon 467). Potts bemerkt, dass man noch im 20. Jh. auf W.s
Heinrich Heine behauptet hatte, er liebe Männer, zog Tod verwies, als der schwule Regisseur Pier Paolo Pa-
nach Italien. Der »urnische« Aktivist Ulrichs ver- solini bei einer sexuellen Begegnung von einem jun-
brachte seinen Lebensabend in Neapel. Thomas Mann gen Mann ermordet wurde (Potts 1994, 17). Tatsäch-
verewigte die Verbindung zwischen gleichgeschlecht- lich erfuhr man von gleichgeschlechtlicher Liebe oft
licher Begierde und Italien 1912 in seiner Novelle Der vor allem im Zusammenhang mit Skandalen: Mord,
Tod in Venedig, die ihrerseits künstlerische, literarische Selbstmord und Hinrichtung. Hössli schrieb seinen
und filmische Nachwirkungen entfaltete. Eros, nachdem Franz Desgouttes zum Tod durch Rä-
Italiens antike Vergangenheit und Verbindungen dern verurteilt worden war, weil dieser seinen Gelieb-
zum klassischen Griechenland machten für W. einen ten Daniel Hemmeler ermordet hatte. 1853 beschäf-
Teil der Bedeutung des Landes aus. Schon zu seiner tigte sich Hieronymus Fränkel in der Medizinischen
Zeit konnte man nämlich in der Altertumswissen- Zeitung mit Süsskind Blank, einen Mann, der Selbst-
schaft direkt und ohne Kritik fürchten zu müssen über mord beging, um der Bestrafung seiner Wünsche zu
die mannmännliche Liebe schreiben. W.s Aufsätze entgehen, weibliche Kleidung zu tragen und sich als
nehmen die Theorien über die gleichgeschlechtliche Frau zu präsentieren. Auf Thomas Manns Tod in Vene-
Liebe vorweg, die man bei Voltaire in seinem Aufsatz dig folgten viele weitere literarische Werke, in denen
über die »amour socratique« im Dictionnaire philoso- Homosexuelle gewaltsam zu Tode kommen: vom
phique (1764) oder bei dem deutschen Professor schönen Italiener Giovanni in James Baldwins Gio-
Christoph Meiners in seinen »Betrachtungen über die vanni’s Room (1956), der hingerichtet wird, bis zum
Männerliebe der Griechen« in den Vermischten phi- ästhetisch sensiblen Vater in Alison Bechdels Fun
70 II Systematische Aspekte

Home (2006), der sich seiner Homosexualität wegen er überhaupt die Geschlechterordnung ändern möch-
das Leben nimmt. Nicht anders ist es im Film: Schon te. Ist seine Vorliebe für männliche Figuren nicht eine
1919 begeht der homosexuelle Held des Films Anders Bestätigung des Patriarchats? Und seine Ideale männ-
als die Anderen (an dem auch Hirschfeld mitarbeitete) licher Schönheit, die er in den Statuen des Apoll, des
Selbstmord, weil sein Ruf und seine Karriere wegen ei- Laokoon und des Antinoos findet – haben sie nicht
nes Skandals mit einem jungen Mann ruiniert waren. normierenden Charakter? Der Historiker George
Die Berichte über W.s Leben und Tod, so darf man Mosse behauptet, dass W. zur Etablierung der moder-
vermuten, wirkten an der Etablierung des Mythos von nen Ideale von Männlichkeit – als da sind »the clean-
der tödlichen homosexuellen Begierde mit. cut Englishman or the all-American boy« – beitrug
(Mosse 1996, 32). W. fordert ein exklusives Ideal
männlicher Schönheit und will eine Disziplin des
Winckelmann und die Queer Theory
Körpers einführen, die offenbar keine Ausnahmen für
Während W.s Leben und Arbeit die Geschichte der das Individuum erlaubt, wie man sieht, wenn er die
Homosexualität aktiv beeinflusst haben, bleiben sie Spartaner lobt: »Die jungen Spartaner musten sich alle
heute noch wichtig für die Queer Theory, die die Se- zehen Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die de-
xualität aus der Perspektive der Geschlechterstudien nenjenigen, welche anfiengen fett zu werden, eine
und postmodernen Literaturtheorie untersucht. Wie strengere Diät auflegten« (Gedancken1, KS 31). Hier
Potts wiederholt befindet, unterstreicht W. nicht nur scheint es keinen Platz für Außenseiter zu geben, die
die fortschrittliche Seite der Aufklärung, sondern nicht von vorbildlicher Schönheit sind.
auch deren Grenzen (Potts 1994, 6, 26). Manchmal Auf der anderen Seite hat W. jedoch immer wieder
sind diese ›positiven‹ und ›negativen‹ Seiten eng mit- das Androgyne als Schönheitsideal hervorgehoben.
einander verbunden. Diese dekonstruktivistische Wie Catriona MacLeod betont, feiert er die zierliche,
Sicht auf die Dialektik der Aufklärung ist heutzutage fast weibliche Schönheit der Epheben. Noch mehr: er
relevant für wissenschaftliche Diskussionen über Se- besteht darauf, dass unbestritten männliche Figuren
xualität. Die Ideen führender Wissenschaftler wie Ju- wie der Torso im Belvedere nicht übertrieben viril
dith Butler und David Halperin lassen sich auf W.s sind (MacLeod 1998, 35). Nicht nur theoretisch, son-
Schriften anwenden. dern auch persönlich scheint W. das Androgyne vor-
Grundlegend für W.s Theorien ist das Paradoxon, gezogen zu haben. Im Brief vom 9. Juni 1762 an seinen
das er 1755 in seinen Gedancken über die Nach- geliebten Berg zitiert er Abraham Cowleys Gedicht
ahmung der griechischen Wercke formuliert: »Der »Platonic Love« in englischer Sprache:
eintzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, un-
nachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Al- I thee both as man and woman prize
ten« (KS 29). W. zufolge müssen wir nachahmen, For a perfect love implies
wenn wir überhaupt das Nachahmen hinter uns las- Love in all capacities (Br. II, 232)
sen wollen. In ihrer enorm einflussreichen Abhand-
lung Gender Trouble: Feminism and the Subversion of W.s persönlicher und geistiger Einsatz für die Mann-
Identity von 1990 besteht Judith Butler darauf, dass weiblichkeit spricht gegen die Behauptung, er wolle an
Signifikation immer eine Zuweisung von Bedeutun- der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Mann
gen oder ein »Prozess der Wiederholung« sei (Butler und Frau festhalten.
1999, 185). Es ist also nicht möglich, Strukturen der Nicht nur das Objekt von W.s Begierde war andro-
Sexualität neu zu entwerfen, weil man schon in einer gyn: In der Geschichte der Kunst des Alterthums ver-
von herkömmlichen Geschlechterrollen geprägten gleicht er seine subjektive Position gegenüber der anti-
Welt lebt. Laut Butler und W. ist die Frage nicht, ob ken Kunst mit der Perspektive der liebenden Frau, die
man nachahmt, sondern wie (Butler 1999, 189). Wie sich nach ihrem davonsegelnden Liebhaber sehnt:
Richter schreibt, legt W.s Theorie der Nachahmung »Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur einen
eine Neubewertung der Mimesis von der Queer Schattenriß von dem Vorwurfe unsrer Wünsche üb-
Theory her nahe (Richter 1996, 39). rig; aber desto größere Sehnsucht nach dem Verlor-
Butler möchte erfahren, ob es auch eine subversive nen erweckt derselbe« (SN IV,1, 838–839). Wie Potts
Wiederholung oder Nachahmung gibt, die die Ge- bemerkt, gibt es eine Reihe von Interpretationen die-
schlechterordnung umstellen könnte (Butler 1999, ses Geschlechtertausches, die alle dazu führen, die sta-
40–41). Mit Blick auf W. fragt man sich hingegen, ob bile Trennung zwischen den Geschlechtern zu unter-
8 Winckelmann – Homosexualität, schwule Kultur, Queer Theory 71

minieren (Potts 1994, 49). Trotz oder vielleicht sogar mosexuellen sowie Heterosexuellen – gewisse Stereo-
wegen seiner Neigung zur männlichen Schönheit typen über die gleichgeschlechtliche Liebe entstanden
schwanken die Grenzen zwischen den Geschlechtern sind, die diesen Konflikt reflektieren: Klassenunter-
in W.s Texten. schieden zum Trotz treffen sich Homosexuelle in den-
Bei W. ist überhaupt eine Spannung zwischen dem selben Lokalen und bedienen sich einer ähnlich iro-
Objektiven und dem Subjektiven zu beobachten, die nischen Kritik der heterosexuellen Gesellschaft; auf
einige Aspekte der heutigen Queer Theory vorweg- der anderen Seite unterscheiden die Homosexuellen
nimmt. Auf der einen Seite scheint W.s Klassizismus unerbittlich zwischen den wenigen schönen Männern
auf objektiven Maßstäben zu ruhen. Es ist bekannt, und den anderen, die diese Qualität nicht aufweisen,
dass W. manche Völker – übrigens nicht nur die und etablieren rigoros Grenzen des Geschmackskon-
Griechen – für absolut schöner hält als andere: »Es formen (Halperin 2012, 191, 226). Natürlich sind das
sind ja noch itzo gantze Völcker, bey welchen die nur Klischees, aber eben Klischees, die eine gewisse
Schönheit sogar kein Vorzug ist, weil alles schön ist. Kultur definieren.
Die Reise-Beschreiber sagen dieses einhellig von den Ähnlich einander entgegengesetzte Ideen findet
Georgianern, und ebendieses berichtet man von den man bei W., der sich bewusst mit den »Dichotomien
Kabardinski, einer Nation in der Crimischen Tata- der Freiheit«, wie Potts schreibt, auseinandersetzte
rey« (Gedancken, KS 32). W.s Betonung des guten (Potts 1994, 54). Auf der einen Seite feiert W. die
Geschmacks scheint klar zu machen, dass es objekti- Freiheit als notwendig für den künstlerischen und
ve Regeln gibt, die bestimmen, ob etwas schön ist philosophischen Aufschwung der Griechen: »In Ab-
oder nicht. sicht der Verfassung und Regierung von Griechen-
Auf der anderen Seite findet man ein gewisses Maß land ist die Freiheit die vornehmste Ursache des Vor-
an Subjektivität in seinen Urteilen. W. schreibt, dass zugs der Kunst. Die Freiheit hat in Griechenland alle
der Zuschauer »beinahe selbst« die Schmerzen Lao- Zeit den Sitz gehabt« (Geschichte1, SN IV,1, 218–
koons empfindet (KS 43), was auf eine subjektive 219). W. besteht auch darauf, dass er im Vergleich
Identifikation mit dem Kunstwerk hindeutet. Seine mit seinen Erfahrungen in Deutschland im päpst-
Kritiker wie auch seine Bewunderer haben seinen lichen Rom größere Freiheit genieße. Auf der ande-
»Enthusiasmus« als Anzeichen persönlicher Begier- ren Seite lebte er von reichen Mäzenen, die ihn an-
den und Gefühle gedeutet. Andererseits hat ein Kunst- stellten, um ihre Sammlungen zu ordnen und ihre
werk nicht für jeden dieselbe Bedeutung: Die All- Bibliotheken zu verwalten. In der Abhandlung von
gegenwart der Schönheit bei gewissen Völkern z. B. der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der
hat zur Folge, dass sie die Schönheit gar nicht wahr- Kunst, die er seinem geliebten Berg widmete, räumt
nehmen. Für viele – nicht nur sexuelle – Minderheiten er ein, dass ein Adept der Kunst »Mittel, Gelegenheit
ist es wichtig, zu betonen, wie etwas aus einer be- und Muße« haben muss, was diejenigen ausschließt,
stimmten Perspektive aussieht. Diese subjektive Per- »welche nur um ihr notdürftiges Brot lernen, und
spektivierung charakterisiert die Queer Theory z. B. weiter nicht hinaus denken können« (KS 220). Die-
eines Wayne Koestenbaum, der die Oper neu und ser Satz, der vor allem im Licht von W.s eigener be-
»verquer« aus einer schwulen Perspektive beobachtet. scheidener Herkunft hart klingt, lässt sich am besten
Ähnlich besteht der Romanist James Creech auf sei- durch die Spannung zwischen dem Demokratischen
nem Recht, seine Einsichten als schwuler Wissen- und dem Aristokratischen erklären, die Halperin als
schaftler in seine Interpretationen einzubeziehen typisch für die moderne homosexuelle Kultur an-
(Creech 1997, 250). Bei W. findet man eine Bereit- sieht. Für Diskussionen über Themen wie die Nach-
schaft, die Antike einerseits streng sachlich und wis- ahmung von Geschlechternormen, die Normalisie-
senschaftlich zu untersuchen, aber andererseits tief rung der männlichen Schönheit, die Subjektivität des
persönlich für sich in Anspruch zu nehmen. Zuschauers und das Verhältnis zwischen Kunst und
Auch David Halperin beschreibt die Tradition mo- Politik bildet W. bis heute einen fruchtbaren Gegen-
derner schwuler Kultur, gegebene Kunstformen zu stand. Die anhaltende Relevanz seiner Schriften steht
vereinnahmen, um die eigenen Gefühle auszudrü- wohl auch im Zusammenhang mit seinem Status in
cken. In dieser Kultur, die sich wohl etwa um W.s Zeit der Geschichte der Homosexualität und dem Kanon
auszubilden beginnt, findet Halperin eine Spannung berühmter Homosexueller, die ihrerseits auf die Spu-
zwischen dem Demokratischen und dem Aristokrati- ren der mannmännlichen Liebe im 18. Jh. zurück-
schen. Halperin und andere zeigen, wie – unter Ho- verweisen.
72 II Systematische Aspekte

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9 Kunstsammlung und Kunsthandel in Winckelmanns Welt und in seinem Werk 73

9 Kunstsammlung und Kunsthandel len Teilen Europas kamen. Während sich antike Ar-
in Winckelmanns Welt und in chitekturmonumente in verfallenem Zustand befan-
den, wurden fehlende Teile bei den in Palästen stehen-
seinem Werk den Statuen fast immer ergänzt, so dass sie die Illusion
lebendiger Gegenwärtigkeit vermittelten. Die Harmo-
Die Situation in Rom
nie jener Figuren und die Eleganz ihrer Bewegungen
In den Jahren, in denen W. in Rom lebte und arbeitete, setzten gemeinsam mit den Mythen und Geschichten,
von Ende 1755 bis zu seinem Todesjahr 1768, erfreute auf die sie sich bezogen, eine Rückkopplung zwischen
sich die päpstliche Hauptstadt mehr denn je einer Art den Absichten der ›Modernen‹ und den ethischen
mythischer Aura als »Stadt der Seele«, als »wieder- Werten einer weit zurück liegenden, idealisierten Ver-
gefundene Heimat«. Sie war seit geraumer Zeit ein un- gangenheit in Gang. »Umgeben von antiken Statuen,
abdingbares Reiseziel für alle Personen gehobenen empfindet man sich in einem bewegten Naturleben,
Ranges oder auch nur mit höheren intellektuellen In- man wird die Mannigfaltigkeit der Menschengestal-
teressen. Die Stadt präsentierte sich innerhalb der au- tung gewahr und durchaus auf den Menschen in sei-
relianischen Mauern als ein außergewöhnliches Pa- nem reinsten Zustande zurückgeführt, wodurch denn
limpsest aus Architekturen jeder Epoche und jeden der Beschauer selbst lebendig und rein menschlich
Typs. Prächtige Paläste teilten sich die Fläche mit klei- wird« (Goethe 2010, 545). So drückte es im April
neren Häusern des einfachen Volks, mit Ruinen und 1788, nur etwa 15 Jahre nach W.s Tod, Goethe in den
religiösen Bauwerken. Wohngebäude beanspruchten Notizen aus, die er während seiner Italienischen Reise
nach wie vor nur einen Teil des Geländes innerhalb anfertigte.
der Stadtmauern. Viel Raum nahmen Gemüsegärten Die in Rom im 18. Jh. entstandenen Sammlungen,
und Weingärten ein, die ebenfalls von Ruinen, Villen die von ihren Eigentümern bereitwillig den Intellek-
und Hütten durchsetzt waren. Die meisten Bauwerke tuellen und Reisenden zugänglich gemacht wurden,
trugen die Spuren jahrhundertelanger Schichtungen, stellten das bedeutendste Korpus damals bekannter
mit Ausnahme jener Paläste von Patriziern und Kleri- Werke der antiken Welt dar. Auch die ästhetischen Re-
kern, die – vor allem im 17. Jh. – auf Kosten angren- geln der modernen Kunst hatten sich an jenen exem-
zender Gebäude vergrößert worden waren und ein plarischen Objekten gemessen.
feierliches und stilistisch homogenes architekto- Viele Sammlungen waren das Ergebnis von Ankäu-
nisches Gewand zeigten. Darüber hinaus erhielt die fen vorangegangener Jahrhunderte, andere hingegen
Stadt im 18. Jh. spektakuläre Freitreppen (Trinità dei waren Frucht jüngerer Initiativen oder auch radikaler
Monti), imposante Brunnenanlagen (Fontana di Tre- Umgestaltungen beim Ausbau eines Adelspalastes.
vi) sowie völlig erneuerte Kirchenfassaden (San Gio- Nach der Wahl eines Familienmitglieds zum Papst er-
vanni in Laterano oder Santa Croce in Gerusalemme, fuhr eine Sammlung fast immer eine unvorhergesehe-
um nur zwei Beispiele zu nennen). In dieser Mischung ne Erweiterung. Dieses galt für die Vergangenheit
aus Altem und Neuem befanden sich nahezu alle anti- ebenso wie für das 18. Jh. Daneben gab es auch Samm-
ken Bauwerke, die die Barbareneinfälle und die christ- lungen, die sich den kulturellen Interessen eines ho-
lichen Umwidmungen überstanden hatten, in einem hen Prälaten verdankten oder von Künstlern zusam-
Zustand leichter Verwahrlosung. Die Baudenkmäler mengestellt wurden, die etwa in den aufblühenden
waren zum Teil durch Kulturschutt im Boden versun- Antiken-Handel eingebunden waren. In solchen Fäl-
ken, zum Teil umgebaut, um vorübergehend als Werk- len blieben die Sammlungen oft nur zu Lebzeiten ihrer
stätten, Ställe, Heuschober und zu anderen Zwecken Schöpfer intakt und verteilten sich danach auf andere
zu dienen. Selbst Stätten wie den Foren, dem Kolos- neue oder alte Sammlungen. Gerade die neu angeleg-
seum und dem Marcellus-Theater blieb dieses Schick- ten Sammlungen zeigten eine deutliche Übereinstim-
sal nicht erspart, obwohl sie stets Ziel regelrechter mung mit den neuesten ästhetischen und/oder his-
weltlicher Wallfahrten und Gegenstand gelehrter Un- torischen Anforderungen (vgl. Pomian 2004, 155–
tersuchungen oder gemalter und gestochener Repro- 156; Piva 2014).
duktionen waren. Als W. im November 1755 als Bibliothekar des Kar-
Vor diesem Hintergrund übte die Sammelleiden- dinals Albani in Rom eintraf, geriet er mitten in den
schaft, die die Adelspaläste mit antiker Kunst füllte, ei- Aufbau der Antikensammlung des Kardinals und
nen starken Reiz sowohl auf die kulturinteressierten wurde sein Berater. Der hochgestellte Prälat, ein Neffe
Römer als auch auf die vielen Besucher aus, die aus al- von Papst Clemens XI. (1700–1721), hatte bereits zwei

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_9, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
74 II Systematische Aspekte

andere Sammlungen angelegt und verkauft. Berühmt wohnen die Loggia im Erdgeschoss, Dichter und Phi-
war er auch für seine Entschlossenheit, jedes Frag- losophen das Casino, olympische Götter die Exedra
ment aufzunehmen, das ihm zum Aufkauf in die Hän- und die Räume des Piano nobile, die auf den Garten
de fiel: »Der Kardinal Alessandro Albani ist gegenwär- gehen. Doch obwohl die Grundidee mit großer Wahr-
tig der Chefreparateur der Antike. Selbst die am scheinlichkeit W.s Maßgaben folgte, lässt sich in der
schlimmsten beschädigten und entstellten und die am Gesamtheit der Anlage die »Edle Einfalt und stille
wenigsten wiederherstellbaren Stücke nehmen bei Größe« (Gedanken2, 24 und passim) nicht erkennen,
ihm den Glanz ihrer Entstehungszeit wieder an; er jene Idee, die dem Archäologen so sehr am Herzen
macht alles neu: das Fragment einer Büste, das, sogar lag. Die Zurschaustellung der Schönheit und der Voll-
vollständig, für alle Antiquare ein völlig unbekannter kommenheit bildeten den Kern des Ausstellungspro-
Kopf gewesen wäre, bekommt von ihm, zusammen jekts, aber die Überfülle der Ausstellungsstücke ver-
mit einem neuen Leben, einen Namen, der seine Zu- riet eine unbefriedigte Besessenheit, die vor allem von
ordnung festlegt.« (Grosley 1774, II, 294). seinem Schöpfer, dem Kardinal ausging.
So schrieb Pierre-Jean Grosley während seiner Abgesehen von der persönlichen Handschrift von
Grand Tour in Rom 1764 in Bezug auf die ungehemm- W.s Mäzen scheint das Konzept der Albani-Sammlung
te Unternehmungslust des leidenschaftlichen Samm- mit einer nur kurz zuvor entstandenen Sammlung an-
lers. Tatsächlich gelang es W., die Auswüchse seines tiker Skulpturen in Einklang zu stehen, mit der Samm-
Gönners einzudämmen, auch dank der kompetenten lung des Kapitolinischen Museums, das 1734 eröffnet
Zusammenarbeit mit dem bevorzugten Restaurator wurde, um Ȇbung und Fortschritt der jungen Stu-
des Kardinals, dem Bildhauer Bartolomeo Cavaceppi denten der Freien Künste zu fördern«, wie der Kurator
(vgl. Meyer/Piva 2011). Alessandro Gregorio Capponi schrieb. Das neue rö-
Alessandro Albani lebte in einem prachtvollen mische Museum war nach gleichartigen Sujets geord-
Wohnsitz in der Nähe der Porta Pia, nicht weit ent- net (vgl. Arata 1996, 75–81; Benedetti 2001). Die ein-
fernt vom Quirinalspalast. Aber bereits Ende der 40er zelnen Säle des Palazzo Nuovo (1654–1655) an der
Jahre hatte er beschlossen, für seine neue Sammlung Piazza del Campidoglio waren Philosophen, berühm-
eine Villa und einen Park ›außerhalb der Mauern‹, in ten Persönlichkeiten, Kaisern und Kaiserinnen, Göt-
der Via Salaria (vgl. Debenedetti 1985), neu errichten tern und ähnlichen Kategorien gewidmet. Die ur-
zu lassen: ein noch heute perfekt erhaltenes Ensemble. sprüngliche Anlage der in ein Museum verwandelten
Als W. in Rom eintraf, war der Bau bereits gut voran- Säle war mehr oder weniger unangetastet geblieben,
geschritten. Das Gebäude liegt noch heute mitten in abgesehen von einigen funktionellen Anpassungen.
dem Park, dessen Plan von zeitgenössischen französi- Die dort untergebrachte prachtvolle Sammlung um-
schen Modellen inspiriert war: mit Mittelachse und fasste Altertümer, die seit der Zeit von Sixtus IV. den
sternförmigen Wegen, die durch eine dichte, von klei- kapitolinischen Hügel schmückten, sowie eine reiche
nen Tempeln und falschen Ruinen durchsetzte Vege- Inschriften-Sammlung und die zweite Sammlung des
tation führten. Der Baukörper der Villa in klarer Neo- Kardinals Albani, die ursprünglich für den auslän-
Renaissance-Prägung entfaltet sich über zwei Ge- dischen Markt bestimmt war, aber dank des Eingrei-
schosse und wird von einer durchlaufenden Balustra- fens durch Papst Clemens XII. Corsini vor dem Export
de mit Statuen nach dem Vorbild der kapitolinischen gerettet wurde. Dieser sehr um die Altertümer bemüh-
Michelangelo-Paläste bekrönt. Im Innern diente eine te Papst (unter seiner Schirmherrschaft erfolgte die
genau abgestimmte Raumgestaltung dazu, eine sehr erste Restaurierung des Konstantinsbogens) entschied,
umfangreiche Sammlung von Statuen, Flachreliefs, das neue Museum der Stadt Rom zu schenken. Der Er-
Sarkophagen, kostbaren Stein-Inkrustationen, klei- folg des Unternehmens war überwältigend. Sehr leb-
nen Mosaiken, Fresken, Reliefplatten, Spiegeln und hafte Zeugnisse sind uns überliefert. Stellvertretend
Stuckarbeiten aufzunehmen, deren Fülle einen Zau- für alle sei hier der Brief von Abt J. J. Barthélemy an
ber in einem vagen Piranesi-Stil erzeugte (vgl. Bevi- den Comte Caylus aus dem Jahre 1756 erwähnt: »Das
lacqua 1993, 71–79). Die Farbe und die Pracht der ist kein Kabinett mehr; es ist der Aufenthaltsort der
zum großen Teil antiken Objekte, die sich jedoch Götter des alten Rom, die Schule der Philosophen, eine
übergangslos mit modernen Stücken mischen, be- Ratsversammlung der Könige des Orient: was sage ich?
herrschen jeden Raum. Das leitende und verbindende Ein Volk aus Statuen bewohnt das Kapitol; es ist das
Prinzip der Sammlung ist jedoch die große themati- große Buch der Antiquare.« (Barthelémy, 1802, 96).
sche Ordnung. Kaiser und bedeutende Männer be- Knapp ein Jahr zuvor hatte auch der gerade erst in
9 Kunstsammlung und Kunsthandel in Winckelmanns Welt und in seinem Werk 75

Rom eingetroffene W. die Möglichkeit gehabt, das christlichen Kunst gewidmeten päpstlichen Museums
neue Museum wegen seiner bedeutenden Sammlun- gewünscht. Im gleichen Jahr hatte er den IV. Band der
gen von Statuen und Inschriften zu preisen, die den Sculture e pitture sagre estratte da i cimiteri di Roma
Gelehrten ganz nach ihrem Belieben zur Verfügung (Bottari 1737–1754; Sakrale Skulpturen und Malerei-
standen. en aus den römischen Friedhöfen) veröffentlicht.
Wie der von Giovanni Gaetano Bottari (1741– Zur gleichen Zeit nahm ein weiteres Museum Ge-
1782) entworfene Museumskatalog zeigt, sollte die aus stalt an, das im Vergleich zu den im Kirchenstaat vor-
der Anordnung entstehende Erzählung die Geschich- herrschenden Sammlungskonzepten eher atypisch
te illustrieren. Die Werke wurden als den Schriftdoku- war: das Museum des Kardinals Stefano Borgia in
menten gleichgestellte Quellen betrachtet, die dazu Velletri (vgl. Germano/Nocca 2001; Rossi Pinelli
dienten, die Sitten und Gebräuche und den Glauben 2010).
der alten Römer kennenzulernen wie auch den Pro- Der Kardinal hatte im Kirchenstaat bedeutende
tagonisten der Römischen Geschichte ein Gesicht zu Ämter bekleidet, war zunächst Rector von Benevent,
verleihen (vgl. Rossi Pinelli 2005). Eine große Anzahl bis er 1770 Sekretär der Congregatio de Propaganda
von Skulpturen waren in hochwertigen Stichen nach Fide wurde. Er besaß eine kosmopolitische Bildung
Zeichnungen von Giovan Domenico Campiglia von und verfügte über ein dichtes Netz an kulturellen Be-
einigen der besten Kupferstecher der Zeit reprodu- ziehungen. Seine Sammlung hatte er in den 50er Jah-
ziert worden (Bottari 1741–1782; vgl. Prosperi Valenti ren mit Codices und kostbaren mittelalterlichen Do-
2005). Auch die einzelnen Bände waren nach gleich- kumenten begonnen. Dann erweiterten und differen-
artigen Sujets gegliedert und enthielten Erläuterungen zierten sich seine Interessen und richteten sich
mit der Beschreibung des jeweiligen Werks, mit der schließlich auf ausgestorbene Sprachen, mittelalterli-
Identifizierung des Sujets und mit aus entsprechenden che Malerei, antike Kunst, fernöstliche, aber auch ara-
Quellen gewonnenen Anmerkungen zum Charakter bische, ägyptische und etruskische Kunst: eine enzy-
der dargestellten Persönlichkeiten. Keine Aufmerk- klopädische Sicht auf die Kultur, die mit Methoden
samkeit wurde den stilistischen Elementen, der Tech- der Komparatistik zu untersuchen war. In den 70er
nik, dem Material und den Maßen der Werke zuteil Jahren war die Sammlung in ihrer Grundstruktur und
(vgl. Rossi Pinelli 2009). in den einzelnen, in zusammenhängende Serien un-
Die Museen und die neuen Sammlungen aus dem terteilten Abteilungen im Wesentlichen abgeschlos-
18. Jh. bevorzugten also eine thematische Anordnung. sen. Wiederum spielte der ästhetische Wert bei der
Gerade in dem Zeitraum, in dem die Albani-Samm- Auswahl der Werke, die in der Regel wie Dokumente
lung entstand und das Kapitolinische Museum geprie- behandelt wurden, nur eine geringe Rolle. Diese Aus-
sen wurde, kam es 1757 zur Einweihung des Christli- richtung knüpfte sowohl an das Kapitolinische Mu-
chen Museums im Vatikan, das Papst Benedikt XIV. seum als auch an das Christliche Museum und an viele
bei Francesco Vettori in Auftrag gegeben hatte. Dort andere, auch europäische Sammlungen an, wie dieje-
sollten visuelle Dokumente das Leben der Ur-Chris- nige des Comte de Caylus in Paris.
ten, ihre Riten und ihren Glauben erzählen. Die unter- Das Museum von Stefano Borgia gehörte also in
schiedlichsten Manufakte wurden dafür verwendet: vollem Umfang jenem Klima des fortschrittlichen
Öllampen, Glaswaren, Gefäße und Gerätschaften un- Historismus an, in dem die Altertumskunde sich mit
terschiedlichster Art, die zum großen Teil aus den Ka- Fragen von vitaler Bedeutung befasste wie der Ge-
takomben stammten. Auch mittelalterliche Gemälde schichte der Völker und der Religionen, der Verflech-
waren darunter. Dieses Museum war in seinem ge- tung von politischem Umfeld und künstlerischer Pro-
danklichen Ansatz mit den besten italienischen Ge- duktion, den Verbindungen zwischen religiösen Riten
lehrten der 40er und 50er Jahre des 18. Jh verbun- und Manufakten, zwischen Kunst und Linguistik. Es
den. So hatte Scipione Maffei 1749 Papst Benedikt waren lauter Knotenpunkte, die auch die kulturellen
XIV. den zweiten Band des Museum Veronense gewid- Interessen W.s berührten.
met, in dem er eben gerade die Schaffung eines Christ- Eine etwas andere Anlage zeigten die römischen
lichen Museums vorschlug, um anhand visueller Bei- Sammlungen älteren Datums, wie oft auch diejenigen,
spiele die Fortschritte der neuen italienischen Ge- die anlässlich der Erweiterung von fürstlichen Paläs-
schichtsschreibung sichtbar zu machen. Auch der be- ten oder bei der Verbindung aristokratischer Familien
reits erwähnte Gaetano Bottari hatte sich 1754, ein erneuert wurden. Bei diesen Sammlungen standen die
Jahr vor W.s Ankunft in Rom, die Schaffung eines der Erfordernisse der Einrichtung oder die Verherr-
76 II Systematische Aspekte

lichung von Meisterwerken im Vordergrund, wenn besondere der prachtvolle Baukörper in der Via del
auch einige Zugeständnisse an das thematische Ord- Corso, ein Werk von Valvassori, wurde durch eine
nungsprinzip gemacht wurden. großzügige Galerie verschönert, die den Kern der
Man denke nur an die vatikanische Sammlung des Sammlung aus dem 17. Jh. aufnehmen sollte. Auch in
Belvedere, die erst im letzten Viertel des Jahrhunderts diesem Fall war die Antiken-Sammlung sehr angese-
zum ›hochmodernen‹ Museo Pio Clementino wurde. hen, die Malerei jedoch bedeutender. Dennoch fanden
Seit Ende des 15. Jh. wurden in der Sammlung einige die Gelehrten auch hier Material für ihre Forschungen.
der meistgeschätzten unter den bis dahin bekannten Die unveränderten Merkmale der Sammlungen des
Meisterwerken der antiken Bildhauerei zusammen- 17. Jh. bestimmten eine weitere hochberühmte
getragen: Apollo von Belvedere, Torso, Laokoon, die Sammlung von Statuen und Gemälden, die Samm-
sogenannte Schlafende Ariadne. Ihre Aufstellung im lung der Borghese, die sich im Casino befand, welches
Museum hatte jedoch nicht zum Ziel, sprechende ›En- an der Schwelle zum 17. Jh. durch den Kardinal Sci-
sembles‹ zu schaffen, sondern vielmehr isolierte Meis- pione Borghese eigens dafür ausgestattet wurde. Der
terwerke auszustellen. Neffe von Papst Paul V. war ein instinktiver, aber sehr
In anderen Sammlungen wurde oft eine Art Kom- gelehrter Sammler und hatte eine große Zahl antiker
promiss gefunden. Die prächtige Galleria di Palazzo Skulpturen und zeitgenössischer Gemälde in dem Ge-
Colonna vom Anfang des 18. Jh. hatte z. B. eine Syn- bäude im Park der Villa Borghese vor dem Stadttor
these zwischen der Sammlungs-Tradition des 17. Jh., Porta Pinciana zusammengetragen. Schon um die
die insbesondere von den Erfordernissen der Einrich- Mitte des Jahrhunderts wurden das Casino und der
tung geprägt war, und den Ordnungskonzepten der Park gerade wegen der Sammlung antiker Skulpturen
modernen Geschichtsschreibung erreicht. Der Fami- gepriesen, aber eine strukturierte Anordnung wurde
lie Colonna gehörte ursprünglich auch der Apollo von erst anlässlich des umfassenden Neubaus realisiert,
Belvedere, der aber bereits Ende des 15. Jh. an den der von Marcantonio IV. in den letzten beiden Jahr-
Vatikan verkauft wurde. Im 18. Jh. besaß die Familie zehnten des Jahrhunderts veranlasst wurde, als sich
jedoch noch zahlreiche antike Statuen, kostbare Mar- die Aufmerksamkeit auf Chronologie und themati-
morskulpturen, Bronzeplastiken, Elfenbeinarbeiten, sche Ensembles mittlerweile verfestigt hatte.
Gemmen und Gemälde aus dem 16. und 17. Jh. Die Historische Galerien mit vielen wichtigen Werken
neue Galerie, die sich sehr umsichtig mit Malerei, waren auch die seit dem 17. Jh. hochberühmte Galerie
Stuckarbeiten, Gemälden und kostbaren Möbeln der Barberini sowie die Galerien der Chigi, der Al-
schmückte, sollte die Familien-Dynastie und ihren temps, der Altieri und der Spada. Einige von ihnen
Reichtum feiern. Dennoch waren die antiken Skulptu- waren eher wegen der Malerei aus dem 16. und 17. Jh.
ren nach Typologie und Epoche zusammengestellt. berühmt, doch alle besaßen auch antike Werke, die
Ein ähnliches Vorgehen bestimmte die Ausrich- von Gelehrten erforscht und bewundert und von
tung der Galleria Corsini (vgl. Borsellino 1995; ders Künstlern kopiert wurden.
1996). Das Vermögen der Familie ging auf das 16. Jh. Auch einige Künstler, vor allem die Restauratoren
zurück, doch der Erwerb des Palastes Riario alla Lun- und Kunsthändler unter ihnen, riefen beachtliche
gara – im Jahre 1736 – gab den Startschuss für den Sammlungen antiker Kunst ins Leben. Stellvertretend
neuen imposanten Wohnsitz und die kluge Zusam- für alle sei der bereits erwähnte Bartolomeo Cavacep-
menstellung der Sammlung. Lorenzo Corsinis Wahl pi genannt. Der Restaurator des Kardinals Albani, der
zum Papst – als Clemens XII. – vermehrte das Anse- auch W. nahe stand, hatte ein Atelier in der Via del
hen der Familie noch weiter. Die Sammlung umfasste Babbuino, wo er Hunderte von restaurierten antiken
vor allem wichtige Werke der Malerei des 17. Jh. in Werken ausstellte: Fragmente, Kopien, Gipsabgüsse,
Rom und Bologna, war aber auch wegen einer bedeu- Gemälde von Künstlern jeder Epoche, vor allem aber
tenden Serie von antiken Porträts namhafter Persön- aus dem 17. Jh., neben Drucken, Zeichnungen und
lichkeiten und wegen der Sarkophage berühmt. Medaillen (vgl. Piva 2000). W. hatte es als ein regel-
Recht ähnlich waren die Entscheidungen, die die rechtes Museum bezeichnet. Es war ein Ort, der von
Ausrichtung der Galleria Doria-Pamphili bestimmten. Fürsten, ausländischen Adligen und Gelehrten jeder
Zwischen den 1730er und den 1760er Jahren hatte der Nation aufgesucht wurde. Cavaceppis Sammlung
Palast die gegenwärtige Ausdehnung und äußere Ge- wurde nach dem Tod ihres Schöpfers verkauft. Doch
stalt erreicht (mit Ausnahme des aus dem 19. Jh. stam- es handelte sich auf jeden Fall um den ersten Embryo
menden Gebäudeteils in der Via della Gatta). Ins- einer bürgerlichen Sammlungskultur, die im Laufe des
9 Kunstsammlung und Kunsthandel in Winckelmanns Welt und in seinem Werk 77

folgenden Jahrhunderts die aristokratische Sammel- verkaufte. Die Ausfuhr der zweiten Sammlung verhin-
tätigkeit sogar noch übertreffen sollte. W. hatte seine derte Clemens XII., indem er sie für ein neues großes
Studien gerade durch die Präsenz dieser enormen Fül- Museum klassischer Skulpturen erwarb, das eigens
le an Material zur Reife bringen können. dafür im Palazzo Nuovo auf dem Kapitol geschaffen
wurde: das Kapitolinische Museum (1733–1734). Die
dritte Sammlung schließlich, die unter anderem nach
Winckelmann zwischen Schutz des Kulturguts
den Ratschlägen W.s angelegt wurde, diente Albani
und Kunsthandel
zum rein persönlichen Genuss und wurde in einer ei-
W. hatte sich gut in Rom eingelebt, als er dank der Un- gens dafür ausgestatteten Villa außerhalb des Stadt-
terstützung seines Mentors, des Kardinals Alessandro tores Porta Salaria untergebracht. Auch der vom Kar-
Albani, dessen Bibliothekar er seit 1759 war, zum dinal besonders geschätzte Restaurator, der Bildhauer
Oberaufseher der Altertümer ernannt wurde (April Bartolomeo Cavaceppi, war Sammler in eigener Sache
1763 – April 1768). Die Einrichtung dieses Amts ging und geschickter Antikenhändler (vgl. Piva 2010). So-
auf Raffael zurück, doch eine wirkliche Funktion hatte wohl Albani als auch Cavaceppi unterhielten zudem
es erst in den vorangehenden Jahrzehnten bekommen über die angelsächsischen Reisenden des Grand Tour,
– seitdem die Römische Kurie Versuche unternahm, die Rom besuchten, und die vielen englischen Künst-
die zunehmende Ausblutung durch den Verkauf von – ler, die sich in Rom zusätzlich als Agenten für den bri-
antiken und weniger antiken – Kunstwerken nach tischen Kunstmarkt betätigten, ausgezeichnete Ver-
Nordeuropa einzudämmen. Als Folge einer internatio- bindungen nach Großbritannien.
nalen Sammelleidenschaft, die in Großbritannien die Es wird selbst für eine Persönlichkeit wie W., der
höchsten Nachfragen zu verzeichnen hatte, erfuhren sich seiner Rolle sicher bewusst war, nicht einfach ge-
der Antiquitätenmarkt und der Kunstmarkt insgesamt wesen sein, Exportgenehmigungen zu verweigern.
im 18. Jh. einen wahren Boom (vgl. Coen 2010). Gleichwohl wäre es eine Vereinfachung und irrige Ak-
Alle Staaten der italienischen Halbinsel, vor allem tualisierung, wollte man sich seine Ernennung zum
aber der Kirchenstaat, bildeten ein großes Reservoir Oberaufseher der Altertümer als einen Trick vorstel-
der begehrtesten Werke. Die Aktivitäten der Sammler len, um das Valenti-Gesetz so geschickt wie möglich
konnten auch durch zahlreiche Gesetze zum Schutz zu umgehen. Im Grunde war die Ambiguität eine na-
der Kunstwerke (1701, 1704, 1717, 1726, 1733, 1750; türliche Folge der Inadäquatheit der Institutionen mit
vgl. Curzi 2011; Meyer/Rolfi Ožvald 2008) nicht ein- ihren Regelwerken, die noch mitten in der Phase des
geschränkt werden. »Betrügereien und Regellosig- Aufbaus standen, und mit ihren Verwaltungsappa-
keit« setzten sich unaufhaltsam fort, wie im letzten raten, die entweder unfähig oder schlecht strukturiert
Edikt des Kardinals Silvio Valenti Gonzaga (1750; vgl. waren. So waren z. B. die einzigen Zollbehörden, die
Emiliani 1978, 98) voller Bitterkeit eingeräumt wurde. eine effektive Kontrolle ausübten, die Zollstationen
Andererseits war der Kirchenstaat während des gan- am Fluss (in Ripetta und Ripa Grande), während die
zen 18. Jh. wegen einer anhaltenden Wirtschaftskrise Stadttore relativ leicht passierbar waren. Das Gesetz
geschwächt, was durch zwei verheerende Hungers- von Kardinal Silvio Valenti Gonzaga war sehr detail-
nöte in den 1760er Jahren noch verschärft wurde. Un- liert (vgl. Emiliani 2005) und basierte auf der Gewiss-
ter den Folgen litten auch die Patrizierfamilien, die heit, dass eben gerade das kostbare römische Kultur-
über ansehnliche, aber unproduktive Renditen ver- erbe der Grund für die Anwesenheit so vieler Auslän-
fügten. Die Krise förderte also den mehr oder weniger der in der Stadt oder im Staat war und dass es die
ungesetzlichen Kunsthandel; gleichzeitig belebten die Grundlage für jegliche kulturelle Entwicklung – sei es
zunehmend verfeinerten Kenntnisse über Altertümer der Gelehrsamkeit oder des Geschmacks – darstellte.
und Kunstwerke den Markt, aus dem umgekehrt wie- Das Gesetz sah in der Theorie sehr engmaschige
derum eine beispiellose Ausbeute an Informationen Kontrollen, weitreichende Verbote, Geld- und Leibes-
bezogen wurde (vgl. Rossi Pinelli 1978–79; Rolfi strafen sowie wechselseitige Einsprüche vor. Nach-
Ožvald 2006). dem das Gesetz erlassen war, wurden die einzelnen
Albani war bekanntlich sowohl ein leidenschaftli- Gesetzesblätter in der ganzen Stadt ausgehängt, in
cher Sammler, ein geschickter Kunsthändler als auch Gasthäusern und Kaffeehäusern, in Speiselokalen und
ein in den päpstlichen Machtapparat gut eingeführter sogar in Barbier-Läden. Und doch hatte es keinen
Mann. Er hatte drei Sammlungen antiker Werke auf- durchschlagenden Erfolg. Zum großen Teil griff die-
gebaut, deren erste er an den polnischen König (1727) ses Edikt – auch bezüglich der Strafen – die bereits im
78 II Systematische Aspekte

Albani-Gesetz von 1726 verfügten Bestimmungen de, wobei sie sowohl den oben genannten Grund
wieder auf. Die Verpflichtungen, die sich zumindest (»gut, aber nicht einmalig«) als auch viele gravierende
dem Buchstaben nach aus den zahlreichen Klauseln Ergänzungen anführten, unter anderem einen anti-
ergaben, waren recht umfangreich, aber W. erklärte, er ken, aber nicht originalen Kopf. Daher sank der finan-
brauche nicht mehr als ein Dutzend Stunden im Jahr, zielle Wert der Skulptur auf eine lächerliche Summe.
um seine Aufgabe zu erfüllen (vgl. Ridley 2000, 105). Die Vieldeutigkeit liegt meines Erachtens in der
Das war in jeder Hinsicht entschieden zu wenig. Tatsache, dass eine derartige Rechtfertigung rein
Die im Römischen Staatsarchiv verwahrten Doku- rechtlich untadelig war, da sie unendliche Male wie-
mente mit den seit 1753 erteilten Ausfuhrgenehmi- derholt und oft sogar genau dem Schatzmeister, der
gungen bezeugen sehr deutlich die Kluft zwischen der das Edikt verfasst hatte, vorgelegt wurde. Andererseits
Strenge der Edikte und der konkreten Praxis der zu- war eine antike Skulptur im Grunde nur dann wert-
ständigen Beamten. Die Nichteinhaltung von Vor- voll, wenn sie gut restauriert war und wenn das Sujet
schriften betraf alle, nicht nur W. Erst mit dem Gesetz voll und ganz erkennbar war. Der entscheidende Ver-
von 1802 und dem Oberaufseher Carlo Fea entwickel- merk, dass das Werk nicht »einmalig« war, bedeutete,
ten sich ein effizienter Apparat und eine aktive und dass es weitere Exemplare aus der gleichen ikonogra-
engmaschige Kontrolle aller Exportversuche. fischen Serie gab. In der Tat gab es eine ähnliche Venus
In den Jahren, in denen W. dieses wichtige Amt in- im Kapitolinischen Museum. Und außerdem war der
nehatte, verließ eine stattliche Zahl an Kunstwerken Käufer Giovanni [sic] Dick, ein englischer Konsul in
Rom. Gemälde des 16. und 17. Jh. wurden kistenweise der Toscana (vgl. Camerale II 1765–1766), eine hoch-
verladen: So wurden 1763 in einem einzigen Waren- gestellte Persönlichkeit, die unter dem persönlichen
posten 170 Gemälde, »Werke verstorbener Autoren«, Schutz des Großherzogs stand. Eine Verweigerung
ohne nähere Angaben nach Neapel versandt (vgl. wäre recht unhöflich gewesen.
Mazzi 2008, 29). In anderen Genehmigungen tauchen Noch im gleichen Jahr kam es zu einer weiteren
hingegen Namen wie Salvator Rosa, Mola, Veronese, Ausfuhr, die mit ähnlichen Begründungen genehmigt
Tizian, Caravaggio, Reni, Poussin oder Claude Lor- und von W. persönlich unterschrieben wurde: wieder
rain auf. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine Venus, die sogenannte Venus von Newby (vgl. Pi-
approximative Zuschreibungen. Von Pussino (wie va 2011). Ein geschickt umgewandelter Torso, ein er-
Poussin geschrieben wurde) werden möglicherweise folgreicher Restaurator, Cavaceppi, ein äußerst ge-
sogar zu viele aufgelistet. Gleichzeitig verließen auch schickter Vermittler, Gavin Hamilton, eine Familie
antike Statuen, Bronzefiguren, Mosaiken, Fragmente unter Druck, die Barberini, ein weiterer sehr gut ein-
jeder Art, Architekturornamente und wertvolle Mar- geführter englischer Agent – und schon kommt der
morarbeiten die Stadt. Torso als Venus in Großbritannien an, die dort für
Die im Camerale II Antichità e Belle Arte (heute im 1600 Scudi erworben wird, während sie als Fragment
Römischen Staatsarchiv) verwahrten Dokumente für 300 Scudi gekauft wurde. So konnte sie mit W.s
scheinen formal untadelig zu sein. Der Grund dafür, Genehmigung, die auf den Wert des Fragments aus-
dass viele »Lizenzen« leicht zu erhalten waren, lag in gestellt war, die Grenze passieren, wobei die gleichen
einer impliziten Vieldeutigkeit, die in den Texten der Kriterien wie bei der anderen Skulptur angewendet
Edikte nur schwer zu entdecken, aber offensichtlich wurden.
allgemein verbreitet und in der gemeinsamen Kultur Man könnte Betrug und bösen Willen vermuten, so
verwurzelt war. W.s bevorzugte Formulierung, mit der kontinuierlich sind die Fälle der angesichts der zeitge-
er seine unanfechtbare Entscheidung ausdrückte, war nössischen Edikte unglaublichen Exporte. Aber es gab
»gut, aber nicht einmalig« (vgl. Camerale II 1765– sie auch vorher, als das Albani-Edikt noch galt und es
1766: »bono, ma non singolare«). So erteilte er zum auch dem Kardinal Ottoboni gelang, eine frisch aus-
Beispiel 1765 die Ausfuhrgenehmigung für eine »Ve- gegrabene Venus 1718 nach Russland reisen zu lassen,
nere, nuda, antica, di ottima maniera greca« (dies sind ein Jahr nach dem Edikt des Schatzmeisters Giovan
seine eigenen Worte; »antike nackte Venus in bester Battista Spinola zum »Verbot der Ausfuhr von Statuen
griechischer Manier«), deren Wert mit 300 Scudi be- aus Marmor oder Metall, Figuren, Altertümern und
ziffert und die als »wunderschön« bezeichnet wurde. Ähnlichem« (»Proibizione sopra l’ estrazione di statue
Der Aufseher für Bildhauerei Pietro Bracci und W. di marmo o metallo, figure, antichità e simili«). Der
verfassten einen langen Rechenschaftsbericht, in dem unglückselige Aufseher war damals Francesco Bartoli
der Passierschein für die Skulptur gerechtfertigt wur- (von 1700 bis 1733): Er hatte die Skulptur beim Zoll
9 Kunstsammlung und Kunsthandel in Winckelmanns Welt und in seinem Werk 79

beschlagnahmt, aber Kardinal Ottoboni war an einem Germano, Anna; Nocca, Marco (Hg.): La collezione Borgia.
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80 II Systematische Aspekte

10 Klassizistische Kunst- 1985). Um die deutsche Entwicklungslinie zu verfol-


programmatik vor und zur Zeit gen, die sich um die Disegno-Theorie entwickelt hat,
zeigen die abschließenden Überlegungen (3b), welche
von Winckelmann Bedeutung der Kontur in seinen Variationen als »In-
dex kulturgeschichtlicher und sozialhistorischer
Vorwort
Komponenten« (Kurbjuhn 2014, 218 f.) für W.s klassi-
W.s Anliegen in der Geschichte der Kunst war es, das zistische Kunstauffassung bekommt. Der letzte Teil ist
Studium der griechisch-römischen Schriftquellen einem Ausblick auf die Kunstauffassungen um W. ge-
durch dasjenige antiker Fundstücke zu ergänzen, zu widmet.
berichtigen und zu bestätigen. Von welcher methodo-
logischen Bedeutung die Geschichte der Kunst des Al-
Klassizismus und Classique
terthums ist, wurde schon früh hervorgehoben (etwa
in Goethes Schrift von 1805 W. und sein Jahrhundert). Betrachten wir Definitionen und Differenzen von
W. gilt als derjenige, der verstanden hat, dass die anti- »klassisch«, »Klassik« und »Klassizismus« (Voßkamp
ken Kunstwerke auf der Basis ihrer Entstehungszeit 2001, 289–305) und die wechselseitigen Beziehungen
und ihres Stils beurteilt werden müssen, und der da- dieser Konzepte: Der Begriff des »Klassischen« be-
mit die antiquarische Forschung epistemologisch re- kommt eine eigene Dignität im Kontext der Querelle
volutionierte. Vor W. hatte schon Caylus die Differen- des Anciens et des Modernes, die sich zwischen dem
zen im Kunststil der antiken Völker anerkannt und in 17. und 18. Jh. entwickelt. Seit dieser Zeit wird die
der Kreuzung der Künste verschiedener Nationalkul- griechisch-römische Periode in ihrem antithetischen
turen einen Vorteil gesehen, statt den Verlust an stilis- Verhältnis zur modernen Welt als »klassisch« bezeich-
tischer Reinheit zu bedauern (Décultot 2007, 54–58). net. Voßkamp hebt andererseits hervor, dass »Klassik«
W. verbindet in der Geschichte der Kunst aus historio- »Kanonisierungsvorgänge im Sinne des Vorbild-
grafischer Perspektive und auf der Basis der Klima- lichen, Mustergültigen und Richtungsweisenden«
theorien von Montesquieu und Du Bos die künstleri- (ebd., 292) meint, während »Klassizismus« mehr eine
schen Sujets mit dem Ideal des Klassischen. Er insis- ästhetische Position bezeichnet, welche »die griechi-
tiert auf dem zyklischen Wechsel von Phasen des Auf- sche und römische Antike zur stilistischen Norm er-
stiegs und des Niedergangs der Kunst. Gipfelpunkt hebt« (ebd., 295). Im Vocabulaire d’esthétique (1990)
der Verbindung von Kreativität und Freiheit ist ihm erklärt Étienne Souriau, dass der Terminus »classi-
die griechische Kunst. Doch gleichzeitig fällt es ihm que« etwas Stabiles über die historisch-kulturellen
schwer, die Aporie zu überwinden, die sich zwischen Veränderungen hinweg kennzeichnet, und hebt her-
der Universalität des Schönheitsideals und der His- vor, welche Prioritäten im Bereich von Malerei, Plas-
torizität des Klassischen einstellt. tik, Architektur und Musik für die klassische Form
Der folgende Überblick liefert zunächst (1) einen gelten. Für Malerei und Plastik sind dies besonders die
Exkurs über die Differenz zwischen dem Begriff »klas- Einheit, eine interne Logik der Form nach dem Vor-
sisch« als Gegensatz zu »modern« im Rahmen der bild der natürlichen Einfachheit, das Schlichte, das
Querelle des Anciens et des Modernes, insofern er, an- Edle und Große und das Zeitlose (ebd., 401).
ders als bei Wolff und Baumgarten, eine Schönheits- Um zu verstehen, wie reich an Auseinandersetzun-
erfahrung bezeichnet, die von jeder Art von Verstan- gen der Weg zu einer Stabilisierung des klassizisti-
deserkenntnis getrennt ist und zwischen klassizisti- schen Ideals bis zu W.s Kunstauffassung war, genügt
scher Normativität und individualisierender Betrach- ein knapper Überblick über die Vorgeschichte. Die
tung von Natur und Geschichte vermittelt, und dem Frage, ob der Begriff des Klassischen moderne Aspek-
Begriff »Klassizismus«, der die Orientierung an der te ein- oder ausschließen soll, stellt sich seit der Re-
griechischen und römischen Kunst als Stilvorbild naissance, vor allem seit der manieristischen Krise auf
meint. Danach werden (2) die Prämissen von W.s Plä- zwei Ebenen: in formaler Hinsicht stehen Zeichnung
doyer für die antike Kunst dargestellt. Daran schließt und Kolorit einander gegenüber, mit Blick auf die äs-
(3a), auf der Basis einer Rekonstruktion verschiedener thetischen Grundlagen hingegen das Absolute und
Phasen der Querelle, eine Reflexion über die Frage an, der subjektive Relativismus. Überhaupt ist festzuhal-
aus welchem Grund W. in den Gedanken über die ten, dass der Begriff des Klassischen immer in »der
Nachahmung Poussin als Verteidiger des Disegno an Spaltung von Gegenwart und Vergangenheit lebt« und
die Seite von Raffael und Michelangelo setzt (Barasch dabei »Ideale und Modelle schon vergangener und

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_10, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
10 Klassizistische Kunstprogrammatik vor und zur Zeit von Winckelmann 81

unwiederbringlich verlorener Epochen erfasst, aber (1657) von Francesco Scannelli (1616–1663). Unter
als Kategorie und Mittel immer ein Produkt der Ge- Verwendung einer anatomischen Metaphorik ver-
genwart bleiben wird« (Scattola 2014, 9). gleicht er einzelne Maler mit lebenswichtigen Orga-
Der Begriff »klassisch« ist leichter auf Literatur und nen, so Raffael mit der Leber, Tizian mit dem Herzen,
bildende Kunst anzuwenden als auf Musik und Archi- Correggio mit dem Gehirn; Michelangelo, in seiner Ei-
tektur, wo er größere Probleme aufgibt. Was die Musik genschaft als unumstrittener Meister der anatomi-
betrifft, so behandelt Gioseffo Zarlino Theorien, die schen Zeichnung in der italienischen Renaissance,
dem antiken Griechenland zugeschrieben wurden, in übernimmt die Rolle eines »Rückgrats« der Kunst. –
den Istitutioni Harmoniche (1558) und den Dimostra- Zwischen dem Ende des 17. und dem Beginn des 18. Jh.
tioni Harmoniche (1571). Auf dieser Grundlage stellt gelangte man zu einer Säkularisierung des Schönen.
Zarlino auch eine eigene Hypothese zu den »künst- Letzteres büßte seine metaphysische und göttliche
lerischen Manieren« auf, mit deren Hilfe Emotionen Dimension ein, die zuvor als Quelle künstlerischer In-
in der Malerei ausgedrückt werden können (Barasch, spiration gegolten hatte. Historische Umstände und
329–330). Zarlinos Aufmerksamkeit auf formale klas- Lebensbedingungen wurden, etwa bei Du Bos, zu ei-
sizistische Stilelemente ist charakteristisch für Vene- nem entscheidenden Gesichtspunkt, wenn es galt, den
tien, wo auch Palladio wirkte (vgl. Wittkower 1949; Grad der Perfektion eines Kunstwerks zu bemessen.
Ackerman 1966). Palladio postuliert die perfekte Ord- W.s Neuansatz besteht in dem Versuch, eine »nor-
nung im Verhältnis der Teile untereinander und zum mative« Anschauung der Kunst in der Tradition von
Ganzen, die auf L. B. Albertis Konzept der »concinni- L. B. Alberti mit einem historischen Modell zu vermit-
tas« zurückgeht. Die vitruvianischen Regeln bilden ei- teln. Die letztlich platonische Idee des unwandelbaren
ne Inspirationsquelle für Palladios Werk I quattro libri Schönen findet sich nun in einer historischen Umge-
dell’ architettura (1570). bung wieder. Der Kunstkenner studiert die Entwick-
In der Folge unterminiert die relativistisch-subjek- lung der Künste, wobei ihm das griechische Beispiel
tive Position von Perrault, die er in der Schrift Préface den Maßstab liefert; Gegenstand der Betrachtung sind
à l’ Ordonnance des cinq espèces de colonnes (1683) for- auch die Beziehungen zwischen Kunst, Gesellschaft
muliert, den vitruvianischen Kanon, den der Verfas- und Lebenswelt (Pommier 2000, 203). Während W.
ser in De Architectura dargelegt hatte. Perrault greift ein Ideal des Schönen bestimmen will, auf das man
das metaphysische Fundament der Proportionenlehre sich nach dem Prinzip der Imitation beziehen konnte,
an und zerpflückt damit auch die Grundlagen der wertet Johann Georg Sulzer (1720–1779) in der All-
klassischen Architekturtheorie (Testa 1999, 139). In gemeinen Theorie der Schönen Künste (1771–1774) das
dem Zeitraum von zwanzig Jahren vor dem Erschei- Empfindungsvermögen auf; von den Sinnen fällt dem
nen der zweiten Ausgabe der Vite von Vasari (1568) Gehör die Priorität zu, da es die Seele am schnellsten
entbrennt die Debatte über das disegno zwischen den erreicht. Deshalb verlieren unter den Künsten Malerei
Anhängern der optisch-chromatischen Tradition Ve- und Bildhauerei den Vorrang, den sie bis dahin be-
netiens und den pro-klassizistischen Toskanern, an ansprucht hatten. Gleichzeitig gerät, wie Herder in ei-
der Pietro Aretino, Paolo Pino (Dialogo di pittura, ner Rezension des ersten Bands der Allgemeinen Theo-
1548) und etwas später Lodovico Dolce (Il dialogo del- rie der Schönen Künste von Sulzer feststellt (Herder
la pittura intitolato l’ Aretino, 1557) beteiligt sind. Im 1774, 5–92), die historische Rekonstruktion gegen-
Verlauf des 17. Jh. gibt es u. a. Anzeichen für ein echtes über der Kunsttheorie ins Hintertreffen.
Interesse an der Wiederentdeckung der antiken Welt.
Orfeo Boselli (1597–1667) erforscht z. B. in seinen Os-
Klassizistische Kunstprogrammatik vor Win-
servazioni della scoltura antica (1657) die griechischen
ckelmann
und lateinischen Quellen und befasst sich auch mit
der Blütezeit der ägyptischen Malkunst. Pommier unternimmt eine verdienstvolle Rekon-
Dennoch kann man von einer »Wiederkehr der struktion der verschiedenen Phasen der Barockkritik
Farbe« sprechen, vor allem für die Zeit zwischen 1640 über die nationalen Grenzen hinweg (Pommier 2000,
und 1680 (Failla 2014, 48–57), als einige Theoretiker 193–209). Er stellt fest, dass der Benediktiner Antoine
alternative historiografische Systeme entwickelten, um Joseph Pernety (1716–1796) als erster in seinem Dic-
den Kolorismus zu propagieren, und dabei versuchten, tionnaire portatif de peinture, sculpture et gravure
dem Streit zwischen den regionalen Denkschulen zu (1757) den Barock-Begriff auf dem Gebiet der schö-
entgehen. Ein Beispiel ist der Microcosmo della pittura nen Künste verwendete. Pernety führt an, dass der ba-
82 II Systematische Aspekte

rocke Stil nicht den Proportionsregeln folge und da-


Zwei Perspektiven auf die klassizistische Kunst-
her bar »guten Geschmacks« sei – mit anderen Wor-
programmatik vor Winckelmann
ten, ein Ausdruck der »Caprice«. Der Barockstil fand
wie bekannt seinen höchsten Ausdruck im Werk von Zwei von den Versuchen, die klassizistische Kunstpro-
Bernini, Pietro da Cortona und Borromini. grammatik zwischen dem 17. und dem 18. Jh. zu re-
Den Boden für eine Wiederherstellung des klassi- konstruieren, können im gegebenen Zusammenhang
zistischen Geschmacks hatte vor W.s Ankunft in Rom von Nutzen sein: (a) der traditionelle Weg (Barasch
schon der Veroneser Scipione Maffei (1675–1755) be- 1985), die Entwicklung der Kunsttheorien durch die
reitet, der im dritten Band der Verona illustrata (1732) Jahrhunderte linear nachzuzeichnen; (b) der Versuch,
den Verfall Roms seit der Zeit Borrominis beschreibt; vom 15. bis zum 18. Jh. der »ästhetischen Denkfigur«
denn letzterer habe die formale Ordnung des Disegno des Kontur nachzugehen. Im Vordergrund steht dabei
pervertiert. Maffei wird zum Vorläufer von Francesco das Binom inventio – disegno, während die Vertreter
Milizia (1725–1798), dessen Lehren Affinitäten zu des Kolorismus elocutio und Ausdruck favorisieren
klassizistischen Theoretikern wie Sulzer und Mengs (Kurbjuhn 2014).
besitzen (Milizia: Dell’ arte di vedere nelle belle arti del (a) Der erste Ansatz erforscht die Geschichte der
disegno secondo i principj di Sulzer e di Mengs, 1781) . Kunsttheorien seit Platon. Wichtige Positionen des 17.
Zu den ersten, die im vergangenen Jahrhundert die und frühen 18. Jh. seien im Folgenden mit Blick auf W.
Beziehungen zwischen den kunsttheoretischen Posi- zusammengefasst. Im Teil VI, betitelt Classicism and
tionen der Vorläufer und W.s eigener Kunsttheorie un- Academy (Barasch 1985, 310–377), beginnt Barasch
tersuchten, gehört Gottfried Baumecker mit seiner Ar- bei Franciscus Junius (1591–1677) als terminus a quo.
beit W. in seinen Dresdner Schriften (1933). Das erste In dem Werk De pictura veterum (1637) besteht Junius
Kapitel widmet sich W.s Verhältnis zu Kunsttheoreti- auf der Fantasie als notwendigem Vermögen des
kern und Altertumswissenschaftlern. Baumecker zu- Künstlers, um die absolute Idee in ein menschliches
folge schenkt Justi dem Einfluss von de Piles, Dubos »Ideal« zu verwandeln. Er ist Wegbereiter jener Form
und Richardson zu geringe Beachtung. Baumecker un- der antiquarischen Kritik, aus der W. seine eigene
terstreicht, dass die Réflexions critiques sur la poésie et theoretische Position ableitet (Barasch 1985, 312).
la peinture (1719) von Dubos eine Lösung für den Gleichzeitig übernahm Giovan Pietro Bellori
Konflikt geboten hätten, der sich zwischen den Vertre- (1613–1696) die Rolle eines Vorkämpfers des Klassi-
tern des Kolorit (vor allem de Piles) und denen der zismus. Von jetzt an steht das Werk Raffaels im Fokus
Zeichnung (Chambray und Félibien) entwickelt hatte. klassizistischer Theorien. Belloris Verdienst ist es, als
Nach Baumecker ist es Richardson, der das Verdienst erster die Aufmerksamkeit auf Raffaels Fresken im Va-
für sich in Anspruch nehmen kann, eine Brücke zwi- tikan gelenkt zu haben, nachdem der Maler lange Zeit
schen Antike und Moderne geschlagen zu haben. Denn nur geringes Interesse geweckt hatte. Bellori widmet
Richardson, der die Kunsttheorien der Renaissance ihm die Schrift Descrizione delle immagini dipinte da
gründlich untersuchte, erkannte Raffaels »Grazie« und Raffaëlle d’Urbino, die postum von Maratta und Kardi-
»Größe« an (zu Richardson vgl. Gibson Wood 2000). nal Albani veröffentlicht wurde (Barasch 1985, 315). In
Was die indirekte Verwicklung von W. in die Que- der Ausgabe der Vite de’pittori scultori e architetti mo-
relle betrifft, so ist mit Blick auf die Pariser Manu- derni nimmt Bellori Raffael allerdings nicht unter die
skripte festzustellen, dass »[...] erst mit der Vorberei- zwölf vorgestellten Künstler auf. Deshalb wirft W. ihm
tung der ersten Veröffentlichung, der Gedanken über und Malvasia vor, die Größe des Künstlers aus Urbino
die Nachahmung von 1755 sich thematisch kohärente nicht verstanden zu haben, der doch das höchste Ideal
corpora – etwa zur französischen Querelle des An- des Klassizismus in der Malerei der Renaissancezeit re-
ciens et de Modernes – in seinen Exzerptheften erken- präsentiere (Pommier 2003, 118). Hingegen lobt W. de
nen [lassen]« und dass, »als [W.] in Rom ankommt Piles, der daran erinnert, dass Raffael nach dem natür-
und an dem Projekt der Geschichte der Kunst des Al- lich Schönen strebe, auch wenn er sich dabei nicht auf
terthums zu arbeiten beginnt, [...] seine Exzerpte bün- die Skulptur bezieht (KS 38).
diger [werden] und thematisch deutlicher auf die anti- Für W. markiert Raffael die Trennlinie zwischen
quarischen Wissenschaften fokussiert [sind]« (Décul- dem Höhepunkt der Kunst in der Renaissance und
tot 2014, 36). Deutsche Abhandlungen über die Kunst dem Beginn der Dekadenz (Testa 2009, 61–62). Schon
fehlen in den Exzerptheften so gut wie ganz (Décultot in der Dresdner Galerie hatte W. Raffaels Sixtinische
2000, 67). Madonna gesehen, die in den Gedanken über die Nach-
10 Klassizistische Kunstprogrammatik vor und zur Zeit von Winckelmann 83

ahmung die »erstrebte Wiedergeburt der Antike« prä- demie für zwanzig Jahre ab 1648 war ausschlaggebend
figuriert (Schmälzle 2012, 101). Im Zusammenhang für die Ausbildung von Künstlern und für die Formu-
mit der berühmten Formel von der »edlen Einfalt und lierung von Ausbildungszielen. Le Brun musste ein al-
stillen Größe« zeigt W., dass die italienische Renais- tes Dilemma überwinden: Die Frage lautete, ob der
sance in einer Traditionslinie mit der Antike steht. Ei- Künstler nach der Natur zeichnen (L. B. Alberti) oder
ne mögliche Rettung vor dem Verfall sieht W. daher in sich stattdessen von einer inneren Idee leiten lassen
Raffaels klassizistischer Formensprache und seiner solle (Barasch 1985, 332). Die Rede, die Bellori 1664 in
Sensibilität für das Idealschöne sowie im Versprechen der Akademie von San Luca über die Idea del pittore,
zyklischer Wiederholbarkeit solcher Gipfelpunkte. In dello scultore e dell’ architetto scelta dalle bellezze na-
diese Reihe gliedert er selbst sich mit dem Projekt der turali superiore alla Natura hielt, führte unter dem
Geschichte der Kunst ein, das eine ›normative‹ Auffas- Einfluss des Neuplatonismus dazu, dass die Trennung
sung durch die Verbindung von ›historischer‹ Dimen- zwischen Erscheinung und Idee überwunden und ein
sion und Schönheitslehre ablösen will. Mengs in seiner neuaristotelischer Kompromiss gefunden werden
Eigenschaft als ideeller Erbe Raffaels zeigt im 18. Jh., konnte, demzufolge die Naturnachahmung Natur-
wie man dieses Projekt in Malerei umsetzen kann. – W. wahrheit ausdrückte; auf dieser Grundlage konnte die
betont allerdings nicht Raffaels Meisterschaft bei der Idea-Lehre ein Kernpunkt des europäischen Klassizis-
lebhaften Darstellung, wie es seine Zeitgenossen Laz- mus werden, auf den auch W. zurückgriff (Pfotenhau-
zarini und Algarotti tun, sondern beharrt auf seiner er/Bernauer/Miller 1995, 357–358).
Fähigkeit, das natürlich Gegebene in der abstrahieren- Gleichzeitig stellte sich jedoch die Frage, wie man
den Synthese der Zeichnung zu transzendieren. – 1662 mit den antiklassizistischen Schriften von Roger de Pi-
veröffentlichte Roland Fréart de Chambray die Idée de les umgehen sollte. W., der de Piles’ Dialogue sur les co-
la perfection de la peinture par les principes de l’ art, in loris (1673) , die Conversations sur la conoissance de la
der er die Malerei nach dem Modell der Rhetorik in peinture (1677), die Dissertation sur les ouvrages des
Erfindung, Proportion, Farbe, Bewegung (Ausdruck) plus fameux peintres (1681), L ’Abrégé de la vie des pein-
und Anordnung einteilt. Michelangelo hatte sich sei- tres (1699) und den Cours de peinture par principes
ner Ansicht nach der »Zeichnung« verpflichtet, ohne (1708) gelesen hatte, nutzte diese Lektüre als theoreti-
dabei eine wirkliche »Erfindung« zu erreichen. Diese sches Material, auf dem er sein Sendschreiben (1756)
Meinung spielte eine wichtige Rolle, als W. zugunsten aufbaute, das er als simulierte Reaktion auf die Gedan-
von Raffael Stellung nahm. W. zeigt in den Gedanken, ken über die Nachahmung veröffentlichte. Der fiktive
dass er die Vorbehalte von Chambray gegenüber Mi- Verfasser des Sendschreibens bezieht in polemischer
chelangelo aufgenommen hatte und teilte. Art Stellung zugunsten der Modernen, lobt die »Zau-
Neben Raffael und Michelangelo zählt W. in den Ge- berey der Farben« und beharrt darauf, dass das Kolorit
danken über die Nachahmung Nicolas Poussin zu den- es erlaube, Bildfehler zu kaschieren und, dank der poe-
jenigen, die den »guten Geschmack« an der Quelle tischen Harmonie, die es schaffe, alles »anstössige« (KS
schöpften (KS 30) und die eigene Zeit an ein klassizisti- 79) vergessen zu machen. Er bezweifelt auch, dass Raf-
sches Schönheitsideal heranführten. Poussin greift ge- faels Antike-Rezeption mit der Formel von der »edlen
gen Ende seines Lebens indirekt in die Debatten des Einfalt und stillen Größe« beschrieben werden könne.
17. Jh. ein. In einem Brief an Chambray vom 1.3.1665 Der Autor fragt deshalb, ob es nicht besser wäre, diese
vertritt er die Auffassung, dass die Malkunst Vergnü- Formel durch die von Hagedorn suggerierte der »Na-
gen (délectation) erregen solle, und widerspricht damit tur in Ruhe« zu ersetzen; jedoch fügt er ironisch hinzu,
der Position des Adressaten, der im Sinn des Absolutis- dass es den Schülern schwer fallen werde, sich durch
mus und der am 1.2.1648 gegründeten Französischen eine solche Regel inspirieren zu lassen, ja, dass sie ihre
Akademie die geometrische Ordnung in den Mittel- Kreativität dabei verlieren könnten (KS 83).
punkt stellen wollte (Pevsner 1986, [I. Ausg. 1940], Unter den Studien zur Kunstgeschichte sei an den
102). W. entnimmt den Angaben Poussins die Ideen wichtigen Beitrag von Henri Testelin Sentiments des
der »Vernunft« und der »Einfalt«, die in das Hendia- plus habiles peintres sur la pratique de la peinture et de
dyoin der »edle Einfalt und stille Größe« münden soll- la sculpture, mis en tables de préceptes (1680) erinnert.
ten; diese Formel weist auch auf weitere Termini zu- Es handelte sich um eine Sammlung von Vorlesun-
rück, die Félibien, de Piles und Dubos verwenden. gen, die an der Französischen Akademie von ver-
Das Wirken von Charles Le Brun (1619–1690) als schiedenen Vortragenden gehalten worden waren. Sie
Peintre du Roi und Leiter der Französischen Aka- dienten nun dazu, den Diskurs über die Kunst nach
84 II Systematische Aspekte

bestimmten Gesichtspunkten zu organisieren – Kom- druck »Grazie« im Titel distanziert sich sowohl von
position, Zeichnung, Ausdrücke der Empfindungen, »Gnade«, die als ohne Verdienst erhaltene Gabe auf-
Licht und Farbe. De Piles übernahm später diesen Ka- gefasst wird, als auch von »Anmut«, die dem »je ne
talog, um einige berühmte Maler nach einer Punkt- sais quoi« entspricht (Pommier 2003, 74). Keine gött-
zahl von 0 bis 20 zu bewerten. Er hob aber hervor, liche Gabe ist für W. die Quelle der malerischen Inspi-
dass eine derartige Einstufung vor allem von Ge- ration, sondern die Nachahmung des griechischen
schmackskriterien abhänge und weniger von einer Vorbilds. W. entzieht das griechische Modell dem Ge-
methodischen Zuordnung malerischer Fertigkeiten. schichtsverlauf, der seinen Untergang, wie schon den
André Félibien korrigierte mit seinen Conférences anderer antiker Kunsttraditionen, beleuchten könnte,
pendant l’ année 1667 de Piles’ Sichtweise, indem er ei- und macht aus ihm ein Gegenbild. Auf dieser Grund-
ne Klassifizierung auf der Grundlage unterschiedli- lage ist es möglich, einen Maßstab für die neuere
cher Genres der Malerei vorschlug. Kunst zu gewinnen (Caianiello 2005, 31).
Der Niedergang der Französischen Akademie setz- Jede Studie, die es unternimmt, die Vorgeschichte
te im Jahr 1699 ein, in dem de Piles als Mitglied auf- von W.s Geschichte der Kunst im Sinne einer »Tempo-
genommen und sein Abrégé de la vie des peintres ver- ralisierung der Kunst« (Testa 1999, 136) zu rekonstru-
öffentlicht wurde (Barasch 1985, 349). Da de Piles die ieren, nimmt Bezug auf Perraults Lesung des Gedichts
von Poussin vertretene »zentrale Rolle der Zeichnung Le Siècle de Louis le Grand vor den Mitgliedern der
als Metapher der natürlichen und göttlichen Ordnung Académie Française und der Académie des Sciences
der Dinge« anzweifelte und ihr den »unfassbaren und am 27.1.1687. Die Querelle begann als literarische,
unkontrollierbaren Genius von Rubens« gegenüber- nicht als historisch-künstlerische Debatte: Die »Mo-
stellte (Failla 2014, 82), geriet die Akademie in ein dernen« zielten darauf, die Mythisierung der klassi-
schwieriges Fahrwasser. Schon im Dialogue sur les co- schen Welt aufzugeben, und forderten zur Reflexion
loris hatte de Piles die inventio der dispositio nach- über die Fähigkeit der Menschen auf, in der moder-
gestellt, da die erste den Akzent auf die sinnliche Re- nen Welt Werke von ähnlicher Größe zu schaffen.
zeption des Kunstwerks lege; das Chiaroscuro hatte er Man verglich zu diesem Zweck das Jahrhundert von
dem Kolorit untergeordnet. Diese Position stellte die Ludwigs XIV. mit der Zeit des Augustus im antiken
etablierte Hierarchie in der Akademie auf den Kopf; Rom. In der Digression sur les anciens et les modernes
denn bis zu dieser Zeit hatte die Zeichnung die Priori- (1688) von Fontenelle wird ausdrücklich die Notwen-
tät vor der Farbgebung behauptet. Das Disegno schien digkeit dargelegt, einen modernen Kanon aufzustel-
mit der Vernunft im Bund zu stehen und beanspruch- len, der künstlerisch unabhängig von dem antiken sei;
te universale Geltung. Die Farbgebung hingegen be- die in der Zwischenzeit angesammelte Erfahrung ma-
zog sich auf den subjektiven und sensuellen Aspekt che die moderne Kunst eines Le Brun »vollständiger«
der Malerei. und »vollendeter« als z. B. die eines Paolo Veronese.
In dem Disput zwischen den entgegengesetzten Po- Dem Untergang des durch höfische Ideale geprägten
sitionen verschob sich das Augenmerk von der Bezie- Klassizismus der Akademien zum Trotz, der auch die
hung zwischen Künstler und Werk auf die zwischen Französische Akademie betraf, wurde jedoch der Ein-
Werk und Betrachter. Der Genuss von Schönheit und fluss der Pariser Akademie auf die anderen Aka-
Anmut wurde Gegenstand eigener Reflexionen. Do- demien Europas nicht geringer und erreichte sogar
minique Bouhours untersuchte das »je ne sais quoi«, den Höhepunkt um die Mitte des 18. Jh., als W. in
das ihm zufolge der Natur, der Kunst und dem Be- Rom eintraf.
trachter gleichsam innewohnt (Pommier 2003, 66). (b) In den Metaphern »Umriss« und »Kontur«
Dieser mysteriösen, vitalisierenden Empfindung, die (Kurbjuhn 2014), die sich zunächst auf die Zeichnung
ebenso unsichtbar ist wie die Präsenz Gottes in den bezogen und dann von W. für eine Neubewertung der
Dingen, widmet er sich im fünften seiner Entretiens griechisch-klassischen Form genutzt wurden, sieht
d’Ariste et d’Eugène (1672). Eine wichtige Rolle spielt Kurbjuhn Grundkonzepte einer kunstgeschichtlichen
für W. das Konzept der »Grazie«, da sie den Über- Entwicklungslinie, die vor allem in Deutschland zu
legungen über das Schöne vorausgeht. Eine Anregung finden ist. Demzufolge richtet Kurbjuhn auch ihre
zum Nachdenken über die Grazie in W.s Perspektive Aufmerksamkeit u. A. auf W.s Übersetzung zentraler
entstammt dem Abrégé von de Piles. W. behandelt die- Kunstbegriffe aus der italienischen, französischen und
sen Anstoß in seiner Abh. Von der Grazie in Werken englischen Tradition. In seinen Exzerpten nahm W.
der Kunst (1759) mit äußerster Vorsicht. Der Aus- die grundlegenden Begriffe auf und passte sie an,
10 Klassizistische Kunstprogrammatik vor und zur Zeit von Winckelmann 85

wenn sie ihm nützlich erschienen (Décultot 2000, treffen. »Liedmaß« steht in der Teutschen Academie
295–300). Andere ausländische Fachbegriffe hingegen dem Begriff der Proportion nahe.
übernahm er, um sie als obsolet erscheinen zu lassen. Kurbjuhn zufolge münden die terminologischen
»Umriß« und »Faltenentwurf« (oder »Faltenschlag«, Differenzierungen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in
als Entsprechung zur »Draperie«) etablierten sich fest eine literarische Debatte. Die rhetorischen Ideale der
in seiner Terminologie. Klarheit und Deutlichkeit (evidentia) weisen durch
Dass der »Umriß« in den Gedanken über die Nach- den Begriff der Hypotyposis auf die Lebendigkeit der
ahmung als entscheidender Begriff erscheint, ist darauf Bilder hin. Unter der Hypotyposis versteht Gottsched
zurückzuführen, dass er eine räumliche Metapher mit im Handlexikon [...] der schönen Wissenschaften und
strukturbildender Funktion ist. In dem Maß, in dem freyen Künste (1760) eine »lebhafte Beschreibung«
»Kontur als ›Graphem‹ [...] der Gedanken des Künst- von in der Malerei dargestellten Figuren; die Hypo-
lers [fungiert]«, tritt der schaffende Genius des Künst- typosis steht ihrer plastischen Natur nach dem Wah-
lers in den Vordergrund (Kurbjuhn 2011, 123). In den ren (Gottsched 1760, Sp. 519; zit. nach Kurbjuhn 2014,
Reflexionen des 16. Jh. bilden die Ausführungen über 181) nahe. Breitinger und Bodmer lassen sich von die-
Zeichnung und Konturierung der Form die Schnittstel- sem Diskurs anregen und verschieben ihn auf das Feld
le zu dem inneren Bild, das der Künstler sich von sei- der ars poetica: der erste versucht den Unterschied
nem Vorhaben macht. Am Beispiel weniger bekannter zwischen Hypotyposis und Abbild, zwischen Abwe-
Autoren wie Walther Ryff (Rivius) (um 1500–1548) senheit und Anwesenheit des Gegenstandes heraus-
kann man sehen, wie sich die Umrissdarstellung zuarbeiten und attestiert der Poesie das Vermögen, ein
schrittweise zu einem autonomen Prinzip entwickelt. lebhafteres Bild der Dinge zu geben, als die Malerei es
Bei seiner Übersetzung des Werks De Statua von L. B. kann. Bodmer hingegen schreibt in seinen Criti-
Alberti ins Deutsche (1547), die im selben Jahr erschien sche[n] Betrachtungen über die poetischen Gemählde
wie die von De Pictura, gebraucht Ryff die Umrissdar- der Dichter (1741) dem »Pinsel« eine wirkungsvollere
stellung als ein Mittel, um stilistisch-formale Kriterien Kraft der Nachahmung zu (Kurbjuhn 2014, 190). Der
und empirisch-subjektive Natur miteinander zu ver- Pinsel erlaube dem Künstler, durch das sich im künst-
mitteln. Er erarbeitet dabei Begriffe in deutscher Spra- lerischen Akt entwickelnde Denken die Figuren auf
che, die Zeichnung, Erfindung und Farbe entsprechen, homogene Weise miteinander zu verbinden und der
und ordnet sie nach dem rhetorischen Modell von »Spur der Natur« nachzufolgen (ebd. 193–194).
inventio, dispositio und elocutio an. Den aus De sculp- Kurbjuhn widmet ein langes Kapitel dem Begriff
tura (1504 bzw. 1542) von Pomponius Gauricus über- des Konturs in W.s Werk. Besonderes Augenmerk
nommenen Begriff lineamenta interpretiert Ryff in sei- liegt auf den Gedanken über die Nachahmung und der
ner doppelten Bedeutung – in seiner wiedergebenden Geschichte der Kunst. Erörtert wird auch die Abhand-
Funktion (Darstellen) und seiner sichtbar machenden lung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in
(Vorstellen): Die lineamenta erhalten dadurch einen der Kunst (1763), in der W. Hauptpunkte des »klassi-
begrifflichen Gehalt, der auch die Freiheit einschließt, schen« Ideals zusammenfasst: (a) »Anheben von den
das erahnen zu lassen, was nicht direkt sichtbar ist Wirkungen des Verstandes«, (b) »das Natürliche zur
(Kurbjuhn 2014, 134–135). Vergleichbares findet sich Bildung der Schönheit suchen«, (c) »keine starken
bei W. z. B. in der Beschreibung des Torso von Belvedere Verkürzungen unternehmen«, (d) »in der Ausarbei-
Nach Ryffs Übersetzung von Vitruvs De Architec- tung nicht die Glätte suchen« (KS 232–233). Die Pro-
tura (29–23 v. Chr.) führt Joachim von Sandrart, unter- portionen der schönen Form sind zum einen das
stützt durch Sigmund von Birken, eine deutsche Kunst- höchste ästhetische Ziel, zum anderen die Ausgangs-
Terminologie in seine Teutsche Academie (1675–1679, basis für die Bildung des Betrachters. W. schreibt:
3 Bde.) ein. Der Ausdruck »Schattenumriss« sticht als »Das wahre Gefühl des Schönen gleichet einem flüßi-
wichtiger Terminus technicus heraus. Er verweist auf gen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo gegossen
den Kernpunkt der Malerei, der im Zusammentreffen wird, und denselben in allen Theilen berühret und
des durch Kerzenlicht auf die Wand projizierten Schat- umgiebt« (KS 217). Wasser-Metaphern (Kemp 1968,
tens mit den sich abzeichnenden Gesichtskonturen ei- 266–270; Stafford 1980, 65–78) erscheinen häufig bei
nes Jünglings liegt (Kurbjuhn 2014, 150). Das Abreißen der Beschreibung der Statuen, die W. als Prototypen
der Zeichnung vermittelt zwischen Vernunft, Einbil- der besten antiken Kunst wählt (Apollo und Torso von
dung und Verstand, während die Termini Profil, Um- Belvedere, Laokoon). Sie sind das Charakteristische
riss und Liedmaß die Baukunst und die Bildhauerei be- einer Kunsterzählung, die einen Kontakt zwischen
86 II Systematische Aspekte

dem »Signifikanten«, der das klassische Ideal meint, Mengs beschließt eine Tradition – deren Endpunkt
und der »Bedeutung« sucht, die die Wechselfolge der Hagedorn ist –, die künstlerische Bewertungskriterien
Stile bezeichnet und die Einheit mit der Vielfalt ver- auf der Grundlage von Kategorien der Malerei (Zeich-
bindet. Das »flüssige« und »stille« Schöne ist das me- nung, Komposition etc.) festlegte, um dann die Voll-
taphorische Bindeglied, durch das die materielle Kon- kommenheit moderner Maler aufgrund einer do-
sistenz des Werks fast ungreifbar wird und sich in den minierenden »Absicht« festzustellen. In Raffael sieht
Graphemen »Umriss« und »Kontur« auflöst (Kurb- er den Meister der »Bedeutung«, in Correggio den der
juhn 2014, 226; Testa 1999, 215–298). »Annehmlichkeit«, in Tizian den des »Schein[s] der
Wahrheit [...] in den Farben« (ebd., 219). Die Betrach-
tungen über die Mahlerey (2 Bde., 1762) von Hagedorn
Ausblick: Kunstauffassungen zur Zeit
lenken die Aufmerksamkeit auf die Landschaftsmale-
Winckelmanns
rei und nähern damit den Klassizismus der nordeuro-
Anton Raphael Mengs (1728–1779) wurde von sei- päischen Kunst an, besonders der niederländischen.
nem Vater schon sehr früh (ab 1741) darin unterwie- Das Ziel seiner Abh. war die Vereinigung der nieder-
sen, die Bilder von Raffael und Correggio nachzuma- ländischen Genre- und Farbenkunst mit dem klassi-
len, und gilt als wichtigster Vermittler der Idee des schen Stil Italiens.
Klassischen in der Zeit des europäischen Frühklassi- Diderot bekräftigte in seinen Pensées détachées sur
zismus (Roettgen 2003). Von Rom aus »informiert er la peinture (1772) die Position Hagedorns – der als
die künstlerische, kulturelle und später auch politi- Vertreter eines modernen, realistischen, bürgerlichen
sche Szene von ganz Europa« (Cometa 1996, 7) und Malerei-Genres sicherlich nicht den Geschmack W.s
trägt zum Greek Revival des angelsächsischen Raums traf – und trug damit entscheidend zu seiner interna-
bei, indem er W.s Kontakt zu Robert Adam, Robert tionalen Verbreitung bei. Diderot war noch vor W.s
Wood, Thomas Hope und James Stuart ermöglicht Theorien zur antiken Kunst vor allem von W.s Stil und
(ebd., 8). Bianconi erklärt in einem seiner Briefe (Brie- Erzählkunst neben derjenigen Rousseaus beeindruckt
fe IV, 219), dass W. und Mengs während ihres Um- (Pommier 2000, 167). Trotzdem hatte er in Hagedorn,
gangs miteinander in Rom durch das gemeinsame In- mit dem W. in losem Kontakt stand, eine Lösung des
teresse an der Antike voneinander profitierten. Auf Dilemmas gefunden, wie der formale klassizistische
der Basis der gemeinsamen theoretischen Ziele ver- Stil mit einer Natur zu vereinbaren sei, die in ihrer ge-
wirklichte Mengs im Parnaso das Ideal der »edlen Ein- genwärtigen Gestalt erkundet werden wollte. So
falt und stillen Größe« in der Malerei. Das Freskoge- sprach sich Diderot im Salon von 1767 zunächst zu-
mälde wurde 1761 für den Salon in der Villa des Kar- gunsten des »in W.s Vorgehen inhärenten Platonis-
dinals Albani angefertigt. mus« (ebd., 169) aus; später neigte er dann eher zu Ha-
In seinen Gedanken über die Schönheit und über gedorns Naturästhetik.
den Geschmack in der Malerei aus dem Jahr 1762, in Die europäische Resonanz von W.s Werken kam
der er als Künstler und nicht als Gelehrter schreibt, mit der Französischen Revolution an ihr Ende.
besteht Mengs auf einer Idee der Schönheit, die die Jacques-Louis David etwa wollte die Bedeutsamkeit
göttliche »Vollkommenheit« widerspiegelt, und zwar des politischen Moments ausdrücken und übernahm
nicht nur als Ausdruck der Schöpfung, sondern als di- die Stilelemente des Klassizismus eher in einem ethi-
rekte Emanation Gottes. Die Schrift untersucht neben schen als ästhetischen Sinn. Im Schwur der Horazier
der Schönheit auch den Geschmack, den sie auf seine (1784) wählte David eines der Heldenmodelle des an-
Vereinbarkeit mit der Nachahmungsregel prüft: »Wie tiken Rom, das den Wert »eines überzeitlich vorbild-
diese zwei Teile aber zusammengehören, und zu ver- haften Griechentums«, wie W. es sich vorgestellt hatte,
einigen sind, verstehet sich also: Die Idee welche die ignorierte (Heinen/Richter 2011, 852).
erste Erzeugung des Geschmackes ist, ist wie die Seele,
und die Nachahmung ist wie ein Leib« (Mengs, in: Quellen
Pfotenhauer/Bernauer/Miller 1995, 214). Mengs be- Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. Lateinisch-
greift die Notwendigkeit, die Griechen nicht als die Deutsch. Hg. von Dagmar Mirbach. Hamburg 2007.
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interpretieren, sondern als diejenigen, die die Schön- Boselli, Orfeo: Osservazioni sulla scultura antica. I manos-
heit auf ihrer höchsten Stufe ausgedrückt und den bes- critti di Firenze e di Ferrara. Hg. von Antonio P. Torresi.
ten Geschmack gezeigt haben (ebd., 216). Ferrara 1994.
10 Klassizistische Kunstprogrammatik vor und zur Zeit von Winckelmann 87

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88 II Systematische Aspekte

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Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. grifflichen Topos, der das Rückgrat für W.s Denken
Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stutt- und Werk bilden sollte, das von einer radikalen Un-
gart/Weimar 2001, 289–305. duldsamkeit gegenüber der barocken Tradition be-
Wittkower, Rudolf: Architectural principles in the age of hu- herrscht zu sein scheint. Dieser Tradition wird ange-
manism. London 1949.
lastet, die Welt der Formen verdorben und sie den
Elena Agazzi Launen der freien Kreativität des Subjekts ausgeliefert
zu haben. Eben zu letzteren kehrt der Begriff »Ge-
schmack« allerdings in seiner etymologischen Sub-
stanz zurück, da er sich auf Willkür und Subjektivität
der Sinne bezieht.
Der Geschmack als subjektive Grundlage der
Schönheit und zugleich die Notwendigkeit, die Ver-
irrungen eines willkürlichen Subjektivismus zu rügen,
die sich aus dieser theoretischen Entscheidung er-
geben, finden sich erneut, in einem anderen Argu-
mentationszusammenhang, in der Abhandlung von
der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst,
und dem Unterrichte in derselben (1763; vgl. Testa
1999, 125–129).
In diesem Werk zeigt sich an W.s lexikalischen Ent-
scheidungen wie auch an den ihnen zugrundeliegen-
den konzeptuellen Prämissen der tiefe Eindruck, den
Baumgartens »scientia cognitionis sensitivæ« (Baum-
garten 1750, 1) in seinem Denken hinterlassen hat. W.
konnte Baumgartens Vorlesungen während seines
Studiums in Halle hören (vgl. Justi 1866, I, 75–80);
1750 war der erste Band seiner Aesthetica erschienen.
Die offene oder verborgene Auseinandersetzung W.s
mit den Themen, die den theoretischen Kern der Äs-
thetik bilden sollten, erweist sich als wesentlich für die
Begründung seines eigenen »Lehrgebäudes« (GK1,
IX). Und doch ist es ein unmöglicher Dialog, da er von
der Erfordernis beherrscht ist, den Glauben an den
universellen und transsubjektiven Wert der Klassik
wieder aufzugreifen und zu verteidigen, den die mo-
derne Welt nicht mehr akzeptieren kann.

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_11, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
11 Winckelmann, die Ursprungsmythen der Aufklärung und die Begründung der Kunst 89

In der Abhandlung werden der Begriff ›Geschmack‹ ge Berufung auf das Prinzip der Nachahmung. In den
und damit die Definition und die Erkennbarkeit des ersten drei Vierteln des Jh. behauptet dieses Prinzip
Schönen in der Kunst ausgehend von der rein und ge- absoluten Vorrang in der Kunsttheorie. In ihm drückt
wollt subjektiven Sphäre der ›Empfindung‹ bestimmt. sich ein beständiges Streben nach Legitimation der
Die in dieser These implizierten Konsequenzen erwei- künstlerischen Schöpfung aus, die durch die Mimesis
sen sich für W. jedoch als inakzeptabel. Nachdem das auf ein ihr fremdes und die Sphäre der Subjektivität
Problem der Schönheit unter Bezugnahme auf die überschreitendes Fundament zurückgeführt wird
Sphäre der ›Empfindung‹ einmal formuliert ist, macht (vgl. Todorov 1977, 141–159).
er sich daher nicht ohne theoretische Schwierigkeiten In diesem Sinn bildet in der »Epoche Rousseaus«
und Verwirrungen daran, eine Unterscheidung zwi- (»époque de Rousseau«; Derrida 1974, 145) die Mime-
schen »dem äußeren Sinn« (Abhandlung, 12) – der Di- sis-Theorie den entscheidenden theoretischen Kno-
mension der Sinneswahrnehmungen – und dem »in- tenpunkt für die Aufgabe, die Grundlagen des Schö-
neren« Sinn (ebd.) zu umreißen. Er verwendet dieses nen neu zu definieren, steht aber auch im Zentrum der
Begriffssystem, das durch eine antike Denktradition paradoxen Notwendigkeit, ausgehend von nicht Fun-
etabliert wurde und im Zentrum der zeitgenössischen diertem ein Fundament zu schaffen, und scheint von
philosophischen Debatte vom Empirismus bis zu Kant einer paradoxen Logik beherrscht zu sein, die von dem
steht, um die in den übernommenen Prämissen impli- nie befriedeten Streben nach Auffüllung eines Vaku-
ziten Schäden zu begrenzen und alles Willkürliche und ums durchdrungen ist. Denn angesichts der Fun-
unwiderruflich Subjektive zu beseitigen, da es durch damentlosigkeit gelingt es der Mimesis nicht, eindeu-
seine Verknüpfung mit der äußeren Dimension der tige Modelle festzulegen, auf die man sich beziehen
Sinne das Gefühl des Schönen beflecken könnte, um es könnte, und daher vervielfacht sie die Vorbilder – die
schließlich auf das zurückzuführen, was »der innere, Natur, die Geschichte mit ihrem je eigenen Bereich
feinere Sinn, welcher von allen Absichten geläutert von Bedeutungen, die Idee, etc. So wird, wie Derrida es
sein soll, um des Schönen willen selbst, empfindet« in seiner Analyse des Essai sur l’ origine des langues von
(ebd., 10). Auf diese Weise erfahren Rechte und Gel- Rousseau (1755 unvollendet geblieben und 1781 post-
tungsbereich der »Platonischen Begriffe« (ebd.) eine hum erschienen) formuliert hat, ein Prozess der »dif-
Bestätigung. férance« (ebd., 38 und passim) in Gang gesetzt, der sich
Wie in den Gedanken sieht W. daher auch hier die ad infinitum hinzieht und in dem die »suppléments«
»Bildung des guten Geschmacks« (Gedanken2, 1) als (ebd.) eines unerreichbaren Fundaments hervorsprie-
seine Aufgabe, die Mission, einen objektiven und uni- ßen, wobei die Mimesis die paradoxe Funktion über-
versellen Begriff der Schönheit wieder herzustellen nimmt, die Begründung des Nicht-Begründeten zu ga-
und einen normativen Rahmen festzulegen, der sich rantieren (vgl. Lacoue-Labarthe 1986, 102).
der anarchischen Willkür des subjektiven Geschmacks Dies wird offenkundig im Zusammenhang mit dem
entgegen stellt. Wiederaufleben der Theorie der harmonischen Pro-
portionen, das seit der Mitte des Jahrhunderts, seit dem
Traité du beau essentiel von Briseux (1752) zu verzeich-
Die Ursprungsmythen der Aufklärung und die
nen ist und sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer
Begründung der Kunst
vor allem auf den venetischen Raum konzentrierten
In diesem Vorhaben steht W. jedoch nicht allein. Denn Debatte entwickelt (vgl. Testa 2003a; 2005). Das Wie-
neben dem umfassendsten Subjektivierungsprozess deraufgreifen der Verbindung zwischen Musik und Ar-
der Welt, der die Subjektivierung des Schönen emble- chitektur trägt in der Tat Züge einer bewussten Strategie
matisch als besonderes Kennzeichen der Selbst- der Neubegründung der Kunst in neo-klassizistischer
behauptung der modernen Welt (vgl. Ferry 1990) be- Prägung, die sich auf eine entschiedene Bestätigung des
trachtet, verzeichnet die westliche Kultur seit der Mit- absoluten und universellen Werts der harmonischen
te des 18. Jh. ein Hervorsprießen weiterer Strategien Proportionslehre beruft, um so die Architektur zurück-
der Neubegründung der Kunst (vgl. Testa 1999, 125– zuführen auf »einige viel festere Prinzipien als jenen
167), die nicht nur die Erfordernis verbindet, ein nor- Genius, der im Volksmund guter Geschmack genannt
matives Regelwerk wiederherzustellen, das dem Be- wird« (Bertotti-Scamozzi, III, 1781, 6).
griff des Schönen Intersubjektivität und objektive Die Theorie der harmonischen Proportionen, einer
Universalität garantiert, die eine Bezugnahme auf das der normativen Eckpfeiler des Renaissance-Klassizis-
Subjekt abstreiten würde, sondern auch die unablässi- mus, schien ihre Vitalität und theoretische Legitimität
90 II Systematische Aspekte

nach der radikalen Kritik durch Claude Perrault im Als beispielhaft in dieser Hinsicht erweisen sich die
17. Jh. erschöpft zu haben und war im sechsten und Ausführungen im Traité von Briseux zu dem Begriff
siebten Jahrzehnt des 18. Jh. erneut harten Angriffen »noble simplicité« (Briseux 1752, 69), dem kurz da-
aus der zutiefst vom Empirismus durchdrungenen rauf die Ehre zuteilwerden sollte, zum Schlüssel-
angelsächsischen Denktradition ausgesetzt. Denn mit begriff des W.schen Klassizismus’ zu werden. Bei W.
Hogarth (vgl. Hogarth 1753, 67–92), Burke (vgl. ist nämlich die »edle Einfalt« (Gedanken2, 21) das Er-
Burke 1759, 163–197) und Henry Home Kames (vgl. kennungszeichen einer transzendenten ästhetischen
Home 1762, III, 328–337) beginnt eine Dekonstrukti- Vollkommenheit und bezieht sich nicht auf die Sin-
on des metaphysischen Lehrgebäudes der Proportio- nessphäre des wahrnehmenden Subjekts. Im Traité
nenlehre. Ein dieser Denkrichtung gemeinsamer Zug hingegen wird in einer eher empiristischen als plato-
scheint die radikale Kritik des Begriffs »real beauty« nischen Sichtweise, begründet in der »angenehmen
zu sein, auf die eine ebenso radikale Relativierung der Wirkung« (ebd., 39) und dem »Grad des Vergnügens«
Kriterien der Schönheit insbesondere durch Hume (ebd.), die »noble simplicité« als »wahres Kennzei-
(vgl. Hume 1757, 208–209) folgt. chen des Schönen in den Künsten, und grundsätzlich
Vor dem Hintergrund dieser Kritik empiristischer in der Architektur« (»vray caractère du Beau dans les
Prägung erhält das Revival der Proportionslehre im Arts, et principalement dans l’ Architecture«; Briseux
18. Jh. eine klare anti-moderne und anti-subjektive 1752, 69) betrachtet. »Edle Einfalt« verweist daher
Bedeutung und zeigt sich – in Zielen, Argumentati- ausschließlich auf die Wahrnehmungsphysiologie des
onsweisen und theoretischen Abgrenzungen – fest Menschen (vgl. ebd., 51–55).
verbunden mit der breiten anti-barocken Front, die Auch die Festlegung der Proportionsregeln wird –
sich gerade um die Mitte des Jahrhunderts verfestigt, in Übereinstimmung mit der im Untertitel des ersten
und einig in der Forderung, der Schönheit und der Bandes genannten »wirklichen und unveränderlichen
künstlerischen Formensprache, durch die sie wahr- Schönheit« (»Beauté réelle et invariable«) – als Erfin-
genommen werden soll, objektive und universelle dung der Alten beschrieben, die im Lauf der Zeit ver-
Fundamente zu garantieren. mittels eines Prozesses empirischer Verifizierungen
Die Berufung auf einen traditionellen Topos der (vgl. ebd., 32–36.) hervorgebracht wurde. Sie verdankt
klassizistischen Renaissance wie die Theorie der har- sich einer durch den »natürlichen Geschmack« (»goût
monischen Proportionen steht Seite an Seite mit W.s naturel«; ebd., 8) wahrgenommenen »Empfindung des
idealistischem Historismus und Laugier’s Naturalis- Schönen« (»sensation du beau«; ebd.) und dem »ange-
mus, die in den gleichen Jahren eine ähnliche Kritik nehmen Eindruck« (»impression agréable«; ebd.) .
am barocken Subjektivismus betreiben, um die künst- Daher bedient sich die Neubegründung der Pro-
lerische Praxis auf das heteronome Fundament der portionslehre trotz der Prinzipien, von denen sie sich
Natur oder einer als absoluter Wert aufgefassten Ge- hat inspirieren lassen, paradoxerweise der empiri-
schichte zurückzuführen. schen Induktion anstelle der metaphysischen Deduk-
Mit derartigen Strategien der Neubegründung teilt tion. Sie ist nicht in der Lage, für das »wesentliche
die Proportionslehre nicht nur die Ziele, sondern auch Schöne« (»Beau essentiel«) eine Universalität zu ga-
die Aporien. Mit der gleichen Logik, die den gesamten rantieren, die über den bloßen sozialen Konsens oder
theoretischen Aufbau des von den klassizistischen und die von Perrault formulierte »Gewöhnung« (»accou-
Laugier’schen Ursprungsmythen durchdrungenen tumance«; Perrault 1673, [5]) hinausgeht, außer durch
»archäo-teleologischen« Modells bestimmt, kann auch den theoretischen Taschenspielertrick einer Art prä-
das Revival der Proportionslehre bei dem Versuch ei- stabilierter Harmonie, einer »Sympathie« (»sim-
ner erneuten Legitimation der Architektur durch pathie«; Briseux 1752, 50) zwischen Mensch und Kos-
Nachahmung, die mit Hilfe der abstrakten Regeln har- mos, einer »natürlichen Trigonometrie« (»trigonomé-
monischer Proportionen auf die Natur zurückgeführt trie naturelle«; ebd., 8), die durch »Gott als Geometri-
wird, sich einem fatalen Dialog mit dem Subjektivis- ker« (»Dieu [...] Géomètre«; ebd., 53) gewährleistet
mus nicht entziehen und landet schließlich bei dem wird, der »in das Wesen der Seele die Harmonie dieses
Paradoxon, die geforderte Objektivität und Universali- Universums« (»dans l’ essence de l’ Ame l’ harmonie de
tät der Proportionslehre unter Berufung auf empiri- cet Univers«; ebd., 54) eingeprägt hat.
sche Verifizierungen zu begründen; solche weisen aber Solch ein Zirkelschluss, eine petitio principii, die ei-
auf die Sphäre der Subjektivität zurück, die man doch ne gedankliche Introjektion des ästhetischen Fun-
neutralisieren wollte (vgl. Testa 2003a; ders. 2005). daments in das Subjekt ermöglicht, ist jedoch eine fra-
11 Winckelmann, die Ursprungsmythen der Aufklärung und die Begründung der Kunst 91

gile Lösung. Sie zeigt, dass es Briseux’ Strategie der die ontologische Grundlegung der künstlerischen
neo-proportionalistischen Neubegründung unmög- Produktion vermittels der perfekten Überlagerung
lich ist, die Paradoxa, in die sie sich verwickelt hat, auf- zwischen Nachahmer und Nachgeahmten. Zu ihr ge-
zulösen. Sie enthüllt, dass das so sehr herbeigesehnte langt man dank der tendenziellen Auslöschung des
absolute Fundament, wie Burke es polemisch nennen Subjekts, das nämlich selbst in ausschließlicher und
sollte, nichts anderes ist als eine unterschwellig ein- erschöpfender Weise Natur ist.
geschlichene Projektion des Subjekts selbst: »I am the Dennoch braucht der Mensch ab origine »einen
more fully convinced, that the patrons of proportion Ruheort« (»un lieu de repos«; Laugier 1755, 8): ein na-
have transferred their artificial ideas to nature, and not türliches Bedürfnis, auf das die Natur jedoch keine
borrowed from thence the proportions they use in unmittelbare Antwort zu geben vermag. Die Äuße-
works of art« (Burke 1759, 183). rung dieses Bedürfnisses markiert einen ersten, ur-
Das Rousseausche Paradigma eines Ursprungs- sprünglichen, unmerklichen Riss, einen klaffenden
mythos’, der sich an die Natur als letzten Bezugspunkt Spalt in der Gegenwärtigkeit (»présence à soi«) der
einer mit Hilfe der Mimesis angestrebten Neubegrün- Natur, eine Trübung in der Transparenz des Ur-
dung wendet, findet eine exemplarische Verwirk- sprungs. Zwischen dem Wunsch und seiner Befriedi-
lichung im Essai sur l’ architecture von Marc-Antoine gung eröffnet sich ein Raum des Aufschubs, der »dif-
Laugier (vgl. Testa 1997, 355–359; ders. 2000, 331– férance originaire« (Derrida 1974, 238). In diesem
332), der ebenfalls fest entschlossen ist, das klassizisti- Raum, den Laugier auf Null reduzieren möchte, wird
sche Dogma der Existenz eines »beau essentiel« (Lau- die Dynamik des Kunstschaffens, die Zeit der Ge-
gier 1755, 256) zu bestätigen, auf das man sich berufen schichte, die menschliche Zeit eingeleitet: Eine Hütte
kann, um der Gefahr der Relativierung des Ge- wird entstehen und mit ihr die Architektur als vom
schmacks entgegen zu treten, die bereits im 17. Jh. von Menschen geschaffene Kunst, der ab origine gezwun-
Claude Perrault formuliert wurde und deren Beispiele gen war zu ergänzen, »durch seinen Gewerbefleiß die
sich in der zeitgenössischen Architektur mit ihren Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit der Natur aus-
spätbarocken und Rocaille-Extravaganzen finden. zugleichen« (»supléer, par son industrie, aux inattenti-
Zu diesem Zweck entwickelt der Text eine Narrati- ons & aux négligences de la nature«; Laugier 1755, 9).
on, die den »Menschen in seinem ersten Ursprung« Mit einem dogmatischen Aufruf zur Nachahmung
(»homme dans sa premiere origine«; ebd., 8) vorführt: der »einfältigen Natur« (»simple nature«; ebd.) ver-
Am Nullpunkt, an dem Geschichte und Kultur einset- birgt Laugier jedoch in der Dynamik des Ursprungs-
zen, ist der Mensch nur und ausschließlich Natur; dort mythos’ und in seiner gewollten Opazität das Spiel des
spricht aus ihm, laut Rousseau, »die Natur allein« Aufschubs, den Gestus der Freiheit, die ursprüngliche
(»seule nature«; Rousseau 1969, 472) in Form des »na- Autonomie, die ab origine das Universum des Men-
türlichen Instinkts für seine Bedürfnisse« (»instinct schen und seine Formenwelt als ohne transzendente
naturel de ses besoins«; Laugier 1755, 8). Grundlegung, als willkürlich und verschieden von der
Am Ursprung ist die Natur sowohl äußere Umwelt Natur bestimmt.
als auch innerste und ausschließliche Essenz des Sub- So fährt der Text mit der naturalistischen Begrün-
jekts; der Ursprung ist jener Ort und jene Zeit, in de- dung des Trilithen-Systems der klassischen Architek-
nen die beiden Begriffe zusammenfallen, wo »eine turordnung fort, deren wesentliche Elemente – Säule,
Beugung der Physis, die Beziehung der Natur auf sich Gebälk, Giebel – genetisch auf das Modell der Ur-Hüt-
selbst« (»une flexion de la physis, le rapport à soi de la te, den Archetypus der Architektur (vgl. ebd., 10–11)
nature«; Derrida 1975, 59) geschieht und »die Natur« zurückgeführt werden, auf den sich jedes künftige
- mit Kants Worten – »im Subjekte [...] der Kunst die menschliche Bauwerk in einer »archäo-teleologi-
Regel geben« (Kant 1977, 241) muss. schen« Perspektive als auf sein eigenes Fundament
Das im Ursprungsmythos angelegte Mimesis-Sys- wird beziehen müssen, um daraus die Kriterien zu ge-
tem scheint hier die ersehnte »vollkommene Nach- winnen, mit denen über die eigene Schönheit und
ahmung« (»imitation parfaite«; Derrida 1974, 486) zu Wahrheit geurteilt werden kann.
realisieren, die »reine Repräsentation« (»représentati- Die Bedürfnisse und die Erfindungsgabe des Men-
on pure«, ebd., 412), die »Gegenwart der Sache, dar- schen als genetisches Prinzip der Architektur bleiben
gestellt in ihrer vollkommenen Nachahmung« (»pré- jedoch weiter aktiv. Im Werden der Geschichte arbei-
sence de la chose représentée à son imitation parfaite«; ten sie daran, die Mängel des Archetyps abzustellen,
ebd., 426). Diese Nachahmung dient als Strategie für und greifen gleichzeitig in ambivalenter Weise seine
92 II Systematische Aspekte

ursprüngliche Perfektion an. Sie tun dies entweder in Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang Rous-
der Form vom Bedürfnis diktierter Freizügigkeiten – seaus Reflexionen über den nicht mehr geometri-
dazu gehören Wände, Fenster, Bögen –, oder sie ver- schen Garten in der Nouvelle Héloïse (1762) (Rous-
derben die ursprüngliche Perfektion vor allem durch seau 1964, 470–488) und seine Beschreibung des Ély-
das Ornament, aber auch durch Pfeiler und Pilaster, sée de Clarens: ein historisch wichtiger Text für die
die als schlechter Ersatz für die Säule galten. Kodifizierung und die Verbreitung des seit dem zwei-
Die Geschichte, die Zeit des Austretens des Men- ten Jahrzehnt des Jahrhunderts in England entwickel-
schen aus dem Nullpunkt des Ursprungs, ist durch ei- ten Modells des Landschaftsgartens in Frankreich
ne doppelte Bewegung gekennzeichnet, die parado- und Europa.
xerweise in entgegengesetzte Richtungen voranschrei- Die Analyse des Gartens folgt dem theoretischen
tet und einerseits von dem Gebot gelenkt wird, be- Schema der Ursprungsmythen (vgl. Testa, 1996; 1997,
ständig an den Ursprung zu erinnern, um sich so weit 353–355, 359–361): So wird die freie Natur des Ély-
wie möglich dem archetypischen Modell zu nähern, sée-Gartens dem formalen französischen Garten mit
andererseits von der Notwendigkeit, sich zu entfernen einer Argumentation gegenüber gestellt, die im We-
»von diesen groben und unförmigen Erfindungen« sentlichen das Problem der Mimesis betrifft, nämlich
(»de ces grossieres & informes inventions«; ebd., 12) die Möglichkeit der Kunst, die wahren Formen der
und »den Nachlässigkeiten eines so roh zusammen- Natur korrekt zu reproduzieren. Der franko-italie-
gesetzten Gebildes« (»aux négligences d’une composi- nische Garten wird nicht nur aus ethischen Gründen
tion si brute«; ebd.) abzuhelfen. – wegen der Zurschaustellung von überflüssigem Lu-
Die unwiderrufliche Künstlichkeit des Anfangs der xus und Pracht, einer unangemessenen Konzession
Architektur, die Laugier beschrieben hat – »durch sei- an die Ansprüche gesellschaftlichen Auftretens – ab-
nen Gewerbefleiß die Unaufmerksamkeit und Nach- gelehnt, sondern vor allem, weil in solch einem Gar-
lässigkeit der Natur auszugleichen« (»supléer, par son ten der Natur architektonisch-geometrische Formen
industrie, aux inattentions & aux négligences de la na- aufgezwungen werden und sich nichts von der Essenz
ture«; ebd., 9) –, um sie dann zu verbergen, entpuppt der Natur selbst offenbart. Dadurch gelangt man zum
sich als das Grundübel der Geschichte. Wenn man entgegengesetzten Ergebnis, nämlich die Natur zu
von der Geschichte zum Ursprung zurückkehrt, er- verderben (»gâter la nature«; Rousseau 1964, 482)
weist sich dieser als ursprünglicher Mangel, als ur- und zu entstellen (»la défigurer«; ebd., 484).
sprüngliche Leere, die ab origine durch das Genie des Umgekehrt erlaubt der Landschaftsgarten, wie er
Menschen gefüllt wird. sich im Élysée präsentiert, eine vollkommene Epipha-
Zu diesem Ergebnis gelangt auch die Debatte über nie der Natur: In ihm spricht »die Natur allein« (»seu-
den Landschaftsgarten, die im gleichen Zeitraum le nature«; ebd., 486), die Natur in ihrer Reinheit und
aufkommt und in ihrer begrifflichen Artikulation Einfachheit zum Menschen, wie in Laugiers Ur-
das Schema reproduziert, das – wie wir gesehen ha- sprungsmythos. Die Natur wird sichtbar und stellt
ben – die Strategien der Neubegründung der Theorie sich als »vollständige Präsenz« (»présence pleine«;
der Künste in der zweiten Hälfte des 18. Jh. kenn- Derrida 1974, passim) dar.
zeichnet. Der Ort, an dem dies geschieht, wird mehrfach
Die ästhetische Aneignung der Natur – das wahre »verlassene Insel« (»Isle deserte«) genannt, wo man
Epizentrum der Frage – sieht sich eingezwängt zwi- keine »menschlichen Spuren« (»pas d’hommes«;
schen den subjektivistischen Forderungen des Spät- Rousseau 1964, 479) wahrnimmt: »man sieht keinerlei
barock und der Frühromantik und dem klassizisti- menschliche Arbeit« (»on ne voit point de travail hu-
schen Streben nach einer neuen Grundlegung des main«; ebd., 472). Die Spuren menschlicher Eingriffe,
künstlerischen Zeichens durch die Mimesis eines Ar- die Zeichen der Künstlichkeit sind (fast) nicht mehr
chetyps der Natur, an den die Kunst sich anpassen wahrnehmbar: Die Darstellung tendiert dazu, un-
muss. Das Ergebnis dieser auf den Kontrast zwischen unterscheidbar vom eigenen Modell zu werden; der
autonomer schöpferischer Subjektivität und hetero- Nachahmer gleicht sich dem Nachgeahmten in einer
nomer Grundlage des ästhetischen Ideals zugespitz- »vollkommenen Nachahmung« (»imitation parfaite«;
ten Debatte sind auch hier die Aufhebung und das Derrida 1974, 426) an, die den »Nullgrad« (»degré zé-
Vergessen der Natur als Fundament, da letztere ganz ro«; Todorov 1977, 143) darstellt, die ideale Grenze,
und gar den repräsentativen Ansprüchen des moder- die das klassische Mimesis-System als eigene perfekte
nen Subjekts unterworfen wird. Vollendung anstrebt.
11 Winckelmann, die Ursprungsmythen der Aufklärung und die Begründung der Kunst 93

Julies Elysée-Garten strebt – in Derridas Begriffen – gen, darin besteht der echte Geschmack« (»c’est à le ca-
danach, »die vollkommene Repräsentation« (»la re- cher que consiste le véritable goût«; ebd., 482). Dieses
présentation parfaite«; Derrida 1974, 420) zu sein, ei- Minimum an Künstlichkeit, das Rousseau zulässt,
ne »reine Repräsentation, ohne metaphorische Ver- während er es gleichzeitig zurückweist, erscheint den-
schiebung« (»représentation pure, sans déplacement noch als verheerend für das klassische Mimesis-Sys-
métaphorique«; ebd., 412), eine »reine Abbildung« tem, in dem es seinen Platz hat, und für die darauf ba-
(»pictographie pure«; ebd., 425–426) der Natur, die in sierende ursprüngliche Konzeption des Landschafts-
ihr »selbst, unmittelbar« (»en personne, immédia- gartens als »vollkommene Nachahmung« (»imitation
tement«; ebd., 334) erscheint, die »Natur allein« (»seu- parfaite«) der Natur.
le nature«; Rousseau 1964, 486), ununterscheidbar Der moderne Garten, der Garten der Moderne als
von dem Zeichen, das sie darstellt. einer Epoche der vollen Selbstbehauptung des Sub-
Rousseau weist bereits in den ersten Zeilen des Tex- jekts, tritt definitiv aus dem klassizistischen Rahmen
tes darauf hin, dass die »verlassene Insel« (»Isle deser- der Mimesis der Natur heraus, um eine Maschinerie
te«) nur eine »künstliche Einöde« (»desert artificiel«; zur Herstellung von Empfindungen zu werden (vgl.
ebd., 474) sein kann. Denn die »reine Repräsentation« Testa, 1996; ders. 1997, 353–355, 359–361; ders.
(»représentation pure«; Derrida 1974, 412), »ein Zei- 2003b).
chen, das das Bezeichnete darstellt, ja die Sache selbst,
unmittelbar« (»un signe donnant le signifié, voire la
Die »archéo-téléologie« von Winckelmann und
chose, en personne, immédiatement«; ebd., 334), ein
seine Aporien
völlig transparentes Zeichen, neigt daher selbst zu
»seiner eigenen Nichtwahrnehmbarkeit« (»sa propre »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich
imperceptibilité«; ebd., 420), ist ein »unmögliches ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung
Zeichen« (»signe impossible«; ebd., 334), das – um als der Alten«: Dieser Passus der Gedancken über die
Zeichen zu existieren – ein Minimum an Künstlich- Nachahmung (Gedanken2, 3) bringt als öffentliche
keit erfordert: »all dies kann man nicht ohne ein wenig Proklamation der klassizistischen Ästhetik in einer
Illusion schaffen« (»tout cela ne peut se faire sans un kraftvollen Synthese die theoretische Struktur der von
peu d’illusion«; Rousseau 1964, 480). W. entwickelten Strategie der Neubegründung zum
Denn die freie Natur, die von jedem menschlichen Ausdruck. Die Mimesis als ihre zentrale Gelenkstelle
Eingriff nahezu unberührte Natur des Ursprungs ist und als Gestus der Neubegründung wendet sich hier
»Stille und Nacktheit« (Mabil 1818, 83) und kann »Be- nicht an die Natur und strebt nicht danach, abstrakte
wegung und Leben« (ebd.) nur als Folge des mensch- transzendente Prinzipien zu gewinnen, um die antike
lichen Eingreifens erringen. Die Künstlichkeit ist also Kunst zum Gegenstand der Nachahmung zu machen.
kein Übel, das man nicht völlig eliminieren kann und Damit wird die Rolle des Ursprungs, auf den man sich
daher möglichst verbergen muss, sondern sie erscheint berufen kann, um den modernen Subjektivismus zu
als wesentlich für die Darstellung und muss daher zur korrigieren, auf historische Zeugnisse übertragen, die
Anschauung gebracht werden. Wie William Chambers dann zum Bezugspunkt für die Rückführung der
schreibt: »inanimate, simple nature is too insipid for Kunst auf ein universelles Maß werden. Dessen Stre-
our purposes« (Chambers 1772, 19), »Stille und Nackt- ben nach Absolutheit wird nicht umhin können, irre-
heit« (Mabil 1818, 83) der »Natur für sich« (Rousseau parable Reibungen mit der materiellen und kontin-
1964, 486) müssen durch die Kunst ergänzt werden: genten Immanenz der historischen Modelle (vgl. Tes-
»Art must therefore supply the scantiness of nature [...] ta 1999) hervorzurufen.
to excite [...] strong sensations« (Chambers 1772, 14). So entsteht ein Paradoxon, das die Aporie einer
Die Künstlichkeit ist notwendig für die Darstellung, Epoche reproduziert, die im vollen Bewusstsein seiner
ohne sie gibt es kein Eden, kein Elysium für den Men- Absenz auf verschiedenen Wegen nach dem Fun-
schen: »die Einöde« (»le desert«) der Zeichen braucht dament sucht. Dieses Paradoxon wird ab origine das
– um existieren zu können – »ein wenig Illusion« (»un W.sche »Lehrgebäude« (GK1, IX) schwächen und in
peu d’illusion«; Rousseau 1964, 480). Wenn Künstlich- seinem Inneren einen unerbittlichen Prozess der De-
keit das Übel ist, dann ist es ein notwendiges, ur- konstruktion in Gang setzen, dem in ähnlicher Weise
sprüngliches Übel, ein Geburtsfehler jedes Darstel- auch andere Ursprungsmythen der Aufklärung aus-
lungssystems. Es muss neutralisiert, auf ein Minimum gesetzt waren, aus dem jedoch eine kraftvolle und
reduziert werden, gegen Null tendieren: »es zu verber- durchdringende ästhetische Theorie, eine neue Kon-
94 II Systematische Aspekte

zeption des Kunstwerks und der Prozesse, die seiner schiedenen Nationen und der verschiedenen Epochen
Erschaffung vorausgehen, und ein Stil, der eine ganze als kohärent und funktional für eine ästhetische Theo-
Epoche prägen sollte, hervorgehen werden. rie Lockescher empiristischer Prägung, gemäß der das
»Wegen der gemäßigten Jahreszeiten« (Gedanken2, Schöne keinen absoluten und universellen Wert dar-
1–2), wie bereits im ersten Abschnitt der Gedanken stellt, sondern von der individuellen Erfahrung des
über die Nachahmung zu lesen ist, entwickelte sich die Subjekts abhängt, der Herrschaft des Geschmacks, der
Körperschönheit der Griechen auf jene vollkommene Sphäre des sinnlichen Vergnügens, des »sentiment«
Weise, auf die W. sich beruft, um die Vortrefflichkeit angehört und daher nicht auf Normen und Regeln zu-
der von ihnen inspirierten künstlerischen Schöpfun- rückführbar ist, die eine intersubjektive Gültigkeit be-
gen zu begründen. Der klimatologische Determinis- anspruchen.
mus wird ergänzt durch bestimmte Lebensweisen der Solche radikal relativistischen Konzeptionen über-
griechischen Gesellschaft und deren Auswirkungen trägt Dubos auf die Ebene des historischen Werdens,
(vgl. Testa 1999, 199–213). Die vollkommene ideale um eine allgemeine Theorie der Variation der kul-
Schönheit, die sich in den Kunstwerken offenbart, er- turellen Codices zu entwerfen, die die äußeren Bedin-
weist sich somit als Ergebnis eines historisch determi- gungen als Kräfte ansieht, die in der Lage sind, nicht
nierten Schaffensprozesses, kraft dessen das Göttliche nur »den Geist der Menschen« (»le génie des hom-
im Zeitlichen Gestalt annehmen konnte: »Phryne ba- mes«) zu formen, sondern auch »den Geist der Jahr-
dete sich in den Eleusinischen Spielen vor den Augen hunderte und Nationen« (»le génie des sicles & des
aller Griechen, und wurde beim Heraussteigen aus Nations«; ebd., 11). Der ästhetische Subjektivismus
dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus wird so zu einer Art historistischem Relativismus, der
Anadyomene« (Gedanken2, 8–9). die Missdeutung des Klassischen als eines absoluten
In der Geschichte der Kunst des Alterthums werden Modells impliziert: Er überschreitet die eigene raum-
die in den Gedanken dargelegten Begrifflichkeiten zeitliche Bestimmtheit und bietet sich als Bewahrer ei-
vertieft und verfeinert; auf ihrer Grundlage entsteht nes universellen und über-historischen ästhetischen
eine allgemeine Theorie der historischen Interpretati- Werts den Nachkommen zur Nachahmung an.
on künstlerischer Phänomene, die systematisch auf al- Im ersten Kapitel des »Trattato preliminare dell’ arte
le kunstschaffenden Kulturen der antiken Welt an- del disegno degli antichi popoli«, der Einleitung zu
zuwenden ist, von den Ägyptern bis zu den Etruskern. den Monumenti antichi inediti, zeigt sich die Hypo-
Die klimatologische Erklärung wird durch eine sozio- thek, die W.s bei Dubos aufgenommen hat, in wort-
logische Theorie ergänzt, die im Vergleich zu den Ge- wörtlichen lexikalischen Anleihen, wenn er vom
danken reichere und komplexere Formen annimmt. »Geist des Jahrhunderts« (WA VII, 181) spricht oder
Ausgehend von diesen Prinzipien analysiert W. im die »Verschiedenheit der [...] Gemüthsart bey diesem
ersten Stück des vierten Kapitels der Geschichte der oder jenem Volke« (ebd., 2) beobachtet. Diese Über-
Kunst, nachdem er kunstschaffende Kulturen an den nahmen lassen jedoch eine begriffliche Konstellation
Grenzen der griechischen Welt behandelt hat, die einsickern, die in das W.sche »Lehrgebäude« eine un-
»Gründe«, »Ursachen« und Besonderheiten »des Auf- gelöste theoretische Spannung bringt. Denn der Um-
nehmens und des Vorzugs der Griechischen Kunst« welt-Determinismus, der die Historisierung der von
(GK1, 127). der Klassizität formulierten Idee der absoluten Schön-
Zur Bestätigung seiner Thesen beruft sich W. auf heit herbeiführt, bringt die Prinzipien eines radikalen
den klimatologischen Determinismus von Polybios Relativismus mit sich, der die Ansprüche von Absolut-
(GK1, 19), dessen Theorien im 18. Jh. eine rigorose heit und Universalität des klassischen Ideals unter-
Überarbeitung in Montesquieus Esprit des Loix (1748) gräbt. Das Ideal hat sich in einem hedonistischen Sub-
erfuhren und zuvor unter Bezugnahme auf künstleri- jektivismus aufgelöst, dem W. wider Willen Raum ge-
sche Phänomene bereits von Dubos in den Réflexions ben muss. Denn noch im gleichen Kapitel des »Tratta-
critiques sur la Poésie et la Peinture (1719; vgl. Franke to preliminare« legt er dar, dass »die Kunst der
2006, 89–96) aufgegriffen worden waren. Hier erweist Zeichnung [...] bey den Völkern eine Tochter des Ver-
sich der Hinweis auf die Umweltbedingungen – auf gnügens gewesen« sei (ebd.).
die »moralischen Ursachen« und »physikalischen Ur- Wenn der Ursprung nach seinem Eintritt in die Ge-
sachen« (»causes morales«/«causes physiques«; Du- schichte sich gerade deshalb als lokal und pluralisch
bos 1733, II, Sections 12–20) - zur Erklärung der Be- erweist, gibt es in Wirklichkeit keinen Ursprung, auf
sonderheiten der kunstschaffenden Kulturen der ver- den man sich berufen kann, um die Schönheit neu zu
11 Winckelmann, die Ursprungsmythen der Aufklärung und die Begründung der Kunst 95

begründen, noch ist es möglich, absolute ästhetische Gegenwart, gemäß dem bereits in den Gedanken über
Normen zu postulieren. Die Klassik wird zu einer Ge- die Nachahmung formulierten »archäo-teleologi-
schichte unter Geschichten, zu einer individuellen sti- schen« Gebot, inspirieren lassen muss, um die zeitge-
listischen Konfiguration, verwurzelt in dem Kontext, nössische Kunst auf universellen Werten neu zu be-
in dem sie entstanden ist, und von ihm umgrenzt, ge- gründen.
mäß einem Prinzip, dass W. so formuliert: »Unterdes- Und doch will W. sich vom traditionellen Klassizis-
sen kann der Stil von einer Zeit in der Kunst so wenig mus entfernen, für den die Schönheit der antiken
[...] allgemein seyn« (GK1, 225–226). Kunst der historische Ausdruck eines idealen Schö-
Solch ein Prinzip erweist sich jedoch als unzulässig nen ist, das die menschliche Zeitlichkeit transzendiert
und erzeugt in der Geschichte der Kunst eine latente und das sich in der Geschichte zu erkennen gibt, aber
und ungelöste Spannung zwischen der anerkannten nicht in ihr entsteht. In den Monumenti antichi inediti
Historizität des Klassischen und seinem Anspruch auf bringt er seine Absicht zum Ausdruck, sich von denen
einen übergeschichtlichen Wert. Diese Spannung be- zu unterscheiden, die vor ihm das Schöne in rein me-
herrscht die Komposition des Textes, regelt seine Be- taphysischer Perspektive behandelt haben, und legt
grifflichkeiten und spiegelt die grundsätzliche Aporie sein eigenes Programm einer historischen Neu-
wider, die die Strategie der »archäo-teleologischen« begründung des universellen ästhetischen Werts der
Neubegründung auf der Grundlage des Ursprungs- Klassizität dar, indem er erklärt, vom »Idealen zum
mythos der griechischen Klassizität brüchig macht. Wirklichen« herabsteigen zu wollen (WA VII, 72).
Der Wunsch nach »gründlicher Anzeige des wah- W. fordert jedoch weiterhin eine metaphysische
ren Schönen« (AGK, II), der W. seit den Gedancken Grundlage für die Schönheit. Die Historisierung der
über die Nachahmung zum Studium der griechischen Idee, die er in dem Abschnitt der Gedancken über die
Kunst drängte, und die daraus herrührende Mimesis- Nachahmung (Gedanken2, 4–10) vornimmt, in dem er
Strategie wirken weiterhin als grundlegendes Motiv die klimatisch-soziologischen Bedingungen des grie-
auch in der Geschichte der Kunst: chischen Wunders anführt, ist in der Gesamtstruktur
des Textes von zwei Passagen eingerahmt, die wie
»Die Kunst der Griechen ist die vornehmste Absicht wahre Glaubensakte klingen, Akte eines Glaubens an
dieser Geschichte, und es erfordert dieselbe, als der den transzendenten Wert des Schönen.
würdigste Vorwurf zur Betrachtung und Nachahmung, Das Thema wird nämlich durch einen Verweis auf
[..], eine umständliche Untersuchung, die [...] in Unter- einen Passus des Kommentars von Proklos zum plato-
richt des Wesentlichen bestände, und in welcher nicht nischen Timaios (Proclus, In Tim. II.81c-e, zu Platon,
blos Kenntnisse zum Wissen, sondern auch Lehren Timaeus 28a-b) eingeleitet, der die These bekräftigen
zum Ausüben vorgetragen würden. Die Abhandlung soll, dass »idealische Schönheiten [...] von Bildern
von der Kunst der Aegypter, der Hetrurier, und anderer bloß im Verstande entworfen, gemacht sind« (Gedan-
Völker, kann unsere Begriffe erweitern, und zur Richtig- ken2, 4), und schließt mit einer Wiederaufnahme des
keit im Urtheil führen; die von den Griechen aber soll rein transzendenten Charakters der von den griechi-
suchen, dieselben auf Eins und auf das Wahre zu be- schen Künstlern geschaffenen Formen: »ihr Urbild
stimmen, zur Regel im Urtheilen und im Wirken.« war eine bloß im Verstande entworfene geistige Na-
(GK1, 127–128) tur« (ebd., 10). Die Aussage beeinträchtigt im Grunde
den Wert des Prozesses der historischen Herstellung
Im allgemeinen Rahmen eines Projekts zur systemati- von Schönheit, der von einer Art idealisierender Aus-
schen Historisierung der kunstschaffenden Kulturen wahl (vgl. auch GK1, 154–155) gelenkt wird. Durch
der antiken Welt genießt die Kunst der Griechen da- diese Selektion kommt es zur Sublimierung und zur in
her einen außergewöhnlichen und intrinsisch aporeti- den vorangegangenen Absätzen des Textes (vgl. Fran-
schen Status. Eingetreten in die Zeit der Geschichte ke 2006, 87–89) beschriebenen Vervollkommnung
und verstanden auf der Basis der »Gründe« und der der empirischen Natur.
»Ursachen« ihrer Entstehung, hat die griechische W.s platonisierender Klassizismus entwickelt sich
Kunst doch auch teil an einer höheren und transzen- in einer konstanten dialektischen Auseinanderset-
denten Essenz, die ihr die Fähigkeit verleiht, die Zei- zung mit dem Relativismus, der damit neutralisiert
ten und die Ereignisse der Geschichte zu überragen, werden soll; er entsteht in der Diskontinuität einer
um in ihr den Hauch des Absoluten zu offenbaren, Reihe von Eingriffen, die der Subjektivierung und
»des wahren Schönen« (AGK, II), von dem sich die Historisierung der ästhetischen Regelwerke entgegen
96 II Systematische Aspekte

treten sollen, zu denen jedoch auch das W.sche Den- Der Begriff des Modells als Epiphanie des Schönen
ken auf anderen Wegen gelangt. in einem geschichtlich entstandenen Werk, die zwi-
So wird in der Geschichte der Kunst mit einer theo- schen Kontingenz und Universalität, Materialität und
retischen Bewegung, deren Spiegelbild sich in einer Transzendenz, Geschichte und Norm vermittelt, und
Art Palinodie auch in den Gedanken über die Nach- die darauf basierende Mimesis-Strategie bilden das
ahmung, im zweyten Stück des vierten Kapitels, unter Herzstück von W.s »Lehrgebäude«. Zu diesem ab-
dem Titel »Von dem Wesentlichen der Kunst« wieder schließenden Ergebnis, zu dieser endgültigen Lösung
findet, daran gearbeitet, die Ergebnisse der Relativie- – innerlich geschwächt durch die paradoxe Logik, die
rung, die die im Ersten Stück vorgenommene Histori- den Rahmen beherrscht, in dem sie entsteht – gelangt
sierung eingeleitet hat, zurückzuweisen, zu verbergen, die W.sche »archéo-téléologie« in dem Bemühen, eine
zu neutralisieren. klassizistische normative Ästhetik in Form von Ge-
Mit einer klaren Distanzierung von der voraus- schichte vorzulegen, »eine historische Metaphysik des
gegangenen Abhandlung betrifft W.s Hauptsorge hier Schönen« (Lepenies 1988, 104). Diese Lösung erfor-
die Erfordernis, dass die wahre Grundlage der Schön- dert eine Reihe von theoretischen Vermittlungen, die
heit bestimmt werden solle, »der höchste Entzweck, sich ad infinitum zu vervielfachen scheinen, deren
und [...] der Mittelpunct der Kunst« (GK1, 142), wofür Fundament bis ins Unendliche immer wieder ent-
jedoch »ein allgemeiner deutlicher Begriff« (ebd.) weicht, verloren in einem unerreichbaren überhimm-
fehlt, »die Regel und der Canon des Schönen« (ebd., lischen Ort, verkörpert von einer auf ein tendenziell
143). immaterielles und nicht wahrnehmbares »beinahe
Zu diesem Thema bekräftigt W. peremptorisch: »es Nichts« (»presque nulle«; Derrida 1974, 282) redu-
ist also die Schönheit verschieden von der Gefällig- zierten Form, die sich für eine unmögliche Mimesis
keit« (ebd., 148), welche das Grundübel vertritt, die anbietet (vgl. ebd., 299–344).
gemeinsame Wurzel sowohl des historistischen Rela- Denn die Vorbilder erweisen sich als ein prekärer
tivismus als eines kritisierten, aber notwendigen Er- und labiler Zielpunkt: Die »Platonischen Begriffe«, die
gebnisses der Historisierung der antiken Kunst als in der Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung
auch des sensualistischen Subjektivismus, der auf der des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in der-
Basis einer gemeinsamen erkenntnistheoretischen selben (Abhandlung, 10) angeführt werden, um die
empiristischen Matrix daran anknüpft. subjektive Sphäre der »Empfindung« auf eine univer-
Dennoch hebt W. das Unvermögen hervor, in abs- selle normative Ordnung zurückzuführen und ihr zu
trakter Weise ein positives eindeutiges Konzept fest- unterwerfen, wirken hier auch gegenüber den Vorbil-
zulegen, das die Essenz des Schönen vermittels meta- dern, deren materielle Identität einem fortschreiten-
physischer Deduktion definiert, die er anstrebt und den Auflösungsprozess ausgesetzt ist (vgl. Testa 1999,
derer er sich daher bei mehreren Gelegenheiten (vgl. 215–298).
ebd., 149–150; MI, XXXVII) ohne zu zögern bedient. Als Lösung für die Erfordernis, über »sinnliche Be-
Dieser theoretischen Ausweglosigkeit begegnet er mit griffe der Schönheit« (Betrachtung, 6) zu verfügen,
der Methode, »aus lauter einzelnen Stücken wahr- werden die Meisterwerke der griechischen Bildhauer-
scheinliche Schlüsse zu ziehen« (GK1, 149): aus den kunst als »Hülle« (GK1, 162) einer Idee von transzen-
»erhaltenen Werken des Alterthums« (ebd., 142), denter Schönheit aufgefasst und streben ihrerseits
konkreten, sichtbaren, ausstellbaren Gegenständen, nach Immaterialität: »Die großen Künstler der Grie-
die sich den Zeitgenossen zur Nachahmung anbieten, chen [...] suchten den harten Gegenstand der Materie
die in ihnen den »Grund« (Gedanken2, 14) finden zu überwinden, und, wenn es möglich gewesen wäre,
können, aus dem die Palingenese der vom barocken dieselbe zu begeistern« (ebd., 156).
Antiklassizismus verdorbenen Kunst (vgl. Testa 1999, W. arbeitet »durch Wegnehmen von Material«
215–218; 299–332) in Gang gesetzt werden kann. (»per forza di levare«; Michelangelo Buonarroti 1558,
Die von W. dargelegte Strategie der »archäo-teleo- 155), mit dem Zweck, »alle fremden Theile« (ebd.,
logischen« Neubegründung enthüllt so gewollt mo- 151), die die Schönheit kontaminieren, an den Rand,
derne Merkmale und intrinsische Aporien: Die Trans- an die Grenze des Diskurses und im wörtlichen Sinne
zendenz der Norm wird in der Immanenz eines exem- an die äußersten Konturen des Kunstwerks zu drän-
plarischen Objekts, eines Vorbilds gedacht; die gen und auf »beinahe nichts« (presque nulle«) – die
Grundlage wird als historisches Geschehen dar- dünne Linie des Konturs, die die Form umschreibt –
gestellt. zu reduzieren.
11 Winckelmann, die Ursprungsmythen der Aufklärung und die Begründung der Kunst 97

Dieser Kategorie müssen streng genommen alle te Schönheit der Formen oder [die] linearische Schön-
sinnlich wahrnehmbaren Aspekte des Kunstwerks zu- heit« (WA VII, 94; vgl. Testa 1999, 282–298).
geschrieben werden, eine Reihe von Akzidentien, Par-
erga (Derrida 1978, 40–81) und Ergänzungen, die es
Piranesi: Ende der Ursprungsmythen und Durch-
der Schönheit ermöglichen, wahrnehmbar zu werden,
setzung der Subjektivität
die aber unabwendbar ihre ursprüngliche Reinheit
beschmutzen, die also essentiell für die Erscheinung Die äußerste Schwelle, auf der W. verweilt, ohne sie je
und doch fremd für die Essenz des Schönen sind, ihm zu überschreiten, wird schließlich von Piranesi im Pa-
äußerlich und gefährlich, schädlich, irreleitend. rere sull’ architettura (1764) verletzt. Bei ihm offenbart
Ausdruck, Bewegung, Faltenwurf, Farbe müssen sich die dunkle Seite von W.s eisiger Sprachlosigkeit.
daher verbannt werden, und schließlich wird selbst Die »selbstmörderische Ästhetik« (»esthétique suici-
die sinnliche Identität des Werks von einer Erosion er- daire«; Michel 1989, 7), die deren Folge ist, wird zu ei-
griffen, die immer tiefgreifender das signifikante Ma- ner Art schwindelerregender mise en abyme der Mi-
terial der Schönheit beschädigt, in einem Prozess, der mesis-Strategie, auf der die klassizistische »archéo-té-
im Extremfall zur Vernichtung der Vorbilder selbst léologie« sich gründete, die einer extremen Beweisfüh-
tendiert (vgl. Testa 1999, 219–282). rung ad absurdum unterworfen wird und schließlich
Wie W. in einem Bericht an Gian Ludovico Bianco- über sich selbst kollabiert.
ni schreibt, ist die Beziehung zwischen der Idee der Nachdem der venezianische Kupferstecher als Pro-
Schönheit und ihren sinnlich wahrnehmbaren Ab- tagonist an der Querelle teilgenommen hatte, in der
bildern um die Mitte des Jahrhunderts die Befürworter des
historischen Primats der griechischen Architektur ge-
»zu vergleichen mit der Natur des Punktes. Der Punkt gen diejenigen – unter ihnen auch Piranesi – antraten,
muss unteilbar sein; da das Sichtbare aber immer teil- die das höhere Alter und die Eigenständigkeit der
bar ist, ist der Punkt in Wirklichkeit unbegreiflich. Da etruskisch-römischen Kultur ins Feld führten (vgl.
wir nun das Bedürfnis haben, uns eine sichtbare Idee Testa 1997, 355–359; ders. 1999, 183–195; ders. 2000,
von dem Punkt zu machen, nennen wir einen Punkt 327–335, mit Literatur; Kantor-Kazovsky 2006, 19–
diesen kleinen Fleck, in dem die Teilung nicht mehr 58, 193–235), höhlte er schließlich mit dem Parere
wirksam werden kann, und das heißt man den sicht- sull’ architettura die Ursachen des Streits im Inneren
baren Punkt. [...] Die Schönheit könnte also definiert und von Grund auf aus und verurteilte die der Debatte
werden als eine sinnlich wahrnehmbare Vollkommen- zugrunde liegende klassizistische »archäo-teleologi-
heit in der gleichen Weise, in der wir jenen einen sicht- sche« Strategie, die in einem historischen Modell das
baren Punkt nennen. Da also im sichtbaren Punkt das Ursprungs-Fundament der Architektur finden wollte.
Unsichtbare mit eingeschlossen ist, ähnlich in der In den Diverse maniere d’adornare i cammini (1769)
Schönheit, ist doch gleichermaßen unsichtbar die Voll- entwickelte er dann die Theorie einer allgemeinen
kommenheit. Beide unsichtbare Vollkommenheiten Äquivalenz aller historischen Stile, die zu rein lexika-
sieht das Auge nicht, aber es spürt sie die Seele.« (Win- lischen Repertoires ohne jeglichen universellen Wert
ckelmann 1961, 297–298) verkommen sind und sich deshalb für die unter-
schiedlichsten, von der freien Kreativität des Subjekts
Die Auslöschung des signifikanten Materials des gelenkten Assemblagen zur Verfügung stellen.
Kunstwerks dringt dennoch nicht bis an diese äußers- Im Parere nimmt Piranesi auch eine detaillierte
te Grenze, wo die durch die Sehnsucht nach dem sie Dekonstruktion des von Marc-Antoine Laugier er-
beseelenden Absoluten unterhöhlte Kunst aufhören arbeiteten naturalistischen Ursprungsmythos’ wie
würde zu existieren. Der Drang zur Abstraktion ge- auch der Mimesis-Strategie vor, auf deren Basis dieser
langt schließlich an einen Ort, wo er sich beruhigen meinte, die Prinzipien jeder möglichen Architektur
kann, wo Himmel und Erde, Schönheit und Materie, von dem Modell der angenommenen Ur-Hütte ablei-
Idee und Geschichte einen Berührungspunkt finden ten zu können.
können, auf einer klaren und zugleich immateriellen Wie Laugier und wie W. in den Gedancken über die
Grenzlinie, der äußersten Schwelle der »sinnlich Nachahmung geht auch Piranesi vom Problem der
wahrnehmbaren Vollkommenheit«, die abstrakt und subjektiven Willkürlichkeit des künstlerischen Zei-
in sich fast nicht mehr wahrnehmbar ist, aber so, dass chens aus, von der »verrückten Freiheit, nach Laune
die Idee sich den Sinnen offenbaren kann: die »absolu- zu arbeiten« (Piranesi 1765, 10), die in der barocken
98 II Systematische Aspekte

Kunst triumphierte. Diese Formensprache ist das Ziel Triglyphen [...] Gebäude ohne Gewölbe [...] Gebäude
der Polemik, gegen das im Parere einer der beiden auf- ohne Wände, ohne Säulen, ohne Pfeiler, ohne Friese,
tretenden Gesprächspartner, Protopiro, Partei er- ohne Gesimse, ohne Gewölbe, ohne Dächer; öde Plät-
greift. Er übernimmt die Rolle von Laugier und gibt ze, kahles Land.« (Piranesi 1765, 11)
den Rigoristen. Protopiro vertritt die Auffassung, dass
die Architektur eine archè, einen Ursprung habe, auf Die »reine Repräsentation« (»représentation pure«)
den man zurückgreifen müsse, um das Wahre vom ist reines Schweigen, Stimme der Natur als absolutes
Falschen, die legitime Darstellung, die begründete Schweigen, aus dem nichts weder hervorgehen noch
Form von einem durch Launen beherrschten Miss- voranschreiten kann. Der Raum des Ursprungs er-
brauch zu unterscheiden. Um seine These zu verfech- weist sich als ein leerer Raum; ursprünglich, am Ur-
ten, beruft sich Protopiro auf einen Ursprungsmythus sprung des menschlichen Zeichens und der Formen
und evoziert das Modell der Ur-Hütte, um die lexika- der Kunst ist weder die Natur noch die Geschichte –
lischen Komponenten der klassischen Architektur- keine der historischen antiken Traditionen, die mit-
sprache mimetisch zu rechtfertigen, die alle auf die na- einander konkurrieren, um der Architektur ein abso-
türlichen Formen zurückgeführt müssen, »aus denen lutes Fundament anzubieten –, sondern die Laune, die
sie entstanden sind« (ebd., 10). Willkür, die freie Entscheidung des Subjekts, ohne
Gegen diese Strategie der Neubegründung wendet Grundlage und allein. Wenn dies das Übel ist, dann ist
sich Didascalo, der andere Gesprächspartner, der in die »Architektur« – so behauptet Didascalo – »davon
seiner Argumentation das von Protopiro entwickelte an der Wurzel befallen« (ebd., 12).
Mimesis-System angreift, um es mit einem Wider- Den Epilog des auf diese Weise durch Piranesi
spruchsbeweis zu demontieren, der es an seine äu- vollzogenen Dekonstruktionsprozesses bilden die Di-
ßersten Grenzen treibt, und um zu zeigen, dass die verse maniere d’adornare i cammini (Piranesi 1769),
vollkommene Mimesis, die »reine Repräsentation, oh- ein Werk, das den idealen Abschluss für Piranesis
ne metaphorische Verschiebung« (»représentation theoretische Reflexionen zur Rolle der Geschichte
pure, sans déplacement métaphorique«; Derrida 1974, und der durch sie vorgelegten Modelle darstellt und
410), die es als die eigene Vervollkommnung anstrebt, in dem er schließlich kohärent die Beziehung zwi-
in Wirklichkeit zur Aufhebung des Signifikanten schen Geschichte und künstlerischem Schaffen for-
führt, zum Schweigen der Kunst, ins Leere. muliert, die jenseits jeder »archäo-teleologischen«
Didascalo unternimmt eine Art anatomischer Se- Projektion entstanden und völlig dem erworbenen
zierung der klassischen Architektur-Sprache, durch- Bewusstsein von der Autonomie des modernen Sub-
läuft auf diese Weise den von Protopiro dargelegten jekts gemäß ist.
genetischen Prozess rückwärts und geht von den lexi- Mit den Diverse maniere d’adornare i cammini und
kalischen Elementen der Architektur zurück zu ihrem mit dem gleichzeitig veröffentlichten Ragionamento
Ursprung in der Natur, zu ihrer Grundlage. Die Lexik apologetico nimmt die Wiederherstellung der histori-
der Architektur wird auf ihre Fähigkeit, ihren natürli- schen Modelle schließlich die Form eines Repertori-
chen Ursprung mimetisch darzustellen, überprüft. ums an. Darin sind die griechischen, etruskischen,
In dieser Beweisführung, die danach strebt, Signifi- ägyptischen und andere lexikalischen Elemente ge-
kant und Signifikat zur Deckung zu bringen, enthüllt sammelt, die in der von ihnen beanspruchten und aus
Didascalo, dass das Streben nach Perfektion des Zei- einer mutmaßlichen Ursprünglichkeit stammenden
chens, nach »reiner Repräsentation«, hier wie in W.s exemplarischen Geltung entmachtet und auf bloß de-
Denken, zur fortschreitenden Aufhebung des Signifi- korative Stilelemente reduziert sind. Jedes einzelne
kanten selbst führt. Je mehr sich die klassische Archi- dieser Elemente trägt besondere Konnotationen des
tektursprache der restlosen Überlagerung mit dem ei- künstlerischen Ausdrucks, die frei verfügbar sind für
genen Archetypus, mit dem eigenen mutmaßlichen die willkürlichsten, eklektischen Assemblagen, die an-
Ursprung annähert, je näher sie der Natur ist, desto archisch von dem Geschmack des Künstlers oder des
mehr tendiert sie dazu, sich im Nonsens zu verflüchti- Auftraggebers beherrscht werden.
gen, wird stumm, unverständlich und ununterscheid- Die Sehnsucht, in der Natur, in der Geschichte, ein
bar von der schweigenden Ödnis, die sie umgibt: absolutes Fundament festzulegen, landet so bei der
Entdeckung einer ursprünglichen Absenz, eines lee-
»Glatte Säulen [...] ohne Basis [...] ohne Kapitelle. Archi- ren Raums über dem Abgrund des Schweigens, das
trave ohne Bänder, und ohne Ränder [...] Friese ohne nur durch die Geräusche des regellosen Wucherns
11 Winckelmann, die Ursprungsmythen der Aufklärung und die Begründung der Kunst 99

verfallener historischer Archetypen belebt und ver- Derrida, Jacques: La vérité en peinture. Paris 1978.
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Ders.: Œuvres complètes. Hg. von Gagnebin, Bernard/
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100 II Systematische Aspekte

12 Winckelmann und die Natur- re Collection gemacht.« (Br. I, 142–143) Abgesehen


wissenschaften von seinen anfänglichen Auszügen aus antikem medi-
zinischem Schrifttum dürfte der Großteil seiner »Col-
lection« in einem aus fünf Manuskript-Heften beste-
Naturwissenschaftliche Exzerpte
henden Konvolut mit dem Titel »Winck. Stor. nat.« er-
W.s besonderes Interesse für die Naturwissenschaft halten sein, die zwischen 1748 und 1755 angelegt wur-
überhaupt ist von der W.-Forschung schon seit ihren den (Nachlass Paris, Vol. 64; vgl. Tibal 1911, 114–116).
Anfängen gesehen worden. Bereits Friedrich Schel- Die Forschung zum Thema »W. und die Naturwissen-
lings Akademierede vor der Bayerischen Akademie der schaften« befindet sich noch immer in den Anfängen.
Wissenschaften 1807 verweist auf W.s diesbezügliche Schon Wiesner suchte einen Zusammenhang zwi-
intensive Studien im Zusammenhang mit seiner Idee schen naturwissenschaftlichen Interessen und kunst-
der Naturnachahmung (Schelling 1983, 10–11). Jo- theoretischen Schriften herzustellen, den er in W.s
hann Heinrich Meyer merkt dies in seiner Edition Überzeugung von der Umweltbedingtheit natürlicher
von W.s Geschichte der Kunst der Alterthums an (WA Schönheit erkannte (Wiesner 1953, 158).
III, 1, LIX–LXI, Anm. 99). Carl Justi erwähnt in sei- Lepenies knüpft darauf nochmals an Justis Buffon-
ner grundlegenden W.-Monographie (Leipzig 11866– Kapitel an und umschreibt eine Verwandtschaft zwi-
1872) zum ersten Mal auch W.s naturwissenschaftliche schen den Ordungssystemen von W.s Kunst- und Buf-
Exzerpte, deren Studium wohl auch seine Ausführun- fons Naturgeschichte: Der Empirismus erzeugte eine
gen über Buffon angeregt haben dürfte. Justi begnügt Datenfülle, die es durch Klassifikation zu bewältigen
sich allerdings damit, eine Ähnlichkeit zwischen W. galt, typischerweise durch Verzeitlichung der Ord-
und Buffon in der Anwendung von literarischer Stilis- nungsstruktur, aber immer noch in Verbindung mit
tik auf ein wissenschaftliches Ordnungssystem fest- normativen theoretischen Setzungen (Lepenies 1984,
zustellen (Justi 1956, Bd. 3, 114–116). Erst Wiesner hat 19–20; Lepenies 1986, 223–227, 231–234). Eine erste
den Anfang einer eingehenden Erforschung von W.s systematische Sichtung und wissenschaftsgeschicht-
naturwissenschaftlichen Studien im Allgemeinen ge- liche Einordnung der naturwissenschaftlichen Exzerp-
macht und einen ersten Überblick unter Hinzuzie- te unternimmt Décultot. Sie erkennt in W.s naturwis-
hung der Exzerpthefte im Pariser Nachlass versucht. senschaftlichen Studien seine Befangenheit in Denk-
Nach eigenen Angaben hat W. während seiner Uni- weisen der Gelehrsamkeit des 16. und 17. Jh., die Na-
versitätsjahre in Halle und Jena 1738–1740 mit intensi- tur- und Kunstwissenschaften noch als epistemische
ven naturwissenschaftlich-medizinischen Studien be- Einheit begreift (Décultot 2004, 123–124). Obschon er
gonnen (Br. I, 80; Wiesner 1953, 145–151). Während in der Geschichte der Kunst des Alterthums bereits das
der Nöthnitzer Zeit 1748–1754, in der er sich zugleich Erfahrungsprinzip der Naturforschung auf die Kunst
auch ästhetische bzw. kunsttheoretischen Begriffe aus übertrage, gehöre er doch letztlich einer älteren Wis-
der einschlägigen Kunstliteratur aneignete, muss W. senstradition an. Demgemäß beginne er seine Ex-
einen Paradigmenwechsel in seinen medizinischen zerptsammlung mit ausführlichen Auszügen aus Buf-
Studien vollzogen haben, denn nun folgt er nicht fons Histoire Naturelle, in welchen das Panorama der
mehr dem rationalistisch-mechanistischen iatromedi- Buffonschen Tableaus vom Erd- über das Pflanzen-
zinischen System seines Jenensischen Lehrers Erhard und Tierreich bis hin zur menschlichen Psyche fest-
Hamberger, sondern wendet sich der empirischen gehalten werde. Décultot kann ihre These von W.s
Wissenschaft des Hippokratischen Corpus und der eklektizistischer Vorliebe für das Zerstreute, die ihn
Methodus studii medici (1751) von Hermann Boerhaa- vorzugsweise zu älteren Kompendien greifen lasse, mit
ve zu, der diese Tradition neu aufgreift (vgl. Brief an zahlreichen Beispielen aus dem Pariser Nachlass stüt-
Uden, 13.1.1750, Br. I, 95). Bereits hier wie bei seinen zen. Solche naturkundlichen Zeitschriften, vorzugs-
folgenden naturwissenschaftlichen Lektüren notiert er weise auch die Londoner Philosphical Transactions,
sich auch Passagen über klimatische Umwelteinflüsse pflegte W. nicht in thematischer, sondern in chronolo-
auf den Menschen. Im Vorfeld der Publikation der Ge- gischer Ordnung des Erscheinens zu lesen und zu ex-
dancken schreibt er 1754 über seine naturwissen- zerpieren, sodass Notizen aus unterschiedlichen Wis-
schaftlichen Studien an Berendis: »Ich habe die Physic, sensgebieten aufeinander folgen. Darüberhinaus kann
Medicin und Anatomie bisher mit vielen Fleiße studi- Décultot zahlreiche Exzerpte über antike naturwissen-
ret, und von besondern Nachrichten und Anmerckun- schaftliche Diskurse nach Aristoteles, Theophrast, Pli-
gen, auch aus geliehenen Wercken, eine kleine aber ra- nius, Archimedes und Aristophanes ausmachen, die

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_12, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
12 Winckelmann und die Naturwissenschaften 101

gerade nicht auf Erfahrung, sondern auf das überlie- W.s Krüger-Exzerpte verfolgen neben der Physio-
ferte Wort gründen (Décultot 2004, 126–128). Gegen logie der menschlichen Organe vom Kopf bis zum
Wiesner gelangt Décultot insgesamt zu dem Schluss, Fuß auch diese sinnesphysiologischen Aspekte weiter
dass W. kein Leser der modernsten naturwissenschaft- (Nachlass Paris, Vol. 64, fol. 56r°; vgl. Franke 2006, 59).
lichen Werke seiner Zeit war, sondern die Lektüre älte- Bezeichnenderweise entnimmt W. Voltaires Éléments
rer naturkundlicher Werke bevorzugte (Décultot, de la philosophie de Newton (Amsterdam 1738) das
2004, 128–129 und Anm. 34). Ausdrücklich räumt sie Motto: »All’ die Alten, die ohne das Licht der Erfah-
bereits eine eigentümliche Ausnahme ein, W.s syste- rung über die Physik spekulierten, waren nichts als
matische Exzerpte zur Physiologie und Optik des Blinde [...]« (Nachlass Paris, Vol. 64, fol. 78v°; Übers.
menschlichen Auges aus einem der damals moderns- nach Décultot 2011, 128–129 u. Anm. 48).
ten Lehrbücher, Johann Gottlob Krügers Naturlehre Eingehend studierte W. die damals modernsten For-
(Halle 1740–1749; vgl. Décultot 2004, 132). schungen zur Zeugung, Needhams Nouvelles Obser-
Franke legt in seiner Untersuchung der Exzerpte vations Microscopiques (Paris 1750) und die einschlägi-
(Nachlass Paris, Vol. 64) den Schwerpunkt auf die gen Ausführungen in Buffons Histoire des Animaux
Frage, welche seinerzeit aktuellsten natur- bzw. expe- (Nachlass Paris, Vol. 64, fol. 2r°-3v° und 46r°-46v°;
rimentalwissenschaftlichen Ergebnisse W. überhaupt Franke 2006, 47). Zugleich hält er wissenschaftstheo-
zu Kenntnis nahm und weiterverfolgte. Demnach retische Grundsätze fest, in denen Buffon der empiris-
machen die Exzerpte aus Buffons Histoire Naturelle, tischen Erkenntnistheorie John Lockes folgt: Die fun-
Bde. 1–3 (Paris ¹1749; Bd. 4 ¹1753) sowie aus den bei- damentale Voraussetzung abschließender Endursa-
den ersten Auflagen von Krügers Naturlehre etwa die chen verhindere wahre Erkenntnis, die stets auf eine
Hälfte seiner Sammlung aus. Anfang 1757 greift W. in beobachtbare, unabschließbare Unterscheidung von
Rom erneut zu Buffons Werk und zitiert es zuletzt Ursache und Wirkung angewiesen bleibe. Diese Über-
noch in der zweiten Auflage der Geschichte der Kunst legung verfolgt W. auch in Buffons Kapitel »De la Natu-
des Alterthums (Franke 2006, 158–159, Anm. 24). Ein re de l’ Homme« weiter, wonach Erkenntnis allein mit
durchgehendes Interesse zeigt W. nach Franke an der der Anzahl von Vergleichungsgesichtspunkten der Er-
primären Erfahrungsabhängigkeit des Wissens über- fahrung anwachse, das Göttliche etc. mithin unerkenn-
haupt. Vor allem in den Auszügen der Kapitel »Du bar sei (Nachlass Paris, Vol. 64, fol. 2r° und 3r°; Franke
Sens de l’ Harmonie« und »Du Sens en général« von 2006, 41–49). Solche Gedanken formuliert W. später
Buffons Histoire Naturelle de l’ Homme, die von opti- selbst wieder im Rahmen seiner eigenen ästhetischen
schen Experimenten an der menschlichen Seherfah- Erkenntnislehre in der Geschichte der Kunst des Alter-
rung handeln und die Notizen über William Chessel- thums, wo er die substantielle Erkenntnis von Voll-
dens Experimente an operierten Blindgeborenen um kommenheit der Schönheit ausschließt (s. u.). Das Er-
Untersuchungen zum frühkindlichen Sehvermögen kenntnisprinzip des empirischen Wissens, wonach vie-
ergänzen (insbesondere Nachlass Paris, Vol. 64, fol. lerlei Empfindungen zu einem Erfahrungsbegriff zu-
5r°-6v°). Buffons wie Chesseldens Experimente wid- sammengefügt werden, interessiert W. auch in der
meten sich dem empirischen Beweis des von John deutschen Übersetzung des vierten Bandes der Histoire
Locke vorgetragenen »Molyneux’schen Problems«, Naturelle weiter (Allgemeine Historie der Natur, Zwey-
wonach sehend gewordene Blinde zunächst des Tast- ten Theils zweyter Band, 1754). Aus dem »Discours sur
sinns bedürfen, um etwas Konkretes wahrnehmen zu la Nature des Animeaux« hält er eine Passage über die
können. – Spuren solcher Überlegungen finden sich verstandesbegründende Fähigkeit zur Begriffsbildung
möglicherweise in W.s Schriften zur antiken Kunst. fest: »Es giebt einige Menschen, die eine so wirksame
So heißt es in seiner Torso-Beschreibung, dass die Seele besitzen, daß sie niemals zwo Empfindungen ha-
Konturen dieser Statue »weniger dem Gesichte, als ben, die sie nicht miteinander verglichen, und aus de-
dem Gefühle, offenbar werden.« (KS 172) Und nach nen sie folglich nicht einen Begriff machten. Diese sind
seiner Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung die verständigsten [...] so ist klar, daß je mehr man [...]
des Schönen besaß der »blinde Saunderson« jenes Gedanken hat, desto mehr man wirklich ist.« Daher,
Feingefühl, das für die Erkenntnis der Kunst erfor- so notiert sich W. Buffons Darstellung des typisch
derlich sei, denn das »wahre Gefühl des Schönen glei- menschlichen geistigen Entwicklungsganges, hätten
chet einem flüßigen Gipse, welcher über den Kopf des gerade Kinder und diejenigen, »die am wenigsten
Apollo gegossen wird, und denselben in allen Theilen nachdenken, am meisten die Gabe der Nachahmung«,
berühret und umgiebt.« (KS 217; Franke 2006, 55) weil sie immer bloß ihre gedanklich unverarbeite-
102 II Systematische Aspekte

ten Empfindungen widerspiegelten (Nachlass Paris, welches das wesentliche Ganze wahrer Schönheit nie-
Vol. 64, fol. 62r°). W.s bekanntlich bereits in den Ge- mals erreiche. Die »Idee menschlicher Schönheit« ist
dancken formulierter Gegensatz, in der Kunst werde für W. Ergebnis induktiver Erfahrungsarbeit durch
entweder bloß die Natur nachgeahmt oder die einzel- Naturbeobachtung, steigerungsfähig durch die An-
nen Naturbeobachtungen würden gesammelt und »in zahl gesammelter Erfahrungen, aber keine Idee im
eins« gebracht (KS 37) – der induktive Weg zum Ideal Sinne der platonischen Ideenlehre. Das vom Men-
– , findet hier eine natur- bzw. erfahrungswissenschaft- schen geschaffene Ideal ist nur Resultat empirischen
liche Begründung. Wissens. Die »idealische Schönheit« ist also nach der
zweiten Auflage der Geschichte der Kunst des Alter-
thums »kein metaphysischer Begriff« (ebd., 257). So-
Theorie der Schönheit
mit ist auch W.s platonisierende Metaphorik letztlich
Die Frage, welche Bedeutung W.s empiristisch-natur- rückführbar auf empirisches Wissen: »Die höchste
wissenschaftliche Exzerpte für seine Schriften ins- Schönheit ist in Gott, und der Begriff der Mensch-
gesamt haben, betrifft die Interpretation seiner kunst- lichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und
theoretischen Position. Gewiss ist, dass W. seine Ex- übereinstimmender derselbe mit dem höchsten We-
zerptsammlung mit nach Italien nahm, strittig, ob sei- sen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der
ne Ästhetik primär von erfahrungswissenschaftlichen Einheit und der Untheilbarkeit von der Materie unter-
Voraussetzungen ausgeht oder solche bloß eklekti- scheidet. Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein aus
zistisch mit platonischen Ideen kombiniert (vgl. Fran- der Materie durchs Feuer gezogener Geist, welcher
ke 2006; Décultot 2011, 129–130). In einer Analyse sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach dem Eben-
der kunsttheoretischen Argumentation der idealen bilde der in dem Verstande der Gottheit entworfenen
Schönheit in der Geschichte der Kunst des Alterthums ersten vernünftigen Creatur.« (ebd., 250) Angestrebt
sucht Franke die empiristischen Voraussetzungen he- werden soll die höchste Schönheit der menschlichen
rauszustellen, die den induktiven Weg zur idealen Gestalt, die Zeugung des Ebenbildes Gottes, aber der
Kunst durch die Nachahmung ganz ohne eingeborene menschliche Begriff davon kann sich dem nur durch
Ideen oder Teilhabe am göttlichen Wissen begründen. das Sammeln von Erfahrung annähern, ohne je Voll-
Demnach argumentiert W.s Schönheitsdefinition pri- kommenheit zu erreichen. Allein auf Erfahrungs-
mär empirisch-naturwissenschaftlich. W.s Lehre von erkenntnis verwiesen ist das menschliche Erkenntnis-
der Schönheit als dem Wesen der Kunst handelt mit vermögen des Begriffs der menschlichen Schönheit
theoretischem Aufwand zunächst die Erkenntnispro- von einer prometheischen, ideellen Teilhabe an gött-
blematik seiner Ästhetik ab, die allein auf Erfahrung licher Schöpfungskraft grundsätzlich geschieden. Sol-
gründet (vgl. insbesondere GK1, SN IV,1, 238–242, che empirisch gewonnenen Begriffe sind schon in W.s
250–253, 256–258; Franke 2006, 15–17). Das Wesen Gedancken die Grundlage seiner Lehre vom Ideal
der Schönheit liege zwar »in der vollkommenen Ue- (Franke 2006, 87–88). Zwar bringt W. dort die »Idea-
bereinstimmung des Geschöpfes mit dessen Absich- lische Schönheit« der Griechen mit platonischen Ide-
ten, und der Theile unter sich, und mit dem Ganzen en in Verbindung, »ihr Urbild war eine blos im Ver-
desselben«, mithin in der Vollkommenheit, für den stande entworfene geistige Natur« (KS 34), aber der
menschlichen Verstand sei diese jedoch unerreichbar. »Weg zum allgemeinen Schönen und zu idealischen
Deswegen müsse der Mensch sich damit »begnügen, Bildern desselben« ist die empirisch-induktive Natur-
aus lauter einzelnen Stücken wahrscheinliche Schlüs- nachahmung: »sie sammlet die Bemerckungen aus
se zu ziehen [...] so bleibet unser Begriff von der all- verschiedenen einzelnen, und bringet sie in eins«
gemeinen Schönheit unbestimmt, und bildet sich in (ebd., 37; vgl. Franke 2006, 30–31).
uns durch einzelne Kenntnisse, die, wenn sie richtig Dies gilt auch für W.s Hauptgesichtspunkt der
sind, gesammlet und verbunden, uns die höchste Idee Schönheit, den Begriff der Einheit, das Auswahlkrite-
Menschlicher Schönheit geben, welche wir erhöhen, rium der aus der Natur zu sammelnden und im Ver-
je mehr wir uns über die Materie erheben können« stande zu vereinigenden Teile. Dieser Begriff betrifft
(GK1, SN IV,1 250–251). zugleich die ästhetische Grundfähigkeit, überhaupt
Die harmonische Verbindung eines Ganzen mit die Einheit eines Ganzen zu bilden bzw. zu rezipieren:
seinen Teilen, jene Einheit in der Mannigfaltigkeit, »Die Formen eines solchen Bildes sind einfach und un-
führt W. nicht als valides ästhetisches Vermögen des unterbrochen, und in dieser Einheit mannigfaltig, und
Menschen ein, sondern als schwieriges Stückwerk, dadurch sind sie harmonisch.« (GK1, SN IV,1, 250;
12 Winckelmann und die Naturwissenschaften 103

Franke 2006, 88) In seiner Abhandlung von der Fähig- der Kunst zuerst klimatische Bedingungen an (Franke
keit der Empfindung des Schönen bezeichnet W. diese 2006, 111; Décultot 2009, 45–46), die sich auf die physi-
Fähigkeit zur Einheitsstiftung bzw. Einheitsrezeption sche Konstitution der Nation und dadurch auf ihre
als »innere[n] Sinn«, mithin als Geschmacksvermö- Kunst auswirkten. Die weiteren aufgeführten kulturel-
gen: »Zart muß dieser Sinn mehr, als heftig, seyn, weil len und politischen Faktoren werden stets in nachran-
das Schöne in der Harmonie der Theile bestehet« (KS giger Folge behandelt. Dieser Stellenwert der klima-
219). Solche Fähigkeit zur Empfindung des Schönen tischen Einflüsse sowohl in der Geschichte der Kunst
durch den Einheitsbegriff ist demnach durchaus eine des Alterthums als auch im übrigen Werk lässt sich
Begabung des Menschen. Doch an sich selbst ist solche durch eine empiristische Interpretation seiner Kunst-
Befähigung des inneren Sinns »leer«, allein, ohne Un- lehre erklären. Nach den Gedancken über die Nach-
terricht kann er wahre Schönheit nicht begründen, ei- ahmung beruht der Vorrang der griechischen Kunst auf
ne Instanz von außen muss zu seiner Ausbildung hin- dem Vorzug der physischen Natur der Griechen auf-
zukommen: »Es kann also die wahre und völlige grund der besonders günstigen klimatischen Bedin-
Kenntniß des Schönen in der Kunst nicht anders, als gungen. Der naturbedingt vorzügliche Habitus der
durch Betrachtung der Urbilder selbst, und vornehm- ganzen griechischen Nation, der überdies noch durch
lich in Rom erlanget werden« (ebd., 222). Unter »Ur- Körperkultur systematisch ausgebildet wurde, bot den
bilder[n]« versteht W. nicht platonische eingeborene griechischen Künstlern bereits unübertreffliche Mo-
Ideen, sondern die antiken griechischen Originalwer- dellfiguren unter zudem idealen Beobachtungsbedin-
ke, welche allein den wahren Geschmackssinn unter- gungen einer freizügigen Kultur (KS 32–34, 39). Das
richten könnten. Die griechischen Künstler hingegen griechische Ideal der Schönheit ist das Resultat solcher
hatten W.s Argumentationsgang zufolge anfänglich Erfahrungen der vorzüglichen Natur des mensch-
keinerlei Vorbilder zur Korrektur ihres bloß subjekti- lichen Körpers, die in der Moderne nicht zu übertref-
ven inneren Sinns außer der Natur selbst, aus deren Er- fen sei, denn, so W.s empiristisch-eklektizistische Ar-
scheinungen sie sukzessiv ihre naturwahren idealen gumentation, die antiken Griechen waren die »voll-
Werke zu bilden verstanden. W.s Definition des inne- kommensten Geschöpfe der Natur« (KS 33). Der vor-
ren Sinns ist somit wiederum keine metaphysische bildliche Geschmack der Griechen beruht hier letztlich
Lösung für das von ihm selbst formulierte Erkennt- auf der besonderen Qualität der ihnen in der Erfah-
nisproblem eines empirisch gewonnenen Schönheits- rung gegebenen Phänomene (Franke 2006, 88–89, 96).
begriffs. Die Empirie ist in seiner Kunstlehre die ent- W. betreibt erheblichen Aufwand, um mit natur-
scheidende Instanz zur Bildung wahrer Kunst, ein- wissenschaftlichen Argumentationen seinen Beweis-
geborene innere Urbilder stehen nicht zur Verfügung, gang zu befestigen, die er in der Erläuterung der Ge-
der innere Sinn bedarf der Zusammenarbeit mit der danken noch weiter ausbreitet: »Unterdessen war die
Naturbeobachtung. – Décultot dagegen fordert noch glückseelige Lage ihres Landes allezeit die Grund-
eine weitere Differenzierung der empiristischen Inter- ursach [...]« (KS 99). Dabei merkt er ausdrücklich
pretation von W.s Kunstlehre ein, deren Schönheits- Jean-Baptiste Dubos’ Réflexions critiques [...] (Paris
definition zugleich idealistisch-platonischer Tradition ¹1719) an, die er bereits ausführlich unter besonderer
verpflichtet sei, auf W.s Formulierung verweisend, dass Berücksichtigung der Klimatheorie exzerpiert hatte
der »Geist vernünftig denkender Wesen [...] eine ein- (Nachlass Paris, Vol. 61, fol. 56v°-58v°; Décultot, 2009,
gepflanzte Neigung und Begierde [habe], sich über die 47 und Anm. 16). Anders als Dubos’ von Hippokrates
Materie in die geistige Sphäre der Begriffe zu erheben« ausgehende Klimatheorie der dynamischen Umwelt-
(GK1, SN IV,1, 260–262; Décultot 2011, 129–130). veränderungen durch die Beschaffenheit der Luft, die
binnen kurzem schon innerhalb eines Landstrichs die
Konstitution seiner Einwohner in ihr Gegenteil ver-
Klimatheorie
kehren können, setzt W. aber eine homogene Natur-
W.s naturwissenschaftliche Studien münden in seine konstitution der Griechischen Nation voraus. Die
Charakterisierung der Kunst der Völker bzw. Nationen Gedancken und Erläuterung sowie die Geschichte
im Allgemeinen und in seine Begründung des Vorran- der Kunst des Alterthums bauen auf einem konstanten
ges der Kunst der Griechen im Besonderen. Bereits in physischen Naturfaktor des griechischen Körpers, der
den Gedancken und dann systematisch in der Geschich- genetischen Veranlagung der Griechen auf: Das
te der Kunst des Alterthums führt er unter den kunst- »schöne Geblüt« habe sich sogar trotz Umweltver-
externen Faktoren der Entstehung idealer Schönheit änderungen und Rassenvermischung über die Jahr-
104 II Systematische Aspekte

hunderte relativ gut bewahren können (Gedancken, logie und eurozentrische Ästhetik ethnographisch in-
KS 32; Erläuterung, KS 105). Unter diesem Gesichts- einandergreifen (Franke 2006, 112–113). »Folglich
punkt wird in W.s Schönheitstheorie das Genmaterial sind unsere und der Griechen Begriffe von der Schön-
zum Kern des Ideals (Franke 2006, 99–101). Sein Insis- heit, welche von der regelmäßigsten Bildung genom-
tieren auf der Autarkie der Griechen, die ohne Kultur- men sind, richtiger, als welche sich Völker bilden kön-
austausch mit anderen Völkern ihre Kunst entwickel- nen, die [...] von dem Ebenbilde ihres Schöpfers halb
ten, hat hier die argumentatorische Basis. Dieser von verstellet sind« (ebd.). Von hier aus bereitet W. seine
W. geführte biogenetische Diskurs ist weder auf Dubos anschließende Definition der vollkommenen Schön-
zurückzuführen, der ganz hippokratisch das Klima für heit vor. Der Einheitsbegriff des naturnachahmenden,
wirkungsmächtiger hält als jeden Vererbungseffekt, idealisierenden Künstlers bedarf unbedingt der Erfah-
noch auf die antike Medizin vom Hippokratischen rung, deren vorrangige, objektive Qualität die Natur-
Corpus bis zu Galenus oder auf ihre Nachfolger in der wissenschaft geltend machen soll. W.s Schönheitsideal
Neuzeit. Diese Tradition zog einen selbständigen, rela- der Gottesebenbildlichkeit bleibt durch seine empiris-
tiv umweltresistenten genetischen Faktor innerhalb tische Argumentation angewiesen auf die Naturkunde
allgemeiner Bedingungen eines übergreifenden Kli- des 18. Jh. (s. a. Kap 13).
maeinflusses auf das Leben noch gar nicht in Betracht.
W.s Überlegungen, die endogenes Erbmaterial, hippo- Quellen
kratische Klimatheorie und Rassenvermischungs- Boerhaave, Hermann: Methodus studii medici. Amsterdam
effekte zusammendenken, sind wahrscheinlich auf 1751.
Buffon, Georges-Louis Leclerc de: Histoire naturelle généra-
seine Lektüre Buffons zurückzuführen, der jene As- le [...]. Bd. 1–4. Paris 1749–1753.
pekte erstmals in seinen Vererbungshypothesen syn- [Buffon, Georges-Louis Leclerc de:] Allgemeine Historie der
thetisierte (Franke 2006, 101–110). Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt.
Auch in der Geschichte der Kunst des Alterthums Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller.
schreibt W. das »schönste Geblüt« der antiken griechi- 2 Bde. Hamburg 1750–1754.
Dubos, Jean-Baptiste: Réflexions critiques sur la poésie et
schen Nation zu. Im ersten Kapitel, drittes Stück über
sur la peinture. 3 Bde. Paris 1719.
den »Einfluß des Himmels in die Bildung«, führt er Krüger, Johann Gottlob: Naturlehre. 3 Teile. Halle 1740–
wiederum primär den Klimafaktor an: »je mehr sich 1749 (2. Aufl. Teil 1 und 2 ebd., 1748).
die Natur dem Griechischen Himmel nähert, desto Needham, John Tuberville: Nouvelles observations micros-
schöner, erhabener und richtiger ist dieselbe in Bil- copiques [...]. Paris 1750.
dung der Menschenkinder.« (SN IV,1, 40) Das Klima Schelling, Friedrich Wilhelm: Über das Verhältnis der bil-
denden Künste zu der Natur. Hg. von Lucia Sziborsky.
wirke über das Erbgut (»Geblüt«) auf den phänotypi-
Hamburg 1983.
schen Habitus einer Nation ein und bestimme über Voltaire: Elémens de la philosophie de Neuton. Paris 1738.
die Naturnachahmung den Charakter ihrer Kunst.
Zwar könne ein Volk seinen ihm eingeprägten Ge- Forschung
staltcharakter durch Völkervermischung oder andere Décultot, Élisabeth: Johann Joachim Winckelmann. Enquê-
Faktoren, wie »Verfassung, Erziehung, Unterricht und te sur la genèse de l’ histoire de l’ art. Paris 2000.
Art zu denken«, über die Zeit verlieren, andererseits Décultot, Élisabeth: Untersuchungen zu Winckelmanns Ex-
zerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunst-
aber habe das Geblüt sogar heutzutage noch etwas von
geschichte im 18. Jahrhundert. Stendal 2004.
der ursprünglichen Schönheit der Griechen bewahrt Décultot, Élisabeth: Winckelmanns Konstruktion der grie-
(ebd., 36–40; Franke 2006, 110–111; Décultot 2009, chischen Nation. In: Heß, Gilbert/Agazzi, Elena/Décultot,
50). ‒ Ungünstige klimatische Bedingungen brächten Élisabeth (Hg.): Graecomania. Der europäische Philhelle-
in den Völkern die »Unvollkommenheit ihres Ge- nismus. Berlin 2009, 39–59.
wächses« hervor. »Solche Bildungen wirket die Natur Décultot, Élisabeth: Winckelmanns Medizinstudien. Zur
Wechselwirkung von kunstgeschichtlichen und medizi-
allgemeiner, je mehr sie sich ihren äußersten Enden
nischen Forschungen. In: Eisenhut, Heidi/Lütteken,
nähert [...] Regelmäßiger aber bildet die Natur, je nä- Anett/Zelle, Carsten (Hg.): Heilkunst und schöne Küns-
her sie nach und nach wie zu ihrem Mittelpunct gehet, te. Wechselwirkungen von Medizin, Literatur und bil-
unter einem gemäßigten Himmel [...]« (ebd., 246). W. dender Kunst im 18. Jahrhundert. Göttingen 2011, 108–
vereint hier antike Klimazonentheorien mit Vorstel- 130.
lungen von idealen, doch klimaabhängigen Merkma- Franke, Thomas: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung.
Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre
len der menschlichen Spezies, wie man sie typischer- und die empirische Naturwissenschaft. Würzburg 2006.
weise in Buffons Naturgeschichte findet, wo Artenbio-
13 Griechenland als Kulturentwurf 105

Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Hg. von 13 Griechenland als Kulturentwurf
Walther Rehm. 3 Bde. Köln 1956.
Lepenies, Wolf: Der andere Fanatiker. Historisierung und Die Gunst des Klimas
Verwissenschaftlichung der Kunstauffassung bei Johann
Joachim Winckelmann. In: Beck, Herbert/Bol, Peter C./ Gegenstand von W.s Gedancken über die Nachahmung,
Maek-Gérard, Eva (Hg.): Ideal und Wirklichkeit der bil- der Erläuterung der Gedanken und der Geschichte der
denden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Berlin 1984, 19– Kunst des Alterthums ist die Kunst, besonders die der
29. Griechen, die W. als maßgebend ansieht. Allerdings
Lepenies, Wolf: Johann Joachim Winckelmann. Kunst- und setzt der Verf. voraus, dass die Kunst von einer Reihe
Naturgeschichte im achtzehnten Jahrhundert. In: Gaeth-
äußerer Bedingungen abhängt. Den genannten Ab-
gens, Thomas W. (Hg.): Johann Joachim Winckelmann
1717–1768. Hamburg 1986, 221–237. handlungen zufolge verdankt sich die Sonderrolle, die
Tibal, André, Inventaire des manuscrits de Winckelmann. er dem antiken Griechenland zuweist, Naturvoraus-
Déposés à la Bibliothèque National. Paris 1911. setzungen – dem »Clima« (GK1, SN I,1, 44), dem »Ge-
Wiesner, Joseph: Winckelmann und Hippokrates. Zu Win- blüt« (GK1, SN I,1, 42) – und einer moralischen Attitü-
ckelmanns naturwissenschaftlich-medizinischen Studien. de, die auf »Erziehung, Verfassung und Regierung«
In: Gymnasium 60 (1953), 149–170.
(GK1, SN I,1, 44) der Griechen zurückgeht. Wenigs-
Thomas Franke tens im Umriss nimmt der Verfasser Beschreibungen
von Sitten und Lebensgewohnheiten der Griechen und
weiterer antiker Ethnien in seine Kunstgeschichte auf.
Eine systematische Unterscheidung und eindeutige
Hierarchisierung solcher Faktoren ist in W.s Ausfüh-
rungen nicht angelegt.
Griechenland fällt jedenfalls die Rolle eines un-
übertroffenen Kulturmusters zu. Mit seiner Griechen-
land-Emphase schließt der Archäologe methodisch
an kulturanthropologische Interessen der Aufklä-
rungszeit an, die ihrerseits einen alteuropäischen Vor-
lauf besitzen. Von ihnen unterscheidet er sich gleich-
zeitig programmatisch: Zeitgenossen vertraten weder
in W.s Sinn die Vorstellung von einem idealen Grie-
chenland, noch räumten sie der griechischen Kultur
insgesamt eine einzigartige Vorzugsrolle ein.
Insofern der Archäologe für den stilgeschicht-
lichen Höchstwert, wie ihn aus seiner Sicht die Kunst
der Griechen repräsentiert, klimatische bzw. geogra-
phische, ethnologische und historische Begründun-
gen namhaft macht, bindet er die griechische Kunst-
blüte an das Ideale auf der einen und an die Vielfalt
der Erfahrungstatbestände auf der anderen Seite.
Dieses Spannungsverhältnis teilen W.s Überlegungen
zu Griechenland mit (oft milieutheoretisch inspirier-
ten) Debatten über den »Geist der Nationen«, die der
Archäologe zur Kenntnis genommen hatte. Von den
Perspektiven, wie sie durch das zeitgenössische Inte-
resse an »Esprit« oder »Genie« von Ethnien nahege-
legt werden, ist die Auswahl an Informationen mit-
bestimmt, die W. den antiken Quellen entnimmt. – In
den vergangenen Jahren wurden allgemein einschlä-
gige Traktate des 18. Jh. unter dem Aspekt von Imago-
logie und Stereotypenbildung untersucht (Beller
2006; Neumann 2009). Neuere Forschungsbeiträge
zu W. gelten den Beziehungen zwischen seinen Grie-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_13, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
106 II Systematische Aspekte

chenland- und Kunstideen und der zeitgenössischen fen (Bouhours 1671, 248). Auf ein Echo von Bou-
Ethnographie und Naturwissenschaft. Die Priorität hours’ Entretiens stößt man in zahlreichen Abhand-
von Naturfaktoren bei W. betont vor allem Thomas lungen des ausgehenden 17. und des beginnenden
Franke (s. Kap. 12; Franke 2006, 87–119; vgl. Décultot 18. Jh. (Kapitza 1981).
2004; 2011). W.s Werk legt die Vermutung nahe, dass dem Verf.
Die Vorstellung von einem Wirkungszusammen- Argumente aus dem Arsenal solcher zum Teil pole-
hang zwischen dem Klima und den Eigenarten der misch geführten Auseinandersetzungen bekannt wa-
Landesbewohner ist seit der Antike (Hippokrates, ren. Auf eine kulturgeographische beziehungsweise
Aristoteles) überliefert und kann für die gesamte Frü- charakterologische Topik, die klimatheoretisch ange-
he Neuzeit ebenso als europäischer Gemeinbesitz gel- leitet ist und sich auf Konkurrenzkonstellationen be-
ten wie die Einteilung der Erde in drei Klimazonen, zieht, nimmt W. schon dann Bezug, wenn er sich
von denen die mittlere als begünstigt gilt; mindestens über Eigenheiten der Briten (GK1, SN I,1, 48) äußert
jedoch ist sie, auch über W. hinaus, Gegenstand der oder das Phlegma der Deutschen mit der französi-
Diskussion (Gisi 2007, 85–95). Einige Eckdaten seien schen Flüchtigkeit und Gesellschaftskunst konfron-
skizziert. Die Klimatheorie besitzt von ihren Anfän- tiert: »Man muß«, so schreibt der Archäologe 1758
gen an zwei gegenläufige Aspekte, die auch für W. von kampfeslustig gestimmt an Johann Michael Francke,
Belang sind: Sie enthält das Versprechen, zwischen der »alle Sachen mit einem gewissen Phlegma in Rom su-
Vielfalt der Erfahrungstatbestände und der Idee von chen, sonst wird man für einen Franzosen gehalten«
der Einheit der Natur zu vermitteln; doch gleichzeitig (Br. III, 326).
besitzt sie das Potential, die Disparität kultureller Er- Ihre besondere Attraktivität und Überzeugungs-
scheinungen anschaulich sichtbar zu machen (Gisi kraft schuldet die Klimatheorie jedoch dem Umstand,
2007, 84–85; Beller 2006). Mit ihrer Konjunktur im dass sie in der Lage zu sein schien, Kulturunterschiede
18. Jh. schließen die (nicht nur klimatheoretisch) in- auf natürliche Ursachen, näherhin auf die Klima-
teressierten Untersuchungen nationaler Ingenia an zonen der Erde zurückzuführen, und sie so in all-
die Querelle des Anciens et des Modernes an, die sich gemeinen Gesetzlichkeiten zu verankern. Jean Bodins
mit der Frage nach der Geltung ästhetischer Standards Methodvs ad facilem historiarum cognitionem (1566)
beschäftigt hatte. und seine Six Livres de la République (1576) bieten
Als Ausfluss der Differenzen, wie die Klimatheorie Beispiele dafür, dass zu Beginn des absolutistischen
sie hervorheben kann, mag der Umstand gelten, dass Zeitalters klimatisch-geographische Zuordnungen in
einschlägige Argumente, verbunden mit nationalcha- Kombination mit Nationalcharakter-Stereotypen als
rakterologischen Stereotypen, in W.s Umfeld durch- topisches Raster eingesetzt wurden, das eine Verifika-
aus parteilich eingesetzt wurden (Neumann 2009, 87– tionsgrundlage für sonst unzuverlässige historiogra-
104). Klimatheoretisch unterfütterte Nationalcharak- phische Überlieferungen bzw. die Kontrolle über
tertopiken dienten seit der Antike dazu, einen kul- komplexe politische Verhältnisse versprach (Lestrin-
turellen Vorrang in der Kulturkonkurrenz zu gant 1993). Als Scharnier zwischen klimatischen Be-
begründen. Die Klimatheorie schien besonders gut dingungen und kulturgeschichtlichen Verhältnissen
geeignet zu sein, die Klassizität des Eigenen zu postu- dienten Humoralpathologie und Temperamentenleh-
lieren und sich im Wettstreit der Nationen zu behaup- re (d’Espiard 1754, 29; Disselkamp 2010). Reisende
ten, der im Umfeld der Antiqui-moderni-Debatten waren in dem Wissen unterwegs, dass die Klimatheo-
ausgetragen wurde. rie ein geeignetes Instrumentarium bereitstelle, um
Vor allem die Wirkung der Entretiens d’Ariste et das unterschiedliche Aussehen und die Charakterdif-
d’Eugène von Dominique Bouhours (1671) strahlte ferenzen der Völker zu erklären und zu systematisie-
bis weit in das 18. Jh. aus. Der in Dialogform verfass- ren (Dubos 1760, I, 274).
ten Abhandlung zufolge ist der Leitwert des »bel
esprit« in Frankreich beheimatet, das den Vorteil der
Erkundungen des Nationalgeists
Mittellage zwischen den kalten und warmen Klima-
zonen genießt. Den übrigen Nationen verbleibt die W.s Versuch, Nationalkulturen auf der Grundlage von
kulturelle Sekundogenitur. Die östlich und nördlich klimatischen und historischen Befunden zu beschrei-
gelegenen unter ihnen besitzen wegen ihrer gröberen ben, fußt auf zeitgenössischen Bemühungen um eine
Beschaffenheit keinen originären Zugang zum »bel vergleichende Kulturanthropologie, die auf empiri-
esprit« und müssen sich mit der Nachahmung behel- scher Basis Differenzen notiert, Nationalcharaktere
13 Griechenland als Kulturentwurf 107

individualisiert und Züge einer Sittengeschichte ent- Lektüre von De l’ esprit des nations verweist, liegt nicht
wickeln kann. Wie intensiv sich W. auf das aufklä- vor. – D’Espiard zufolge verfügt Frankreich in Fragen
rungsspezifische Interesse an natürlichen und »mora- der Geselligkeit und der staatlichen Verfasstheit dank
lischen« Bedingungen und auf die Vielfalt der Erfah- seiner klimatischen Mittellage über das höchste Maß
rungstatbestände einlässt, zeigt im Übrigen seine Lek- an Ausgewogenheit unter den europäischen Natio-
türe von naturwissenschaftlicher und medizinischer nen, ja über »Sitten« von allgemeiner Geltung (d’Espi-
Literatur, ebenso die von geographischen Werken und ard 1754, I, 103). Unter Berücksichtigung mancher
Reiseberichten (Tibal 1911, 134, 136, 139–142, 145, Differenzen betrachtet d’Espiard die Franzosen in Ge-
148–149). In den Exzerptheften bezeugen auch Noti- schmacks- und Stilfragen als Erben der Griechen
zen über Rom und Italien mit einem Akzent auf kli- (d’Espiard 1754, 98–100, 295, 323, 397).
matischen Verhältnissen das Interesse des Verfassers Gleichwohl will d’Espiard systematisch, global und
am Thema (Tibal 1911, 43–46). Um Angaben zu Kli- auf breiter Datengrundlage »ein allgemeines Lehr-
ma und kulturellen Erscheinungen zu untermauern, gebäude vom Menschen« errichten (d’Espiard 1754,
nimmt W. in seinen Schriften gelegentlich auf Reiseli- Vorrede; Fink 1985, 12–15; Gisi 2007, 87–89). Der
teratur Bezug. In den Gedancken über die Nach- Verf. unternimmt den Versuch, aus Beobachtungen zu
ahmung treten die »Reisebeschreiber« als Zeugen für interagierenden Faktoren, unter ihnen Geselligkeit,
die These auf, dass bei bestimmten Völkern, nament- Erziehung, Religion und Regierungsform, den Cha-
lich den »Georgianern« und den »Kabardinski [...] in rakter von Ethnien zu abstrahieren. Kulturelle Er-
der crimischen Tarterey«, »noch itzo« Schönheit kein scheinungen werden so zu Ausdrucksformen kollekti-
Ausnahmefall, sondern die Regel sei (Gedanken2, 7; s. ver »Neigungen«: »Es dünkt mich als hätten vier
auch GK1, SN I,1, 42–44). Grundsätze oder Hauptursachen in dieser Welt, die
W.s empiristische Interessen setzen ein erhebliches größten Sachen hervorgebracht; die egyptische Weis-
Maß an Verunsicherung gerade mit Blick auf sein kul- heit und der alten Monarchieen, der römische Name,
turelles Umfeld voraus und geben Auskunft über den die griechische Freyheit, die europäische Ehre«
kontrafaktischen Charakter des Griechenland-Ent- (d’Espiard 1754, 197). Auf dieser Grundlage gibt
wurfs. Untersuchungen zur Nationalgeistfrage aus d’Espiard z. B. Auskunft über Großmut und Ernsthaf-
dem Aufklärungsjahrhundert nehmen, jedenfalls in- tigkeit der Römer im Vergleich mit der »schönen Ge-
tentional, die Beschaffenheit von Kollektivcharakte- müthsart« der Griechen (ebd., 83–84).
ren nicht vorweg, sondern geben deren Erkundung als Auch Montesquieu verzichtet im Esprit des lois
Erkenntnisgegenstand frei (d’Espiard 1954, 92–93; nicht darauf, Regierungsformen und Klimazonen zu
382–383). In ihrem Interesse an Naturbedingungen hierarchisieren. Kulturkonstellationen scheinen bei
und ethnographischen Detailbeobachtungen schlie- Montesquieu aber von so unterschiedlicher Beschaf-
ßen sie an empiristische Strömungen an, die, wie die fenheit zu sein, dass nicht einmal feststeht, ob sie an
Forschung weiß, auch W. beeinflussten. Als namhafte identischen Maßstäben gemessen werden können.
Vertreter des Aufklärungsinteresses an der Völkercha- »Mehrere Dinge«, so erklärt der Verf., »regieren die
rakteristik aus der ersten Jahrhunderthälfte seien in Menschen; das Klima, die Religion, die Geseze, die
chronologischer Folge genannt: die Réflexions criti- Maximen der Regierung, die Beyspiele der vergange-
ques sur la poésie et sur la peinture (1719) von Jean- nen Dinge, die Sitten, die Lebensarten. Hierdurch
Baptiste Dubos; die Abhandlung De l’ esprit des nations wird ein allgemeiner Geist, das Resultat hiervon, ge-
von François Ignace d’Espiard (1752, zuerst 1743); bildet.« (Montesquieu 1785/86, II, 226). Qualität, Ge-
Montesquieus De l’ esprit des lois (1748). Von diesen wicht und Effekt solcher Faktoren liegen allerdings
Schriften kannte W. nachweislich diejenigen von Du- nicht ein für allemal fest (ebd., II, 231). Je nach der be-
bos und Montesquieu (Tibal 1911, 105–106; 128; 135). sonderen Konfiguration, unter der sie auftreten, müs-
Für die kausale Erklärung von Physiologie und Phy- sen sie unterschiedlich bewertet werden. Kulturkon-
siognomie aus Naturvoraussetzungen griff W. außer- stellationen stehen daher unter einem je eigenen Ge-
dem auf Georges-Louis Leclerc de Buffon zurück, aus setz und wollen als Sonderfälle betrachtet werden.
dessen Histoire naturelle er Exzerpte anlegte (Lepenies Montesquieu schafft so Voraussetzungen dafür, dass
1986; Franke 2006, 105–116; Décultot 2011). Nationen und ihre jeweilige Verfasstheit nicht an will-
Um den weiteren Kontext von W.s Überlegungen kürlich vorgegebenen Kriterien gemessen werden.
zu bestimmen, sei es erlaubt, einen Blick auf d’Espiard Erst insofern der Betrachter solche Grundsätze an-
zu werfen. Ein philologischer Befund, der auf eine wendet, ist er selbst in der Lage, kulturanthropologi-
108 II Systematische Aspekte

sche Sachverhalte nach Vernunftkriterien zu beurtei- satz es auch nicht erlauben, Kulturen, Nationen oder
len. Welchen Spannungen Montesquieus Ansatz aus- Epochen in eine wertende Rangfolge zu bringen. Doch
gesetzt ist, bezeugt allerdings der Umstand, dass De gerade Dubos belegt die Spannungen, denen sich die
l’ esprit des lois nicht die Gestalt eines in sich geschlos- Kulturanthropologie der Aufklärung ausgesetzt sah.
senen Systems angenommen hat. Um den Preis innerer Widersprüchlichkeit seines An-
satzes hält der Verf. an klassizistisch orientierten Ur-
teilsmaßstäben fest, die er nicht als durch äußere Be-
Ingenium und Kunst
dingungen induziert, sondern als angeboren betrach-
Um einen Zusammenhang zwischen Klima, weiteren tet. Indem er voraussetzt, dass die griechische Klassik,
kulturbestimmenden Parametern sowie »Künsten die Renaissance und das Frankreich des 17. Jh. kultur-
und Wissenschaften« herzustellen, brauchte W. kei- geschichtliche Höhepunkte waren (ebd., II, 155; 198;
nen vollständigen Neuansatz zu entwickeln. In wel- 208–209; 216–217), versucht er, den möglichen relati-
chem Abhängigkeitsverhältnis Ingenium und guter vierenden Konsequenzen seiner Milieutheorie ent-
Geschmack von klimatischen Bedingungen stünden, gegenzusteuern (Hofter 2008, 50–54).
hatten Bouhours, seine Nachfolger und seine Gegner
diskutiert. Auch d’Espiard reflektiert diesen Gesichts-
Nationalcharaktere
punkt im Kontext seines Versuchs, zu einem Gesamt-
system des »Esprit des peuples« zu gelangen (d’Espi- Dass die Griechen in der Lage waren, unübertroffene
ard 1754, 282–283 u. a.). D’Espiard konnte sich dabei Meisterwerke hervorzubringen, verdankt sich, so lehrt
seinerseits auf Dubos stützen, der demselben Thema W. im Nachahmungsaufsatz, vor allem dem »Einfluß
ein umfangreiches selbständiges Kapitel widmet. eines sanften und reinen Himmels«: Entstellende
Dubos stellt keinen Zusammenhang zwischen kli- Krankheiten sind den Griechen fremd; das Klima be-
matischen oder institutionellen Voraussetzungen und günstigt eine Körperkultur (»Leibesübungen«, leichte
Stileigentümlichkeiten her. Gleichwohl gehen Gedan- Kleidung, Sorgfalt beim Zeugen »schöne[r] Kinder«,
ken aus den Kritischen Betrachtungen über die Poesie »Wettspiele der Schönheit«), deren Maßstab das Schö-
und Mahlerey in W.s Konzeption der Geschichte der ne ist; die Sitten bilden die Voraussetzung dafür, dass
Kunst als charakterologisch begründeter Stilgeschich- das »schönste Nackende« zusammen mit dem »großen
te der antiken Völker, vor allem aber in seine Idee von und männlichen Contour« den Griechen stets vor Au-
Griechenland als unüberbietbarem Höhepunkt der gen steht (Gedanken2, 4–10; vgl. Gisi 2007, 92–93).
Kunst ein (Décultot 2000, 159–162). Dubos behaup- Im Vergleich mit den Gedanken über die Nach-
tet, dass die Kunst von materiellen Bedingungen ab- ahmung fällt der Entwurf einer griechischen Kultur in
hänge, wie sie auch W. diskutiert. Zwar stellt der Verf. der Geschichte der Kunst komplexer aus. W. setzt dort
einen Katalog »moralischer« Ursachen für Größe und die griechische zu anderen Kulturen des Mittelmeer-
Niedergang zusammen, darunter Kriege, mäzenati- raums in Beziehung, bringt sie in eine kulturhistori-
sche Förderung und die Behandlung der Kunst als öf- sche Perspektive und bezieht neben den physischen
fentliche Angelegenheit der Bürger (Dubos 1760, II, ethnische und »moralische« Faktoren in seine Über-
121–135). Jedoch treten bei Dubos die »moralischen« legungen ein. Vom Klima, gegebenenfalls auch mit
(ebd., II, 207), ja sogar die genetischen Ursachen völlig seinen innergriechischen Unterschieden, hängen
hinter klimatische Bedingungen, Geographie und Bo- Physiologie und Physiognomie ab, im einzelnen zum
denbeschaffenheit zurück, von denen Erscheinungs- Beispiel Sprechwerkzeuge und Sprache, indirekt auch
bild, Charakter und Denkweise der Nationen abhän- die »Sitten« bzw. der »Character der Nation«, schließ-
gen (ebd., II, 221–257). Auch für den Wandel kollekti- lich insbesondere Erscheinungsbild und Schönheits-
ver Charaktere macht Dubos gegebenenfalls Ände- sinn der Griechen (Erläuterung, 104–118). Zum Zu-
rungen des Klimas verantwortlich, insbesondere in sammenhang von Klima, Körperkonstitution und
der Gestalt von Evaporationen der Erde (ebd., II, 258– Charakter einzelner Völker hatte sich bereits Montes-
269; 275–284). quieu geäußert (1785/1786, II, 78–105). – Mit Blick
Der klimatheoretische »Materialismus«, den Dubos auf die Geschichte der Kunst möchte es fast scheinen,
vertritt, ist geeignet, einer Bewertung von literarischen als träfe auch auf sie zu, was Lessing in seiner d’Espi-
und künstlerischen Errungenschaften nach allgemein- ard-Rezension schreibt: »denn was man moralische
gültigen ästhetischen Maßstäben den Boden zu entzie- Ursachen nennt, sind nichts als Folgen der physika-
hen. Kompromisslos gehandhabt, würde Dubos’ An- lischen« (Lessing V, 144).
13 Griechenland als Kulturentwurf 109

In der Geschichte der Kunst des Alterthums liest Griechenland-Entwurf gewinnt in der Geschichte der
man über den Zusammenhang von Klima und Spra- Kunst des Alterthums an geographisch-klimatischer
che bzw. Aussprache, mit dem sich auch d’Espiard und kulturanthropologischer Konkretion.
auseinandergesetzt hatte (d’Espiard 1754, 34–38): Wenn W. Vorgaben der Nationalgeist-Theorien
»Die Bildung des Gesichts ist so verschieden, wie die aufgreift, nimmt er allerdings eine Umbesetzung von
Sprachen, ja wie die Mundarten derselben, und diese Belang vor. Die Kunst ist in seinen Schriften nicht eine
sind es vermöge der Werkzeuge der Rede selbst, so von mehreren kulturellen Äußerungsformen, an de-
daß in kalten Ländern die Nerven der Zunge starrer nen der Charakter einer Nation abgelesen werden
und weniger schnell seyn müssen, als in wärmeren kann, sondern dominiert die kulturanthropologische
Ländern, und wenn den Grönländern und verschie- Perspektive. Von ihr leiten sich die Maßstäbe für Be-
denen Völkern in America Buchstaben mangeln, muß schreibung und Bewertung von Kulturen ab. Vor al-
dieses aus eben dem Grunde herrühren.« (GK1, SN lem im Vergleich mit Montesquieus Esprit des lois
I,1, 38) Entsprechend urteilt W. über die Griechen; springt diese Differenz ins Auge: Die Kunst nimmt ge-
denn Voraussetzung für deren Kunstsinn ist ihm zu- wissermaßen die Stelle der »Gesetze« ein, mit deren
folge die schöne »Bildung der Menschenkinder« unter Einrichtung sich der französische Philosoph beschäf-
»dem Griechischen Himmel« (ebd., 21). Für die bes- tigt. Statt der Geographie der Staaten, auf die De
ten natürlichen Voraussetzungen einer schönen »Bil- l’ esprit des lois zuläuft, beschreiben der Nachahmungs-
dung« der Bewohner gibt der Archäologe unter Beru- aufsatz und die Geschichte der Kunst Geschichte und
fung auf antike Quellen – die freilich ihrerseits partei- geographische Verteilung von Schönheitssinn, gutem
lich argumentieren dürften (Beller 2006, 243–244) – Geschmack und Kunststilen.
eine genaue Lokalisierung an; sie sind an der
Westküste von Kleinasien, in Ionien zu finden (GK1,
Empirie und Norm
SN I,1, 42–44). Auch eher metaphorische Analogien
zwischen Landschaftsformation und Kunstbeschaf- Daran, dass die Griechen in ihrer klassischen Zeit
fenheit stehen in einem Zusammenhang mit der Kli- poetische und künstlerische Werke von Gewicht schu-
matheorie: »Mit der Griechischen und Hetrurischen fen, zweifeln weder Dubos noch d’Espiard. Allerdings
Kunst [...] verhält es sich, wie mit ihrem Lande, wel- liegt keinem von beiden daran, von Griechenland, das
ches voller Gebürge ist, und also nicht kann übersehen im Übrigen auch in der zeitgenössischen Historiogra-
werden.« (GK1, SN I,1, 110) phie, selbst mit Blick auf die Kunst, keine absolute
Für die Verfasstheit antiker Kulturen als bedingen- Priorität vor den übrigen Nationen beanspruchen
den Faktor der jeweiligen Kunstproduktion über- kann (Décultot 2000, 130–135), ein ideales Bild zu
nimmt W. Topiken, wie d’Espiard und Montesquieu entwerfen. Vor allem d’Espiard entwickelt eine mehr-
sie verwenden: »Eben so sinnlich und begreiflich, als schichtige Vorstellung von dem antiken Land, in der
der Einfluß des Himmels in die Bildung, ist [...] der Licht- wie Schattenseiten berücksichtigt sind. Unter
Einfluß derselben in die Art zu denken, in welche die letzteren finden sich politische Instabilität und un-
äußern Umstände, sonderlich die Erziehung, Verfas- kontrollierte Phantasietätigkeit (d’Espiard 1754, 125;
sung und Regierung eines Volks mit wirken« (ebd., 44; 156–158; 180, 396). Man mag auch an das National-
vgl. auch 46–48). Vor allem im ersten Teil der Ge- übel übertriebener Eitelkeit denken, das Caylus den
schichte der Kunst des Alterthums entsteht auf der Ba- Griechen vorhält (Caylus I, 1752, 117–118). Der Zed-
sis solcher Serien von Gesichtspunkten eine Sequenz ler-Artikel über Griechenland, der den antiken Kul-
von Nationencharakteristiken (über Ägypter, Phöni- turleistungen Respekt zollt, notiert andererseits eine
zier, Juden, Perser, Etrusker, Volsker, Samniter und Neigung der Griechen zur Dekadenz: »Ihre Auffüh-
Campaner), in denen der Verf. klimatische und his- rung war auch honnett, liebreich und complaisant, da-
torische Voraussetzungen als Zugang zu den Eigen- her kam es, daß sie öffters mit Liebes-Händeln zu thun
arten der jeweiligen Kunst beschreibt (ebd., 54–62; hatten, und wohl gar in unvernünfftige und viehische
112–114; 116–118; 118–122; 136–142; 180–182). Zu- Excesse verfielen« (Zedler XI, Sp. 892). Im Chor der
letzt wendet W. dieses Instrumentarium an, um das Skeptiker lassen sich die Stimmen von Mythenken-
Spezifische von Nationalcharakteren und stilistische nern des 18. Jh. vernehmen. Ihnen zufolge, hier ver-
Merkmale der jeweiligen Kunstproduktion zu fassen: treten durch Antoine Banier, besaßen die antiken
»Die Kunst muß also unter ihnen in jedem Lande ei- Griechen eine durch die Vernunft nicht disziplinierte
genthümlich gewesen seyn« (ebd., 126). Auch der Einbildungskraft, der sich die ebenso phantastischen
110 II Systematische Aspekte

wie fragwürdigen mythologischen Figuren und Er- sierung der Kulturen. Denn mehr noch schließt W. an
zählungen verdankten (Banier 1754, I, 63). Dem Sinn die Antiqui-Moderni-Debatten an, in deren Rahmen
der Griechen für Philosophie, Literatur und Kunst ste- klimatheoretische und nationalcharakterologische
hen so ihr wenig ausgeprägter politischer Ordnungs- Argumente verwendet wurden, um die Priorität einer
geist und ihre unzuverlässige moralische Konstitution bestimmten Nation vor anderen zu postulieren. Das
gegenüber. Griechenland-Konzept ist darauf angelegt, den Ge-
Hingegen verwendet die Griechenland-Darstellung gensatz zwischen Norm und Empirie zu beseitigen.
in der Geschichte der Kunst klimatische Beobachtun- Historisch-kritisch begründete Distanzierungen von
gen und archäologische bzw. literarische Überlieferun- W.s Modell wie die von Christian Gottlob Heyne blie-
gen als Bausteine eines hypothetischen, aber geschlos- ben nicht aus (Heyne 1778, 170–174).
senen und idealen Ganzen. Für dieses Griechenland-
Bild können englische Autoren (Shaftesbury, Thomas
Kunst und »Freyheit«
Blackwell) eine gewisse Vorläuferschaft beanspruchen
(Décultot 2000, 141–146). Die Natur, die bei Dubos Von vorausgehenden und nachfolgenden Kulturen
das Potenzial besitzt, die Welt der Kunst in eine Vielfalt unterscheidet sich die griechische W. zufolge darin,
nicht hierarchisierbarer Sondererscheinungen zerfal- dass allein sie die Kunst zum Konstitutionsfaktor des
len zu lassen, ist bei W. für die Verwirklichung einer Gemeinwesens erhebt. Die Geschichte der Kunst des
universellen Geschmacksnorm im antiken Griechen- Alterthums hierarchisiert die übrigen antiken Kul-
land verantwortlich. Der klimatischen Mittellage ver- turen gemäß der Rolle, die sie der Kunst zugestehen,
danken die Griechen eine feurige, aber durch Phlegma und entsprechend dem Entwicklungsstand, den sie in
gemäßigte Einbildungskraft (GK1, SN I,1, 48). In Grie- Geschmacks- und Kunstfragen erreichen. Klima-
chenland kommt die in der Natur angelegte allgemein- tische Bedingungen, »Geblüt« und »moralische« Um-
gültige Regel zur Erscheinung: »Die Natur [...] hat sich stände bilden den Nährboden einer griechischen Kul-
in Griechenland, wo eine zwischen Winter und Som- tur, deren »Geist« durch die Prädisposition für das
mer abgewogene Witterung ist, wie in ihrem Mittel- Schöne und für die Pflege der Kunst bestimmt ist; man
puncte gesetzt, und je mehr sie sich demselben nähert, vergleiche im Gegensatz dazu Dubos, demzufolge der
desto heiterer und fröhlicher wird sie, und desto all- Kunstsinn der Griechen auch deshalb in hohem Maß
gemeiner ist ihr Wirken in geistreichen witzigen Bil- kultiviert werden konnte, weil die Sklaven die athe-
dungen, und in entschiedenen und vielversprechen- nischen Bürger von der Erwerbsarbeit entlasteten
den Zügen« (GK1, SN I,1, 212). So zeigt sich der geo- (Dubos 1760, II, 129).
graphische und historische Sonderfall zugleich als »In Absicht der Verfassung und Regierung von
überall geltendes Gesetz (Franke 2006, 106–107). Griechenland« führt W. als Bedingung der griechi-
Wenn W. in dieser Weise auf Griechenland Bezug schen Kunstblüte die »Freyheit« der griechischen Re-
nimmt, überschreitet er allerdings den Bereich des- publiken an (GK1, SN I,1, 218). Die Verbindung von
sen, was dem Betrachter der verbliebenen Dokumente griechischer »Freyheit«, die er als Verfassungsmerk-
und Überreste in die Augen fällt und überprüft wer- mal auch bei Montesquieu kennengelernt hatte (Dé-
den könnte, in ähnlicher Weise wie gelegentlich bei cultot 2000, 153–155), und Kunstblüte fand W. schon
der Beschreibung von Kunstwerken (Décultot 2010, vor; auf ihn geht allerdings die totalisierende Idee ei-
133–137) oder auch im freundschaftlichen Brief (vgl. nes Kulturmusters auf der Grundlage dieses Begriffs
Br. III, 275). Während der Archäologe sein Griechen- zurück. – Zweifellos setzt sich W. mit Erfahrungstat-
land-Bild empiristisch zu untermauern scheint, ent- beständen seiner politischen Lebenswelt auseinander,
zieht er es gleichzeitig dem empirischen Zugriff. Die wenn er den assoziationsreichen und suggestiven, je-
Begründung ästhetischer Normativität nimmt die Ge- doch nicht sehr distinktiven Begriff der »Freyheit«,
stalt einer klimatheoretischen, genetischen und his- der auch an vielen anderen Stellen seines Werks und
torischen Konkretisierung an, die sich der Gefahr des in anderen Zusammenhängen eine Rolle spielt (Pom-
Vielfältigen und Beliebigen entziehen will. mier 2001), mit fürstenkritischem Akzent in der Ge-
Auch wenn, Justus Möser zufolge, W. und Montes- schichte der Kunst verwendet (Décultot 2013). Eine in-
quieu »einerley Größe und einerley Fehler gehabt zu stitutionelle Konkretisierung erfährt die »Freyheit«
haben scheinen« (Möser 1797, 196), orientiert sich der Griechen, die vor dem Ende der Tyrannenherr-
W.s Griechenland-Entwurf wenigstens nicht in erster schaft auch »neben dem Throne der Könige« (GK1, SN
Linie an Montesquieus Relativierung und Individuali- I,1, 218) zu finden gewesen sei, allerdings kaum. Ob-
13 Griechenland als Kulturentwurf 111

wohl W. machtpolitische Kategorien aus seinen Über- antiken wirkte in der zweiten Jahrhunderthälfte auf
legungen nicht ganz ausschließt, bleibt auch mit Blick das Bild von den gegenwärtigen Griechen zurück und
auf das antike Athen und sein »Democratisches Regi- bestimmte gleichzeitig die ideale Selbstwahrnehmung
ment [...], an welchem das ganze Volk Antheil hatte« moderner Nationen mit (Chatzipanagioti-Sangmeis-
(GK1, SN I,1, 46), unbestimmt, in welchen Verfas- ter 2002, 310–384).
sungsnormen, Gesetzen, Rechtsprechungsinstanzen, So scheinen W.s Ideen geradewegs in den Univer-
staatlichen Einrichtungen und unmittelbar zugehöri- salitätsanspruch der Aufklärung einzumünden (Andu-
gen Einstellungen und Handlungsweisen sie sich zei- rand 2013). Doch gleichzeitig lassen sie in ihrer Viel-
gen könnte. Keine Frage allerdings, dass in den Schrif- deutigkeit Raum für kontroverse Diskussionen über
ten Ansatzpunkte für den Freiheitsenthusiasmus an- die Frage, ob W. den Grund für eine spezifisch deutsche
gelegt sind, mit dem W. in der Zeit der französischen Griechenbegeisterung gelegt habe (Marchand 1996,
Revolution rezipiert wurde (Baeumer 1986; Hartog 7–16) bzw. ob das Griechenland-Modell als Identifika-
2005, 87–89). tionsangebot an deutsche Leser entworfen sei und in
Dass »Freyheit« in W.s Werk als Verfassungs- oder dem staatlich zersplitterten, durch universalistische
Rechtspraxis schwer näher zu qualifizieren ist, gilt, ob- Reichsideen politisch überwölbten Deutschland auf
wohl der Verf. sich mit einschlägiger Literatur be- besonders fruchtbaren Boden fiel (Wiedemann 1986).
schäftigt hat (Baeumer 1986, 27–28; Décultot 2000, Wenigstens vordergründigen Aneignungsversuchen
176–181). Hingegen nimmt »Freyheit« in der Kunst bleibt W.s Griechenland in seiner historischen Einzig-
gewissermaßen sichtbare Gestalt an; denn unter ihren artigkeit und Idealität in jedem Fall entzogen; statt-
Auspizien können Verdienste tendenziell aller Mit- dessen fällt ihm die Rolle eines kulturellen Spiegel-
glieder des Gemeinwesens in Gestalt von öffentlichen bilds, eines Reflexionsobjekts zu, vielleicht auch die ei-
Monumenten gewürdigt werden. Unter den Bedin- nes ideellen »Vaterlands«, an dem sich das wirkliche
gungen der »Freyheit« scheint ein unvoreingenom- zu messen hat.
menes Urteil über Kunstfragen möglich zu sein;
Künstler treten als öffentliche Personen auf, privater Quellen
Luxus bleibt verbannt und die Magnifizenz der Respu- Banier, Antoine: Erläuterung der Götterlehre und Fabeln aus
blica kommt in Gestalt von Kunstwerken zur Erschei- der Geschichte. Aus dem Französischen übers., in seinen
Allegaten berichtigt, und mit Anmerkungen begleitet, von
nung (GK1, SN I,1, 218–230). Johann Adolf Schlegeln [ab Bd. 4 von Johann Matthias
Nicht in ihrer staatlichen Verfasstheit, durchaus Schröckh]. 5 Bde. Leipzig 1754–1766.
hingegen in Kunst und Literatur zeigt sich auch die in Bouhours, Dominique: Les Entretiens d’Ariste et d’Eugene.
einzelne Gemeinwesen geteilte griechische Nation. Derniere Edition. Amsterdam 1671.
Verglichen mit anderen antiken Kulturen besteht die Caylus, Anne Claude Philippe de: Recueil d’antiquités égyp-
tiennes, grecques, étrusques et romaines. 7 Bde. Paris
kollektive Leistung der Griechen darin, dass sie die
1752–1767.
Kunst zur höchsten Ausdrucksform ihres National- Dubos, Jean-Baptiste: Kritische Betrachtungen über die Poe-
charakters erheben. Der staatliche Partikularismus – sie und Mahlerey. Übers. von Gottfried Benediktus Funk.
W. bewertet als Zeichen der »Freyheit«, dass »die gan- 3 Bde. Kopenhagen 1760.
ze Nation [...] niemals ein einziges Oberhaupt er- d’Espiard, François Ignace: Das Eigene der Völkerschafften.
kannt« habe (ebd., 218) – , der sonst eher als Indiz der Aus dem Französischen übers. 2 Bde. Altenburg 1754.
Heyne, Christian Gottlob: Sammlung antiquarischer Aufsät-
Instabilität gilt, und selbst die innergriechischen Aus-
ze. Erstes Stück. Leipzig 1778.
einandersetzungen des perikleischen Zeitalters be- Lessing, Gotthold Ephraim: Sämtliche Schriften. Hg. von
günstigen literarische und künstlerische Aktivitäten Karl Lachmann. Dritte [...] Aufl. bearb. durch Franz Mun-
(ebd., 624). Auch wenn W. eine durch »Freyheit« be- cker. 23 Bde. Stuttgart 1886–1919.
stimmte »Verfassung und Regierung« voraussetzt, bil- Möser, Justus: Vermischte Schriften. Erster Theil. Nebst des-
det sich sein Griechenland zuletzt um »Künste und sen Leben. Hg. von Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1797.
Montesquieu, Charles Louis de Secondat de: Vom Geist der
Wissenschaften«, vor allem jedoch um die Kunst als Gesetze. Nach der neuesten und vermehrten Auflage aus
zentrale »Institution«. Mit der Naturnähe, der Unbe- dem Französischen übers. und mit vielen Anmerkungen
stimmtheit als staatlicher Erscheinung und den uto- versehen. 3 Bde. Prag 1785–1786.
pischen Zügen lässt der Griechenland-Entwurf, für Zedler, Johann Heinrich (Hg.): Grosses vollständiges Uni-
sich genommen, die Konkurrenz der Nationen hinter versal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche
bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden
sich; ihnen verdankt er auch seine Verallgemeinerbar-
und verbessert worden [...]. Halle/Leipzig 1732–1754.
keit und Anschlussfähigkeit. W.s Vorstellung von den
112 II Systematische Aspekte

Forschung Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre


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III Werke
14 Das Briefwerk loren gelten. Anders als viele edierte Briefsammlun-
gen aus dem 18. Jh. sind die W.-Briefe im Wesentli-
Winckelmann und die Epistolographie des
chen nicht als epistolographischer Dialog zugänglich.
18. Jahrhunderts
In den Augen von Zeitgenossen speist sich die At-
Überlieferung und Forschung traktivität von Briefen, zumal von solchen, die ihren
Briefe bilden einen eigenständigen Bestandteil von Verf. »im nachläßigen Gewand des Schlaffroks im ver-
W.s Schriften, der auf vielfältige Weise mit den publi- traulichen Kreise von Freunden« (Fuessli 1778, 4) zei-
zierten Werken verflochten ist und von Beginn an gen, nicht zuletzt aus der Idee, dieses Medium gewähre
prioritärer Gegenstand der W.-Rezeption war. Wel- authentischen Zugang zur Person des Briefschreibers
ches Interesse früh an W. in der Epistolographenrolle und biete die Chance, ein zutreffendes Charakterbild
bestand, dokumentieren die gedruckten Ausgaben der des Verf. zu gewinnen. Wenn man dem Herausgeber
»gesammelten Überreste eines der größten Männer Dassdorf folgt, sind Privatbriefe überhaupt »Beyträge
unsrer Nation« (Dassdorf 1777, Vorbericht, unpagi- zu der geheimen Geschichte des Denkens und Empfin-
niert), die bald nach dem Tod des Archäologen im In- dens grosser Männer« (Dassdorf 1777, Vorbericht, un-
und Ausland erschienen. Von den vielen frühen Ein- paginiert). So gelesen, stehen W.s Briefe wie literari-
zel- und Sammelpublikationen von W.-Briefen seien sche Denkmäler da, die einen privilegierten Nahblick
hier nur die Briefe an Schweizer Adressaten (1778), auf ihren Autor ermöglichen. Dies ist auch die Perspek-
die zweibändige Briefausgabe von Karl Wilhelm Dass- tive, die Goethe sich zu Beginn des 19. Jh. in kulturpoli-
dorf (1777, 1780) und die von Erich Biester heraus- tischer Absicht zu Eigen macht: »Seine Werke, verbun-
gegebenen Briefe an Muzell-Stosch genannt (1781). den mit seinen Briefen, sind eine Lebensdarstellung,
Zu den Herausgebern, die sich um W.s Briefe verdient sind ein Leben selbst« (Goethe, Werke XII, 118).
machten, gehört Goethe, der in der Sammelschrift Auch in der W.-Forschung dominiert traditionell
»Winckelmann und sein Jahrhundert« (1805) die Se- das Interesse an »Leben und Werk« des Archäologen.
rie der Briefe an W.s Studienfreund Berendis drucken Noch für den Briefherausgeber Walther Rehm zeigt
ließ. Gleichwohl müssen viele Originalmanuskripte sich »hinter allen Briefdokumenten dieses Mannes die
und, mehr noch, viele Briefe, ja ganze Briefserien an gleiche unverkennbare und immer stärker geformte
bestimmte Empfänger als verloren gelten. Empfindli- Persönlichkeit« (Rehm, in: Br. I, 29). Ein Beispiel bie-
che Verluste betreffen z. B. die Briefe an W.s Schüler tet auch der Beitrag von Hellmut Sichtermann (1986),
Lamprecht, an den kurfürstlichen Beichtvater Leo der das Briefwerk verwendet und einleitender Bemer-
Rauch in Dresden und an den Fürsten Franz von An- kungen wegen zuweilen im Zusammenhang mit der
halt-Dessau (Br. I, 487–496). Erforschung der W.-Briefe angeführt wird. Briefe un-
Das erhaltene Briefkorpus setzt sich zusammen aus terliegen aber eigenen Gesetzen. Der Autor, der »an-
handschriftlich, als Konzept oder abschriftlich erhal- ders an einen Freund und anders in die Welt hinein«
tenen sowie aus lediglich erschlossenen oder frag- schreibt (Br. I, 284), sieht sich in Briefen nicht an die
mentarisch überlieferten Briefen. W.s epistolographi- Gebote der Unparteilichkeit und der Gründlichkeit
sches Werk liegt in der 1957 abgeschlossenen reich gebunden. Anders als die Welt systematisch angeleg-
kommentierten Ausgabe von Walther Rehm vor, die ter Traktate ist diejenige der Briefe schon dem Ver-
seitdem nur um eine überschaubare Zahl an Einzel- ständnis des Verf. nach disrupt, zuweilen einseitig, wi-
stücken ergänzt wurde (zusammengestellt bei Kunze dersprüchlich, aber reich facettiert. Über Jahrzehnte
1986, 18 f. Zu ergänzen ist ein Brief an Paciaudi; vgl. entstanden, an unterschiedliche Adressaten gerichtet
Ferrari 2006). Der jüngste Beitrag zur Editions- und zu unterschiedlichen Anlässen geschrieben, bil-
geschichte der Briefe ist eine dreibändige italienische den die Briefe keine Einheit, sondern sind von dis-
Ausgabe (Winckelmann 2016). – Während andere parater Beschaffenheit. Der Leser muss damit rech-
Teile von W.s Nachlass erhalten geblieben sind, müs- nen, dass sie gerade nicht auf eine geschlossene Auto-
sen die Briefe an den Archäologen mit der Ausnahme ren-»Persönlichkeit« zurückgeführt werden können.
von etwa vierzig Schreiben (Br. IV, 67–112) als ver- Aufgabe der Forschung ist es, Standpunkte ein-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_14, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
14 Das Briefwerk 115

zunehmen, von denen aus die Briefe rhetorisch, medi- Das bis 1755 entstandene Konvolut umfasst neben
engeschichtlich und funktional betrachtet werden Briefen an Förderer und Brotherren (Johann Rudolf
können. Nur eine überschaubare Zahl wissenschaftli- Nolte, Christian Friedrich Papier, Alberico Archinto)
cher Publikationen hat bislang W.s Briefe nicht allein solche an Studienkollegen aus der Zeit, die W. an der
als Informationsquelle ausgewertet, sondern sie selbst Universität von Halle verbrachte (Hieronymus Diet-
zum Gegenstand gemacht. Zu nennen sind: Mit Vor- rich Berendis, Gottlob Burchard Genzmer, Konrad
behalt Walther Rehms Einleitung zu seiner Briefaus- Friedrich Uden), im Einzelfall auch an Schüler, an die
gabe (Br. I, 1–35), die den Epistolographen W. als »Hu- sich der Verf. enger anschließen wollte (Friedrich Wil-
manisten« beschreibt – worunter der Verfasser die In- helm Peter Lamprecht). Besondere Beachtung verdie-
tellektuellenexistenz schlechthin versteht; die stil- nen die Briefe, in denen W. gegenüber seinen Freunden
beschreibende Dissertation von Brockmeyer, die ein und dem Grafen Heinrich von Bünau, bei dem er in
Kapitel über W.-Briefe enthält (Brockmeyer 1961; vgl. Nöthnitz als Bibliothekar gewirkt hatte, den Übertritt
auch Rendi 1969); ein knapper Essay von Walter Jens zum katholischen Bekenntnis begründet. In W.s pro-
(1988) über psychologische und literarische Verwer- testantischem, teilweise pietistisch geprägtem Umfeld
fungen bei W. als Selbstdarsteller; Ernst Osterkamps stellte die Konversion den Verf. vor eine anspruchsvolle
Studie über W. als Taktiker der Informationssteue- Vermittlungsaufgabe. Vor allem für die vorrömischen
rung (1988); schließlich mein Versuch einer Betrach- Briefe sei festgehalten, dass viele ihrer Adressaten, ab-
tung von W.s Briefrhetorik (Disselkamp 1993; vgl. gesehen etwa von Bünau, Archinto und dem Nöthnizer
auch Disselkamp 2017). Bibliothekar Johann Michael Francke, außerhalb der
Während Briefe, nicht zuletzt auch die Brieflitera- spezialisierten W.-Forschung wenig bekannt sind. Die
tur des 18. Jh., in den vergangenen beiden Jahrzehnten Briefe sind von einem Verf. geschrieben, der in der
Gegenstand differenzierter Untersuchungen gewor- Welt der Gelehrten und Mäzene noch kaum Fuß ge-
den sind, bleiben neue Ansätze zur Erforschung von fasst hatte.
W.s Briefwerk rar. Genannt seien die Studien von Ma- Die Briefe der römischen Jahre sind an eine größere
ria Fancelli zu W.s vorrömischen Briefen, besonders Vielfalt an Adressaten gerichtet und besitzen einen
mit Blick auf die Genese eines emphatischen Freund- höheren Grad an literarischer Differenzierung. W.
schaftsbegriffs (Fancelli 2000 und 2009), und von hielt den Kontakt zu einem kleinen Kreis von Brief-
Kerstin Küster zur Konstitution von Topographien in partnern aufrecht, mit denen er auch schon vor 1755
den Briefen (Küster 2011). Der einseitigen Überliefe- in Verbindung gestanden hatte bzw. die er persönlich
rung zum Trotz läge es nahe, die Korrespondenzen kannte (Berendis, Genzmer, Uden, Francke, Bünau,
unter dem Vernetzungsaspekt, im Detail den Vernet- Giovanni Lodovico Bianconi, Georg Conrad Wal-
zungsgrad, die Verknüpfungen mit Drittpersonen, die ther). Doch vor allem erschließen seine Korrespon-
Netzgeographie und die Frage der Generierung von denzen jetzt neue Dimensionen – seien sie kultur-
archäologischem Wissen in Korrespondenzen zu be- räumlicher Art, sei es mit Blick auf Stand und Bildung
trachten. Für exemplarische Untersuchungen sei auf der Adressaten. Es ist nicht zuviel gesagt, dass das
die Studie zu Albrecht von Haller (Stuber u. a. 2005) Briefwerk eine Neuorganisation der geographischen
verwiesen; ein erster Vorschlag liegt auch für den mit und sozialen Topographie des Verf. dokumentiert.
W. korrespondierenden Philipp von Stosch vor (Lang Auch in sprachlicher Hinsicht findet der Umbau
2007. Für die W.-Rezeption unter homoerotischer seinen Niederschlag: Bis zu seiner Romreise zollt W.
Perspektive vgl. Richter 1996). dem Umstand Tribut, dass auch im 18. Jh. das Lateini-
sche in gelehrten Korrespondenzen nicht unüblich
Korrespondenzen und Korrespondenten war. Aus den römischen Briefen verschwindet es bis
Die Überlieferung von W.-Briefen setzt erst nach sei- auf wenige Ausnahmen (vgl. das »Gutachten« in Br. II,
nen Studienjahren in Halle und Jena ein. Von den 318 und das Dankschreiben für die Aufnahme in die
knapp tausend erhaltenen oder erschlossenen Stücken Göttinger Akademie der Wissenschaften, Br. III, 85–
– eine im Vergleich mit anderen Epistolarien des 86). Ab 1756 verwendet der Verf. neben der deutschen
18. Jh. nicht übermäßig eindrucksvolle Quantität – die italienische Sprache, z. B. in den zahlreichen Brie-
entfallen 115 auf die Jahre zwischen 1742 und 1755 in fen an Anton Raphael Mengs, Bianconi und weitere
Deutschland, auf W.s Zeit als Hauslehrer, Konrektor italienische Adressaten. Im Briefverkehr mit französi-
und Bibliothekar. Alle übrigen verfasste W. während schen Korrespondenten, auch etwa mit dem Briten
der dreizehn Jahre, die er in Italien verbrachte. John Wilkes, schreibt W. französisch. Vor wie nach
116 III Werke

dem Aufbruch nach Rom bedient er sich des Französi- tet werden können, mag an dieser Stelle undiskutiert
schen vereinzelt als Hofsprache, etwa im Kontakt mit bleiben.
Heinrich von Bünau (Br. I, 77) und dem österreichi-
schen Staatsmann und Kunstsammler Johann Karl Epistolographische Grundlagen
Philipp Graf Cobenzl in Brüssel (z. B. Br. III, 272). Wie W.s Korrespondenzen erkennen lassen, betrieb
Eine eigene umfangreiche Briefserie betrifft die der Verf. das Briefeschreiben als Geschäft von Belang.
Verhandlungen mit dem Buchhändler und Verleger Ohnehin besaß ein Brief, auch angesichts technischer
Georg Conrad Walther aus Dresden, bei dem die in Voraussetzungen wie langer Laufzeiten (z. B. Br. II,
deutscher Sprache verfassten selbständigen W.-Schrif- 318), hoher Portokosten (z. B. Br. I, 296; II, 146 f.; 235)
ten erschienen. Rasch kam der Kontakt mit dem Kup- und nicht völlig selbstverständlicher Zuverlässigkeit
ferstecher Johann Georg Wille in Paris zustande, der der Übermittlung (Br. II, 20), ein erhebliches Eigenge-
seinerseits eine ausgedehnte Korrespondenz europäi- wicht. Wenigstens bei wichtigen, sorgfältig zu stilisie-
schen Ausmaßes unterhielt und Verbindungen in die renden Schreiben gingen den Reinschriften Entwürfe
Schweiz stiftete, um finanzielle Unterstützung für W.s voraus, von denen sich einige erhalten haben (z. B. Br.
erste Neapelreise einzuwerben (Br. I, 587). Wille war II, 257 f.; 367; IV, 31–64). Auf die Epistolographie
es auch, über den W.s Name in Paris bekannt wurde. selbst bezogene Fragen des Briefschreibens, der Emp-
Die ersten Schweizer Korrespondenten waren Johann fehlungen und Grüße an andere, des Versendens und
Caspar Füssli und Salomon Gessner. Weiterleitens von Büchern und Kupferstichen und der
Umfangreiche Briefwechsel führte W. mit Adressa- am besten geeigneten Versandwege bilden in W.s Brie-
ten, mit denen er in Rom bzw. Florenz Bekanntschaft fen einen eigenen Schwerpunkt.
schloss oder in freundschaftliche Verbindung trat. Zu Die Vermutung liegt nahe, dass der Verfasser seine
ihnen gehören Wilhelm Muzell-Stosch, mit dem W. Welt auch mit Hilfe von Briefen, wenn nicht in ihnen
die nach der Überlieferungslage umfangreichste Ein- organisierte. W. war mit einer schwach vorstruktu-
zelkorrespondenz unterhielt, ebenso – nach seiner rierten Umgebung konfrontiert und ging seinerseits
Übersiedlung nach Madrid – Mengs und der dänische erhebliche biographische Risiken ein. Wenn er in sei-
Bildhauer Johannes Wiedewelt. Unter den Rom-Be- nem berühmten Schreiben an Friedrich Wilhelm
suchern, denen W. als Führer durch die römischen Marpurg den eigenen Werdegang als »das Leben und
Sammlungen und Ausgrabungen zur Seite stand und die Wunder Johann Winckelmanns« (Br. II, 276)
mit denen er später brieflichen Kontakt hielt, finden kennzeichnet, charakterisiert er nicht unzutreffend ei-
sich Adlige auf Kavalierstour wie der Freiherr Johann nen unter ungewissen Umständen zustande gekom-
Hermann von Riedesel, der Livländische Baron Fried- menen Lebenslauf. Wichtige Rahmenbedingungen
rich Reinhold von Berg und Friedrich Wilhelm Graf musste der Autor, nicht zuletzt epistolographisch, erst
von Schlabrendorf aus Preußen, aber auch der Reise- herstellen.
schriftsteller Johann Jakob Volkmann. Zur Kategorie Dazu eigneten sich Briefe deshalb in besonderem
der Rom-Besucher mit Altertumsinteresse zählen fer- Maß, weil sie einen Öffentlichkeitsbezug besaßen.
ner Reisende aus der Schweiz – vor allem Leonhard Briefe waren vielfach auch noch im 18. Jh. weniger
und Paul Usteri, Johann Heinrich Füssli und Christian den Gesetzen der Privatheit unterworfen als denen
von Mechel. der Geheimhaltung (zum Problem Hölscher 1997,
Im Vergleich mit den Geschäfts- und Freund- 24 f. Vgl. z. B. Br. II, 163; III, 235). Wollte man W.s
schaftskorrespondenzen, die W. mit Briefpartnern in freundschaftliche Korrespondenzen ohne weiteren
Deutschland und in der Schweiz führte, bleiben die Kommentar als privat bezeichnen, so wären Missver-
Kontakte innerhalb von Italien sowie nach Frank- ständnisse vorprogrammiert. – Briefschreiber konn-
reich und England in der Minderzahl. Stabile Briefbe- ten damit rechnen, dass die jeweiligen Empfänger die
ziehungen unterhielt der Archäologe mit dem Ar- übermittelten Nachrichten weiterverbreiten würden.
chäologen, Antiquar und Bibliothekar Paolo Maria Wer Briefe versandte, wurde für andere Zeitgenossen
Paciaudi, mit dem Geologen Nicolas Desmarest und in hohem Grad wahrnehmbar. Eine gewisse Art brei-
dem Zeichner, Maler und Architekten Charles Louis terer Aufnahme der W.-Briefe hatte schon längst ein-
Clérisseau, während die Briefe an die meisten ande- gesetzt, bevor sie in gedruckten Sammlungen erwor-
ren Korrespondenten Einzelfälle bleiben. Welche Fol- ben werden konnten: Der Empfänger las die an ihn
gerungen aus diesem Umstand für den Grad von W.s gerichteten Schreiben vor (Br. III, 78) und ließ Ab-
Integration in die italienische Gelehrtenwelt abgelei- schriften von den Briefen nehmen, die er erhalten
14 Das Briefwerk 117

hatte (vgl. Br. II, 309); er zitierte aus ihnen in Schrei- gen vermeintliche oder wirkliche Angriffe in Schutz
ben an andere oder gab Informationen weiter (Bei- nehmen möchte. In dieser Absicht setzt er in der Af-
spiele in Füssli 1778; vgl. Br. I, 369 f.). Einige der weni- färe um das 1766 publizierte »Pasquill« von Giovanni
gen überlieferten Fragmente aus den Briefen, die Battista Casanova (Br. IV, 398–403) Briefe ein (Br. III,
Franz von Anhalt-Dessau an W. schrieb, finden sich 242–244). Ein kartellartig aktivierbares Netz von
als Zitate in Schreiben an Muzell-Stosch (Br. III, 265; gleichgesinnten, freundschaftlichen Korresponden-
312). W. selbst rechnete damit, dass manche seiner ten konnte sich als wirkungsvolles Instrument in sol-
Briefe nicht nur den ursprünglichen Adressaten errei- chen Auseinandersetzungen erweisen.
chen würden; der Gedanke an ein weiteres Publikum
war keineswegs nur »unbewußt« (Rehm, in: Br. I, 5) Gelehrte Korrespondenzen und Gelehrtenkritik
vorhanden. In den Gedancken über die Nachahmung Der eigentliche Ausgangspunkt des Archäologen, in-
bemerkt W., üblicherweise werde mit Briefen verfah- sofern er als Briefschreiber auftritt, liegt in der Gelehr-
ren »wie auf dem Theater, wo ein Liebhaber, der mit tenepistolographie. Unter Gelehrten war der Briefver-
sich selbst spricht, zu gleicher Zeit das ganze Parterre kehr ein unverzichtbares Instrument der Kooperati-
als seine vertrautesten Freunde ansiehet« (GK2, KS on, Auseinandersetzung, Verständigung und Infor-
89; vgl. Fancelli 2010, 82). Dies darf man so gut wie mationsvermittlung. Zumal für W., der Gründe hatte,
wörtlich verstehen: Was der Verf. Briefen anvertraute, die Verbindungen zwischen Italien und Deutschland
konnte geradezu den Charakter einer Bekannt- nicht abreißen zu lassen, war der Briefverkehr gerade-
machung annehmen (z. B. Br. III, 137). Wenn Philipp zu überlebenswichtig. Gelehrte Korrespondenzen
Daniel Lippert 1767, noch zu W.s Lebzeiten, in seiner überzogen Europa, bildeten gewissermaßen informel-
»Dactyliothec« bemerkt, »schon durch seine Briefe« le Akademien, waren aber auch akademischen Insti-
sei der Archäologe bestrebt, »seinen Landesleuten tutionen assoziiert und gaben die Basis für wissen-
recht nützlich zu werden« (Lippert 1767, I, XIV mit schaftliche Zeitschriften ab (Stuber u. a. 2005, 45). Zu-
Anm. c), so ist dies ein Reflex auf die Beachtung, die sammen mit anderen Medien waren sie Teil der ge-
Briefe über den jeweiligen Adressaten hinaus fanden. lehrten Öffentlichkeit. Gelehrte Epistolarien wurden
Schon deshalb wäre es unzulässig, Briefe primär als als wissenschaftsgeschichtliche Dokumente betrach-
Ausdruck der »Persönlichkeit« zu lesen und »die tet und konnten, vor der Entstehung eines differen-
Ausbildung eines freier geschriebenen, persönlich- zierten Systems wissenschaftlicher Disziplinen und
keitsbestimmten Briefes« (Nickisch 1991, 44) zur geregelter Studiengänge, dazu beitragen, einen Über-
briefgeschichtlichen Messlatte auch für W.s Korres- blick über Wissensbereiche zu gewinnen oder Ausbil-
pondenzen zu erheben. dungswege zu strukturieren (Ammermann 1983). Als
Briefe boten jedenfalls eine Möglichkeit, an der Verf. der »antiquarischen Relazionen« – Sendschrei-
Verbreitung von Gerüchten teilzunehmen und sie zu ben, in denen sich der sächsische Kurprinz in italie-
beeinflussen bzw. zu korrigieren (vgl. Br. III, 340). nischer Sprache vor allem über archäologische Funde
Autoren wie W. war klar, dass sich Briefe schon kraft am Vesuv unterrichten ließ (Br. II, 356–361 und weite-
ihrer Materialität vom flüchtigeren mündlichen Ge- re) – partizipiert W. an dem Übergangsbereich zwi-
spräch unterschieden (Baasner 2008). Aus der Sicht schen Briefwechsel und publikationsfähigem Aufsatz.
des Archäologen besteht ein dichter Zusammenhang Von seinen Korrespondenzpartnern verlangt er gele-
zwischen Briefen und dem eigenen Ruf. Der Zusam- gentlich, Nachrichten zurückzuhalten, »weil man alles
menhang von »Briefkultur und Ruhmbildung« dort Brühwarm in die Zeitungen setzet« (Br. II, 108).
(Schöttker 2008) war W. geläufig. Der Verf. setzt Brie- Im brieflichen Umgang mit Bekannten und Freun-
fe als Mittel ein, um seine Fama zu befördern. Neu- den bilden Nachrichten über archäologische Funde
igkeiten, die ihn betrafen – etwa die erwartete Beru- und Berichte über den Fortgang der eigenen Arbeiten
fung zum Antiquar nach Berlin und ihr Scheitern den Fond von W.s Briefverkehr. Der Briefschreiber
oder die Bestellung zum Aufseher der Altertümer in versorgt die Korrespondenten darüber hinaus mit
Rom – verteilt W., gegebenenfalls mit adressatenspe- Einblicken in die gelehrte Welt, vor allem in diejenige
zifischen Varianten, über mehrere Briefkanäle. Um- von Rom. Mit einem gewissen Recht könnte man von
gekehrt soll Berendis aus Seehausen berichten, »was einer epistolographischen Topik sprechen, an der sich
man von mir spricht« (Br. I, 269). Der Verfasser rea- W. orientiert. Ohne »Ladung von alten Steinen« und
giert unverzüglich, wenn er sich in ein unvorteilhaftes »Anzeigen wenigstens von alten Scherben«, so der
Licht gesetzt sieht (vgl. Br. III, 35) und seine Ehre ge- Verf. selbst, würden seine Briefe »leer zu achten seyn«
118 III Werke

(Br. III, 128) bzw. ihr Autor »mit leerer Hand [...] er- Briefen ihrerseits eine Form der Selbststilisierung ist,
scheinen« (Br. III, 70). Für die »Kürze meiner Briefe« scheint es nicht unangemessen zu sein, Teile der Kor-
entschuldigt er sich gelegentlich unter Verweis auf den respondenz als Briefgespräch zu betrachten, das an
»Mangel an Sachen« (Br. II, 91). gelehrte Traditionen anknüpft, aber nicht auf die Ge-
Der Archäologe war umgekehrt ein gefragter Brief- lehrsamkeit beschränkt bleibt, und in dem sich eine
partner, wenn es galt, Auskünfte aus römischen Biblio- neue Elite von Kennern formiert. Auch die Nachrich-
theken und Sammlungen zu erlangen. »Ich muß se- ten über Altertümer und eigene Arbeiten, mit denen
hen«, so schreibt der Theologe und Philologe Johann W. an Gelehrtenkorrespondenzen anschließt, tragen
August Ernesti an den Kunstexperten Christian Lud- wenigstens partiell dazu bei, den Briefwechsel als
wig von Hagedorn, »dass ich mit dem Herrn Winkel- Plattform freundschaftlicher Beziehungen unter Ge-
mann in Correspondenz komme, um von ihm zu pro- bildeten und Kunstkennern zu begründen, letztere
fitiren und ihm meine Zweifel &c. zu sagen« (Baden hingegen auf die Grundlage klassizistisch geschulter
1797, 160). Wenn der Göttinger Altphilologe Christian Geschmacksideen zu stellen.
Gottlob Heyne den »litterärisch[en]« (Heyne 1781)
Wert der W.-Briefe hervorhebt, zielt er vor allem auf
Freundschaftlichkeit
deren altertumskundlichen Sachgehalt. Als Teil spezi-
fisch gelehrter Traditionen dürfen die Buchhändler- Winckelmanns Freundschaftston
briefe gelten. Die umfangreiche Serie der Schreiben an Die traditionelle Brieflehre setzte voraus, dass ein
den Dresdner Verleger Georg Conrad Walther ist eine Briefschreiber je nach Anlass und Gelegenheit gehal-
werkgeschichtliche Quelle ersten Ranges. ten sei, unterschiedliche, nach Maßgabe des aptum
Gelehrter Briefverkehr erschöpfte sich jedoch nicht (der Angemessenheit) zu bewertende Attitüden ein-
im Informationstransfer, sondern war auch ein In- zunehmen, um sich beim Adressaten in ein günstiges
strument der Integration in den Gelehrtenstand und Licht zu setzen und seinen Zweck zu erreichen (Bei-
ein Modus der Selbstpräsentation. In ihre Autobiogra- spiel: Neukirch 1741, 1–124). Zu den nicht trenn-
phien nahmen Gelehrte gern ein »Register meiner scharf auseinanderzuhaltenden Attitüden, die W. in
Correspondenten, Lehrer und Freunde« auf (Reiske seinen Briefen annimmt, gehören die des Altertums-
1783, 103). Die Gelehrtenrolle ist schließlich diejenige spezialisten, der stets mit seiner archäologischen Mis-
Attitüde, die W. im Vergleich mit konkurrierenden sion befasst ist und Zugang zu archäologischen Nach-
Optionen, weit vor derjenigen urbaner Eleganz, am richten von hohem Neuigkeitswert besitzt (z. B. Br. III,
nächsten lag. 143–147 an Heyne), ebenso wie die des dienstfertigen,
Gleichwohl äußert sich W. über gelehrte Anfragen gleichzeitig im eigenen Interesse handelnden Gelehr-
nicht ohne Reserve: »Die Scriblerii unserer Nation su- ten im Umgang mit Standespersonen (vgl. z. B. Br. III,
chen Wege, mich mit Briefen zu bestürmen, auf die 262; 283 f. Münchhausen und Cobenzl). W. stand aber
der Teufel selbst kaum gedacht hätte« (Br. III, 167). nicht nur vor der Aufgabe, schon bestehende Muster
Die Kritik an epistolographischen Gewohnheiten der zu aktivieren, sondern auch vor derjenigen, sie neu zu
Gelehrten ist Teil der Gelehrtenkritik, die der Verf. gestalten. Als Beispiele seien im Folgenden Briefe in
auch sonst in seinen Briefen übt. Folgt man Herder, so den Mittelpunkt gestellt, in denen der Verfasser als
nimmt in ihr W.s »Haß gegen teutsche Metaphysik, Freund auftritt, und solche, in denen er die eigene Per-
barbarische Schultheologie, und die gewöhnlichen son demonstrativ vorweist.
sieben Magisterkünste« Gestalt an (Herder 1781, 194). Die zeitgenössische Ausbildung einer empfindsam
Mit der Kritik an der »Sündflucht von Register-Ge- getönten Freundschaftskultur fand in Briefen statt, in
lehrsamkeit« (Br. I, 316), am »unfruchtbaren Acker« denen die Autoren einander auf dem Boden natur-
(Br. I, 244) des Bücherwissens, am Universitätsort rechtlich bestimmter Geselligkeit zu begegnen schie-
Halle als Land »der Blinden« (Br. III, 117) und an der nen. Den »Menschen« ohne »Larve« zu sehen (Füssli
Figur des »Pedante« (Br. I, 455) schließt W. an Argu- 1778, 4) war ein Hauptinteresse, das sich mit der Lek-
mente an, wie sie im Aufklärungsjahrhundert immer türe freundschaftlicher Briefe verband. Erinnert sei an
wieder vorgetragen wurden (vgl. z. B. Grimm 1983, Gellerts vielgelesene Briefsteller, die gerade die Brief-
720–743). Die Gelehrtenkritik beschränkt sich ihrer- literatur zum Schauplatz am Natürlichkeitsideal ori-
seits nicht auf wissenschaftliche Verfahrensweisen, entierter Geschmacksbildung erklären (Gellert 1971).
sondern nimmt kulturkritische Züge an. Allerdings muss man im Auge behalten, dass, zumal
Obwohl die Abwehr von gelehrten Zumutungen in in einem an Schriftlichkeit gebundenen Medium, der
14 Das Briefwerk 119

Natürlichkeits- und Authentizitätsgestus reflektiert lanten Umgang damit zeugt der Protest gegen »den
und arrangiert ist. nach Alt Deutscher Art mit Sintemahl und Alldieweil
W. schließt an das empfindsame Register anderer ineinander gekettelten Schul-Chrien-Stil« (Br. II, 77 f.;
Zeitgenossen nicht unmittelbar an, sondern fügt der zur Chrie Vellusig 2000, 44–50). Auch die Idee der
epistolographischen Freundschaftlichkeit des 18. Jh. »heroischen Freundschaft«, die sich schon im vor-
eher eine eigene Note hinzu. Wenn W. zu ausführ- römischen Epistolarium findet (Br. I, 151), erst recht
licheren Freundschaftsbekundungen ansetzt, ge- und nicht ohne homoerotische Note in der Korrespon-
schieht dies in gehobenem, ja pathetischem Stil, der denz mit Reinhold von Berg (Br. II, 232–234), formu-
auch ein entsprechendes Publikum geradezu voraus- liert W. mit dem freilich kaum einlösbaren Anspruch
setzt, und mit einem Hang zum Sentenziösen. Die At- auf geradezu monumentale, weithin wahrnehmbare
titüde des »Menschen« und »Freunds« besaß einen Größe nach dem Muster von Helden der griechischen
nach außen gewendeten, an ein Publikum adressier- Mythologie. Emphatische Freundschaftsadressen in
ten, auf Exemplarität ausgerichteten Aspekt (Vellusig Briefen (Br. III, 63; 96 u. ö.) stehen freundschaftlichen
2000, 64–66). Doch zumal in W.s Briefwerk ist Dedikationen im hohen Ton nahe. Solche hat W. für
»Freundschaft« ein Konzept, das dazu taugt, Würde die Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Al-
und Größe des Briefschreibers eindrucksvoll in Szene terthums (an Muzell-Stosch; KS 247 f.) und für die
zu setzen. Argumente, mit denen W. die eigene Ach- »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des
tung vor allem im Verhältnis zu hohen Standesper- Schönen in der Kunst« (an Reinhold von Berg; KS 212)
sonen zur Geltung bringt, sind Würde, die »Freyheit«, verfasst.
die er in Rom genieße, das den suggestiv in Szene ge- Zuletzt formuliert W. in freundschaftlichen Korres-
setzten Hintergrund bildet, und der Patriotismus – pondenzen das eigene Selbstverständnis als gelehrter
der Stolz ȟber mein Vaterland, fruchtbar an Freun- Antikekenner und setzt seine Kunstprogrammatik in
den, und über den, den niemals mein Auge gesehen« freundschaftliche Geselligkeit um. Freundschafts-
(d. h. den fernen Adressaten; Br. I, 348). adressen schließen deshalb ein ähnliches Spannungs-
Im freundschaftlichen Kontext ist es zumal der verhältnis ein, wie es der Formel von der »edle[n] Ein-
Verzicht auf Titel und ständische Qualitäten, mit des- falt« und »stille[n] Größe« (Gedancken1, KS 35) ein-
sen Hilfe W. eine eigene Würde reklamiert: »ich bin geschrieben ist, das verdeckt im Programm der »Ruhe
nichts; ich rühme mich ein ehrlicher Mann und ein und Zufriedenheit« wiederkehrt: Ideale Freundschaft,
Freund zu seyn« (Br. I, 241). In derselben Weise stili- die als Inbegriff des naturrechtlich Allgemeinen nicht
siert der Verf. sogar Rom insgesamt, wo es geboten sei, auf äußeren Glanz ausgerichtet sein kann, wird unter
die »maschera di Cortigiano« (Br. II, 282) abzulegen, W.s Feder zum Exemplum gleichwohl monumentaler
»mit den Ton der Freyheit« zu sprechen (Br. III, 221) Größe.
und, nach dem Muster des Fürsten von Anhalt-Des-
sau, ohne Zeremoniell und Titel in die Gelehrtenstube Adressaten in der Schweiz
einzutreten (Br. III, 148, 155 f., 197). In seinem Briefwerk stellt W. Verbindungen zwischen
Die Briefe konstituieren so eine literarische Gesel- dem Autor und dem Adressaten her, doch die Briefe
ligkeit, in der an die Stelle konventioneller Formen die erreichten, wie wir gesehen haben, in gewissen Gren-
im erhabenen Stil formulierte Idee naturrechtlicher zen weitere Interessenten. Auch sie selbst geben dem
Gleichheit treten kann. Als Signalbegriffe dienen »Ru- Leser zu verstehen, dass der Verf. in manchen Fällen
he und Zufriedenheit« (Br. III, 160); »Kraut und Brod« an Gruppierungen – bezogen auf das Briefwerk ins-
verdienen den Vorzug vor der Küche des Kardinals gesamt: an Untergruppierungen dachte. Welche
Albani (Br. III, 275). Auf diesen Ton sind Briefe an Freundschaftscodes W. in unterschiedlichen Zusam-
Wilhelm von Muzell-Stosch gestimmt (vgl. z. B. Br. II, menhängen verwendet, sei exemplarisch mit Blick auf
16), ebenso solche an den Freiherrn Hermann von die Briefe an Schweizer Adressaten und auf freund-
Riedesel, der unter altertumskundlichen Vorzeichen schaftlich gestimmte Korrespondenzen nach Deutsch-
Süditalien und Griechenland bereiste. land betrachtet.
Gerade im Zusammenhang mit Freundschafts- Die Schweizer Korrespondenten bilden innerhalb
bekundungen bringt sich jedenfalls der Umstand zur des Briefkorpus eine relativ homogene Gruppe. Ein
Geltung, dass der Verf. über eine rhetorisch geprägte persönliches Zusammentreffen verdankte W. erst den
stilistische Schulung verfügte. Sowohl von dem rheto- Reisen von Leonhard Usteri (1759), Heinrich Füssli
rischen Grundlagenwissen als auch von dem noncha- (1763/64) und Paul Usteri sowie Christian von Me-
120 III Werke

chel (1766) nach Rom. Die Planungen für die Zumal den frühen Briefen an die Schweizer legt der
Deutschlandreise (s. u.) schlossen auch eine Route Verf. eine Programmatik zugrunde, die geeignet zu
über die Schweiz ein. Die gelegentlich geäußerte Idee, sein schien, die eigene archäologische Arbeit in eine
»in Zürich mein Leben zu beschließen« (Br. III, 53), freundschaftliche Geselligkeit mit den Korrespon-
ist aber vermutlich nicht ernst gemeint. – Man darf denzpartnern aus der Schweiz umzusetzen. Fast
damit rechnen, dass es für W. von Vorteil war, Kon- möchte es scheinen, als wäre der Briefverkehr, darin
takte in das literarische Zürich zu pflegen, um den ei- einer Akademie mit einer Anzahl an korrespondie-
genen Aktivitäten zu weiterer Bekanntheit zu verhel- renden Mitgliedern ähnlich, seinerseits in der Lage,
fen. Mit Gessner, der dem Archäologen den »Tod eine Art virtueller patriotisch-gelehrter Sozietät zu
Abels« übersandte, verhandelte W. vor allem über Pu- begründen.
blikationsfragen (z. B. Br. II, 161 f.; 208), die auch The-
ma von Briefen an andere Korrespondenten in der Freundschaftliche Korrespondenzen mit deutschen
Schweiz sind. Erinnert sei ferner an den Umstand, Adressaten
dass der Maler Heinrich Füssli, Sohn von Johann Eine vergleichbare republikanische Note trifft man in
Caspar, W.s Schriften ins Englische übersetzte (Justi keinem der freundschaftlichen Briefe an deutsche Ad-
III, 73). Ohnehin ist ein Nutzen-Aspekt gelehrten ressaten an. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren
und literarischen Freundschaftsverbindungen des ergriff W. die Gelegenheit, sich auch ihnen gegenüber
18. Jh. nicht fremd. Der freundschaftliche Ton stand als Patriot darzustellen; die Anlässe betreffen aber
in keinem Gegensatzverhältnis zur gelehrten Attitüde nunmehr Berliner oder auch Dessauer Angelegenhei-
(Barner 1991). ten – so 1765/66 in den Briefen, die seine gescheiterte
Doch die Briefe besitzen einen weiteren Aspekt: Berufung zum Kustos des königlichen Münzkabinetts
Der Ton, auf den W. schon in den ersten Schreiben die in Berlin (Br. III, 121; 124; 127 f. u. a.) und den Besuch
freundschaftliche Verbindung nach Zürich einstimmt, des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau in Rom reflek-
ist auf die »geliebten freyen Schweizer« (Br. III, 259) tieren. W. konnte offenbar damit rechnen, einen Ton
zugeschnitten, »wo neben der Freyheit die Vernunft, zu treffen, der zeitgenössische Briefleser ansprach,
die Mutter edler Geburten, auf einem erhabenen und wenn er bemerkt, es würden »sich nicht leicht [...] alle
stolzen Throne sitzet« (Br. II, 409). Der Verf. lässt gele- Umstände vereinigen, einen Deutschen in Rom zu bil-
gentlich das Motiv der Fürsten- und Tyrannenkritik den, und dieses kann mit allen Schätzen der Welt nicht
anklingen (Br. I, 399; II, 114, 273, 283; III, 9 f., 225) und bewirket [werden]« (Br. III, 158).
suggeriert seine Affinität zu den nichtmonarchischen Die hofkritische Attitüde setzt jetzt monarchische
Verhältnissen der Schweiz; an sie nähert er auch die oder fürstliche Verhältnisse voraus. Vor allem den re-
»Freyheit« an, die er in Rom genieße. W. zeigt sich in gierenden Fürsten von Anhalt-Dessau, der auf seiner
den Briefen an die Schweizer überdies gern als auf- Italienreise in Rom Station machte und sich von W. in
rechter Mann, der auch gegenüber Standespersonen die Altertümer der Stadt einführen ließ, stilisiert der
die eigene Würde zur Geltung bringt (Br. II, 152; 278). Archäologe in ähnlichen Wendungen, wie er sie zuvor
So gelingt es ihm, an die zeitgenössische Helvetien-To- schon mit Bezug auf den Kurprinzen Christian Fried-
pik anzuschließen. Die Idee von der »freien Schweiz« rich von Sachsen gebraucht hatte (Br. I, 287; III, 3; 21),
dürfte aber auch dem Selbstverständnis der Adressa- und in wiederholten Anläufen zum Repräsentanten
ten entsprochen haben, von denen sich ein Teil in den eines Deutschland, das sich, erneut auf freundschaftli-
Mitgliederlisten der patriotisch gesinnten »Helveti- cher und naturrechtlicher Grundlage, um die Bildung
schen Gesellschaft« wiederfindet (Capitani 1983, 124, an der antiken Kunst konstituiert und dem antiquari-
140, 225). schen »Lehrer« eine Zentralposition einräumt (Br. III,
Der republikanisch-patriotische Gestus stiftet 148; 155 f.; 197 u. ö.). Wiederkehrende Hinweise auf
gleichzeitig eine Verbindung zu kunsthistorischen den Fürsten lassen ihn wie den Anker einer ausgebrei-
Überlegungen. Den Gedanken eines Zusammenhan- teten Gruppierung erscheinen, die W. epistologra-
ges zwischen der »Freyheit« der Griechen, besonders phisch organisiert. Einen Versuch, Fürstenbilder zu
in Athen, und der Kunstblüte der klassischen Zeit baut entwickeln, die als Kristallisationskern freundschaftli-
W. zwar erst in der Geschichte der Kunst des Alter- cher Verbindungen dienen könnten, unternimmt W.
thums aus. Es steht aber zu vermuten, dass die Vorstel- in den Briefen an die Schweizer nicht. Gegenüber Mu-
lung von der griechischen »Freyheit« bereits zuvor zell-Stosch leistet er sich Bemerkungen über die
ausgebildet war. Schweiz, die in Briefen an die Schweizer unterbleiben:
14 Das Briefwerk 121

»In der Schweiz würden Sie wie in der Einöde mit Ver- Schreiben an den Göttinger Professor Christian Gott-
druß leben« (Br. II, 24). lob Heyne aus dem Jahr 1766 bezeichnet sich W. selbst
Vor allem in den Ankündigungen für die Reise nach als »Patrioten unter einem fremden Himmel« (Br. III,
Deutschland ab 1766 (vgl. z. B. Br. III, 171 f.) konkreti- 152). Rom, »wo die Quelle der Künste ist« (Br. I, 245),
sieren sich die freundschaftlichen Zusammenhänge. spielt in den Briefen eine Hauptrolle.
Der Briefschreiber plant die wiederholt aufgeschobene Ihre wohl spektakulärste Gestalt nimmt die Kon-
Reise lange, bevor er sie antritt, erwähnt häufig die zu frontation von deutschen und römischen Verhältnis-
Besuchenden – unter ihnen Muzell-Stosch, Francke, sen in Briefen an eine Reihe deutscher Korrespon-
Schlabrendorf, Franz von Anhalt-Dessau und der Erb- denzpartner an, mit denen der Verf. schon vor seiner
prinz von Braunschweig (vgl. Br. III, 191; 200; 257; 265; Übersiedlung nach Rom in Kontakt gestanden hatte –
377; 379), nimmt auch deren interne Vernetzung an vor allem an Freunde und Bekannte aus Stendal, Halle
(Br. III, 377), bespricht die Reiseroute entlang den und Nöthnitz; sie sind Schauplatz eines formidablen
Wohnorten der Adressaten (Br. III, 372) und trifft Vor- »self-fashioning«. Die wichtigsten Adressaten sind der
kehrungen für persönliche Begegnungen (Br. III, 382). Theologe Gottlob Burchard Genzmer und der Jurist
Soweit W. auch Adressaten in der Schweiz seinen Be- und Weimarische Beamte Hieronymus Dietrich Be-
such ankündigt, bleiben Details der genannten Pla- rendis; daneben kommen Briefe an den Mediziner
nungen unerwähnt (vgl. Br. III, 202; 380). Konrad Friedrich Uden, den Grafen Heinrich von Bü-
Eigentlicher Ort der Verbindungen ist allerdings nau und den Bibliothekar Johann Michael Francke in
die Epistolographie selbst. Die Briefe, sei es an die Betracht. Auch der berühmte Brief über »das Leben
Schweizer, sei es an deutsche Korrespondenten, sind und die Wunder Johann Winckelmanns« (Br. II, 276)
ein Schauplatz freundschaftlicher Zusammenschlüs- an den Musikgelehrten Friedrich Wilhelm Marpurg
se, die mit Blick auf die Idee eines an der Kunst orien- zählt dazu. Obwohl die Briefe nicht zur Veröffent-
tierten Patriotismus keinen Ort der Realisierung in lichung bestimmt waren – die Epistel an Marpurg
der empirischen Wirklichkeit gefunden hätten und wurde trotzdem ohne W.s Einverständnis bereits 1763
deren Status prekär war. Im Brief bringt W. Konstella- publiziert – , können sie den Charakter von »Send-
tionen hervor, die außerhalb dieses Mediums nicht schreiben« annehmen (Rehm, in: Br. I, 17). Dem Stoff
vorhanden waren. Ähnliches mag schließlich auch für ist es angemessen, von einer Tonlage zu sprechen, zu
Schreiben gelten, die W. an den Maler Raphael Mengs der W. in bestimmten Briefen oder Teilen daraus
adressierte, ebenso für die wenigen, aber gewichtigen greift, ohne den Rahmen der Gelehrtenkorrespon-
Briefe, die aus seiner Korrespondenz mit Reinhold denz zu verlassen. Auf jeden Fall besteht Anlass, die
von Berg überliefert sind. Gestalt, die W.s Verwaltung des eigenen Ruhms in die-
Dem Anspruch nach ist die Botschaft des freund- sen Briefen annimmt, eingehender zu betrachten.
schaftlichen Brieftons mit ihrem utopischen Über- Die eigene Person in Briefen zu präsentieren, ist
schuss eine öffentliche Angelegenheit; doch gleichzei- keine Kunst, die erst seit W.s Zeit bekannt gewesen
tig ist er dazu bestimmt, auf die überschaubare Grup- wäre. Hingegen muss für W. gelten, dass er, in man-
pe der Kenner und Wissenden beschränkt zu bleiben. chen Briefen mehr als in anderen, bei der epistologra-
Ob die Einsicht in diesen Umstand zu W.s Entschei- phischen Inszenierung der eigenen Person geltende
dung beitrug, seine Deutschlandreise abzubrechen Grenzen überschreitet und die überkommene Rollen-
und nach Italien zurückzukehren, muss Gegenstand rhetorik hinter sich lässt. Die Briefe inszenieren gera-
der Spekulation bleiben. dezu ein Spiel mit konventionell gesetzten Normen.
Die Beziehungen, in denen W. zu dem oben genann-
ten Personenkreis stand, sind eher privaten Zu-
Selbstdarstellungen
schnitts; gleichwohl setzt sich der Verf. in seinen
Überblick Schreiben repräsentativ und öffentlichkeitszugewandt
Ein besonderes Maß an Anziehungskraft bezogen und in Szene, wobei er dem Effekt, den er bei den Adressa-
beziehen die W.-Briefe aus der Schreibsituation des in ten erzielen möchte, in mancher Hinsicht den Wahr-
Rom weilenden Verf. »Ohne Zweifel«, so ein früher heitsgehalt der Briefe opfert (Osterkamp 1988). W.s
Rezensent, »haben Briefe eines deutschen Gelehrten, Selbstdarstellungen beschreiben nicht unbedingt zu-
während eines vieljährigen Aufenthalts in Italien ge- treffend die Lebenssituation des Verf. in Rom; sie ent-
schriebene Briefe, einigen Anspruch auf ihre [der Le- halten stattdessen Selbstentwürfe oder Selbstdeutun-
ser] Aufmerksamkeit« ([Anon.] 1778, 96). In einem
122 III Werke

gen und geben Auskunft über Herausforderungen, wo es galt, offene Konflikte zu umgehen und Konkur-
mit denen sich der Briefschreiber konfrontiert sah. renzen unter dem Mantel von Klugheit und Höflich-
In Briefen an in Deutschland verbliebene Adressa- keit verdeckt auszutragen. Auch in Hinblick auf die
ten, in denen sich W. mit dem Gestus des in Rom zu Polemik schließt W. stattdessen an gelehrte Usancen
Ehren gelangten Antikekenners zeigt, verbergen sich an. Die Geschichte der Gelehrsamkeit kennt eine Be-
Kulturentwürfe, die kontrastiv auf die deutschen Ver- schimpfungstradition – auch wenn der persönliche
hältnisse bezogen sind. Für solche geben aus der Sicht Angriff auf Kollegen niemals allgemeine Zustimmung
des Briefschreibers die Adressaten offenbar ein beson- fand und, zumal im Zeichen der »galanten Conduite«,
ders gut geeignetes Publikum ab; denn sie scheinen zu selbst Sujet gelehrter Untersuchungen war. Autoren
repräsentieren, was er kritisiert, und bilden umge- des 18. Jh. pflegen zur Polemik eine zwiespältige Be-
kehrt die Kontrastfolie für die römische Situation, wie ziehung: Der affektische, auf eine Person oder eine
W. sie in seinen Briefen darstellt. Gleichzeitig begeg- Nation und ihre Eigenarten zielende Ton will sich
net der Autor in den Briefen an Berendis, Genzmer nicht ohne weiteres dem Dienst am Allgemeininteres-
und weitere Adressaten der eigenen Vorgeschichte. se unterordnen und gerät daher rasch in Widerspruch
Wenn W. von Rom aus den Briefempfängern in zum Universalitätsanspruch der Aufklärung (Dissel-
Deutschland ein Kontrastbild zeigt, nutzt er seine ex- kamp 1993, 330–336), mit der sie gleichzeitig eine Af-
territoriale Position nicht allein, um das Wissens- finität zu verbinden scheint.
monopol des Romkundigen zur Geltung zu bringen; W.s polemische Äußerungen richten sich gegen ge-
vielmehr schließt er an eine spannungsreiche Konstel- lehrte Konkurrenten, allerdings nicht weniger gegen
lation an, deren Erkenntnisträchtigkeit Autoren der die Formation der traditionellen Gelehrsamkeit über-
Aufklärung wiederholt erprobt hatten: In ihr wird das haupt. Den polemischen Ton setzt der Verf. als Instru-
mängelbehaftete Eigene – hier: Preußen und Sachsen ment ein, um den eigenen archäologischen Anspruch
– mit dem als normativ verstandenen Fremden kon- auf Dominanz gegen Konkurrenten zur Geltung zu
frontiert (Disselkamp 2004). bringen. Es gilt, dem »Geschrey« der Widersacher
Biefe an ehemalige Kommilitonen ohne Vorbehalt entgegenzutreten und ihnen »das Maul zu stopfen«
als freundschaftlich zu bewerten käme einer Verharm- (Br. I, 301). Bis zu einem gewissen Grad ist die pole-
losung gleich. Statt »patriotisch« das Gemeinsame und mische Vernichtung eine Strategie, zu der W. greift,
Überbrückende hervorzuheben, betonen sie die Dis- um sich in der gelehrten Welt durchzusetzen (Oster-
tanz und das Unterscheidende – etwa das Erlöschen kamp 1996). Sie gehört insofern zu den Mitteln, die
der ehemaligen Liebe zu Sachsen (Br. III, 113). dem Archäologen zu Gebote stehen, um in der durch
Briefe erreichbaren Öffentlichkeit den eigenen Ruf zu
Polemik vermehren. Schon Zeitgenossen nehmen allerdings
Es hat W. nicht nur Sympathie eingetragen, dass er im W.s heftigen Ton als bedenklich wahr und bezweifeln
Briefwerk als Polemiker in Erscheinung tritt (Butler seine Zweckmäßigkeit (vgl. z. B. Br. IV, 131 f.). Man-
1948, 74); traditionell wird dieser Umstand zu den che von den »freymüthige[n]« bzw. »zu scharfe[n]
»Schattenseiten seines Charakters« (Rehm, in: Br. I, 9) und bittere[n]« Bemerkungen (Dassdorf 1777, Vor-
gerechnet. Dass der polemische Ton zur Faszinations- bericht, unpaginiert) wurden in den frühen Briefaus-
kraft beiträgt, die von den Briefen ausgeht, dürften al- gaben von den Herausgebern getilgt (Rehm in Br. I,
lerdings selbst seine Kritiker eingestehen. Nicht zu- 464 f.). Der Verf. selbst sah sich veranlasst, ab 1766 auf
letzt in den Briefen an manche seiner deutschen Ad- allzu scharfe franzosenkritische Formulierungen zu
ressaten will der Archäologe den »Antichambre-Stil« verzichten (vgl. Br. III, 485). Die Frage, ob Polemik ein
hinter sich lassen, um mit »Freiheit und Heftigkeit« zweckdienliches Mittel der »Karriereplanung« war
(Br. I, 90 f.) zu richten und »die Charlatanerie unserer (Osterkamp 1996), nicht weniger das Zusammenspiel
Zeit zu entlarven« (Br. II, 94), oder er rühmt sich doch, zwischen affektischer Sprache, dem Wahrheits-
anderen eine »sollenne pettinatura senza sapone« ver- anspruch des Aufklärers und dem klassizistischen
abreicht (ihnen gehörig den Kopf ohne Seife ge- Ideal der »stillen Größe« bedürfen weiterer Klärung.
waschen) oder sie als »Tropf« und »Esel« abgefertigt Die Briefe an Berendis, Genzmer, Uden und andere
zu haben (Br. I, 329). Dafür gaben Briefe einen geeig- wenden sich an Adressaten, die nicht in altertums-
neteren Schauplatz ab als veröffentlichte Schriften, in kundliche Debatten ihrer Zeit verwickelt waren. Selbst
denen der polemische Ton allerdings auch nicht fehlt. wenn sich der Verf. in diesen Briefen in der Rolle eines
Traditionell war Polemik nicht am Hof beheimatet, Vorreiters zeigt, der »denenjenigen die Rom nach mir
14 Das Briefwerk 123

sehen werden die Augen ein wenig« öffnet (Br. I, 235), Rom« (Br. I, 266). Bereits mit diesem Ton verletzen die
erscheint der polemische Ton hier in einem anderen Briefe Umgangsstandards und literarische Normen,
Kontext als dem der Besetzung eines Forschungsfelds. die, etwa mit Blick auf die Lizenzen der Satire, als all-
Im Fall der auf Selbstdarstellung angelegten Briefe gemein akzeptiert galten. Kernpunkte der Kritik bil-
trifft die Polemik auch die Adressaten oder doch ihre den der Pedantismus der Gelehrten unter Einschluss
Welt – etwa den »Propst Genzmar aus dem Schwein- von »Professor- und [...] Magister-Neid« (Br. III, 168),
Lande« und Johann Gottlieb Paalzow »zu Sauhausen« ferner die Kulturdominanz der Franzosen in Deutsch-
(Br. III,113) – und greift z. B. die Nachahmung der land, die in Rom »lächerlich als eine Elende Nation«
Franzosen an. Wenn der Verf. feststellt, die Neueren sind (Br. I, 267) und das Fehlen einer Kulturmetropole
seien »Esel gegen die Alten«, Bernini hingegen »der von römischen Dimensionen.
größte Esel unter den Neuern die Franzosen aus- Als Gegenbild baut W. Rom selbst auf, das er den
genommen« (Br. I, 235), zielt er zugleich auf den Ad- Adressaten in repräsentativer, an das Auge bzw. an das
ressaten Berendis, den er »mit der französischen Seu- bildliche Vorstellungsvermögen gerichteter Eindrück-
che ein wenig angesteckt« sieht (Br. I, 267). Gelegent- lichkeit vorführt. Dabei zieht er Nutzen aus seiner Nä-
lich greifen die Briefe auf Nationalstereotypen zurück he zu verschiedenen Kardinälen, vor allem zu Ales-
(Nachricht von Realis de Vienna 2005, XXI–XXXIV), sandro Albani, in dessen Haushalt er 1759 aufgenom-
mit deren Vorgeschichte W. in Kontakt gekommen men worden war und in dessen Stadtpalast ihm
sein dürfte. Wohnräume zur Verfügung standen. Der Archäologe
Was der Verf. in den Briefen an die deutschen Ad- wertet auch den sommerlichen Landaufenthalt zum
ressaten in Szene setzt, ist nicht allein das Werk, son- eigenen Vorteil aus, die Villeggiatura, die in der war-
dern ebenso die eigene Person. In Wucht und Trag- men Jahreszeit die Adelsgesellschaft in das römische
weite erschließen sich die Briefe erst, wenn man sie als Umland führte.
Antwort auf biographische Traumatisierungen, vor al- In den Selbstdarstellungen dominiert weniger der
lem jedoch auf kulturelle Asymmetrien ernst nimmt, Gegenstands- als der Adressatenbezug: Im freizügigen
wie W. sie wahrnahm. Polemik ist geradezu Teil des Umgang mit Wirklichkeitselementen entwirft der Ar-
Rom-Bilds, das der Verf. den deutschen Adressen vor- chäologe ein Bild seiner römischen Existenz, das in-
hält: Ihm zufolge dokumentiert die ungezügelte Rede tentional der Welt der deutschen Adressaten ent-
das größere Maß an »Freyheit«, das in Rom herrsche; gegengesetzt ist. In mancher Hinsicht bildet es darü-
sie steht darüber hinaus für das selbstbewusstere Auf- ber hinaus ein Alternativkonzept zu den freundschaft-
treten ein, das W. sich im Umgang mit hohen kirchli- lichen Briefen. Während, psychologisch gesehen, die
chen Würdenträgern angeeignet habe (Br. III, 39). So Briefe in erster Linie kompensatorische Funktionen
betrachtet geben sich die Briefe als Dokumente eines übernommen haben mögen, werfen sie doch gleich-
Kulturkonflikts zu erkennen. Der polemische Ton zeitig ein kritisches Licht auf das zeitgenössische
stellt sich als Teil eines literarischen Ensembles dar, in Deutschland. Dass W.s Berichte aus Rom nicht um-
dem der Verf. epistolographisch die Auseinanderset- standslos als erfahrungsnahe Beschreibungen des
zung mit den eigenen kulturellen Ausgangspunkten Sachverhalts verstanden werden durften, war zeitge-
aufnimmt. nössischen Lesern klar. Schon 1766 äußert sich Chris-
tian Felix Weisse über W.s »Aufschneidereyen, wie viel
Rom und Deutschland Ehre er im Umgange der Cardinäle genöß« (Br. IV,
Programmatisch stehen die in polemischer Zuspit- 136). Goethe bemerkt, dass sich hinter dem legeren
zung, als Kulturmisere, dargestellten deutschen Ver- Umgang mit hohen Kirchenfürsten »doch das orien-
hältnisse, wie W. sie kennengelernt hatte, im Mittel- talische Verhältnis des Herrn zum Knechte verbirgt«
punkt der Briefe an die in Deutschland Zurückgeblie- (Goethe, Werke XII, 124). Doch schon im 18. Jh. än-
benen. Soweit die Briefe auf deutsche Verhältnisse Be- derten solche Vorbehalte nichts an der Faszination,
zug nehmen, führen sie keine konstruktive Kritik im die von den W.-Briefen ausging.
Schilde, sondern folgen eher einer Annihilierungs- Da W. in der Rolle des Selbstdarstellers Wert auf die
strategie. Die Welt der Adressaten, die »unter den anschauliche Präsentation der eigenen Person legt,
Vandalen« hausen müssen (Br. III, 169), erscheint im dominieren das Anekdotische und Szenische im Ver-
Licht des Nichtigen – eine Bewertung, die W. auch in ein mit Details wie Essen, Schwimmenlernen, Betra-
anderen Briefen bei Gelegenheit anklingen lässt. »Al- gen gegenüber dem Adel und anderen Gelehrten. Der
les«, so schreibt der Verf. schon 1757, »ist nichts gegen in Deutschland wenig angesehene Gelehrte präsen-
124 III Werke

tiert sich als Mittelpunkt der hohen römischen Gesell- Gellert, Christian Fürchtegott: Die epistolographischen
schaft; seine Erzählungen zeugen »von der Achtung Schriften. Faksimiledruck mit einem Nachw. von Ni-
der Gelehrten in diesem Lande« (Br. I, 329). Während ckisch. Reinhard M. G. Stuttgart 1971.
Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg.
sich der Archäologe sonst in der »Livrea d’Antiqua- von Erich Trunz. 14 Bde. München 121981.
rio« (Br. II, 282) der Betrachtung und Erforschung sei- Goethe, Johann Wolfgang (Hg.): Winckelmann und sein
nes Gegenstands hinzugeben und allenfalls in seinen Jahrhundert. Tübingen 1805.
Schriften Gelegenheit hat, in Erscheinung zu treten, Herder, Johann Gottfried: Winkelmann, Leßing, Sulzer. In:
lässt er sich nunmehr in prächtigen Kleidern sehen Der Teutsche Merkur. Herbstmond 1781, 193–210.
Heyne, Christian Gottlob: Rez. von: Winkelmanns Briefe an
(Br. I, 329; III, 170) und ordnet die römische Palast-
einen seiner vertrautesten Freunde [...]. In: Göttingische
und Villenarchitektur um sich selbst an. Die Briefe an Anzeigen von gelehrten Sachen. 83. Stück, 9. Jul. 1781, 659.
die deutschen Adressaten sind schließlich ein Ort, an Lippert, Philipp Daniel: Dactyliothec. Das ist Sammlung
dem W. gelegentlich seine homoerotische Veranla- geschnittener Steine der Alten aus denen vornehmsten
gung offensiv vorweist und ihr, wenigstens in literari- Museis in Europa zum Nutzen der schönen Künste und
scher Form, sichtbar nachgeht (Br. I, 290; III, 170). Künstler in zwey Tausend Abdrücken. 2 Bde. [Leipzig]
1767.
Man mag auch an dieser Stelle daran denken, dass W.s Nachricht von Realis de Vienna Prüfung des Europischen
Studienort Halle, wo er einige seiner Korrespondenz- Verstandes durch di Weltweise Geschicht. Hg. von Martin
partner kennengelernt hatte, durch pietistische Tradi- Disselkamp. Heidelberg 2005.
tionen mitgeprägt war (vgl. z. B. Justi I, 69–71); zumal Neukirch, Benjamin: Anweisung zu Teutschen Briefen.
der Theologe Genzmer dürfte W.s epistolographische Nürnberg 1741.
Reiske, Johann Jakob: Von ihm selbst aufgesetzte Lebens-
Libertinage als Affront wahrgenommen haben.
beschreibung. Leipzig 1783.
So gestaltet der Verf. die Briefe zu einem Schauplatz Winckelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz. Zü-
aus, auf dem er sich, die eigene sinnliche Existenz ein- rich 1778.
geschlossen, in einer gewissermaßen anschaulich Winckelmanns Briefe an seine Freunde. Hg. von Karl Wil-
sichtbaren Fasson zeigen kann, wie sie Goethes »Wil- helm Dassdorf. 2 Bde. Dresden 1777, 1780.
helm Meister« zufolge dem Adel vorbehalten ist, den J. Winckelmanns Briefe an einen seiner vertrautesten Freun-
de [Muzell-Stosch] in den Jahren 1756 bis 1768. 2 Bde.
Bürgern jedoch versagt bleibt (Goethe, Werke VII,
Berlin 1781.
289–293). Der Archäologe, dessen Forschungsgegen- Winckelmann, Johann Joachim: Lettere. A cura di Maria
stand die antike Kunst ist, wendet in den Briefen die Fancelli e Joselita Raspi Serra. 3 Bde. Rom 2016.
eigene Gelehrtenexistenz anschaubar nach außen.
Auch in den Schreiben an die in Deutschland verblie- Forschung
benen Adressaten meldet sich W. in der Absicht öf- Ammermann, Monika: Gelehrten-Briefe des 17. und frühen
fentlichen Erscheinens zu Wort; doch bleibt es ihm 18. Jahrhunderts. In: Fabian, Bernhard/Raabe, Paul (Hg.):
Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart.
versagt, diesen Anspruch anders als in Briefen, zudem
Wiesbaden 1983, 81–96.
an eine Anzahl zum größeren Teil wenig prominenter Baasner, Rainer: Stimme oder Schrift? Materialität und Me-
Adressaten, zum Ausdruck zu bringen. dialität des Briefs. In: Schöttker, Detlev (Hg.): Adressat:
Im Verein mit den Freundschaftsbriefen, deren Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München 2008,
Metier nicht selten die ländliche Einfalt ist, bilden die 53–69.
Briefe an die deutschen Adressaten, in denen sich W. Barner, Wilfried: Gelehrte Freundschaft im 18. Jahrhundert.
Zu ihren traditionalen Voraussetzungen. In: Mauser,
römische Magnifizenz zu eigen macht, ein Ensemble,
Wolfram/Becker-Cantarino, Barbara (Hg.): Frauen-
in dem sich Wunschbilder eines Literaten der Jahr- freundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse
hundertmitte ebenso spannungsreich wie erhellend im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991, 23–45.
zum Ausdruck bringen. Brockmeyer, Rainer: Geschichte des deutschen Briefes von
Gottsched bis zum Sturm und Drang. Münster, Univ.,
Quellen Diss. 1961.
[Anon.] Rez. von Winckelmanns Briefe an seine Freunde Butler, Eliza Marian: Deutsche im Banne Griechenlands.
[...], Dreßden 1777. In: Neue Bibliothek der schönen Wis- Berlin 1948.
senschaften und der freyen Künste. Einundzwanzigsten Capitani, François de: Die Gesellschaft im Wandel. Mitglie-
Bandes Erstes Stück. Leipzig 1778, 95–104. der und Gäste der helvetischen Gesellschaft. Frauenfeld/
Baden, Torkel (Hg.): Briefe über die Kunst, von und an Stuttgart 1983.
Christian Ludwig von Hagedorn. Leipzig 1797. Disselkamp, Martin: Die Stadt der Gelehrten. Studien zu
Fuessli, Johann Caspar: Geschichte von Winckelmanns Brie- Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom. Tübin-
fen an seine Freunde in der Schweiz. Zürich 1778. gen 1993.
14 Das Briefwerk 125

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Schöttker, Detlev: Einführung: Briefkultur und Ruhmbil-
126 III Werke

15 »Gedancken über die Nach- von einen Bekannten dazu aufgefordert worden sei,
ahmung der Griechischen Werke die Monatsschrift eines kleinen Buchhändlers durch
einen Beitrag aus seiner Feder zu unterstützen (Br. I,
in der Mahlerey und Bildhauer- 170–172, 175–177; vgl. ebd., 199; Justi 1956, 439–499;
Kunst« und zugehörige Schriften Stoll 1960, 14–19; Heres 1991, 106–121). W., der sich
in Dresden auf eine ihm in Aussicht gestellte Reise
W.s erste publizierte Schrift Gedancken über die Nach- nach Italien vorbereitete, nahm die Gelegenheit wahr,
ahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und hatte sich doch kurz zuvor das von ihm seit Anfang
Bildhauer-Kunst von 1755 gilt als »Gründungsurkun- des Jahrs verfolgte Projekt einer »Historischen Vor-
de« einer mit der Mitte des 18. Jahrhunderts einset- lesung vor einer gewißen Gesellschaft« zerschlagen
zende »neuen gräkomanischen Bewegung« (Barner (Br. I, 167; Vortrag Geschichte, SN IX,1, 19–26). Im
1991, 123; vgl. Uhlig 1988; Pfotenhauer 2006; Forss- Verlauf der Arbeit an dem gewünschten Text sollte er
man 2010). Ihre Entstehung umfasst einen Zeitraum sich jedoch veranlasst sehen, diesen gründlich um-
von nur knapp zwei Monaten. Diese schnelle Fertig- zudisponieren: Auf Anraten seiner Protektoren bei
stellung ist ohne die umfangreichen Exzerpte zur eu- Hofe, allen voran seines Beichtvaters Leo Rauch,
ropäischen Kunsttheorie nicht denkbar, die W. wäh- schrieb W. den ursprünglichen Zeitschriftenbeitrag
rend seiner Zeit in Nöthnitz (1748–1754) und noch- um, kürzte und ergänzte ihn und ließ den Text mit
mals intensiviert seit seiner Ankunft in Dresden seit dem Ziel, ihn »jemand[em]« zu widmen, »der künftig
Oktober 1754 angelegt hatte (vgl. Br. I, 172, 180; Heres [s]ein Glück machen könnte« (Br. I, 176), schließlich
1991, 101–104; Décultot 2004, 55–61). Wichtige An- als separate Abhandlung auf eigene Kosten drucken.
regungen dürfte W. darüber hinaus aus seinem Zeugnis dieser Überarbeitungen ist ein Manuskript
Dresdner Freundeskreis erhalten haben, zu dem ne- der Gedancken, das sich seit 1851 im Besitz der Russi-
ben dem Maler Adam Friedrich Oeser der Galeriein- schen Nationalbibliothek in St. Petersburg befindet
spektor Christian Wilhelm Dietrich, der Diplomat, und zwei ältere Textfassungen dokumentiert, in denen
Kunstsammler und -schriftsteller Christian Ludwig u. a. die später so berühmte Laokoon-Beschreibung
von Hagedorn sowie der Gemmenspezialist Philipp der Druckfassung der Gedancken sowie die Ausfüh-
Daniel Lippert gehörten. Quellen für W.s Kenntnisse rungen zu den technischen Verfahren der antiken
antiker Denkmäler, Münzen und Gemmen waren Bildhauer und zur Allegorie noch fehlen. Erstmals pu-
Stichwerke wie Bernard de Montfaucons L ’Antiquité bliziert 1992 in Moskau, liegt dieses Manuskript seit
expliquée et représentée en figures (1719–1724) oder, 2016 in einer vollständig neu transkribierten und
im besonderen Fall der Dresdner Antikensammlung, kommentierten Neuedition vor, die im Rahmen von
Raymond Leplats Recueil des marbres antiques que se SN IX,1, 31–46 veröffentlicht wurde (zu Herkunft, Da-
trouvent dans la Galerie du Roy de Pologne a Dresden tierung und den beiden rekonstruierbaren Textfas-
(1733). In den Hintergrund tritt demgegenüber die sungen des Manuskripts, von denen sich die erste
Autopsie antiker Kunstwerke, von denen er in Dres- wohl mit dem ursprünglich geplanten Zeitschriften-
den nur einige Gipsabgüsse und noch weniger Origi- beitrag in Verbindung bringen lässt, siehe ebd., XV–
nale gesehen hat, da diese zum damaligen Zeitpunkt XXIII). In denselben Kontext gehört ein Entwurf
schlecht zugänglich in vier Pavillons zur Seite des Pa- W.s zur Laokoon-Beschreibung, der die entsprechen-
lais im Großen Garten untergebracht waren (Br. I, de Stelle in der Druckfassung der Gedancken vorberei-
159–160, 172; Sendschreiben, SN II,1, 78–79, Z. 2–4; tet und sich heute im Besitz der Bibliotheca Bodme-
Abhandlung, KS 224; Heres 1991, 104–105, 113). Bei- riana, Cologny/Genf befindet (SN IX,1, 47–50; dazu
spiele »Griechische[r] Wercke«, die so prominent im Schmälzle 2006).
Titel der Schrift erscheinen, hatte er zum damaligen
Zeitpunkt noch nicht zu Augen bekommen.
Erste Auflage
Gedruckt wurde das abgeschlossene Manuskript von
Entstehung und Textüberlieferung
dem Dresdner Christian Heinrich Hagenmüller, der
Es sei »in der Woche vor Ostern«, d. h. Ende März zwei Jahre zuvor bereits den ersten Band von Carl
1755, gewesen, so ließ W. seine beiden Freunde Kon- Heinrich Heineckens opulenten Recueil d’Estampes
rad Friedrich Uden und Hieronymus Dietrich Beren- d’après les plus célèbres Tableaux de la Galerie Royale de
dis kurz nach Erscheinen der Gedancken wissen, als er Dresde verlegt hatte (Stoll 1960, 17–18; Heres 1991,

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_15, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
15 Gedancken über die Nachahmung 127

107). Der Umfang beträgt vierzig Seiten in fast qua- memnon sein von tiefster Trauer gezeichnetes Gesicht
dratischem Großquartoformat, das später als sog. W.- verhüllt – seit Cicero (Orator 22,74) ein topisches Bei-
Format bekannt werden sollte. Die drei das Titelblatt, spiel für das Prinzip der Schicklichkeit und die sich
die Widmung und den Schluss zierenden Radierun- daraus ergebende Notwendigkeit, die Darstellung hef-
gen wurden von Adam Friedrich Oeser beigesteuert tigster Leidenschaften zu vermeiden. In der linken
(Br. I, 172), bei dem W. während seiner Dresdner Zeit Hand hält Timanthes eine Schriftrolle, die mit den
wohnte und auf den zahlreiche die Kunstpraxis betref- Worten »EΥPΙΠΙΔΗC [ΠΡΟΣΘΕΝ] ΟΜΜΑΤΩΝ
fende Überlegungen wie etwa die sogenannte ›Was- ΠΕΠΛΟΝ ΠΡΟΘΕΙC« (»Euripides [prosthen] omma-
serkasten-Methode‹ (Gedancken1, SN IX,1, 71–73) ton peplon protheis«; »Euripides Die Augen mit dem
oder die besondere Vorliebe für die Figuren der drei Mantel deckend«; vgl. Euripides, Iphigenia in Aulis,
Herkulanerinnen zurückgehen dürften (Dürr 1879, V.1550) auf die literarische Vorlage seiner Bildidee
51–61; Kunze 1977; Heres 1991, 115–116; Pfotenhau- verweist; zwei weitere auf dem Boden liegende Schrift-
er/Bernauer/Miller 1995, 348–349; vgl. Erläuterung, rollen erinnern an die beiden verschollenen Iphige-
SN IX,1, 153; Br. IV, 205). nie-Dramen des Sophokles und des Aischylos. Unter
Als programmatisch für die Schrift kann dabei v. a. die kompositionell eher barock denn klassizistisch an-
die Titelvignette gelten, die den griechischen Maler mutende Titelvignette, die von W. schlicht als »die
Timanthes bei der Arbeit an seinem die Opferung der Nachahmung« bezeichnet wurde (Br. I, 177), sind als
Iphigenie darstellenden Gemälde zeigt (Abb. 15.1; vgl. Motto zwei Verse aus Horaz’ De arte poetica gesetzt:
Plinius, Naturalis historia 35,73–74; vgl. Marosi 1978; »Vos exemplaria Graeca / Nocturna versate manu,
Fullenwider 1989; Montagu 1994; Pfotenhauer/Ber- versate diurna« (V. 268–269; dt.: »Die griechischen
nauer/Miller 1995, 371–374; Dilly 2000; Bungarten Muster / nehmt zur Hand bei Nacht und bei Tag«), mit
2005, II, 114–118). denen W. die zeitgenössischen Künstler auf die Nach-
Zu sehen ist der Moment, in dem der vor der Lein- ahmung der in jeder Hinsicht vorbildlichen Griechen
wand auf einem Stein sitzende Timanthes gerade an verpflichtet.
dem Tuch arbeitet, mit dem Iphigenies Vater Aga- Ganz im Sinne der damals gültigen Bescheiden-
heitstopik zeigt die der Widmung an August III. vo-
rangesetzte zweite Vignette laut W. den »Perser Sine-
tas, der seinen [sic] König, welcher vor seiner Hütte
vorbeyzog, ein Handvoll Waßer brachte, weil er sonst
nichts hatte. Niemand aber durfte wie bekannt ist, vor
den Augen der Persischen Könige mit leerer Hand er-
scheinen.« (Br. I, 172; vgl. Abb. 15.2) Über den Bild-
bereich des Wassers gelingt es W. und Oeser hier, den
Gedanken der Einfachheit und Reinheit (vgl. Gedan-
cken1, SN IX,1, 56) mit der Figur des Autors zu verbin-
den. Die ans Ende der Schrift gesetzte Vignette
schließlich zeigt Sokrates als Bildhauer bei der Arbeit
an der Figurengruppe dreier Grazien, wobei er sich
des bereits erwähnten, von W. in den Gedancken über
die Nachahmung erläuterten Wasserkastens als Hilfs-
mittel bedient (Abb. 15.3; Br. I, 172).
Bereits am Pfingstsonntag, der in jenem Jahr auf
den 18. Mai fiel, wurden die Gedancken über die Nach-
ahmung dem sächsisch-polnischen König August III.
im Namen seines »allerunterthänigst gehorsamste[n]
Knecht[es], Winckelmann« (Gedancken1, SN IX,1, 5)
überreicht. Unmittelbares Resultat dieses Schach-
zuges war eine Pension in Höhe von jährlich 200
Reichstalern, die der Hof zur Unterstützung des zu-
Abb. 15.1 Titelblatt der ›Gedancken über nächst auf zwei Jahre geplanten Italienaufenthalts W.s
die Nachahmung‹, 1755. bereitstellte, verbunden mit der Aussicht auf eine an-
128 III Werke

Abb. 15.2 Widmungsvignette ›Gedancken über Abb. 15.3 Schlussvignette ›Gedancken über
die Nachahmung‹. die Nachahmung‹.

schließende Verwendung in Dresden (Br. I, 177; ebd., dass der Text abgeschrieben wurde und somit auch in
178–179). Auch wenn die Pension offiziell durch Au- handschriftlicher Form zirkulierte (Br. I, 173).
gust III. vergeben wurde, so dürfte ihre Bewilligung
letztlich durch den weitaus stärker an der Kunst der
Form und Stil
Antike interessierten Kronprinzen Friedrich Chris-
tian veranlasst worden sein (Schlechte 1992, 44–45). Eigener Aussage nach fanden die Gedancken bei ihrem
W. zufolge wurden von der Schrift »nicht viel über Erscheinen einen »unglaublichen«, von ihrem Verfas-
50 Exemplare« bzw. »etliche 60 Stück« gedruckt, die er ser so nicht erwarteten »Beyfall«, der sich nicht zuletzt
z. T. an Gönner verschickte, aber auch in Dresden ver- in den ihm zu Ohren kommenden Plänen manifestier-
teilte (Br. I, 177, 199; Heres 1991, 108). Anders als bis- te, die Schrift ins Italienische bzw. Französische zu
lang von der Forschung angenommen, hat sich von übersetzen (Br. I, 171, 173, 176). Tatsächlich wurde ei-
dieser schmalen Auflage allerdings mehr als nur ein ne von Johann Georg Sulzer initiierte französische
einziges Exemplar erhalten. Neben dem schon lange Übersetzung der Gedancken Ende 1755 in der Nouvelle
bekannten Druck in der Sächsischen Landesbiblio- bibliothèque germanique publiziert; eine zweite franzö-
thek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden fin- sische Übersetzung folgte im Januar 1756 im Pariser
den sich mindestens acht weitere Erstdrucke in der Journal étranger (Winkelmann, Pensées sur l’ imitation
Stadtbibliothek Braunschweig, der Landesbibliothek des Grecs 1755; zu den weiteren Übersetzungen ins
Coburg, dem Kupferstichkabinett in Dresden, der Bi- Französische sowie ins Englische [1765] und Italie-
bliothèque de Genève in Genf, der Houghton Library nische [1831] siehe SN IX,1, L–LII; Ferrari 2017). Zu-
in Harvard, der Taylor Institution Library in Oxford, dem war bereits im Juli 1755 in Leipzig eine durchaus
der Zentralbibliothek Zürich (Provenienz Johann Ja- wohlwollende, im Detail jedoch nicht unkritische Re-
kob Bodmer) und der Bibliothèque Nationale de zension in der von Johann Christoph Gottsched he-
France in Paris (zwei Exemplare). Allem Anschein rausgegebenen Zeitschrift Das Neueste aus der anmu-
nach führte die geringe Auflage der Gedancken dazu, thigen Gelehrsamkeit erschienen. Obwohl ungezeich-
15 Gedancken über die Nachahmung 129

net, kann mit W. (Br. I, 219, 222–223) davon aus- 176–177). Es war diese dezidiert nicht-gelehrte, essay-
gegangen werden, dass es sich bei dem Verfasser istische Form, die in Kombination mit dem auffällig
dieser Rezension um Gottsched selbst handelt. »Es ist sentenziösen Stil zu dem europaweiten Erfolg von W.s
schwer«, so heißt es bei Gottsched resümierend, »ei- vor allem an Künstler und Kunstkenner gerichteter
nen Auszug aus einer Schrift zu geben, die so voll Witz, Erstlingsschrift beigetragen haben dürfte.
Belesenheit und Kenntniß ist; und dabey mehr nach
einer natürlichen Lebhaftigkeit, als nach einer ängst-
Haupt-»Gedancken«
lichen Lehrart schmeckt« (Gottsched 1755, 542).
Die »lebhaft[e] und angenehm[e]« »Schreibart« W. selbst hat sich an verschiedenen Stellen mit unter-
W.s, die »von eben dem edlen Geschmack als seine Be- schiedlicher Schwerpunktsetzung zu Absicht und Ge-
urtheilungen über die Werke der schönen Künste« sei, halt seiner Gedancken über die Nachahmung geäußert
wird auch von Friedrich Nicolai hervorgehoben, der (siehe Gedancken1, SN IX,1, 69 und Erläuterung, SN
die drei Nachahmungs-Schriften 1757 für die Biblio- IX,1, 118; Br. I, 173, 176, 199–200), wobei es ihm, wie
thek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste er betont, grundsätzlich darum gegangen sei, »nichts
rezensierte: Ihm sei »keine deutsche Schrift« bekannt, zu schreiben, was schon geschrieben ist: ferner etwas
»die in dieser Schreibart abgefaßt wäre« (Nicolai 1757, zu machen, da ich so lange gewartet und alles gelesen
346). Auch wenn er W.s Allegoriekonzept nicht folgen was an das Licht getreten ist in allen Sprachen über die
mag, lobt Nicolai die »ausgesuchteste Belesenheit« des beyden Künste, das einem Original ähnlich werden
Verfassers. Den »Ausdruck« der Schrift charakteri- möchte, und drittens nicht zu schreiben, als wodurch
siert er als »nachdrucksvoll und körnigt«, d. h. als die Künste erweitert werden möchten.« (Br. I, 171) In
prägnant im eigentlichen Sinne: Man werde »niemals der Reihenfolge ihrer Nennung im Text lassen sich die
ein Wort finden, welches unnöthig wäre«. Zugleich sei folgenden Haupt-»Gedancken« der Erstlingsschrift
jedoch zu beobachten, dass der Ausdruck »aus all- benennen (vgl. Justi 1956, I, 444–445; Baumecker
zugroßer Kürze zuweilen etwas dunkel« erscheine 1933, 35–37; Pfotenhauer/Bernauer/Miller 1995, 368–
(ebd.; vgl. Hatfield 1943, 22–24; zum Stilideal der 369): W. postuliert 1. den Vorrang der griechischen
scharfsinnigen Kürze bzw. des Körnig(t)en oder »Ker- Kunst (Gedancken1, SN IX,1, 56) und die sich 2. daraus
nigen« siehe Rüdiger 1958, 365–369; Küntzel 1969, ergebende Notwendigkeit der Nachahmung der Anti-
160–168; Abeler 1983, 1–26; Spada 2006). ke (ebd.). Als Vorzüge hervorgehoben werden von ihm
W.s Vorliebe für eine aphoristische Schreibweise, sodann 3. die schöne Natur der Griechen als Grund-
die durch das stilistische Muster der von ihm intensiv lage der idealischen Schönheit ihrer Kunstwerke (ebd.,
gelesenen französischen Moralisten beeinflusst sein 57–63), 4. der edle Kontur ihrer Figuren (ebd., 63–65),
dürfte und sich bereits typographisch an der Vielzahl 5. die am Beispiel der drei sogenannten Herkulanerin-
kleinster Abschnitte erkennen lässt (Décultot 2002, 37; nen vorgeführte vorbildliche Gestaltung der Gewän-
vgl. Justi 1956, I, 481–486; Favaro 2006), verbindet sich der (»Draperie«; ebd., 65–66) sowie 6. »endlich« – als
in den Gedanken über die Nachahmung mit einem das »allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechi-
zweiten literarischen Paradigma, dem Essay als einer schen Meisterstücke« – die mustergültig von der Figur
durch Originalität und Lebendigkeit gekennzeichne- des Laokoon verkörperte edle Einfalt und stille Größe
ten offenen Textform (Namowicz 1978, 40–43, 78–85; in Stellung und Ausdruck (ebd., 66–69). Nach der Un-
Weissenberger 1985, 110–112). Hierunter fällt zum ei- tersuchung 7. der Technik der Griechen in Marmor zu
nen die unsystematische, z. T. sprunghaft-assoziative arbeiten (in deren Rahmen W. den Wasserkasten als
Form der Argumentation, die – wie schon in dem frü- vermeintliches Hilfsmittel präsentiert; ebd., 69–73)
heren Manuskript der Gedanken vom mündlichen Vor- wendet er sich 8. der antiken Malerei in ihrem Verhält-
trag der neueren allgemeinen Geschichte (Vortrag Ge- nis zur Malerei der Neuzeit zu (ebd., 73–75), um hie-
schichte, SN IX,1, 19–26) – einzelne Ideen oder eben ran anknüpfend 9. die Allegorie als eine Möglichkeit
»Gedancken« locker aneinanderfügt. Hierunter zählt zu propagieren, die Kunst auch auf die Darstellung von
zum anderen aber auch der bewusste Verzicht auf ei- nicht-sinnlichen Gegenständen zu erweitern, womit
nen »gelehrten Anstrich« (Erläuterung, SN IX,1, 117) den Künstlern zugleich eine Alternative zu der von W.
in Form v. a. von wissenschaftlichen Anmerkungen, als willkürlich und unbedeutend betrachteten zeitge-
die sich erst in den der zweiten Auflage der Gedancken nössischen Verzierungskunst an die Hand gegeben
angefügten Texten des Sendschreibens und der Erläute- sein sollte (ebd., 75–77). Nicht übersehen werden darf
rung, dann jedoch in Überfülle finden (vgl. Br. I, 172, schließlich W.s Absicht, mit den drei antiken Statuen
130 III Werke

der sogenannten Herkulanerinnen (ebd., 64–65) und Dieser häufig widersprüchliche Charakter von W.s
Raffaels Gemälde der Sixtinischen Madonna (ebd., 68– Erstlingsschrift ist mithin Ausdruck einer mit dem
69) die seiner Meinung nach bedeutendsten Kunst- Aufkommen der empirischen Wissenschaften verbun-
werke der Dresdner Sammlungen erstmals öffentlich denen epistemischen Umbruchssituation, erinnert
bekannt zu machen, womit er einerseits August III. strukturell zugleich aber nicht von ungefähr an die
huldigen, sich andererseits aber auch als Kenner der konträren Argumentationen der Querelle des anciens
aktuellen Kunstszene profilieren konnte (vgl. ebd., et des modernes, in deren Rahmen zahlreiche Argu-
XIX–XXI). In beiden Fällen war W.s hymnische Er- mente für und gegen den Vorrang der Antike vor der
wähnung das Fundament für die nachherige große Po- Moderne ausgetauscht worden waren.
pularität der genannten Werke. Im Falle der Sixti- Wie Élisabeth Décultot nachweisen konnte, hat W.
nischen Madonna sollte W.s Lob ein zentraler Refe- zeit seines Lebens umfangreiche Auszüge sowohl aus
renzpunkte noch für den Raffael-Kult der Romantiker den Originalschriften des griechischen und römischen
sein (dazu Belting 1998; Osterkamp 2015; zu den zahl- Altertums, als auch aus der modernen, v. a. englischen
reichen Kopien und Reproduktionen der Herkulane- und französischen Literatur des 17. und 18. Jh. gesam-
rinnen: Knoll 2008). melt, um sie als gedankliche Bausteine für seine eige-
nen Werke zu verwenden. So finden sich vermeintlich
originäre Wendungen W.s wie etwa die Formel von der
Argumentative Spannungen
»edlen Einfalt und stillen Größe« (Gedancken1, SN
Die von W. in den Gedancken propagierte Idealisie- IX,1, 66, Z. 6–7) bereits bei Autoren wie André Féli-
rung Griechenlands als Ursprung und Quelle des gu- bien, Roger de Piles, Jean-Baptiste Dubos und Jo-
ten Geschmacks war um die Mitte des 18. Jh. nicht nathan Richardson vorgeprägt, deren Werke W. aus-
neu: Vorläufer und Parallelen hierfür lassen sich in giebig exzerpiert hat (Décultot 2004, 181; Stammler
ganze Europa, vor allem aber in Frankreich und in 1961; Henn-Schmölders 1974, 190–226; Calvié 1991).
England finden (Miller 1983, 315–325). Neu ist jedoch Ähnliches gilt für die paradox anmutende These, dass
die Argumentation, mit der W. versucht, den Klassi- der »eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich
zismus als einen auf die Kunst der Griechen zentrier- ist, unnachahmlich zu werden«, die »Nachahmung der
ten Neoklassizismus neu zu begründen. So sind es Antiken« sei (Gedancken1, SN IX,1, 56, Z. 24–25), bei
ihm zufolge das gemäßigte Klima (Gedancken1, SN der es sich um eine weitgehend wörtliche, von W. je-
IX,1, 56) und das »schöne Geblüt« (ebd., 58), wie auch doch effektvoll zugespitzte Übersetzung aus Jean de La
die sich auf die gesamte Kultur auswirkende »Freyheit Bruyères Caractères handelt (Décultot 2004, 67–68).
der Sitten« (ebd., 59), die als Voraussetzungen für die Ein besonderes Augenmerk des Lesers und Exzerp-
körperliche Schönheit der Griechen gelten müssen – tors W. galt dabei gerade den Schriften aus dem Kon-
eine aus spezifischen natürlichen und historisch-po- text der Querelle des anciens et des modernes, die im
litischen Bedingungen hervorgegangene physische Frankreich des späten 17. Jh. ihren Ausgang genom-
Schönheit also, die ihrerseits in der griechischen men, aber schon bald auf weitere europäische Länder
Kunst zu einer universalen idealen Schönheit gestei- übergegriffen hatte. Die Kombination der von ihm in
gert erscheine (vgl. Franke 2006; Décultot 2014). seinen Exzerptheften zusammengestellten Argumen-
W.s Versuch, die absolute Vorbildlichkeit der anti- te aus dem Kontext dieser Debatte führt in den Gedan-
ken griechischen Kunst auf die besonderen Bedingun- cken über die Nachahmung zu mitunter heterogenen
gen von Natur und Geschichte zurückzuführen, geht Thesenbildungen. Dies betrifft u. a. die gleich im ers-
jedoch mit argumentativen Spannungen einher, die ten Satz vorgenommene Verknüpfung des von den
die ganze Schrift durchziehen und als solche charakte- Modernes für sich in Anspruch genommenen Fort-
ristisch für die ästhetik- und wissenschaftsgeschicht- schrittsgedankens (»Der gute Geschmack, welcher
liche Umbruchssituation um die Mitte des 18. Jh. sind sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet«) mit
(Pfotenhauer/Bernauer/Miller 1995, 374–378). Zu dem von den Anciens vertretenen Credo der absolu-
nennen ist hier vor allem der Konflikt zwischen Nor- ten Vorbildlichkeit der Antike (»hat sich angefangen
mativität und Historizität der griechischen Kunst, zuerst unter dem Griechischen Himmel zu bilden.«;
aber auch die Spannung zwischen Empirie und Ideal, Gedancken1, SN IX, 1, 56, Z. 1–2; vgl. Décultot 2004,
die sich bespielsweise in einem einerseits an der Natur 55–78). Die durch den programmatischen Titel der
orientierten, andererseits jedoch platonisch fundier- Schrift nahegelegte simple Identifikation W.s als An-
ten Schönheitsbegriff zeigt. cien gerät vor diesem Hintergrund ins Schwanken.
15 Gedancken über die Nachahmung 131

Tatsächlich erweist sich W. in den Gedancken über die dancken selbst nahm er für die zweite Auflage ledig-
Nachahmung der Griechischen Wercke als ein Ancien, lich einige kleinere Korrekturen vor (Br. I, 227; eine
der durch die Schule der Modernes gegangen ist und Zusammenstellung der Lesarten und Varianten in:
sich bestrebt zeigt, beide Positionen zu Wort kommen Pfotenhauer/Bernauer/Miller 1995, 455). Beibehalten
zu lassen. Diese dialektische Struktur der Gedancken wurde auch die das Iphigenieopfer zeigende Titelvi-
sollte sich noch deutlicher in der um drei Texte erwei- gnette Oesers, wobei allerdings das Horaz-Motto ge-
terten zweiten Auflage der Schrift zeigen, die im April strichen wurde. Die in der ersten Auflage am Schluss
1756 erschien. der Gedancken abgedruckte Sokrates-Vignette wiede-
rum wurde für die zweite Auflage auf das Titelblatt des
Sendschreibens versetzt, während das Titelblatt der Er-
Zweite Auflage: »Gedanken«, »Sendschreiben«
läuterung mit einer von Pierre Hutin ohne direkten
und »Erläuterung«
Bezug zu W.s Schrift neu entworfenen Radierung ver-
Da die geringe erste Auflage binnen kurzem vergriffen, ziert wurde, die Minerva und Hermes mit einem Ge-
die Nachfrage allem Anschein nach aber so groß war, lehrten zeigt, den sie in eine Bibliothek weisen. Auf die
dass »sich es viele bereits abgeschrieben« hatten, holte Auswahl dieser Vignette wie auch auf die von der ers-
der Verleger und Buchhändler Walther bei W.s Beicht- ten Auflage an einigen Stellen abweichende orthogra-
vater Leo Rauch die Erlaubnis zu einem »noch ansehn- phische Gestaltung des Textes dürfte W. keinen Ein-
lichern Nachdruck« ein, den W. jedoch in der »Ab- fluss gehabt haben. Von der im April 1756 erschiene-
sicht, die Schrift rar zu machen«, zu verzögern suchte nen zweiten Auflage erhielt er selbst erst im Juli einige
(Br. I, 173–174, 176; zu Walther: Stoll 1960, 41–75). In Exemplare (Br. I, 238).
einem Brief vom 3. Juni, also nur vierzehn Tage nach Mit der Abfolge von Gedanken, Sendschreiben und
Erscheinen der Erstlingsschrift, erwähnt W. seinem Erläuterung orientiert sich W. ganz offensichtlich an
Stendaler Freund Uden gegenüber erstmals das »des- einem Muster gelehrter Streitkultur, das seinen Lesern
sein« zweier unmittelbar an die Gedancken über die aus zeitgenössischen Periodika hinlänglich bekannt
Nachahmung anknüpfender Schriften: Demzufolge war: Mit dem Sendschreiben fingiert er die Schrift ei-
war es der Plan W.s, die Gedancken um zwei Schriften nes anonymen Kritikers, mit der Erläuterung antwor-
zu ergänzen, von denen die erste, das nur zum Schein tet er auf diese Kritik und nutzt die sich dadurch er-
gegen die eigene Erstlingsschrift gerichtete Sendschrei- gebende Gelegenheit zugleich dazu, seine ursprüng-
ben über die Gedanken von der Nachahmung der grie- lichen Gedanken zu präzisieren. Dabei liegt auf der
chischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, da- Hand, dass W. mit diesem Scheingefecht Aufsehen er-
zu dienen sollte, einige »unwürdige Leute«, denen man regen wollte, um auf diese Weise den Erfolg seiner
in Dresden die »Aufsicht über die größte Gallerie der Schrift »noch vollständiger« (WA I, XIV) zu machen;
Welt und über die Antiquen anvertrauet« habe, hinter späterhin scheint er diese Idee skeptisch eingeschätzt
der Maske eines anonymen Kritikers scharf zu kritisie- zu haben (vgl. Br. I, 199–200).
ren. Parallel zu der Polemik des Sendschreibens entwarf Als publizistische Strategie waren anonyme Selbst-
er mit dem Text der Erläuterung der Gedanken über die rezensionen im 18. Jh. keine Seltenheit. Die Beispiele
Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey dafür reichen von Lessing über Wieland und Schiller
und Bildhauerkunst gleich auch die Antwort auf die bis zu Georg Forster. Aber auch die Inszenierung einer
von ihm gegen sich selbst ins Feld geführten Einwände öffentlichen Debatte, in deren Rahmen der Angegrif-
(Br. I, 171; vgl. auch ebd., 177, 200). fene auf die Kritik antwortet, ist keine Erfindung W.s
Anfänglich beabsichtigt war, den Druck des Send- – schon Lessing wie später auch Wieland soll sich die-
schreibens »von jemand anders« (Br. I, 171) besorgen ser in Schriftstellerkreisen offenbar wohlbekannten
zu lassen, doch wurden alle drei Schriften schließlich Finte bedient haben, die den Verfasser indes dem Risi-
en bloc bei Walther verlegt, wobei noch ein vierter ko aussetzte, als Betrüger oder Scharlatan entlarvt zu
Text W.s, die Nachricht von einer Mumie in dem König- werden (Dönike 2015). Die rhetorischen Techniken
lichen Cabinet der Alterthümer in Dreßden (Mumie, zur Verteidigung bzw. Behauptung einer dem eigenen
SN IX,1, 105–111) dem Sendschreiben beigegeben Standpunkt widersprechenden Position in Form einer
wurde. Niedergeschrieben wurden die drei neuen Art Rollenspiel dürfte den Autoren dabei aus den Dis-
Texte innerhalb der wenigen Wochen, die W. bis zu putationsübungen geläufig gewesen sein, die sie wäh-
seiner Abreise nach Rom Mitte September desselben rend ihrer Schul- und Universitätszeit zu absolvieren
Jahres blieben (Br. I, 180, 200). An dem Text der Ge- hatten (vgl. Beetz 1980, 80). Kurioserweise nahm Jo-
132 III Werke

hann Christoph Gottsched, dem das Spiel mit der Au- etwa für die Frage, ob es sich bei den Herkulanerinnen
torfiktion aus eigener Herausgebertätigkeit eigentlich um originale griechische oder womöglich römische
nicht hätte fremd sein dürfen, W.s Täuschungsmanö- Werke handelt (Sendschreiben Gedanken, SN IX,1, 84),
ver für bare Münze und identifizierte irrtümlicher- ob tatsächlich Griechenland oder nicht vielleicht doch
weise Christian Ludwig von Hagedorn als Verfasser Ägypten als Ursprungsland der Kunst gelten müsse
des Sendschreibens (Gottsched 1756, 860; vgl. Br. I, (ebd., 84–85) oder ob die Allegorie aus Gemälden
314). Demgegenüber hat Friedrich Nicolai den Kunst- nicht zwangsläufig »Hieroglyphen« mache (ebd., 100–
griff W.s, der den Verfasser aller drei Schriften als ein 101; vgl. auch W.s ausführliche Antwort in der Erläu-
in jeder Hinsicht souverän über seinen Gegenstand terung, ebd., 132–152). W. arbeitet sich hier an den Pa-
gebietenden Gelehrten erscheinen lässt, offenbar ohne radoxien der Querelle ab und rührt dabei zugleich an
weiteres durchschaut (Nicolai 1757, 341). grundsätzliche ästhetische Probleme, die – wie etwa
das Verhältnis von Normativität und Historizität, von
Naturnachahmung und Idealschönheit oder von Au-
Funktionen fingierter Polemik
tonomie und Heteronomie der Kunst – die Diskussion
Sofern sie nicht als ein bloßes Flickwerk oder »Spie- der folgenden Jahrzehnte bestimmen sollten. Mit der
gelfechterei« (Justi 1956, I, 497) abgetan wurde, ist die ausführlichen Beschreibung von Gérard de Lairesses
von W. bewusst inszenierte Scheindebatte von der Gemälde Antiochos und Stratonike (1676) schließlich
Forschung unterschiedlich gedeutet worden: Als ein entwirft W. nicht in den Gedanken oder der Erläute-
»in die Polemik verdrängtes Bekenntnis und somit rung, sondern im Sendschreiben seine ausführlichste
Dokument eines inneren Zwiespalts«, der ein »Ventil« Bildbeschreibung überhaupt, die mit ihrem Interesse
suche, das es dem »Rigoristen« erlaube, »wenigstens an der Psychologie der dargestellten Figuren einen
einmal gegen den Stachel des eigenen Dogmas zu lö- wichtigen Markstein in der Geschichte der modernen
cken« (Hofmann 1975, 19; ders. 1995, 71); als Aus- Ekphrasis bildet (Sendschreiben Gedanken, SN IX,1,
druck eines psychologischen Komplexes und Symp- 97, Z. 16 – 99, Z. 21; dazu Zimmermann 1977). W.s
tom intellektueller Ortlosigkeit (Lange 1998, 380– Beschreibung, die sich zugleich als eine implizite Kri-
382); als didaktische Inszenierung eines platonischen tik am Geschmack August III. lesen lässt, der das ihm
Dialogs (Beiser 2009, 159); als »intellektuelle[r] Auf- 1754 angebotene Gemälde nicht erworben hatte (sie-
takt zur Überwindung des aus der barocken Rhetorik he Br. I, 226), haben dem Bild auch ein literarisches
stammenden Gegensatzes von Klassisch und Mo- Nachleben beschert: In seinem Roman Wilhelm Meis-
dern« (Roettgen 2013, 250) oder eben als direkte Kon- ters Lehrjahre (1795/96) hat Goethe das vielfältig
sequenz der oben erwähnten gelehrten Lesemethode, überlieferte Thema des kranken Königssohns auf-
die danach verlangt, das in Exzerptheften gesammelte genommen und dabei, wie es scheint, auch die in der
Wissen insbesondere aus dem Kontext der Querelle so Bildbeschreibung W. angelegten psychologischen Mo-
intensiv und vollständig wie möglich auszuwerten tive narrativ ausgesponnen (Pfotenhauer 1995).
(Décultot 2002, 39; dies. 2004, 26 und 58–59). Tat- Das von W. im Rahmen der drei Nachahmungs-
sächlich mutet das Sendschreiben über weite Strecken Schriften inszenierte Scheingefecht dient ihm jedoch
wie ein Katalog der Argumente der Modernes an, dem nicht allein dazu, sich als den Überlegenen in einer
W. in der Erläuterung wiederum die Argumente der gelehrten Auseinandersetzung über den Vorzug der
Anciens entgegensetzt, darunter wohl zu einem nicht Antiken oder der Modernen präsentieren zu können
geringen Teil gerade solche, die er aus den auf eigene oder sich selbst zu hinterfragen und womöglich zu
Kosten gedruckten Gedancken aus Platzmangel zu- korrigieren. Die Maske eines anonymen Kritikers er-
nächst hatte streichen müssen. laubt es ihm darüber hinaus, im fiktiven Sendschrei-
W.s Strategie, die im Sendschreiben gegen sich selbst ben scharfe Kritik an seinen Dresdner Konkurrenten
angeführten Einwände in der Erläuterung souverän zu bei Hof zu üben (siehe Sendschreiben Gedanken, SN
widerlegen und damit die Überlegenheit der Antike IX,1, 83–85). Mit dem Unterinspektor der Gemälde-
über die Moderne zu beweisen, geht in den Dresdner galerie Matthias Oesterreich, dem Antiquar und Ver-
Nachahmungs-Schriften jedoch nicht restlos auf. Im- walter des kurprinzlichen Münzkabinetts Johann
mer wieder finden sich im Sendschreiben Argumente, Gottfried Richter sowie dem damaligen Vizeinspek-
die der Autor der Gedancken in der Erläuterung nicht tor der Statuensammlung Johann Cronawetter nennt
wirklich entkräften kann (Pfotenhauer/Bernauer/ W. in einem erst aus Rom geschriebenen Brief an
Miller 1995, 383–392; Décultot 2004, 58–59): Dies gilt Uden drei Personen, in deren professionelle Auf-
15 Gedancken über die Nachahmung 133

gabenbereiche er sich mit seinen Gedancken über die und Oesterreich, aber auch Oeser, Lippert, Hage-
Nachahmung vorgewagt hatte und deren »Charakter« dorn und Dietrich vor Augen, die W.s Erstlingswerk
er nun in den zwei hinzugekommenen Schriften »ge- inhaltlich und strukturell nachhaltig geprägt haben
macht« habe (Br. I, 225–226). Diesen Höflingen, die (Goethe 1985–1998, VI,2, 359).
allesamt unter der Protektion des mächtigen Ministe-
rialsekretärs Carl Heinrich Heinecken standen, konn-
Winckelmann in Rom: Unzulänglichkeiten und
te W. im Sendschreiben »beißende Wahrheiten« (Br. I,
neue Perspektiven
171) sagen, ohne dafür mit seinem eigenen Namen
einstehen zu müssen. Wie gefährlich die offene Kritik Die Publikation der zweiten und vermehrten Auflage
an Angehörigen des Hofes war, lässt ein Blick auf das der Gedanken über die Nachahmung erfolgte im April
1749 erlassene Patent wider die Pasquill-, Schmäh- 1756 und damit in W.s Abwesenheit, der sich seit Mit-
und Drohungsschriften erahnen, das Zuwiderhan- te November 1755 in Rom befand. Auf das Eintreffen
delnde mit »Gefängnis und andern schweren Strafen« der ungeduldig erwarteten Freiexemplare musste er
drohte (Dönike 2011, 164–166). Indem er August III. allerdings bis zum Juli des folgenden Jahres warten.
das »dessein« der fiktiven Auseinandersetzung bereits Zwar nutzte er die Schrift gleichsam als Visitenkarte
vorab »communiciren« ließ, hatte er sich für den Fall bei Gelehrten wie z. B. dem Baron Philipp von Stosch
seiner früher oder später zu erwartenden Entlarvung (Br. I, 227; vgl. auch ebd., 200, an Wille); ganz in die-
der königlichen »protection« gegen mögliche Vergel- sem Sinne hatte er schon im April 1756 an Hagedorn
tungsmaßnahmen seitens der von ihm anonym An- geschrieben, dass diesem sechs Exemplare seiner
gegriffenen vorbeugend versichert (Br. I, 171). Dass es Schrift »zu Befel« stünden, »zumal, da alles auf meine
ihm bei seiner Kritik an den genannten Personen in- Bekanntmachung abzielet« (Br. I, 217). Dass W. die of-
des nicht allein um die »Wahrheit in der Welt« (Br. I, fensichtlichen Schwächen seiner Nachahmungs-
226), sondern gleichzeitig auch um konkrete Karrie- Schriften jedoch schon bald erkannt hatte, zeigt ein
reoptionen vor Ort in Dresden ging, macht ein Brief Brief vom Dezember 1755, in dem er von der Einsicht
W.s an Berendis deutlich. Diesem zufolge erhoffte er berichtet, »daß man halbsehend von Alterthümern
sich für das Sendschreiben eine »gute Aufnahme« so- spricht aus Büchern, ohne selbst gesehen zu haben«,
wohl »wegen mehrerer Seltenheiten welche sie ent- und dabei »verschiedene Fehler« einräumt, die ihm
hält« – darunter nicht zuletzt die Nachricht von einer selbst unterlaufen seien (Br. I, 191). Diese Einsicht in
Mumie, in der er sich als ein philologisch versierter die Unzulänglichkeiten seiner Erstlingsschrift, die
Antiquar präsentiert – als auch »wegen der unge- sich auch in der noch im Mai 1756 gegenüber Francke
wöhnlichen Freyheit in Absicht Hrn. von Heineke geäußerten Sorge hinsichtlich deren Aufnahme äu-
[sic] und des Gallerie-Insp. Oesterreichs« (Br. I, 180). ßert (Br. I, 221), mag erklären, warum W. sich mehr
Als eigentlicher Adressat der drei Dresdner Schriften und mehr von ihr distanziert hat. Hinzu kommen die
wird in dieser Perspektive letztlich nicht August III., durch die Autopsie antiker Originalwerke eröffneten
mit dessen Regentschaft die Namen Heinecken und neuen Perspektiven, die sich auf mehrere schriftstel-
Oesterreich verbunden waren, sondern vielmehr der lerische Pläne auswirken, die W. seit Beginn des Jahres
›junge Hof‹ um den Kurprinzen Friedrich Christian 1756 erwogen hat, darunter die Beschreibung der
erkennbar, der – anders als sein vor allem an der mo- »Statuen im Belvedere« (Br. I, 212), die Abhandlung
dernen italienischen und niederländischen Malerei Von den Vergehungen der Scribenten über die Ergänt-
interessierter Vater – ein begeisterter Verehrer antiker zungen bzw. Von der Restauration der Antiquen (SN I)
Kunst war. In einer längerfristigen Perspektive durfte sowie nicht zuletzt das große Werk Von dem Ge-
W. sich hier Hoffnungen auf eine Stelle machen, und schmack der Griechischen Künstler (Br. I, 201, 212),
tatsächlich sollte er 1761 von Friedrich Christian von dem ein mehr oder weniger direkter Weg zum
zum Nachfolger Johann Gottfried Richters ernannt späteren Hauptwerk der Geschichte der Kunst des Al-
werden (Br. II, 169; vgl. Schlechte 1992, 45–48). terthums (1764) führt. Beides, die zunehmende Ein-
Wenn Goethe im Rückblick des Jahres 1805 die drei sicht in die Unzulänglichkeiten der Erstlingsschrift
Dresdner Schriften als »barock und wunderlich« be- wie auch der durch die Autopsie ermöglichte neue
zeichnen sollte, so hatte er dabei genau solche retro- wissenschaftliche Ansatz, dürften dazu geführt haben,
spektiv nur schwer rekonstruierbaren Ideen- und In- dass W. einen in Rom begonnenen Aufsatz mit dem an
teressenkonstellationen der »damals in Sachsen ver- die Dresdner Schrift anknüpfenden Titel Reifere Ge-
sammelten Kenner und Kunstrichter« wie Heinecken dancken über die Nachahmung der Alten in der Zeich-
134 III Werke

nung und Bildhauerkunst (SN IX,1, 155–158) bereits Griechischen Werke in den schönen Künsten. In: Der
im Entwurfsstadium abgebrochen hat. Nordische Aufseher 3 (1761), 150. Stück, 10. Mai 1760,
Kritische Einwände gegen die Gedanken über die 197–204.
Leplat, Raymond: Recueil des marbres antiques que se trou-
Nachahmung wie etwa derjenige bezüglich der ›Was- vent dans la Galerie du Roy de Pologne a Dresden avec
serkasten-Methode‹, der im Mai 1756 im Pariser Jour- privilege du Roy. Dresden 1733.
nal étranger erschienen und von Johann Georg Wille Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bän-
an W. weitergeleitet worden war, »um ein Gefecht zu den. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1985–2003.
veranlaßen« ([Anon.] 1756; Br. I, 236, 244), betrafen Montfaucon, Bernard de: L ’Antiquité expliquée et représen-
tée en figures. 15 Bde. Paris 1719–1724.
somit eine Schrift, die für deren eigenen Autor bereits
Nicolai, Friedrich: [Rez.] Gedanken über die Nachahmung
als überholt galt. Dasselbe gilt für die von Friedrich der griechischen Werke [...]. Zweyte und vermehrte Auf-
Gottlieb Klopstock in seiner späten Rezension der lage. Dreßden und Leipzig 1756 [...]. In: Bibliothek der
Dresdner Nachahmungs-Schrift geäußerte grund- schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1 (1757),
sätzliche Kritik, auf die W. nie geantwortet hat (Klop- 2. Stück, 332–347.
stock 1760; vgl. Hatfield 1948, 80–82; Beaucamp 1984; Winckelmann, Johann Joachim: Mysli o podražanii grečes-
kim proizvedenijam v živopisi i skul’pture (rannjaja redak-
Hippe 2013, 123–134), wie auch nicht zuletzt für Les- cija)/Gedanken über die Nachahmung der griechischen
sings epochemachende Laokoon-Abhandlung, die ih- Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (ältere Redak-
ren Ausgangpunkt bekanntlich ebenfalls bei den Ge- tion). Moskau 1992.
danken über die Nachahmung nimmt (siehe Lessing Winckelmann, Johann Joachim: Pensées sur l’ imitation des
1985–2003, V,2, 17–18). Statt sich auf einen Streit über Grecs dans les ouvrages de peinture et de sculpture. In:
Nouvelle bibliothèque germanique, Bd. 17/2: Octobre –
eine mehr als zehn Jahre alte Schrift einzulassen, sollte
Décembre 1755, 302–329; Bd. 18/1: Janvier – Mars 1756,
W. nachdrücklich auf die Bedeutung der Autopsie po- 72–100.
chen und sich dabei selbst als denjenigen stilisieren, Winckelmann, Johann Joachim: Refléxions sur l’ imitation
der als einziger eine umfassende empirische Kenntnis des ouvrages des Grecs, en fait de peinture et sculpture. In:
der römischen Antiken habe: »Herrn Lessings Schrift Journal étranger, Janvier 1756, 104–163.
habe ich erhalten«, so heißt es in dem berühmten Brief
an seinen früheren sächsischen Bibliothekskollegen Forschung
Francke: »sie ist schön und scharfsinnig geschrieben; Abeler, Helmut: Erhabenheit und Scharfsinn. Zum ›argutia‹-
Ideal im aufgeklärten Klassizismus. Göttingen, Univ. Diss.
aber über seine Zweifel und Entdeckungen hat er viel 1983.
Unterricht nöthig. Er komme nach Rom, um auf dem Barner, Wilfried: Das »Fremde« des »griechischen Ge-
Ort mit ihm zu sprechen.« (Br. III, 204; vgl. Décultot schmacks«. Zu Winckelmanns ›Gedanken über die Nach-
2013, 332–334). ahmung‹. In: Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen –
Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Kongresses der
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dans un bloc et pour y exprimer toutes les parties et toutes chen 1991, 122–128.
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Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen anschauung und ihr Verhältnis zur vorhergehenden
seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Rich- Kunsttheoretik mit Benutzung der Pariser Manuskripte
ter und Herbert G. Göpfert. 21 Bde. (in 33). München Winckelmanns dargestellt. Berlin 1933.
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136 III Werke

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eine aus wenigen Seiten bestehende und nie von ihm
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Schmälzle, Christoph: Das Winckelmann-Autograph der veröffentlichte Schrift, die – 1752 verfasst – der dorti-
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stadt, Alfons (Hg.): Worte und Werte. Bruno Markwardt Sammlung von Anton und Katharina Kippenberg –
zum 60. Geburtstag. Berlin 1961, 359–382. heute im Goethe-Museum in Düsseldorf – aufbewahrt
Stoll, Heinrich Alexander: Winckelmann. Seine Verleger und stammt aus dem Nachlass Carl Ludwig Fernows
und seine Drucker. Berlin 1960.
(SN IX,3). Dass sich die Abschrift von W.s Text unter
Uhlig, Ludwig (Hg.): Griechenland als Ideal. Winckelmann
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ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen beit des Kunsttheoretikers an der ersten deutschen
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Zimmermann, Konrad: Die Dresdner Antiken und Win- sammenarbeit mit Heinrich Meyer und Johann Schulz
ckelmann. In: Ders. (Hg.): Die Dresdner Antiken und
unternommen hatte. In der achtbändigen Ausgabe,
Winckelmann. Berlin 1977, 45–71.
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ckelmanns. In: Kunze, Max (Hg.): Johann Joachim Win- Publikation der beiden ersten Bände) bei der Walthe-
ckelmann und Adam Friedrich Oeser. Stendal 1977, 45– rischen Buchhandlung erschien, war der Aufsatz über
67. die Dresdner Galerie jedoch nicht enthalten: offen-
Martin Dönike sichtlich war er in den Augen der Herausgeber nicht
publikationswürdig.
Nach seiner Ersterscheinung im Jahrbuch der
Sammlung Kippenberg wurde die Schrift 1925 in der
von Hermann Uhde-Bernays herausgegebenen
Sammlung von Kleinen Schriften und Briefen und
dann erneut 1968 – mit einem punktuellen Kom-
mentar des Herausgebers Walther Rehm versehen –
im Sammelband Kleine Schriften. Vorreden, Entwürfe
publiziert. In der von Rehm konzipierten und von
Helmut Sichtermann nach Rehms Tod veröffentlich-
ten Anthologie wird die Beschreibung im Kontext
von bekannten, kaum bekannten oder unbekannten
Werken präsentiert. Der neu erschienene Kommen-
tar im Rahmen der Ausgaben der Schriften und Nach-
laß liefert eine genaue Erläuterung der Beschreibung,
die Rehms Anmerkungen erweitert und zum Teil
korrigiert.

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_16, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
16 Kunstbeschreibungen 137

Francesco III. von Modena nach Dresden kamen) war


»Die schönste in der Welt«
die Sammlung so angewachsen, dass die Forderung
Im Œuvre W.s repräsentiert der erste erhaltene Text nach neuen Räumen entstand: provisorisch wurde das
der Beschreibung der Gemäldegalerie in Dresden ei- Stallgebäude am Jüdenhof umgebaut und als Galerie
nen Ausnahmefall: hier steht nicht die für W.s Kunst- verwendet. Hier sah W. die von ihm beschriebenen
auffassung charakteristische Würdigung antiker Plas- Bilder an, an einem Ort, der schon seine Museums-
tik im Vordergrund, sondern die Malerei, nicht die identität veranschaulichte. Den deskriptiven Text, der
von ihm sonst gepriesene griechische Antike, son- dem ästhetischen Charakter der Gemälde eine selbst-
dern die neuzeitlichen Epochen der italienischen ständige Funktion zuwies, kann man als Pendant der
Kunst von der Renaissance bis hin zum Spätbarock. im Entstehen begriffenen Museumsinstitution inter-
Bekanntlich werden auch in anderen Werken Gemäl- pretieren: in beiden Fällen – im konkreten Raum der
de beschrieben (etwa die berühmte Beschreibung von Galerie und in ihrer verbalen Visualisierung – steht
Raffaels Sixtinische Madonna in den Gedanken über die ästhetische Autonomie der Kunst im Zentrum der
die Nachahmung), aber nur die Dresdner Beschrei- Aufmerksamkeit.
bung behandelt ausschließlich Werke der Malerei. Seit 1748 als Bibliothekar des Grafen von Bünau in
Obwohl hier keine originelle Kunsttheorie entwickelt Nöthnitz bei Dresden angestellt, besucht W. wieder-
und die gängigen Kunstkategorien mit ihrem kano- holt die Gemäldesammlung der Residenzstadt. Dem
nischen Vokabular verwendet werden, ist die Erfah- Bedürfnis nach einer sinnlichen Konfrontation mit
rung der Dresdner Galerie und der daraus resultie- den Kunstobjekten entgegenkommend, bietet ihm der
renden Schrift eine wichtige und oft unterschätzte Galeriebesuch die Gelegenheit, die Kunst bzw. das
Etappe in der Kunsterfahrung W. s. Das Galerieerleb- Kunsterlebnis gegen die Gelehrtenwelt auszuspielen.
nis bedeutete für den Bibliothekar aus Stendal eine An Uden schreibt er am 3. März 1752 in Bezug auf das
richtungweisende Sehübung und die Möglichkeit, die ihm bekannt gewordene Milieu:
visuelle Erfahrung mit dem erworbenen Wissen auf
dem Gebiet der Kunstliteratur zu assoziieren: in Elb- »Die übrigen welche hier Gelehrte heißen, kennen
florenz kann er nicht nur Meisterwerke der Malerei nichts als Titel und Indexe der Bücher, und das ist auch
bewundern; auch seine Lektüren (Namen wie Malva- hier vor einen Gelehrten genug. [...] Hingegen bin ich
sia, Richardson, de Piles werden in der Schrift aus- unter die Mahler gerathen und dieses unter Leute die
drücklich erwähnt, SN IX,23, 4) konnte W. im Ange- auch sagen können: Romam vidi. Ein einziger solcher
sicht der konkreten Präsenz der Originale auf die Maler ist mir lieber als 10 Titel Stutzer. Ich habe die Er-
Probe stellen. Dass diese Sehübung von der schriftli- laubniß erhalten die Königl. Schildereyen Gallerie so
chen Wiedergabe der Deskription nicht trennbar ist, oft wie ich will zu frequentieren.« (Br. I, 110)
wird nicht zuletzt in der Erstlingsschrift zum Aus-
druck gebracht. Sind wiederholte Galeriebesuche – in einem anderen
Bedeutsam ist schon das Thema. W. ist einer der Brief berichtet W.: »Ich bin etwa alle 14 oder 8 Tage
ersten, die den hohen Rang der Dresdner Gemälde- nach Tisch hineingelaufen oder früh und gegen Ti-
sammlung würdigen. »Die Königl. Bilder Gallerie«, sche wieder heraus« (Br. I, 125) – eine unentbehrliche
schreibt er 1749 an den Jugendfreund Konrad Fried- Voraussetzung für das erstrebte Kunstverständnis,
rich Uden, »ist nachdem die Modenesisch und Pragi- wird die Erfahrung bald pragmatisch funktionalisiert.
sche und verschiedene andere dazu gekommen, die Dem Freund Hieronymus Dietrich Berendis, als Hof-
schönste in der Welt. [...] Wer sie siehet, muß erstau- meister beim jüngsten Sohn des Grafen Bünau tätig,
nen. Es ist ein eigenes großes Palais dazu eingeräu- erklärt W. seinen pädagogischen Plan: da er freien Zu-
met« (Br. I, 91). Die lange Tradition der kurfürstlich- gang zur Galerie hat, werde er die Gelegenheit ausnut-
sächsischen Kunstkammer erneuernd, wurde das Pro- zen, den Freund und den jungen Grafen in der Galerie
jekt der Gemäldesammlung unter August dem Star- zu führen:
ken und dann unter seinem Sohn August III. als
Zeichen der politischen Macht und des raffinierten »Ich freue mich, daß ich vielleicht das Glück haben
Kunstsinnes der in Dresden regierenden Kurfürsten könnte Dich und den Herrn Grafen herum zu führen:
(August III. wird 1746 zum König von Polen ernannt) ich selbst, und kein Fremder. Suche ihm eine Kenntnis
realisiert. Durch weitere Erwerbungen (darunter hun- von Künstlern beyzubringen. Ich will Dir dazu schicken,
dert Bilder, die 1746 aus der Sammlung des Herzogs was Du nöthig hast, damit er und Du davon profitieren
138 III Werke

könnest. Ich bin mit den größten Mahlern so wohl Ita-


nachdem zusammen mit der stilistischen Entwick-
lienern als Deutschen bekannt: man versichert, daß
lung der einzelnen Künstler, mit der Zuordnung zu
diese Gallerie ihres Gleichen nicht habe, und dieses
den verschiedenen Schaffensperioden und mit der
aus beygebrachten Gründen.« (Br. I, 118)
künstlerischen Genealogie der Maler in Betracht ge-
zogen. Dass die materielle und die expressive Seite der
Es ist unklar, ob W. schon jetzt eine Art Begleitschrift Kunst in Wechselwirkung stehen, wird konkret an-
für den gemeinsamen Besuch vorhatte. Jedenfalls hand der verschiedenen Malweisen und Maltech-
teilt er binnen kurzem mit, dass er einen als Notizen- niken gezeigt: das Verhältnis zwischen Licht und
sammlung verstandenen Aufsatz verfasst habe: »Hier Dunkel, das eine Schule oder einen Maler charakteri-
überschicke ich etwas von meinen Gedancken über siert, die Behandlung des Schattens beziehungsweise
die Königliche Gallerie. Ich habe es an deinen lieben die Helldunkelmalerei werden nicht als Komponenten
Herren Grafen gerichtet und auf ihn eingerichtet« einer abstrakten Kunsttheorie behandelt, sondern als
(Br. I, 122). Trotzdem wird das Projekt, wie gesagt, greifbare stilistische, d. h. individualisierende Merk-
nicht ausgeführt: genau ein Monat später – in einem male ausgelegt. Dies kann zur Anerkennung der In-
Brief vom 11. Februar 1753 – informiert W. Berendis tensivierung des Ausdrucks der Gefühlswelt führen,
beiläufig darüber, dass er aus Zeitmangel auf die was als expressive bzw. stilistische Chiffre verstanden
Niederschrift der Beschreibung verzichten werde: wird, wie es bei einem Gemälde des Kindermordes zu
»Übergieb den Aufsatz von der Gallerie, wenn es Dir Bethlemen von Francesco Trevisani der Fall ist: »Es
gefällt: ich habe nicht die Zeit, den zweyten Ab- lässt sich außer der Kunst sehr viel bey diesem Werk
schnitt hinzuzuthun«. (Br. I, 129) Weiter wird über denken. Wuth und Mitleiden, Liebe und Verzweiflung
die Gemäldebeschreibung nichts mitgeteilt. So bleibt streiten sich in den Gesichtern der Mörder und der
der zweite Teil ungeschrieben und der erste unvoll- Mütter«. Auch die Figur der Heiligen Cäcilie von Carlo
ständig. Dolci wird am System der Anspielung der Sinnen-
und der Gefühlswelt bewertet:
Der Umgang mit Gemälden
»Cecilia spielet auf einem Clavecin. Ihr Auge zeiget,
Als mimetische Geste der Besuchserfahrung kenn- daß sie sich vergißet in einer Entzückung über eine
zeichnet die Beschreibung ein breites thematisches himmlische Music, welche sie höret. / Sie soll alle ihre
Spektrum, in dem äußere Merkmale und ästhetische Instrumente weggeworfen haben, da sie dieselbe ge-
Qualitäten kombiniert werden: insgesamt berichtet höret: / Ein gemeiner Künstler würde aus Besorgung,
W. in seiner Schrift über 68 Bilder, fast ausschließlich daß man weiter auf nichts als auf ein spielendes Frau-
italienischer Herkunft, die damals in der inneren Ga- enzimmer denken würde, eine Englische Music in den
lerie ausgestellt waren. Obwohl fragmentarisch und Lüften angebracht haben, wie in der Cecilia auf der
notizenartig – oder gerade deswegen –, enthält die Ge- Gallerie aus der Schule des Rafaels, aber mit Recht, ge-
mäldebeschreibung etliche Elemente in nuce, die W.s schehen. / Unser Künstler hat dieses in das Auge gele-
späteres Werk charakterisieren. Die listen- bzw. stich- get und sein Stück nur für ein denkend Auge gemacht.
punktartig formulierte Darstellung zeigt eine geistrei- / Man muß nicht alles schreiben, was man schreiben
che Vielfalt an Perspektiven. Selbst die unbearbeitete, könte; also auch nicht alles mahlen [...].«
nicht literarisch gepflegte Form der Beschreibung kor-
reliert der unmittelbaren schriftlichen Aufnahme der Auf das Thema der Darstellbarkeit der Gefühlswelt
betrachteten Objekte: die Anschauung wird mit dem hinweisend, wird bereits anhand der zitierten Beispie-
Schreiben in Beziehung gebracht, die Interaktion mit le deutlich, dass W.s Beschreibung über eine sachliche
dem Gesehenen als Bedingung der Kunstbetrachtung inhaltliche Darstellung hinausgeht. Die Anspielung
und der damit verbundenen gezielten Kunsterziehung auf das denkende Auge und darüber hinaus auf das
verstanden. Die Provenienz der Gemälde (immer wie- Schreiben weist auf das synkretistische Modell einer
der wird die enorme Bereicherung der Dresdner mentalen Sinnlichkeit, die im Schreiben ihren gülti-
Sammlung durch die Erwerbungen aus Modena er- gen Ausdruck findet. So gesehen, erfasst die Dresdner
wähnt), ihre Maße, der Erhaltungsstatus und die Hän- Gemäldebeschreibung die Kunstbetrachtung als eine
gung in der Galerie (das symmetrische dekorative Sys- beziehungsreiche Verständniserfahrung: zum Kunst-
tem der Ausstellung behindert – laut W.s Kommentar diskurs gehören sowohl die »Einrichtung der Sinne
– die angemessene Anschauung der Bilder) werden je und Gemüther« als auch die Maltechnik. In der Kunst-
16 Kunstbeschreibungen 139

erfahrung spielt sogar die Farbherstellung eine Rolle. und mit der italienischen Disegno-Tradition bewei-
Am Beispiel des blauen Mantels von Jesus auf einem sen. Die tradierten Kunstbegriffe fasst W. allerdings
Bild von Giovanni Bellini liefert W. etwa eine kurze nicht in einem abstrakten theoretischen Sinn auf: statt-
Kulturgeschichte, wie er sie nennt, der Farbe Ultra- dessen versteht er sie als Spezifika des Mediums Male-
marin: rei. Die auf die Tradition der französischen und der
italienischen Kunstkritik zurückgreifenden Begriffe
»Es ist bekannt daß diese Farbe aus einem edlen Stein (Wörter wie Colorit, Ordonnance, Carnaggione und
Lapis Lazuli – Lasur-Stein – genannt gemacht wird. Morbidezza weisen darauf hin, SN IX,10, 26, 29 30)
Man verfertiget noch itzo zu Venedig dergleichen Far- werden durch ein Schönheitsprinzip eingeschränkt,
be von geringerem Werthe aus dergleichen Stein, der das die Kunstbeschreibung selbst problematisiert. »Es
in Welschland gebrochen wird. Der beste kommt aus läßet sich nur sehen, nicht sagen«, so behauptet W. in
der Tartarey, und selbst das Waßer, das übrig bleibt, Bezug auf die künstlerische Behandlung von Licht und
wenn diese kostbare Farbe abgetrieben und etliche Schatten bei den Brüdern Carracci. Die Kategorie der
mahl geringet ist, machet eine besondere Würkung, Unsagbarkeit wird mit dem Sehen gekoppelt.
wenn nur die Figuren damit überstrichen werden, z. E. Aus der Wechselbeziehung zwischen Sehen und
in Bataillen-Stücken kann man durch dergleichen Sagen ergibt sich ein Beschreibungsgrundsatz, der mit
sanfften Anstrich machen, daß die Lointains weit zu- dem Ideal der Schönheit zusammenhängt und mit der
rückprellen.« Notwendigkeit der Anschauung einhergeht. Obwohl
an der Textperipherie, in einer Fußnote, wird diese
Implizit plädieren solche Bemerkungen für die Erwei- Konstellation deutlich skizziert: »Es verhält sich mit
terung des Blickwinkels des Betrachters: nicht von un- den Schönheiten der Gemählde wie mit der Schönheit
gefähr ist es, wenn bei der Bildbeschreibung, die ei- überhaupt. Man fragte einen alten Philosophen: Was
gentlich nur kurz das Sujet und die Komposition der ist die Schönheit? Ich rede vom Aristoteles; Laßet, gab
Figuren bzw. die Bildstruktur thematisiert, die Ver- er zur Antwort, diese Frage für die Blinden. Komm
gleichsebene herangezogen wird. Das Nebeneinander und siehe, steht im Evangelio«. Schon die Kombinati-
der Galerie lädt dazu ein, Parallelen zu ziehen: es lässt on der Quellen ist an dieser Stelle bezeichnend: Aris-
sowohl Differenzen als auch Ähnlichkeiten in der toteles’ Anekdote von Diogenes Laertius und die in
Kunstwelt erkennen. Correggio wird mit Mantegna, den Briefen mehrfach aufgegriffene Formel aus dem
Guido Reni mit Caravaggio und Correggio, die wiede- Johannesevangelium werden im gleichen Atemzug er-
rum mit der Malerfamilie Carracci verglichen; die Ve- wähnt, denn beide münden in die Perspektive eines
nezianer Bellini, Tiziano und Tintoretto werden mit- Kunsturteils, das sich für das Sehen einsetzt. Dies be-
einander konfrontiert, das Chiaroscuro bei Meistern deutet eine Wende in der Kunstbetrachtung: das men-
wie Ribera und Caravaggio von der Helldunkelmale- tale Sehen impliziert eine sprachliche Formulierung,
rei Rubens unterschieden. Wenngleich W. die eigenen die die sinnliche und die intellektuelle Erfahrung wie-
Urteile gegen manieristische Darstellungen zum Aus- derzugeben vermag. Damit wird der Grund für eine
druck bringt (bei Tintoretto werden »ausschweifende innovative Kunsttheorie gelegt:
Stellungen« und bei Paolo Veronese »Schwäche in
Zeichnungen« bemerkt) und exzessive Farbgebung »Man würde unendliche Umstände angeben müssen,
(bei Bassano oder Reni in seiner letzten Phase) kri- diese Merkmale nur einigermaßen zu bestimmen, und
tisch betrachtet, liegt der Sinn der Schrift nicht so sehr bey jemand der ohne genie gebohren, oder nicht Gele-
in den einzelnen Bewertungen, sondern im Umgang genheit hat, dergleichen Werke oft zu sehen, würde es
sowohl mit den Kunstwerken als auch mit den Katego- fast eine eben so vergebliche Mühe seyn als in Meiers
rien ihrer Beurteilung. Anfangs-Gründen der schönen Wissenschaften eine
Beruht W.s Anschauung auf der Kenntnis der Quel- Kette von Millionen definitionen für Leute ist, die eben
len, weist der Aufsatz über die Dresdner Galerie auch so wenig von dem Feuer, das Prometheus den Göttern
in dieser Hinsicht den Umfang der Bezüge auf: antike gestohlen, haben, als der Verfasser selbst davon be-
Autoren wie Horaz werden zitiert, auf Kunsttheoreti- kommen hat.«
ker wird hingewiesen. Überwiegend fokussiert die Ar-
gumentation auf die umstrittenen Kategorien der Far- Das Lehrbuch des Baumgarten-Schülers Georg Fried-
ben und der Zeichnung, welche die Auseinanderset- rich Meier wird als Denkmuster einer aufklärerischen
zung mit der französischen Theorie von Roger de Piles Schrift gezeigt, die sich auf ordnende Kategorien
140 III Werke

stützt. An die Stelle der Taxonomie tritt der schöpferi- ken zwischen analytischen und synthetischen, enthu-
sche Beitrag der Kunstkritik. Das denkende Auge, von siastischen und pedantischen, technischen und ästhe-
dem in der Dresdner Gemäldebeschreibung die Rede tischen Ansätzen verarbeitet er die Tradition der
ist, ist das wahre Organ der Kunstbetrachtung. Es geht Kunstbeschreibung und formuliert parallel dazu de-
nicht um eine naive, sinnliche Aufnahme, sondern um ren Modell neu.
eine Anschauung, die Reflexion bedingt. Deswegen Wenn jede Beschreibung, wie Michael Baxandall
soll der Betrachter, wie W. bemerkt, die Stufe des ers- behauptet hat, nicht das Bild selbst, sondern dessen
ten Anblicks überwinden und sich in das Verständnis Betrachtung, d. h. die Gedanken über das Bild wieder-
des Kunstwerks hineinvertiefen: das Sehen bringt die gibt, bekommt im 18. Jh. dieses Verfahren eigene Kon-
innere Teilnahme mit sich. Wenn auch in Ansätzen turen (Baxandall 1990, 30). Aus der Entstehung der
entwirft W. beim Anblick der Galeriegemälde seine Ästhetik als selbstständiger Disziplin folgt die Ten-
Methode des Sehens oder, besser gesagt, des wieder- denz einer werkimmanenten Bildbetrachtung, die für
holten Sehens. die Zentralität des Werks eintritt. Das von Giorgio Va-
sari kanonisierte Paradigma der Künstlerviten, das im
Quellen 17. Jh. in den Schriften von Carlo Cesare Malvasia
Winckelmann, Johann Joachim, Kleine Schriften und Briefe. (1616–1693) ein Echo gefunden hatte, wird hinter-
Hg. von Hermann Uhde Bernays. Bd. 1. Leipzig 1925, fragt. Die Biographie kann nicht das Werk erklären
257–274.
bzw. ersetzen, das Kunstwerk – so in der Argumentati-
on des englischen Malers und Kunstliteraten Jonathan
Forschung
Gregor, J. M.: Die Galerie als Kunstwerk. Die Hängung ita-
Richardson – besitzt ein eigenes Leben, das vermittelt
lienischer Gemälde in der Dresdner Galerie 1754. In: werden soll. Daraus ergibt sich, dass die Empirie der
Marx, Barbara (Hg.): Elbflorenz. Italienische Präsenz in Kunstbetrachtung Hand in Hand mit dem didakti-
Dresden 16.–19. Jahrhundert. Dresden 2000, 229–242. schen Ziel der Mitteilung geht.
Heres, Gerald: Dresdener Kunstsammlungen im 18. Jahr- Dass Kunstwerke in ihren spezifischen Qualitäten
hundert. Leipzig 1991.
anerkannt werden, bleibt nicht ohne Konsequenzen
Heres, Gerald: Winckelmann in Sachsen. Berlin/Leipzig
1991. für den Kunstbegriff und für die daraus entstehende
Hofter, Mathias René: Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Be- Kunstbeschreibung. An der Schnittstelle zwischen An-
gründung von Johann Joachim Winckelmanns Archäolo- schauung und Erklärung weist die Ekphrasis in der
gie. Ruhpolding/Mainz 2008. zweiten Hälfte des 18. Jh. eine weitere Transformation
Weber, Gregor J. M.: Il nucleo pittorico estense nella galleria auf, die – und darin markieren W.s Beschreibungen ei-
di Dresda negli anni 1746–1764. Scelta, esposizione e rice-
zione dei dipinti. In: Bentini, Jadranka (Hg.): Sovrane pas-
ne zukunftsweisende Wende – das Spannungsfeld zwi-
sioni. Le raccolte d’arte della Ducale Galleria Estense. Mi- schen Kunstbeschreibung und Beschreibungskunst
lano 1998, 118–131. signalisiert. Das Spektrum reicht von den Beschrei-
bungen Diderots, die das mimetische Potential der
Gabriella Catalano
Malerei mit ihrer pathetisch-appellativen Kraft ver-
schränkt, über die von Karl Philipp Moritz propagierte
Autonomieästhetik, die die Möglichkeit jeglicher Be-
schreibung von Kunstwerken in Frage stellt, bis zur
16.2 Winckelmanns Kunstbeschreibungen psychologisierenden Bildlektüre Wilhelm Heinses.
und die Traditionen der Zweifellos wird ein solcher Prozess in W.s Beschrei-
Beschreibungsliteratur bungen avisiert. Ihre Vielfältigkeit entspringt letzten
Endes der Kunstkritik der Aufklärung, die von ambi-
Ekphrasis im Transformationsprozess
valenten Kategorien charakterisiert wurde. Neben der
W. s Kunstbeschreibungen sind heterogen: Mit ver- Deutlichkeit der Deskription, die bei Gottsched auf
schiedenen Methoden experimentierend, differen- die rhetorische Kategorie der Evidentia zurückgreift,
ziert der Kunsthistoriker aus Stendal den Umgang mit hatte sich die Imagination als Wirkungskriterium bei
den Kunstwerken, indem er im Schreiben jeweils eine Johann Jakob Breitinger durchgesetzt. Inzwischen
eigene Konzeption der Kunstbetrachtung zum Aus- hatten sich andere Denkmodelle etabliert, mit denen
druck bringt. Gerade aber in der Differenziertheit sei- sich W. – wie seine Exzerpthefte und seine Texte bestä-
ner Beschreibungen problematisiert der moderne tigen – auseinandersetzt: die minutiöse sprachliche
Kunstliterat die Gattung der Ekphrasis. Im Schwan- Wiedergabe des Bildinhalts und die Untersuchung
16 Kunstbeschreibungen 141

seiner historischen Bedingungen bei Giovanni Pietro setzt sich mit der geschichtlichen Wirklichkeit der
Bellori oder die Übereinstimmung zwischen Kunst Kunstgegenstände auseinander, die damit kontextua-
und Natur durch die Neubewertung der Farben in der lisiert werden.
Malerei bei Roger De Piles. Normsetzende Kriterien Die vielfältigen Traditionen der Kunstbeschrei-
spielen auch im späten 18. Jh. eine Rolle, wie das wei- bung verarbeitend und sie zugleich verabschiedend,
terhin gültige Rubrikenschema beweist, das den Rang versteht W. die Gattung der Ekphrasis im Rahmen ei-
des Kunstwerks garantieren sollte und auch noch bei nes Kombinationsverfahrens. Die Empirie der sinn-
Anton Rafael Mengs Anwendung findet: An den Kate- lichen Wahrnehmung ersetzt sowohl abstrakte Theo-
gorien der Erfindung, Komposition, Anordnung, Pin- riebildungen als auch das gelehrte Wissen über die
selführung, Zeichnung, Kolorit und Draperie hat sich Ikonographie und verbindet sie mit einer kunsthis-
die Kunstbeschreibung zu orientieren. torischen Deutung. Im Namen des neuen Interesses
Obwohl W. über eine sachkundige Kenntnis der an der unmittelbaren Anschauung der Kunstgegen-
Kunstliteratur und ihrer Theorien verfügt, ist er eher stände wird eine Balance zwischen Poetik und Lehre,
pragmatisch an der Kunstbeschreibung interessiert. Ästhetik und Geschichtsschreibung gesucht. Nimmt
Nur ein einziges Mal entwickelt er ein Modell der Be- man den Katalog der Stoschischen Sammlung als Bei-
schreibung. Dies geschieht im Fall der Deskription, spiel, geht W. in seiner 1760 verfassten Deskription
die er für die Statuen im vatikanischen Belvedere-Hof vom Modell der Gemmenbeschreibung aus, um einen
plant. Jede Beschreibung – so erklärt er in einem Brief künstlerischen Diskurs zu entwickeln, der ästhetische
an Bianconi – habe drei Aspekte zu erwägen: Perspektiven involviert (Décultot 2012). Dass diese
Kombination von Deutungsmodellen gerade an einer
I. une Idèe ideale et poetique dans un stile elevé. II. Une Sachgattung der Gelehrsamkeit – der Gemmenkunde
description selon tout ce que l’ art peut preter de lu- – realisiert wird, zeigt W.s Neigung, auf überlieferte
mieres. III. une Dissertation d’erudition. (Br. I, 247) Modelle zurückzugreifen, zugleich aber hermeneu-
tisch und kunsthistorisch Akzente zu setzen. Damit
Wenngleich W. selbst in den Statuenbeschreibungen erweitert er den Kanon der Kunstgegenstände: Gem-
an diesem Modell nicht festhält (die verschiedenen men werden wie Statuen oder Gemälde behandelt.
Fassungen bezeugen die Schwierigkeit einer Zusam- Die in Rom praktizierte Anschauung der Kunstwerke
menfügung der verschiedenen Ebenen, die eigentlich hat ihre Spuren in der Beschreibung der Gemmen-
nicht zur Sprache kommen), lässt sich am schema- sammlung hinterlassen.
tischen Vorhaben ein Zwiespalt ablesen: einerseits Die Gemmenbeschreibung war aber auch das Re-
werden drei Perspektiven veranschaulicht, die eine sultat eines schon in der Dresdner Zeit anklingenden
programmatische, aber separat konzipierte Vielfalt Versuchs von ekphrastischen Interpretationen, die
ans Licht bringen, andererseits weist die maßgebliche über den Inhalt reflektieren und im gleichen Augen-
Differenzierung den Versuch einer Wechselbeziehung blick die Kunstbeschreibung literarisieren. Man denke
auf, denn jede Beschreibung hätte die dreistufige Deu- etwa an die ausführliche Gemäldebeschreibung von
tung im Auge behalten müssen. Wenn man daraufhin Gerard de Lairesse im Sendschreiben über die Gedan-
die im Schema erwähnten einzelnen Ebenen in Erwä- ken von der Nachahmung, welche die dargestellte Sze-
gung zieht, kann man leicht bemerken, dass sie auf ei- ne in seinen psychologischen Implikationen behan-
ner Auseinandersetzung mit der Tradition beruhen. delt. Obwohl W. ein bekanntes Modell benutzt, fügt er
Auf den Plan treten die idealisierte Kunstauffassung Thema, Handlung, Seelenregungen und die durch das
und das gelehrte Wissen, der erhabene Stil und die Licht herbeigeführte malerische Darstellung der Figu-
distanzierende Belesenheit. Mit anderen Worten: in ren in einen narrativen Rahmen ein. Die Ekphrasis
seiner Gesamtheit kombiniert das umrissene System wird im Sinne einer literarisierten Erzählung interpre-
der Beschreibung empirische und abstrakte Heran- tiert, die ihrerseits auf eine Bildhermeneutik als Er-
gehensweisen, die in der Kunstliteratur Tradition hat- kenntnisstrategie zurückgreift. Auch viel später, wenn
ten. Ihre konkomitierende Berücksichtigung ist aber W. in seinem letzten Werk, den Monumenti antichi
schon an sich aussagekräftig. W.s Beschreibungen tes- inediti, vom antiquarischen Muster der Ikonographie
ten Modi einer Kunstrepräsentation, die anstelle der ausgeht, zeigt sich – nicht zuletzt in der variations-
inhaltlichen Wiedergabe und der daraus resultieren- freudigen Beziehung zwischen Bild und Text – ein
den Isolierung der Kunstwerke eine komplexe Inter- Problembewusstsein, das die Ekphrasis als künstliche
aktion beabsichtigen. Die ästhetische Vorstellung und künstlerische Konstruktion versteht. Die Be-
142 III Werke

schreibung wird als Streitfrage und als Herausforde- auch immer wieder in seinen Briefen aus Rom zur
rung zugleich dargelegt: sie muss die begeisterte Visi- Sprache bringt. Gleich nach seiner Ankunft schreibt
on wiedergeben, den Abstand zur Gegenwart ausfül- W. an Francke: »Ich habe erfahren, daß man halb-
len und den Sinn für eine unwiderrufliche Vergangen- sehend von Alterthümern spricht aus Büchern, ohne
heit hervorrufen. Damit können die Kunstobjekte in selbst gesehen zu haben; ja, ich habe verschiedene
ihrem mythologischen Hintergrund identifiziert und Fehler eingesehen, welche ich begangen habe« (Br. I,
gedeutet werden, denn die mythologische Erzählung 191). Das Sehen korrigiert ein etabliertes Kunstwis-
verknüpft Historie und Ideal. sen, das nun im Anschauen der antiken künstleri-
Zur Wiederbelebung und zur Rekonstruktion der schen Umgebung partielle Gültigkeit behält.
antiken Kunstwelt gehört die Reflexion nicht weniger Als unentbehrlicher Anhaltspunkt der Beschrei-
als die Imagination. Beiden ist die Frage nach der äs- bung impliziert die visuelle Erfahrung für W. eine
thetischen Eigenart der Kunstwerke gemeinsam. Die Korrektur des Wissens (darauf beharrt er, um sich als
Beschreibung setzt die künstlerische Identität der Entdecker einer neuen Methode zu stilisieren) und
Kunstobjekte voraus, was auch schon Christian Gott- infolgedessen eine Bereicherung im Umgang mit der
lob Heyne in seiner Lobschrift auf Winkelmann durch- Kunst, die zur korrelierenden Tätigkeit des Schreibens
schaut: »Auf den rechten Weg sind wir eingeleitet; wir führt. Zu Beginn seines römischen Aufenthalts bestä-
sind angeführt, alte Kunstwerke als Kunstwerke zu be- tigt W. brieflich diese Überzeugung: »Ich bin nach
trachten« (Heyne 1778, 30). Obwohl Heyne W.s Be- Rom gegangen nur zu sehen: ich finde aber, Rom ist
geisterung, d. h. seine individuellen und emotional ge- mit seinen Schätzen weder den Römern noch den
färbten Beschreibungen kritisiert, begreift er deren Ausländern bekannt: dieses erwecket mich von neuen
Transformationspotential. zu schreiben« (Br. I, 224–225). Aus dem Sehen ergibt
sich das Schreiben als Zeichen der Kontinuität der
Kunst- und Leseerfahrung und als Weg der Konfron-
Sehen und Schreiben
tation zwischen Präsenz und Absenz. Die Bewun-
Bereits in seiner nicht publizierten, der Gemäldegale- derung der Kunstwerke, die von ihrer Präsenz ange-
rie von Dresden gewidmeten Erstschrift (1752) tritt regt wird, bedeutet für W., über die Abwesenheit im
W. für ein wiederholtes Sehen ein: die hier zitierte For- Sinne der Geschichte nachzudenken. Die historische
mel »Komm und siehe« (KS 8) appelliert an die un- Rekonstruktion, welche die schriftlichen neben die
mittelbare visuelle Teilnahme des Betrachters. Auch materiellen Zeichen der Objekte setzt, vermittelt zwi-
im Auftakt der Beschreibung von Rafaels Sixtinischer schen der Distanz von der Vergangenheit und der Ge-
Madonna (1754 nach Dresden gelangt) in den Gedan- genwart der Kunstgegenstände. Anders als Antiquare
ken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in wie Caylus, die eine wahrhafte Wiedergabe der Ver-
der Mahlerey und Bildhauerkunst wird der Appell wie- gangenheit anstreben, ist sich W. der Grenzen der his-
derholt: »Sehet die Madonna mit einem Gesichte voll torischen Rekonstruktion bewusst. Die berühmte Fi-
Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen guration des Schattenumrisses des Geliebten (eine Va-
Grösse, in einer seelig ruhigen Stellung, in derjenigen riation des Konturbegriffs; Kurbjuhn 2014, 249) am
Stille, welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten Ende der Geschichte der Kunst ist das Sinnbild der nur
herrschen liessen. Wie groß und edel ist ihr gantzer aus der Ferne sich abzeichnenden Welt der Antike:
Contour!« (ebd., 46). Markiert der Kontur beim Re- »So wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren ab-
naissancemaler seine Anlehnung an die Antike (nicht fahrenden Liebhaber, ohne Hofnung ihn wieder zu se-
zufällig bemerkt Peter Szondi, dass der Begriff Kontur hen, mit bethränten Augen verfolget, und selbst in
im Mittelpunkt von W.s Schrift über die Nachahmung dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen
steht), kennzeichnet er die Sprache der Kunst selbst glaubt. Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur ei-
(Szondi 1974, 38). Die Kunsterfahrung wird als men- nen Schattenriß von dem Vorwurfe unserer Wünsche
tal und sinnlich zugleich verstanden. In diesem Zu- übrig [...]« (GK1, SN I,1, 838). Gerade am Schluss der
sammenhang bedeutete die Dresdner Galerie, die W. monumentalen Kunstgeschichte resigniert W.s Bild
in seiner Zeit als Bibliothekar bei dem Grafen von Bü- vor einer historischen Rekonstruktion, die sich als be-
nau mehrfach besucht, vor allem eine neuartige, be- dingt erweist. Dass eine solche Relativierung im meta-
wusste Seherfahrung, die dann in Rom entfaltet sein phorischen Schreibdiskurs geschieht, spielt darauf an,
wird. Im Angesicht der antiken Originale wird der dass das Poetische der Beschreibung die faktische
Vorrang des Sehens ein für alle Mal bestätigt, was W. Realisierung des historischen Vorhabens aufhebt.
16 Kunstbeschreibungen 143

Sich auf den Topos der Unsagbarkeit stützend, zeigt schehen soll: die Idealisierung impliziert die Expres-
W. die Grenzen jeder sachlichen Wiedergabe und die sivität der Beschreibungssprache. Daraus resultieren
Kraft der poetischen Evokation auf. Das gleiche gilt W.s Hinweise auf schriftliche Quellen oder auf Ana-
für das Schönheitsideal, das in der Apollobeschrei- logiebildungen zwischen bildender und sprachlicher
bung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und Kunst, was von Lessing als Verwischung der Diffe-
dann in der Geschichte der Kunst 1764 von einem of- renz zwischen Bildhauer und Dichter interpretiert
fenen Ausruf begleitet wird: »Wie ist es möglich, es zu wird. Die Farbe, so argumentiert W. im Sendschreiben
malen und zu beschreiben« (GK1, SN I,1, 780). Die über die Gedanken von der Nachahmung, sei »dasjeni-
rhetorische Figur der Praeteritio – ein Leitmotiv der ge in der Malerey, was der Wohlklang und die Har-
Kunstbeschreibung auch noch bei Diderot – ent- monie der Verse in einem Gedichte sind« (KS 79). In
spricht dem Verzicht auf eine vollständige Verbalisie- einem Brief an Oeser wird die Komplexität der Auf-
rung des nonverbalen Kunstobjekts. Aus der Unmög- gabe betont: »Die Beschreibung des Apollo wird mir
lichkeit der Wiederherstellung entsteht die Möglich- fast die Mühe machen, die ein Helden-Gedicht erfor-
keit bzw. die Notwendigkeit der Evokation. Somit dert« (Br. I, 214). Was W. hier ankündigt, ist seine
übernimmt die Beschreibung als unentbehrlicher Be- Deutung der Beschreibung als Kunst: das Poetische
standteil der Wiedererweckung der griechischen der antiken Dichter wird zum idealen Muster der
Kunst die Aufgabe der Vergegenwärtigung einer ver- Kunstbeschreibung, wie auch schon Herder an-
lorenen Kulturepoche, denn ihr Überleben liegt im äs- erkennt: »Winckelmanns Styl ist wie ein Kunstwerk
thetischen Wert der Kunstwerke. Daraus resultiert das der Alten« (Herder 1993, 67), behauptet er in den
Problematische der Deskription, die die Autonomie Kritischen Wäldern. W.s stilistische Sprachideale be-
der Kunst sprachlich zu artikulieren hat. weisen, dass die sprachliche Ebene zum wesentlichen
Die ästhetisch motivierte Überzeugung von dem Teil seiner Überlegungen über die Beschreibungs-
selbstreferentiellen Anspruch der Kunst führt zu ei- kunst wird – wenn er etwa über die Kennzeichen der
ner Methode der Kunstbeschreibung, die, die Selbst- griechischen Sprache in den Erläuterungen der Ge-
verständlichkeit der Ekphrasis verabschiedend, dem danken reflektiert oder von der Kürze als Stilbegriff
hermeneutischen Paradigma der Kunstkritik zur Sei- spricht (in einem Brief an Walther vom 15.5.1758
te steht. Die Beschreibungssprache zielt nicht darauf, schreibt W., er habe sich zum »Gesetz gemacht nichts
den Gegenstand zu ersetzen (auch die Verbreitung mit 2 Worten zu sagen, was mit einem geschehen
der Reproduktionen macht diese Funktion überflüs- kann«; Br. I, 364). Im Leitbild der brevitas, das bei W.
sig), sondern seinen geistigen Inhalt zu deuten: als Kunst der Anspielung zu verstehen ist, stimmt das
»Denn es ist nicht genug zu sagen, daß etwas schön Ideal der Einfalt mit der Prägnanz des Schreibstils
ist: man soll auch wissen, in welchem Grade, und wa- überein. Der literarischen Qualität der Sprache W.s,
rum es schön sey«, schreibt W. in der Fassung der die in den Statuenbeschreibungen im vatikanischen
Torso-Beschreibung, die in der Bibliothek der schö- Belvederehof ihren Gipfel erreicht, liegt eine an Me-
nen Wissenschaften und der freyen Künste publiziert taphern und Gleichnissen reiche Kunstsprache zu-
wird (Torso-Beschreibungen 1995, 175). Der Begriff grunde, welche zur Digression neigt oder auf der
der Interpretation wird in der Vorrede zur Geschichte Ebene des Redeflusses Kommata ausspart und den
der Kunst im Kontext der kunstgeschichtlichen Stu- daktylisch-trochäischen Rhythmus des Hexameters
dien wieder aufgenommen. Basierte die Kunst- imitiert, wie es bei der Torso-Beschreibung der Fall
geschichte bisher auf der Gelehrsamkeit der Anti- ist. Hier passen sich die Sprachstrategien dem Objekt
quare und auf »allgemeinen Lobsprüchen« (GK1, SN an: in der Beschreibung zeigt sich die Totalitätskon-
I,1, XVI), solle nun die Beschreibung einer Statue struktion als funktional für die Beseitigung des Frag-
»die Ursache der Schönheit derselben beweisen und ments zugunsten der hypothetischen Wiederherstel-
das Besondere in dem Stile der Kunst angeben« lung der unversehrten Statue. Der Fokussierung auf
(GK1, SN I,1, XVIII). die Mythologie der unsichtbaren Ganzheit der Figur
entspricht die imaginative Erzählung, die ihrerseits
über die Heldentaten phantasiert. Die Mitwirkung
Das Poetische der Beschreibungskunst
der Imagination zielt auf die Aktivierung der Einbil-
Die Erläuterung der Fundamente der Kunst ent- dung des Rezipienten: um seine Leser/Zuschauer zu
spricht der Vermittlung des innewohnenden geisti- stimulieren, inszeniert der Autor/Betrachter seine ei-
gen Entwurfs, was thematisch, aber auch formal ge- gene Erfahrung:
144 III Werke

»Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses die Allegorie, die von August Wilhelm Schlegel kriti-
Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen siert wurde, war eigentlich ein Plädoyer für die ver-
erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. ständnisvolle Klarheit der Präsentation gegen die an-
Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern spielungsreiche Emblemkultur des Barock (Schlegel
und zu erheben, wie diejenige, die ich wie vom Geiste 1846–1847, 345). In W.s Auffassung der Allegorie er-
der Weißagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle füllt die Einheitsforderung die Parallelkonstruktion
mich weggerückt nach Delos und in die Lycischen Hay- von Körper und Gestalt: in den Statuen der griechi-
ne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehre- schen Gottheiten kommt die unkörperliche Schönheit
te: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu be- eines Körpers zum Erscheinen. Bekanntlich wird auch
kommen.« (GKI, SN I,1, 780) bei Laokoon in der Laokoongruppe des Vatikan das
Verhältnis zwischen Körper und Geist als Beherr-
Lädt die Selbstinszenierung zum mimetischen Akt ei- schung der Leidenschaften und des Todesschmerzes
nes gedankenvollen, phantasierenden Sehens ein, das interpretiert. In dieser Hinsicht wird in der bekann-
an die Empfindungen des Betrachters appelliert (und testen Beschreibung W.s die Figur des trojanischen
dabei deiktische Referenzen benutzt), bestätigt der Priesters als eine Allegorie des heroischen Triumphs
Bezug auf den pygmalionischen Blick das Performati- über den physischen Schmerz gedeutet. Die in der Sta-
ve der Beschreibung: Von der Anerkennung der tue wiedergefundene Idealität ermöglicht die Verglei-
Schönheit ausgehend mobilisiert die Beschreibung die che mit den literarischen Figuren von Vergils Lao-
ästhetische Erfahrung als vitale Instanz. Die Kunst- koon und Sophokles’ Philoktetes. Dabei lässt W. die
beschreibung existiert nicht separat vom Kunsterleb- mediale Reflexion unberücksichtigt, die Lessing – in
nis, wie es in Goethes Urteil über W. nachklingt. Im Auseinandersetzung mit ihm – verarbeiten wird.
Gespräch mit Eckermann, der den Gedancken über die Wenn aber – mindestens in Lessings Sicht – sich W. als
Nachahmung skeptisch gegenübersteht, nimmt Goe- Anhänger des Ut pictura poesis-Prinzips zeigt, ge-
the für W. Partei: schieht es vor allem im Einklang mit seiner plato-
nischen Konzeption der aus der Idee stammenden
»Sie haben allerdings recht: man trifft ihn mitunter in Kunst: die Abstraktion der Dichtung wird zum Aus-
einem gewissen Tasten; allein, was das Große ist, sein gangspunkt seiner Beschreibungen (Décultot 2013,
Tasten weist immer auf etwas hin; es ist dem Colum- 327).
bus ähnlich, als er die Neue Welt zwar noch nicht ent- Wird das ästhetische Prinzip der Schönheit der
deckt hatte, aber sie doch schon ahnungsvoll im Sinne griechischen Kunstwerke in drei Variationen (Apollo,
trug. Man lernt nichts, wenn man ihn liest, man wird Torso, Laokoon) dargelegt, die jeweils ein Modell der
etwas.« (Goethe V, 6, 61) Beschreibung vorstellen (die erhabene Schönheit, die
Erzählung als Ersetzung der fehlenden Teile, die Stär-
Von Normativität im Umgang mit der Kunst Distanz ke der Seele), erhebt sich gegen W.s allegorische Deu-
nehmend, sucht W. nach einer Unmittelbarkeit, die af- tung der antiken Kunst die Kritik von Karl Philipp
fektive Züge annimmt: man müsse mit den Kunstwer- Moritz: als statisch interpretiert zerstöre die zerstü-
ken, wie mit einem Freund umgehen und vertraut ckelte Beschreibung der verschiedenen Teile der Sta-
sein. Die Kategorie der Sympathie oder des Mitfüh- tue des Apollo von Belvedere die Einheit des Kunst-
lens, die – um 1750 von der Poetik des Trauerspiels werks und dessen Eindruck (Moritz 1997, 1002–3).
ausgehend – in der Kunstkritik Fuß fasst, impliziert Genau besehen bedeutet aber Moritz’ Kritik an W.s
Abstandnehmen von abstrakten kategorialen Prinzi- Atomisierung eine Infragestellung der Beschreibung
pien: die historische und ästhetische Auseinanderset- überhaupt: um über Kunstwerke adäquat sprechen zu
zung kann lediglich aus einer modernen, d. h. indivi- können – so Moritz’ Schlussfolgerung – solle man sel-
duellen Aneignung der Kunstwerke entstehen. Ande- ber Künstler sein. Moritz’ Eintreten für die Auto-
rerseits werden Möglichkeiten der Integration von Äs- nomie des Kunstwerks zeigt eigentlich – trotz seiner
thetik und Geschichte, Sehen und Schreiben erkundet, skeptischen Beurteilung – die Nähe zu den poetisier-
was besonders in der letzten Phase im Versuch einer ten Beschreibungen W. s. Im gleichen Atemzug bestä-
Allegorie, besonders für die Kunst (1766) und in den tigt das Interesse an seiner Beschreibungsart implizit,
Monumenti antichi inediti (1767) zum Ausdruck dass W. mit seinen Kunstbeschreibungen zu einem
kommt, wo die ikonographische Deutung auf den Modell geworden war, das nicht mehr ignoriert wer-
schriftlichen Quellen basiert. W.s Abhandlung über den konnte.
16 Kunstbeschreibungen 145

Quellen Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studien-


Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hg. im Auftrage der ausgabe der Vorlesungen 2. Frankfurt a. M. 1974.
Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919. Ueding, Gert: Aufklärung und Rhetorik. Versuche über Be-
Herder, Johann Gottfried: Schriften zur Ästhetik und Litera- redsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tü-
tur 1767–1781 (Werke. Bd. II. Hg. von Grimm, Gunter). bingen 1992.
Frankfurt a. M. 1993. Zeller, Hans: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im
Heyne, Christian Gottlob: Lobschrift auf Winckelmann. Belvedere. Zürich 1955.
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Moritz, Karl Philipp: Popular-Philosophie Reisen Ästheti- Gabriella Catalano
sche Theorien (Werke, Bd. II. Hg. von Heide Hollmer und
Albert Meier. Frankfurt a. M. 1997.
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Markus/Miller, Norbert (Hg.): Frühklassizismus. Position 16.3 Beschreibungen des Torso und des
und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Frankfurt Apollo im Belvedere
a. M. 1995, 167–185.
Statuenbeschreibungen
Forschung Dass die Beschreibungen des Apollo und des Torso zu
Baxandall, Michael: Ursachen der Bilder: über das histori- den bekanntesten Texten W.s gehören, steht außer
schen Erklären der Kunst. Berlin 1990.
Frage: seine Geschichte der Kunst des Alterthums –
Boehm, Gottfried/Pfotenhauer Helmut (Hg.): Beschrei-
bungskunst – Kunstbeschreibung. München 1995. wenn nicht sein ganzes Werk – wird häufig mit den
Décultot, Élisabeth: Eine Geschichte der antiken Kunst im Statuenbeschreibungen im vatikanischen Belvedere-
Kleinen. Zu Johann Joachim Winckelmanns Description Hof gleichgesetzt. Dies hängt nicht zuletzt mit der Be-
des Pierres Gravées du feu Baron de Stosch. In: Antike und rühmtheit der Kunstwerke zusammen, die schon zur
Abendland 58 (2012), 167–188. Zeit W.s zum Kanon antiker Skulpturen gehörten. Der
Décultot, Élisabeth: Le spectateur comme Pygmalion. In:
Décultot, Élisabeth (Hg.): Johann Joachim Winckelmann. vatikanische Cortile delle Statue, der ursprüngliche
De la description. Paris 2008, 5–41. Gartenhof von Innozenz VIII., wurde im Laufe der
Décultot, Élisabeth: Winckelmann neu gelesen. Zu Lessings Zeit zum Sammlungsort von antiken Statuen – darun-
polemischer Lektüre der Gedanken über die Nach- ter Apollo, der Torso, Laokoon, Hermes, Perseus –, die
ahmung und der Geschichte der Kunst des Alterthums. zu politischen Zwecken, und zwar zur Selbstverherr-
In: Robert, Jörg/Vollhart, Friedrich (Hg.): Unordentliche
lichung des Papsttums, beitragen sollten, was auch das
collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwi-
schen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer im 18. Jh. von Papst Julius II. begonnene und von Cle-
Theoriebildung. Berlin 2013, 321–336. mens VII. weitergeführte Projekt der Statuenausstel-
Himmelmann, Nikolaus: Winckelmanns Hermeneutik. lung bestätigt.
Mainz 1971. An die Tradition der Exempla anknüpfend, weisen
Kase, Oliver: Mit Worten sehen lernen: Bildbeschreibung im W.s Statuenbeschreibungen auf einen Übergang hin:
18. Jahrhundert. Petersberg 2010.
Kurbjuhn, Charlotte: Kontur. Geschichte einer ästhetischen
Vom gelehrten Wissen der Antiquare zu einer Neuori-
Denkfigur. Berlin, Boston 2014. entierung der Kunstbetrachtung, welche die Konzen-
Pfotenhauer, Helmut/Bernauer, Markus/Miller, Norbert tration auf die einzelnen Objekte begründet, denn nur
(Hg.): Frühklassizismus. Position und Opposition: Win- die Einzelbetrachtung der Statuen vermag ihrer Ge-
ckelmann, Mengs, Heinse. Frankfurt a. M. 1995. stalt gerecht zu werden. Die Beschreibung ihrerseits
Pfotenhauer, Helmut: Zerstückelung und phantasmatische
kann nicht mehr von der Anschauung, d. h. von der
Ganzheit. Grundmuster ästhetischer Argumentatio in
Klassizismus und Antiklassizismus um 1800. Winckel- Gegenwart der Objekte absehen. Geht die rhetorische
mann, Moritz, Goethe, Jean Paul. In: Agazzi, Elena/Koczis- Tradition der Exempla Hand in Hand mit dem Begriff
ky, Eva (Hg.): Der fragile Körper. Zwischen Fragmentie- der Imitatio, lassen die vom in Rom lebenden deut-
rung und Ganzheitsanspruch. Göttingen 2005, 121–131. schen Archäologen verfassten Exempla die Präsenz ei-
Pommier, Édouard: Winckelmann: entre la norme et l’ his- ner ästhetischen Auctoritas erkennen, die sowohl die
toire. In: Revue Germanique Internationale 2 (1994), 11–
Kunstwerke als deren sprachliche Deskription charak-
28.
Osterkamp, Ernst: Winckelmann in Rom. In: Wiedemann, terisiert. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprach-
Conrad (Hg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und lich geht W. dem Ideal einer vorbildhaften Evidenz
Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in nach, denn der Beschreibungsstil hat die ästhetisch
den fremden Metropolen. Stuttgart 1988, 203–230. verstandene Identität der Kunstobjekte zu kennzeich-
Rehm, Walther: Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur nen. Die Wiedergeburt der Antike im Zeichen des pla-
deutsch-antiken Begegnung. München 1951.
tonischen Schönheitsideals wird dank einer visuellen
146 III Werke

Praxis und einer neuen Beschreibungskunst möglich, sprüngliche Entwurf nie realisiert wird, ist mit dem
in denen Empirie und Abstraktion, Sinnliches und immer stärkeren Engagement hinsichtlich der Ge-
Übersinnliches eine Interaktion suchen. Ein Wechsel- schichte der Kunst zu erklären, die die Statuenbeschrei-
spiel zwischen Imagination und begrifflicher Aus- bungen in ihren historischen Rahmen einfügen wird.
legung, einfühlender Assoziation und formaler Um- Zentral bleibt aber hier wie dort die grundlegende
schrift kündigt sich an. Fragestellung jeder Bildbeschreibung: Wie kann das
Repräsentiert W. mit den Beschreibungen und der Unbeschreibliche der Seherfahrung zum Ausdruck
historischen Auffassung der Kunstwerke eine Über- gebracht werden? Die Antwort darauf ist wieder in ei-
gangsphase, kombinieren seine Texte das ikonogra- nem Brief zu finden, den W. an Friedrich Oeser
phische und mythologische Wissen der Vergangen- schreibt: »Die Beschreibung des Apollo wird mir fast
heit mit einer Beschreibung der Statuen, die die ein- die Mühe machen, die ein Helden-Gedicht erfordert«
fühlsame Teilnahme des Betrachters und die immer (Br. I, 214). An die dichterische Sprache erinnernd
anwesende pädagogische Zielsetzung einkalkuliert. zielt der deutsche Kunsthistoriker auf eine umfassen-
Die Verbindung von verschiedenen Perspektiven de Beschreibung, die verschiedene Aspekte der Sta-
führt zu immer neuen Formulierungen bzw. Texten, tuen zu erörtern hat, wie er Bianconi mitteilt:
wie die verschiedenen Fassungen der Apollo- und der
Torsobeschreibung bezeugen. In beiden Fällen deutet I. une Idée ideale et poetique dans un stile elevé II. Une
der lang dauernde Prozess der Niederschrift auf die description selon tout ce que l’ art peut preter de lu-
Suche nach einer angemessenen Form der Beschrei- mieres III. une Dissertation d’erudition (Br. I, 247).
bung hin.
Aus der visuellen Begegnung mit dem Altertum Der schrittweise dargestellte Vorgang der Beschrei-
entsteht W.s Projekt der Statuenbeschreibungen, das bung weist darauf hin, dass W. ein Modell im Sinne
er schon am Anfang seines im November 1755 begin- hat. Die Gliederung skizziert ein für jede Statuen-
nenden Romaufenthalts entwirft. Von diesem Plan ist beschreibung geltendes Schema. Vorbilder sollen vor-
in verschiedenen Briefen die Rede. Die Arbeit über die bildlich geschildert werden. Das umfassende Pro-
Statuen im Belvedere (»die besten Statuen in Rom«) gramm der Beschreibung, die die gelehrte Tradition
wird schon in einem Brief an Oeser vom 20. März mit der idealen Lesart verschmilzt, kommt dem Ver-
1756 erwähnt (Br. I, 213), und am gleichen Tag, in ei- such entgegen, die Kunstwerke ästhetisch bzw. idea-
nem Brief an den Freund aus Nöthnitz Johann Micha- lisch durch die sprachlichen Mitteln der Beschreibung
el Francke (Br. I, 212), verknüpft W. seinen Plan mit zu rechtfertigen. Dabei muss man bedenken, dass zu
einer aktiven Sehtätigkeit, die seine ganze Aufmerk- W.s Zeit die Statuen unter schwierigen Umständen zu
samkeit in Anspruch nimmt: »Diese Arbeit beschäfti- sehen waren: die Nischen, welche die Statuen bewahr-
get mich dergestalt, daß ich, wo ich gehe und stehe, ten, waren noch von hölzernen Türen verschlossen.
daran gedenke. Ich habe ein gewisses Geld, wie ge- Das in W.s Beschreibungen in Aussicht gestellte Para-
wöhnlich, gegeben, um den Apollo, den Laocoon, digma der Visualisierung zielt nicht darauf, das An-
wenn ich brauche, zu sehen, um meinen Geist durch schauen zu ersetzen, vielmehr verstehen sich die An-
das Anschauen dieser Werke desto mehr in Bewegung schauung und die daraus resultierende Beschreibung
zu setzen« (Br. I, 212). Für die historische Bestim- als eine ästhetische Geste, die sich anhand von exem-
mung bzw. Datierung der Statuen müsse er noch – so plarischen Kunstwerken der Antike realisieren lässt.
argumentiert W. im Brief an Francke weiter – nach In diesem Zusammenhang setzen sie den Prozess der
Neapel fahren, wo er die Antiken von Herculaneum Musealisierung in Gang. Die sprachliche Anerken-
studieren könne. Nichtsdestoweniger präzisiert er nung der ästhetischen Instanz präludiert die museale
schon jetzt in Bezug auf die Apollostatue sein stilisti- Zurschaustellung der Objekte.
sches Konzept: »Die Beschreibung des Apollo erfor- Genau besehen setzt die in den Beschreibungen vor-
dert den höchsten Stil, eine Erhebung über alles was kommende Erklärung des ästhetischen und idea-
menschlich ist. Es ist unbeschreiblich, was der An- lischen Wertes die spätere Entwicklung des vatikani-
blick desselben für eine Wirkung macht« (Br. I, 212). schen Museums voraus, wo die Fortbildung des neo-
Am Anfang seines Projektes der Statuenbeschreibun- klassizistischen Credo in der antiken Kunst zu einem
gen denkt W. offensichtlich an eine kleine Arbeit, die harmonischen und ganzheitlichen Programm wird.
er schnell verfassen möchte. Dass das Projekt viel län- Die von Michelangelo Simonetti realisierten Kunsträu-
ger dauern wird, oder genauer gesagt, dass der ur- me des Museo Pio Clementino erreichten im Belvede-
16 Kunstbeschreibungen 147

rehof ihren Höhepunkt, indem sie das Museum als eine


neue Ebene der Kommunikation und des kollektiven
Austauschs im Namen der Kunst veranschaulichten.
So betrachtet bedeuten W.s Beschreibungen eine Etap-
pe auf diesem Weg: Einer Galerie ähnlich (von einem
topographischen Vorhaben sprechen beispielsweise
die deiktischen Hinweise auf den Ausstellungsort) ent-
spricht das Projekt der aneinandergereihten Statuen-
beschreibungen dem musealen Ausstellungsort, der
durch die Beschreibungen zu einem Denkraum wird.
Anders gesagt: Die Rede von den antiken Skulpturen,
die ihre ästhetische Prägnanz rühmt, vollzieht ihre
Wertsetzung im Namen der Historizität. Dies betrifft
auch die Tradition der Kunstbeschreibung. Trotz W. s
vehementer Aussagen gegen die Gelehrtenwelt, die zu
seiner Selbststilisierung beitragen sollen (»Ich glaubte
ich hätte alles vorher ausstudiret, und siehe! Da ich hier
kam, sahe ich daß ich nichts wußte, daß alle Scribenten
Ochsen und Esel sind«, schreibt er 1757 in einem Brief
an Berendis – Br. I, 266), setzt er sich mit der ekphrasti-
schen Tradition auseinander. Die Statuenbeschreibun-
gen entstehen aus dem Studium der Beschreibungen
der Statuen seit der Renaissance, wie Max Kunze in sei-
nem Kommentar zu den ersten Fassungen der von Carl
Justi wiedergefundenen Manuskripte in der Florenti-
ner Accademia dei Colombari festgestellt hat. Im glei-
chen Atemzug plädiert die in Rom realisierte unmittel-
bare Betrachtung der Kunstwerke für ein lebendiges
Umgehen mit den Werken, das die Schönheit der anti-
ken Statuen zu vermitteln hat.
Abb. 16.1 Apollo von Belvedere. Rom, Vatikanische Museen.

ses mit der Kunst hin, andererseits bedeutet die ei-


Apollo
gentliche Beschreibung eine Aufhebung der zeitlichen
In der letzten, in der Geschichte der Kunst gedruckten Entwicklung: Hier geht es um ein Wunderwerk der
Fassung der Beschreibung des Apollo von Belvedere griechischen Kunst in einer Epoche der Dekadenz des
stellt W. gleich zu Beginn fest: »Die Statue des Apollo Kunstgeschmacks, wie es beim römischen Kaiser der
ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Fall war. Man könnte behaupten, dass die Digression
Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgan- über die Apollostatue die Stelle markiert, an der das
gen sind« (GK1, SN I,1, 780). Offensichtlich hängt das Ideale der Schönheit die Geschichte ausgleicht. Da-
Thema der Zerstörung eng mit der Historisierung der raus ergibt sich die zitierte programmatische Erklä-
Kunst zusammen. Es ist nicht von ungefähr, dass im rung am Anfang der Beschreibung, die auch sprach-
Aufbau der Geschichte die Beschreibung der Apollo- lich (das Tempus des Präsens signalisiert eine Wende
statue im Kapitel Von der griechischen Kunst unter den in Bezug auf die Tempora der Vergangenheit – Präte-
Römern vorkommt. Das Ideale der Kunst wird in eine ritum oder Plusquamperfekt –, welche die Rekon-
historische Perspektive integriert. Die griechische struktion der Kaiserzeit kennzeichnet) diese Differenz
Kunst wird damit anhand von römischen Befunden andeutet. Die Form des Präsens dient der Vergegen-
betrachtet. Die Apollostatue sowie der Borghesische wärtigung der Gestalt nicht so sehr im Sinne ihrer
Fechter wurden in Antium, der Geburtsstadt Neros, Veranschaulichung wie in dem der Aktualisierung des
während seiner Kaiserzeit wiederaufgefunden. Einer- Ideals. Wird die visuelle Materialität dem Ideal unter-
seits deutet der historische Rahmen auf das schicht- geordnet, betrifft ein solcher Vorrang auch die Zentra-
weise Nacheinander der Epoche und ihres Verhältnis- lität des nackten Körpers, dem schon in den Gedanken
148 III Werke

über die Nachahmung eine wesentliche Funktion zu- trachtung bzw. die Beschreibung lädt den Leser bzw.
geschrieben wurde. Nicht die Natur an sich, sondern den Betrachter zu einer solchen idealen Teilnahme ein:
ihre Vervollkommnung in der Idee kommt in der Sta- Nur dadurch kann man das Erhabene des Kunstwerks
tue zum Ausdruck: und die Schönheit der Statue sinnlich und geistig
wahrnehmen. Der Appell an den Leser nimmt eine
»Ueber die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und Kollektivierung des einfühlenden Schauens ins Visier,
sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein die in der zweiten Fassung des Pariser Manuskripts zu
ewiger Frühling, wie in den glücklichen Elysien, beklei- regelrechten Vorschriften fortschreitet.
det die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre
[und spielet] mit gefälliger Jugend, und spielet mit »Gehe vorher mit deinem Geist in das Reich uncörper-
sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude sei- licher Schönheiten, [u. daselbst versencke] um dich zur
ner Glieder« (Apollo-Beschreibungen 1995, 163). Betrachtung dieses Bildes zuzubereiten. Sammle Be-
griffe erhabener Dichter und versuche ein Schöpfer ei-
Auf der Ebene der Metapher, d. h. auf der Ebene des ner himmlischen Natur zu werden und wenn du in dir
sprachlichen Ausdrucks vollzieht sich die angestrebte selbst ein Bild [hervor gebracht] erzeuget [hast] und ei-
Verbindung von Kunst und Natur. ne vollkommene Gestalt [hervor gebracht hast] als
Liegt allen Fassungen der Beschreibung des Apollo dein Auge gesehen, hervorgebracht hast, als den tritt
von Belvedere ein produktionsästhetischer Schön- hinzu zu dem Bilde dieser Gottheit.« (Apollo-Beschrei-
heitsbegriff zugrunde, besteht jede Fassung aus Wie- bungen 1995, 156)
derholungen und Variationen. Konstant thematisiert –
wenngleich jeweils anders formuliert und konstru- Der religiöse Wortschatz kommt der schrittweisen
iert—bleibt das Interesse an der mythologischen Iko- Verinnerlichung des äußeren Sehaktes entgegen. Der
nographie (Apollo, der den Python ermordet), an der Betrachter wird zu einem Abstraktionsprozess stimu-
Auflistung der einzelnen Körperteile, mit denen die liert, an dessen Ende die Wahrnehmung der ideali-
nach Stilkriterien orientierte Epochendatierung (man sierten Gestalt in der konkreten Statue steht. Gleich-
denke etwa an die Haargestaltung) verbunden ist, an zeitig zielt die Entsprechung von äußerem und inne-
der Historisierung (die fehlenden Teile verweisen auf rem Blick darauf, die Idee des Kunstwerks zu eruieren:
den Zeitverlauf). Allmählich tritt aber immer deutli- Apollo versinnbildlicht die Schönheit. Das Gespräch
cher der ästhetische Maßstab in den Vordergrund, der mit dem Leser fortführend, erinnert W. an die pygma-
eine Problematisierung der Ekphrasis mit sich bringt, lionische Attitüde der Belebung. Auch darin assimi-
so dass in der endgültigen Fassung der Geschichte der liert sich der Betrachter mit dem Künstler: »Eine mit
Kunst die Apollobeschreibung an die Grenzen der Be- Bestürzung vermischte Verwunderung wird dich [ei-
schreibungsmöglichkeit gerät: »Wie ist es möglich es nem] außer dich setzen wie dort den Pygmalion unter
zu malen und zu beschreiben. Die Kunst selbst müßte deßen Händen sein Bild leben u. Bewegung bekam: ja
mir rathen und die Hand leiten, die ersten Züge welche das Körperliche wird dir geistig [erscheinen]werden«
ich hier entworfen habe, künftig auszuführen« (GK1, (Pfotenhauer u. a. 1995, 157).
SN I,1, 780; Apollo-Beschreibungen 1995, 166). Von Der pygmalionische Blick kann sich nur dank einer
diesem Endpunkt aus, von der Inszenierung der Ratlo- Sprache verwirklichen, die sich als poetisch versteht.
sigkeit des Autors seiner textuellen Arbeit gegenüber, Schon in einem auf das Jahr 1756 datierten Brief an
kann man rückschauend alle früheren Fassungen als seinen Freund Oeser das Projekt der Beschreibung in
Versuche verstehen, die variierend um das Thema der den Blick nehmend, deutet W. auf eine solche sprach-
Deskription kreisen. So lautet das Incipit der ersten liche Forderung hin (Br. I, 214). Nicht zufällig bezieht
Fassung des Pariser Manuskripts: »Ich unternehme sich der Prosastilist explizit auf Homer (die zweite
(die) Beschreibung eines Bildes welches über alle Be- Fassung des Pariser Manuskripts enthält ein langes Zi-
griffe menschlicher Schönheit erhaben (ist)« (Apollo- tat aus der Ilias). Alle Apollo-Bilder, so W.s Auffas-
Beschreibungen 1995, 156). In der plakativen Erklä- sung, finden darin ihren Ursprung. Aber der Bezug
rung der ästhetischen Auslegung ergreift das Ich des auf den griechischen Dichter dient eigentlich als all-
Betrachters das Wort, denn seine subjektive Perspekti- gemeiner Hinweis auf die Poesie schlechthin. W. war
ve zeigt sich als Voraussetzung der Beschreibung sich der Tatsache bewusst, dass er für seine Beschrei-
selbst. Aus der sinnlichen Rührung entsteht jene emo- bungen eine Sprache erfinden musste, die es zuvor
tive Teilnahme, die den Geist ernähren kann. Die Be- nicht gegeben hatte. Eine Sprache, die poetisch zu wir-
16 Kunstbeschreibungen 149

ken hat und die sich an den Vorbildern der antiken gesamt sechs Fassungen erhalten: drei davon blieben
Autoren orientiert. unpubliziert, drei wurden jeweils in einer Zeitschrift,
in W.s Abhandlung Versuch einer Allegorie, besonders
für die Kunst (1766) und in der Geschichte der Kunst
Torso
des Alterthums veröffentlicht. Die Torsobeschreibung
Die Poetizität der Sprache W. s findet in der von Au- ist auch die einzige, die 1759 als selbstständiger Text in
gust Wilhelm Schlegel als »hinreißender Dythiram- der Zeitschrift Bibliothek der Schönen Wissenschaften
bus« bezeichneten Torsobeschreibung ihren Aus- und der freyen Künste erschien. Dominiert noch in der
druck. Hier hat der Betrachter bzw. Verfasser eine ersten Fassung des Florentiner Manuskripts das Per-
neue Aufgabe zu bewältigen, denn er muss die ver- sonalpronomen »man«, das auf eine Kollektivierung
stümmelte Statue eines männlichen Körpers schil- der Rezeption anspielt, wird der Sprecher schon in der
dern, die als Fragment Ende des 15. Jh. in der rö- zweiten Fassung vom Ich des Betrachters vertreten,
mischen Villa des Kardinals Prospero Colonna aus- der prompt den Sehkontakt mit dem Gefühl des Ver-
gegraben worden war. Einerseits signalisiert das Frag- lusts in Verbindung bringt: »Wenn ich den Torso von
ment auffällig die Grenzen der Ekphrasis, andererseits Belvedere besehe, so weiß ich nicht, ob ich mehr trau-
strebt die Unsagbarkeit des Verlusts nach der Sagbar- rig über den Verlust der schönen Glieder oder fröhlich
keit der Beschreibung, besser gesagt, nach der Integra- über den wunderschönen Körper, so uns übrig bleibt,
tion der Worte, die ihrerseits von der dichterischen seyn soll« (Torso-Beschreibungen 1995, 169). Aus der
Gesinnung des Verfassers zeugen: die poetische Spra- Komplexität einer solchen Bilanz sucht der Text seine
che wird notwendig, um die unwiederbringliche Ver- Identität.
gangenheit zu rekonstruieren. In Anlehnung an die prominente Stellung der
An keiner anderen Beschreibung hat W. so intensiv Skulptur in der Kunstgeschichte (schon in der ersten
gearbeitet wie an der des Torso. Von ihr sind ins- Fassung im Florentiner Manuskript ist vom Torso des
Michelangelo die Rede) fängt W. nach dem allgemei-
nen theoretischen Incipit mit der eigentlichen Be-
schreibung an, indem er den Leser zum Schauenden
macht und ihm den Raum der Betrachtung eröffnet:
»Ich führe dich itzo zu dem so viel gerühmten, und
niemals genug gepriesenen Trunk eines Herkules«
(Torso-Beschreibungen 1995, 175). Der Betrachtungs-
raum wird zur Voraussetzung einer Vision, die nicht so
sehr eine Vergegenwärtigung des Kunstobjekts wie die
innere Teilnahme des Betrachters beabsichtigt. Die
Einfühlung erlaubt ihm, den Prozess der Idealisierung
mimetisch zu wiederholen: »so lernet hier, wie die
Hand eines schöpferischen Meisters die Materie geistig
zu machen vermögend ist« (Torso-Beschreibungen
1995, 178).
Im Fall des Torso sieht sich W. vor die Aufgabe ge-
stellt, die zerstückelte Statue auf ein verlorenes Ganzes
zurückzuführen. Der mentale Prozess der Rekon-
struktion erfordert die Aktivierung der Phantasie: die
Materialität des Fragments entspricht der Notwendig-
keit einer Abstrahierung, die eine fiktive Erzählung in
Anspruch nimmt. Von der (wenn auch irrtümlichen)
Ikonographie der Statue als Herkules (Held- und
Gottgestalt treten vereinigt auf) ausgehend, imagi-
niert W. die Heldentaten der mythologischen Figur
vor dem Hintergrund einer phantastischen bzw. my-
thischen idealen Landschaft, die als Szenarium eines
Abb. 16.2 Torso von Belvedere. Rom, Vatikanische Museen. erdichteten Griechenlands die harmonische Eintracht
150 III Werke

zwischen Natur und Körper, Ruhe und Bewegung he- So lässt die Beschreibung zunehmend die stoffliche
raufbeschwört: Betrachtung (mit der damit zusammenhängenden
Rekonstruktion der restaurierten Teile) hinter sich,
»Ich sehe in den mächtigen Umrissen dieses Leibes die um einen stilistisch immer höheren Grad an Abstrak-
unüberwundene Kraft des Besiegers der gewaltigen tion zu erreichen. Gleichzeitig wird hier das ästheti-
Riesen, die sich wider die Götter empöreten, und in sche Programm deutlicher ausgedrückt: »Denn es ist
den phlegräischen Feldern von ihm erleget wurden; nicht zu sagen, daß etwas schön ist: man soll auch wis-
und zu gleicher Zeit stellen mir die sanften Züge dieser sen, in welchem Grade, und warum es schön sey«. Die
Umrisse, die das Gebäude des Leibes leicht und gelenk- Abstraktion stimmt mit der Begeisterung des Archäo-
sam machen, die geschwinden Wendungen desselben logen zusammen, der die Revitalisierung der Statue
in dem Kampfe mit dem Achelous vor, der mit allen als eine Sakralisierung versteht: der priesterliche Ton
vielförmigen Verwandlungen seinen Händen nicht der Beschreibung entspricht der Faszination des als
entgehen können« (Torso-Beschreibungen 1995, 176). Reliquie verehrten Fragments.
Endet die Schrift über die Allegorie mit der Torso-
Werden die verschiedenen Heldentaten zuerst in der beschreibung, markiert sie das Muster einer ergän-
selbstständigen Fassung aus dem Jahre 1762 evoziert zenden Beschreibung, die eine nicht mehr erkennbare
und im späteren Versuch einer Allegorie wiederauf- mythologische Figur mit Worten zu rekonstruieren
genommen, suggerieren sie eine mimetische Verfah- hat: nach W.s Auffassung soll jede Allegorie Missver-
rensweise der Beschreibung: der fragmentarischen ständnisse vermeiden, die Gestalten verständlich und
Skulptur korreliert die gleichfalls fragmentarische Evo- deutlich in ihrer Bedeutung vorstellen. Mit der Torso-
kation der Taten. Dass das Fragmentarische zur Rheto- beschreibung bestätigt die Allegorie den erzähleri-
rik der Beschreibung gehört, bestätigt übrigens der Au- schen Hintergrund der Kunst, d. h. die angestrebte In-
tor selbst, indem er gerade in der umfassendsten Ver- tegration von Bild und Geschichte, Mythos und Kunst.
sion der Torsobeschreibung in der Leipziger Zeitschrift Nach einer dichten Aneinanderreihung von Beispie-
auf das Unvollendete der Form hinweist: »es ist daher len, einem wahren Vorrat an Wissen und an Bildern,
dieser Entwurf, über welchen ich viel und lange ge- klingt die Abhandlung aus, die sich an die Künstler
dacht habe, ungeendiget geblieben, und gegenwärtige wendet. Als letzte in dieser Reihe exemplifiziert die
Beschreibung selbst möchte noch die letzte Hand nö- Torsobeschreibung die Verbindung des Sichtbaren
thig haben« (Torso-Beschreibungen 1995, 174). Die mit dem Unsichtbaren: der semantische Inhalt der
Handlungen, d. h. das imaginierte Leben, ersetzen die griechischen Kunst wird im Ausdruckspotential des
fehlenden Teile und vervollkommnen das Fragment als grandiosen Fragments wiedergefunden.
unentbehrliches Hilfsmittel zu deren Wahrnehmung.
Die Literarisierung der Beschreibung, wie sie W. ver- Quellen
stand, ist nicht zuletzt auf metaphorischer Ebene spür- Apollo- Beschreibungen, Torso-Beschreibungen. In: Pfoten-
bar, die immer mehr Raum einnimmt. Was in der drit- hauer, Helmut/Bernauer, Markus/Miller, Norbert (Hg.):
Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckel-
ten Fassung des Florentiner Manuskripts stichpunkt- mann, Mengs, Heinse. Frankfurt a. M. 1995, 148–166;
artig notiert wurde (hier wird das Wort »Meereswelle« 167–185.
einfach vermerkt), entwickelt sich zu einer der be-
rühmten organischen Metaphern W.s, die auf der Ko- Forschung
inzidenz zwischen Kunst und Natur basiert: Adam, Wolfgang: Kanon und Generation. Der Torso von
Belvedere in der Sicht deutscher Italienreisender des
»So wie in einer anhebenden Bewegung des Meers die 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 97 (2003), 419–458.
Borbein, Adolf H.: Über die rechte Art »die Augen zu öff-
zuvor stille Fläche in einer lieblichen Unruhe mit spie-
nen«: Karl Philipp Moritz zu Winckelmanns Statuen-
lenden Wellen anwächst, wo eine von der anderen ver- beschreibungen. In: Bruer, Stephanie-Gerrit/Rößler, Det-
schlungen, und aus derselben wiederum hervor- lef (Hg.): »... die Augen ein wenig zu öffnen« (J. J. Win-
gewälzt wird: eben so sanft aufgeschwellt und schwe- ckelmann). Der Blick auf die Antike von der Renaissance
bend gezogen, fließet hier eine Muskel in die andere, bis heute. Festschrift für Max Kunze. Ruhpolding/Mainz
und eine dritte, di sich zwischen ihnen erhebet, und ih- 2011, 72–77.
Catalano, Gabriella: Sintassi testuale e stile nella Kunst-
re Bewegung zu verstärken scheinet, verlieret sich in
beschreibung di Winckelmann. A proposito delle descri-
jene, und unser Blick wird gleichsam mit verschlun- zioni del Torso del Belvedere. In: Held, Heinz Georg (Hg.):
gen« (Torso-Beschreibungen 1995, 176–177).
16 Kunstbeschreibungen 151

Winckelmann und die Mythologie der Klassik. Narrative mal erinnern, daß wir das Wort Physiognomik in einem
Tendenzen in der Ekphrase der Kunstperiode. Tübingen eingeschränkteren Sinn nehmen und darunter die Fer-
2009, 151–162. tigkeit verstehen, aus der Form und Beschaffenheit der
Consoli, Paolo: Il Museo Pio Clementino. La scena dell’ anti-
äußeren Theile des menschlichen Körpers, hauptsäch-
co in Vaticano. Modena 1996.
Décultot, Élisabeth, Le spectateur comme Pygmalion. In: lich des Gesichts, ausschließlich aller vorübergehen-
Johann Joachim Winckelmann: De la description. Paris den Zeichen der Gemütsbewegungen, die Beschaffen-
2008, 5–41. heit des Geistes und Herzens zu finden; hingegen soll
Kunze, Max (Hg.): Il manoscritto fiorentino di J. J. Winckel- die ganze Semiotik der Affekten oder die Kenntnis der
mann. Das Florentiner Winckelmann-Manuskript. Mit
natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen nach al-
einer Einleitung von Maria Fancelli. Florenz 1994.
Pfotenhauer, Helmut: Zerstückelung und phantasmatische len ihren Gradationen und Mischungen Pathognomik
Ganzheit. Grundmuster ästhetischer Argumentatio in heißen.« (Ueber Physiognomik, 23)
Klassizismus und Antiklassizismus um 1800. Winckel-
mann, Moritz, Goethe, Jean Paul. In: Agazzi, Elena/ In Lichtenbergs kritischer Lektüre von Lavaters Tex-
Koczisky, Eva (Hg.): Der fragile Körper. Zwischen Frag- ten mündet die breite Debatte über Physiognomie in
mentierung und Ganzheitsanspruch. Göttingen 2005,
121–131.
eine direkte Gleichsetzung von Gesichtszeichen und
Seeba, Hinrich C.: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wir- moralischen Eigenschaften.
kungsgeschichte eines unhistorischen Historikers zwi- W. verfasste seine Schriften, bevor die physio-pa-
schen Ästhetik und Geschichte. In: DVjs 56 (1982), 168– thognomische Debatte im 18. Jh. Konjunktur hatte,
201. und verwendet den Physiognomie-Begriff nicht. Seit
Ueding, Gert: Imitatio – Perfectio – Ornatus. Die rhetori-
den Gedancken über die Nachahmung aus dem Jahr
sche Grundlegung von Winckelmanns Ästhetik. In: Rau-
let, Gérard/Schmidt, Burghart (Hg.): Kritische Theorie 1755 richtet sich aber seine Aufmerksamkeit auf das
des Ornaments. Wien, Köln, Weimar 1993, 45–54. Gesicht und die Emotionen, die in seiner Darstellung
Winner, Matthias/Andreae, Bernard/Pietrangeli, Carlo zum Ausdruck kommen. Seine einschlägigen Ausfüh-
(Hg.): Il cortile delle statue. Der Statuenhof des Belvedere rungen sind mit Blick auf die barocken Exzesse pole-
im Vatikan. Mainz 1998. misch, werden aber sorgfältig und konstruktiv, wenn er
Wünsche, Raimund: Der Torso. Ruhm und Rätsel. München
1998.
die Mal- und Bildhauerkunst der Griechen betrachtet.
Zeller, Hans: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im »Pathognomik« ist weniger gebräuchlich und
Belvedere. Zürich 1955. schwerer fassbar als »Physiognomik«. Je nach Fach-
gebiet entwickelte sich der Pathognomik-Begriff un-
Gabriella Catalano
terschiedlich. Im Feld der Medizin nimmt er eine di-
agnostische Bedeutung an; seit dem Beginn des 17.
und während langer Phasen des 18. Jh. wird er in der
16.4 Kunstbeschreibung und Pathognomik Moralphilosophie verwendet. Im Zeichen der Patho-
gnomik werden Seelenbewegungen und verborgene
Prämisse und Definition
Intentionen erforscht. Für Künstler und Schriftsteller
Die Beziehung zwischen Gesichtsausdruck und Lei- sind pathognomische Kenntnisse ein Mittel, um in
denschaften in der künstlerischen Darstellung ist ein Gemälden, in der Literatur und auf dem Theater auf
zentrales Thema in W.s Werk. Die Erforschung des getreue und glaubwürdige Weise Emotionen dar-
Zusammenhangs zwischen Emotion und Ausdruck zustellen. Im Zeichen der Pathognomik werden von
und die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten sei- der zweiten Hälfte des 18. Jh. an neue Figuren auf neue
ner künstlerischen Darstellung haben ihre Wurzeln in Weise dargestellt (La Manna 2012, 12).
der Antike und sind dort mit dem Begriff Pathogno-
mik eindeutig definiert. Dieser Begriff wird im Fol-
Ursprünge
genden im Sinne von Georg Christoph Lichtenbergs
Definition aus dem Jahr 1784 verwendet. Die Definiti- Um die Bedeutung der Pathognomik für W. zu verste-
on war ein Beitrag zu der physiognomischen Debatte, hen, ist es hilfreich, einige Etappen ihrer Geschichte
die nach der Veröffentlichung von Texten Lavaters nachzeichnen.
ausgebrochen war: Die Ursprünge der Pathognomik liegen in der Me-
dizin, wo sich ihre Spuren bis heute erhalten haben.
»Um allem alten Mißverständnis auszuweichen und Einige Texte des Corpus Hippocraticum und des Cor-
neuem vorzubeugen, wollen wir hier einmal für alle- pus Aristotelicum, vor allem die pseudoaristotelische
152 III Werke

Schrift De Physiognomia (3. Jh. v. Chr.), stellen mit in der Darstellung von Leidenschaften auf Leinwand-
großer Präzision Verbindungen zwischen Gesichts- gemälden zu unterweisen. Im Mittelpunkt steht die
zügen und Seelenregungen her. Die nachfolgende Li- Frage, wie ein Verständnis des Subjekts erarbeitet wer-
teratur setzt drei unterschiedliche Schwerpunkte: Sie den kann: Das Studium des Gesichts bezieht sich nicht
will einerseits Parallelen zwischen Mensch und Tier mehr nur auf einzelne Elemente wie die Gesichtszüge,
herstellen; ihr Interesse richtet sich zweitens, auf der das Kolorit und die Zeichen, aus denen es zusammen-
Basis von somatischen Charakteristiken, auf den gesetzt ist, sondern widmet sich vor allem der Dyna-
Menschen. Einen dritten Schwerpunkt bilden die äu- mik der Leidenschaften, die nur in der inneren Bewe-
ßere Erscheinung von Emotionen und Leidenschaften gung wahrnehmbar ist. Die Vorträge befassen sich
und die Dispositionen der Seele. insgesamt mit dem, was Lichtenberg als Pathognomik
Dieser dritte Bereich ist der eigentlich pathogno- definiert hätte, nämlich mit den im körperlichen Aus-
mische, in dem Haltungen und Emotionen untersucht druck sichtbaren Leidenschaften der Seele. Für den
werden, die in einem bestimmten Moment auftreten. Künstler besteht eine Entsprechung zwischen einer je-
Die Rhetorik befasst sich hauptsächlich mit diesem den Leidenschaft und bestimmten Muskelbewegun-
Gebiet, wie Passagen aus den Werken des Aristoteles gen; das Ergebnis sind immer komplexere und schwie-
und später Quintilians zeigen. Auch in Senecas De Ira riger zu identifizierende Kombinationen.
findet man eine auf das Temperament bezogene Inter- Von diesem Zeitpunkt an entsteht eine neue Lesart
pretation des Körper- und vor allem des Gesichtsaus- der Leidenschaften und gleichzeitig ein neuer, mit dem
drucks. Besondere Aufmerksamkeit widmet Seneca Gesichtsausdruck verbundener Begriff der Pathogno-
der Frage, auf welche Weise Leidenschaften an äuße- mik, der kein statisches, taxonomisches System be-
ren Anzeichen des Körpers abgelesen werden können. zeichnet. Er wird schrittweise im Sinn eines hochent-
Um die Mitte des 17. Jh. erscheinen grundlegende wickelten Systems von Aktionen und Reaktionen de-
Schriften zu dieser Thematik: 1646 Les passions de finiert und ist Gegenstand unterschiedlicher, aber
l’âme von Descartes, 1659 Les charactères des passions doch miteinander verbundener Disziplinen: der Medi-
zusammen mit L ’art de connaître les hommes von Ma- zin, der Anthropologie und der Literatur.
rin Cureau de la Chambre und 1668 Conférence sur
l’ expression générale et particulière des passions von
Moralphilosophie und Medizin
Charles Le Brun. Marin Cureau de la Chambre (1594–
1669) vertritt entschieden die Auffassung, dass jede In der Philosophie des 18. Jh. rückten anthropologi-
Leidenschaft sich am Körper manifestiert. Es gibt für sche Fragestellungen in den Mittelpunkt; mit der Pa-
ihn einen direkten Zusammenhang zwischen den Be- thognomik trafen sie sich im Interesse an den mensch-
wegungen der Seele und den äußerlichen Zeichen des lichen Leidenschaften und ihrer Kontrolle; die er-
Körpers. Den Gemütsbewegungen eines sensiblen kannten Mechanismen sollten im sozialen, politi-
Geistes entsprechen Dilatation und Kontraktion des schen oder privaten Bereich nutzbar werden. Im
Körpers, die äußerliche Manifestationen der Leiden- Philosophischen Lexicon von Johann Georg Walch
schaft auslösen. (1726) ist »Caracterisieren« der Terminus, der am
besten das Pathognomische beschreibt. Walch stellt
heraus, dass der Begriff von den Moralisten gebraucht
Charles Le Brun und die Malerei
werde und die Kunst bezeichne, »die menschlichen
Zwischen Pathognomik und Kunstbeschreibung be- Gemüther« zu erforschen und zu erkennen. (In der
steht ein enger Zusammenhang, auch wenn ihr Ver- Medizin wird dieses Gebiet auch Semiotik genannt.)
hältnis im 17. und 18. Jh. sehr breit und kontrovers Unter diesem Stichwort verweist Walch auch mehr-
diskutiert wurde. Charles Le Brun (1619–1690), erster mals auf Christian Thomasius. Letzterer hatte zwi-
Maler Ludwigs XIV. und verantwortlich für Dekora- schen dem Ende des 17. und dem Beginn des 18. Jh.
tionen im Louvre und in der Spiegelgalerie von Ver- eine Reihe von Studien zu den körperlichen Äußerun-
sailles, verfasste zwischen 1668 und 1671 eine Reihe gen von Gefühlen verfasst, mit deren Hilfe das reale
von Vorträgen über die Expression générale et particu- Verhalten der Menschen beurteilt werden sollte. Tho-
lière des passions. Sie wurden nach seinem Tod von masius’ Schrift Die neue Erfindung einer wohlgegrün-
seinen Schülern Henri Testelin im Jahr 1696 und Ber- deten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wis-
nard Picart 1698 veröffentlicht. Die von Le Brun ge- senschaft / Das Verborgene des Hertzens anderer Men-
haltenen Vorträge hatten den Zweck, junge Künstler schen auch wider ihren Willen aus der täglichen Con-
16 Kunstbeschreibungen 153

versation zu erkennen steht am Beginn einer Tradition, den eine neue Forschungsrichtung zur Beziehung zwi-
die sich der Erforschung des Gesichts und seines Aus- schen Körper und Seele. Sie tragen dazu bei, die Bezie-
drucks widmet und zu einem besseren Verständnis hungen zwischen Medizin und Philosophie neu zu de-
von sozialem Handeln führen soll. Die an Friedrich finieren. Es entsteht ein doppelter Forschungsstrang,
III. von Brandenburg gerichtete Briefform drückt den der die Bezeichnung »Weltweisheit und Artzneyge-
Anspruch auf öffentliche Bedeutsamkeit aus und reiht lahrheit« erhält. Dieser neue Ansatz, vor allem ein er-
den Text unter die Abhandlungen zur »prudentia po- neutes Interesse an den Emotionen und der Verbin-
litica« ein. Thomasius hebt hervor, dass derartige Un- dung von Leib und Seele, sind grundlegend für den
tersuchungen auch für das alltägliche Leben nötig sei- Diskurs über den Gesichtsausdruck und die Patho-
en, damit ein jeder anhand der Mimik verstehe, was gnomik. Die einschlägigen Schriften richten sich, teil-
der andere vortäuschen oder verbergen möchte. weise ausdrücklich, auf die direkte Beobachtung von
Viele Veröffentlichungen folgten den Anregungen äußerlichen Anzeichen der Seelenregungen. Die Un-
von Thomasius und versuchten, unterschiedliche Me- tersuchungen dieser Mediziner waren dazu bestimmt,
thoden zu beschreiben, um die menschlichen »Ge- Affekte, Emotionen und Motivationen auf der Grund-
müther« einzuschätzen. Die Abhandlungen betreffen lage des menschlichen Verhaltens zu analysieren. Jo-
Gebiete wie Diplomatie und Konversation, aber auch hann Gottlob Krüger (1715–1759) war bis 1751 Pro-
religiöse Zusammenhänge. Es entstanden Hand- fessor für »Weltweisheit und Arzneygelahrheit« in
bücher, die dazu anleiteten, den Gesichtsausdruck in Halle. Im Versuch einer Experimental-Seelenlehre un-
verschiedenen Situationen zu entschlüsseln. Auch tersucht Krüger ausführlich, wie »die Seele in den Leib,
Christian Wolff nahm an der Debatte über die Frage und der Leib in die Seele würcket« (Krüger 1756, 319).
teil, ob es möglich sei, die menschliche Seele anhand Der ganze Text widmet sich der genauen Betrachtung
äußerlicher Zeichen auf dem Gesicht zu ergründen. des menschlichen Körpers und des Gesichts. Das elfte
Das vierte Kapitel der Vernünfftigen Gedancken von Kapitel wendet sich den Emotionen zu und befasst sich
der Menschen Thun und Lassen zu Beförderung ihrer im Besonderen mit dem Gesichtsausdruck. Krüger un-
Glückseligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgethei- tersucht dessen Ursprung und seine Manifestationen;
let aus dem Jahr 1720 befasst sich mit dem Thema. Es aus den Impulsen gehen die Leidenschaften hervor
ist betitelt Von einigen allgemeinen Regeln der Men- und setzen den Körper in Bewegung, seine beweg-
schen Gemüther zu erkennen. Der Autor zeigt sich lichen wie unbeweglichen Teile. Diese Körperbewe-
skeptisch gegenüber der Möglichkeit, die Gesichtszei- gungen, die die Affekte begleiten, können gewollter
chen eindeutig zu interpretieren, auch wenn er eine oder ungewollter Natur sein. Krüger hält für unmög-
Beziehung zwischen Emotionen, Leidenschaften und lich, dass die unwillkürlichen Bewegungen des Kör-
Gesichtsausdruck anerkennt. pers und des Gesichts bei einer genauen und spezi-
Generell widmen sich die genannten Texte dem fischen Beobachtung erkannt werden – selbst wenn
Versuch, Gemütszustände und Gemütsbewegungen Täuschung und Dissimulation im Spiel sind.
aus den auf dem Gesicht erscheinenden Zeichen zu er- Johann August Unzer (1727–1799) ist der bekann-
kennen, und zwar aus einer im Wesentlichen psycho- teste Autor des Kreises in Halle. Seine Untersuchun-
logischen Perspektive. Die gerade entstehende An- gen der äußerlichen Manifestationen von Gefühlen
thropologie, nicht mehr in erster Linie die Philosophie und Emotionen sind noch feinsinniger und führen
wird jetzt als der geeignete Rahmen betrachtet, um weiter als die seines Lehrers Krüger. In der Neuen Leh-
einschlägige Untersuchungen durchzuführen. Um die re von den Gemüthsbewegungen postuliert Unzer, dass
Zeichen des Gesichts lesen zu können, ist neben der jede Empfindung im Körper eine Bewegung auslöst,
Fähigkeit, hinter die äußerlichen Details zu blicken, die sich proportional zu dem Gefühl verhält, das sie
auch die Kenntnis der Mechanismen erforderlich, die verursacht hat (Unzer 1746, 24). So verbindet er Me-
am Zustandekommen des Ausdrucks beteiligt sind. dizin und Physiologie mit der Philosophie. Zusam-
Um die Mitte des 18. Jh. richtet sich die Aufmerksam- men mit den Gedancken vom Einflusse der Seele in ih-
keit auf die Beziehung zwischen Innerlichkeit und Äu- ren Körper bildet dieser Text das bedeutendste Zeug-
ßerem, zwischen Seele und Körper; die Debatte um nis einer anthropologischen Theorie, in deren Rah-
den Gesichtsausdruck findet ihren Höhepunkt bei den men physische und psychische Erscheinungen neu
sogenannten Mediziner-Philosophen in Halle, die eine ausgelegt und die Affektenlehre dem Zuständigkeits-
regelrechte anthropologische Revolution auslösten bereich der Philosophie entzogen werden. So wie je
(Zelle 2001, 5). Die Mediziner-Philosophen begrün- nach Gesicht der Ausdruck des Lachens sich unter-
154 III Werke

scheidet und verändert, wechseln nach Unzer auch die sich permanent auf dem Gesicht abbilden, auch wenn
Gesichtszüge, auf denen sich alle Leidenschaften und die auslösende Emotion längst vergangen ist.
Gedanken abzeichnen. Das Geheimnis des Gesichts-
ausdrucks ist ihr gemeinsamer Nenner, der sie trotz
Kunstbeschreibung und Pathognomik
aller individuellen Unterschiede dem aufmerksamen
Beobachter verständlich macht. W. befasste sich während seiner Zeit in Dresden aus-
Zu den Mediziner-Philosophen aus Halle gehört führlich mit der Frage der Darstellung von Emotio-
auch Ernst Anton Nicolai (1722–1802), ein Schüler nen. Er studierte einerseits eifrig die französischen
von Friedrich Hoffmann und Krüger. Beginnend mit Texte und bezog heftig Position gegen das Werk von
seiner Dissertation De dolore von 1745 verfasste Ni- Le Brun (Testa 2009, 89); andererseits kam er auch mit
colai zahlreiche Texte zu anthropologischen Fragen, Kreisen des Dresdner Hofes in Berührung, mit Adam
widmete sich dann ausführlich der Pathologie und Friedrich Oeser etwa und insbesondere mit Christian
näherte sich dem mechanistischen System seines Ludwig von Hagedorn. Daraus entstanden seine eige-
Lehrers Hoffmann an. In der Abhandlung vom dem ne ästhetische Lehre und seine Beziehung zu Barock
Lachen und in den Gedancken von Thränen und Wei- und klassischer Antike.
nen befasst sich Nicolai mit den Veränderungen, die Die den Gedancken über die Nachahmung aus dem
sich unter dem Eindruck von Affekten im Körper Jahr 1755 vorangestellte Titelvignette wurde von Oe-
vollziehen, und mit deren Ursachen. In der Abhand- ser radiert und zeigt den Maler Timanthes, der im Be-
lung von der Schönheit des menschlichen Körpers griff ist, das Opfer der Iphigenie darzustellen. Exem-
kommt er unter anderem auf Dramaturgie und Male- plarisch für das ganze Werk W.s akzentuiert die Dar-
rei zu sprechen. Das Gesicht steht bei der Betrachtung stellung die Aufmerksamkeit, die der Beschreibung
der Schönheit im Mittelpunkt: »Das angenehme und von Leidenschaften und Emotionen im Kunstwerk
unangenehme eines Gesichts gründet sich unter an- gilt, sei dieses ein Gemälde oder eine Skulptur. Der
dern auch auf die Minen und daher werde ich nicht Maler Timanthes bedeckt Agamemnons Gesicht, auf
umhin können, hiervon etwas zu erwähnen. Viele das er so eine besondere Aufmerksamkeit lenkt. Auf
Personen haben zwar ein häßliches Gesicht, aber edle, diese Weise zeigt er, dass das Kunstwerk eine zu direk-
angenehme und reizende Minen, andere hingegen te Beschreibung der Leidenschaften vermeiden und
haben ein schönes Gesicht, aber niedrige, unange- vielmehr ihre Andeutung wählen soll.
nehme und widrige Minen. Die ganze Sache beruhet Gut bekannt war W. die Schrift Lettre à un Amateur
auf die Vorstellungskraft der Seele, als welche ihre de la Peinture avec des Eclaircissemens Historiques sur
Empfindungen auf dem Gesichte abschildert« (Nico- un Cabinet et les Auteurs des Tableaux qui le composent
lai 1746, 54). des Kunsttheoretikers, Kunstsammlers und Diploma-
Schauspieler können, erkennbar für die Zuschauer, ten am sächsischen Hof Christian Ludwig von Hage-
Zorn oder Freude mimen, weil, so führt Nicolai aus, dorn (1712–1780). Hagedorn erörtert eingehend die
das Gesicht genau ausdrückt, was in der Seele ge- Frage der Darstellung von Emotionen. Ein Kapitel be-
schieht. So ist eine Person auch anziehender, wenn fasst sich mit dem Grafen Pietro Rotari (1707–1762),
zwischen dem, was sie sagt, und ihrem Gesichtsaus- der am Dresdner Hof von Friedrich August II. von
druck Übereinstimmung besteht. Die Mimik entsteht Sachsen als Porträtmaler arbeitete. Rotari stammte
durch schnelle und unmerkliche Muskelbewegungen, aus Verona; nach seiner Ausbildung bei Tiepolo und
deren Ablauf wir fast nicht wahrnehmen, was die Ge- Piazzetta arbeitete er ab 1750 für die kaiserliche Fami-
sichter so lebhaft und wandelbar macht, allerdings lie in Wien und ab 1752 in Dresden, wo er bis 1756
gleichzeitig auch die Deutung erschweren kann. blieb. Herausragend im Werk von Rotari ist die Serie
Nicolai ist der Ansicht, dass die Emotionen Ver- »verschiedene Köpfe«. Hagedorn zufolge besaß Rotari
änderungen im Gesicht bewirken, die vorübergehend in besonderem Maß die Fähigkeit, Emotionen auf
oder von langer Dauer sein können und manchmal dem Gesicht darzustellen:
das Gesicht auch permanent zeichnen. In diesem Zu-
sammenhang vertritt er die Hypothese, dass Kinder, »Ich übergehe den Grafentitel, den er sich als gerechte
die während ihrer Erziehung gedemütigt werden, als Belohnung für seine Talente in seinem Vaterland ver-
Erwachsene den Ausdruck derselben Demütigung auf dient hat, und spreche von diesen Talenten selbst und
ihrem Gesicht annehmen können, und dass im All- von dem Ausdruck als deren herausragendem Merk-
gemeinen Ausdrücke, die lange beibehalten werden, mal. Die Phantasieköpfe, die er von Zeit zu Zeit malte,
16 Kunstbeschreibungen 155

brachten ihn dazu, besonders die Leidenschaften zu von der Darstellung der Leidenschaften dreht sich be-
studieren, deren Untersuchung von den meisten gro- kanntlich um den Begriff des Parenthyrsos, den er von
ßen Malern sehr vernachlässigt worden war.« (Hage- Pseudo-Longinos übernahm. Unter dem Eindruck
dorn 1755, 24–25) des Parenthyrsos wird die Erfahrung des Sublimen
unmöglich, weil die Leidenschaften überwiegen (WA
Die von Rotari in Dresden gemalten Köpfe zeigen In- I, 83). Die Darstellung der Leidenschaften steht im
dividuen mit spezifischen Gesichtszügen, vor allem Mittelpunkt einer Debatte, die zuerst durch W.s
mit unterschiedlichem Gesichtsausdruck. Wahr- Schriften aufgeworfen und später von Lessing fort-
scheinlich inspirierten ihn die Vorlesungen von Le geführt wurde, insbesondere im Werk Laokoon oder
Brun zu ihrer Anfertigung. In vielen von Rotaris Wer- über die Grenzen der Malerey und Poesie. W. lehnt
ken ist eine Erzählstruktur zu erkennen, die Gesten zwar die übertriebene Imitation der Natur ab, doch in
und Haltungen nachzeichnet und dabei gängige Re- seinen Werken erscheint die komplexeste und facet-
geln überschreitet, um den Moment der Emotion fest- tenreichste Interpretation der Leidenschaften im
zuhalten. Kunstwerk, die das 18. Jh. hervorgebracht hat.
Unter den Malern, die W.s Aufmerksamkeit auf Mit der Beschreibung des Laokoon beginnt eine
sich ziehen, ist auch Roger de Piles (1635–1709) zu neue Ära der Kunstbeschreibung: W. betrachtet das
nennen. Er erweckte in W. zugleich Interesse und Ver- Kunstwerk polyperspektivisch und mit einer weiter
ärgerung wegen seiner Tendenz, sich von den traditio- reichenden sensoriellen Wahrnehmungsskala, als es
nellen Regeln zu entfernen, und wegen seiner ent- die schon vorliegenden Charakteristiken der Statue
schieden antiklassizistischen Position (WA I, 23). An vorgaben. In der Laokoon-Beschreibung spielt der
seinem Diskurs über die Malerei ist seine besondere Ausdruck der Leidenschaften und des Leidens eine
Konzentration auf die Darstellung von Emotionen entscheidende Rolle, gemäß der Kategorie der »Natur
von Interesse (de Piles, Abregé, I, 43). De Piles nimmt in Ruhe«, die schon Hagedorn erläutert hatte (Hage-
Descartes’ Lehre wieder auf und überträgt der Malerei dorn, Betrachtungen, I, 487). »Edle Einfalt und stille
die grundlegende Aufgabe, eine innerliche Wirklich- Größe« meint nicht die Eliminierung der Leiden-
keit zu beschreiben, die vorrangig die Bewegungen schaften, sondern die ihrer übertriebenen Manifesta-
der Seele und sekundär allegorische und imitative tion. In W.s Metaphorik: Die Leidenschaft verhält sich
Gesten betrifft. wie das Meer, das in der Tiefe bewegt ist und an der
Während seiner Jahre in Dresden befasste W. sich Oberfläche als ruhig erscheint. Der Vorwurf übertrie-
sehr ausführlich mit der Malerei, wie man dem Brief bener Zurschaustellung von Emotionen wird einige
an Uden vom 31.8.1749 entnehmen kann (Br. I, 91). In Jahrzehnte später auch das Thema einer Reihe von Sti-
seiner ersten Abhandlung aus dem Jahr 1752 be- chen sein, die von Daniel Chodowiecki 1780 angefer-
schreibt W. die Gemälde in der Galerie von Dresden, tigt und von Lichtenberg kommentiert wurden; ihr
die er schon 1749 besichtigt hatte. Die Beschreibung Titel ist »Natürliche und affektierte Handlungen« (er-
der vorzüglichsten Gemälde der Dreßdner Galerie wur- schienen im Göttinger Taschenkalender auf das Jahr
de ursprünglich für den Grafen von Bünau verfasst 1779 und 1780).
und 1753 an Berendis gesandt. Das Werk ist zwar un- Der stumme Schmerz, den Laokoon ausdrückt,
vollendet und fragmentarisch, enthält aber wichtige zeigt sich auf komplexe Weise an Muskeln und Nerven
Anregungen für nachfolgende Studien. Entsprechend und an dem geöffneten Mund; er macht die mora-
dem Kanon der Zeit konzentriert sich W. besonders lische Größe der Figur kenntlich. Die Frage nach Lei-
auf die Details von »Contour« und »Colorit«. Aus ei- denschaften und Emotionen ist nach dieser Lesart
nigen Passagen wird aber auch sein Interesse am Ge- grundlegend für das Verständnis von W.s Werk im
sichtsausdruck ersichtlich, z. B. bei seiner Beschrei- Rahmen der philosophischen, moralischen und äs-
bung der Werke von Correggio: »In den Gesichtern thetischen Tendenz der Zeit. Besonders bezeichnend
seiner Frauenzimmer ist etwas Schmachtendes und ist die Deutung der Stratonike von Gerard de Lairesse
Züchtiges; in männlichen Gesichtern, welche meh- im Sendschreiben über die Gedanken von der Nach-
renteils sehr blaß sind, etwas Trauriges und Denken- ahmung (WA I, 99–103) Wie die Beschreibung des
des« (Beschreibung, KS 4). Mädchengesichts zeigt, liegt das Augenmerk ganz auf
Von den Gedancken über die Nachahmung an ent- der Fähigkeit des Malers, eine starke Emotion, in die-
deckt W. die Manifestation des Leidens, wie aus der sem Fall die Scham, durch das Licht und den Gesichts-
Beschreibung des Laokoon deutlich wird. W.s Lehre ausdruck festzuhalten. Aus der Bildhauerkunst sei auf
156 III Werke

den Apoll von Belvedere verwiesen. Die Aufmerk- Nicolai, Ernst Anton: Gedancken von der Verwirrung des
samkeit wird hier auf das pathognomische Detail des Verstandes, dem Rasen und Phantasieren. Kopenhagen
Gesichts gelenkt: »Der weise Künstler, welcher den 1758.
Piles, Roger de: Abregé de la vie des peintres, avec des refle-
schönsten der Götter bilden wollte, setzte nun den xions sur leurs ouvrages. Paris 1699.
Zorn in der Nase, wo der Sitz derselben, nach den al- Pfotenhauer, Helmut/Bernauer, Markus/Miller, Norbert
ten Dichtern, ist, die Verachtung auf den Lippen: diese (Hg.): Frühklassizismus. Position und Opposition. Win-
hat er ausgedrücket, durch die hinaufgezogene Unter- ckelmann, Mengs, Heinse. Frankfurt a. M. 1995.
lippe, wodurch sich zugleich das Kinn erhebet, und je- Thomasius, Christian: Die neue Erfindung einer wohl-
gegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen
ner äußert sich in den aufgebläheten Nüsten der Na-
Wissenschaft / Das Verborgene des Hertzens anderer
se« (GK1, 168). Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Con-
Bei seiner Interpretation des Klassischen geht W. versation zu erkennen (1692). In: Ausgewählte Werke. Hg.
von einer Deutung der pathognomischen Zeichen des von Werner Schneiders. Bd. 22. Zürich 1994, 449–490.
Gesichts aus, die direkt aus der ästhetischen Lehre des Thomasius, Christian: Wahrhafftige Abbildung aller itzo im
17. Jh. stammt, stellt dabei aber moralische Eigen- Krieg begriffenen Hohe Potentaten und dero Generals.
Durch Beibringung verschiedener aus Betrachtung dero
schaften in den Mittelpunkt. Das Gesicht bildet das Actionen gezogenen Remarques. Mit einem Entwurff von
Zentrum von W.s Untersuchungen; es ist als Träger der Kunst, Gemüther der Menschen zu erkennen, worin
pathognomischer Zeichen Spiegel der Seele, aber vor gezeiget und untersuchet wird: I. ob eine solche Kunst zu
allem offenbart es neue Tiefen, die sich nicht definitiv finden, II. wie sie zu erlernen, III. wozu sie nütze und IV.
und eindeutig katalogisieren lassen. ob sie untrüglich sey. Cöln 1707.
Thomasius, Christian: Ausübung der Sittenlehre. In: Aus-
gewählte Werke. Hg. von Schneiders, Werner. Bd. 11. Zü-
Quellen rich 1999.
Hagedorn, Christian Ludwig von: Lettre à un Amateur de la Unzer, Johann August: Neue Lehre von den Gemüthsbewe-
Peinture avec des Eclaircissemens Historiques sur un Ca- gungen. Halle 1746.
binet et les Auteur des Tableaux qui le composent. Dres- Unzer, Johann August: Gedancken vom Einflusse der Seele
den 1755. in ihren Körper. Halle 1746.
Hagedorn, Christian Ludwig von: Betrachtungen über die Unzer, Johann August: Die Physiognomie. In: Der Arzt.
Mahlerey. 2 Bde. Leipzig 1762. Bd. 1. 38. Stück. Leipzig 1760, 193–205.
Krüger, Johann Gottlob: Zuschrift an seine Zuhörer von der Walch, Johann Georg: Philosophisches Lexicon. Leipzig
Ordnung, in welcher man die Arzneygelahrheit erlernen 1726.
müsse. Halle 1752. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von der Men-
Krüger, Johann Gottlob: Versuch einer Experimental-See- schen Thun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückselig-
lenlehre. Halle 1756. keit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle
Lavater, Johann Caspar: Von der Physiognomik. In: Hanno- 1720.
verisches Magazin (1772), 10. St., 146–192.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur
Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Forschung
Leipzig und Winterthur 1775–1778. Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschrei-
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der Mahlerey und Poesie. Berlin 1766. per l’ area tedesca. In: Agazzi, Elena/Beller, Manfred (Hg.):
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die Physiognomen. Göttingen 1778. XVIII e XIX secolo. Viareggio 1998, 29–49.
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klärungen zu 72 Monatskupfern von Daniel Chodowiecki. cheologia. Venezia 1993.
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Nicolai, Ernst Anton: Gedancken von den Würckungen der rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und
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Nicolai, Ernst Anton: Theoretische und praktische Behand- Groddeck, Wolfgang/Stadler, Ulrich: Physiognomie und
lung des Pulsschlages. Halle 1746. Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Indivi-
Nicolai, Ernst Anton: Abhandlung von dem Lachen. Halle dualität. Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburts-
1746. tag. Berlin 1994.
Nicolai, Ernst Anton: Abhandlung von der Schönheit des La Manna, Federica: Sineddoche dell’ anima. Il volto nel di-
menschlichen Körpers. Halle 1746. battito tedesco del Settecento. Milano 2012.
Nicolai, Ernst Anton: Gedancken von Thränen und Weinen. Magli, Patrizia: Il volto e l’ anima. Fisiognomica e passioni.
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17 »Von der Restauration der Antiquen« 157

Spallanzani, Mariafranca: Passioni dell’ anima, espressioni 17 »Von der Restauration der
del corpo. Note su Descartes e Le Brun. In: Moravia, Ser-
gio (Hg.) Atlante delle passioni. Milano 1993, 47–77.
Antiquen«
Testa, Fausto: Winckelmann e l’ invenzione della storia
dell’ arte. Bologna 1999.
Testa, Fausto: Il »campo largo« di Raffaello e le »invenzioni Obwohl W. die Texte, die er dem Thema der Antiken-
dei componimenti«. Pittura e retorica tra Alberti e l’ età di restaurierung widmen wollte, weder zu Ende brachte
Winckelmann. In: Held, Heinz-Georg (Hg.): Winckel- noch in den Druck gab, ist der Beitrag, den sie zur Res-
mann und die Mythologie der Klassik. Narrative Tenden- taurationskultur des Klassizismus leisten, doch mäch-
zen in der Ekphrase der Kunstperiode. Tübingen 2009,
tig und einflussreich, und zwar auf verschiedenen
61–113.
Weber, Gregor J. M. (Hg.): Pietro Graf Rotari in Dresden. Ebenen. Über die fragmentarischen Ausführungen
Ein italienischer Maler am Hof König Augusts III. Dres- hinaus, die W. in seinem veröffentlichten und unver-
den 1999. öffentlichten Werk niederschrieb, hatte er dank seiner
Zelle, Carsten: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleich- Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Bartolomeo Ca-
ursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um vaceppi direkt Anteil an der unter römischen Anti-
1750. In: Zelle, Carsten (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Halle-
sche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropolo-
kensammlern üblichen ergänzenden Restaurierungs-
gie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen praxis. Mit seinem platonischen Verständnis vom
2001, 5–24. Kunstwerk als sichtbarer »Hülle« (GK1, 162) einer im-
materiellen Idee definierte er ein gedankliches Mo-
Federica La Manna
dell, auf dessen Grundlage sich mit voller theoreti-
scher Legitimation eine Restaurierungsmethode ent-
wickeln sollte, die mindestens bis in die ersten Jahr-
zehnte des 19. Jh. hinein nicht nur in der Bildhauerei,
sondern auch bei der Restaurierung von Architektur-
denkmälern der klassischen Antike dominierte (vgl.
Testa 2004).
W.s Interesse an Fragen der Restaurierung scheint
eng mit der Bedeutung verknüpft zu sein, die die Er-
gänzung von antiken Statuen für seine Tätigkeit als
Altertumsforscher besaß (Gesche 1981; dies. 1982).
Dieses Problem stellte sich ihm mit brennender Ak-
tualität schon gleich nach seinem Eintreffen in Rom,
als er in direkte Berührung mit der antiken Bildhauer-
kunst kam, deren beschädigte oder fehlende Teile oft
mit einer gewissen Willkür ersetzt worden waren und
so einem zutreffenden Verständnis in historisch-stilis-
tischer, besonders aber in ikonographischer Hinsicht
im Wege standen.
Die Frage der ergänzenden Restaurierungseingriffe
erörtert er im Juni 1756 in der Notizensammlung Sa-
chen welche von neuem zu untersuchen sind zur Ab-
handlung der Restaur[ation] der Antiquen, die im
Band 68 des Pariser Nachlasses (Nachlass Paris, Bd. 68,
ff. 224r-231v) mit dem Titel Ville e Palazzi di Roma
enthalten ist (vgl. Schröter 1986). Hier wirft W. in ei-
ner Art Katalog, der sich an den römischen Sammlun-
gen orientiert, eine Reihe von Fragen zum Erhaltungs-
zustand der untersuchten Werke auf (Von der Restau-
ration der Antiquen, 73–76; vgl. ebd. 14–17; Florenti-
ner Winckelmann-Manuskript, 236).
Zu diesem Thema schrieb W. einen freilich nie ver-
öffentlichten Aufsatz: Im Frühjahr 1756 verfasst, wur-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_17, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
158 III Werke

de er im November desselben Jahres bei dem Verleger gen vorzunehmen, die auf fehlerhaften hermeneuti-
Walther in Dresden eingereicht, danach aber von W. schen Annahmen beruhten. Dazu liefert der Text eini-
selbst zurückgefordert, da er noch einige Veränderun- ge eindeutige Beispiele.
gen anbringen wollte. Den Text gab er jedoch an- Heftige Kritik an den Altertumskundlern übt W.
schließend nicht mehr zum Druck frei (vgl. Von der auch an einer späteren Stelle der Vorrede zur Geschich-
Restauration der Antiquen, 14–25; Florentiner Win- te (GK1, XVII–XIX), an der er die Ergebnisse der
ckelmann-Manuskript, 235–238). Außer bestimmten Überlegungen formuliert, die ihn seit seiner Ankunft
Reflexionen in anderen Werken W.s sind von den Be- in Rom beschäftigt hatten. Seine Reflexionen zum
trachtungen, die der Aufsatz Von der Restauration der Thema der bildhauerischen Ergänzungen fasst er hier
Antiquen hätte enthalten sollen, unter den überliefer- in aller Kürze zusammen und nimmt dabei zum Teil
ten Manuskripten des Autors immerhin wichtige, genau die Beobachtungen und Denkanstöße wieder
wenn auch bruchstückhafte und unzusammenhän- auf, die schon in seinen ältesten Notizen auftauchen.
gende Zeugnisse erhalten geblieben. Zwar geht es erneut um die korrekte ikonographische
Auf den vermutlich ersten Teil des Textes könnten Hermeneutik der antiken Werke, doch werden die Al-
sich die Aufzeichnungen des Florentiner Manuskripts tertumsforscher diesmal nicht beschuldigt, den Res-
beziehen, die unter dem Titel Sammlung zu der Ab- tauratoren fehlerhafte Interpretationen zu den Sujets
handlung[:] Von der Restauration der Antiquen zusam- der zu bearbeitenden Statuen suggeriert zu haben.
mengefasst sind: Es handelt sich um eine unsystemati- Vielmehr wirft W. ihnen vor, sie seien nicht in der La-
sche Reihe von Überlegungen und Fragestellungen, ge gewesen, diejenige sorgfältige Untersuchung der
die alle die Deutungsproblematik betreffen, die durch Werke vorzunehmen, die allein verhindern könne,
Ergänzung beschädigter Teile – insbesondere Kopf, dass hinzugefügte Teile für original und authentisch
Gliedmaßen und kennzeichnende Attribute – ent- gehalten würden und dass man bei der Bestimmung
stand und die man an vielen antiken Statuen der rö- des abgebildeten Sujets zu komplizierten und sogar
mischen Sammlungen beobachten kann (Florentiner »lächerlichen« Deutungen (GK1, XVII) gelange.
Winckelmann-Manuskript, 7–11; vgl. ebd. 235–238; Im Namen einer direkten Konfrontation mit den
Von der Restauration der Antiquen, 25). Kunstwerken, die W. stets als unverzichtbare Bedin-
Im Vorfeld einer korrekten Hermeneutik der anti- gung für eine richtige Annäherung an sie postuliert,
ken Werke äußert sich W. auch an einer Stelle der Vor- hält er Reproduktionen – Stiche wie auch Zeichnun-
rede zu den Anmerkungen über die Geschichte der gen – für ein potentiell irreführendes Medium. Seiner
Kunst des Alterthums (GK1, XVII–XIX) zur Frage Überzeugung nach machen sie jene materiellen Erken-
nach der Authentizität der »frey abstehende[n] Theile nungszeichen unlesbar, mit deren Hilfe man ergänzte
der Statuen« (AGK, IV–V), auf die wir später noch Stellen identifizieren kann, und tragen, weil Ergänzun-
eingehen werden (vgl. Gesche 1982, 445). gen für authentisch gehalten werden, zur Häufung von
Differenzierter und von kritischerem Bewusstsein falschen ikonographischen Zuordnungen bei.
gegenüber der ergänzenden Restaurierungsmethode Auch wenn W. in den Anmerkungen über die Bau-
geprägt sind die unter dem Titel Von den Vergehen der kunst der Alten (Baukunst, 34–35; vgl. Testa 2004, 90–
Scribenten über die Ergäntzungen gesammelten Aus- 91; ders. 2010, 357–361) darüber nachdenkt, wie man
führungen, heute im Band 57 des Pariser Nachlasses auf Malereien und Skulpturen abgebildete Baudenk-
(Nachlass Paris, Bd. 57, ff. 19–27; Von der Restauration mäler zur Verbesserung des Kenntnisstandes heran-
der Antiquen, 27–38). Wahrscheinlich stellen sie den ziehen könne, kommt er indirekt wieder auf das Pro-
Entwurf des zweiten Aufsatzteils zum Thema »Restau- blem der Restaurierung zurück. Er formuliert dabei
rierung« dar, an dem W. damals arbeitete (vgl. Von der die Prinzipien einer innovativen Kritik der ikonogra-
Restauration der Antiquen, 15–18). Die Polemik des phischen Quellen, die auf der Überprüfung der mate-
deutschen Archäologen richtet sich hier weder gegen rialen Authentizität eben dieser Quellen beruht, eine
den üblichen Brauch, die fehlenden Stellen der be- notwendige Voraussetzung, wenn man die Echtheit
schädigten Statuen zu ergänzen, noch gegen die für der Werke beurteilen und gesicherte Erkenntnisse da-
diese Eingriffe verantwortlichen Restauratoren; sie raus gewinnen möchte. Auf die Reproduktionen von
wenden sich vor allem gegen die Altertumsforscher, Basreliefs, fast immer Stiche, nehmen die Gelehrten
die mangels eines wirklichen Kunstverständnisses die zu oft mit einer gewissen Oberflächlichkeit Bezug und
mit der Restaurierung beauftragten Künstler dazu an- verwenden sie wie zuverlässige Quellen für die Erfor-
hielten, unsachgemäße und irreführende Ergänzun- schung der antiken Baukunst; nach W. hingegen müs-
17 »Von der Restauration der Antiquen« 159

sen die Reliefs einer gewissenhaften direkten Prüfung phischen und historisch-stilistischen Interpretation
unterzogen werden. Eine unmittelbare Untersuchung gelten können (vgl. Testa 2004, 88).
der Bauwerke selbst, die sich auf eine solide Kenntnis Trotz seiner Kritik und seiner Haltung gegenüber
der Altertümer stützt und nicht durch das Medium der Gewohnheit, die fehlenden Teile beschädigter
der Stiche ersetzt werden kann, ist ebenso unverzicht- Werke zu ersetzen, die nach W. potenziell eine Gefahr
bar, um »die Zusätze an alten Werken von diesen für die korrekte Deutung des bildhauerischen Werkes
selbst zu unterscheiden« (Baukunst, 34) . darstellte, trug er de facto durch seine Tätigkeit in der
Um Abhilfe gegen die durch den Gebrauch von Sti- Villa Albani und seine Zusammenarbeit mit Bartolo-
chen verursachten hermeneutischen Verzerrungen zu meo Cavaceppi dazu bei, der ergänzenden Restaurie-
schaffen, schlägt W. an der oben genannten Stelle der rung zu neuer Würde zu verhelfen: Er verstand diese
Vorrede zur Geschichte (GK1, XVII–XIX) vor, »Die Er- als einen Eingriff, der eng mit der interpretatorischen
gänzungen sollten in den Kupfern, oder in ihren Er- Arbeit eines neuen, durch ihn selbst verkörperten
klärungen angezeigt werden« (GK1, XIX). Damit Typs von Gelehrtem verknüpft war: Ein Gelehrter, der
führt er ein Kriterium ein, das er selbst, wenn auch sowohl Altertumsforscher als auch erfahrener Kunst-
nicht systematisch und lückenlos, in seiner späten kenner zu sein hatte. Das Ziel dieser Restaurierungs-
Schrift zu den Altertümern, den Monumenti antichi methode unterschied sich also deutlich von der Tradi-
inediti, angewendet hat. Dort werden auf einigen Ab- tion der Antiquitätensammler, die überwiegend Wert
bildungen die Teile der Werke mit schraffierten Kon- darauf legten, lückenhaften Werken eine ästhetische
turen angezeigt, die bei einer eventuellen ergänzenden Integrität und ikonographische Identität zurückzuge-
Restaurierung hinzugefügt wurden (vgl. Testa 2004, ben, die möglichst dem Gesamtcharakter der Samm-
88–89; ders. 2010, 360–361). lung entsprechen sollte, für die die Stücke bestimmt
Solche methodischen Vorgaben sollten sich im waren. Der Restaurierungseingriff war hingegen als
Laufe der darauf folgenden Jahrzehnte durchsetzen, Schlussakt eines Erkenntnisprozesses gedacht, dessen
beispielsweise im Werk des Dänen Georg Zoega, Li Ergebnisse auf das untersuchte Kunstwerk anzuge-
bassirilievi antichi di Roma, der »punktierte Linien« wenden waren, das wieder zu seinen eigentlichen sti-
(Zoega 1808, I, IX) und Kommentare verwendet, um listischen Merkmalen und zu seiner ursprünglichen
die an den Skulpturen ergänzten Stellen hervorzu- Ikonographie zurückfinden sollte.
heben, oder im Museo Pio Clementino der Visconti Auf diese Weise bildete sich ein enges Band zwi-
(Visconti, G. B. und E. Q. 1818–1822), wo eine even- schen Restauratoren und Gelehrten heraus, wie auch
tuelle Restaurierung der einzelnen Stücke im Text ge- den selbstkritischen Überlegungen Cavaceppis zu sei-
nau beschrieben ist. Dass diese Lösung jedoch in den nem Fach zu entnehmen ist. Cavaceppi schreibt der
Monumenti antichi inediti keine systematische An- Geschichte der Kunst des Alterthums bei der Entwick-
wendung fand, zeugt, wenn nicht von Inkonsequenz lung einer korrekten Restaurierungspraxis eine wichti-
und Ambiguität, so doch von der nicht auf einfache ge Rolle zu (Cavaceppi II, 1769: Degli inganni che si
Formeln wie »Anerkennung« oder »Ablehnung« re- usano nel commercio delle antiche sculture, unpagi-
duzierbaren Komplexität, die W.s Einstellungen zur niert: [10–11]). Aus der engen Zusammenarbeit zwi-
ergänzenden Restaurierung auszeichnet. schen W. und Cavaceppi, der sich für eine umsichtige
Ein beachtlicher Teil der in den Monumenti ver- Politik der Förderung und der kulturellen Anerken-
öffentlichten Werke gehörte zu den Sammlungen des nung der Restaurierungsarbeit einsetzte, entstand ein
Kardinals Albani (vgl. Allroggen-Bedel 2000, 93), »le Paradigma, das während des Klassizismus in Rom aus-
réparateur en chef de l’ Antiquité« (Grosley 1774, II, schlaggebend dafür wurde, dass sich die ergänzende
294), bei deren Anlage und Pflege W. eine entschei- Restaurierung als kanonische Methode für antike Bild-
dende Rolle gespielt hatte (vgl. Allroggen-Bedel 1982; hauerwerke durchsetzte. Parallel dazu entwickelte sich
dies. 1991). In der Ausübung dieser Tätigkeit hatte er ein eigenes neues, bis dahin nicht vorhandenes Berufs-
die Praxis befolgt und gutgeheißen, beschädigte Stel- bild des Restaurators (Gesche 1981; Rossi Pinelli 1981,
len an fragmentarischen oder unvollständigen Wer- 41–48; dies. 1986, 202–205; Barberini/Gasparri 1994,
ken zu ergänzen. Wenn er also die Restaurierung be- 29–32; Meyer/Piva 2011).
stimmter Stücke nicht erwähnt, bedeutet das in die- Die Praxis der mimetischen Rekonstruktion, die
sem Kontext ein stillschweigendes Einverständnis mit auf die Ergänzung des Bildes abzielt, fand auch bei der
nicht willkürlich vorgenommenen Restaurierungs- Restaurierung antiker Baudenkmäler Anwendung,
arbeiten, die als Ergebnis einer achtsamen ikonogra- um dann im Rom der ersten Jahrzehnte des 19. Jh.
160 III Werke

zum beherrschenden Paradigma im Bereich der Res- Wie auch Cavaceppi betont, ist die Wiederherstel-
taurierung des archäologischen Kulturgutes zu wer- lung der ursprünglichen Integrität und formalen
den (vgl. Casiello 2008; Jonsson 1986; Ridley 1992; Identität eines beschädigten Werkes notwendig, damit
Testa 1996, 45–63; ders. 1997; ders. 2004, 90, mit Lite- es seine Exemplarität für die Nachwelt erfüllen kann
ratur, 100–105). Dieselbe Methode sollte auch weit (Cavaceppi I, 1768, unpaginiert: [7]). Da die von W.
über diejenige zeitliche Grenze hinaus geschätzt und entwickelte Auffassung des Kunstwerkes dessen ide-
angewandt werden, die auf dem Gebiet der Bildhaue- eller Natur und Identität als purer Form absoluten
rei den Beginn ihrer allmählichen Delegitimierung Vorrang vor der materiellen Beschaffenheit einräumt,
markierte – die Affäre der Elgin Marbles. Canova wei- liefert sie eine umfassende theoretische Begründung
gerte sich in einem 1810 von Lord Elgin höchstper- für diese Restaurierungsmethode (vgl. Testa 1996;
sönlich veröffentlichten Memorandum, auch nur den ders. 1997).
geringsten restaurierenden Eingriff an Werken vorzu- Die Frage nach der materiellen Identität des Kunst-
nehmen, die trotz ihres schlechten Zustandes doch werkes bildet einen der Schwerpunkte in W.s Theorie.
Zeugnis ablegten von der Materie, die durch Phidias’ Angetrieben von dem Wunsch, die Exzesse der baro-
Hände geformt worden war (vgl. Pavan 1974/1975, cken Tradition zu zügeln, die der sinnlichen Wahr-
226; Rothenberg 1977, 185; Rossi Pinelli 1981, 48–53; nehmung kostbare, von Künstlerhand prächtig verfei-
Casey 2008, 55–56). nerte Materie bieten wollte, entwickelt W. eine durch
Der außergewöhnliche Charakter von Phidias’ Ar- und durch idealistische Auffassung des Kunstwerkes
beiten führt zu der Frage nach dem Wert der materiel- und gründet die Schönheit auf ein transzendentales
len Identität eines Werkes, eine Frage, die innerhalb Prinzip, dessen idealer Begriff das »höchste Wesen«
des Gedankengebäudes, auf das sich die klassizistische ist, »welches durch seine Einheit und Unteilbarkeit
Praxis der mimetisch-rekonstruierenden Restaurie- von der Materie unterschieden ist« (MI, XXXVII; vgl.
rung seit W. stützte (vgl. Testa 1999, 215–298; ders. GK1, 149–150). Die ideale Schönheit, einfach, einzig
2004, 100–105), unvorstellbar war. Die Formulierung und unteilbar, gebietet, sich »über die Materie [zu] er-
einer Restaurierungstheorie, die W. der klassizisti- heben« (GK1, 149).
schen Kultur als z. T. implizites, aber doch überaus Die Materie, Crux jeder von der platonischen Leh-
mächtiges Erbe hinterließ, gehorcht den Prinzipien ei- re inspirierten Ästhetik, wird so in W.s »Lehrgebäu-
nes platonisierenden Idealismus, der mit der Geschich- de« (GK1, IX) zu einem Paradox: Sie ist notwendig,
te der Kunst des Altertums die Erfindung einer neuen damit sich die Schönheit den Sinnen offenbaren
Kunstgeschichte für sich beansprucht – einer Kunst- kann, und stellt doch ein Prinzip dar, das die immate-
geschichte, die sich in das mimetologische System von rielle Reinheit der Idee beeinträchtigt, und zwar der-
W.s Ästhetik und in seine Konzeption des Kunstwer- art, dass sie so weit wie möglich zensiert und neutrali-
kes einfügt (vgl.Testa 1996, 13–28; 45–63; ders. 1997). siert werden muss.
Die ergänzende Restaurierungspraxis entspricht Die Beschreibung des Apollo von Belvedere, »das
im Wesentlichen der Bedeutung, die W. der Form – höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alter-
der formalen Einheit als zeichnerischem Kontur – thums, welche der Zerstörung derselben entgangen
einräumt und die er als konstitutiv für die Identität des sind« (GK1, 392), betont auf exemplarische Weise die
Kunstwerkes und als grundlegend für seine his- von Grund auf ambivalente Rolle, die die Materie da-
torisch-stilistische Bestimmung betrachtet. Die Ziel- durch im Entstehungsprozess des Kunstwerkes ein-
setzungen dieser Restaurierungspraxis erscheinen im nimmt. »Der Künstler derselben hat dieses Werk gänz-
Übrigen völlig im Einklang mit dem archäo-teolologi- lich auf das Ideal gebauet, und er hat nur eben so viel
schen Projekt W.s (Derrida 1967) zu sein (vgl. Testa von der Materie dazu genommen, als nöthig war, seine
1999, 150–158; 176–195 und passim; ders. 1996; ders. Absicht auszuführen und sichtbar zu machen« (ebd.).
1997, 29; ders. 2004, 101–102; Von der Restauration Als konkretes Ergebnis eines bewussten geistigen
der Antiquen, 23), das eine Erneuerung des zeitgenös- Schaffensprozesses wird der Körper der Statue daher
sischen Stils anstrebt, und zwar durch die Nach- ein paradoxer Körper; kein wirklicher Körper, »aber
ahmung klassischer Kunstmodelle, die als »Proto- gleichsam ein Körper« (ebd. 162), ein so weit als mög-
typen und Exemplare des Schönen« (Chirografo 1802, lich seiner physischen Konsistenz beraubter Körper.
In: Emiliani 1978, 110) gelten, wie eine Formel besagt, Die Schönheit offenbart sich in der sichtbaren Welt in
mit der die päpstliche Gesetzgebung zur Erhaltung einem »Scheinkörper« (»corpo apparente«; MI, XL),
der Kunstschätze W.s Theorie rezipierte. einem materiellen Medium, das an seinem Wesen im
17 »Von der Restauration der Antiquen« 161

selben Augenblick Verrat begeht, in dem es sich zu er- sierung in der Sphäre des Sichtbaren wie eine Art se-
kennen gibt. kundärer Begleiterscheinung wirkt.
Der materielle Körper der Statue erhält somit eine Das Emanationsparadigma, das der Vorstellung
Bedeutung, die man als Anspielung bezeichnen könn- von der Schöpfung des Kunstwerkes als »Hülle« (GK1,
te: Die Meisterwerke der griechischen Skulptur stellen 162) der Idee zugrundeliegt, spielt eine fundamentale
in der Tat »zwar Körper da, aber luftige und nicht ma- Rolle in W.s »Lehrgebäude« und bestimmt das kom-
terielle« (MI, XXXIX), die »die Hüllen und Einklei- plexe mimetologische System, das dessen theoreti-
dungen bloß denkender Geister und himmlischer schen Mittelpunkt bildet (Testa 1999). Die Nach-
Kräfte zu seyn scheinen« (GK1, 162) . ahmung der antiken Modelle, die von den Gedanken
Der Körper des Kunstwerkes wird einem Prozess an die Grundlage von W.s Ästhetik bildet und seine
der Entmaterialisierung unterworfen, der daraus »den Strategie einer metaphysischen Neugründung der
Scheinkörper« eines »ätherischen, auf seine Umrisse Schönheit gegen die subjektivistische Verderbtheit der
verdichteten Wesens« macht, »ohne an der Materie Modernität bestimmt, beruht auf einem Verfahren,
teilzuhaben« (MI, XL), reduziert auf die abstrakte das mit dem der künstlerischen Schöpfung spiegel-
Reinheit der Linie der Konturen, auf die durchsichtige bildlich identisch und ebenfalls von neuplatonischer
Schale, eine bloß gezeichnete Hülle, die die eigene Kör- Begrifflichkeit durchdrungen ist.
perlichkeit bis zum Äußersten aufgehoben hat, um Nicht auf die schiere Reproduktion des sichtbaren
sich schließlich mit der »absoluten Schönheit der For- Erscheinungsbilds reduzierbar, ist die korrekte Nach-
men oder besser der Linien« zu decken (ebd. XLIV): ahmung eine immaterielle Mimesis. Sie strebt danach
»Diese Schönheit ist wie [...] in einer so großen Einheit – wie Kant in der Kritik der Urteilskraft erklärt –, »die
der Form und des Umrisses, daß sie nicht mit Mühe Regel vom Produkt [zu] abstrahieren« (Kant 1977,
gebildet, sondern wie ein Gedanke erwecket, und mit 244). Dabei vollzieht sie eine »Bewegung idealisieren-
einem Hauche geblasen zu seyn scheinet« (GK1, 226– der Verinnerlichung« (»mouvement d’intériorisation
227). W. löst das Problem der Kunstproduktion, ver- idéalisante«; Derrida 1975, 76), die es gestattet, zu
standen als Zugang zu der sichtbaren Dimension von dem ideellen, in der Hülle des Werks geborgenen Kern
Ideen, »die abstrakt und metaphysisch hinlänglich vorzudringen. Über einen Prozess geistiger Emanati-
ausgestattet sind« (MI, XLIV), indem er auf die Meta- on kann diese Bewegung in einer Art »Verwandlung«
pher des »Hauches« zurückgreift, ein immaterielles (Gedanken2, 15) vom Modell auf den Künstler überge-
Prinzip, das durch geistige Emanation sichtbare For- hen, um schließlich eine neue Schöpfung zu beseelen.
men zu erzeugen imstande ist. Eine analoge geistige Formübertragung, die sich in
Der paradoxe Körper des Kunstwerkes als reine ge- einer Art Kreislauf sozusagen im Inneren des Werkes
zeichnete Form ist folglich das Ergebnis eines deutlich vollzieht, ist auch bei der ergänzenden Restaurie-
von neuplatonischen Ideen, insbesondere von Proklos rungspraxis zu beobachten, die von W.s Denkmodell
beeinflussten mystischen Vorgangs. Dabei werden aber ausgeht und die er indirekt in der Beschreibung des
auch im 17. und 18. Jh. von den Naturwissenschaften Torso im Belvedere auch theoretisch begründet (vgl.
entwickelte Theorien wiederaufgenommen und aus äs- Gesche 1981, 338; dies. 1982, 451–452; Von der Res-
thetischer Sicht aufgearbeitet, die die Zeugung von Le- tauration der Antiquen, 23; Testa 2004, 97–100).
bewesen erklären sollten (Stafford 1991, 137–159). Die virtuelle Rekonstruktion der fehlenden Teile
Ebenso wie nach der Präformationslehre Embryonen (vgl. Krüger-Fürhoff 2001, 31–49; Harloe 2013, 91–
ohne körperliche Substanz schon von Anfang an als 92) – »beim Anschauen sollte man sie in der Fantasie
potenzielle Prinzipien existierten, die dann während ergänzen« (MI, XLII) ) – dieses »Stamm[es] [...], ge-
des Zeugungsprozesses Gestalt annehmen, sei im Falle misshandelt und verstümmelt« (Torso, 35), der mit
der künstlerischen Schöpfung die materielle Erschei- ekstatischer Langsamkeit wieder Gestalt annimmt,
nungsform des Werkes als körperliche Emanation ei- setzt die Existenz eines ursprünglichen Wesenskerns
nes ebenfalls potenziellen und immateriellen Prinzips voraus, der trotz der degradierenden Prozesse, die die
zu deuten, das wie ein präexistierendes, formales Orga- ihn verkörpernde, materielle Hülle erfahren haben
nisationsschema im Geiste des Künstlers wirkt. mag, sich noch intakt und lebensfähig erhalten hat.
In der Vorstellung W.s macht dieses körperlose Die Beschreibung des Torso hat, wie W. erläutert,
Prinzip – »eine nicht durch Hülfe der Sinne empfan- jenen immateriellen Kern zum Hauptgegenstand und
gene Idee« (GK1, 226) – den authentischen Wesens- »geht nur auf das Ideal der Statue, sonderlich da sie
kern des Werkes aus, angesichts dessen seine Aktuali- idealisch ist« (Torso, 33): Sein »Scheinkörper« (MI,
162 III Werke

XL) birgt, »wie ein Gefäß« (Torso, 39), einen transzen- Klassizismus begleitet, lässt das Ausmaß des Einflus-
dentalen geistigen Inhalt in sich. ses abschätzen, den W. auf diesem Gebiet ausübte, und
Der Prozess, den W. evoziert und dessen mysti- zwar nicht nur durch explizite Stellungnahmen zum
schen und irrationalen Charakter (Schneider 1994, Thema der Ergänzung in der Bildhauerei oder durch
242–246) er betont, betrifft freilich genau jenen sein direktes Engagement während des Aufenthalts in
»Scheinkörper«, den paradoxen Körper des Kunst- der Villa Albani, sondern auch, noch tiefgreifender,
werks, der durch »eine geheime Kunst« (Torso, 39) all- durch die von ihm entwickelte Konzeption des Kunst-
mählich vor seinen Augen, in der Sphäre des Sicht- werkes und des künstlerischen Schöpfungsaktes.
baren, Gestalt annimmt (ebd., 35). Wenn wir uns die Betrachtungen von Bartolomeo
Was sich dem Blick darbietet, der die »Schale der Cavaceppi in seinem Aufsatz Dell’ arte di ben restau-
Dinge« (Betrachtung, 13) zu durchdringen weiß und rare le antiche statue ansehen – einem kurzen theo-
bis zum Wesen des Kunstwerks vorstößt, ist genau die retischen Traktat, der den ersten der drei Bände sei-
Form, die gezeichnete Hülle, die »mächtigen Umris- ner Raccolta d’antiche statue einleitet –, geht schon
se« (ebd., 35), »die sanften Züge dieser Umrisse« aus der Wortwahl hervor, wie sich die Ergänzung be-
(ebd., 36) des Herkules, die W., den »ungeformten schädigter Werke innerhalb des mimetologischen
Stein« vergessend (ebd., 35), den er zunächst vor sich Systems vollzieht, das in W.s Ästhetik die künstleri-
sah, nach und nach zu erfassen weiß (vgl. Harloe 2013, sche Schöpfung dominiert und, wie bereits auf-
92–94; Kurbjuhn 2014, 223–231). gezeigt, die begriffliche Basis und Begründung für
Die Bewegung, mit der der verstümmelte Torso den eigentlichen Restaurierungsakt bildet. »Das Res-
wieder zu seiner ursprünglichen Gestalt zurückfindet, taurieren« – schreibt nämlich Cavaceppi – »[...] be-
zeichnet den Schöpfungsvorgang des Kunstwerkes steht darin [...], der, um es so auszudrücken, Manier
nach: Die Idee agiert auch hier wie eine Art immate- und der Fertigkeit des antiken Bildhauers der Statue
rieller Embryo, der in einem Emanationsprozess aus gleichzukommen und sie auf die neu hinzuzufügen-
sich selbst heraus wieder erzeugen, den eigenen mate- den Teile auszudehnen« (Cavaceppi I, 1768, unpagi-
riellen Scheinkörper von neuem formen kann: »so niert [10]).
fangen sich an in meinen Gedanken die übrigen man- Die »Ergänzung« versteht sich also als eine mimeti-
gelhaften Glieder zu bilden: es sammelt sich ein Aus- sche »Ausdehnung« der Manier, des Stils, die »[sich]
fluß aus dem Gegenwärtigen und wirkt gleichsam eine ausbreitet« von den übriggebliebenen Teilen auf »die
plötzliche Ergänzung« (Torso, 39). neu hinzuzufügenden«, in einer Art pragmatischer
Die Metaphern, die W. verwendet, um ein solches Übertragung der formalen Emanationsprozesse, von
Wunder (ebd., 35) zu beschreiben, verweisen allesamt denen W. spricht, und die sich voll und ganz in die Lo-
auf die im 18. Jh. von den präformistischen Theorien gik der Mimesis einfügt, als immaterielle Nachahmung
wieder aufgenommene neuplatonische Metaphysik oder auch mystische Durchdringung – d. h. Verwand-
der Schöpfung. Sie spielen auf die prägende Wirkung lung – des imitierenden durch das imitierte Werk.
an, die das geistige Prinzip mittels eines flüssigen Me- So wird derjenige ein guter Restaurator sein, der es
diums auf die Materie ausübt (vgl. Stafford 1991, 142– versteht, »ganz die eigene Manier zu vergessen und
143; vgl. auch Stafford, 1980; Kemp 1968). sich erst dann an die Arbeit zu machen« (de Rossi
Das mit »einem Hauche geblasen[e]« (GK1, 227) 1826, 26). Er ist, wie Cavaceppi weiter hervorhebt, ein
Kunstwerk ist in der Lage, die entkräftete Form seines Künstler »der sich nach langer Erfahrung [...] einen in
»Scheinkörpers« zu regenerieren, kraft seines »Aus- allen Manieren versierten Stil angeeignet hat« (Cava-
flusses«, einer Art Lebensatem, der von dessen Resten ceppi I, 1768, unpaginiert [9]), ein Schöpfer ohne ei-
auszuströmen scheint. So sehr der materielle Körper genen Stil und daher willig, sich vom »aus dem Ge-
des Kunstwerks auch verstümmelt sein mag, er ist genwärtigen« strömenden »Ausfluss« durchdringen
nach wie vor »Hülle« (GK1, 162) oder auch »Gefäß« und verwandeln zu lassen, um wie eine Art unpersön-
(Torso, 39), sichtbare Emanation eines immateriellen liches Medium zu handeln, durch dessen Vermittlung
Prinzips, das dessen Form bestimmt, da es imstande das Werk seinen endogenen Selbsterneuerungspro-
ist, sich in der räumlichen Dimension »aus[zu]brei- zess entfalten kann.
ten« (vgl. ebd.) und somit der amorphen Materie Ge- Der Prototyp dieser neuen Figur von Künstler und
stalt zu verleihen (ebd. 39–40). Restaurator in einem sollte Cavaceppi selbst sein: Er
Die Häufung solcher Metaphernnetze in der Theo- hatte – wie de Rossi betont – »die Bildhauerkunst lan-
rie, die die bildhauerische Restaurierungspraxis des ge studiert«, »hatte aber den Vorzug, sich auf keine
17 »Von der Restauration der Antiquen« 163

Manier festgelegt zu haben (de Rossi 1826, 31). Er füg- im 18. Jahrhundert. Wechselwirkungen zwischen Italien
te sich der »Macht des Gelehrten« (ebd.) und ließ sich und Deutschland. Stendal 2000, 89–105.
von den weisen Ratschlägen des Altertumsforschers Barberini, Maria Giulia; Gasparri, Carlo (Hg.): Bartolomeo
Cavaceppi scultore romano (1717–1799). Rom 1994.
leiten – ganz nach dem von W. formulierten Paradig- Casey, Christopher: Grecian Grandeurs and the Rude Was-
ma, das letzterer durch seine Verbindung mit Cava- ting of Old Time: Britain, the Elgin Marbles, and Post-Re-
ceppi in die Tat umsetzte –, und es gelang ihm, die ei- volutionary Hellenism. In: Foundations III, 1 (2008), 31–
gene Künstleridentität zurückzustellen, um sich völlig 64.
von der »Schönheit der antiken Werke« beseelen zu Casiello, Stella: Conservazione e restauro nei primi decenni
dell’ Ottocento a Roma. In: Casiello, Stella (Hg.): Verso
lassen, in einem Prozess der Durchtränkung, der wie-
una storia del restauro. Dall’ età classica al primo Ottocen-
derum auf das neuplatonische Emanationsparadigma to. Florenz 2008, 267–310.
verweist, von dem W.s Ästethik inspiriert ist: »Der er- Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris 1967.
fahrene Altertumsforscher [W.] gab ihm das Sujet vor Derrida, Jacques: Economimesis. In: Mimesis des articulati-
und versuchte, ihm alle Schönheit der antiken Werke ons. Paris 1975, 57–93.
zu vermitteln, damit er sie gewissermaßen in sich auf- Gesche Inga: Antikenergänzungen im 18. Jahrhundert. Jo-
hann Joachim Winckelmann und Bartolomeo Cavaceppi.
sauge, verinnerliche und bei der Restaurierung an- In: Beck, Herbert/Bol, Peter C.; Prinz, Wolfram/von Steu-
zuwenden wisse« (ebd.) . ben, Hans (Hg.): Antikensammlungen im achtzehnten
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manns »großes italienisches Werk«. In: Altertumskunde
bung der Altertümer in den Villen und Palästen Roms.
164 III Werke

Die Bedeutung seiner Aufzeichnungen im Pariser Nach- 18 Winckelmann und die Aus-
lass (Ms. Fonds Allemand 68) für die Rekonstruktion des
Antikenbestandes in den römischen Sammlungen um
grabungen in Herculaneum und
1756. In: Gaehtgens, Thomas W. (Hg.): Johann Joachim Pompeji
Winckelmann (1717–1768). Hamburg 1986, 55–119.
Stafford, Barbara Maria: Beauty of the Invisible: Winckel-
mann and the Aesthetics of Imperceptibility. In: Zeit- Zwei von W.s Schriften beschäftigen sich mit aktuellen
schrift für Kunstgeschichte 43 (1980), 65–78. archäologischen Forschungen seiner Zeit, und zwar
Stafford, Barbara Maria: Les idées ›innees‹: la conception mit Herculaneum, Pompeji und Stabiae, drei his-
winckelmannienne de la création. In: Pommier, Edouard
torisch-archäologischen Stätten, die durch Ausgra-
(Hg.): Winckelmann: la naissance de l’ histoire de l’ art à
l’époque des Lumières. Paris 1991, 137–159. bungen ein zweites Leben erhielten. Als W. nach Rom
Schneider, Klaus: Natur – Körper – Kleider – Spiel. Johann kam, gab es, wie wir sehen werden, in Italien archäolo-
Joachim Winckelmann. Studien zu Körper und Subjekt gische Entdeckungen, die auf Grabungen und Explo-
im späten 18. Jahrhundert, Würzburg 1994. rationen im Feld zurückgingen. Während in Rom seit
Testa, Fausto: Conservare per imitare. Winckelmann e la langem überall unsystematisch Funde ans Licht ge-
tutela del patrimonio artistico in eta neoclassica. Pavia
1996.
kommen waren, die ihren Weg zu reichen Römern
Testa, Fausto: Restaurare per imitare: recupero ideale e resti- und vor allem Ausländern fanden, und während dort
tuzione materiale dei modelli antichi nella cultura neo- die baulichen Reste inmitten der lebendigen Stadt Be-
classica. In: Boriani, Maurizio (Hg.): Patrimonio archeo- standteil des alltäglichen Lebens waren und zugleich
logico, progetto architettonico e urbano. A-LETHEIA 8 als Studienobjekte zur Verfügung standen, suchten
(1997), 28–32.
Reisende im 18. Jh. zum ersten Mal auch andere Orte
Testa, Fausto: Winckelmann e l’ invenzione della storia
dell’ arte. I modelli e la mimesi. Bologna 1999. mit archäologischen Resten auf wie Paestum mit sei-
Testa, Fausto: Il torso e il rudere. Winckelmann, il primato nen drei Riesentempeln (De Jong 2014) oder griechi-
della scultura e il problema del restauro. In: Pastore sche Tempel auf Sizilien, die auch W. interessierten (s.
Stocchi, Mario (Hg.): Il primato della scultura: fortuna Baukunst Girgenti).
dell’ antico, fortuna di Canova. Bassano del Grappa 2004, In dem Sendschreiben von den Herculanischen Ent-
85–105.
deckungen und den Nachrichten von den neuesten Her-
Testa, Fausto: Winckelmann e l’ architettura antica. In: La-
manna, Federica (Hg.): Gusto dell’ Antico e cultura neo- culanischen Entdeckungen von 1762 und 1764 berich-
classica in Italia e in Germania. Rende (Cz) 2006, 136– tet W., wie in einigen vorab verfassten und an den kur-
138. sächsischen Leibarzt Giovanni Lodovico Bianconi
Testa, Fausto: Le fonti iconografiche per la conoscenza (1717–1781) adressierten brieflichen Berichten, von
dell’ architettura antica nelle Anmerkungen über die Bau- den Entdeckungen und Funden und versucht, diese
kunst der Alten di J. J. Winckelmann. In: Burns, Howard/
Di Teodoro, Francesco Paolo/Bacci, Giorgio (Hg.): Saggi ins größere Gebäude der Altertumswissenschaft ein-
di letteratura architettonica, da Vitruvio a Winckelmann. zubinden. Diese kurzen Schriften bilden eine Ausnah-
III. Florenz 2010, 339–361. me in seinem Œuvre, insofern sie sich mit laufenden
Felduntersuchungen beschäftigen, quasi mit der Feld-
Fausto Testa
archäologie oder ›archeologia militante‹, und nicht
Aus dem Italienischen von Susanne Kolb
mit Kunstwerken in Sammlungen. Während W. in sei-
ner täglichen Praxis und Forschung die materielle
Kultur des Altertums vor allem kunsthistorisch stu-
diert und Aspekte wie Stil und Ikonographie antiker
Kunstwerke behandelt, setzt er sich hinsichtlich der
Grabungen in Herculaneum und Pompeji auch mit
anderen Facetten der Archäologie auseinander. Ent-
deckungen aus zeitgenössischen Ausgrabungen, seien
es Statuen oder andere Gegenstände, die gerade ans
Tageslicht gebracht und in die Sammlung des Kardi-
nals Albani oder anderer römischer Sammler inte-
griert worden waren, nimmt W. in den zahlreichen in
Rom entstandenen Schriften nur am Rande zur
Kenntnis. In seinen Briefen, in der Geschichte der
Kunst des Alterthums oder den Monumenti inediti, um

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_18, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
18 Winckelmann und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji 165

nur einige Hauptwerke zu nennen, erwähnt er oft, dass nierleistungen. Bosio gewann Einblick in antike Grab-
an einem bestimmten Ort ein neues Objekt aufgefun- strukturen (in seinem Fall der vermeintlich aus-
den worden sei, gibt aber keinen Hinweis auf Fundsi- schließlich christlichen Katakomben) und lernte, aus
tuation oder historischen Kontext. Wie es scheint, be- den Monumenten nicht nur Objekte zu entnehmen
suchte er die Fundstellen auch nicht. Nur einmal merkt (Herklotz 2011).
er an, dass er selbst Ausgrabungen habe anstellen las- Die erste architektonische Bauaufnahme ist dieje-
sen, und zwar in Ostia; Detailinformationen über die- nige des Pantheon und anderer Bauwerke, die Antoine
ses Unternehmen sind jedoch nicht erhalten (Br. II, Desgodetz (1653–1728) in seinem Les édifices antiques
Nr. 547; vgl. SN II, 3, 67; Kommentar ebd. 482). Bei der de Rome vorlegte (Desgodetz 1682; vgl. Pasquali
Behandlung der Herculaner Schriften wird darauf zu 2015). Dieses Werk war dazu bestimmt, modernen
achten sein, ob sie tatsächlich mehr ›archäologischen‹ Architekten als Vorlage zu dienen; dem Verfasser war
als kunsthistorischen Charakters sind. es weniger um die Bauten als historische Monumente
zu tun als um Muster der Ornamentik und der Archi-
tektur. Andere Autoren rekonstruierten Rituale und
Voraussetzungen: Archäologie und Grabungs-
Feste wie auch Tierkämpfe im Colosseum und ver-
kultur bis zu Winckelmanns Zeit
wendeten die antiken Monumente als Belegmaterial
Schon in der Antike war man sich der Spuren vergan- (Beispiele in Wrede 2004). Daraus entstand eine eige-
gener Zeiten unter ›unserem‹ Boden bewusst. In anti- ne Publikationskultur von Büchern und Tafeln mit Er-
ken Quellen ist von Ausgrabungen die Rede (Guzzo läuterungen. Der Buchdruck, vor allem die Publikati-
2004, 27–55), von einer wissenschaftlichen Beschäfti- on illustrierter Werke, ermöglichte die Forschung
gung mit der materiellen Kultur des Menschen jedoch auch am Schreibtisch, weit entfernt von den Origina-
erst seit der Renaissance, als Forscher begannen, anti- len (Wrede 2004: Beispiele aus Holland; Steiner 2005).
ke Geschichte und Literatur mithilfe von Realien zu Seit dem späten 15. Jh. beschäftigten antiquarische
kommentieren (für Archäologie im Allgemeinen s. Forschungen sich mit der Erklärung antiker Textstel-
Renfrew/Bahn 2012, 22–48; für die klassische Archäo- len anhand von Realien oder Objekten. Die Forscher
logie s. Schnapp 1996, Kap. 2–3; Gran-Aymerich 1998, waren nicht an den Gegenständen selbst und ihrer Ge-
23–35; Dyson 2006, 1–19; Schade 2012; mehrere Bei- schichte interessiert, sondern betrachteten sie als Be-
träge in Fenet/Lubtchansky 2015, 41–188). Jacob Spon legmaterial (Herklotz 2012). So wurden die Monu-
(1647–1685) bezog als erster den Begriff ›Archäolo- mente nicht auf ihren eigenen Wert hin untersucht,
gie‹ auf das Studium der materiellen Kultur (Gran-Ay- und man kümmerte sich nicht um ihre Funktion und
merich 1998, 23; Steiner 2005, 9–10). ihren Kontext oder um eine genaue Analyse bildlicher
Während die Philologie Lehrgegenstand an allen Darstellungen. Beim Studium antiker Mahlzeiten
Universitäten war, konzentrierte sich die Erforschung konnte ein griechisches Totenmahlrelief den gleichen
antiker Monumente an erster Stelle auf Rom. In der Wert haben wie eine Refrigeriumsszene in einer
Frühen Neuzeit regten Architekturzeichnungen, christlichen Katakombe, weil allein die Handlung des
Zeichnungen antiker Statuen und später auch Gemäl- Essens für die Fragestellung entscheidend war. Alle
de lokaler, ab 1500 zunehmend auch aus dem Norden Darstellungen galten als Zeugen römischer Realität;
angereister Künstler zu veritablen Untersuchungen an Allegorie und Mythologie wurden kaum wahrgenom-
(z. B. Nesselrath 2014). Architekten wie Andrea Palla- men. Wegen der einseitig römischen Perspektive wa-
dio (1508–1580) vermaßen Gebäude und wandten ih- ren auch Chronologie und kunstgeschichtliche Beur-
re Ergebnisse in Kombination mit Angaben aus teilung der Monumente unerheblich. Nur Zeugnisse
Schriftquellen, vor allem aus Vitruvs Abhandlung De aus Ägypten, die römischen Aegyptiaca eingeschlos-
Architectura, auf eigene Bauten an. Antike Bauwerke sen, wurden gesondert studiert, zumal die unentzif-
wurden ab dem 16. Jh. restauriert und nicht mehr nur ferbaren Hieroglyphen eine große Faszination aus-
als Steinbruch benutzt. Grabungen hatten in und um übten, wie Athanasius Kirchers Schrift über die ägyp-
Rom den Zweck, die Geschichte alter Baustrukturen tische Sprache, der Oedipus Aegyptiacus von 1652–
besser kennen zu lernen. Die Päpste erteilten die Ge- 1655, zeigt.
nehmigung, Grabungen zu beginnen, konnten ihr In der Gestalt von Thesauri oder Schatzkammern
Einverständnis aber auch verweigern (Dokumente in auf Papier wurden Monumente gesammelt und allein
Lanciani 1902–1912, 1994–2003). Antonio Bosios Ka- mit Blick auf ihre Relevanz innerhalb eines kosmischen
takombenforschungen gehörten um 1600 zu den Pio- Systems in eine taxonomische Ordnung gebracht (vgl.
166 III Werke

als Beispiel Cassiano dal Pozzo: Herklotz 2012, 79–110, (1717–1799, Pontifikat ab 1775; s. Pietrangeli 1958; Li-
Abb. 12). Münzen und Inschriften erhielten in einem verani 2011) initiierte entsprechende Untersuchun-
solchen System ebenso ihren Platz wie bildlose funk- gen. Diese wissenschaftlichen Bestrebungen setzten
tionale Objekte, z. B. Altäre und Pferdegeschirre. Das der bis dahin üblichen Schatzsuche kein Ende, bilde-
holistische System berücksichtigte alles: Gott oder ten aber die Voraussetzung dafür, dass Objekte im
Götter und verwandte Kategorien (Heroen, Halbgöt- Kontext studiert werden konnten. Ausgrabungen in
ter) repräsentierten das Höchste der res sacrae; auf un- Tusculum, der Stadt Ciceros, um die Mitte des 18. Jh.
tergeordneter Stufe gehörten Tempel, Altäre, Opfer- waren bereits mehr archäologischer als schatzgräberi-
gaben usw. ebenfalls zur Welt der Religion. Hinge- scher Natur; die Ergebnisse wurden zwar ausgearbei-
gen umfassten die antiquitates oder res profanae alle tet, jedoch nie systematisch publiziert (Dupré Raven-
menschlichen Dinge. Deren Unterteilung in res pub- tós 2003; Castillo Ramírez 2005).
licae, res privatae und res militariae konnte sehr fein- Die Ausgrabungen im norditalienischen Velleia
maschig werden. Den Höhe-, fast den Endpunkt sol- wurden früh als repräsentatives Projekt auf fürstliche
cher Sammlungen stellte der französische Benedikti- Veranlassung begonnen, und zwar 1760–1765 vom
ner Bernard de Montfaucon (1655–1741) um 1700 Herzog von Parma, Filippo I. von Bourbon (1720–
während langer Studienreisen in Italien und Frank- 1765), der auch ein archäologisches Museum gründe-
reich zusammen. Resultat war das über 30.000 Abbil- te, um die Funde, wie in Portici, als fürstliche Schätze
dungen enthaltende zehnbändige Werk L ’antiquité ex- zeigen zu können (Riccomini 2005). Dieses Unterneh-
pliquée et représentée en figures (1719–1724), das in ver- men war als Konkurrenz zu den Grabungen am Vesuv
schiedene Sprachen übersetzt wurde (Steiner 2005, gedacht. Leiter waren Antonio Costa (1703–1765)
209–216). Wir werden sehen, dass W. bei der Behand- und Winkelmanns Freund Paolo Maria Paciaudi
lung der Gebrauchsgegenstände aus Herculaneum und (1710–1785), die mit Caylus in Paris eine rege Korres-
Pompeji diese Systematik, wenngleich ohne den An- pondenz führten. Costa schickte dem Grafen Kisten
spruch auf eine topische Universalordnung, aufgreift. voller Funde zur wissenschaftlichen Bearbeitung.
Verschiedene Akademien in Italien und anderen Caylus publizierte Keramikfunde und bronzene Sta-
Ländern forschten in großem Stil und brachten Publi- tuetten im 7. Band seines Recueil d’antiquités égyptien-
kationen heraus, die die ›Republik der Gelehrten‹ nes, étrusques, grecques et romaines (Riccomini 2005,
überall erreichten. Stellvertretend seien die Accade- Abb. 2–5; zum Recueil Steiner 2005, 96–104), während
mia Etrusca in Cortona, die Society of Dilettanti in Paciaudi gleichzeitig einen reich bebilderten Band
London und die Académie des Inscriptions et Belles vorbereitete, den er jedoch nie veröffentlichte (Ricco-
Lettres in Paris genannt (vgl. Redford 2008). W. war mini 2005, Abb. 7–10). W. erwähnt die Ausgrabungen
stolz, Mitglied einiger dieser Akademien zu werden. von Velleia und z. B. auch die von Corneto, heute bes-
Weitere wichtige Schwerpunkte bildeten sich um An- ser bekannt als Tarquinia, die er allerdings nicht be-
tonio Francesco Gori in Florenz, einen Pionier der sucht hat (SN II,3, 231). Diese und spätere Entdeckun-
Etruskerforschung (Nørskov 2002, 35–41; Lang 2012), gen fanden ihr Echo auch bei Italienreisenden (Ricco-
und um Scipione Maffei (1675–1755) in Verona (Mo- mini 2005, 50–52, 173–207). Paolo Liverani (2011,
donesi 1983; Gran-Aymerich 1998, 33). W. distanzier- 182) hat allerdings darauf hingewiesen, dass gerade
te sich allerdings von dem antiquarischen Studium die Wirkung W.s solche Untersuchungen in Rom und
antiker Monumente, das er als simplifizierend ansah in anderen Teilen Italiens in Vergessenheit geraten
(s. aber Miller 2012, 39–41). ließ. Der Widerhall der Grabungen in Pompeji dürfte
Erst zu Beginn des 18. Jh. entwickelte sich ein Inte- zu diesem Vergessen das seine beigetragen haben.
resse an den Monumenten selbst, wie Untersuchun- Was mit ästhetisch weniger bedeutenden Funden
gen von Francesco Bianchini (1662–1729) auf dem geschah, ist in der Regel nicht zu ermitteln. Anders als
Palatin und solche von mehreren seiner Schüler in Skulpturen, Münzen oder komplette Vasen wurden
Kolumbarien außerhalb von Rom zeigen (Picozzi Scherben und Steinbrocken wahrscheinlich gar nicht
2010; zu Bianchini Kockel/Sölch 2005; Sölch 2007). oder nur ausnahmsweise inventarisiert. Wie Alain
Die Topographie der Stadt wurde erst jetzt als selb- Schnapp festgestellte, baute hingegen Caylus seine
ständiger Gegenstand betrachtet. Hier spielte Giovan- Sammlung gerade auch aus Scherben und Stücken auf,
ni Battista Piranesi (1707–1778) eine Hauptrolle (Li- die nicht durch ihre Schönheit hervorstechen. Die
verani 2010; Liverani 2011, 176–182; Barbanera 2011; Funde aus Velleia sind dafür ein gutes Beispiel. Es ging
Pinto 2012, 99–155). Vor allem Papst Pius VI. Braschi Caylus um die wissenschaftliche Aussagekraft, nicht in
18 Winckelmann und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji 167

erster Linie um den ästhetischen Wert (Schnapp 1996, Ausland exportiert, vor allem nach England (Beck
240). Als einer der Ersten bewertete er die Artefakte u. a. 1981; Laurens/Pomian 1992; Wrede 2000; Bo-
vor allem als Informationsträger. Auch in der Diskus- schung/von Hesberg 2000; Coltman 2009; Bignamini
sion über die Funde in Herculaneum und Pompeji 2004; Bignamini/Hornsby 2010, 1–16). Römische
stößt man auf die Meinung, die einfachen Gegenstän- Sammlungen entstanden schon am Ende des 15. Jh.
de seien ohne Belang, weil sie nichts Neues lehrten; und waren teilweise öffentlich zugänglich. Auf dem
studiert werden solle allein die alte Kunst. Eine rege Kapitol war schon 1471 von Papst Sixtus IV. eine klei-
Debatte darüber fand in den Kreisen der Enzyklopä- ne öffentliche Sammlung mit berühmten Bronzen wie
disten in Paris statt: Denis Diderot (1713–1784) kriti- der Wölfin und dem Dornauszieher eingerichtet wor-
sierte den Ingenieur Auguste Denis Fougeroux de den. Privatsammlungen einiger Familien, z. B. der
Bondaroy (1732–1789) wegen seines übermäßigen In- Chigi und Alessandro Albanis, wurden in wirtschaft-
teresses an Gebrauchsgegenständen aus Herculaneum lichen Krisenzeiten ins Ausland verkauft. In beiden
und Pompeji (Moormann 2015, 42, Abb. 2). Fouge- Fällen kamen einige Stücke im 18. Jh. unter August
roux folgte in seinem Traktat Recherches sur les ruines dem Starken nach Dresden (Raumschüssel 1981;
d’Herculanum (Fougeroux de Bondaroy 1770) W. Die- Zimmermann 2000).
ser hielt sogar die taktile Qualität von Gefäßen für aus- Sammlungen besaßen einen hohen Repräsentati-
sagekräftig (vgl. Kunze 1982, 34–35) und wurde gerade onswert und konnten der fürstlichen Herrschaft
wegen seiner Aufmerksamkeit auf das Unscheinbare Glanz verleihen (Schnapp 1996, 125–126; Beck u. a.
von Christian Gottlob Heyne gelobt (SN II,3, 112). 1981; Laurens/Pomian 1992; Wrede 2000). Das galt
Das eigentliche Kernland Griechenland wurde bis für den Papst – im Belvederehof des Vatikan befanden
in das 18. Jh. nicht von Archäologen untersucht; sogar sich auch von W. bewunderte Meisterwerke – ebenso
Forschungsreisen nach Griechenland waren selten. wie für Fürsten des Barockzeitalters in aller Welt (z. B.
Die äußerst genauen Architekturstudien zu Athener Beck u. a. 1981; Wrede 2000). An diese Sammlungs-
Monumenten von James Stuart (1713–1788) und Ni- kultur schloss der König von Neapel an, als er im Som-
cholas Revett (1720–1809), die einander 1748 in Nea- merpalast von Portici das Herculanische Museum
pel trafen, um von dort nach Griechenland zu reisen, einrichten ließ (Cantilena/Porzio 2008, 43–169; s. u.).
wo sie sich bis 1755 aufhielten, waren Pionierleistun-
gen auf dem Gebiet der Bauforschung (Stuart/Revett
Herculaneum und Pompeji, Glanzlichter eines
1762–1819, s. Pinto 2012, 217–273). Die Verfasser
jungen Königreiches
und andere Architekten beeinflussten mit ihren Publi-
kationen die Architektur der eigenen und späterer Die Archäologie besetzte im Süden Italiens traditio-
Zeiten. Weitere Forschungen sollten folgen, aber das nell eine weniger prominente Position als im nördli-
Land selbst, die Türkei und der nahe Osten wurden in cheren Italien. Ein wichtiger Grund dafür lag in der
den anschließenden Dezennien vor allem von Plün- für die Gelehrtenkreise von Neapel charakteristi-
derern heimgesucht, die nicht nur Skulpturen für die schen Konzentration auf aktuelle Geschichte und
neu gestifteten Staatsmuseen von England, Frankreich Wirtschaftsstudien, in denen der Mensch, nicht die
und Deutschland sammeln wollten, sondern bis in das Objekte im Mittelpunkt stand. Die Ideen der Aufklä-
späte 19. Jh. ganze Monumente abreißen ließen, um rung wurden auf naturwissenschaftliche und anthro-
Teile davon in ihre Heimat zu transportieren (Gran- pologische Studien, auch auf den Menschen im Alter-
Aymerich 1989, 63–107; Dyson 2006, 65–85, 133–171; tum angewandt (Schnapp 2013, 18–19, 20, 29–31).
Miles 2008, 284–348; Trümpler 2008). Hingegen wur- Trotzdem wurden verschiedentlich archäologische
de in Italien, dank einer langen antiquarischen Tradi- Untersuchungen durchgeführt, z. B. in Catania, wo
tion, die Architektur nur vor Ort studiert; Skulpturen Ignazio Paternò-Castello, principe di Biscari (1719–
und Vasen gingen freilich auch hier in großer Zahl 1786), Ausgrabungen anregte und ein archäologi-
verloren. W. gibt in seinen Anmerkungen über die Bau- sches Museum stiftete (Gran-Aymerich 1998, 26).
kunst der Alten einen Überblick der Architekturfor- Ebenfalls auf Sizilien begannen lokale sowie auslän-
schung, eingeschlossen diejenige, die sich auf Grie- dische Forscher, die antiken Tempel von Agrigento zu
chenland bezieht (Baukunst I–X, SN III,16–20). studieren (SN III,IX–X; Kap. 19 in diesem Band, 180–
Ausgegrabene Schätze wurden Gegenstand eines 184). Die Tempel von Paestum (siehe oben) wurden
regen Handels in Antiquitäten und gerieten teils in in den letzten Jahrzehnten des 18. Jh. Gegenstand in-
Sammlungen an Ort und Stelle, teils wurden sie ins tensiver Forschung (De Jong 2014).
168 III Werke

Nachdem Süditalien unter Karl von Bourbon neum wurden im Lauf der Zeit eingestellt, weil Pom-
(1716–1788, König von Neapel 1734–1759) 1734 ein peji viel leichter zu erforschen war und reiche Funde
unabhängiges Königreich geworden war, änderte sich garantierte. Unter der Intendanz des Innenministeri-
die Situation. Der ehrgeizige junge Monarch strebte ums führten vor allem Militäringenieure wie Roque
nach höherem Ansehen für sein Reich, das er mithilfe Joaquin d’Alcubierre (1702–1780) und Karl Weber
großartiger Bauprojekte vor allem in den beiden (1712–1764) die Arbeiten durch. Letzterer fertigte
Hauptstädten Neapel und Palermo erreichen wollte. auch Pläne und Notizen an, die zu seinem Bedauern
Die Grabungen in den vom Vesuv verschütteten Städ- nicht veröffentlicht wurden.
ten Herculaneum und Pompeji waren ein wichtiger Reaktionen auf die Funde und Forschungen waren
Teil dieses Programms: Die Funde waren einzigartig bald in Zeitungen, aber vor allem in Reiseberichten
und bildeten neben der im Palazzo Capodimonte und Briefen zu lesen. Die Besucher waren von Quali-
recht primitiv aufgestellten farnesischen Skulptur- tät und Originalität der Funde überrascht und rühm-
und Gemäldesammlung eine absolute Neuheit (All- ten den König für seine archäologischen Unterneh-
roggen-Bedel 1988, 1990; Pisani 2011, 130–134; mungen. Man kann davon ausgehen, dass die Reisen-
Moormann 2015, 17–33). Die archäologischen Unter- den, anders als im Fall anderer Monumente, sich nicht
suchungen in den Vesuvstädten hatten nicht die För- vorab über die Objekte unterrichten konnten. In ge-
derung antiquarischen und archäologischen Wissens druckten Reiseführern fehlten Informationen; kleine
zum Ziel, sondern sollten die auf Repräsentation an- Schriften mit Auszügen aus den ersten Berichten von
gelegten königlichen Sammlungen mit den neu gefun- Antonio Francesco Gori (1691–1757), Marcello Venu-
denen Objekten und Teilen der Wand- und Boden- ti (1700–1755) und einem anonymen französischen
dekorationen bereichern. Dazu wurde 1758 ein Teil Schriftsteller boten nur ohne System zusammen-
des Sommerpalastes in Portici, der am nördlichen gestellte Nachrichten (Gori 1748, Venuti 1748, Mé-
Rand des antiken Herculaneum lag, als Ausstellungs- moire 1748). Briefe und Berichte in den viel gelesenen
raum reserviert und Personal mit der Beaufsichtigung Philosophical Transactions of the Royal Society of Lon-
und Restaurierung der Funde beauftragt. don enthielten die letzten Neuigkeiten. Doch waren all
Die Grabungen selbst wurden in zahlreichen Brie- diese Schriften nicht illustriert und informierten nicht
fen und Reiseberichten beschrieben und in wöchentli- über die Schwierigkeiten, mit denen Besucher der
chen Rechenschaftsberichten an das Innenministeri- Grabungen zu rechnen hatten, und über die Wege, die
um festgehalten. In Herculaneum wurden die 25 bis sie einschlagen mussten, um die notwendigen Geneh-
27 Meter starken betonharten Schichten vulkanischen migungen zu erlangen. Die Reisenden, von denen der
Materials nach Bergbaumethoden durchsucht: Die größere Teil aus den höchsten Kreisen stammte, beka-
Arbeiter trieben vertikale Schächte bis auf die Ebene men in der Regel erst in Neapel von den Botschaftern
vor, auf der sie antike Böden fanden. Auf dieser Ebene ihrer Länder Auskünfte über die Besuchsmöglichkei-
wurden an den Wänden entlang horizontale Tunnel ten. Mehrere Reiseberichte raten dazu, für Fackeln,
gegraben, und was als wertvoll erschien, wurde nach Proviant und angemessene Kleidung zu sorgen, um
oben geschafft. Die erkundeten Galerien wurden in den schwierigen Abstieg in die Tunnel von Hercula-
der Regel mit dem Schutt aus neuen Tunneln auf- neum zu bewältigen. Von etwas besserer Qualität war
gefüllt, so dass es unmöglich war, einen Überblick ein mehrfach nachgedrucktes und übersetztes Büch-
über das gesamte Terrain zu gewinnen. Auch in Pom- lein der französischen Künstler Nicolas Cochin
peji wurde ab 1748 anfänglich nach derselben Metho- (1715–1790) und Charles Bellicard (1726–1786) aus
de gegraben. Die losen Schichten von Asche und dem Jahr 1753 (Cochin/Bellicard 1753). Dem zuerst
Bimsstein, die sogenannten ›Lapilli‹, die Pompeji an- in englischer Sprache publizierten und dann vielfach
statt fester Lavaschichten bedeckten, machten den übersetzten Text gaben die Autoren absichtlich pri-
Tunnelbau jedoch unmöglich, und es stellte sich he- mitiv gehaltene Stiche einiger Grabungsmonumente
raus, dass Freiluftgrabungen leichter durchzuführen und in Herculaneum gefundener Objekte bei. Die
waren. Auch hier schütteten die Arbeiter freigelegte Künstler wollten, ohne es ausdrücklich zu sagen, zei-
Räume wieder zu, bis man um 1755 beschloss, die Ge- gen, dass sie ihre Bilder aus der Erinnerung angefer-
bäude im freigelegten Zustand zu belassen. Von dieser tigt hatten (Moormann 2015, 40).
Zeit an entwickelte sich ein Pompejitourismus, der Der Mangel an Informationen wurde vom Hof mit
nicht enden wollende Ströme ausländischer Besucher Absicht herbeigeführt. Das Zurückhalten von Nach-
in die antike Stadt brachte. Die Grabungen in Hercula- richten und die Grabungspraxis gaben den oft hoch-
18 Winckelmann und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji 169

gebildeten Reisenden manchen Anlass zur Kritik. Sal- (Bayardi 1752), und ein Inventar der Funde, das trotz
vatore Pisani (2011, 131–133) hat aber deutlich ge- fehlender Illustrationen eine wichtige Quelle für die
macht, wie wirkungsvoll gerade diese mystifizierende, ersten Grabungen ist (Bayardi 1755). Wegen des auch
den Tourismus behindernde Politik war: Familien- von W. getadelten Mangels an Systematik (W. nennt
mitgliedern und Freunden konnten die Reisenden das Werk ›farraginoso‹ oder chaotisch: Br. I, Nr. 223;
gleichsam nur verstohlen ihre Erfahrungen mitteilen, SN II,3, 24) stellte die Akademie die Zusammenarbeit
weckten jedoch gerade damit den Appetit auf mehr. mit Bayardi ein; an der Publikation der Antichità durf-
Die Publikationspolitik spielte in diesem auf Exklu- te er nicht mitwirken.
sivität ausgerichteten Ausgrabungsmanagement eine In der zweiten Hälfte des 18. Jh. bekamen Künstler
eigene Rolle. Weil keine Illustrationen verbreitet wer- um Jean-Claude Richard de Saint-Non (1727–1791),
den durften, war die interessierte Öffentlichkeit völlig aber auch Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) und
vom neapolitanischen Hof abhängig. Zwar brachte die sein Sohn Francesco (1756–1810) sowie vornehme In-
im Auftrag des Königs 1755 gegründete Reale Accade- teressenten wie der seit 1764 als englischer Botschafter
mia Ercolanese di Archeologia zwischen 1757 und in Neapel lebende Sir William Hamilton (1730–1803)
1792 die acht Bände der Antichità di Ercolano esposte die Möglichkeit, selbst Illustrationen anzufertigen
mit Illustrationen von Gemälden und Bronzen heraus oder in Auftrag zu geben. Während die erste ›illegale‹
(Antichità 1759–1792), doch dies bedeutete nicht, Schrift von Cochin und Bellicard nur rohe Skizzen
dass jedermann das Werk kaufen und lesen konnte. enthält, sind die Voyage Pittoresque ou Description des
Die an sich nicht seltenen Bände – es wurden an die Royaumes de Naples et de Sicile (Saint-Non 1781–
2000 Exemplare gedruckt (Coppini u. a. 1996, Bd. 15, 1786; Band II von 1782 behandelt u. a. Herculaneum
284) – wurden nur als ›omaggio‹ (Ehrengabe) an Fürs- und Pompeji) von Saint-Non und verschiedene Arbei-
ten, Adlige und andere für den Hof wichtige Empfän- ten der beiden Piranesi prachtvoll illustriert (z. B. Pi-
ger verschenkt. Nicht einmal der für die Grabungen ranesi 1783). Ihr Fokus, wie derjenige Hamiltons, liegt
verantwortliche Minister Bernardo Tanucci (1698– nicht auf der Wiedergabe der musealisierten und de-
1783) durfte über die Bücher frei verfügen. Das Mo- kontextualisierten Objekte im Museum von Portici,
nopol des Hofs war also ein zweifaches: nur dem kö- sondern richtet sich auf Architekturkontexte und be-
niglichen Personal war es erlaubt, Grabungen zu ver- scheidene Gegenstände des Alltagslebens. Darunter
anstalten, die Funde zu sammeln und sie eventuell, finden sich einige schon von W. beschriebene Mirabi-
wie es ab dem späten 18. Jh. geschah, zu verschenken, lien wie ein verkohltes Brot und die apotropäischen
und allein die königliche Akademie legte fest, was ver- Priapusstatuetten, aber auch Gefäße und kleinere Ob-
öffentlicht wurde und was nicht. Die Ausgrabungen jekte. Hamilton konzentrierte sich stärker auf die
galten als Staatssache und fielen über viele Jahre in das Stadt Pompeji und versuchte, die archäologischen Be-
Ressort des Ministers für innere Angelegenheiten funde im Rahmen von Geologie und Vulkanologie zu
(Ajello/D’Addio 1986). Tanucci war Rechtshistoriker deuten. Dazu untersuchte er die Stratigraphie der vul-
und interessierte sich für Geschichte und Archäolo- kanischen Schichten, die die Ruinen bedeckten (He-
gie. Er stiftete 1755, im Jahr seines Amtsantritts als ringman 2013, 91–92, 97–98, Taf. 1–2).
Minister des Inneren, die siebzehnköpfige Akademie Für W. kamen die meisten dieser Publikationen al-
und war Mitherausgeber der Antichità. Seine Korres- lerdings zu spät. Die Antichità lernte er bis zum fünf-
pondenz mit Karl, der 1759 als König von Spanien ten Band kennen.
nach Madrid abgereist war, enthält Nachrichten über
die Grabungen, inklusive Bemerkungen über die be-
Winckelmann und die Ausgrabungen
teiligten Personen und deren gegenseitige Animositä-
ten (Coppini u. a. 1980–2003; Allroggen-Bedel 1986; Zu W.s Zeit bestanden Heiratsverbindungen zwischen
Moore 2013). Sachsen und Neapel. 1738 hatte Maria Amalia (1724–
Die Pläne zur Veröffentlichung gehen schon auf äl- 1760), Tochter Augusts III. von Sachsen, Schwester
tere Ansätze zurück, von denen die Vorarbeiten des des Kurprinzen Friedrich Christian (1722–1763), Kö-
römischen Gelehrten Ottavio Antonio Bayardi (1694– nig Karl geehelicht. In Dresden hatte sie vielleicht die
1764) die bekanntesten und wichtigsten waren (Moor- drei Statuen gesehen, die schon um 1710 auf der Büh-
mann 2015, 34–35). Bayardi publizierte einen Prodro- ne des Theaters in Herculaneum gefunden worden
mo delle Antichità d’Ercolano, dessen fünf Bände aus- und nach dem Tod ihres ersten Besitzers, Eugen von
schließlich von Herkules und Kampanien handelten Savoyen, 1736 Eigentum ihres Vaters geworden waren
170 III Werke

(Knoll 2007, 24–25; Daehner 2013). W. kannte, wie nördlich von Neapel, die zu jedem Neapelbesuch ge-
Maria Amalia, die Dresdener Altertümer kaum, weil hörten. Auf dem Programm stand in der Regel auch
sie ungünstig gelagert waren (Zimmermann 1977; die Besichtigung von Antikensammlungen und der
Raumschüssel 1981, 174–175; Heres 1991, 104–105, Besuch in Bibliotheken von Neapel.
113; Knoll 2007, 26–27). Über die Frage, aus welchem Grund W. Hercula-
Als W. die Möglichkeit bekam, in Rom zu arbeiten, neum und Pompeji ausließ, kann man allenfalls spe-
war er, wie es scheint, nicht geradezu beauftragt, aber kulieren. Möglicherweise hatte der Archäologe keine
doch dazu angehalten worden, Neapel zu besuchen, Genehmigung erhalten oder vertiefte sich mehr in Pa-
um den Dresdner Hof über die Grabungen auf dem pyrus- und Objektstudien. Wenn wir in Betracht zie-
Laufenden zu halten (Döhl 2000, 81); allerdings reiste hen, dass ohnehin den Reisenden nicht selten die Be-
W. nicht allein aus diesem Grund nach Italien. Jeden- sichtigung verweigert wurde, nimmt es kaum Wun-
falls war Friedrich Christian selbst an den Ausgrabun- der, dass der Hof erst recht Zurückhaltung gegenüber
gen interessiert (vgl. SN II,1, 16–17). Aber auch für W. einem Besucher wie W. übte und ihn als unerwünsch-
waren die archäologischen Neuigkeiten ohne Zweifel te Konkurrenz ansah. Doch obwohl einige der Briefe
eine Attraktion. Die Entdeckungen faszinierten ihn an Bianconi gleich nach dem ersten Besuch veröffent-
wie andere Gelehrte und Dilettanti; weitere Anregun- licht wurden, konnte W. bald eine neue Reise nach
gen gehen auf den kurfürstlichen Leibarzt Giovanni Neapel planen.
Lodovico Bianconi zurück, mit dem er während der Dieser zweite Besuch fand 1762 statt (Justi 1923, II,
ersten Jahre in Italien eine intensive Korrespondenz 420–431; SN II,1, 31–33), und zwar erneut im Februar.
führte (Disselkamp 1993, 309–318). Die ersten beiden Gerade adlige Bildungsreisende, die zu Ostern wieder
Bände der Antichità lernte W. in den Bibliotheken sei- in Rom sein wollten, sahen diese Jahreszeit als günstig
ner Gönner in Rom kennen. In Dresden hatte er ein für eine Neapelreise an. W. war jetzt Reisebegleiter des
Empfehlungsschreiben an die Königin erhalten, das Grafen Christian Heinrich von Brühl (1743–1792),
ihm später den Zutritt bei Hofe in Neapel erleichterte. Sohn des sächsischen Premierministers Heinrich von
Zusätzliche Empfehlungen bekam er in Rom an Ta- Brühl (1700–1763), dem er das im selben Jahr erschie-
nucci und den betagten Gelehrten Alessio Simmaco nene Sendschreiben von den Herculanischen Ent-
Mazocchi (1684–1771). deckungen widmete. Es scheint allerdings, dass W. sich
W. reiste viermal nach Neapel (De Franciscis 1975, diesmal am Hof noch weniger willkommen fühlte –
Kunze 1982, Allroggen-Bedel 1990, Döhl 2000, Hase wie er glaubte, wegen des offenbar »unerwünschten
2013, Moormann 2015, 44–45). Obwohl er schon für Besuch[s] Brühls« (so SN II,1, 32). Wahrscheinlich
1756, also kurz nach seiner Ankunft im November ist, dass der Grund für die Spannungen in seinem
1755 in Rom, Pläne für einen solchen Besuch gemacht freundschaftlichen Umgang mit Piaggi in Portici und
hatte, brach er zum ersten Mal erst im Februar 1758 in seiner in den Augen der örtlichen Gelehrten zu
den Süden auf (Justi 1923, II, 180–258; Döhl 2000; SN großen Neugier während der ersten Reise liegt. Ob-
II,1, 17–27). Seiner Korrespondenz ist zu entnehmen, wohl das Sendschreiben noch nicht erschienen war,
dass der zunächst geplante Reisetermin verschoben galt W. nicht als einfacher Besucher, sondern als eine
werden musste (vgl. Justi 1923, II, 156; SN II,1). Art archäologischer Spion, der Ausgrabungsergebnis-
Dank der Freundschaft, die W. rasch mit dem Kus- se an Unbefugte weitergab. Trotz der Führungen und
tos der Papyri, Antonio Piaggi (1713–1796; s. Hering- gesellschaftlichen Verpflichtungen, die mit dem Amt
man 2013, 112–116), im Palast in Portici schloss, eines Cicerone verbunden waren, blieb W. Zeit zum
konnte er die Herculaner Sammlungen gründlich stu- Studium. Er hatte Gelegenheit, die Grabungen von
dieren. Im Vergleich mit den Verhältnissen in Rom, Pompeji vor Ort zu besuchen, und sah dort die ar-
wo er fast überall freien Zutritt hatte und Aufzeich- chaistische Diana aus dem ›Haus der archaisierenden
nungen anfertigen konnte, waren die Freiheiten, die er Diana‹ am westlichen Stadtrand von Pompeji und ein
in Neapel genoss, allerdings eingeschränkt. Während von Dioskorides signiertes Menandermosaik aus der
der fünf Wochen in Portici konnte W. ohne Zweifel sogenannten Villa des Cicero. Im Museum studierte er
seine Kenntnis der archäologischen Funde ausbauen. mehrere Statuen aus der Villa der Papyri, ebenso vier
Vermutlich besuchte er nicht die Herculanischen Gra- in Herculaneum gefundene qualitativ hochstehende
bungen; sicher ist, dass er nicht nach Pompeji und Sta- Gemälde des frühen 1. Jh. nach Christus.
biae fuhr, wohl hingegen nach Paestum und zu den ar- W.s dritte Neapelreise fällt in die Monate Februar
chäologischen Stätten von Puteoli, Baiae und Cumae und März 1764 (Justi 1923, II, 439–448; SN II,1, 42–
18 Winckelmann und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji 171

43). Diesmal genoss er die Gesellschaft von Johann der Entdeckungen. Die Schriften enthalten vielfältige
Heinrich Füssli (1745–1832) aus Zürich und Peter Detailbeobachtungen und demonstrieren ein hohes
Dietrich Volkmann (1735–1792). Wahrscheinlich be- Maß an philologischem, antiquarischem und archäo-
suchte er bei dieser Gelegenheit Herculaneum, wäh- logischem Wissen.
rend zuvor nur Pompeji und die archäologischen Stät- Obwohl W.s Herculanische Schriften einen deutli-
ten nördlich von Neapel auf seinem Reiseprogramm cher archäologischen Charakter tragen als seine übri-
gestanden hatten. In Pompeji waren das soeben aus- gen Werke, richtet sich sein Interesse doch, wie in sei-
gegrabene Herculaner Tor und die naheliegenden Grä- nen anderen Schriften und in den Reiseberichten
ber die neuen Attraktionen. Am 8. Februar wurde in mancher Grandtouristen, vor allem auf Kunstwerke,
W.s Anwesenheit ein zweites Menandermosaik des d. h. auf Malerei und Skulptur. Im Übrigen konnte er
Dioskorides freigelegt (Nachrichten 25–26; SN II,2, 22; sich auf der Grundlage der freiliegenden Reste von
Moormann 1995, 26–29). W. stellte fest, dass Bewoh- Pompeji noch keinen Überblick über die antike Stadt
ner von Pompeji nach der Eruption zurückgekehrt wa- als einzigartiges Zeugnis der römischen Geschichte
ren, um wertvolle Gegenstände in Sicherheit zu brin- verschaffen. Diese Möglichkeit bestand erst, als die
gen (Nachrichten 4–5; SN II,2, 10; Justi 1923, II, 444). großflächigen Forschungen der napoleonischen Zeit
Von September bis November 1767 hielt sich W. das Forum freilegten und weitere Straßenzüge ans Ta-
zum vierten und letzten Mal in Neapel auf (Justi 1923, geslicht kamen (Moormann 2015, 48–52, 55–57). Im
III, 405–433; SN II,1, 44–47). Folgt man seinen Äuße- Folgenden werden die Punkte, denen W. seine Auf-
rungen, so hatte er Angst vor der Reaktion einiger an merksamkeit schenkt, kurz beleuchtet.
den Grabungen Beteiligter, die er im Sendschreiben Von der Wandmalerei, von vielen als wichtigste
angegriffen hatte. Vor allem Tanucci zeigte sich jedoch neue Gattung klassischer Altertümer geschätzt, war
großzügig und überreichte ihm den fünften Band der W. zunächst enttäuscht (Justi 1923, II, 224, 226–227).
Antichità (SN II,1, 44–45). Der neue Anziehungs- 1762 fiel sein Urteil etwas milder aus (Justi 1923, II,
punkt war jetzt Hamilton, der ein gastfreundliches 427). Folgt man Carl Justis harschen Bemerkungen, so
Haus führte und mit W. und Pierre-François Hugues verstand W., dessen Hauptaugenmerk der Plastik galt,
d’Hancarville (1719–1809) über seine Vasensamm- wenig von dieser zweidimensionalen Kunst: »Diese
lung sprach. D’Hancarville brachte 1766 ein Werk pedantischen und gelehrten Erbärmlichkeiten sind al-
über diese Vasensammlung heraus – die erste mono- les, was der Geschichtsschreiber zu sagen wusste über
graphische Darstellung einer Vasensammlung über- diese anmutigen Gebilde [...].« (Justi 1923, II, 229) Im
haupt (Schnapp 1992; Flashar 1999; Nørskov 2002, Rückblick will diese Aussage befremdlich erscheinen;
42–49; Petras 2005; Heringman 2013, 125–218; Hönes denn W. schätzte den künstlerischen Wert einiger Ge-
2014, 33–86). In Neapel traf W. auch Lady Margaret mäldefragmente sehr hoch ein. An den großflächigen
Orford (1709–1781; 1761–1768 in Neapel), die er be- Wandgemälden in Pompeji interessierte ihn nicht nur
reits aus Florenz kannte, und Johann Hermann von das Figürliche, sondern auch der archäologische Kon-
Riedesel (1740–1785), der selbst im Begriff war, For- text, d. h. die Häuser und Villen, in denen die Fresken
schungen in Sizilien zu unternehmen (s. S. 181). gefunden worden waren. Weil er ganze Wände studie-
In der Korrespondenz Tanuccis wird W. wiederholt ren konnte, hatte er die Möglichkeit, etwas über die
erwähnt. So schreibt der Minister dem neapolita- Rahmung der figürlichen Bilder zu sagen. Dazu boten
nischen Gesandten in Paris, Ferdinando Galiani, am die ausgeschnittenen Fragmente im Museum keine
5. Januar 1765, W.s Kritik an Camillo Paderni sei ›di Voraussetzungen (Moormann 1995, 30–33). In den
pessimo costume‹ (von übelstem Stil) gewesen (Cop- Herculanischen Briefen finden sich Beschreibungen
pini u. a. 1996, Bd. 15, 38). Am 30. März kündigt Ta- von Wandmalereien, die vermutlich Ansätze zu wei-
nucci eine Gegenschrift von Mattia Zarilli (1729– terführenden Publikationen sind, aber unausgearbei-
1804) an (Coppini et al. 1996, Bd. 15, 261; s. u.). tet blieben. Einiges fand seinen Platz in den Hercula-
nischen Schriften (Moormann 1995, 25–26).
Die Marmorplastik und die Großbronzen aus Her-
Winckelmanns Herculanische Schriften
culaneum und Pompeji waren nach W. fast durchweg
Ein Ausgrabungsleiter des 20. Jh., Alfonso de Francis- mittelmäßige Arbeiten, die den Kenntnisstand über
cis (1975, 20), bezeichnet W.s Herculanische Schriften die griechische Skulptur kaum bereicherten. Vom äs-
als »trattazioni organiche ed esaurienti delle scoperte,« thetischen Standpunkt betrachtet hatte W. wahr-
als in sich geschlossene und erschöpfende Darstellung scheinlich in vielen Fällen Recht. Einige der Statuen
172 III Werke

sind aber höchst aufschlussreich mit Blick auf die ge- utensilien auf den antiken Malereien gewann. Er be-
sellschaftliche Funktion der Skulptur, sei es im pri- diente sich aber auch aus dem schon gedruckten, je-
vaten, sei es im öffentlichen Bereich. Die Reihe lebens- doch noch nicht von der Zensur freigegebenen Werk
großer und überlebensgroßer Bronze- und Marmor- De regia theca calamaria von Giacomo Orazio Marto-
porträts aus dem Augusteum ist ohne Parallele in der relli (1699–1777). Dabei handelt es sich um eine
römischen Kunst, und die heterogene Sammlung aus Schrift über ein antikes Tintenfass und seine Bedeu-
der Villa der Papyri hat bis jetzt nirgendwo ihresglei- tung für die antike Schriftkultur, die W. als pedantisch
chen gefunden. Einige Stücke beurteilt W. hingegen ablehnt. Er verweist auf diesen Gelehrten nur, um ihn
ausgesprochen positiv. Er zeigt sich hingerissen von zu kritisieren. Tatsächlich verdankt er jedoch dieser
der archaistischen Diana aus Pompeji, studiert ihre Schrift manche Einsichten, ohne freilich über deren
Farbreste und entdeckt die Polychromie antiker Plas- Herkunft Rechenschaft abzulegen (SN II,1, 23).
tik (Kunze 2011; Moormann 2014, 64, Abb. 18).
Außerordentliches Interesse zeigt W. an den Papyri
Antiquarische Relazionen und Briefe
von Herculaneum. Dabei handelt es sich um die ver-
kohlten Buchrollen, die in einer ab 1755 erkundeten, Während und nach seiner ersten Reise in den Süden
am Meer gelegenen Villa an der Nordseite der Stadt schrieb W. seine ersten Erfahrungen in italienischen
aufgefunden wurden. Die Papyri gaben dieser von den Briefen an Bianconi nieder, die zum Teil unverzüglich
1990er Jahren an erneut untersuchten Villa ihren Na- in Zeitschriften veröffentlicht wurden und 1779–1780
men (Sider 2005; Zarmakoupi 2010). Erste Versuche, zusammen mit späteren Briefen als Antiquarische Re-
die Rollen zu öffnen und die Texte zu entziffern, schlu- lazionen in stark redigierter und verstümmelter Form
gen im Wesentlichen fehl. Dennoch stellte sich bald herauskamen (Alte Herkulanische Schriften; SN II,1,
heraus, dass die etwa 1800 Papyri griechische Texte 33–37; SN II,3, 160–162). Obwohl Bianconi der Adres-
enthielten, und die Hoffnung keimte auf, dass bald li- sat war, schrieb W. sie auch als Berichte an den Kur-
terarische Meisterwerke dem ungeduldigen Leser zur prinzen. Hartmut Döhl (2000, 82) wies darauf hin,
Verfügung stehen würden. Vom Augenblick der Ent- dass die Briefe von vornherein für die Publikation kon-
deckung an stellte sich den Literaturliebhabern die zipiert und deshalb als ›Aufsätze‹ angelegt waren. Be-
Frage, ob hier antike Spitzenliteratur auf ihre Wieder- kannt sind neun Relazionen aus dem Jahr 1758 sowie
entdeckung wartete – etwa Texte der athenischen Tra- acht weitere, die bis 1763 entstanden. Vor allem die
giker oder verschollene Teile bisher fehlender lateini- früheren sind von reportageartigem Zuschnitt und in
scher Autoren wie Livius. Doch das Abrollen schritt unserem Zusammenhang von besonderem Belang. Ei-
nur langsam voran, und die ersten Ergebnisse wirkten nige der Briefe, die nur Themen behandeln, die in kei-
enttäuschend, weil die gefundenen Texte des hellenis- ner Beziehung zu den Ausgrabungen um Neapel ste-
tischen Philosophen Philodemos den Erwartungen hen, können hier außer Betracht bleiben; doch auch
nicht entsprachen (Moormann 2015, 333–334). W.s von den späteren Schreiben sind manche für die Aus-
Gastgeber in Portici, Antonio Piaggi, war mit der grabungen einschlägig. Unter der Überschrift »Nach-
schwierigen Aufgabe beauftragt, die Papyri zu unter- richten von den alten herculanischen Schriften« be-
suchen, und veröffentlichte einige der Texte. Für diese handelt der erste, in Neapel entstandene und am
Arbeiten bekam Piaggi ausführliches Lob im Send- 31. März 1758 an Bianconi abgeschickte Brief, der nur
schreiben (Sendschreiben, 86; SN II,1, 125; vgl. SN II,1, in deutscher Übersetzung überliefert ist (Br. I, Nr. 207;
21). Schon in den ersten Briefen an Bianconi, auch in SN II,3, 1–8), drei der von Piaggi abgewickelten Papy-
einigen der späteren, beschäftigte sich W. mit diesen ri. W. beschreibt, auf welche Weise man versuchte, die
Schriften. Papyri zu entrollen. Ähnliches liest man im zweiten,
Auch W. zeigt sich nicht fasziniert von den Texten kürzeren Brief von 13. Mai aus Rom, der offenbar den
selbst, erweist sich aber als guter Archäologe, denn er ersten – W. zufolge verlorengegangenen – Brief erset-
würdigt die anscheinend kaum abzurollenden ver- zen sollte (Br. I, Nr. 211; SN II,3, 9–12). Der Verfasser
kohlten ›Stäbe‹ ausführlicher Betrachtungen. Er be- kündigt die Publikation von archäologischen ›Notizie‹
schreibt ihre materialen Eigenschaften und ihr Aus- (Nachrichten) an. Der dritte Brief, geschrieben Ende
sehen und befasst sich mit der Art, wie die Rollen be- Mai oder Juni 1758, setzt die Beschäftigung mit den
schrieben sind, und den Titelschildchen. Bei der Un- Papyri fort, aber auch die Malerei kommt erstmals zur
tersuchung der Papyri griff W. auf Einsichten zurück, Sprache (Br. I, Nr. 218; SN II,3, 13–18). In dem groß-
die er beim Studium der Abbildungen der Schreib- formatigen Bild des Telephos aus dem Augusteum in
18 Winckelmann und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji 173

Herculaneum erkennt W. nicht die »gran pittura« der der den vier kleinen in der sogenannten Palaestra ge-
Griechen, und auch die Bronzeplastik zieht ihn nicht fundenen, an der Wand eines großen Saales abgestell-
an, wohingegen die bronzenen Utensilien »con finezza ten Gemälden gilt (Br. II, Nr. 467; SN II,3, 58–60).
ed eleganza« gearbeitet seien. Brief vier vom Juli des- Diese Werke habe er bei zehn Besuchen »per ore intie-
selben Jahres enthält Addenda zu den Ausführungen re« (stundenlang) studiert; er beschreibt sie »più da
über die Papyri (Br. I, Nr. 222; SN II,3, 19–23). Zur Pittore che da Antiquario« (mehr als Maler denn als
Maltechnik notiert W., dass diese nicht gut untersucht Antiquar). Tatsächlich sind die Beschreibungen sorg-
werden könne, weil in Portici die Oberflächen der Ori- fältig und zeugen von W.s scharfem Auge und gutem
ginale ›barbaricamente‹ gefirnisst würden. Tatsächlich Gedächtnis. Rätselhaft wirkt die Forderung in der
wurden die Malereien mit Wachs und Firnis behan- letzten Zeile, dass Bianconi diese Information nicht
delt, bevor sie gerahmt wurden. Sehr negativ beurteilt weitergeben solle. Wollte W. eine Veröffentlichung des
W. die gelehrten Kollegen in Neapel. Ebenfalls auf den Briefs verhindern (so SN II,3, 266)? Brief 14 vom
Juli ist der fünfte Brief datiert, der die Marmorskulptu- 19. März 1762 ist sicherlich der unterhaltsamste: Er
ren als »mediocre« Produkte beurteilt. Insgesamt handelt von den Bronzeamuletten, vor allem den Pria-
nimmt W. kaum zu den Objekten selbst Stellung, wer- pi und Phalli (Br. II, Nr. 475; SN II,3, 61–63; vgl. Dis-
tet sie aber pauschal ab, da sie dem Ideal nicht entsprä- selkamp 1993, 270–272). W. sieht diese Objekte als
chen (Br. I, Nr. 223; SN II,3, 24–28). In Neapel bewun- apotropäische Zeichen, wie man sie noch im Süden
dert er die Gemäldesammlung von Capodimonte. Im finden konnte (und kann), und antizipiert Gedanken,
selben Brief finden sich auch Bemerkungen über die die später der englische Proto-Anthropologe Richard
Restaurierung antiker Werke. Im sechsten Brief vom Payne Knight (1750–1824) in einer einflussreichen
22. Juli unterwirft W. Publikationen von Bayardi (1752 Schrift ausgearbeitet hat (Hönes 2014, 87–137). W. be-
und 1755) und Caylus (1752–1767), unter anderem sucht Pompeji, wo in seiner Anwesenheit eine Son-
über Herculaneum, einer scharfen Rezension (Br. I, nenuhr und ein Marmortisch entdeckt werden. Ob
Nr. 224; SN II,3, 29–33). Er würdigt Anne-Claude- dies, wie beim Besuch bedeutender Personen üblich,
Philippe de Tubières, Grafen von Caylus (1692–1765) in einer mise-en-scène geschah, für die Objekte von
allerdings als denjenigen, der als erster die Kunststile den Ausgräbern im Schutt versteckt wurden, bleibt
der antiken Völker unterschieden habe. Das Thema zweifelhaft, denn der Tisch wäre für ein solches Ma-
der Fälschungen in der Malerei kommt im Zusam- növer zu groß gewesen. Unter den aus der Villa der Pa-
menhang mit den herculanischen Entdeckungen kurz pyri in Herculaneum stammenden Bronzen, die im
zur Sprache (vgl. über Fälschungen Burlot 2012). Im 15. Brief vom Mai 1762 erwähnt werden, sind die Sitz-
siebenten Brief, vom 29. Juli, finden wir nur eine kurze figuren eines Hermes und eines Satyrn (Br. II, Nr. 482;
Erwähnung von Herculaneum, die gemalte Stillleben SN II,3, 64–66). Den Bericht über eine scharfe Dis-
mit Schreibutensilien betrifft. W. illustriert seine Be- kussion, die W. im Museum mit einem deutschen Be-
merkung mit zwei kleinen Skizzen (SN II,3, 34–36). sucher über die von diesem Unbekannten offenbar
Im Hauptteil des neunten Briefes (26. August) widmet unterbewertete Sammlung führte, rückte der Verfas-
sich der Verfasser erstmals der Stadt Herculaneum ser nicht in die größere der Herculaner Schriften ein.
selbst (Br. I, Nr. 231; SN II,3, 42–45), die er für eine Die meisten Themen, die W. in den Briefen behan-
Kleinstadt mit Häusern von mehrheitlich bescheide- delt, sind auch Gegenstand der großen Aufsätze Send-
ner Größe hält. Da ein Plan fehle, seien die Vorausset- schreiben und Nachrichten (SN II,3, 73–103). In den
zungen für eine Erforschung der Stadtanlage jedoch Briefen gibt W. jedoch fälschlich an, die vier Gemälde
ungünstig. Wahrscheinlich aus diesem Grund wendet aus Herculaneum seien in Stabiae gefunden worden
sich W. sofort den Details zu: Er nimmt Stellung in ei- (SN II,3, 96). Ein Unikum ist die Erwähnung einer La-
ner aktuellen Debatte über die Existenz von Fenster- trine im Obergeschoss eines Hauses in Pompeji (SN II,
glas, wobei er sich auf die Fragmente beruft, die er in 3, 73), die W. nicht in das Sendschreiben übernimmt.
Portici (also, wie es scheint, nicht in der Grabung) ge- Die 103 Beschreibungen von Inschriften und kleine-
sehen hatte. Kamine seien nicht in die antiken Häuser ren Objekten (SN II,3, 85–96) kann W. nur bei zahl-
eingebaut worden. reichen Stippvisiten gemacht haben. Etwas Ähnliches
In der Reihe der Relazionen tritt jetzt eine längere findet man in anderen zeitgenössischen Schriften
Unterbrechung bis zum 27. Februar 1762 ein. Unter nicht. Dagegen schenkt W. den Papyri in diesen Auf-
diesem Datum schreibt W. unmittelbar nach Rück- zeichnungen viel weniger Beachtung als in den publi-
kehr von der zweiten Reise einen Brief an Bianconi, zierten Schriften.
174 III Werke

Der polemische Ton ist generell charakteristisch Zeit mit dem Lebenslauf eines Feldherrn wieder, auf
für W.s Umgang mit anderen Altertumskennern (Dis- dem der Verstorbene als Knabe von einem Lehrer und
selkamp 1993, 326–365; SN II,1, 39–40). Die kritische den Musen unterrichtet wird (SN II,2, Taf. 76).
Haltung mag von mangelndem Verständnis für die lo- Nach bis zur Unsachlichkeit kritischen Ausführun-
kale Situation und für die gelehrten Gewohnheiten in gen über Martorelli und Mazocchi, deren Sinn erst im
Neapel zeugen (Kunze 1982, 32; Allroggen-Bedel weiteren Verlauf deutlich wird, beginnt die Schrift mit
1990). Max Kunze (1982, 25–26) hat treffend ange- einer kurzen historischen Vorstellung von Hercula-
merkt, dass die Herculanischen Schriften in ihrer Re- neum, Pompeji und Stabiae. W. glaubt, dass fast alle
zeptionsgeschichte sowohl unterschätzt als auch über- Einwohner rechtzeitig die Flucht vor dem Vesuvaus-
bewertet wurden. Einige Vorwürfe W.s (s. u.), die All- bruch ergriffen hätten, weil kaum menschliche Über-
roggen-Bedel als unbegründet ansieht, hält Kunze al- reste gefunden worden waren. Er findet Indizien für
lerdings für zutreffend. ältere Vesuvausbrüche, zu denen er die Pflastersteine
zählt. Überraschend sind die Bemerkungen über die
Stratigraphie der vulkanischen Schichten, die W. ei-
Winckelmanns »Sendschreiben«
gentlich noch nicht gesehen haben kann und die erst
Aus den beiden ersten Reisen ging W.s erste Hercula- Hamilton ausführlich studiert hat.
nische Schrift hervor: das Sendschreiben von den Her- Leider gibt W. nicht an, auf welches Jahr die ersten
culanischen Entdeckungen, das 1762 bei seinem Ver- Entdeckungen in Herculaneum fallen, obwohl dies zu
leger Walter in Dresden erschien (SN II,1). Das Send- seiner Zeit noch bekannt gewesen sein dürfte. Dieses
schreiben ist ein Erfahrungsbericht mit ausgeprägter Datum wird bis heute kontrovers diskutiert; höchst-
deskriptiver Tendenz, den W. in Albano abfasste, wo wahrscheinlich liegt es zwischen 1709 und 1716
ihm keine Bibliothek zur Verfügung stand. Nach Justi (Moormann 2015, 13–14). Die von W. erwähnte Karte
(1923, II, 437) handelt es sich um »Erinnerungsblätter mit den unterirdischen Gallerien kennen wir leider
einer vielfach beschränkten Autopsie, doch ist alles ebenfalls nicht. Sehr scharf beurteilt der Verfasser den
Autopsie.« Diese laue Würdigung ist zutreffend, wenn Leiter der Bergbauarbeiten, Alcubierre, der keine
wir berücksichtigen, dass W. vermutlich nur das Mu- Kenntnis der auszugrabenden Gegenstände besitze
seum gesehen hatte (siehe oben), doch sie ist zugleich und bei den Grabungen auf grobe Art verfahre. Als
weniger berechtigt, als Justi glaubt. Gerade die Autop- Beispiele dienen W. die Sammlung loser bronzener
sie und die vielen Details machen die Schrift nämlich Buchstaben im Theater, die von einer einzigen monu-
zur ersten und, zusammen mit der zweiten Hercula- mentalen Inschrift stammen sollen, und die Rekon-
nischen Schrift, zur einzigen Quelle aus dem 18. Jh., struktion eines Bronzepferds aus einzelnen Fragmen-
die uns vor Augen führt, was vor Ort zu sehen und zu ten im Museum. Allroggen-Bedel (1990, 28, 30; anders
erleben war. Die zahlreichen zeitgenössischen Reise- Kunze 1982, 25–26 und SN II,1, 161) weist darauf hin,
berichte fallen erheblich kürzer aus, und Monogra- dass W.s Kritik in diesen wie in einigen anderen Fällen
phien zu Herculaneum waren, wie wir gesehen haben, nicht gerechtfertigt ist: Tatsächlich wurde sorgfältiger
äußerst selten. Im damals üblichen Briefstil (Dissel- gearbeitet, als er annimmt. Dokumentationen wurden
kamp 1993) behandelt W. Topographie, Vernichtung angefertigt, den ausländischen Besuchern allerdings
und Entdeckung, Immobilien und Mobilia. Gegen sei- nicht zur Verfügung gestellt. Vor allem Karl Weber
ne Gewohnheit, aber in Übereinstimmung mit dem hatte Interesse an der Stadtplanung. Für die wechsel-
Zeichen- und Publikationsverbot, das über die Samm- seitigen Irritationen waren nach Allroggen-Bedel
lungen verhängt war, verzichtet die Abhandlung fast Mentalitätsdifferenzen verantwortlich (Allroggen-Be-
völlig auf Illustrationen. Eine Ausnahme ist die Abbil- del 1990, 39–41; vgl. De Franciscis 1975, 13). Aus Nea-
dung eines Demosthenesbüstchens, die vielleicht von politaner Sicht waren die Ausgrabungen ein Unterneh-
Mengs gezeichnet wurde (SN II,1, 56–57; SN II,2, Ta- men des Königs, weshalb Angriffe auf die Grabungen
fel 77; Mattusch 2013, 5). Zwei weitere Abbildungen als Beleidigung des Monarchen betrachtet wurden.
gehören streng genommen nicht zur Sache, weil sie Daraus schließt Allroggen-Bedel (1990, 41): »So ist die
mit den Grabungen in den Vesuvstädten in keinem Geschichte der Begegnung W.s mit der neapolita-
Zusammenhang stehen: Auf dem Titelblatt findet man nischen Kultur und Wissenschaft die eines fast grotesk
eine Gemme, die in Buchrollen lesende Figuren zeigt; zu nennenden Missverständnisses.« Hinzu kommt,
ein großes Bild gibt die rechte Seite eines jetzt in den dass W. der erste Altertumsforscher war, der sich pro-
Uffizien befindlichen Sarkophags spät-antoninischer fessionell vor Ort mit den Funden beschäftigte.
18 Winckelmann und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji 175

Bei aller Kritik fordert W. keine andere Grabungs- und Greifen nicht besser zur zweiten Kategorie passen
methode. Die damals bekannten Gebäude in Hercula- würden, die Opfergeräte und Silbergefäße umfasst.
neum werden kurz beschrieben: Theater, Augusteum Schmuck, aber auch sellae curules (Klappstühle der
(wegen zweier Rundnischen, aus denen einige Male- Magistraten) sind ebenfalls dieser Kategorie sub-
reien stammten, noch fälschlich als Rundtempel be- sumiert. Die Kategorien sind nach der bereits erwähn-
zeichnet) und die Villa der Papyri. Die jeweils zugehö- ten antiquarischen Taxonomie gewählt (siehe oben,
rigen Funde werden ebenfalls erwähnt. In Pompeji vgl. Herklotz 2012, 89, Abb. 12). Im Stil eines Anti-
hingegen gab es 1762 wenig zu sehen; die zwischen quars führt W. antike Textstellen an, um seine Be-
1748 und 1755 untersuchten Stellen waren, wie schon obachtungen zu belegen. Wie in den antiquarischen
bemerkt, gleich wieder zugeschüttet worden. Wenn er Briefen würdigt der Verfasser die Papyri, oft mit den-
englischen Reisenden abschätzig empfiehlt, nach selben Formulierungen, einer langen Beschreibung.
Pompeji zu gehen, um freigelegte Hausmauern an- W. lässt sich auch auf Desiderate der Forschung,
zuschauen, zeigt W., wie wenig er selbst erst von der Schreibtechnik und antiquarische Details ein. Zu
Bedeutung der Grabungen verstanden hatte. Recht erhebt er den Anspruch, als erster ausführlich
Die Funde unterteilt W. in zwei Kategorien – »die über die Schriftrollen zu berichten.
Sachen der Kunst und die Geräthe« und »die gefunde-
nen Schriften« (SN II,1, 86). Wie die Gegenstände im
Winckelmanns zweite Herculanische Schrift: Die
Museum aufgestellt waren, notiert er erst am Ende des
»Nachrichten«
Sendschreibens. Offenbar will er seine Analyse der
Funde nicht von der Aufstellungsordnung beeinflus- Der zweite Bericht aus Herculaneum waren die 1764
sen lassen; in Reiseberichten wird die Einteilung sol- publizierten Nachrichten von den neuesten Hercula-
cher Beschreibungen dagegen von der Museumsein- nischen Entdeckungen, deren Titel mit dem Epitheton
richtung bestimmt. In der ersten Gruppe beanspru- ›neuesten‹ an das Sendschreiben anschließt (SN II,2).
chen die Malereien den Löwenanteil. Obwohl W. eini- Tatsächlich beginnt W. die um die Hälfte kürzere
ge von ihnen, etwa die Fragmente aus der Villa des Schrift mit der Bemerkung, dass er das Sendschreiben
Cicero in Pompeji und die vier ›Bilder‹ aus der so- korrigieren und erweitern wolle. Der Verfasser freut
genannten Palästra in Herculaneum, lobt, sieht er sich sich über eine positive deutsche Rezension dieser Ar-
von ihrer Mehrzahl enttäuscht (Moormann 1995). beit (abgedruckt in SN II,3, 114–121). Die Kenntnis
Ebenso wenig Lob entfällt auf die Plastik, obwohl an- der vorangehenden Publikation wird also voraus-
gesichts der Seltenheit bronzener Statuen in Rom die gesetzt. Gleich zu Beginn hebt W. hervor, dass er
verhältnismäßig große Zahl an entsprechenden Figu- selbst in Pompeji war: Er ist dem Verlauf der Stadt-
ren aus Herculaneum (vor allem die, zugegeben, nicht mauer gefolgt, die in seiner Zeit, obwohl noch nicht
erstklassigen Bildnisse aus dem Augusteum) ihn doch ausgegraben, offenbar ebenso deutlich sichtbar war
hätte beeindrucken müssen. Mit sicherem Urteil wie die »ovale Vertiefung« (SN II,2, 9) des Amphi-
schätzt W. die von Apollonios signierte Büste des po- theaters. Dieser Besuch habe ihn auch entdecken las-
lykletischen Doryphoros (Speerträgers) und dessen sen, dass Pompeji bereits »unter Nero« von einem
Pendant, eine Amazone, als Werke des klassischen Erdbeben heimgesucht wurde. Die Schäden, die das
Stils ein. Die Priapi des ›priapeischen‹ Briefes (s.o) von Seneca und Tacitus erwähnte Ereignis verursach-
kehren im Sendschreiben wieder und werden dort mit te, sind damit zum ersten Mal schriftlich festgehalten.
größerem Ernst behandelt. Die Inschriften, die W. Ausführlich behandelt W. das schon zu Beginn der
wiedergibt und kommentiert, muss er wegen des Auf- Grabungen in Herculaneum entdeckte Theater, von
zeichnungsverbots auswendig gelernt haben. Es fol- dem mehrere Rekonstruktionszeichnungen herge-
gen Utensilien, die schon in zeitgenössischen Reisebe- stellt worden waren (vgl. Cochin/Bellicard 1753, Taf.
richten erwähnt werden. Auch in Rom hatte man sol- 2–4). Er geht auf spezifische Formprobleme des grie-
che Objekte, etwa Amphoren, Schalen, Waagen und chischen und römischen Theaters und auf Vitruvs
Lampen in Ton und Bronze, gefunden, aber kaum be- einschlägige Ausführungen ein. W. untersucht das
achtet. W. würdigt die Gegenstände ausführlich und Beobachtete also unverzüglich analytisch. Als ein-
teilt sie in zwei Kategorien ein: nützliche Gegenstände ziges Monument von Herculaneum wurde das Ge-
und Luxuswaren. Diesen Unterschied arbeitet er aber bäude kurze Zeit später Gegenstand einer Monogra-
nicht weiter aus, und man mag sich fragen, ob die in phie mit detaillierten Tafeln von Francesco Piranesi
der ersten Gruppe behandelten Becken mit Priapen (Piranesi 1783; s. jetzt zum Theater Pagano 2000). W.
176 III Werke

gibt anders als in seinen Ausführungen über Pompeji 33) und Schrifttum. In dieser Abteilung bringt W. be-
nicht an, ob er das Gebäude in Augenschein genom- sonders viele antiquarische Hinweise an. Denn nach
men hat, doch seine Bemerkungen legen dies nahe. dem Muster älterer Antiquare will er die Objekte deu-
Auch dem sogenannten Herculaner Tor am Nord- ten und mit Textdokumenten in Verbindung bringen.
westrand der Stadt und den davor liegenden Grabmä- Die Schreibutensilien geben Anlass zu einigen Gedan-
lern widmet er seine Aufmerksamkeit. Dieses schon ken über die Papyri. Die Abhandlung endet ziemlich
bald für die Reisenden markanteste Gebäude in Pom- abrupt: Ein Fazit gibt es nicht– es sei denn, man wollte
peji war noch nicht vollständig ausgegraben, wurde den pythagoreischen Hexameter »Was habe ich falsch
aber schon ab 1763 als einer der Zugänge zu der anti- getan, was gut? Und welche Pflicht habe ich nicht voll-
ken Stadt gedeutet. Die Entdeckung des Tors könnte endet?« als ein solches ansehen.
ein Glückstreffer gewesen sein, aber denkbar ist auch,
dass in den Weingärten von Civita die Oberkante im-
Resümee. Kritische Reaktionen
mer sichtbar gewesen war. Der Vergleich mit einem
noch immer rätselhaften ovalen Gebäude in Velleia, Im Sendschreiben wie in den Nachrichten bemüht sich
den W. vornimmt, fällt aus dem Rahmen, weil es we- W., das disparate und lückenhafte Wissen über die ar-
der mit dem Tor noch mit dem Theater Übereinstim- chäologischen Funde in den Vesuvstädten zu synthe-
mungen aufweist. tisieren. Dabei wendet er den Grabungen erheblich
Ein regelrechtes Archäologeninteresse legt W. bei weniger Aufmerksamkeit zu als den Gegenständen,
der Behandlung der Häuser an den Tag, die bis zu sei- die im Museum von Portici gesammelt waren. Hier ist
ner Zeit gefunden worden waren. Zunächst berichtet eine Tendenz zu beobachten, die sich auch in anderen
er über die extraurbanen Villen (Papyri, Diomedes Schriften W.s, mit Ausnahme der Traktate über die
und Cicero). Er beschreibt aufs neue begeistert die Architektur, abzeichnet: Der Stendaler war mehr an
Malereien der sogenannten Cicerovilla, wo auch die Kunst und Kunstgegenständen interessiert als an ar-
beiden ebenfalls hochkarätigen Dioskoridesmosaike chäologischen Kontexten. Darin, dass er solche Ob-
gefunden wurden – eines davon in Anwesenheit des jekte als Zeugnisse antiken Kunstschaffens deutet
Autors, wie er zu betonen nicht müde wird (SN II,2, oder sie der Alltagskultur zuordnet und sie, auch
22). In den von Goethe 1787 abschätzig mit dem wenn es sich um bis zu dieser Zeit noch Unbekanntes
Aperçu »mehr Modell und Puppenschrank als Gebäu- handelt, in Übereinstimmung mit den schriftlichen
de« belegten Stadthäusern erkennt W. als zentralen Quellen zu bringen versucht, ist er ein Kind seiner
Teil das Atrium. Dieses Wort führt er fälschlich auf ei- Zeit. In diesem Sinn sind Herculaneum und Pompeji
ne griechische Wurzel zurück, während es tatsächlich eigentlich in den Augen W.s kaum einzigartig: Gra-
von ›ater‹, schwarz, abzuleiten sein dürfte. In einer bungen in den römischen Villen außerhalb von Rom
dieser Wohnungen wurde die wiederholt von W. be- bringen mehr zum Vorschein, als es hier der Fall ist.
schriebene und oben schon erwähnte archaistische Die städtische Architektur würdigt W. zwar, aber der
Diana gefunden. Kurz geht der Verfasser auf die feh- Umstand, dass er vermutlich nur ein- oder zweimal
lende Symmetrie in der Anlage der Häuser ein wie die Grabungen besucht hat, setzt seinen spärlichen,
auch auf ihre Ausstattung mit Mosaiken und Wand- wenngleich guten Beobachtungen Grenzen.
malereien. Ausführlich beschrieben sind wieder die Dass W. nicht über Stratigraphie spricht, nimmt
Statuen. Verglichen mit der Villa der Papyri in Hercu- nicht Wunder: Dieser Aspekt stand noch nicht auf der
laneum liefert Pompeji offenbar wenig Interessantes. Agenda der zeitgenössischen Archäologie, obwohl er
Deshalb ist W. der Ansicht, dass die Grabungen in den kein völlig unbekanntes Thema war. Schon 1689 war
Villen der Campagna von Rom viel ergiebiger seien am Hang des Vesuv gegraben worden (Moormann
(SN II,2, 29; vgl. Bignamini/Hornsby 2010). Als Beleg 2015, 12). Doch erst Prähistoriker des frühen 19. Jh.
folgt die Beschreibung eines klassisch athenischen entwickelten solche Forschungen weiter (Pucci 1993;
Grabreliefs aus der Sammlung seines Gönners Kardi- Renfrew/Bahn 2012).
nal Albani (SN II,2, 29, 83, Taf. 48.1). Mit Veröffentlichungen zu den Grabungen setzt
Der Schlussteil ist den »Geräthen« gewidmet, die, sich W., mit Caylus als einziger Ausnahme, kaum aus-
wie im Sendschreiben, nach ihrer (vermeintlichen) einander. Hingegen diskutiert er mit den Antiquaren
Funktion in die Kategorien sakral und profan unter- und zitiert ältere und jüngere Publikationen, auch
teilt sind. Die profanen Gerätschaften umfassen All- wenn sie in keiner Verbindung zu Herculaneum und
tagsleben, Luxus, »Spiel« (Nachrichten 44; SN II,2, Pompeji stehen. Möglicherweise kannte er die oben
18 Winckelmann und die Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji 177

genannten frühen Schriften nicht oder schätzte sie so einer reich bebilderten Vitruvedition einen Namen
gering, dass er es vorzog, sie zu ignorieren. gemacht. Die ihm zugeschriebenen Kritik ist fast mit
Ein Vergleich der beiden gedruckten Schriften mit der Schrift Zarillis identisch, fällt aber kürzer aus und
den an Bianconi adressierten Briefen zeigt, dass der oft beschränkt sich auf die Apologie von Mazzocchi,
so rücksichtlose Kritiker sich in den beiden Bändchen Martorelli und Alcubierre.
einigermaßen zurückhielt. Doch enthalten auch diese Im Rahmen von W.s Gesamtwerk scheinen mir die
Schriften manche undiplomatische Formulierung. Herculanischen Schriften einen untergeordneten
Zarilli (s. u.) nimmt an, dass W. die deutsche Sprache Rang zu besitzen. Wegen ihrer Verbindung zur ar-
wählte, damit seine Veröffentlichungen am neapolita- chäologischen Feldarbeit bleibt ihnen allerdings eine
nischen Hof nicht zur Kenntnis genommen wurden. Sonderstellung vorbehalten. W.s Herculaneum- und
Ich bezweifle, dass derlei sprachpolitische Erwägun- Pompejiforschungen stehen am Anfang einer Reihe
gen eine bedeutende Rolle spielten, denn W. verwen- von archäologischen Arbeiten, die ganze Städte oder
dete in seiner Publikationspraxis mehrere Sprachen große archäologische Komplexe zum Gegenstand hat-
nebeneinander. Allerdings trifft zu, dass erst die fran- ten. Die beiden Schriften sind wegen der Ausführlich-
zösische, 1764 von Caylus besorgte Übersetzung des keit, in der sie viele Funde beschreiben, noch immer
Sendschreibens und ihre positive Rezension in der in von Bedeutung und bilden eine Ausnahme unter den
ganz Europa gelesenen Gazette littéraire die Neapoli- zeitgenössischen Veröffentlichungen über die Vesuv-
taner Freunde zu Feinden werden ließen. städte. W. selbst bekundet die Absicht, einzelne Stücke
Die Übersetzung, die erst erschien, als die Nach- im »Lehrgebäude« seiner Geschichte der Kunst ein-
richten schon publiziert waren (SN II,1, 43–44), war gehender und systematischer zu behandeln; in einigen
Gegenstand von zwei kritischen Reaktionen aus Nea- Fällen hat er dies getan (vgl. Moormann 2014).
pel (Galiani 1765 und Zarilli 1765, abgedruckt in SN
II,3, 139–155). Die anonym publizierte Rezension Quellen
(Zarilli 1765) wurde Mattia Zarilli (1729–1804) zu- Antichità 1757–1792: Le antichità d’Ercolano esposte. 8 Bde.
geschrieben (SN II,1, 13, 44, Moormann 2015, 45), Neapel, 1757–1792.
Bayardi, Ottavio Antonio: Prodromo delle antichità d’Erco-
obwohl der Autor Zarilli als Kenner anführt. Der Ver- lano, 5 Bde. Neapel 1752.
fasser bewertet W. als Barbar aus dem Norden (»Go- Bayardi, Ottavio Antonio: Catalogo degli antichi monumen-
to«), W. habe in deutscher Sprache geschrieben, um ti dissotterrati dalla discoperta città di Ercolano per ordi-
sich an seine Landsleute zu wenden, die Fremdspra- ne della Maestà di Carlo Re delle Due Sicilie. Neapel 1755.
chiges vermieden, und um gleichzeitig die europäi- Caylus, Anne-Claude-Philippe de: Recueil d’Antiquités
égyptiennes, étrusques, grecques et romaines. 7 Bde. Paris
sche Leserschaft auszuschließen. Dass Ausgrabungs-
1752–1767.
gegenstände verloren gegangen oder weggeworfen Cochin, Nicolas/Bellicard, Charles: Observations upon the
worden waren, wie W. vermutet, bestätigt Zarilli, be- Antiquities of the Town of Herculaneum. London 1753.
hauptet aber, dieser Schwund falle angesichts der Un- Desgodetz, Antoine: Les édifices antiques de Rome dessinés
menge an vollständigen Stücken, die in Portici auf- et mesurés très exactement. Paris 1682.
bewahrt würden, nicht ins Gewicht. Für schwerwie- Fougeroux de Bondaroy, Auguste Denis: Recherches sur les
ruines d’Herculanum et sur les lumières qui peuvent en
gender hält Zarilli W.s Vorwürfe an Martorelli und
résulter, relativement à l’état présent des Sciences & des
Mazocchi, wobei der Kritiker weniger über den Inhalt Arts. Paris 1770.
als über die von Mazocchi verfassten lateinischen Ver- Galiani, Berardo: Considerazioni sopra la lettera dell’ abate
se spricht. Zarilli geht auch auf die Inschriften ein, die Winkelmann. Neapel 1765 (anonym publiziert/abge-
er vor Ort nachprüfen konnte. W.s Angriff auf Alcu- druckt in SN II, 3, 151–155).
bierre wehrt er mit dem Argument ab, dass ein guter Gori, Antonio Francesco: Notizie del memorabile scopri-
mento dell’ antica città Ercolano vicin a Napoli, del suo
Bergbauingenieur unter den gegebenen Umständen famoso teatro. Florenz 1748.
nützlicher sei als ein gelehrter Archäologe. Auch die Kircher, Athanasius: Oedipus Aegyptiacus I–IV. Rom 1652–
kritischen Bemerkungen zu anderen neapolitanischen 1654.
Kollegen seien gegenstandslos. Letzten Endes kann Martorelli, Giacomo Orazio: De regia theca calamaria. Nea-
Zarilli W.s Kritik nicht überzeugend widerlegen, und pel 1764.
[Anon.]: Mémoire historique et critique sur la ville souter-
so bleibt es bei einer schwach begründeten Beschimp-
raine, découverte au pied du mont Vésuve. Avignon
fung des ›Goten‹ aus dem fernen Norden. Berardo Ga- 1748.
liani (Galiani 1765) war ein Bruder des Gesandten Piranesi, Francesco: Il teatro di Ercolano. Rom 1783.
Ferdinando in Paris (siehe oben) und hatte sich mit Saint-Non, Jean-Claude Richard de: Voyage Pittoresque ou
178 III Werke

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180 III Werke

19 Winckelmann und die Seit der Entdeckung der drei dorischen Tempel in
griechischen Tempel von Paestum um die Mitte des 18. Jh. standen Fragen der
Architekturforschung auf der Tagesordnung, nament-
Agrigento lich die nach Genese und Entwicklung des griechi-
schen Ringhallentempels (vgl. De Jong 2014, 173–227;
Wiederholt hören wir von W.s Plänen, die antiken Mo- zu Winckelmann 201–210). Sizilien besaß einen au-
numente Siziliens in Augenschein zu nehmen – doch ßerordentlichen Reichtum an solchen Monumenten:
alle Projekte dieser Art, darunter konkreter ausgear- In Syrakus, Agrigent, Selinunt und Segesta standen
beitete, scheiterten (SN III,115–116). Trotzdem fessel- mehr oder weniger vollständig erhaltene Tempel dori-
ten die dortigen Ruinen den Stendaler in seinen For- scher Ordnung oder doch ansehnliche Ruinen solcher
schungen zum Ursprung der antiken Architektur. Zwei Heiligtümer, die zum Studium einluden (Gruben
Monumente macht er zum Gegenstand eines kurzen 1980, 265–317; Hellmann 2006, passim). Ihre Entste-
Aufsatzes: Die Anmerkungen über die Baukunst der al- hung fällt grosso modo in Entwicklungsphase und
ten Tempel zu Girgenti in Sicilien wurden 1759 in der Blütezeit griechischer Kolonien im 6. und 5. Jh. v. Chr.
noch jungen, aber viel gelesenen Bibliothek der schönen Im Verlauf des 18. Jh. wurden sie, nach den Monu-
Wissenschaften und der freyen Künste publiziert (Bd. 5, menten von Paestum, als Gegenstand zahlreicher Pu-
Faszikel 2, 223–242/SN III,1–11). Der Text ist gewis- blikationen zu den am besten dokumentierten Tem-
sermaßen ein Torso, der – wie später die Anmerkungen peln griechischen Ursprungs (zur Dokumentation
über die Baukunst der Alten (Leipzig 1762), die trotz von Paestum s. De Jong 2014). Die Bauten von zuwei-
ihrer Kürze sogar ein Sachregister enthalten – Teil ei- len ungeheuren Dimensionen in Selinunt und Agri-
ner größeren Arbeit hätte werden sollen. gent sind, zusammen mit den ionischen Tempeln von
Im jungen, 1734 gestifteten Königreich Neapel bzw. Ephesos, Didyma und Samos aus dem 6. bis 4. Jh., die
Königreich beider Sizilien spielte die größte Insel Ita- damals kaum bekannt waren, die größten Heiligtümer
liens kaum eine bedeutendere Rolle als während der der antiken griechischen Welt überhaupt. Der Zeus-
Zeit der Vizekönige unter der spanischen Krone. tempel von Agrigent, in W.s Worten »der größte Hau-
Wirtschaftlich, sozial und politisch wurde das Land fen von Steinen« (Baukunst Girgenti 322; SN III,7),
von allzu vielen, meist verarmten Adelsgeschlechtern schien das menschliche Fassungsvermögen zu über-
von geringem Ansehen beherrscht, die selten Wissen- steigen. Der Tempel konnte kaum in ein Bild gefasst
schaft und Kultur förderten (vgl. Tuzet 1995, 269–280; werden und bildete umso mehr eine Herausforderung
Ceserani 2012). Auch die zahlreichen, oft von adligen für das Studium.
Stiftungen unterstützten kirchlichen Orden steuerten Welche Quellen standen W. zur Verfügung? Als ge-
zur Verbesserung der Lage wenig bei. Nur in Catania lernter Altphilologe kannte er die Beschreibung von
gab es eine Universität, die freilich kein hohes Renom- Diodor von Sizilien aus der zweiten Hälfte des 1. Jh.
mée besaß. Dennoch – in gewissem Umfang wurden v. Chr. in dessen Bibliotheca (13.82.1–4; vgl. De Waele
auch in Sizilien archäologische Forschungen betrie- 1971, 50–57, 187–188). Für den Archäologen wichti-
ben. Zu nennen sind Ignazio Vincenzo Paternò Cas- gere Daten waren der Monographie des Padre Giusep-
tello, 5. Fürst von Biscari (1719–1786; s. Tuzet 1995, pe Maria Pancrazi (gestorben um 1760) aus Cortona
365–369; Pafumi 2006, 29–30, 105–152) in Catania, (Pancrazi 1751–1752; Baukunst Girgenti 223; SN III,3;
Saverio Landolina Nava in Syrakus (1743–1814; s. Tu- 112) zu entnehmen, den W. in den ersten Zeilen seines
zet 1995, 370–371) und Bischof Lorenzo Gioeni y Aufsatzes erwähnt. Seinem Titel nach betrifft Pacrazis
d’Aragona in Agrigent (1678–1754; s. De Waele 1971, Buch Sizilien insgesamt, doch tatsächlich geht der
18), die sich mit den antiken Monumenten Siziliens Verfasser nur auf Agrigent ein (De Waele 1971, 18).
beschäftigten. Auch wenn die weite Entfernung oft ab- Pancrazi regte Gioeni zu ersten Grabungen im Zeus-
schreckend gewirkt haben dürfte, wuchsen Bekannt- tempel an; der Auftraggeber ließ aber bei dieser Gele-
heitsgrad und Attraktivität von Kunstdenkmälern genheit auch Blöcke aus diesem Tempel für den Bau
und Naturschönheiten der Insel doch so, dass eine des Hafens von Porto Empedocle zweckentfremden
Reise der Mühe wert schien (Tuzet 1995, 224–229 (De Waele 1971, 18; Tuzet 1995, 260).
über die Ruinenfaszination Siziliens). Sizilien war zu Zum Thema Akragas hatte W. zwei englische Infor-
Schiff von Neapel nach Palermo zu erreichen – diesen manten. Der in Rom lebende Joseph Henry (1727–
Weg sollte Goethe 1787 wählen – oder über Land 1796; s. Ingamells 1997, 484) verschaffte ihm Daten
durch das menschenleere Kalabrien. über die englischen Maße, die in seinen Quellen für

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_19, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
19 Winckelmann und die griechischen Tempel von Agrigento 181

die Größenangaben benutzt wurden und für seine te Blüte erreichte. Die meisten der üblichen Namen –
metrischen Forschungen wichtig waren. Von größerer ›Juno‹, ›Concordia‹, ›Hercules‹, Zeus und ›Vulcan‹ –
Bedeutung war der ebenfalls für mehrere Jahre in sind Fantasiebezeichnungen. Zu Recht heißt der gan-
Rom ansässige Architekt Robert Mylne (1733–1811; s. ze Komplex heutzutage ›Valle dei Templi‹ (›Tal der
Ingamells 1997, 693–695; De Jong 2014, 202, 204), der Tempel‹).
als erster Ausländer einen Architekturpreis der Acca- Erster Gegenstand von W.s Studie ist der gut erhal-
demia di San Luca in Rom gewann. Er hatte mit Ri- tene, weil in eine Kirche umgewandelte sogenannte
chard Phelps (ca. 1720–1771; s. Ingamells 1997, 765– Tempel der Concordia, vermutlich den Dioskuren ge-
766) von Februar bis Juni 1757 Sizilien bereist und widmet, der unter anderen, zum Teil ebenfalls in gu-
plante ein Buch über die antike Architektur, das je- tem Zustand befindlichen Tempeln immer noch das
doch nie erscheinen sollte. am besten erhaltene Heiligtum ist (Gruben 1980, 312–
W.s Freund Johann Hermann von Riedesel (1740– 315, Abb. 251; De Waele 1992, 192–198; Höcker 1993,
1785) reiste im März 1767 für etwa drei Monate nach 79–85; Hellmann 2006, 78, Abb. 95; SN III,117; 124).
Sizilien und gehörte dort zu den ersten Forschern aus Er gehört zu den klassischen Peripterostempeln mit
dem Ausland. Für W. kamen seine Ergebnisse, die 1771 einer Ringhalle von 6 × 13 Säulen und wird auf das
erschienen, viel zu spät ans Tageslicht (Riedesel 1771; dritte Viertel des 5. Jh. datiert.
s. Tuzet 1995, 37–40; Osterkamp 1992; Mertens 1993; Als zweites Bauwerk behandelt W. den nie fertig ge-
Ceserani 2012; De Jong 2014, 84). Ohne W.s Drängen stellten Tempel des Zeus, den viele Forscher als ein
wäre diese Publikation aber vermutlich nie zustande Siegesmonument deuten, dessen Bau nach der Demü-
gekommen (Mertens 1993, 8–9). Über beide Monu- tigung Karthagos im Jahre 480 begann (Gruben 1980,
mente, mit denen sich W. befasst, sollte auch Goethe 305–309, Abb. 247–249; Marconi 1997; Hellmann
begeistert in seiner Italienischen Reise schreiben. 2006, 33, 63, Abb. 26; SN III,127–128); der Tempel
Ausgangspunkt von W.s kurzer Schrift sind zwei wird aber auch als Prestigeobjekt des Tyrannen The-
dorische Tempel im antiken Akragas, das von den Rö- ron (88/487–472/471) betrachtet (Vonderstein 2000,
mern Agrigentum genannt, im Mittelalter und den 73–76). Mit seiner Basis von 56.30 × 113.45 Meter bil-
nachfolgenden Jahrhunderten mit dem Namen Gir- det er den größten dorischen Tempel der Antike. In
genti bezeichnet wurde und seit Mussolini Agrigento den Interkolumnien der durch 7 × 14 Halbsäulen un-
heißt. Beide Gebäude liegen am Südrand der Stadt terteilten geschlossenen Außenmauer befanden sich
und sind Teil einer Gruppe von fünf Tempeln, die im Reliefs riesiger männlicher Trägerfiguren, von denen
5. Jh. v. Chr. errichtet wurden, als Akragas seine größ- einige in den Ruinen liegend zu sehen sind. Ein weite-

Abb. 19.1 Akragas, Tempel der Concordia. In: Giuseppe Maria Pancrazi: Antichità siciliane (1751) II, 90.
182 III Werke

Abb. 19.2 Akragas, Olympieion. In: Giuseppe Maria Pancrazi: Antichità siciliane (1751) II, 78.

rer Telamon und Fragmente einiger Köpfe befinden denen W. fälschlich auch den Concordiatempel rech-
sich zusammen mit weiteren Rekonstruktionsvor- net, zu früh angesetzt (Baukunst Girgenti 231; SN
schlägen im lokalen archäologischen Museum (vgl. III,6). Dies wird in der modernen Forschung ähnlich
De Waele 1980, 207–209, Abb. 12; Vonderstein 2000, gesehen (vgl. Gros in Vitruve 1992, XX–XXI).
46–51, Abb. 2). Sie könnten Titanen als Metapher der W.s Absicht ist es letztlich mehr, der dorischen eine
geschlagenen Karthager darstellen (Marconi 1997; an- Vorrangstellung innerhalb der drei antiken Ordnun-
ders Vonderstein 2000, 75–76). Über die ursprüng- gen zuzuweisen, als die präzise Ordnung der Bauteile
liche Gestalt des Gebäudeinneren sind keine zuverläs- zu rekonstruieren. Die »Verzierungen« seien »groß
sigen Aussagen möglich, da gerade von hier die meis- und einfältig« (Baukunst Girgenti 231; SN III,6) – W.
ten Blöcke für den Hafenbau entfernt wurden. zufolge Qualitäten, die für die antike Kunst und Ar-
Der Tempel der Concordia veranlasst W., die Pro- chitektur im Allgemeinen gelten und auf die der Ver-
portionen des typischen dorischen Tempels in seiner fasser in späteren Schriften oft zurückkommt. Er be-
Urzeit zu erörtern, d. h. Grundlagen für Maße und handelt als erster Forscher auch den sogenannten do-
Verhältnisse der Bestandteile eines Ringhallentempels rischen Eckkonflikt, d. h. die regulierte Plazierung der
(zu den Proportionen u. a. Höcker 1993, 59–67). Die Triglyphen über der Mitte einer Säule, die an den
wichtigste Quelle für diese Frage war der zu W.s Zeit Ecken nicht aufgeht und von den Baumeistern korri-
gut erforschte Vitruv, der seinen Traktat De Architec- giert werden musste (Mertens 1993, 30; s. zum Pro-
tura oder Über die Baukunst um 20 v. Chr. publizierte blem Vitruv, De Architectura 4.3.2; s. Vitruv 1976,
und dem Kaiser Augustus widmete. Vitruv äußert sich 180–181; Vitruve 1992, 14–15, 121–123, Abb. 22).
an mehreren Stellen zu den Proportionen ionischer, Der zweite Abschnitt ist dem Zeustempel gewid-
korinthischer und dorischer Tempel (Buch 3.5 und met. Dem Werk von Pancrazi, insbesondere dem dort
4.3; vgl. Gros in Vitruve 1992, XIX, 129–142). Metho- abgedruckten Grundriss, konnte W. kaum Brauch-
disch ist wichtig, dass W. Vitruv zwar als Hauptquelle bares entnehmen. Hier soll Mylne auf der Grundlage
benutzt, zugleich jedoch feststellt, dass die relevanten von Zeichnungen und Autopsie dem Forscher wichti-
Abschnitte im vierten Buch für eine Geschichte des ge Informationen geliefert haben (Mertens 1993, 30,
dorischen Tempels und seines Ursprungs, also für mit Abb. 13 aus Pancrazi 1751–1752, II, Abbildung
»die dorische Baukunst in den ältesten Zeiten«, keine S. 78). Hinzu kommen einige in Diodors Beschrei-
hinreichenden Informationen enthalten (Baukunst bung (Bibliotheca 13.82.1–4) enthaltene Zahlenanga-
Girgenti 224; SN III,3; vgl. Mertens 1993, 10–11). Vi- ben, in denen W. jedoch Fehler feststellt (vgl. Vonder-
truv habe die Rekonstruktion der ältesten Tempel, zu stein 2000, 43; De Waele 1980, 195). Der Archäologe
19 Winckelmann und die griechischen Tempel von Agrigento 183

entwickelt ein richtiges Verständnis dafür, wie Dio- Vitruve: De l’ architecture livre IV. Texte établi, traduit et
dors Beschreibung des Tempeläußeren gelesen wer- commenté par Pierre Gros. Paris 1992.
den muss, das aus geschlossenen Wänden mit Halb-
säulen an der Außenseite und eckigen Pilastern an der Forschung
Ceserani, Giovanna: Italy’s Lost Greece: Magna Graecia and
Innenseite bestand. Er nimmt an, dass der Grundplan
the Making of Modern Arechaeology. Oxford 2012.
hexastyl ist, d. h. mit sechs Säulen an den Frontseiten. De Jong, Sigrid: Rediscovering Architecture. Paestum in
Dies jedoch trifft nicht zu: der Zeustempel gehört zu Eighteenth-Century Architectural Experience and Theo-
den wenigen Beispielen griechischer Tempel mit ry. New Haven/London 2014.
7 × 14 Säulen. Schließlich stellt W. eine Konjektur zu De Waele, Jozef Arthur: Acragas Graeca. Die historische To-
einer unklaren Diodor-Stelle vor, die allerdings in der pographie des griechischen Akragas auf Sizilien I. Histori-
scher Teil. ’s-Gravenhage 1971.
Forschung auf geringe Resonanz stieß (SN III,138).
De Waele, Jos: Der Entwurf der dorischen Tempel von Akra-
Im Fazit stellt W. die Unzulänglichkeit der bisheri- gas. In: Archäologischer Anzeiger 1980, 180–241.
gen Architekturforschung fest und spricht die Hoff- De Waele, Jozef Arthur. I grandi templi. In: Braccesi, Loren-
nung aus, selbst in späteren Schriften die Sakralbauten zo/De Miro, Ernesto (Hg.): Agrigento e la Sicilia greca.
der Griechen behandeln zu können. Dass er die Fehler Rom 1992, 157–205.
vorangehender Forscher, die er bemängelt, ohne eige- Gruben, Gottfried: Die Tempel der Griechen. München
31980.
nen Augenschein nicht hätte beseitigen können, wuss- Hellmann, Marie-Christine: L ’architecture greque. Bd. 2:
te er vermutlich selbst. Eine unausgesprochene Frus- Architecture religieuse et funéraire. Paris 2006.
tration des Autors darf man hier wohl annehmen. Höcker, Christoph: Planung und Konzeption der klassi-
schen Ringhallentempel von Agrigent. Frankfurt a. M.
Quellen 1993.
Pancrazi, Giuseppe Maria: Antichità Siciliane spiegate col- Ingamells, John: A Dictionary of British and Irish Travellers
le notizie generali di questo regno. 2 Bde . Neapel 1751– in Italy 1701–1800. New Haven/London 1997.
1752. Marconi, Clemente: I Titani e Zeus Olimpio. Sugli Atlanti
Riedesel, Joseph Hermann von: Reise durch Sizilien und dell’ Olympieion di Agrigento. In: Prospettiva 87 (1997),
Großgriechenland. Zürich 1771. 2–13.
Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, übersetzt und mit Mertens, Dieter: Johann Hermann Riedesels Betrachtungen
Anmerkungen versehen von Dr. Curt Fensterbusch. zur alten Baukunst in Sizilien. Stendal 1993.
Darmstadt 21976. Osterkamp, Ernst: Johann Hermann von Riedesels Sizilien-
reise. Die Winckelmannsche Perspektive und ihre Folgen.

Abb. 19.3 Akragas, Olympieion. Zusammenstellung verschiedener Rekonstruktionen der Außendisposition.


In: De Waele 1980, 206.
184 III Werke

In: Jäger, H.-W. (Hg.): Europäisches Reisen im Zeitalter 20 »Grazie« (Gratie)


der Aufklärung. Heidelberg 1992, 93–106.
Pafumi, Stefania: Museum Biscarianum. Materiali per lo stu- »Von der Grazie in Werken der Kunst«
dio delle collezioni di Ignazio Paternò Castello di Biscari
(1719–1786). Palermo 2006. W.s Begriff der Grazie setzt seine Entwicklung bzw.
Tuzet, Hélène: Viaggiatori stranieri in Sicilia nel XVIII seco- Modifikation schon seit den kunsttheoretischen An-
lo. Palermo 21995 (= La Sicile au XVIIIe siècle vue par les fängen in Dresden voraus, deren erstes publiziertes
voyageurs étrangers. Straßburg 1955). Ergebnis die Schrift Von der Grazie in Werken der
Vonderstein, Mirko: Das Olympieion von Akragas. Orienta- Kunst ist. Dieser Aufsatz entstand während seines
lische Bauformen an einem griechischen Siegestempel. In:
Aufenthaltes in Florenz 1758/59, wahrscheinlich im
Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 115
(2000), 37–77. April 1759, für die von Felix Christian Weisse heraus-
gegebene Leipziger Quartalszeitschrift Bibliothek der
Eric M. Moormann schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Erst-
druck ebd., 1759, Bd. V,1) neben vier weiteren kleine-
ren Aufsätzen, die W. im Zeitraum von Januar bis En-
de April 1759 für Weisse schrieb und die im gleichen
Jahr dort erschienen (KS 411–412). Der Aufsatz Gra-
zie hebt an mit dem bekannten Diktum »Die Grazie ist
das vernünftig gefällige« (KS 157). W.s originäre
Worterfindung »Gratie« ist bereits in seinem Brief
vom 28.10.1757 an Heinrich Wilhelm Muzel-Stosch
greifbar (Br. I, 312). Mit seinem Grazie-Aufsatz führt
er die Grazie als Lehnwort aus dem lat. »gratia« erst-
mals in den deutschen Wortschatz ein, der zuvor nur
die Pluralform des mythologischen Namens »Gra-
zien« bzw. »Gratien« kannte. Zugleich prägte W. da-
mit im Deutschen einen neuen ästhetischen Begriff,
der die vorigen Wortunterscheidungen Gnade/An-
mut/Reiz in sich vereint, ähnlich dem engl. und frz.
»grace« bzw. »grâce« und dem ital. »grazia« (Zeller
1955, 108; Pommier 1994, 42; Wölfel 2001, unpagi-
niert). W. selbst schreibt in allen Texten stets »Gratie«,
die Schreibweise »Grazie« findet sich allein in seiner
Grazie-Schrift, veranlasst wohl durch die Redaktion
der Leipziger Zeitschrift (KS 420).
W. beginnt zunächst mit dem allgemeinen Begriff
der Grazie als besonderer Qualität menschlicher
Handlungen, die überhaupt von großer Wirkungs-
macht auf den Rezipienten sei: »Aller Menschen Thun
und Handeln wird durch dieselbe angenehm, und in
einem schönen Körper herrschet sie mit großer Ge-
walt.« (KS 157) Anders als später in der Geschichte der
Kunst ist Schönheit hier noch nicht Bedingung der
Grazie. Von Anfang an bindet W. dabei die Grazie an
die Reflexion, um so auf dem Wege der Selbstbildung
und Erziehung die beiden gegensätzlichen mensch-
lichen Vermögen Sinnlichkeit und Vernunft in ein na-
türliches Entsprechungsverhältnis zu bringen: »Sie
bildet sich durch Erziehung und Ueberlegung, und
kann zur Natur werden, welche dazu geschaffen ist.
Sie ist ferne vom Zwange und gesuchten Witze: aber es
erfordert Aufmerksamkeit und Fleiß, die Natur [...]

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_20, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
20 »Grazie« (Gratie) 185

auf den rechten Grad der Leichtigkeit zu erheben« der griechischen Kunst aufgefasst werden kann; und
(ebd.). Entscheidend ist hier, dass die Grazie, sofern es ist gerade die sinnliche Grazie, an welcher die Vor-
eine Begabung dazu vorliegt, lehrbar ist, wobei in ei- züge der griechischen Werke noch vor der Einsicht ih-
ner Art dialektischem Bildungsprozess »Fleiß« und rer »hohen abstrakten Schönheiten« erkannt werden.
»Ueberlegung« dann in der graziösen Handlung zu Im Weiteren grenzt W. seinen Grazienbegriff noch
ihrem Gegenteil, zur »Natur« werden sollen. Da die weiter ein: »Die Grazie in Werken der Kunst geht nur
Grazie nach W. jedoch auch wieder ein »Geschenk des die menschliche Figur an, und lieget nicht allein in de-
Himmels« sein soll, ist sie keineswegs ein alleiniges ren Wesentlichen, dem Stande und Gebährden; son-
Produkt des menschlichen Willens. »In der Einfalt dern auch in dem Zufälligen; dem Schmucke und der
und in der Stille der Seele wirket sie«, beschreibt W. Kleidung.« (KS 158) Die wahre Angemessenheit der
diesen Vorgang näher, in Abwandlung seines berühm- graziösen Bewegung zeigt sich nach W. insbesondere
ten Diktums von der ›edlen Einfalt und stillen Größe‹ in der Stellung bzw. Stand der griechischen Statuen:
in den Gedancken über die Nachahmung (GK1, KS »Im ruhigen Stande, wo ein Bein das tragende ist, und
43). Die Eigenschaft der Grazie, spezifiziert W., »ist das andere das spielende, tritt dies nur so weit zurück,
das eigenthümliche Verhältniß der handelnden Per- als nöthig war [...]« (ebd.). In den graziösen Gebärden
son zur Handlung: denn sie ist wie Wasser, welches der Antiken aber – W. greift hier offensichtlich auf die
desto vollkommener ist, je weniger es Geschmack hat; Argumentation seiner berühmten Laokoon-Passage
alle fremde Artigkeit ist der Grazie so wie der Schön- in den Gedancken über die Nachahmung zurück (vgl.
heit nachtheilig [...] ihre Bewegung hat den nothwen- KS 43–44) – zeigen sich keine heftigen Leidenschaf-
digen Grund des Wirkens in sich [...]« (Grazie, KS ten, vielmehr »bricht die Freude nicht in Lachen aus,
158). Grazie entstehe demzufolge aus einer Hand- sondern sie zeiget nur die Heiterkeit von inneren Ver-
lungsbewegung, die der Natur der Sache gänzlich an- gnügen [...]. In Betrübniß und Unmuth sind sie ein
gemessen ist. Bild des Meers, dessen Tiefe stille ist, wenn die Fläche
Die Grazie des Menschen erhebt W. in dem folgen- anfängt unruhig zu werden [...]« (KS 159). W. nimmt
den Argumentationsgang zur Voraussetzung von Re- dabei bereits seine »hohe Gratie« der Niobe-Statue in
zeption und Produktion der Kunst überhaupt, die der Geschichte der Kunst (s. u.) vorweg, wenn er ihr
wiederum die Grazie der von ihr nachgeahmten Vor- Extrembeispiel zur Erläuterung heranzieht: »Denn die
bilder spiegelt: »Stand und Gebährden an den alten Fi- Seele kann in einen Zustand gesetzet werden, wo sie
guren sind wie an einem Menschen, welcher Achtung von der Größe des Leidens, welches sie nicht fassen
erwecket und fordern kann, und der vor den Augen kann, übertäubet, der Unempfindlichkeit nahe kömmt
weiser Männer auftritt« (ebd.). Nach W. ist der mo- [...] um die Würdigkeit der Menschen in Fassung der
derne Maßstab der Grazie, da er vom Umfang der Seele vorzustellen« (ebd.). Das Beispiel der griechi-
Kunstkenntnis abhängt, die überdies bloß an der defi- schen Antiken weist mithin letztlich das Ethos als die
zienten modernen Kunst gewonnen wird, verschie- vernünftige Grundlage der Grazie aus.
denartig: »Denn was bey Aufklärung des Verstandes Ähnlich den Gedancken über die Nachahmung
und bey Vortheilen der Erziehung an neuern Werken schärft W. auch seinen Begriff von der Grazie am Ge-
gefällt, wird oft nach erlangter wahren Kenntniß der gensatz zur modernen Kunst. Und bereits laut den Ge-
Schönheiten des Alterthums ekelhaft werden. Die all- dancken über die Nachahmung macht sich die mo-
gemeine Empfindung der wahren Grazie wäre also derne Kunst durch »Parenthyrsis« schuldig und über-
nicht natürlich; da sie aber erlanget werden kann, und steigert jeden pathetischen Ausdruck ins Kometen-
ein Theil des guten Geschmacks ist, so ist auch dieser hafte (KS 43–44), wie denn auch der Grazie-Aufsatz
so wie jene zu lehren [...]« (KS 157). Die Lehrbarkeit bei den Modernen die Missachtung des »höchsten
der Grazie als Bestandteil des guten Geschmacks ga- Wohlstand« zugunsten einer aufgeladenen Attitüde
rantiert W. also durch das Paradigma der griechischen diagnostiziert. Die Figuren-Balance in der ruhigen
Antiken: »[...] über die Werke des Alterthums aber hat Standbeinstellung ginge heutzutage durch blitzartige
sie sich allgemein ergoßen, und ist auch in dem Mittel- Körperdrehungen verloren und das Spielbein werde
mäßigen zu erkennen« (ebd.). Offenbar geht W. ähn- zu überflüssigen Posen missbraucht. W. sieht die Ur-
lich wie in den Gedancken über die Nachahmung da- sache für die Entfernung der modernen Plastik von
von aus, dass gleich der Schönheit auch die Grazie in der Grazie seit der Kunstepoche »nach Raphaels und
modernen Zeiten nicht unmittelbar erlernbar ist, viel- dessen bester Schüler Zeiten« (KS 160) in der Kunst
mehr allein durch die Erfahrung und Nachahmung Michelangelos und seiner Nachahmer, die »das aus-
186 III Werke

serordentliche und das schwere in der Kunst« gesucht vor (KS 31–34). Solche »Bildung durch Natur und
hätten (KS 161). Von solchen exzeptionellen Stellun- Kunst« drücke sich in den »vollkommensten Geschöp-
gen, fern »dem Wohlstande der Natur«, her sucht W. fe[n] der Natur« unmittelbar durch ihre Körperhal-
dann die Kunst Berninis abzuleiten, »dem die Grazie tung aus, denn die »innere Empfindung bildet den
nicht einmal im Traume erschienen ist« (ebd.). Diese Charackter der Wahrheit«. Deshalb stellten die Gym-
Verfehlungen der modernen Kunst gegen die Grazie nasiasten zugleich die denkbar vorzüglichsten Modelle
erkennt W. insbesondere auch an ihrem Figuren- für die griechischen bildenden Künstler, ganz im Ge-
schmuck bzw. der Kleidung. Vor allem der Kunst Ber- gensatz zu den unwahren, gezwungenen Stellungen
ninis und seiner Nachfolger sei es anzulasten, dass de- moderner Menschen (ebd., 33). Hier sind W.s spätere
ren schwere statt leichte, faltenreiche statt schlichte Ausführungen zur Grazie, die Bildung einer natürli-
Gewänder verhüllten, »was der Natur am nächsten chen Verbindung von Körper und Geist betreffend,
kömmt« (KS 160). vorgezeichnet. Überdies ist schon nach W.s Gedancken
Die insgesamt knappe und sporadische Forschungs- über die Nachahmung der »Stand der Ruhe« derjenige,
literatur zum Thema ist sich über die vornehmlich der den wahren Charakter der edlen Seele darstellt: »Je
ethische Intention von W.s Grazie-Aufsatz weitgehend ruhiger der Stand des Cörpers ist, desto geschickter ist
einig: Sein Grazienbegriff ist zunächst einmal univer- er, den wahren Character der Seele zu schildern« (ebd.,
sal-allgemeinverbindlich gefasst (Aebli 1991, 228– 44). W.s bekanntes Laokoon-Exemplum der »edle[n]
230) und betrifft die menschliche Moralsphäre, die Einfalt« und »stille[n] Grösse« (ebd., 43) beinhaltet al-
Kunst zu leben überhaupt (Pommier 1994, 46; Goebel so in nuce bereits seinen späteren Grazienbegriff von
2006, 18). Wesentliche Voraussetzung W.s ist die Lehr- der ethischen Haltung antiker Bildwerke. Die große
barkeit der Grazie. In ethischen Kategorien wird dabei Haltung Laokoons in den Gedancken über die Nach-
das Paradigma der griechischen Antike der Moderne ahmung und die Grazienkonzeption von 1759, die wei-
gegenübergestellt. Grazie ist als selbstkontrolliert- terhin die »Würdigkeit der Menschen in Fassung der
zwanglose Übereinstimmung von Seele und Körper, Seele« einbezieht, eint der wahre Ausdruck der sitt-
wodurch der Mensch seiner Natur am nächsten lichen Seele. Der Unterschied liegt seitens der Gedan-
kommt (Pommier 1994, 41), der Entfremdung der cken über die Nachahmung in der Betonung der sto-
Moderne entgegengesetzt (Aebli 1991, 235). Anderer- isch-erhabenen Seelengröße und deren erhabener
seits macht Goebel darauf aufmerksam, dass jenes cha- Wirkung auf den Rezipienten, die in Admiration aus-
rakteristische »eigenthümliche [Hervorh. d. Verf.] Ver- schlägt und an die Haltung des Betrachters appelliert,
hältnis der handelnden Person zur Handlung« (Grazie, während Grazie durch Gefälligkeit berührt, obschon
KS 158) gerade keinen Ausdruck der unverwechsel- im Idealfall »mit großer Gewalt«.
baren Individualität meint, sondern objektive sachbe- In den Gedancken über die Nachahmung bleibt ein
zogene Angemessenheit (Goebel 2006, 25). – Während kunsttheoretischer Grazienbegriff noch ausgespart,
Aebli und Pommier im Übrigen diese reflektierte Gra- die Schlussvignette des Sendschreibens über die Ge-
zien-Bildung zur Natur als Aneignung einer zweiten danken mit den drei Grazien im Wasserkasten des
Natur verstehen, sieht Goebel in W.s Grazie die erste Bildhauers Sokrates (Pfotenhauer 1995, 371) holen
Natur des Menschen überhaupt erst erfüllt. W.s Pointe das unausgesprochen nach. Man vergleiche auch
sei, dass die Bildung zur Grazie durch Selbstkontrolle schon die Oesersche Dedikationsvignette der Gedan-
eine Reflexion auf das stets vorgängige commercium cken über die Nachahmung mit Sinetas, der in anmuti-
mentis et corporis ist, folglich erlerne der Mensch an ger Einfalt eine Hand voll Wasser darbringt (Pfoten-
der antiken Grazie erst seine eigentliche, erste Natur, hauer 1995, 373.) Erst in der Erläuterung der Gedan-
nämlich in der natürlichen Art sich zu bewegen; zu- ken stellt W. die Ästhetik der »edle[n] Einfalt« und
gleich rekurriere W. damit auf den Diskurs im 18. Jh. »stille[n] Grösse« dezidiert in den näheren Begriffs-
vom ganzen Menschen (Goebel 2006, 24–26). umkreis der Grazie. Die von der Natur begünstigte
W.s Ethos der Grazie lässt sich bis auf seine Erst- Physis der antiken Griechen wirke sich ebenso auf ih-
publikation zurückverfolgen. Seinem Griechenphan- re körperliche Flexibilität aus: »In allen ihren Hand-
tasma in den Gedancken über die Nachahmung zufolge lungen äusserte sich folglich eine gewisse gelenksame
bringt die systematische Körper-Bildung in der Grie- und geschmeidige Gefälligkeit, welche ein munteres
chischen Nation durch sowohl strikt spartanisch- und freudiges Wesen begleitete.« (KS 102) Unter die-
sportliche Zucht als auch zwanglose Sitten, Unterricht ser Prämisse gelangt W. auf eine eingehendere »Be-
und freizügige Kleidung »edle Seelen der Jugend« her- trachtung des hohen Ausdrucks« in der griechischen
20 »Grazie« (Gratie) 187

Kunst, den er um das Moment des intellektuell Rei- hältnis von Person und Handlung lassen sich durch-
zenden erweitert: »Ein schönes Gesicht gefällt, aber es aus mit dem rhetorischen aptum in Verbindung brin-
wird mehr reizen, wenn es durch eine gewisse über- gen: Dem »vernünftig gefällige[n]« der Grazie ent-
denkende Mine etwas ernsthaftes erhält« (KS 115; spricht in der Systematik der Rhetorik der mittlere Re-
ähnlich bereits in W.s handschriftlichem Fragment destil (genus medium bzw. subtilis), welcher eine
Beschreibung, KS 4). W. merkt hierzu selber eine Stelle Vernunft und Gefühl ausgleichende Gemütslage des
aus Joseph Addisons Zeitschrift The Spectator (1712) Zuhörers erzielen soll. Der hierfür angemessene rhe-
an. Claudia Henn begreift diese Stelle darüber hinaus torische Ausdruck (ornatus der elocutio) erfordert zu-
als eine Ergänzung von W.s Begriff der erhabenen Ein- gleich das sogenannte äußere aptum, d. h. die habi-
falt, welchen sie wiederum auf die »simplicité du sub- tuelle Grundhaltung (Ethos) des Redners selbst muss
lime« nach der klassizistischen Poetik in Nicolas Boi- jene anmutige Emotion überzeugend vermitteln, um
leaus Traité sur le sublime zurückführt. Der neue Gra- seinen Absichten eine gefällige Wirkung verleihen zu
zien-Aspekt in der Erläuterung hingegen nehme Be- können (Ueding 1992, 147–148). W. allerdings ver-
zug auf die klassizistische französische Rhetorik der wendet den rhetorischen Begriff aptum in seinen
»simplicité gracieuse«, wie sie z. B. René Rapin ver- Schriften überhaupt nicht, vielmehr liegt seine grund-
tritt, und die, in der Nähe zur Ästhetik der délicatesse, sätzliche Differenz zur Rhetorik in der geforderten
durch eine subtil verschweigende Form des Aus- Absichtslosigkeit der Grazie gegenüber möglichen
drucks in der oratio subtilis gefällig zu wirken sucht Rezipienten. Sie tritt ausschließlich in einer von äuße-
(Henn 1974, 197–198 u. 69–72). Die von W. in der Er- ren Zwängen und Rücksichten freien Handlungs-
läuterung angedeutete Anmut durch Ausdrucksver- bewegung hervor, »ferne vom Zwange und gesuchten
rätselung stellt eine weitere Verbindung zwischen sei- Witze« (Grazie, KS 157). Gleichwohl liegt implizit
nem (impliziten) Graziebegriff und dem Erhabenen auch bei W. die Grazie in der Absicht der künstleri-
in der Ästhetik der »edle[n] Einfalt« und »stille[n] schen Produktion; zudem verfolgt W.s Nachahmungs-
Grösse« her, die gleichfalls durch Verschleierung des lehre insgesamt noch keine autonome Ästhetik, die
deutlichen körperlichen Pathosausdrucks auf ideell- auf den Zweck der Kunst in sich selbst abheben könn-
imaginärer Ebene um so sprechender wirkt. Dieses äs- te. W. setzt die Grazie überdies auch von aller ›frem-
thetische Prinzip, Vieles, Bedeutsames durch Weniges den Artigkeit‹ und damit von allem traditionellem Re-
im ruhigen Ausdruck ostentativ anzudeuten, themati- gelwerk höfischen Verhaltens ab. Darin befindet er
siert W. dann wieder in der Erinnerung über die Be- sich im Gegensatz z. B. zu Baldassare Castigliones Li-
trachtung der Werke der Kunst (1759, KS 150–151). bro del cortegiano (1528) oder Baltasar Graciáns El di-
Darauf arbeitet er es in sein Grazienkonzept von 1759 screto (1646), von deren rhetorischer Grundlage aus
ein und zuletzt in die Lehre der Geschichte der Kunst Grazie als allseits gefällige zweite Natur erworben
von der hohen Grazie, deren platonisch-ideelle Di- werden soll, um die Erfolgsabsichten zu dissimulie-
mension der erhaben-schroffen Schweigsamkeit nur ren. Dergleichen bis weit in das 18. Jh. hinein gültigen
dem Wissenden, Einsichtigen zugänglich ist. Normenkatalogen der höfischen Adelskultur zufolge
Eine umfassend systematische Darstellung von W.s liegt jedem höfisch-gefälligen Handeln eine Grazie
eigener Rezeption der rhetorischen, kulturellen und zugrunde, die durch angenommene »leggiadria«
kunsthistorischen Tradition der Grazie vor allem in (Leichtigkeit) und vorgebliche »sprezzatura« (Gering-
seiner Grazie-Schrift ist ein Desiderat der Forschung; schätzung) den bloßen Anschein von Mühelosigkeit,
bislang stehen nur einige knappe Forschungsansätze Ungezwungenheit und Nachlässigkeit hervorrufen,
zur Verfügung. Der Begriff der Grazie fällt bereits in um öffentliche Gunst und Aufstieg zu erlangen (Pom-
der antiken rhetorischen Literatur. W. selbst zitiert in mier 1994, 43–44; Wölfel 2001, unpaginiert).
seinen Schriften oftmals einschlägige Stellen daraus – W.s Grazienbegriff von 1759 dagegen nimmt offen-
siehe etwa die Geschichte der Kunst im Rahmen der bar vielmehr teil an einem sich im Laufe des 18. Jh.
Stilgeschichte zu Quintilian (ebd., 225, Fußn. 1) oder durchsetzenden bürgerlichen Persönlichkeitsideal
den klassischen Vergleich der beiden Redner Demos- (Ueding 2005, 117–121), das am Primat des sachlich
thenes und Cicero (ebd., 228) – allerdings nicht im angemessenen Verhaltens gemäß der Vernunftethik
Grazie-Aufsatz. Entsprechend hat die Rezeptionsfor- ausgerichtet ist. Solchen Zusammenhängen lässt sich
schung sich relativ eingehend mit der rhetorischen insgesamt auch Martin Disselkamps übergreifende
Tradition in W.s Grazientheorie 1759 gewidmet. Seine These zuordnen, der zufolge W.s Ideal der Einfalt bzw.
Überlegungen zum zwanglosen Entsprechungsver- simplicité ein nationales Kulturprogramm gegen die
188 III Werke

französische Pedantismuskritik der Deutschen ist sonderen Zustand der inneren Sammlung erhebt, in
(Disselkamp 1993, 46). – Dem auf Quintilian, Institu- welchem erst die Betrachtung Gottes erlebbar wird.
tionis oratoriae libri II 13,6–12 zurückgehenden To- (Pommier 1994, 46)
pos von der typischen Regellosigkeit der Grazie steht
bei W. wiederum ihre explizite Lehrbarkeit entgegen.
Zur Bedeutung der Grazie in der »Geschichte der
Dieser Topos, den Giorgio Vasari, Le vite de’ piu eccel-
Kunst des Alterthums«
lenti pittori, scultori e architettori, als »nella regola una
licenzia« in der vollkommenen, dritten Kunstperiode W.s Grazienbegriff dient in der Geschichte der Kunst
genauer definiert (Vasari 1550, 556), womit er viel- zur differenzierten Charakterisierung des hohen und
leicht zum ersten Mal überhaupt Grazie in die neu- des schönen Stils, wobei Aspekte seiner Grazienauf-
zeitliche Kunstliteratur einführt, geht von der italie- fassung der vorangehenden Schriften insbesondere in
nischen Renaissance-Kunsttheorie in die französische die Darstellung der Grazie des hohen Stils eingehen.
klassizistische Poetik des 17. Jh. ein, wo er durch Do- Den hohen und den schönen Stil setzt W. in seiner
minique Bouhours zum Diktum »je ne sais quoi« ge- kunsthistorischen Systematik gewissermaßen als klas-
prägt wird. Daher wird gerade die Grazie in der von sische Hochstile des Ideals, über »Stuffen des Wachs-
W. intensiv rezipierten französischen akademischen thums der Kunst«, auf dem »Weg zur reinen Harmonie
Kunstlehre des 17. und frühen 18. Jh., mit Ausnahme und zur flüßigen Aussprache [...] zur Wahrheit und
von André Félibien, nur wenig eingehend und diffe- zur Schönheit der Form« vom älteren Stil hinsichtlich
renziert abgehandelt (Pommier 1994, 35–38). Anlei- Form und Ausdruck wesentlich ab. Der ältere Stil hat
hen W.s aus der französischen klassizistischen Kunst- aufgrund seiner typischen scharfen Umrisse, seines
theorie für seine Grazienkonzeption lassen sich daher harten und starken Ausdrucks und seiner peinlich ge-
auch allenfalls bei Félibiens Entretiens sur les vies et sur nauen Behandlung »der allerkleinsten Sachen« weder
les Ouvrages des plus excellents peintres anciens et mo- Schönheit noch Grazie (GK1, SN IV,1, 436–444). Der
dernes ausmachen, wonach in dem Ausdruck der Gra- wesentliche Unterschied zwischen den Hochstilen
zie die einheitlichen Wirkungen der inneren Bewe- und dem älteren Stil entwickelte sich nach W. durch
gung der Seele (»l’ uniformité des mouvements inte- den Bruch mit dem bloß tradierten, immanenten Re-
rieurs [...] de l’ ame«; ebd., 31) offenbar werden (Bau- gelwerk der älteren Kunst: »Ueber dieses angenom-
mecker 1933, 19–24; Hofter 2008, 30). mene Systema erhoben sich die Verbesserer der Kunst,
Bereits der englische klassizistische Kunsttheoreti- und näherten sich der Wahrheit der Natur«, da Schön-
ker Franciscus Junius bringt in seiner einflussreichen heit und »Großheit« nun zur Hauptabsicht der Kunst
Schrift The painting of the ancients im abschließenden werden, was wiederum mit einer Verflüssigung der
36. Kap. »grace« mit der »truth of Nature« und der da- Formenumrisse und einem ›gesitteten Ausdruck‹ ein-
raus resultierenden »simplicitie« in Verbindung, die hergeht. W. macht dabei die Einschränkung, »daß der
er von der zu vermeidenden »affectation« abgrenzt Zeichnung dieses hohen Stils das Gerade einigerma-
(Junius 1638, 327–328). Ganz entsprechend behauptet ßen noch eigen geblieben, und daß die Umrisse da-
Shaftesbury in seinen Characteristicks eine Entwick- durch in Winkel gegangen [...]« (ebd., 446). Im Ver-
lung des antiken griechischen Geschmacks hin zum hältnis dazu kennzeichnet nach W. die Form des schö-
»higher Stile« in »Simplicity and Nature« (Shaftesbury nen Stils die Vermeidung alles »Eckigte[n]«, »was bis-
1711, III, 140), was W. bereits für seine Gedancken her noch in den Statuen großer Künstler, als den
über die Nachahmung rezipiert (Baumecker 1933, 60– Polycletus, geblieben war, und dieses Verdienst um die
61). In seinem Soliloquy, or Advice to an Author, aus Kunst wird in der Bildhauerey sonderlich dem Lysip-
den Characteristicks, empfiehlt Shaftesbury zur guten pus, welcher die Natur mehr, als dessen Vorgänger,
Erziehung, Grazie an den antiken Statuen in Rom zu nachahmete, zugeeignet: dieser gab also seinen Figu-
erlernen. Deren »hidden Graces« (Shaftesbury 1711, ren das Wellenförmige, wo gewisse Theile noch mit
II, 337) bezeichnet er zuvor als »moral Grace«, d. h. ei- Winkeln angedeutet waren« (ebd., 450). Einerseits
ne innere moralische Haltung des Charakters, die un- konstatiert W. hier eine noch weiterführende Natur-
abdingbare Grundlage des »right taste« sei (ebd., 336). nachahmung durch den schönen Stil, gleich dem vo-
– Möglicherweise klingt in der »Einfalt« und »Stille rigen Vorgehen des hohen gegenüber dem älteren Stil,
der Seele«, mit der W. die Moralsphäre der Grazie andererseits besteht er auch auf der gemeinsamen Ba-
kennzeichnet, auch ein Diskurs des deutschen Pietis- sis eines wesentlichen Formenkanons beider Hochsti-
mus im 18. Jh. an, der die Stille der Seele zu einem be- le, der auf der Erkenntnis der schönen Natur gründet:
20 »Grazie« (Gratie) 189

»Aber die Formen der Schönheit des vorigen Stils blie- ersten, welche sich ankündiget für diejenigen die der
ben auch diesem [schönen Stil] zur Regel: denn die himmlischen Gratie nicht geweihet sind« (ebd.). Laut
schönste Natur war der Lehrer gewesen« (ebd.). Die- W. durch Parrhasius schon zu Zeiten des Phidias zu-
ser Formenverflüssigung im Sinne einer weiteren An- nächst in der Malerei eingeführt und dann erst in den
näherung an die Natur im schönen Stil entspreche ei- schönen Stil der Plastik eingegangen, ist diese Grazie
ne »größere Mannigfaltigkeit« in seinem Ausdruck »gefälliger und liebenswürdiger«, um die ideale Schön-
überhaupt, zu dessen näherer Kennzeichnung W. im heit »mit einem sinnlicheren Reize zu begleiten [...]«
Folgenden den Begriff »Gratie« einführt. Während ebd., 456). Deutlich mitteilsamer im physiogno-
der hohe Stil im Streben nach der vollkommenen mischen und körperlichen Bewegungsausdruck, mit-
wahren Schönheit zu einer Gleichförmigkeit des Aus- hin mehr der Materie unterworfen, charakterisiert die
drucks gelangte, »[...] das Gesicht und den Stand der gefällige Grazie die gesteigerte Ausdrucksmannigfal-
Götter und Helden rein von Empfindlichkeit, und ent- tigkeit des schönen Stils bis hin zur Leidenspsycho-
fernt von inneren Empörungen, in einem Gleichge- logie Laokoons (ebd.). Diese besondere Kommunika-
wichte des Gefühls, und mit einer friedlichen immer bilität im schönen Stil verhält sich, so W. anfangs, zu
gleichen Seele vorzustellen«, habe der schöne Stil den »Menschen aus der Helden Zeit, wie des Homerus
durch die Grazie das »Liebliche« gesucht (ebd., 452). Helden und Menschen, gegen gesittete Athenienser in
Zugleich aber besteht W. auch auf einer nur dem ho- dem Flore ihres Staats.« Im Folgenden bemüht hier W.
hen Stil eigentümlichen besonderen Art der Grazie zum Vergleich sogar das klassische Gegensatzpaar der
und unterscheidet von einer »ersten und höchsten Rhetorik, Demosthenes’ Schroffheit und Ciceros gefäl-
Gratie die zwote« (ebd., 456). Letztere, die dem schö- lig-mitteilsame Eloquenz (ebd., 450; vgl. Pseudolongi-
nen Stil angehört, nennt er auch »gefälligere Gratie«; nos, Peri hypsous 12,3–5).
in der zweiten Auflage der Geschichte der Kunst be- Zugleich geht W. aber über einen bloßen Gegensatz
zeichnet er sie dann als »Die erste und erhabene Gra- zweier kunsthistorisch aufeinanderfolgender Grazie-
tie« (GK2, SN IV,1, 480) bzw. »Die zwote und gefällige Stile hinaus. Die gefällige Grazie löst die hohe nicht
Gratie« (ebd., 482), in den Monumenti antichi inediti einfach ab; W. intendiert offenbar eine Art Synthese
als »grazia sublime« bzw. »grazia inferiore, attrativa e beider im schönen Stil: »Die Künstler des schönen Stils
ricercata« (SN VI,1, 75). Hierfür beruft sich W. nicht geselleten mit der ersten und höchsten Gratie die zwo-
auf den gängigen Topos von den drei Grazien (Chari- te [...]« (ebd., 456). Auch die gefällige Grazie ist »nicht
ten), sondern nimmt den Umweg über die Unter- begierig zu gefallen, sondern nicht unerkannt zu blei-
scheidung von der »himmlischen Venus« und der Ve- ben« (ebd., 454) – dergestalt, dass die »Großheit durch
nus Dione, deren jeweilige Schönheitscharakteristik eine zuvorkommende Gefälligkeit gleichsam gesel-
er der sie begleitenden Grazie zuordnet. liger« wurde und trotzdem »der Harmonie und der
Dementsprechend beschreibt er die hohe Grazie am Großheit in dem schönen Stile keinen Eintrag« getan
Paradigma der Niobe-Statue hauptsächlich in plato- habe; und wiederum am Laokoon-Exemplum stellt W.
nischen Begriffen als nicht-sinnlichen Ausdruck ho- klar, dass bei aller graziöser Gefälligkeit sich die Seele
her, »uncörperlicher Ideen« in den Gebärden, Hand- immer noch »nur wie unter einer stillen Fläche des
lungen und Bewegungen. Gerade in der Aussparung Wassers« äußere und versichert: »Das Mannigfaltige
sinnlicher Empfindungen und eines sprechenden Aus- und die mehrere Verschiedenheit des Ausdrucks that
drucks teilt sie sich nach W.s Vorstellungen nur dem der Harmonie und der Großheit in dem schönen Stile
»hohen Verstande« des Wissenden mit: Sie »scheinet keinen Eintrag« (ebd., 456). – Schließlich behandelt W.
sich selbst genugsam, und biethet sich nicht an, son- noch in einem Unterabschnitt die typische Neigung
dern will gesuchet werden; sie ist zu erhaben, um sich des schönen Stils für das »Zärtliche und Gefällige« an
sehr sinnlich zu machen: denn ›das Höchste hat,‹ wie der Darstellung von Kindern (ebd., 460–462), ein As-
Plato sagt, ›kein Bild‹. Mit den Weisen allein unterhält pekt, den er in den Anmerkungen über die Geschichte
sie sich, und dem Pöbel erscheinet sie störrisch und der Kunst um die Grazie von Satyren und Faunen ver-
unfreundlich; sie verschließet in sich die Bewegungen mehrt (SN IV,4, 63–65) und in der zweiten Auflage der
der Seele, und nähert sich der seeligen Stille der Gött- Geschichte der Kunst erweitert zusammenfasst zu dem
lichen Natur [...]« (GK1, SN IV,1, 454). Im Kontext sol- eigenen Abschnitt »Die niedrigere, kindliche und co-
cher platonisch-ideeller Erhabenheit gerät in der Ge- mische Gratie« (SN IV,1, 457–463), als Merkmal von
schichte der Kunst die Darstellung der »zwoten Gratie« Kunstwerken des schönen Stils, die nicht die ideale
mitunter herabsetzend: Sie ist »nur eine Gefolginn der Schönheit zum Gegenstand haben (ebd., 459).
190 III Werke

W.s Grundkonzeption der Grazie als Ergebnis ei- das Postulat, dass sich Kunst und Literatur konform
ner zunehmenden Formverflüssigung der Hochstile zum Geist einer Epoche entwickelten, mithin das Er-
gegenüber der älteren Kunst basiert auf Plinius, Na- habene die Zeit eines Phidias und Aischylos ebenso
turalis historia XXXIV 65, wonach es Lysippus’ Leis- prägten wie die Grazie dann später die des Praxiteles,
tung gewesen sei, die mehr eckigen Formen (»qua- Xenophon und Platon. Auch Menandros’ Komödie
dratas sculpturas«) der früheren Statuen eines Poly- vermittele da eine Vorstellung von den untergegange-
klet oder Phidias durch zierlichere Körper (»corpo- nen Werken des Apelles und Lysippos. (SN VI,1, 101)
rum graciliorum«) abgelöst zu haben; ebd., XXXV Potts mag W.s originäre Stilgeschichte allenfalls mit
79–80 wird der besondere Liebreiz (»venerem«) in Caylus, Recueil d’ Antiquités [...], Bd. 1, Paris 1752 in
der Malerei des Apelles gegenüber seinen Vorgängern Verbindung bringen, der dort ganz allgemein das Er-
u. a. mit der Vermeidung übertriebener Sorgfalt in habene der kunstgeschichtlichen Frühzeit und die
der künstlerischen Ausführung erklärt. W.s originä- Grazie der Spätzeit den Ägyptern bzw. Griechen zu-
res Konzept der doppelten Grazie lässt sich bis zu sei- ordnet (ebd., IX; Potts 1994, 100). Mathias René Hof-
nem Brief vom 28.10.1757 an Heinrich Wilhelm Mu- ter erscheint W.s doppelte Grazie vor allem vorgebil-
zell-Stosch zurückverfolgen (Br. I, 310–312; vgl. Henn det in André Félibiens Entretiens sur les vies et sur les
1974, 199–200; Aebli 1991, Anm. 540; Pommier 1994, Ouvrages de plus excellents peintres anciens et moder-
41). Die einleitende Passage über die grundsätzliche nes, Bd. 1, Paris ²1686, der zwischen einer äußeren,
Unterscheidung der Grazie der himmlischen Venus körperlichen und einer inneren, geistigen Schönheit
von derjenigen der Venus Dione bis hin zu den plato- bzw. Grazie differenziert: »[...] la beauté naît de la pro-
nischen »uncörperlichen Ideen« der hohen Grazie portion et de la symmetrie qui se rencontre entre les
(GK1, SN IV,1, 452–454) ist weitgehend in diesem parties corporelles et materielles, la grace s’engendre
Brief vorformuliert (Br. I, 312); sie findet sich abge- de l’ uniformité des mouvements interieures causes
wandelt auch in den Monumenti antichi inediti (SN par les affections et les mouvements de l’ ame« (ebd.,
VI,1, 75). In dem Brief erläutert W. seinen Ansatz- 32; Hofter 2008, 30; 165).
punkt damit, dass nach Plinius (Nat. hist. XXXIV 54– Das Ethos der erhabenen Grazie im hohen Stil geht
65 u. XXXV 67–68 u. 79–80) erst Praxiteles und Ly- auf W.s Grazienkonzept von 1759 zurück. Jenes
sippos ihren Werken Grazie gegeben hätten: »Ich Gleichgewicht des Gefühls im stillen Ausdruck der
mußte erklären was die Gratie sagen will, welche wie Seelenruhe gründet von daher letztlich auf W.s Ästhe-
Plinius sagt, Praxiteles und Lysippus ihren Werken tik der »edle[n] Einfalt« und »stille[n] Grösse« des er-
gegeben. Folglich wird jemand sagen, waren die Wer- habenen Ausdrucks in den Gedancken über die Nach-
ke des Phidias, des Scopas, des Myron, des Polycletus ahmung; der frühere Aspekt der sachlich angemesse-
ohne Gratie. Dieses erkläret folgende Stelle.« (Br. I, nen Handlungsbewegung geht nun in die verflüssig-
311) Diese Erläuterung findet sich etwas erweitert ten Formen der gefälligen Grazie im schönen Stil ein.
auch in den Anmerkungen über die Geschichte der Seine Konzeption der gefälligen Grazie, die sich an
Kunst (SN IV,4, 59). Es ging W. folglich darum, die Plinius’ Kunstgeschichte orientiert, ist nicht zuletzt
Meister des hohen Stils und ihre vollkommenen, ein Resultat seiner eigenen archäologischen Erkennt-
idealen Werke gleichsam zu retten. nis von den erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten im
Walter Bosshard macht darauf aufmerksam, dass schönen Stil seit der Antikenautopsie in Italien; vgl.
W.s anhaltendes Bedürfnis nach Rechtfertigung sei- dazu z. B. die psychologisch intensivierte Ausdrucks-
nes zwiefachen Grazienbegriffs letztlich eine gewisse darstellung zwischen höchstem physischem Schmerz
Gewaltsamkeit zu versöhnen sucht, mit der er die un- und geistigem Widerstand in der Laokoon-Beschrei-
sichtbare hohe Grazie vindiziert, zumal er hier seine bung der Geschichte der Kunst gegenüber derjenigen
stilgeschichtliche Spekulation (schon wegen des in den Dresdner Gedancken über die Nachahmung. –
Mangels an Denkmälern im hohen Stil) kunsttheo- Bereits Giorgio Vasari, Le vite de’ piu eccelenti pittori,
retisch durch einigen phantasievollen, literarischen scultori e architettori, unterscheidet eine dritte, voll-
Aufwand von Homer über Lukian bis Platon konstru- endete Kunstperiode (Leonardo, Raffael, Michelange-
iert. (Bosshard 1960, 91) Alex Potts verweist auf W.s lo etc.) von einer vorangegangen zweiten, bereits
zahlreiche kühne Analogien zur Literatur und Rheto- meisterlichen durch das Merkmal der »grazia« (ebd.,
rik (Potts 1994, 96 u. 99), die er zu seiner neuartigen terza parte, 558). Diese begreift er als Ergebnis eines
Stilunterscheidung heranzieht: In den Monumenti an- Naturannäherungsprozesses, der die Lebendigkeit in
tichi inediti erweitert W. die Stilgeschichtstheorie um der Kunst zuletzt durch Befreiung von der Gebun-
20 »Grazie« (Gratie) 191

denheit an tradierte Kunstregeln erreicht, gleich der Vasari, Giorgio: Le vite de’ piu eccelenti architetti, pittori, e
antiken Kunstgeschichte (vgl. ebd., seconda parte, scultori [...]. Florenz 1550 (²1568).
226; Potts 1994, 74–75; Franke 2006, 140). Ungleich
Vasaris Kunstgeschichtsprogress ist W.s hoher Stil ge- Forschung
Aebli, Daniel: Winckelmanns Entwicklungslogik der Kunst.
genüber dem chronologisch letzten, schönen Stil
Frankfurt a. M. 1991.
nicht defizient, gerade weil jenem eine hohe Grazie Bosshard, Walter: Winckelmanns Ästhetik der Mitte. Zürich
eigen ist. In solcher Schwebe zwischen Kunstfort- 1960.
schritt und bloßer modaler Ausformung im Verhält- Disselkamp, Martin: Die Stadt der Gelehrten. Studien zu
nis der beiden Hochstile zueinander erkennt Potts Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom. Tübin-
(ebd.) W.s Fortsetzung zweier differenter Wege der gen 1993.
Franke, Thomas: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung.
antiken Kunstgeschichtsschreibung zugleich: Einer-
Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre
seits Plinius’ stufenweise, vor allem technische Kunst- und die empirische Naturwissenschaft. Würzburg 2006.
vervollkommnung von einer anfänglich harten zu ei- Goebel, Eckart: Charis und Charisma. Grazie und Gewalt
ner verfeinerten, graziösen Kunstgestaltung. Ande- von Winckelmann bis Heidegger. Berlin 2006.
rerseits die Version nach Cicero, Brutus 70 u. Quinti- Henn, Claudia: Simplizität, Naivetät, Einfalt. Studien zur
lian, Institutionis oratoriae libri XII 10,1–10, deren ästhetischen Terminologie in Frankreich und in Deutsch-
land 1674–1771. Zürich 1974.
ethisch ausgerichtete Kunstgeschichte die Kunstvoll- Hofter, Mathias René: Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Be-
kommenheit bereits mit Polyklets und Phidias’ wür- gründung von Johann Joachim Winckelmanns Archäolo-
devollen Götterbildern ansetzt (vgl. auch Hofter gie. Stendal 2008.
2008, 165–166). Potts sieht denn auch eine Dualität Monk, Samuel Holt: »A grace beyond the reach of art«. In:
des Ideals zwischen der »death-like [...] inhuman Journal of the history of ideas 5 (1944), 131–150.
Pfotenhauer, Helmut, Bernauer, Markus, Miller, Norbert
beauty« der hohen und dem »refined naturalism« der
(Hg.): Frühklassizismus. Position und Opposition. Win-
gefälligen Grazie (Potts 1994, 83). Daniel Aebli macht ckelmann, Mengs, Heinse. Frankfurt a. M. 1995.
in der Stilgeschichte der Geschichte der Kunst eine Pomezny, Franz: Grazie und Grazien in der deutschen Lite-
grundsätzliche Differenz zwischen wesentlichem ratur des 18. Jahrhunderts. Hamburg 1900.
Sein und akzidentiellem Schein der hohen bzw. gefäl- Pommier, Édouard: Der Begriff der Grazie. In: Ders. (Hg.):
ligen Grazie aus (Aebli 1991, 264); zugleich aber wer- Winckelmann. Die Geburt der Kunstgeschichte im Zeit-
alter der Aufklärung. Beiträge einer Vortragsreihe im Au-
de solche Antithetik im Ineinander von hoher und ge- ditorium des Louvre. Stendal 1994, 31–59.
fälliger Grazie im schönen Stil auch wieder aufgeho- Potts, Alex: Flesh and Ideal. Winckelmann and the origins of
ben (ebd., 268–269). Nach Hofter ist die hohe Grazie art history. New Haven 1994.
keineswegs das Nonplusultra der Kunstentwicklung, Ueding, Gert: Von der Rhetorik zur Ästhetik. Winckel-
vielmehr finde im schönen Stil mit der gefälligen Gra- manns Begriff des Schönen. In: Ders. (Hg.): Aufklärung
über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie
zie eine komplettierende Ergänzung der sittlichen
und praktische Bewährung. Tübingen 1992, 139–154.
Harmonie durch sinnliche Gefälligkeit statt (Hofter Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd (Hg.): Grundriß der Rheto-
2008, 168). Unentschieden ist, ob W.s gefällige Grazie rik. Stuttgart 4 2005.
des schönen Stils ein bloß akzidentieller Modus Wölfel, Kurt: Zur Geschichte der Grazie. Konstanz 2001.
(Franke 2006, 140–141) im Rahmen zweier gleich- Zeller, Hans: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im
wertiger Stilausformungen eines klassischen Hoch- Belvedere. Zürich 1955.
stils ist (Aebli 1991, 130–131) oder Charakteristikum Thomas Franke
des Höhepunkts einer historisch voranschreitenden
Entwicklung der Naturnachahmung.

Quellen
Boileau, Nicolas: Traité sur le sublime. Paris 1674.
Baldassare Castiglione: Libro del cortegiano. Venedig, Flo-
renz 1528.
Félibien, André: Entretiens sur les vies et sur les Ouvrages des
plus excellents peintres anciens et modernes. Paris ²1686.
Junius, Franciscus: The painting of the ancients. London
²1638 (lat. Erstausg. De pictura veterum, London 1637).
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper: Characteri-
sticks. Bd. 2; 3. London 1711.
192 III Werke

21 Kunstbetrachtung, Kunst- 21.1 »Erinnerung über die Betrachtung der


hermeneutik, Kunstpädagogik Werke der Kunst«

Die Handschrift ist verloren; die Schrift wurde zwei-


Die Aufsätze Erinnerung über die Betrachtung der mal, 1759 und mit kleineren Korrekturen 1762, ge-
Werke der Kunst und Abhandlung von der Fähigkeit druckt. Es handelt sich um den ersten von insgesamt
der Empfindung des Schönen in der Kunst gelten als die vier Beiträgen, die W. für die vierteljährlich erschiene-
»zentralen Essays zur Wahrnehmung von Kunst« (Dé- ne Leipziger Zeitschrift Bibliothek der schönen Wissen-
cultot 2004, 71) aus W.s Feder. In der knappen, als schaften und der freyen Künste unter der Herausgeber-
Zeitschriftenartikel eilig verfassten Betrachtung von schaft von Felix Christian Weiße (1726–1804) verfasst
1759 wirft W. kurz kunstästhetische Fragen auf, die er hat. Auf Empfehlung von Christian Ludwig von Hage-
vier Jahre später in der Abhandlung weiter ausführen dorn (1712–1780) trat Weiße in einem Brief vom
wird. In einigen Punkten zielen die beiden Texte über 27.2.1759 (Br. IV, 78–79) mit diesem Anliegen an W.
die in den Dresdner Schriften formulierten Ansichten heran. W. hielt sich damals in Florenz zur Unter-
hinaus. So tritt z. B. das in den Gedancken so elemen- suchung der Gemmensammlung Stoschs auf. Das Ma-
tare Nachahmungspostulat zurück zugunsten der Idee nuskript für diese erste Schrift war wohl schon am 7.
eines im Verstand des Künstlers generierten und im April abgeschlossen (Br. I, 456–456); die anderen drei
Kunstwerk transzendierten »Originals«; darüber hin- »dergleichen Kleinigkeiten« (so W. im dritten Bei-
aus avancieren Zeichnung bzw. Kontur zu einer der trag), u. a. über den Torso Belvedere, folgten sukzessi-
elementaren Kategorien der klassizistischen Kunst- ve im Mai und Juni. Der Absicht W.s, die Beiträge ano-
theorie. nym zu veröffentlichen, kamen die Herausgeber nur
Das prinzipielle Anliegen beider Schriften ist die bedingt nach, da sie seinen Namen als Initialen ab-
Kunstdidaktik. Anders noch als in den Gedancken druckten (KS 411–412).
sind sie nicht an Künstler gerichtet, sondern an
Kunst rezipierende Leser, mit der Absicht, diese zur
Kunstdidaktik
Kunstkennerschaft zu führen. Die Betrachtung, die
den Auftakt einer Reihe von pädagogischen Anlei- W. verfolgte mit der Schrift zwei Absichten, eine prag-
tungen bildet, ist für eine anonyme Rom-unkundige matische und eine ideelle: Einerseits konnte er sich in
Leserschaft verfasst. In der Abhandlung hingegen Deutschland über das Medium Zeitschrift, trotz wäh-
gilt die Ansprache ausschließlich einer konkreten render Abwesenheit im Ausland, nach wie vor in Er-
Person, W.s Freund Reinhold von Berg. Hierin ver- innerung rufen; andererseits wollte er potentiellen
folgt W. ebenfalls die pädagogische Absicht, dem Le- Reisenden, vornehmlich deutscher Provenienz, ad-
ser den Weg zur Kunstkennerschaft zu weisen. Zu- äquate Instruktionen zum besseren Verständnis der
gleich aber stilisiert er die Schrift zu einem »Denk- Meisterwerke der Kunst geben und sie zu einer kunst-
maal unserer Freundschaft« (KS 212). Sie ist in den kritischen Wahrnehmung befähigen. Wie einleitend
Grundzügen wie ein Brief aufgebaut und steht so angedeutet, sollte ein klimatisch wie in Kunstsachen
auch im Kontext der im 18. Jh. aufblühenden Brief- benachteiligtes Publikum zu »Kunstkennern« ge-
kultur, insbesondere der pädagogischen Freund- schult werden; bezeichnenderweise wird die Schrift
schaftsbriefe. 1765 in Johann Heinrich Füsslis freier englischer
Singulär ist die Abhandlung wegen ihrer Widmung Übersetzung dann auch Instructions for the connois-
an einen geliebten Freund und der latent homoeroti- seur genannt (Harloe 2013, 71–74). W. wichtigstes
schen Anspielungen, die selbst zu Zeiten des Emp- Vorbild hierfür war Jonathan Richardson d. Ä. (1665–
findsamkeitskultes über das Maß freundschaftlicher 1745), den er schon in der Nöthnizer Zeit in französi-
Zuneigung hinausgehen: »keine Schrift hat die Nach- scher Übersetzung gelesen hatte. Der englische Maler,
welt mehr in Verlegenheit gebracht« (Detering 1994, Sammler und Kunsttheoretiker hatte mehrere kunst-
39). Vor dem Hintergrund einer im Text geradezu kritische Werke verfasst, die methodisch die unmittel-
durchgängig impliziten Imagination des Geliebten bare Anschauung der Kunst durch den Betrachter,
vereint die in ihrer Gattungsstringenz eigenartig hete- Autopsie und Bestandskritik, einfordern und zugleich
rogene Schrift Kunstpädagogik, Freundschaftskult Überzeugungen einer aufklärerisch-klassizistischen
und ästhetische Kunstkritik mit einem subjektivitäts- Kunsttheorie vermitteln (Gibson-Wood 2000, 179–
konstruierenden Selbstbild des Autors. 208). Zwei Schriften widmen sich der Kunstbetrach-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_21, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
21 Kunstbetrachtung, Kunsthermeneutik, Kunstpädagogik 193

tung durch Kunstkennerschaft, der Essay on the Theo- Němec 2016, 101–102). Dies sei nicht nur »der Stein
ry of Painting von 1715 und die Two Discourses von der Weisen« für den Künstler, sondern auch der Schlüs-
1719: An Essay on the Whole Art of Criticism as it Re- sel für den Betrachter, Kenntnis des wahren Schönen
lates in Painting sowie An Argument in behalf of the zu erlangen. Doch das gelinge nur kontemplativ, durch
Science of a Connoisseur. Richardson gibt hier dem in- ruhiges Einfühlen in das Werk (Décultot 2004, 71–72).
teressierten Laien in komprimierter Form Anleitun- Skeptisch äußert sich W. auch über Maß, Zahl und
gen zur Bewertung der Werke der Kunst. W. folgt in Zirkel. Gegen die in den Akademien betriebenen Pro-
der Betrachtung Richardson in einigen wesentlichen portionslehren, Anatomiestudien und Vermessungen
Prämissen. Er warnt den Leser, sich nicht von Kunst- antiker Skulptur, z. B. in den Stichen von Girard Au-
werken täuschen zu lassen, die zwar mit Fleiß und Ge- dran (1640–1703), die u. a. das Ziel hatten, nach ver-
schick, aber ohne Talent und Verstand entstanden sei- nunftstrukturierten Regeln ideale Schönheit zu er-
en. Der Betrachter soll zu unterscheiden lernen, in- gründen (Kunze, Rügler 2005, 51–54, 60), setzt er eine
wiefern der Künstler absichtsvoll die großen Vorbilder, intuitive Kunstbeschauung. Von den aus der französi-
explizit die Werke der Antike, nachgeahmt habe; er schen Kunstkritik übernommenen Begriffen »Colo-
soll erkennen, dass das Schöne in der Mannigfaltigkeit rit«, »Draperie«, »Contour« thematisiert er hier nur
des Einfachen liege, und schließlich seinen Blick schu- den Letzeren, die das Schöne beschreibende Linie am
len, um die Ausarbeitung eines Werks kritisch beur- Beispiel des Gesichtsprofils; noch in den Gedancken
teilen zu können. Die gesamte Betrachtung ist voll von hatte er dem Kolorit die primäre Bedeutung beige-
Belegen der neueren Kunst, die W. durch teils heftige messen (Käfer 1986, 106–116; Hofter 2008, 20–21;
Polemik miteinander kontrastiert. Wie Richardson 54–56). Symptomatisch ist schließlich der Umgang
um den Missstand schlechter Fremdenführer wis- mit dem Begriff der Nachahmung, einer Schlüsselka-
send, kündigt W. schließlich eine ausführliche Lehr- tegorie in den Gedancken. Mittlerweile hatte W. in Ita-
schrift an, die spätere Abhandlung. lien anhand der antiken Originale genügend Erfah-
rungen gesammelt, um seine damaligen Überlegun-
gen zu aktualisieren oder zu korrigieren. Um den po-
Kunstästhetik
sitiven Wert der Nachahmung dennoch zu retten,
W. gibt seine kunstkritischen Empfehlungen mittels unterscheidet er, in Rückgriff auf die klassische Rheto-
der aus den Gedancken über die Nachahmung bekann- rik, zwischen einem erstrebenswerten »Nachahmen«
ten ästhetischen Kategorien Nachahmung, Schönheit und einem pejorativen »Nachmachen« (Käfer 1986,
und Ausarbeitung. »Stille« und »Einfalt«, rhetorische 110–111; Ueding 1995, 46; Décultot 2004, 68. 70; Hof-
Begriffe, die W. den traditionellen europäischen, ins- ter 2008, 170). Sowohl in der Zeitstellung als auch in
besondere französischen Kunsttheorien entnahm, der Theoriebildung steht die Betrachtung folglich zwi-
avancieren bekanntlich zu Leitbegriffen in seinem ge- schen den Dresdner Schriften und der Geschichte der
samten Werk (Décultot 2004, 180–181). In der Betrach- Kunst des Althertums respektive der Abhandlung.
tung variiert er die Verschränkung der Begriffspaare
»Edle Einfalt« und »Stille Größe« zu »stiller Einfalt«,
die der Betrachter zu schätzen lernen soll (KS 151). Die 21.2 »Abhandlung von der Fähigkeit der
Botschaft lautet, dass der Vorbildcharakter der griechi- Empfindung des Schönen in der Kunst,
schen Werke in ihrer »Originalität«, ihrer ursprüng- und dem Unterrichte in derselben«
lichen Idee liege (Décultot 2004, 63–64). Diese, gewon-
nen im kognitiven Vermögen des Künstlers, manifes- Das Manuskript ist nicht erhalten. Geschrieben hat es
tiere sich tief im Werk, sichtbar nur im »wenigen Un- W. nach der Geschichte der Kunst, der Erstdruck er-
merklichen«. Im Unterschied dazu bevorzugten viele folgte aber vor dieser 1763 in Dresden (Harloe 2013,
der neueren Künstler, in Ermangelung eigener Gedan- 71 Anm. 15; 94). Schon am 15. Januar desselben Jahres
kentiefe, Anhäufungen von Figuren bzw. Sujets oder hatte er dem Verleger Georg Conrad Walther sein
Oberflächenreize. Als Alternative setzt W. einen da- Vorhaben angekündigt (Br. II, 286); am 18. März of-
mals gängigen ästhetischen Gemeinplatz, den er bei fenbarte er ihm die unkonventionelle Absicht, die
Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) in Halle Schrift seinem jungen Freund, dem Livländer Fried-
gehört haben dürfte: das Mannigfaltige der Schön- rich Reinhold von Berg zu widmen (Br. II, 299). W.
heit im Einfachen zu finden (Ueding 1995, 51–52; zu trug sich schon länger damit, für Berg eine Schrift zu
W.s rhetorischer Praxis der Bildanalyse: Brudzyńska- verfassen (Br. II, 269); in den Briefen an ihn ist das
194 III Werke

Vorhaben auch immer wieder Thema (Br. II, 299, III, zierten Briefes. Mit den Freundschaftsbriefen ge-
413, 415, 583). Der Verlag erhielt das Manuskript in meinsam ist die Zielgruppe: junge Gebildete aus be-
drei Teilen im Juni 1763 (Br. II, 323, 326, 327), im gütertem Haus, hauptsächlich Adlige, aber auch sol-
Herbst lag die Schrift publiziert vor (KS 451). che aus dem aufstrebenden Bürgertum (Disselkamp
1993, 285–83; Müller 1998,155–163). Berg gehörte
ebenso zu diesem Kreis wie Johann Hermann von
Briefkultur und Kunstpädagogik
Riedesel (1740–1785) und Friedrich Wilhelm von
Die Gliederung entspricht in den Grundzügen dem Schlabbrendorf (1743–1803) oder die jungen Schwei-
Aufbau eines Briefes: Nach der mit einem Pindar-Zi- zer Johann Heinrich Füssli, Leonhard (1741–1789)
tat angereicherten Widmung am Beginn folgt die di- und Paul Usteri (1746–1814). W. verstand sich hierbei
rekte, sehr persönliche Anrede des Adressaten. Dieser als maßgebender Vermittler seiner ethisch-ästheti-
war der livländische Baron Friedrich Reinhold von schen Wertvorstellungen, jenseits der üblichen schu-
Berg (1736–1809). Zum Hintergrund: 1762 unter- lischen bzw. universitären Pfade (Bremer 1999, 68–
nahm der damals 25-jährige Berg seinen Grand Tour 78), in einem subjektiven Verhältnis von Meister und
gemeinsam mit den beiden jungen Grafen zu Lynar Schüler oder gar von Vater und Sohn (Disselkamp
und Münnich. Von April bis Juni hielt er sich, mit Un- 1993, 276–278).
terbrechungen an anderen Orten Italiens, für kurze Seine »Schüler« waren allesamt junge wohlhabende
Zeit in Rom auf und wurde von W. durch die Stadt ge- Bildungsreisende auf Grand Tour in Rom. W. war als
führt. Als vermittelnde Person agierte der Maler, Anti- Cicerone in dieses Bildungssystem unmittelbar ein-
quar und Kunstagent Johann Friedrich Reiffenstein gebunden. So unliebsam ihm diese Tätigkeit auch war,
(1719–1793), in der Abhandlung als »gemeinschaftli- sie legte ihm die Defizite der damaligen Reise- und
cher Freund« genannt (KS 212). W., der sich in Berg Ortsinformationen offen: Oftmals irrten Rombesu-
verliebt hatte, war über dessen Aufbruch Anfang Juni cher, so kritisiert er, ziel- und orientierungslos durch
in Richtung Paris sehr bestürzt. Berg wiederum, hete- die Stadt und waren von der Fülle des ubiquitären An-
rosexuell und eher lebenspraktisch veranlagt, konnte gebots überfordert (Br. IV, 20); anstelle von Sachinfor-
W.s Liebe nicht erwidern und kehrte nicht noch ein- mationen wurden sie mit fabulösen Anekdoten abge-
mal nach Rom zurück, doch blieben beide nachweis- speist. In die gleiche Richtung zielte seine Kritik an der
lich bis 1767 in brieflichem Kontakt. Am 15. Novem- gängigen Reiseliteratur, die oftmals nur ältere Be-
ber 1764 heiratete Berg Catharina Dorothea Freiin schreibungen reproduzierte, ohne dass der Schreiber
von Campenhausen (1747–1807), mit der er sieben auf authentische Quellen oder eigens gewonnene
Kinder hatte. In seiner baltischen Heimat war er bis zu Ortskenntnisse hätte verweisen können. Schon im ab-
seinem Tod in verschiedenen Ämtern als Jurist und schließenden Satz der Betrachtung mahnte er diesen
Landespolitiker tätig (Br. II, 456; KS 477). Missstand an und erklärte die Absicht, ein Korrektiv
Kurz vor Erscheinen der Abhandlung entschuldigt zu erarbeiten. Der Plan wurde nicht verwirklicht: Der
sich W. in einem Brief an Berg (Br. III, 413) wegen des Unterricht für die Deutschen in Rom blieb ebenso ein
Zeitverzugs, der zustande kam, weil die ursprünglich Entwurf (Br. IV, 13; KS 186–187, 437–438) wie die
als Brief vorgesehene Lehrschrift nun zu einem eigen- Sendschreiben an Francke (KS 190–193, 439–441)
ständigen Aufsatz angewachsen war. Mit der Anrede und Riedesel (KS 203–209, 441), die sog. »Römische
»Mein Freund!« greift er hier gleichwohl die Brief- Briefe« und die für die Schweizer Usteri und von Me-
form auf. chel entworfenen Kataloge der wichtigsten antiken
Zwischen der Briefkultur des 18. Jh., W.s eigener Monumente Roms (Usteri 1778, 218). Ebenso wenig
Briefpraxis, insbesondere seinen pädagogisch moti- kam ein geplantes Sendschreiben für Friedrich von
vierten Freundschaftsbriefen, und der Abhandlung Hessen-Kassel zustande (Müller 1998, 158–159, 170–
besteht offenkundig ein Zusammenhang. Sieht man 171). Den Entwurf für das Sendschreiben von der Reise
von Ausnahmen wie den geplanten »Römischen Brie- nach Italien für Reinhold von Berg brach W. mitten im
fen« ab, beabsichtigte W. nicht, seine Briefe zu publi- Satz ab (KS 194–195, 441), stattdessen entstand die
zieren (KS 212; Br. I, 274; II, 287; II, 484; IV, 423). An- vorliegende Abhandlung.
ders verhält es sich mit dem vorliegenden Aufsatz, Abhandlung und Betrachtung zählen letztlich aber
denn er wurde auf W.s eigene Initiative beim Verlag nicht zur Reiseliteratur, vielmehr beabsichtigen sie,
eingereicht und gedruckt. Die Schrift hat freilich eher den Leser zum Kunstkenner zu schulen. In der Berg-
den Charakter einer Brieffiktion als den eines publi- Schrift lehrt der Meister den Schüler, das Schöne zu
21 Kunstbetrachtung, Kunsthermeneutik, Kunstpädagogik 195

empfinden. Wie in der Betrachtung schlägt sich hier (KS 222–225), sollte dann eine Bestandsanalyse auf
erneut der Einfluss Richardsons nieder: Ähnlich wie der Basis von Autopsie erfolgen, um z. B. Ergänzun-
später W. hielt auch schon Richardson wenig von der gen zu erkennen (KS 227). Anschließend empfiehlt W.
traditionellen biographischen Kunstliteratur, kriti- die Methode des Vergleichs unter Berücksichtigung
sierte unhinterfragte Gemeinplätze und volkstümli- der gattungsspezifischen Qualitäten der Objekte, und
che Anekdoten (Hofter 2008, 107–112) und gab dem am Ende steht die kritische Analyse und Interpretati-
Kunstbetrachter Anleitungen, die ihn befähigen soll- on (KS 225–232).
ten, Kunstwerke aus eigener Anschauung heraus zu
bewerten. Für den Engländer war »Connoisseurship«
Kunstästhetik
ein integraler Teil seiner aufklärerischen Überzeugun-
gen. So äußert er im zweiten Essay der Discourses, An Wie eingangs bemerkt, zählt der Aufsatz zu den zen-
Argument in behalf of the Science of a Connoisseur tralen Schriften der Kunstästhetik in W.s Werk. Er ver-
(1719), die Ansicht, Kunstkennerschaft verhelfe zu ei- mittelt dem Leser visuelle Phänomene mittels seiner
ner umfassenderen, gesellschaftlich erfolgreichen wie rhetorischen, textanalytischen Kompetenz (Brud-
integeren Persönlichkeitsbildung; sie stehe für die zyńska-Němec 2016, 101). Leitgedanke ist die Fähig-
Freiheit und Unabhängigkeit des Geistes (Gibson- keit, das Schöne zu empfinden. Anders als in anderen
Wood 2000, 179–208; Hofter 2008, 46–50). Eine ver- Schriften unterscheidet W. hier »Schönheit« als höchs-
gleichbare Absicht, dem Leser den Weg zum persönli- te Absicht künstlerischer Verwirklichung und »das
chen Kunsturteil zu weisen – u. a. auch auf der Grund- Schöne« als allumfassende ästhetische Kategorie: »al-
lage von Autopsie – und ihn zum Kunstkenner zu ma- les, was gedacht, entworfen und ausgearbeitet wird«
chen, verfolgt W. nun in seiner Abhandlung (Harloe (KS 212–213). Drei Thesen seiner anschließenden Ar-
2013, 71–72). Grundsätzlich, so schreibt er zu Beginn, gumentationen seien besonders hervorgehoben: die
seien alle vernünftigen Menschen zu dieser Empfin- Minderung des Nachahmungspostulats zugunsten des
dung fähig; wenngleich, so räumt er ein, in unter- Originals respektive Urbildes, der Bedeutungszuwachs
schiedlichem Grade (KS 213). Wie in den Künsten des Konturs sowie das wechselseitige »Bildungsver-
müssten zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Talent und hältnis« von Kunstwerk und Rezipient.
Schulung. Da ersteres als »Gabe des Himmels« außer- Zur ersten These: Schon in der Betrachtung zeich-
halb menschlicher Macht liege, gilt es, sich dem letzte- nete sich eine zunehmende Zurückhaltung gegenüber
ren zu widmen, dem »Unterricht in derselben«. Wei- dem in den Gedancken so zentralen Nachahmungs-
ter hinten allerdings schränkt er, mit Berg vor Augen, postulat ab, je mehr das immaterielle, im Verstand des
den Kreis auf junge Aristokraten ein (KS 220). Für W. Künstlers geschaffene Urbild zu einer der ästhetischen
bildet der adlige Geliebte den Nukleus seiner pädago- Schlüsselpositionen der Kunsterfahrung aufrückt
gischen Mission und übernimmt die Rolle des idealen (Décultot 2004, 68). Am Beispiel des Verhältnisses
Kunstkenners. Insofern bleibt W. in dieser Schrift hin- von homerischer Dichtung und deren späteren Über-
ter den emanzipatorischen Ideen Richardsons zurück. setzungen entwertet W. die Kopie zum Schatten des
Trotzdem sollte auch diese Lehrschrift in der Folge- Urbildes und folgert: »Es kann also die wahre und völ-
zeit größere Kreise erreichen, auf deren Geschmacks- lige Kenntniß des Schönen in der Kunst nicht anders,
urteil Einfluss nehmen, gleichsam zu einer Kanonisie- als durch Betrachtung der Urbilder selbst, und vor-
rung der Bildkunst beitragen. In wissenschaftsmetho- nehmlich in Rom erlanget werden« (KS 222). Doch
discher Hinsicht bemerkenswert ist vor allem der letz- die Aporie der Dialektik von Kopie und Originalität
te Teil. Hier entwickelt W. eine systematische bleibt evident, da der Künstler, um Unnachahmliches
Anleitung der Objektuntersuchung, die, entkleidet zu schaffen, der Nachahmung der Alten bedarf (Käfer
man sie ihres normativ-idealistischen Gebots und en- 1986, 107; Décultot 2004, 68; dies, 2014, 158–159).
thusiastischen Pathos’, in der kunsthistorisch-archäo- Wenn W. die Carracci als Eclectici bezeichnet (KS
logischen Objektanalyse auch noch heute Gültigkeit 229), meint er das keineswegs abwertend, denn sie
beanspruchen kann: Man beginnt, so lehrt er, mit in- wählten das Nachahmenswerte und versuchten, die
tensiven Recherchen, exzerpiert Texte und zieht Re- Vorzüge der Werke der Alten und Raffaels mit denen
produktionen (Stiche, Gipse, heute Fotos etc.), dann des Michelangelo, der venezianischen und lombar-
die Originale heran (KS 221–222). Auf eine möglichst dischen Schule zu vereinen. Deren Nachfolger, Dome-
lückenlose Bestandsaufnahme, exemplarisch vor- nichino, Guido Reni, Guercino und Francesco Albani,
geführt anhand von Werken der Antike und Raffaels müssen »als Nachahmer [...] geachtet werden« (KS
196 III Werke

228–229). Letztlich jedoch bleiben die Nachahmer 2014, 200–204). Nicht jeder, so argumentiert er, sei
stets hinter dem Ideal der Alten zurück (Décultot dazu befähigt, vielmehr muss der innere Sinn des Be-
2004, 61–64, 179–183; Hofter 2008, 162–172). trachters drei Eigenschaften aufbringen: er muss fer-
Zur zweiten These: Auch deutete sich in der Be- tig, zart und bildlich sein. Gemeint sind damit ein en-
trachtung bereits eine stärkere Affinität zur künstleri- thusiastisches Erfassen des Gesamteindrucks (= fer-
schen Kategorie der Linie an. Anders als noch in den tig), eine innige Empathie bei Betrachtung des Schö-
Dresdner Schriften, in denen W. in Anlehnung an Ro- nen (= zart), schließlich eine kontinuierliche Übung
ger de Piles dem Kolorit, Licht und Schatten die wich- (= bildlich), um die Empfindung des Schönen zur
tigste Bedeutung zugewiesen hat (Décultot 2004, 55– Vollkommenheit zu führen (KS 219–220; Décultot
61; Hofter 2008, 37–44), rückt er in der Abhandlung 2004, 71–72; Kurbjuhn 2014, 202–204).
den Umriss nun an die erste Stelle: »In der Zeichnung
ist die Schönheit selbst der Probierstein« (KS 228;
Homoerotik und Selbststilisierung
Hofter 2008, 20–21; 54–56). Zeichnung und Kontur
werden zum probaten Mittel, die Mannigfaltigkeit zur Werk und Rezipient fallen in W.s ästhetischen Aus-
Einheit zu führen. Mehr noch, die »Außenbegren- führungen auch im Schönheitsideal selbst zusammen:
zung« des Werks ist nicht nur das Mittel des Künstlers, Ebenso wie Berg männlich, jung und von angenehmer
sein Gedankenbild im Kunstwerk zu materialisieren, Gestalt ist, so liegt – der Überzeugung des Autors zu-
aus wirkungsästhetischer Perspektive ist sie zugleich folge – die größte Schönheit der griechischen Kunst in
eingebunden in den Prozess der Erkenntnis des der Darstellung jugendlich männlicher Götter. Die
Kunstschönen. Dies leitet direkt über zur dritten, wohl Fähigkeit, diese zu erkennen, besäßen am ehesten
gewagtesten These: wiederum »wohlgebildete Knaben« (KS 212, 215–
In seiner Argumentation über die Signifikanz der 216). Dieses wechselseitige Zusammenspiel von Ho-
»Außenbegrenzung« geht W. noch einen Schritt wei- moerotik, ästhetischem Ideal und sinnlichem Wahr-
ter und macht den Rezipienten zum unmittelbaren nehmungsvermögen ist in dieser Schrift gleich dop-
physischen Partizipanten innerhalb des Erkenntnis- pelt begründet, im Betrachter und im Werk. Das weib-
prozesses. Schon in der Einleitung des Aufsatzes liche Geschlecht bleibt demgegenüber nachrangig:
schreibt W. über Berg: »ich fand in einem schönen »Es wird dasselbe bey diesen in der Kunst der Grie-
Körper eine zur Tugend geschaffene Seele, die mit der chen mangelhaft bleiben, da die größten Schönheiten
Empfindung des Schönen begabt ist.« (KS 212). Wenn derselben mehr von unserm, als von dem anderen Ge-
W. hier über Bildung schreibt, meint er dies wörtlich: schlechte, sind« (KS 216; Hofter 2008, 144).
nicht als rationale, regelhafte Schulung, auch nicht al- Eine Steigerung des Ideals zu beinahe androgyner
lein als kognitiver Wissenszuwachs, sondern als eine Indifferenz klingt gleichwohl in einem der Briefe an
allumfassende Formung des kunstbetrachtenden den jungen Livländer an, dem sog. Berg-Brief vom
Schülers. Die Wahrnehmung des Kunstschönen durch 9. Juni 1762. Hierin erklärt ihm W. seine Liebe mit ei-
den Rezipienten und die »Wohlbildung« seiner selbst nem Zitat aus Abraham Cowleys Poem Platonick Love
stehen, so W., wie der »innere Sinn« zum »äußeren« in (Br. II, 232): »I thee, both as man and woman prize,/
einem reflexivem, spiegelbildlichem Verhältnis zu- For a perfect love implies/ Love in all capacities« (Ich
einander (Disselkamp 1993, 279–280). Der innere preise Dich sowohl als Mann wie als Frau,/ denn eine
Sinn, die Schönheitsempfindung, schafft die Vorstel- vollkommene Liebe beinhaltet/ Liebe in allen Eigen-
lung dessen, was auf ihn über die Eindrücke einwirkt, schaften). Cowley meinte damit auch geschlechtliche
vermittelt über die bildende Kraft des Kunstschönen, Liebe, was W. Berg verschweigt (Wangenheim 2005,
den äußeren Sinn (KS 218; Ueding 1995, 59). Dieses 212–217; Hofter 2008, 148–149; vgl. Trapp 2003, 115,
wechselbezügliche Bildungsverhältnis zwischen 121–122). Es gehört zu W.s rhetorischen Strategien,
Wahrnehmenden und Kunstwerk, zwischen innerem seine Passion zu Berg in Zitate der Dichtkunst zu klei-
und äußerem Sinn, beschreibt W. mit der Metapher: den, so auch in der Abhandlung. In der oben erwähn-
»Das wahre Gefühl des Schönen gleicht einem flüssi- ten Widmung auf dem Titelblatt, eingeleitet mit dem
gen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo gegossen Wortlaut »An den Edelgeborenen Freyherrn, Fried-
wird« (KS 217). Die Empfindung des sensiblen Be- rich Rudolph von Berg, aus Liefland« (ausgerechnet
trachters passt sich also an die Außenkonturen des an dieser exponierten Stelle verwechselt er den Vor-
mustergültigen Werks an und schafft ein plastisches namen des geliebten Freundes!), preist W. die Schön-
geistiges Bild als Begriff idealer Schönheit (Kurbjuhn heit und Jugend des Adressaten mit einem Zitat aus
21 Kunstbetrachtung, Kunsthermeneutik, Kunstpädagogik 197

einer Ode Pindars: ἰδέᾳ τε καλὸν / Ὣρᾳ τε κεκραμένον renzo Bernini (1598–1680; KS 218), Carlo Cesare
(idéa te kalón/ Hora te kekraménon; Ol. 10, 103–104). Malvasia (1616–1693; KS 213) oder René Descartes
Auf der ersten Textseite lässt er ein weiteres Pindar-Zi- (1596–1650; KS 233) ebenso zählen wie die Idealisie-
tat folgen, womit er seine Säumigkeit zu entschuldigen rung Roms (Disselkamp 1993, 115–132, 366–394).
sucht (KS 212): ὃμως δὲ λῦσαι δυνατὸς ὀξεῖ/αν Was W. hier schreibt, ist über weite Strecken selbst-
ἐπιμομφὰν ὁ τόκος ἀνδρῶν (hómos de lýsai dynatós referenziell; das Berg-Bild inkludierend, führt dies zu
oxeí/ an epimomphán ho tókos andrón; Ol. 10, 8–9; widersprüchlichen Aussagen. Wie oben schon er-
Kochs 2005, 86). Eine recht freie deutsche Überset- wähnt, billigt er am Beginn des Aufsatzes die Fähigkeit
zung – Berg dürfte des Griechischen unkundig gewe- der Empfindung des Schönen allen Menschen zu, also
sen sein – gibt er gleich im ersten Absatz: »Ueber den auch solchen von »vernachlässigter Erziehung« – und
Verzug dieses Ihnen versprochenen Entwurfs von der hier meint er sich selbst: »wie ich hier von meinem
Fähigkeit das Schöne in der Kunst zu empfinden, er- Theile weis« (KS 215). Weiter hinten beschränkt er
kläre ich mich mit dem Pindarus, da er den Agesida- dies auf junge Aristokraten. Letztlich erfüllt die Schrift
mus, einen edlen Jüngling von Locri, ›welcher schön weder in ihrer selbstbezüglichen noch in der elitären
von Gestalt, mit der Gratie übergossen war‹, auf eine Graduierung einen Bildungsauftrag nach republika-
ihm zugedachte Ode, lange hatte warten lassen: ›Die nisch-aufklärerischer Maxime. Die Idealisierung
mit Wucher bezahlete Schuld, sagt er, hebet den Vor- Roms wiederum fällt weniger überschwänglich aus als
wurf.‹«. In einem Brief an Berg vom 26. Januar 1763 in den Briefen an die in Deutschland verbliebenen
deutete W. an, die Schrift mit einem anderen Pindar- Freunde – kein Wunder, hatte Berg doch die Realität
Zitat einführen zu wollen: »Muse! sage du mir, wo er vor Ort kennengelernt (Osterkamp 1988, bes. 217–
mir im Herzen liegt! Ich setze es im Griechischen, und 218). Ihm gegenüber äußert W. den Wunsch, dass der
es wird also bey wenigen ungegründeten Verdacht er- im baltischen Norden verweilende Freund alsbald in
wecken können« (Br. III, 415). Dies fiel Berg wohl aber die klimatisch wie kulturell begünstigten südlichen
doch zu indiskret aus (so Rehm: KS 451). Briefe an Gefilde zurückkehren möge. Eine Hoffnung, die sich
Leonhard Usteri zeigen, dass sich W. durchaus darü- nicht erfüllte.
ber im Klaren war, dass allein schon die Widmung
Anstoß erregen könnte (Br., II 326; 344–345), was in Quellen
Deutschland ja dann auch geschah (Disselkamp 1993, Fusseli, Henry: Johann Joachim Winckelmann, Reflections
286; Hofter 2008, 135–136, 149). Gleichwohl wusste on the Painting and Sculptures of the Greeks, with In-
structions for the Connoisseur, and an Essay on Grace in
er, ähnlich wie im sog. Berg-Brief, von dem neben der Works of Art. Translated from the German Original of the
1784 gedruckten Fassung noch eine emotionaler for- Abbé Winckelmann, Librarian of the Vatican. London
mulierte Entwurfsversion im sog. Florentiner Nach- 1765.
lassheft erhalten geblieben ist (Florentiner Winckel- Richardson, Jonathan: An Essay on the Theory of Painting.
mann-Manuskript 195–290, bes. 213; Kunze 1998, London 1715.
Richardson, Jonathan: Two Discourses I: An Essay On the
431–432), seine Worte angemessen genug, gegebe-
whole Art of Criticism as it relates to Painting. Shewing
nenfalls mit Zitaten zu wählen, um das Decorum zu how to judge (I. Of the Goodness of a Picture; II: Of the
wahren (Hofter 2008, 136). Hand of the Master; III: Whether ’tis an Original, or a Co-
Es ist hier weder der Platz, den psychologisieren- py); II: An Argument in behalf of the Science of a Con-
den Interpretationen der Sekundärliteratur nachzuge- noisseur, Wherein is shewn the Dignity, Certainty, Pleasu-
hen noch das Werk als homosexuelle Geheimschrift re, and Advantage of it. London 1719.
Richardson, Jonathan: An Account of Some of the Statues,
zu dechiffrieren (vgl. Detering 1994, 56–77; Potts
Bas-Reliefs, Drawings, and Pictures in Italy, etc. with Re-
1994; Sichtermann 1996, 97–106; Wangenheim 2005). marks. London 1722.
Individuelles Begehren und Verlustbewältigung durch Usteri, Leonhard: Winckelmanns Briefe an seine Freunde in
die jähe Trennung sublimiert W. in eine ästhetische der Schweiz. Zürich 1778.
Kontemplationslehre, in der erotische Implikationen
indirekt ausgesprochen werden. Daraus stilisiert er Forschung
ein literarisches Bild »heroischer Freundschaft«. Die Bremer, Michael: Der Gelehrte als Genie der Geselligkeit.
Zur idealtypischen Konstruktion deutscher und italie-
Abhandlung enthält nahezu topisch die wiederkehren-
nischer Existenz bei Winckelmann. In: Cusatelli, Giorgio
den Argumentationen seiner Freundschaftsbriefe, zu u. a. (Hg.): Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im
denen Pedantenkritik und Seitenhiebe gegen promi- 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, 68–78.
nente Künstler und Gelehrte des 17. Jh. wie Gian Lo-
198 III Werke

Brudzyńska-Němec, Gabriela: »die Fähigkeit der Empfindung Potts, Alex: Flesh and the Ideal: Winckelmann and the Ori-
des Schönen in der Kunst« als eine sprachliche Herausfor- gins of Art History. New Haven 1994.
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(Hg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfah-
rung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden
Metropolen. Stuttgart 1988, 203–230.
22 »Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch« 199

22 »Description des pierres gravées worben hatten (Zwierlein-Diehl 2007, 242), sowie den
du feu Baron de Stosch« Barberini, Chigi, Colonna oder Ludovisi. Diese waren
allerdings selbst Gelehrten wie W. nicht ohne Weiteres
zugänglich (Br. II, 19; 364). Die berühmteste römische
Glyptik im 18. Jahrhundert
Sammlung antiker Gemmen und Kameen ging auf
Mit einer Größe von kaum mehr als eineinhalb Zenti- den deutschen Baron Philipp von Stosch (1691–1757)
metern sind Gemmen neben den Münzen die kleins- zurück, der seit 1722 in der Stadt lebte, bevor er 1731
ten Bildträger der antiken Welt. In der Regel wurden nach Florenz übersiedelte. Er hatte eine ursprünglich
sie als Siegel oder Schmuck verwendet und erfreuten über 3500 Objekte umfassende Sammlung geschnitte-
sich in dieser Funktion weit über die Antike hinaus ner Steine zusammengetragen, die über die Grenzen
großer Beliebtheit. Im Mittelalter überdauerten die der Stadt und des Landes hinweg bekannt war und
vertieft als Intaglio oder erhaben als Kameo geschnit- zum Anziehungspunkt zahlreicher Reisender wurde.
tenen Miniaturbilder v. a. in den Kirchenschätzen die »Dieser Kunstfreund [Baron von Stosch] besaß die
Zeiten, und ab der Renaissance gewann ihre Samm- schönste Sammlung geschnittener Steine, die damals
lung eine besondere Dynamik. Treibende Kraft waren der Mode entsprechend besonders geachtet wurden«,
die Höfe der Könige sowie der weltlichen bzw. geist- berichtete etwa Karl Heinrich von Gleichen anlässlich
lichen Fürsten. Abseits aristokratischer Familien wur- eines Besuchs in Rom (von Gleichen Rußwurm 1907,
den Gemmen fester Teil einer bürgerlichen Samm- 10). Auch W. nennt als Ziel seines Besuchs in Florenz
lungskultur von Kaufleuten oder Gelehrten (Zwier- nicht die seit der Renaissance auf etwa 2000 Exempla-
lein-Diehl 2007, 272). Im 18. Jh. kam es zu einer bis re angewachsene Sammlung der Großherzöge, son-
dahin nie gekannten europaweiten Verbreitung von dern das Museum von Stosch (Br. I, 410; 430). Die
Gemmensammlungen, die eine zunehmende wissen- Sammlung des Barons hatte enzyklopädischen Cha-
schaftliche Erschließung in Form von Katalogwerken, rakter, und seine Einteilung des Materials in acht Klas-
aber auch in Gestalt der Behandlung thematischer sen diente W. als Ausgangspunkt für die Arbeit an der
oder ikonographischer Einzelprobleme nach sich zog. Description, in der er die Sammlung nach dem Tod
Dass die Gattung der geschnittenen Steine den Zeit- Stoschs fast vollständig publizierte, bevor sie 1764 in
geschmack traf, äußerte sich schließlich nicht nur in
der Transformation von Gemmenbildern in kunstvol-
le Kupferstiche (Cheron 1728; dazu Iodice 2010; de
Gravelle 1732/1737; Worlidge 1768; Novus Thesaurus
1781–1788), sondern auch in der modernen Stein-
schneidekunst. Ausgehend von Rom kam diese zu ei-
ner neuen Blüte und machte die Antike für die Gegen-
wart verfügbar (Berges 2011; Tassinari 2012).

Höfe, Bürger- und Gelehrtenstuben. Sammlungen


antiker Gemmen
Sammlungen antiker geschnittener Steine wiesen
seit jeher durch Schenkungen und Handel eine große,
europaweite Mobilität auf. Zugleich lassen sich für das
18. Jh. regionale Schwerpunkte benennen, auf die sich
die Begeisterung für das Sammeln konzentrierte.
Das traditionsreichste Zentrum und W.s erster Be-
zugspunkt war Italien und insbesondere Rom. Dort
befanden sich nicht nur die bedeutenden Renais-
sancesammlungen, vielmehr traten z. B. bei Grabun-
gen oder in den Weinbergen des Umlandes immer
noch zahlreiche Neufunde zu Tage. Qualitätvolle
Sammlungen befanden sich im Besitz von Adelsfami-
lien wie den Odescalchi, die 1689 die Gemmen der Abb. 22.1 Titelvignette der ›Geschichte der Kunst
verstorbenen Königin Christina von Schweden er- des Alterthums‹, Dresden 1764.

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_22, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
200 III Werke

das Antikenkabinett Friedrichs des Großen (Regie- kaufte kein Geringerer als König George III. (geb.
rungszeit 1740–86) überging. Stosch selbst war ein 1738, Regierungszeit 1760–1820) die Gemmen des
zentraler Interaktionspartner unter den römischen Consuls Smith aus Venedig.
Antiquaren, von denen auch viele weitere über Samm- In Frankreich blieben die Sammlungen dagegen
lungen verfügten (Gallo 1999). Der Zeichner Pier weitgehend auf den königlichen Hof bzw. sein engstes
Leone Ghezzi (1674–1755) hat einige von ihnen in sei- Umfeld beschränkt. Der unter dem gemmenbegeister-
nem Gruppenbild »I migliori antiquari di Roma« fest- ten Ludwig XIV. (1643–1715) signifikant erweiterte
gehalten (Zazoff 1983, 18), wie etwa Francesco de’ Fi- und nach Versailles verbrachte Bestand antiker Gem-
coroni (1664–1747) oder Pier Leone Strozzi (1657– men wuchs auch unter seinem Nachfolger, Ludwig XV.
1722), den ersten Besitzer der berühmten, durch den (1715–1774). Im unmittelbaren Umfeld des Königs-
Steinschneider Solon signierten Medusa Strozzi (Justi hofes entstand das Gemmenkabinett der Familie d’Or-
1943, II, 7–8). Eine beachtliche Anzahl qualitativ léans, dessen Grundstock die Gemmen Elisabeth Char-
hochwertiger Gemmen hatte schließlich auch der Ge- lottes von der Pfalz (1652–1722) bildeten. Ihr Sohn Phi-
lehrte Alessandro Gregorio Capponi (1683–1746) zu- lipp II. (1674–1723), der spätere Regent Ludwigs XV.,
sammengetragen. Seine exakte Buchführung über die sollte zu einem großen Förderer Philipp von Stoschs
Erwerbungen gibt nicht nur einen Einblick in die Ge- werden (Zwierlein-Diehl 2007, 281–282). Eine bedeu-
nese seiner eigenen Sammlung, sondern auch in die tende Erweiterung erfuhr das Kabinett mit dem Erwerb
Praktiken zeitgenössischer Händler und Sammler in der Gemmen des französischen Bankiers Pierre Crozat
Rom (Ulbadelli 2002, 91–106). (1665–1740) im Jahre 1741 (Mariette 1741, V), bevor
Abseits von Rom wurde ab 1736 Neapel der neue die komplette Sammlung nach Russland verkauft wur-
Standort der Sammlung Farnese (Giove/Villone de. Insbesondere durch diesen 1787 realisierten Ver-
1994). Diese fand bei W. allerdings nur eine ver- kauf war die Geschichte der französischen Sammlun-
gleichsweise beiläufige Erwähnung (Br. I, 389). Auch gen eng mit derjenigen der russischen verbunden, die
die Gemmen der toscanischen Großherzöge übergeht erst gegen Ende des Jahrhunderts und damit vergleichs-
er, obwohl diese 1739 durch Antonio Cocchi (1695– weise spät entstanden. Treibende Kraft war Zarin Ka-
1758) neu inventarisiert worden waren und in der Fol- tharina II. (geb. 1729, Regierungszeit 1762–1796), die
ge zahlreiche Reisende anzogen (Fileti Mazza 2004, konsequent Bestände aus verschiedenen europäischen
15–39). Venedig hatte dagegen nach der Zerstreuung Ländern wie z. B. das Gemmenkabinett Orléans erwarb
der einst bedeutenden Sammlung Grimani einzig die (Kagan/Neverov 2000, 14–35).
Stücke im Besitz des Künstlers Antonio Maria Zanetti Im deutschsprachigen Raum hatte sich nach Düs-
des Älteren (1680–1757) sowie des Consuls Joseph seldorf (Weber 1996, 140) in der zweiten Hälfte des
Smith (1674–1770) aufzuweisen und dadurch einen Jahrhunderts die Residenzstadt Berlin mit dem Er-
nachgeordneten Stellenwert (Scarisbrick 1987; Fava- werb der Sammlung Stosch für das Antikenkabinett
retto 2002, 204–206). unter den wichtigsten Standorten etabliert. Doch auch
Auch in den übrigen europäischen Ländern kon- der Hof in Wien mit seinen einzigartigen Kameen
zentrierten sich die Sammlungen zunächst auf die Hö- (Zwierlein-Diehl 1991, 28–38) sowie die Höfe in
fe der Könige und Fürsten. Neben Italien zeichnete Braunschweig, Dresden, Gotha oder Kassel wiesen
sich im 18. Jh. insbesondere England durch eine in- umfangreiche Sammlungen antiker geschnittener Stei-
tensive Sammeltätigkeit aus. Die Protagonisten waren ne auf. Auffallend ist die große Zahl von Sammlungen,
v. a. Angehörige der englischen Aristokratie, die wäh- die im unmittelbaren Umfeld der Höfe entstanden, wie
rend ihrer Grand Tour Italien bereisten und dabei re- diejenige der sächsischen Minister Graf Joseph Anton
gelmäßig Gemmen erwarben (z. B. Br. II, 179). Häufig Gabaleon von Wackerbarth-Salmour (1685–1761)
bildeten diese Stücke den Kern von z. T. umfangrei- und Reichsgraf Heinrich von Brühl (1700–1763), die
chen Kollektionen, die in dichter Folge in den Land- W. noch aus seiner Dresdner Zeit kannte (Br. I, 95; 171;
sitzen wie Alnwick Castle, Blenheim Palace, Castle 177). Zu ihnen hielt er auch aus Rom regelmäßig Kon-
Howard oder Chatsworth House entstanden (Board- takt (z. B. Br. II, 80; 108; 118; 153; Br. III, 396; dazu Jus-
man 2009, 1–28; 125–127; 205–209; Kagan 2010, 127– ti 1943, I, 405–406) und bedachte sie u. a. mit einem
133; Scarisbrick 1987; Scarisbrick 2016). In England Exemplar seiner Description (Br. II, 85).
war das Sammeln von Gemmen damit Charakteristi- Eine Besonderheit im deutschsprachigen Raum
kum eines ganzen Standes geworden, und die Begeis- war die Begründung einer breiteren, bürgerlichen
terung weitete sich bis in die höchsten Kreise aus. So Sammlungskultur. Getragen wurde diese von Han-
22 »Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch« 201

delsstädten wie der Reichsstadt Nürnberg mit dem tung des Verkaufs (z. B. Mariette 1741) abzielen. Zu-
Gemmenkabinett des Kaufmanns Paulus II. Praun gleich bildeten solche Veröffentlichungen neben den
(1548–1616), das Goethe im Jahre 1797 noch besichti- Objektsammlungen selbst eine wichtige Basis für den
gen konnte (Michel 1999/2000; Weber 1996). In der Austausch unter den Gelehrten und boten Chancen
Messe- und Handelsstadt Leipzig befand sich in der einer wissenschaftlichen Profilierung. Auf diese Weise
Ratsbibliothek die ca. 500 Stücke umfassende Samm- wurden sowohl aristokratische Sammlungen (Beger
lung der Stadt, die bis heute in ihrem originalen Kabi- 1696–1701; Bryant 1780–1783; Eckhel 1788; Museum
nettschränkchen weitgehend erhalten ist (Lang 2015) Odescalchum 1751/52; Description d’Orléans
und die Aubin Louis Millin (1759–1818) in seinem 1780/1784) als auch bürgerliche (de Wilde 1703; Eber-
Handbuch zur Glyptik neben den Kabinetten in Ber- mayer 1720; Ebermayer 1721/22; Venuti 1736) einer
lin und Wien einer gesonderten Erwähnung würdigte breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Antiquare publi-
(Millin 1796, 60). Ein vergleichbar breites gesell- zierten ihre Sammlungen meist eigenständig. So
schaftliches Milieu lässt sich für das Gebiet der Nie- konnte Francesco Vettori (1692/93–1770) seine Gem-
derlande nachweisen. Dort traten neben Johan Hen- men noch zu Lebzeiten im Rahmen seiner Dissertatio
drik Graf van Wassenaer-Opdam (1683–1745) (Platz- Glyptographica selbst veröffentlichen (Vettori 1739).
Horster 2012, 14) als bürgerliche Sammler Jacob de Der zahlreiche Inschriftengemmen umfassende Kata-
Wilde (1658–1736), Frans Hemsterhuis (1721–1790) log der Gemmensammlung Ficoronis wurde dagegen
und der Bankier Theodorus de Smeth (1710–1772) erst nach dessen Tod durch Nicolao Galeotti (1692–
(Maaskant/Kleibrink 1978, 11–49) in Erscheinung. 1758) zum Abschluss gebracht (Ficoroni, Francesco
Dies skizzierte Entwicklung belegt, dass auch unter de’: Gemmae 1757). Der Florentiner Gelehrte Anton
Berücksichtigung regionaler Eigenheiten antike Gem- Francesco Gori (1691–1757) legte in den 1730er Jah-
men seit dem Beginn des Jahrhunderts als eigenständi- ren die Gemmen der Großherzöge der Toscana als Teil
ge Kategorie antiker Kunst fest in den europäischen des umfangreichen Museum Florentinum in zwei
Sammlungen des Adels wie auch der Bürger verankert Bden. vor (Gori 1731/32). Daneben publizierte er wei-
waren (Mariette 1750, 51–53; Millin 1796, 95–100). Ih- tere öffentliche und private Sammlungen (Valesio/
re Dichte und die große Anzahl an Verkäufen verdankt Gori/Venuti 1750; Gori 1750; Gori 1767). Seine Werke
sich der vergleichsweise leichten Verfügbarkeit der zeichnen sich durch eine außergewöhnliche Kenntnis
Objekte, bezeugt aber auch die große Wertschätzung, des Materials aus, die ihm unter den Zeitgenossen ho-
die man geschnittenen Steinen als Zugang zur Antike he Anerkennung eintrug (z. B. Novelle Letterarie 6
entgegenbrachte. Nachdem bereits Lorenz Beger den vom 11. Februar 1757, Sp. 81). Nur eine von Goris Ar-
Gemmen einen besonderen Stellenwert eingeräumt beiten zur Glyptik zielt nicht auf die Veröffentlichung
hatte (Beger 1696, 6), befand auch der Leipziger Ge- einer Sammlung ab. Darin verfolgt er den Ansatz ei-
lehrte Christ: »[...] Gemmen sind das vollkommenste ner thematischen Zusammenstellung und präsentiert
Denkmal der alten Gebräuche und Künste« (Christ ca. 200 Gemmen mit astralen Zeichen und magischen
1776, 264). Diese von Christ skizzierte Attraktivität ba- Symbolen, zu denen der Etruskologe Giovanni Battis-
siert insbesondere auf der Fähigkeit der Gemmen, auf ta Passeri (1694–1780) erklärende Studien beisteuerte
kleinstem Raum nahezu das gesamte Repertoire my- (Gori/Passeri 1750). Insgesamt lässt sich in den Wer-
thologischer, historischer und antiquarischer Themen ken des Florentiner Gelehrten das Erbe der Antiquare
zu vereinen und dabei v. a. Einblicke in den privaten greifen, die Gemmen v. a. als Quelle antiquarischen
Lebensbereich der Antike zu ermöglichen. Wissens heranzogen. In dieser Form hielten Intaglien
und Kameen auch Einzug in die großen Kompendien
Die Erforschung antiker Gemmen zwischen Kupfer- zur Antike wie Bernard de Montfaucons Antiquité ex-
stich und Abguss pliquée von 1722, die zahlreiche Gemmendarstellun-
Das Sammeln der Gemmen führte auch zu einer in- gen enthielt und den Umgang der Antiquare mit die-
tensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ser Gattung exemplarisch vor Augen führt (Furtwäng-
ihnen. Dem wachsenden Interesse verdankten sich ler 1900, 409). Dass Gemmen v. a. als Bildquelle inte-
Wiederauflagen alter Werke, aber auch ein signifikan- ressant waren, zeigt sich auch an Francesco de’
ter Anstieg neuer Katalogarbeiten (Furtwängler 1900, Ficoronis Werk über die antiken Masken (Ficoroni
406–423; Liste der Werke bei von Murr 1804, 124– 1736).
171; 188–195). Die Kataloge konnten auf die Nobili- In diesen Katalogwerken zu Sammlungen oder
tierung der Sammlung oder auch auf eine Vorberei- Themen zeigt sich ein Fortwirken der antiquarischen
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Tradition, die auf die Sammlung, Systematisierung nen signifikanten Zuwachs an Material oder Er-
und Deutung einzelner Objekte zielte. Am Beispiel kenntnis.
von Gemmen mit Signaturen lässt sich beobachten, Parallel zu den Abh. über signierte Gemmen ent-
wie sich aus dieser Tradition eine der zentralen For- standen ästhetische Analysen der geschnittenen Steine.
schungsfragen des 18. Jh. entwickelte. Anfang des Stosch thematisierte den ästhetischen Zugang nur im
Jahrhunderts hatte Paolo Alessandro Maffei das be- Préface und führte ihn nicht weiter aus (Stosch 1724,
kannte Gemmenwerk Leonardo Agostinis (1594– V). Pierre-Jean Mariette (1694–1774) hingegen be-
1676) in seiner Schrift Gemme antiche figurate (Maffei trachtete wie der von W. hochgeschätzte Comte de
1707–1709) erneut abgedruckt und beobachtet, dass Caylus (1692–1765) Gemmen nicht nur als Träger von
die Inschrift auf der sog. Medusa Strozzi den Namen Bildern, sondern v. a. als eigenständige Kunstwerke
des Künstlers wiedergeben müsse (»l’ artefice [...] si (Mariette 1750, 35–36; Caylus 1752, 121). In diesen
volle scrivere il suo nome SOLONOS«). Bei Maffei Kontext ist forschungsgeschichtlich auch W.s Descrip-
war diese Deutung als Einzelbeobachtung in den Ka- tion einzuordnen, da der Verfasser antiquarische Ein-
talog eingebettet. Eine Abkehr von dieser antiquari- zelbeobachtungen mit allgemeingültigen Aussagen
schen Tradition einer punktuellen Ausbreitung von zum Stil der Werke verknüpft (siehe dazu Kap. 22). Eng
Wissen zeigt sich erstmals bei Charles César Baudelot mit dieser ästhetischen Betrachtung verbunden waren
de Dairval (1648–1722), dessen Werke noch während die ersten Arbeiten, die sich den technischen Aspekten
des gesamten Jahrhunderts rezipiert wurden (z. B. Br. des antiken Steinschnitts widmeten. Neben Mariette
III, 201). Angeregt durch Philipp II. von Orléans ver- tat sich hier besonders der Gemmenschneider Lorenz
fasste er 1717 eine knappe Abh., die sich allein auf Natter (1705–1763) hervor, der in seiner Traité (Natter
Gemmen mit Inschriften konzentrierte und diese 1754) in der Politur ein Merkmal für die antike Entste-
nicht als Benennungen der Dargestellten, sondern als hung eines Stücks sah. Diese Ansicht wurde insbeson-
Signaturen der ausführenden Steinschneider deutete dere von W. scharf kritisiert (Zazoff 1983, 108–109).
(Baudelot de Dairval 1717; dazu Zazoff 1983, 19). Die- Die Betrachtung des Stils antiker Gemmen stellte
ser Gedanke wurde von Baron Philipp von Stosch schließlich gesteigerte Anforderungen an die Repro-
(1691–1757) in seinen 1724 auf Lateinisch und Frz. duktion der Objekte. Zur Wiedergabe von Bildern wa-
erschienen Gemmae antiquae caelatae aufgegriffen ren Kupferstiche noch als geeignet angesehen worden.
und so erweitert (Stosch 1724), dass W. sie bereits als Dass sich mit ihrer Hilfe auch Stilunterschiede beur-
selbstverständlich anerkannte (z. B. Br. II, 84; 101). In teilen ließen, wurde jedoch zunehmend bezweifelt.
diesem Werk, das den Ruf Stoschs als bester Gem- Die nicht nur von W. (Stoß. Museo, SN VII,1, 364 Z.
menkenner seiner Zeit mitbegründete, veröffentlichte 7–9) als unzuverlässig angesehenen Kupferstiche wur-
er 70 der zu dieser Zeit bekannten und von ihm als an- den ab der Mitte des Jahrhunderts von Abdrucksamm-
tik erachteten Gemmen mit Signaturen ihrer Stein- lungen, den sog. Daktyliotheken, abgelöst (Graepler/
schneider. Für die Glyptik stellte es ein Fundament für Kockel 2006; Knüppel 2009; Zazoff 1983, 137–195).
die weitere Forschung bereit. Es stach zunächst durch Die in ihnen vereinten Reproduktionen wurden den
die kenntnisreichen Beobachtungen des Autors he- Objekten in besonderer Weise gerecht, da ein vertieft
raus. Die Kupferstiche, die neben der Vergrößerung geschnittenes Gemmenbild in der Regel für den Ab-
auch die Originalgröße und den Erhaltungszustand druck angefertigt war. Für wiss. Auseinandersetzun-
der Gemmen verzeichneten, setzten neue Qualitäts- gen erlaubten sie einen authentischen Eindruck nicht
maßstäbe. Das Werk war der erste Versuch, eine fest nur von dem Bild, sondern auch von der ästhetischen
definierte Thematik systematisch zu bearbeiten, und Wirkung der Originale. Zugl. vereinten diese Samm-
führte darin über alle bisherigen Ansätze hinaus (Za- lungen Werke, die über ganz Europa verstreut waren.
zoff 1983, 24–29; 105–106). Mitte des Jahrhunderts gab der Dresdner Glaser und
Gegen Ende des 18. Jh. versuchte Domenico Brac- Lehrer der dortigen Zeichenakademie Philipp Daniel
ci (1717–1795), der große Gegenspieler W.s unter Lippert (1702–1785) seine Dactyliotheca Universalis
den römischen Antiquaren, die Arbeit Stoschs fort- mit einem lateinischen und später auch deutschen Ka-
zusetzen (Bracci 1784). Nach einem schwierigen Ent- talog heraus. Für die lateinische Ausgabe schrieben
stehungsprozess, der von W.s kritischen Kommenta- Christ, später Christian Gottlob Heyne (1729–1812)
ren begleitet wurde (Br. III, 262), war sein Werk über die Texte. W. korrespondierte mit Heyne über ge-
die Künstlersignaturen zur Zeit des Erscheinens be- schnittene Steine (Br. III, 242) und sandte Lippert zahl-
reits nicht mehr zeitgemäß und brachte überdies kei- reiche Abdrücke aus Italien (Br. I, 444). Für die deut-
22 »Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch« 203

sche Ausgabe zeichnete Lippert selbst für die Texte Gori, Antonio Francesco: Gemmae antiquae Antonii Mariae
verantwortlich (Graepler 2015). Im Anschluss an diese Zanetti Hieronymi F. Ant. Franciscus Gorius notis latinis
Daktyliothek schufen auch Christian Dehn (1697– inlustravit. Venedig 1750.
Gori, Antonio Francesco/Passeri, Giovanni Battista: Thesau-
1770) und James Tassie (1735–1799) ähnliche Samm- rus Gemmarum antiquarum astriferarum [...]. Florenz
lungen von Abgüssen in Gips und Schwefel sowie Ab- 1750.
formungen in Glas (Kagan 2010, 135–171). All diese Gori, Antonio Francesco: Dactyliotheca Smitthiana. Vene-
Zusammenstellungen antiker Bildthemen entfalteten dig 1767.
weit über die Wissenschaft hinaus in Schulen und Zei- Gravelle, Michel-Philippe Levesque de: Recueil de pierres
gravées antiques. 2 Bde. Paris 1732/37.
chenakademien Wirkung (dazu z. B. Klotz 1768).
Hebenstreit, Johann Ernst/Christ, Johann Friedrich: Mu-
Das 18. Jh. zeichnet sich im Bereich der Glyptik da- seum Richterianum [...] accedit de gemmis scalptis. Leip-
mit nicht nur durch Anwachsen der Materialvorlagen zig 1743.
aus, sondern es ist der Zeitraum, in dem eine systemati- Klotz, Christian Adolf: Über den Nutzen und Gebrauch der
sche Erforschung dieser Gattung antiker Kunst begann. alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrücke. Altenburg
Stand zwischen Renaissance und 17. Jh. noch das Inte- 1768.
Maffei, Paolo Alessandro: Gemme antiche figurate date in
resse an Aussehen und Benennung berühmter Männer lucem da Domenico de’ Rossi colle sposizioni di Paolo
im Vordergrund, waren nun Fragen nach Authentizität Alessandro Maffei. Rom 1707–1709.
und Stil zentral, welche zugl. neue Formen der Repro- Mariette, Pierre-Jean: Description sommaire des pierres
duktion erforderlich machten. Wenngleich im Detail gravées du Cabinet du feu M. Crozat. Paris 1741.
die Bemühungen um eine Trennung antiker von mo- Mariette, Pierre-Jean: Traité des pierres gravées. Paris 1750.
Millin, Aubin Louis: Introduction a l’Ètude des pierres
dernen Werken nicht immer erfolgreich waren, hatte
gravées. Paris 1796.
sich die grobe stilistische Einteilung in Werke der Murr, Christoph Gottlieb von: Bibliothéque Glyptographi-
Ägypter, Etrusker, Griechen und Römer am Ende des que. Dresden 1804.
Jahrhunderts fest etabliert (Millin 1796, 43–80). Museum Odescalchum sive thesaurus antiquitatum gemma-
rum [...]. Rom 1751/52.
Werke zur Glyptik Natter, Lorenz: Traité de la méthode antique de graver en
Baudelot de Dairval, Charles César: Lettre sur le prétendu pierres fines comparée avec la méthode moderne. London
Solon des pierres gravées. Paris 1717. 1754.
Beger, Lorenz: Thesaurus Brandenburgicus selectus. 3 Bde. Novus Thesaurus gemmarum veterum ex insignioribus dac-
Berlin 1696–1701. tyliothecis selectarum cum explicationibus. 4 Bde. Rom
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pirono i loro nomi in gemme e cammei [...]. Florenz 1784. Stosch, Philipp von: Gemmae antiquae caelatae, scalptorum
Bryant, Jacob: Gemmarum Antiquarum Delectus; ex Præs- nominibus insignitae. Amsterdam 1724.
tantioribus Desumptus quæ in Dactyliothecis Ducis Marl- Valesio, Francesco/Gori, Antonio Francesco/Venuti, Ridol-
buriensis Conservantur. O. O. 1780–1783. fino: Museum Cortonense [...]. Rom 1750.
Caylus, Anne-Claude-Philippe de: Recueil d’antiquités, Venuti, Ridolfino: Collectanea antiquitatum romanarum [...]
égyptiennes, étrusques, grecques et romaines [...]. 7 Bde. exhibet Antonius Borioni. Rom 1736.
Paris 1752–1767. Vettori, Francesco: Dissertatio glyptographica sive gemmae
Chéron, Elisabeth-Sophie: Pierres gravées tirées des princi- duae vetustissimae [...]. Rom 1739.
paux cabinets de la France. Rom 1728. de Wilde, Jacob: Gemmae selectae antiquae e museo Jacobi
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insigniora vetustatis monumenta quae Florentiae sunt Klassizistische Gemmen und Kameen der Sammlung
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204 III Werke

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Kagan, Yulia: Gem Engraving in Britain from Antiquity to wurde und im Kabinett in Berlin ihren Platz fand.
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als Objekte bürgerlicher Sammellust. In: Cain, Hans-Ul- des 18. Jh., W. und Baron von Stosch (vgl. Hansson
rich/Lang, Jörn (Hg.): Edle Steine. Lehrreiche Schätze ei- 2014; Lang 2007). Der Baron war einer der einfluss-
ner Bürgerstadt. Ausstellungskat. Leipzig 2015, 20–31.
reichsten Antiquare seiner Zeit, und seine enzyklopä-
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gems in the royal coin cabinet, the hague. The greek, etru- disch angelegte Sammlung antiker Gemmen gehörte
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Sammler und die Gemmenkunde im 17. und 18. Jahrhun- aktiven gedanklichen Austausch. Im Juni diesen Jah-
dert. In: Nürnberger Blätter zur Archäologie 16 res hatte er dem Baron eine Kopie seiner Gedancken
(1999/2000), 65–90.
Platz-Horster, Gertrud: Erhabene Bilder. Die Kameen in der
über die Nachahmung der griechischen Wercke in der
Antikensammlung Berlin. Wiesbaden 2012. Mahlerey und Bildhauerkunst zukommen lassen (vgl.
Scarisbrick, Diana: Gem Connoisseurship. The 4th Earl of Br. I, 227). Nur einen Monat später berichtet er, dass
Carlisle’s correspondence with Francesco de Ficoroni and sich daraus eine rege Korrespondenz ergeben habe
Antonio Maria Zanetti. In: The Burlington Magazine 129 (vgl. Br. I, 232; 236).
(1987), H. 1007, 90–104.
Ob die beiden auch persönlich aufeinandertrafen,
Scarisbrick, Diana: The Beverley Collection of Gems at Aln-
wick Castle. London 2016. ist bisher nicht eindeutig zu rekonstruieren. Eine
Tassinari, Gabriella: Giovanni Pichler. Raccolta di impronte briefliche Bemerkung W.s (vgl. Br. I, 444) deutet da-
rauf hin, dass keine solche Begegnung stattfand (vgl.
22 »Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch« 205

SN VII,1, XII). Doch ist einem Bericht des Freiherrn geplant war, aber nicht verwirklicht wurde (Br. II, 28–
Karl Heinrich von Gleichen, der 1755 und 1756 im 30). Vorw. und Indizes wurden bei Pagliarini in Rom
Dienste der Markgräfin von Bayreuth in Rom weilte, gedruckt und nach Venedig gesendet, wo die gesamte
das Gegenteil zu entnehmen. Von Gleichen schrieb Description im April 1760 durch Bonducci in Quarto-
der Gräfin, dass er Stosch im Zuge eines Aufenthaltes format in den Druck gebracht wurde. Das fertige
in Rom getroffen und bei dieser Gelegenheit auch W. Werk erschien in zwei unterschiedlichen Ausgaben.
und Mengs kennengelernt habe (vgl. Noack 1928, 87; Die Standardversion wies keine einzige Illustration
Br. IV, 220). Da eine Verwechslung mit seinem Neffen auf, die Vorzugsausgabe enthielt dagegen einen Kup-
aufgrund der spezifischen Beschreibung Stoschs als ferstich mit Stoschs Porträt und elf weitere Stiche von
»berühmter Kenner« sowie Sammler und Gönner W.s Gemmen mit Künstlerinschriften aus der Sammlung
auszuschließen ist (vgl. Br. IV, 495), ist eine persönli- (vgl. SN VII,1, XX–XXIII; XXVII). Weitere Abbildun-
che Bekanntschaft der beiden Gelehrten zumindest in gen kamen erst nach Fertigstellung des Werkes hinzu
Erwägung zu ziehen (vgl. Zazoff 1983, 71). (Br. II, 21, s. u. Wirkungsgeschichte).
W.s Schilderung zufolge hatte Stosch den Wunsch
geäußert, dieser möge einen catalogue raisonné seiner
Zielsetzung
Sammlung erstellen (Br. I, 421). Doch sollte sich für W.
nicht die Gelegenheit ergeben, die Sammlung noch zu Bei einem Urteil über die Zielsetzung des Werkes sind
Lebzeiten des Barons zu sehen. Bevor er den wieder- nicht allein die äußeren Umstände seiner Entstehung,
holten Einladungen nach Florenz (u. a. Br. I, 239) fol- sondern v. a. auch die brieflichen Äußerungen zu be-
gen konnte, war Stosch im November 1757 verstorben. rücksichtigen. Sie lassen erkennen, dass W. anstelle
Als W. auf Bitten des Erben Muzell-Stosch Ende Au- des ursprünglich geplanten, listenartigen Katalogs der
gust 1758 nach Florenz kam, um die Arbeit aufzuneh- Objekte ein Werk erstellen wollte, in dem ein hinrei-
men, hatte dieser bereits begonnen, die Gemmen zu chender Raum für Reflexionen über die antike Kunst
klassifizieren (vgl. SN VII,1, XIV–XVI). Die intensiven vorhanden war (vgl. Br. I, 423). Seinem Verleger Georg
Arbeiten vor Ort dauerten knapp neun Monate (vgl. SN Conrad Walther berichtet er im September 1758: »Ich
VII,1, XIX–XXI). Ermöglicht wurden sie durch das habe in Florenz ein ander wichtiges Werk angefangen,
Einverständnis von W.s neuem Arbeitgeber, Kardinal nemlich eine Beschreibung der geschnittenen Steine
Albani (vgl. Noack 1928, 92; Br. IV, 123–126), dem das des Hrn. von Stosch, in Absicht der Alterthümer vor-
Werk schließlich gewidmet werden sollte. W. selbst be- nehmlich aber der Kunst [...]« (Br. I, 416). Muzell-
richtete über diese Zeit u. a. in seinen bereits 1759 ge- Stosch teilte er mit, der Katalog solle »zugleich zum
druckten Nachrichten von dem berühmten Stoßischen Register von allem, was schön in der Kunst ist, die-
Museo in Florenz (SN VII,1, 363–367). Im Mai 1759 nen« (Br. II, 14).
fuhr er nach Rom zurück und stellte seine Arbeit dort Sowohl brieflich als auch im Vorw. (SN VII,1, 7–20)
fertig. Er nutzte dazu Abdrücke in Siegellack und Ab- formuliert W. über den Katalog hinausgehende inhalt-
güsse in Schwefel. Die Bedeutung, die W. Abgüssen und liche Ansprüche. Als vier zentrale Aspekte hebt er My-
Abdrücken zumaß (vgl. Br. I, 416; 442; 445) führte zu thos, Geschichte, antiquitates und Kunst hervor (SN
der Annahme, er habe kaum mit den Originalen ge- VII,1, 8). Wenngleich Umfang und Qualität der
arbeitet, doch bemerkt er beispielsweise bei einigen Sammlung eigens betont werden, war ihre Klassifika-
Werken, dass sie von einem Skarabäus abgesägt worden tion kein Selbstzweck, sondern sollte explizit den An-
seien (vgl. Zazoff 1983, 81 Anm. 54). Dies hätte sich al- spruch erfüllen, die »Kenntnis der Kunst« (»la con-
lein auf Basis eines Abdrucks nicht erkennen lassen. noissance de l’ art«) zu erweitern. Diese bestehe aus
Im September 1759 wurde das heute verlorene Ma- stilistischen Differenzen verschiedener Nationen und
nuskript an den Verleger Andrea Bonducci (1715– Zeiten (»difference de la maniere tant des nations, qui
1766) übergeben. Während des gesamten Prozesses des siècles«) wie auch dem »Sinn für das Schöne«
der Vorbereitung und der Drucklegung wurde W. von (»sentiment du beau«), der sich insbesondere an den
Muzell-Stosch durch Zusendung von Abgüssen, die griechischen Werken ablesen lasse (SN VII,1, 10; vgl.
Anfertigung von Abschriften oder die Einarbeitung dazu Décultot 2012, 179–184).
von Korrekturen unterstützt, wie der intensive Brief- Auch wenn W. keine systematische Darstellung an-
wechsel zwischen Juni 1759 und März 1760 erkennen strebte, finden sich an verschiedenen Stellen des Wer-
lässt (Br. II, 3–90). Aus diesem Briefwechsel geht auch kes grundlegende Bemerkungen zur Einteilung anti-
hervor, dass eine Lebensbeschreibung des Sammlers ker Steinschneidekunst. So skizzierte er im »Préface«
206 III Werke

knapp ein Grundgerüst für die Ordnung des Materials. Gegenständen beschrieben (IV. L ’Histoire Ancienne,
Dieses basiert auf einer Klassifizierung in persische 351 Nrn.). Mit Hilfe Kardinal Albanis (vgl. Br. II, 11;
und ägyptische Steine, gefolgt von den griechischen, 68) konnten einige Benennungen von Köpfen vor-
den etruskischen und schließlich den römischen (vgl. genommen werden, die bis heute Gültigkeit beanspru-
SN VII,1, 10). Daran ist erkennbar, dass W. in seinen chen (vgl. Zazoff 1983, 100–102). Es folgten Spiele,
Ausführungen auf eine Trennung unterschiedlicher Feste und Symbole (V. Les Jeux, les Festins, les Vases &
Kulturräume wie auch eine chronologische Abfolge les Anneaux Symboliques, 251 Nrn.) sowie Gefäße
abzielt. So werden die persischen und ägyptischen und Schiffe (VI. Vaisseaux et Marine des Anciens, 86
Werke nicht nur als Produkte einer bestimmten Regi- Nrn.), zu denen der Franzose Joannon de Saint-Lau-
on angesehen, sondern zugl. als Anfangspunkte einer rent Teile beisteuerte (vgl. SN VII,1, XVI–XVII; Zazoff
Entwicklung betrachtet, die von den griechischen 1983, 80). Einige der Notizen über die Schiffe der
Werken aufgegriffen werden sollte (Pomian 2000, 36; sechsten Klasse könnten jedoch noch von Stosch
Eppiheimer 2015). Basis für die Zuordnung zu den selbst stammen, wie aus einem Brief an Paolo Maria
Gruppen ist der Stil (»manière«), wobei der Begriff der Paciaudi hervorgeht (vgl. Justi 1871, 28–29). Abge-
Schönheit (»beauté«) als grundlegendes Kriterium de- schlossen wurde die Description mit den Tieren (VII.
finiert wird, das eine chronologische Differenzierung Animeaux, Insectes, Oiseaux, Animeaux Chiméri-
zulässt und damit auch erlaubt, Antikes von Nachanti- ques, 253 Nrn.) und den Abraxas-Gemmen (VIII.
kem zu scheiden. Unter den im Katalog verzeichneten Abraxas, Gravures avec des Caractères Orientaux &
Stücken sollten schließlich keine nachantiken Intagli Gravures Modernes, 121 Nrn.), von denen das Gros in
zu finden sein (SN VII,1, 11). knapper Listenform präsentiert wird. Mit dieser Ein-
teilung zerfällt der Katalog inhaltlich grob in zwei Tei-
le. Die Klassen I–IV sind den Göttern und Heroen, die
Aufbau und Inhalt
Klassen V–VIII hingegen dem Bereich der Menschen,
Für das Grundgerüst der Description konnte W. auf Tiere und Gegenstände bzw. Varia gewidmet.
Vorarbeiten Stoschs zurückgreifen, der seine Samm- Der im Préface skizzierte Ansatz eines geogra-
lung bereits in verschiedene Klassen von Darstellun- phisch-chronologischen Gerüsts zur Klassifizierung
gen eingeteilt hatte (vgl. Strodtmann 1754, 49; Strodt- antiker Gemmen ist in dieser Systematik insofern prä-
mann 1757, 269). Diese Ordnung wurde nicht grund- sent, als in Klasse I die ägyptischen und damit nach W.
legend verändert, aber in gemeinschaftlicher Arbeit ältesten Werke versammelt waren. In der letzten Klasse
mit dem Erben verfeinert. »Die Eintheilung in Classen finden sich dagegen die als christlich verstandenen und
ist nicht die Beste, und scheinet in der That keine an- damit jüngsten Werke (vgl. Br. II, 6) und die modernen
dere als eine Ordnung nach so viel Kasten. Da sie aber Arbeiten. Die übrigen classes folgen dagegen einer rein
einmahl gemachet ist, so kann und will ich sie nicht ikonographischen Systematisierung, so dass sich im
ändern. Sie werden aber ohnmaßgeblich über beson- Aufbau insgesamt regional-chronologische und ikono-
dere Abschnitte der Claßen Sectiones machen müßen graphische Charakteristika mischen.
[...]«, schreibt W. im Juni 1759 an Muzell-Stosch (vgl. Grundelemente des Werkes sind die einzelnen Be-
Br. II, 7). Die Sektionen scheinen demnach auf W. schreibungen der Objekte selbst, die aus der Angabe
selbst zurückzugehen (ähnlich Br. II, 51), doch fand des Materials und der Nennung des Sujets bestehen,
ein reger Austausch über die endgültige Ordnung des gefolgt von einer knappen Beschreibung. Hinweise
Materials statt (z. B. Br. II, 14; 18; 35). zur Form und ausführliche Erläuterungen bilden da-
Das Ergebnis war eine Einteilung der Gemmen in gegen die Ausnahme. Für letztere beschränkt sich W.
acht Klassen (classes) mit je eigener Zählung. Sie sind auf die »wichtigsten, schwer zu erklärenden und
in eine verschieden große Anzahl an Untereinheiten schönsten alten Steine« (Br. I, 445), die er mit umfang-
(sections) gegliedert, die streng ikonographischen Kri- reicheren historischen und ästhetischen Kommenta-
terien folgen (Übersicht: Zazoff 1983, 78). Auf die ren versieht. Zu den besonders gewürdigten Werken
ägyptischen und persischen Steine (I. Pierres Egyp- gehören solche mit Inschriften wie der sog. Stosch’sche
tiennes, 139 Nrn.) folgen die beiden umfangreichen Stein, der eine Darstellung von fünf Heroen aus dem
Abteilungen, die Göttern und Heroen gewidmet sind Mythos der Sieben gegen Theben zeigt und später als
(II. La Mythologie Sacrée, 1879 Nrn., gegliedert in 17 Titelvignette der Geschichte der Kunst des Alterthums
sectiones; III. Mythologie historique, 364 Nrn.). Im dienen sollte. W. erkennt darin u. a. aufgrund der von
Anschluss daran werden die Steine mit historischen ihm als »pelasgisch« bezeichneten Inschrift »nicht nur
22 »Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch« 207

das älteste Denkmal der Kunst der Etrusker, sondern vertraten (vgl. Décultot 2012, 168), spricht dies gegen
auch der Kunst im Allgemeinen« (»[...] non seulement eine Übernahme umfassenderer Textpassagen aus der
le plus ancien monument de l’ art des Etrusques, mais Feder des Barons. Schließlich macht auch der einheit-
aussi de l’ art en général.« SN VII,1, 201). In seiner Be- liche, teils metaphorische Duktus mit der Verwen-
schreibung legt er zugl. eine Analyse von formalen dung von Denkfiguren und Sprachbildern, die W. spä-
Merkmalen der archaischen Kunst vor. Dabei kürt er ter immer wieder in seinen Beschreibungen aktivieren
einen von ihm ebenfalls als etruskisch erkannten Ska- sollte (vgl. dazu Décultot 2012, 167), seinen wesentli-
rabäus mit Darstellung des Tydeus zum »Denkmal der chen Anteil an der Erschließung der Sammlung von
höchsten Vollendung der Kunst der alten Etrusker« Stosch deutlich. Während der Beitrag einzelner Per-
und nimmt ihn als Ausgangspunkt für eine ausführ- sonen zum Textinhalt damit vergleichsweise zuverläs-
liche Reflexion über etruskische, griechische und spä- sig bestimmt werden kann, gilt dies nicht für das auf
tere Kunst (SN VII,1, 202–203). Auch in anderen um- Wunsch des Barons gewählte Französisch des Textes,
fänglicheren Texten kommt er nicht nur auf Inschrif- das letztlich keiner Person eindeutig zuzuweisen ist
ten, sondern auch auf die im Préface genannten Stile (vgl. SN VII,1, XVIII).
zurück (vgl. Zazoff 1983, 85 Taf. 22–25). Regelmäßig
betont er seine grundlegende Auffassung, dass in den
Bedeutung der »Description« für Winckelmanns
von ihm als griechisch identifizierten Gemmen die
Zugang zur Antike
künstlerisch hochwertigsten Werke der Gattung er-
halten seien (z. B. SN VII,1, 93 [II Nr. 731]; 197 [III Die Description war das erste umfassende Werk, mit
Nr. 122]; 147 [II Nr. 1518]). Nur in der Schönheit der dem Winckelmann an die gelehrte Öffentlichkeit des
griechischen Steine offenbare sich Vollkommenheit, 18. Jh. trat. Wenngleich es zunächst als konventionel-
mit den späteren Werken werden konsequent abwer- ler Sammlungskatalog konzipiert war, erlangte es eine
tende Epitheta verbunden (Zazoff 1983, 95–99). Schlüsselrolle in W.s Œuvre. Dies ist nicht allein auf
Neben ästhetischen Reflexionen geben einzelne die Prominenz der veröffentlichten Sammlung zu-
Einträge Verweise auf ältere Gemmenpublikationen rückzuführen. An der Description ist vielmehr zu ver-
(Zazoff 1983, 105–131) und nennen unveröffentlichte folgen, wie W. am Beispiel einzelner Gemmen Aus-
Beobachtungen und Benennungen Stoschs (z. B. SN sagen im Sinne eines übergeordneten Kunstverständ-
VII,1, 81 [II Nr. 534]; 121–122 [II Nr. 1142]; 212 [III nisses traf und die Objekte als Zeugnisse einer histori-
Nr. 226]). Wiederholt finden sich auch Verweise auf schen Abfolge verstand (vgl. Décultot 2012, 183). Er
einen alten Katalog der Sammlung (SN VII,1, 215–216 beanspruchte nicht, diesen Ansatz entwickelt zu ha-
[III Nr. 247]; 235 [IV Nr. 22]). Es wurde daher an- ben, sondern gestand vielmehr dem Comte de Caylus
genommen, dass nicht nur die Systematik, sondern zu, als erster den Stil antiker Kulturen untersucht zu
auch der Text der Description in weiten Teilen auf haben (Br. I, 394). In der Verwendung der Kategorie
Stosch selbst zurückgehe (so Justi 1872, 345). Da sich des Geschmacks als hermeneutischem Werkzeug ist
das Manuskript von Stoschs Katalog nicht erhalten hat die Description dem nur wenig früher entstandenen
(vgl. SN VII,1, XXVII), ist eine verlässliche Beurtei- Traité des pierres gravées von Pierre-Jean Mariette
lung des Verhältnisses zum gedruckten Text W.s kaum (1694–1774) eng verwandt. W. kannte dieses Werk
möglich. Doch auch wenn der Baron zu den heraus- und hatte umfassende Exzerpte angefertigt (vgl. Po-
ragenden Kennern antiker geschnittener Steine zählte, mian 2000, 23–26). Auch Mariette ging es nicht um
sollte sein Anteil am Text der Description nicht über- Darlegung von Wissen, sondern um eine Annäherung
schätzt werden. Wahrscheinlich beschränkten sich die an Kunst, an das Schöne und den Geschmack, so dass
Vorarbeiten des Barons auf ein knappes Verzeichnis in sich hinsichtlich der Grundmotive enge Übereinstim-
französischer Sprache, das zudem unvollständig war, mungen nachweisen lassen (vgl. Décultot 2012, 174).
weil neuere Erwerbungen nicht aufgenommen wor- W. gelang es, diesen Ansatz im deutschsprachigen
den waren (SN VII,1, XIII–XIV). Zudem weisen die Raum zu etablieren. Sein bewusster, praktisch vollst.
zahlreichen ästhetischen Beobachtungen (vgl. z. B. SN Verzicht auf Abbildungen (SN VII,1, 18) brachte zugl.
VII,1, 197 [III Nr. 122]) eine einheitliche Linie auf und mit sich, dass große Mühe auf textliche Beschreibun-
weichen deutlich von der Tradition antiquarischer gen verwendet wurde, die auch in den späteren Wer-
Gelehrsamkeit ab, die Stosch in seinen Gemmae Anti- ken W.s von entscheidender Bedeutung sein sollten.
quae Caelatae (1724) gepflegt hatte. Da Stosch und W. Aus diesem Grund in der Description einen unmittel-
in ästhetischer Hinsicht divergierende Auffassungen baren Vorläufer der Geschichte der Kunst des Alter-
208 III Werke

tums zu erkennen (so Zazoff 1983, 99), mag jedoch ein erkennen, dass der Kupferstecher Johann Adam
wenig zu weit gegriffen sein. Dazu steht die Schrift zu Schweickart (1722–1787) die Objekte der Description
sehr in der Tradition antiquarischer Gelehrsamkeit in Stichen herausgeben wollte (Br. II, 213). 1775 er-
mit ihrem Fokus auf der Sammlung, Ordnung und ge- schien das erste H. mit sechs Tafeln von Gemmen der
nauen Beschreibungen einzelner Werke. Zwar verlässt ersten Klasse, doch endete das Vorhaben damit bereits
W. die rein ordnende Ebene regelmäßig, um abwei- wieder. Schweickarts Nachlass nutzten der Verleger Jo-
chend von der antiquarischen Tradition über die Ent- hann Friedrich Frauenholz (1758–1822) und Friedrich
wicklung der Kunst, ästhetische Fragen und den Fort- Schlichtegroll (1765–1822) für einen erneuten Ver-
schritt antiken Kunstschaffens zu reflektieren (vgl. such. Schlichtegroll gab ab 1792 eine französische Fo-
Décultot 2012, 167), doch bleiben diese Reflexionen lio- und ab 1793 eine deutsche Quartausgabe mit der
an den Rahmen des Katalogschemas gebunden. In- Auswahl vorzüglicher Gemmen aus derjenigen Samm-
nerhalb dieses Schemas legt das Werk entscheidende lung, die ehemals der Baron Philipp von Stosch besaß
Aspekte von W.s Zugang zur Antike wie etwa die Kate- heraus, doch wurde die Produktion bereits mit der
gorie des Geschmacks als hermeneutischen Ansatz vierten Lieferung im Jahr 1798 eingestellt.
oder die Klassifizierung antiker Objekte anhand von 1805 griffen Frauenholz und Schlichtegroll das
Stilmerkmalen offen (vgl. Harloe 2013, 77–86). Werk erneut auf und strebten eine sechsbändige syste-
matische Dokumentation an. Der bereits erschienene
Band wurde rückwirkend als Band I der Dactyliotheca
Wirkungsgeschichte
Stoschiana oder Abbildung aller geschnittenen Steine,
Durch den erfolgreichen Verkauf der Sammlung die ehemals der Baron Philipp von Stosch besass, die sich
Stosch hatte die Description eines ihrer Hauptziele er- jetzt aber in dem Koen. Preußischen Museum befinden
reicht. Unter den Gelehrten des 18. Jh. wurde die Des- [...] mit Anmerkungen und Erläuterungen von Friedrich
cription dagegen mit Zurückhaltung aufgenommen. Schlichtegroll neu aufgelegt. Der zweite, in zwei Hefte
Während der Florentiner Giovanni Lami (1697–1770) unterteilte Band enthielt eine Übersetzung des Vor-
das Werk in den Novelle Letterarie von 1760 kritisch worts, Teile der Beschreibungen der ägyptischen und
besprach, würdigte es Mariette im Journal étranger, mythologischen Gemmen und 24 Tafeln mit Abbil-
fand dabei jedoch v. a. für den Sammler Stosch loben- dungen. Mit dem Erscheinen endete auch dieser Ver-
de Worte. Positiver war die Reaktion des Comte de such (vgl. SN VII,1, XXIV–XXVI; XXXVII–XXXIX;
Caylus (1692–1765) (vgl. Zazoff 1983, 76–77). Trotz Steiner 2005, 287–292 zu den Ausgaben). Erst im Mai
der kritischen Stimmen gab nicht zuletzt dieses Werk 1826 wurde die systematische Illustration der Descrip-
den zentralen Ausschlag für die Aufnahme W.s in die tion erfolgreich zum Abschluss gebracht. Zu dieser Zeit
Accademia Cortonense, die Accademia di San Luca in hatte der Berliner Modelleur Carl Gottlieb Reinhardt
Rom und die Society of Antiquaries in London. (1785–1850) alle Gemmen der Sammlung abgeformt,
Auch der kommerzielle Erfolg trat erst langsam ein, in einer Sammlung vereint und von Heinrich Eduard
wie W. brieflich beklagte (Br. II, 98). Vermutlich aus Bolzenthal mit einer deutschen Übersetzung des stark
diesem Grund erhielt er den erhaltenen Nachrichten gekürzten Textes versehen lassen (Dönike 2013, 59–
nach zu urteilen auch keine Bezahlung, sondern einzig 65). Erst diese Daktyliothek stellte die zuvor als man-
Freiexemplare (Br. II, 222; 235; III, 8). Innerhalb weni- gelhaft bewertete Benutzbarkeit der Description voll-
ger Jahre scheint das Kaufinteresse dann signifikant ge- ständig her. Die Möglichkeit, W.s Ordnung mit Abbil-
stiegen zu sein. So findet sich bereits für das Jahr 1764 dungen nachzuvollziehen, hatte Kritik an deren Ord-
die Bemerkung, dass das Werk in Italien nicht mehr nungssystem zur Folge (vgl. Graepler/Kockel 2006,
erhältlich sei (Br. III, 33). Eine anhaltende Nachfrage 174–177). Bis zu diesem Zeitpunkt war die Ordnung
nach der Description belegen auch die Nachdr., die im von W.s Katalog der Sammlung Stosch für die im 18. Jh.
späten 18. Jh. einsetzten. Sie machten nicht allein den verbreiteten Daktyliotheken jedoch wegweisend.
selten gewordenen Text zugänglich, sondern wollten
zugl. die Benutzbarkeit durch hinzugefügte Abbildun-
Bedeutung für die Gemmenforschung
gen verbessern und damit ein größeres Publikum er-
reichen. Der von W. bewusst gewählte Ansatz einer Be- Versucht man, den Stellenwert von W.s Description für
schreibung ohne Abbildungen wurde damit nahezu die Erforschung antiker Gemmen zu rekonstruieren,
unmittelbar nach der Erstpublikation bereits als über- ist zu erkennen, dass darin zwei grundlegende Tradi-
holt angesehen. Ein Briefwechsel des Jahres 1762 lässt tionen zusammengeführt wurden. Mit einigen der
22 »Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch« 209

einflussreichsten Gemmenwerke des 17. und 18. Jh. zelstücke äußerte (Décultot 2012, 179). Die Ordnung
hat die Description gemein, dass sie ihren Ausgangs- der Description konnte bis an die Wende zum 20. Jh.
punkt von der Erschließung einer konkreten Samm- Gültigkeit beanspruchen. Erst zu dieser Zeit sollte sie
lung von Objekten nahm. In der Intention, einzelne durch den konsequent chronologischen Ordnungs-
Sammlungen durch ihre Veröffentlichung aufzuwer- ansatz Adolf Furtwänglers abgelöst werden (Furt-
ten, unterscheidet sich das Werk nicht von Vorgän- wängler 1900, VII–IX). Die Einteilung in ikonogra-
gern wie Abraham Gorlaeus’ Dactyliotheca (1601), phisch hierarchisierte Kategorien wie Götter, Mythos,
Francesco Goris Museum Florentinum (1731/32) oder Menschen, Tiere, Sachen hat jedoch auch in moder-
dem Museum Odescalchum (1751/52; siehe dazu auch nen wissenschaftlichen Katalogen in Grundzügen
Glyptik im 18. Jahrhundert). Wie Goris Museum Flo- noch Bestand. Gegenüber W.s ästhetischer Betrach-
rentinum weist auch die Description eine Einteilung in tung der Gemmen hat sich damit v. a. die in der Des-
acht Darstellungsklassen auf, doch lässt Goris Klassifi- cription erhaltene antiquarische Ordnung als persis-
kation ganz die antiquarische Tradition erkennen. In tenter erwiesen.
dieser liegt der Fokus auf den Bildnissen, die noch vor
den Göttern die ersten drei Klassen einnehmen. In ih- Quellen
rer grundlegenden, noch auf Baron Stosch zurück- Strodtmann, Johann Christoph: Das neue gelehrte Europa,
gehenden Einteilung in mythologische und histori- Bd. 5 und 10. Wolfenbüttel 1754; 1757.
sche Darstellungen zeigt die Description dagegen eine
große Nähe zu Philipp Daniel Lipperts Dactyliotheca Forschung
Décultot, Élisabeth: Eine Geschichte der antiken Kunst im
Universalis, deren erste Auflagen 1753 bzw. 1755/56 Kleinen. Zu Johann Joachim Winckelmanns Description
erschienen waren (Graepler/Kockel 2006, 60–77; des Pierres Gravées du feu Baron de Stosch. In: Antike und
153–158). W. schuf diesbezüglich keine genuin neuen Abendland 58 (2012), 167–188.
Ordnungsprinzipien, sondern entwickelte bestehende Dönike, Martin: Altertumskundliches Wissen in Weimar.
Ordnungen weiter. Dadurch entstand mit der Descrip- Berlin 2013.
Eppiheimer, Melissa: Caylus, Winckelmann, and the art of
tion ein Werk, an dessen Muster sich spätere Kataloge
›Persian‹ gems. In: Journal of Art Historiography 13
orientierten (vgl. Hansson 2014, 29). (2015), 1–27.
Trotz der Einteilung nach Themen und traditionell Furtwängler, Adolf: Die antiken Gemmen. Geschichte der
antiquarischen Detailbeobachtungen an einzelnen Steinschneidekunst im Klassischen Altertum. Berlin 1900.
Werken (Zazoff 1983, 102–105) sah W. die Gemmen Graepler, Daniel/Kockel, Valentin: Daktyliotheken. Götter
nicht nur als Vermittler antiker Bildthemen an, son- und Caesaren aus der Schublade. München 2006.
Hansson, Ulf R.: »Ma passion ... ma folie dominante«.
dern betrachtete sie im Rahmen der einzelnen Objekt- Stosch, Winckelmann, and the Allure of the Engraved
beschreibungen auch als eigenständige Kunstwerke. Gems of the Ancients. In: MDCCC 1800/3 (2014), 13–33.
Damit führte er einen bereits in der Einl. der Gemmae Harloe, Katherine: Winckelmann and the Invention of Anti-
Antiquae Caelatae Stoschs angelegten und von Ma- quity. History and Aesthetics in the Age of Altertumswis-
riette vertretenen Ansatz fort (überzeugend Décultot senschaft. Oxford 2013.
Justi, Carl: Antiquarische Briefe des Baron Philipp von
2012, 171).
Stosch. Marburg 1871.
Auf dieser Basis gelang es W., einige Werke zu Justi, Carl: Philipp von Stosch und seine Zeit. In: Zeitschrift
Gruppen zusammenzuschließen, wobei er etwa bei für Bildende Kunst 7 (1872), 293–308.
den etruskischen Stücken v. a. die Form betrachtete. Kockel, Valentin/Graepler, Daniel (Hg.): Daktyliotheken.
Ebenso erkannte er klassizistische Werke als zusam- Götter und Helden aus der Schublade. München 2006.
mengehörige Gruppe (Zazoff 1983, 98), seine Ein- Lang, Jörn: Netzwerke von Gelehrten: Eine Skizze antiquari-
scher Interaktion am Beispiel des Philipp von Stosch
schätzung griechischer Gemmen ist dagegen kaum
(1691–1757). In: Broch, Jan/Rassiller, Markus/Scholl, Da-
von Bedeutung, da die weitaus meisten griechischen niel (Hg.): Netzwerke der Moderne. Erkundungen und
Gemmen erst nach Veröffentlichung seines Werkes Strategien. Würzburg 2007, 203–226.
bekannt wurden (Zazoff 1983, 92). Begünstigt durch Noack, Friedrich: Stosch, Albani und Winckelmann. Ur-
den Umfang der zu publizierenden Sammlung ist die kundliche Ergänzungen zu ihrer Geschichte. In: Belvedere
Description damit als erster Versuch einer systemati- 13 (1928), 41–48; 67–71; 87–93.
Pomian, Krzysztof: Mariette e Winckelmann. In: Revue Ger-
schen Darstellung des Feldes der Glyptik zu werten. In manique Internationale 13 (2000), 11–38.
ihr wurde die Tradition antiquarisch geprägter Gem- Steiner, Ulrike: Die Anfänge der Archäologie in Folio und
menkunde mit einem neuen ästhetisch geprägten An- Oktav. Fremdsprachige Antikenpublikationen und Reise-
satz kombiniert, der sich in den Beschreibung der Ein- berichte in deutschen Ausgaben. Ruhpolding 2005.
210 III Werke

Zazoff, Peter/Zazoff, Hilde: Gemmensammler und Gem-


menforscher. Von einer noblen Passion zur Wissenschaft.
23 »Anmerkungen über die Bau-
München 1983. kunst der Alten«
Zwierlein-Diehl, Erika: Antike Gemmen und ihr Nachleben.
Berlin 2007.
»Anmerkungen« versus »Geschichte«?
Jörn Lang
In der Prefazione zum 3. Band der Storia delle arti del
disegno presso gli antichi di Giovanni Winckelmann
(1784) ist der Herausgeber Carlo Fea in der Einleitung
zu den Anmerkungen über die Baukunst der Alten
peinlich darauf bedacht, diese Abhandlung an der
Stelle in W.s Gesamtwerk einzureihen, die ihr in der
Gesamtstruktur seiner Produktion entspreche, näm-
lich »als dritten Teil der Storia delle Arti del Disegno«.
Die Anmerkungen stellen danach die ideale Folge der
in der Geschichte der Kunst des Alterthums behandel-
ten bildenden Künste – allen voran der Skulptur – dar
und beschließen das ambitiöse Projekt, in dem W. die
Kunst der Antike erforschte (Winckelmann 1784, V–
VI; Fea 1831, 3).
In der Einführung zu den Anmerkungen über die
Baukunst (1762), die er für seine Leser schrieb, hatte
W. übrigens erklärt, dass die beiden Werke in zeitli-
cher Nähe zueinander entstanden seien, und damit im
Grunde schon vorweggenommen, dass er die Anmer-
kungen im Rahmen seiner Forschungsarbeiten für die
Geschichte der Kunst verfasste, deren Veröffentlichung
sich bis 1764 hinziehen sollte. Denn er beabsichtigte,
in der Geschichte die neuen Erkenntnisse zu verarbei-
ten, die er während der Arbeit am 1760 publizierten
Katalog der Stosch-Sammlung gewonnen hatte (Bau-
kunst, Vorbericht, [I–II]) .
Fea erkennt jedoch nicht nur, dass beide Werke aus
demselben breit angelegten Forschungsprojekt zur
antiken Kunst erwachsen, das W. nach seinem Ein-
treffen in Rom in Angriff nahm, sondern unter-
streicht auch ihre thematische Komplementarität. Er
bestätigt somit indirekt die These, wonach Die An-
merkungen über die Baukunst und Die Geschichte der
Kunst der gleichen theoretischen Quelle entsprungen
seien. Letztere ist das ausgereifte Ergebnis jener epis-
temologischen Revolution, die W. vollzog, als er die
Kategorie der Zeit auf die Untersuchung und die ta-
xonomische Klassifizierung künstlerischer Phäno-
mene anwandte.
Hinter dem neutralen und in gewisser Hinsicht va-
gen Titel Anmerkungen, der den Begriff »Geschichte«
vermissen und eine fragmentarische, unsystematische
Schrift erwarten lässt, verbirgt sich nach Auffassung
Feas in Wirklichkeit das fehlende Kapitel der Ge-
schichte, der Schlussakt eines umfassenden Projektes
zur Verzeitlichung des Kunstdiskurses, das außer

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_23, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
23 »Anmerkungen über die Baukunst der Alten« 211

Bildhauerei und Malerei auch die Architektur ein- Frage nach der Identität der Anmerkungen zu stellen:
schließen sollte. Wenn sie keine Geschichte der antiken Kunst sind,
Feas Interpretation erfuhr jedoch eine radikale Kri- wie kann man sie dann definieren, welcher Gattung
tik durch den Cortoneser Gelehrten Onofrio Boni, kann man sie zuordnen, unter welchem Begriff kön-
der zwei Jahre später, 1786, unter dem Pseudonym Ba- nen sie zusammengefasst werden?
jocco ein scharfzüngiges Pamphlet gegen Carlo Fea Die Antwort auf diese Frage betrifft die theoretische
veröffentlichte, das zum Ziel hatte, dessen wissen- Exegese von W.s Werk, besonders die Entstehung des
schaftliche Glaubwürdigkeit zu untergraben. Darin hermeneutischen Paradigmas der »Verzeitlichung«
wird eine völlig andere Lesart der Natur und der Be- (Koselleck 1979a, 19 u. passim; ders. 19792b, 655–656),
deutung der Anmerkungen vorgeschlagen: und verlangt darüber hinaus nach Überlegungen zu ei-
nem breiteren und allgemeineren Themenkomplex, in
»Kommen wir nun zu Eurem dritten Band. Wie könnt dem es genau um Architekturbeschreibungen als ein
Ihr ihn guten Gewissens [...] als Istoria delle Arti, und Feld geht, auf dem verschiedene Tendenzen und Dis-
insbesondere der Baukunst ausgeben? Wie habt Ihr nur kurstraditionen einander überlagern.
geglaubt, ihn den anderen beiden Bänden gleichstellen Der Text selbst gibt uns einen ersten Hinweis da-
zu können, die allein das klassische Werk Winckel- rauf, welchem Genre er angehört, und zwar an dem ei-
manns enthalten [...]? Winckelmanns Osservazioni gens dafür bestimmten Ort: dem überaus detaillierten
sull’ Architettura degli Antichi ist eine zweitrangige und streng gegliederten Inhaltsverzeichnis. Nach des-
Schrift von wenigen Seiten, in der sich der Autor mit al- sen auch nur oberflächlicher Musterung (Baukunst,
lem Möglichen beschäftigt, aber kaum mit der Kunst- Vorbericht, [XI–XII]) kann man unmittelbar ermes-
geschichte, die er nicht in zeitlicher Folge untersucht; sen, wie sich die Anmerkungen von der Geschichte und
stattdessen bietet er den Lesern nur einige Betrachtun- ihrer Diskursform grundsätzlich unterscheiden, in ih-
gen zu Bauwerken in Rom, zum essenziale dell’ Architet- rem Streben nach Systematik aber auch eine gewisse
tura und i suoi ornamenti in genere.« (Boni 1786, XIII) Verwandtschaft erkennen lassen.
Während in der Geschichte der Kunst das tragende
Der äußerst polemische Ton Onofrio Bonis, der sich Gerüst für das monumentale »Lehrgebäude« (GK1,
auf eine Querelle mit Carlo Fea eingelassen hatte, die, IX) die chronologische Ordnung ist, die die unzäh-
oft die Grenzen der wissenschaftlichen Diskussion ligen Zeugnisse der bildenden Künste, vor allem aber
überschreitend, in persönliche Beleidigungen aus- die Bildhauerwerke der antiken Kulturen, in die auf-
artete, darf nicht über das Gewicht seiner Argumenta- einander folgenden Stilphasen einreiht – wie es der
tion hinwegtäuschen. Seine Äußerungen treffen in der Aufgabe einer Geschichte entspricht –, zählt das In-
Tat einige objektive Merkmale der Anmerkungen, ein haltsverzeichnis der Anmerkungen, ohne Bezug auf
»zweitrangiges Werk von wenigen Seiten«, in dem der die Zeit zu nehmen, eine Reihe von Objekten auf –
Stoff nicht »in zeitlicher Folge« behandelt ist und des- Ziegel, Steine, Tempel, Säulen, Türen, Decken, Friese
sen postumer Erfolg nicht an den der Geschichte he- etc. –, deren einzig mögliches Bindeglied die statische
ranreichte. Beschaffenheit des architektonischen Werkes ist.
Für den modernen Leser wird es nicht schwer sein, Im Rahmen eines Systems, das keine Temporalität
diesen Beobachtungen zuzustimmen: Schon ein Blick kennt, vermengt W. die griechische und die römische
in das Inhaltsverzeichnis genügt, um zu begreifen, Bautradition zu einem homogenen und kompakten
dass man hier keineswegs eine Geschichte der Bau- Ganzen, das jede geschichtliche Entwicklung vermis-
kunst in Händen hält. Dieser Eindruck verfestigt sich sen lässt, und zergliedert minutiös den zeitlosen Kör-
beim Lesen des Textes, in dessen allgemeiner Argu- per der antiken Architektur. In Kapitel I, »Das We-
mentationsstruktur jedweder Bezug auf die Kategorie sentliche der Baukunst«, werden untersucht: die Ma-
der Zeit fehlt (vgl. Testa 2006; ders. 2009a); eine Kate- terialien (»A. Die Materie«) und die Bautechniken
gorie, die in der Geschichte zum ersten Mal in der mo- (»B. Die Art zu bauen«), die Grundrisse der Tempel
dernen abendländischen Kultur jene Gattungsform (»C. Die Form der Gebäude«; »a. Die Form, sonder-
begründet, die man als Geschichte der Kunst (vgl. lich der Tempel überhaupt«) und die architekto-
ders. 1999, 39–75) zu bezeichnen pflegt. nischen Ordnungen (»b. Gebäude auf Säulen«). Das
Die Auseinandersetzung zwischen Onofrio Boni Kapitel schließt mit »D. Die Theile der Gebäude«, wo
und Carlo Fea geht daher über die Grenzen einer Pole- W. eine detaillierte Analyse der einzelnen Bauelemen-
mik zwischen Gelehrten hinaus, um die grundlegende te liefert, und zwar für den Außenbereich (»Dach«,
212 III Werke

»Giebel«, »Thüre«) und für das Innere (»die Decke Exzerpte bereits vor dem Eintreffen W.s in Rom und
oder das Gewölbe«, »Treppen und Stufen«, »Zim- vor dem Projekt der Anmerkungen entstanden waren,
mer«). Im Kapitel II, »Die Zierlichkeit, und allgemein konnten sie doch als grundlegendes Archiv für die
von derselben«, wird die Gestaltung der Ornamente spätere Arbeit an dem Werk dienen (vgl. Testa 2009b).
erörtert, die die äußere (»A. von außen an Gebäu- Die Anmerkungen, deren Aufbau sich, wie gesagt,
den«) und innere Ansicht der Gebäude (»B. Innerhalb an einem traktatistischen Vorbild orientiert, nehmen
der Gebäude«) schmücken. die verschiedensten Intentionen – dokumentarischer,
Dieses Inhaltsverzeichnis spiegelt den ahistori- normativer und historisierender Natur – in sich auf,
schen, typologischen Aufbau des Diskurses wider, der verleihen ihnen Gewicht und Bedeutung und bringen
an die Tradition der Architekturtraktatistik anknüpft sie zur Entfaltung. Diese Intentionen rufen ihrerseits
und dessen dreiteiliges Gesamtschema auf Vitruvs ganz bestimmte Diskurstraditionen auf den Plan, in
Dreiersystem »firmitas«, »utilitas«, »venustas« zurück- einem komplizierten Spiel von Überlagerungen, in
geht, das in der Neuzeit durch Leon Battista Alberti dem man dennoch, wie in den Text eingekapselt,
wiederaufgenommen und kanonisiert wurde. Alberti Fragmente einer embryonalen Geschichte der Kunst
hatte sich von Vitruv dazu anregen lassen, De Re Aedi- erkennen kann, die, wenn auch nur vereinzelt, ans
ficatoria, verglichen mit Vitruvs Archetyp, in noch Licht kommen.
strengerer Systematik aufzubauen. Erheblichen strukturellen und inhaltlichen Anlei-
In den Anmerkungen fallen die ersten zwei Stücke hen des Werkes bei De Architectura und sporadischen
des Kapitels I, die sich mit der Analyse der Materialien Einsprengseln von überwiegend dokumentarischen
und den Bautechniken der Antiken befassen, unter Zitaten aus einigen modernen Autoren wie Alberti,
die Kategorie der Firmitas; der Utilitas wiederum wä- Palladio , Daviler und Fréart de Chambray zum Trotz
ren die Abschnitte C und D desselben Kapitels I zu- sind präskriptive und normative Elemente, typisch für
zuordnen, in denen die Form der Gebäude und ihre die Diskursform des Architekturtraktates, nur be-
verschiedenen Bestandteile untersucht werden. Das grenzt und in abgeschwächter Form nachzuweisen.
ganz der Ornamentik gewidmete Kapitel II kann der Dies gilt, obwohl W., wenn er in den Anmerkungen
Venustas zugeschlagen werden und würde so das ka- über die Baukunst der alten Tempel zu Girgenti (1759)
nonische Dreierschema abrunden, auch wenn die or- indirekt auf die bevorstehende Publikation der An-
namentale Intention, die in dem Terminus »Zierlich- merkungen anspielt, den Anspruch erhebt, der Archi-
keit« mitschwingt, eigentlich unvereinbar ist mit W.s tektur einen neuen Status zu verleihen: »Von den alten
Schönheitsbegriff (vgl. Testa 2006, 125, 140–150; ders. Werken der Baukunst in und um Rom ist ebenfalls
2009a, 316, 337–344; ders. 1999, 253–260; SN III,161– noch viel übrig zu sagen: Desgodez hat gemessen; ein
162, Anm. 22,8). anderer muß durch allgemeine Anmerkungen und
Diesem den Kategorien Vitruvs verpflichteten durch Regeln lehren« (Baukunst Girgenti, 11).
Textaufbau entspricht ganz und gar die Auswahl an Überraschend ist, dass in der Schrift jeder Bezug
Zitaten, die W. aus De Architectura schöpft. In den ers- auf zeitgenössische Abhandlungen und auf die inten-
ten beiden Abschnitten des Kapitels I stammen die Zi- sive theoretische Architekturdebatte fehlt, die die eu-
tate überwiegend aus Buch II, in Sektion C ausschließ- ropäische Kultur um die Jahrhundertmitte bewegte
lich aus den Büchern II und IV; die einzigen beiden (vgl. Testa 2006, 126–129; ders. 2009a, 317–319). Um-
Belege der Sektion D sind Buch VI entnommen. Im so aussagekräftiger ist das Schweigen zu diesen The-
Kapitel II, das sich mit der Ornamentik beschäftigt, men, wenn man den spezifischen Charakter der An-
sind Anleihen bei De Architectura hingegen selten merkungen über die Baukunst der Alten und die Trag-
(vgl. Testa 2003, 690–692; ders. 2006, 124–126; ders. weite begreifen will, die ihnen der Autor zuschreibt.
2009a, 316–317). Denn während W. sich darin entschieden von den
Die beachtliche Anzahl an Vitruv-Zitaten ist übri- Methoden der Antiquare und der Gelehrtentradition
gens dem mit den Jahren immer stärker werdenden entfernt, konzentriert sich die Architekturtheorie ge-
Interesse W.s an De Architectura geschuldet. Es ist in nau in jenen Jahren darauf, antike Archetypen aus-
der Tat das Werk, dem innerhalb eines begrenzten ho- zuwählen und zu kanonisieren. Sie benutzt das Nach-
mogenen Korpus an Exzerpten die größte Zahl an denken über Geschichte als Basis für die Definition
Textstellen entnommen ist: etwas mehr als 20 Blätter, zeitgenössischer Normen – angefangen bei Laugier bis
die im Band 62 des Pariser Nachlasses (Nachlass Paris, hin zum sogenannten »Griechenstreit« über den Ur-
Bd. 62, ff. 57–79v) enthalten sind. Auch wenn diese sprung der Baukunst, der sich um das theoretische
23 »Anmerkungen über die Baukunst der Alten« 213

Zentrum von Piranesis Ansichten entwickelt hatte sich prägend auf den gesamten Text auswirkt und ent-
(vgl. Miller 1986; Testa 1997, 355–359; ders. 1999, sprechende Diskurs- und Wissensformen mobilisiert.
183–195; ders. 2000, 327–335, mit Literatur; Kantor- Insofern sind auch gewisse Ähnlichkeiten mit anti-
Kazovsky 2006, 19–58, 193–235), gemäß einer ar- quarischen Traditionen zu beobachten – man denke
chäo-teleologischen Strategie (Derrida 1967), zu de- nur an die enorme Anhäufung von Begriffen ohne
ren bedeutendsten Vertretern W. mit seiner Geschichte Zeitbezug –, aus der W. unaufhörlich schöpft, an-
der Kunst zählt (vgl. Testa 1999, 150–158; 176–195 u. gefangen bei der Stosch-Sammlung bis hin zu den Mo-
passim). numenti antichi inediti (1767). Mit der Geschichte
Dazu sei jedoch bemerkt, dass W. im »Vorbericht« nimmt er von dieser Methode Abstand; dieses Werk
Wert darauf legt klarzustellen, dass sich sein Werk sollte die epistemologische Ordnung von W.s Denken
nicht nur an den engen Kreis von Experten und Ar- und damit auch die Art und Weise revolutionieren, in
chitekturkennern wende, sondern vielmehr an ein der sich die moderne Kultur mit antiker Kunst aus-
Publikum, das »die Alterthümer aufmerksam unter- einandersetzt: Die Kunst wird erstmals systematisch
suchet« und das für ihn genauso kompetent sei »als verzeitlicht und als Geschichte präsentiert.
ein Baumeister« und ihren Wert und ihre Bedeutung Die Anmerkungen über die Baukunst bleiben dies-
in vollem Umfang begreifen kann (Baukunst, Vor- seits der von der Geschichte markierten entscheiden-
bericht, [II]) . den Bruchlinie angesiedelt und sind, wie angedeutet,
Die pädagogische Intention, die sich in W.s Theorie noch eher dem kulturellen Modell der antiquarischen
bereits seit den Gedanken über die Nachahmung ab- Tradition verbunden, zu der auch das klassifikatori-
zeichnet und die in der komplizierten Überlagerung sche Übungsstück der Description des pierres gravées
von Geschichte und Ästhetik deutlich wird, welche du feu baron de Stosch gehört.
den authentischen, wenn auch theoretisch von tief- Obwohl die Anmerkungen und die Description zwei
greifenden Aporien belasteten Gründungskern der grundsätzlich verschiedenen Gattungen angehören,
Geschichte der Kunst (vgl. Testa 1999) ausmacht, ist zeugen sie doch von derselben Geisteshaltung und
hier ebenfalls präsent, auch wenn sie nur an einzelnen Kompositionsstrategie, die auf einen »Collage«-Text
Stellen zum Ausdruck kommt. Mit einem deutlich (Décultot 2000, 43) zielt: ein minutiös zusammen-
wahrnehmbaren Registerwechsel im Argumentati- gestelltes intertextuelles Gefüge, das einer traditionel-
onsduktus dominiert sie im Kapitel II, »Die Zierlich- len »Schreibmethode« (»méthodologie de l’écriture«,
keit«, dessen gelehrte Ausführungen zu diesem The- ebd., 46) verpflichtet ist und, so weiter Élisabeth Décul-
ma von einem militanten Anfang und Ende ein- tot, einer »ostentativ zusammengesetzten Einrich-
gerahmt werden, wo die »Einfalt« leidenschaftlich tung« (»économie ostensiblement composite«; ebd.,
zum höchsten ästhetischen Prinzip erklärt wird. An- 42) folgt. Letztere erwächst aus der Gelehrtenmethode
gesichts der späteren Entwicklung von W.s Gedanken- des Exzerpierens, die W. schon seit seiner Jugend mit
gebäude nimmt es nicht wunder, dass in diesem Text- Hingabe pflegte, und dieser Gewohnheit ist eine be-
abschnitt neben präskriptiven Absichten auch das deutende, in Heften verzeichnete Sammlung von Aus-
Vorhaben bekundet wird, dem behandelten Material zügen zu verdanken, die sein gesamtes Wirken wie eine
ein zeitliches Gerüst zu geben, womit W. die Basis für persönliche Bibliothek oder ein Privatarchiv begleiten.
eine Geschichte der Ornamentik schafft. Den Argumentationsmustern der antiquarischen
Das Bestreben, Daten und Phänomene mit Bezug Gelehrtentradition folgend, verfährt W. in den An-
auf die Temporalität zu deuten und zu organisieren, ist merkungen akkumulierend, indem er um bestimmte
in den Anmerkungen freilich nur selten zu bemerken, Themenkerne literarische sowie bildliche Quellen und
z. B. in einem kurzen Abschnitt des Kapitels zur Dori- durch Autopsie erworbene Erinnerungen zusammen-
schen Ordnung, das als regelrechtes Fragment einer trägt, in der Absicht, eine gewisse Anzahl von Begrif-
Architekturgeschichte gelten kann und auf das wir am fen zu dokumentieren und dem Leser vorzustellen,
Ende noch zu sprechen kommen. Hier wird die Kate- die sich auf einzelne Aspekte der antiken Baukunst be-
gorie der Temporalität in einer noch strengeren und ziehen – und zwar in der Form von Anmerkungen, die
ausdrücklicheren Form angewandt, gemäß den her- oft in einem rhapsodischen Rhythmus aneinander-
meneutischen Prinzipien, die auch in der Geschichte gereiht werden. Dass dies der Sinn und Zweck des
der Kunst systematische Anwendung finden sollten. Werkes ist und dass hier nicht Prozesse geschicht-
Bezeichnend für die Anmerkungen ist jedenfalls das licher Entstehung und Entwicklung der antiken Ar-
offenkundige Bedürfnis nach Dokumentation, das chitektur hinterfragt werden sollen, erklärt W. aus-
214 III Werke

drücklich zu Beginn des Absatzes, der den Säulenord- mit verschiedenen materiellen Zeugnissen der grie-
nungen gewidmet ist. chisch-römischen Baukultur, die er entweder aus ei-
gener Anschauung oder häufiger über die Vermittlung
»Ich will mich hier nicht in Untersuchung des Ur- ikonographischer Quellen kennt (vgl. Testa, 2009a,
sprungs und der Gründe von den verschiedenen Glie- 325–337). Bei Werken, die er persönlich in Augen-
dern der Säulen einlassen, sondern wie überhaupt, al- schein nehmen konnte, ergeht er sich manchmal in
so auch hier, einige Anmerkungen über die verschiede- ekphrastischen Ausschweifungen, doch meist be-
nen Ordnungen derselben mittheilen.« (Baukunst, 22) schränkt er sich auf knappe Beschreibungen.
Das bildliche Quellenmaterial kann die Analyse ei-
Er wird aber schon wenig später eine Ausnahme von nes vom Autor persönlich besichtigten Denkmals un-
diesem allgemeinen Schreibprinzip bzw. dieser termauern und in einem Werk wie den Anmerkungen,
Schreibgewohnheit machen, und zwar in dem Ab- das trotz der Art der behandelten Themen ohne Tafeln
schnitt über die Dorische Ordnung, in einer Passage und Abbildungen veröffentlicht wurde, als eine Art in-
von außergewöhnlicher epistemologischer Bedeu- tertextueller Verweis auf einen virtuellen Bildapparat
tung, auf die wir noch zurückkommen werden. Doch fungieren.
zunächst wollen wir überlegen, welche Auswirkungen An anderen Stellen übernehmen die von W. zitier-
die Dominanz des Dokumentarischen und die Ver- ten Bilder dagegen die Funktion von Primärquellen;
wendung von Argumentationsmustern der antiquari- es sind Bilder von Bauten, die er nicht aus eigener An-
schen Tradition auf den Text haben. schauung kennt und die er auf diese Weise studiert,
z. B. im Fall der gesamten griechischen, nahöstlichen
und ägyptischen Architektur, die ihm vor allem aus
Eine gelehrte Collage
den Stichen von Le Roy (Le Roy 1758), Pococke (Po-
Bei der detaillierten Zerlegung des Körpers der anti- cocke 1743–1745) und Wood (Wood 1753; ders. 1757)
ken Baukunst, die W. in dem Werk systematisch vor- sowie aus Renaissance-Zeichnungen bekannt ist.
nimmt, ist ihm wohl besonders daran gelegen, für je- Manchmal handelt es sich aber auch um Bilder von
des einzelne Thema ein möglichst vollständiges und Monumenten, die nirgendwo anders bezeugt sind
überzeugendes Korpus von dokumentarischen Zeug- oder am ehesten mittels einer Reproduktion unter-
nissen zusammenzutragen. sucht werden können, die ihren früheren und bes-
Zu diesem Zweck führt er, der Verfahrensweise der seren Erhaltungszustand bezeugt.
antiquarischen Gelehrsamkeit folgend, eine breite Eine wichtige und viel benutzte Kategorie inner-
Auswahl von antiken literarischen Texten ins Feld, die halb dieser Quellenart stellen die antiken Bilddoku-
von den kanonischen auctoritates Vitruv und Plinius mente von Denkmälern, Gebäuden oder architekto-
dem Älteren – mit Pausanias die am häufigsten zitier- nischen Details dar, die der Toreutik, der Malerei, der
ten Quellen –, über den Geographen Strabon, His- Bildhauerei, der Glyptik oder der Numismatik ange-
toriographen wie Appian, Diodor von Sizilien, Hero- hören (vgl. Testa 2010; ders. 2012).
dot, Livius – auch er wird oft herangezogen – und Po- Nur ein einziges Mal kommt W. auf einen metalle-
lybios bis hin zu den Scriptores Historiae Augustae, Ta- nen Gegenstand zu sprechen: Es handelt sich dabei
citus und Gelehrten wie Athenaios aus Naukratis und um eine Opferschale, in die Meleager zwischen Castor
Aulus Gellius reicht. Nicht ausgeschlossen bleiben und Pollux sitzend graviert ist und die in Dempsters
Dichter wie Euripides, Pindar, Plautus und Terenz De Etruria Regali (Dempster, I. 1723, Abb. VII) ver-
und Philosophen wie Aristoteles, deren Werken W. öffentlicht wurde. Er zitiert sie, um die Form der von
Belege zu Monumentalbauten oder zu einzelnen Ge- Vitruv beschriebenen antiken etruskischen Ordnung
bäuden bzw. Daten und allgemeine Informationen plastischer schildern zu können (Baukunst, 22) .
entnimmt – bisweilen auch Kleinigkeiten, die er zwi- Weitaus wichtiger ist der Beitrag der antiken Mal-
schen den Zeilen der untersuchten Texte entdeckt –, kunst, insbesondere die zahlreichen Wandmalereien,
die die formale und bauliche Tradition der antiken Ar- die kurz zuvor in Herkulaneum ausgegraben worden
chitektur betreffen (vgl. Testa 2003; ders. 2006, 130– waren, Mosaiken und spätantike Miniaturen. Sie bie-
139; ders. 2009a, 321–337; ders. 2009b). ten W. ein breites Spektrum an Architekturabbildun-
Neben einer großen Menge von schriftlichen Quel- gen, an denen er seinen analytischen Blick schulen
len bedient sich W. in seinem Projekt zur antiken Ar- und auf denen er nach oft nur punktgroßen Einzelhei-
chitektur auch genauer und ausführlicher Vergleiche ten suchen kann. Zusammen mit anderen schriftli-
23 »Anmerkungen über die Baukunst der Alten« 215

chen oder materiellen Belegen sind sie ihm dabei be- der Alterthümer«, die eine Untersuchung der Werke
hilflich, die Kenntnis der antiken Architektur zu ver- selbst durch das Studium gestochener Reproduktio-
tiefen, zumal, wenn er Details erörtert, zu denen es nen zu ersetzen pflegen und daher die Authentizität
keine direkten archäologischen Informationen gibt. des Originals nicht überprüfen können.
In den ersten drei Stücken des Kapitels I führt W. als Grundlegend für die Anmerkungen ist schließlich
antike Bildquelle lediglich das Nilmosaik von Palest- die umfangreiche Sammlung von Bildquellen aus der
rina an, als Beleg dafür, dass jede einzelne Säule mit Numismatik und Glyptik, die W. während der Arbeit
einem eigenen Sockel ausgestattet war (ebd., 33) . Im am Katalog der Stosch-Sammlung eingehend studie-
Abschnitt über »Die Theile der Gebäude« verweist er ren konnte. Hinweise auf diese Quellengattung lassen
dagegen des öfteren auf Malereien, im Allgemeinen sich, wenn auch nicht gleichmäßig verteilt, im gesam-
auf antikes Bildmaterial, um die Lücken der Archäolo- ten Text nachweisen. Die vielen kleinteiligen Beiträge
gie im Hinblick auf Bauteile wie Dächer, Türen und aus Glyptik und Münzkunde fügen sich zu einem Mo-
Fenster, die in besonderem Maße der Witterung aus- saik aus literarischen, archäologischen und bildlichen
gesetzt sind, zu füllen. Dokumenten zusammen, mit dessen Hilfe W. sein
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Forschungsprojekt zu den Formen der antiken Archi-
spätantiken Miniaturen des Vergilius Vaticanus (Vati- tektur weiterentwickelt.
kan, BAV, Cod. Vat. Lat. 3225), die durch Stiche von Man achte besonders darauf, wie W. im Kapitel II,
Pietro Sante Bartoli (Bartoli 1677) bekannt wurden, »Die Zierlichkeit und allgemein von derselben«, im-
und vor allem die reichhaltigen Kupferstiche aus dem mer häufiger Belege aus Glyptik und Numismatik an-
ersten Band der prachtvollen Pitture antiche d’Ercola- führt, darunter sogar Stücke, die nicht zur Stosch-
no (Bd. I, Napoli 1757). Sammlung zählen. Da die Zierelemente in besonde-
Ebenfalls im Abschnitt D über »Die Theile der Ge- rem Maße dem Verfall ausgesetzt sind, sieht er sich ge-
bäude« findet sich im Übrigen die höchste Konzentra- zwungen, Bildmaterial zu verwenden, um Angaben
tion von Verweisen auf skulpturales Material, beson- literarischer Quellen zu untermauern, die nicht ar-
ders auf Basreliefs. Solche kommen zwar auch an an- chäologisch gestützt werden können. Einige Passagen
deren Textstellen zur Sprache, werden aber hier mehr der Anmerkungen sind direkt aus der Description des
als anderswo folgerichtig und systematisch zur Ver- pierres gravées du feu Baron de Stosch übernommen.
anschaulichung derselben Themen herangezogen, die Dabei werden ganze zusammenhängende Blöcke, die
mangels archäologischer Befunde auch den häufigen W. dort zusammengestellt hatte, in einen neuen Kon-
Rückgriff auf analoge antike Malereien erforderlich text überführt (vgl. Testa 2012).
machen. Ohne grundsätzliche Unterscheidungen zu Mit antiken Bildquellen verfährt W. ganz ähnlich
treffen, kombiniert W. diese malerischen und bild- wie mit schriftlichen Quellen, und in seinem Werk
hauerischen Zeugnisse mit anderen Bilddokumenten, verweben sich beide zu einer einzigen Argumentati-
archäologischen und literarischen Quellen. Er folgt ei- onsstruktur: ein punktuelles und trotz der soliden sys-
ner Schreibstrategie, bei der er heterogenes fragmen- tematischen Grundlage diskontinuierliches Verfah-
tarisches Material in der Regel ohne vorherige kriti- ren, das ihn in die Lage versetzt, mit gewaltigen Bild-
sche Überprüfung verbindet (vgl. Testa 2010). archiven umzugehen, sich darin gewandt zu bewegen
Hinsichtlich der bildhauerischen Quellen macht W. und minimale, bisweilen auch beiläufige Details ana-
jedoch methodologisch eine wichtige Ausnahme von lytisch zu erfassen, und zwar mit einem Blick, der
solchen Schreibgewohnheiten. W., der die Schlagkraft wohl der Geisteshaltung entspringt, die er sich beim
und das Novum seiner Forschungen zur antiken Bild- Exzerpieren aus literarischen Werken angeeignet hat-
hauerkunst und seinen Ruf als Autorität auf diesem te (vgl. Décultot 2000). Aus dieser Gelehrtentradition
Gebiet auf die autoptische Untersuchung der Werke ergibt sich eine Schreibstrategie, die raffinierte, errati-
stützt, formuliert im Abschnitt über »Die Form der sche und teilweise unübersichtliche intertextuelle
Gebäude« die Prinzipien einer innovativen Kritik der Kompilationen mit zahlreichen Abschweifungen er-
ikonographischen Quellen. Unabdingbare Vorausset- zeugt – Abhandlungen, in denen Text- oder Bildfrag-
zung ist für ihn, dass die Authentizität des Materials mente Platz und Sinn finden können, die ihrerseits
kontrolliert wird, um seine Echtheit beurteilen und Exzerpte sind, Textfetzen, die durch eine gewissenhaf-
daraus Schlussfolgerungen für die Kenntnis der anti- te analytische Zergliederung aus ihrem ursprüng-
ken Baukunst ziehen zu können (Baukunst, 34–35). lichen Kontext gerissen und archiviert werden, um, in
W. gerät damit in einen Gegensatz zu den »Liebhabern Verbindung mit anderen bildlichen und verbalen
216 III Werke

»disjecta membra«, im argumentativen Gerüst eines Obwohl W. freilich an der Autonomie des geschrie-
neuen Textes eine »Collage« (ebd., 43) zu bilden. benen Wortes gegenüber dem Bild festhält, wird er
sich an anderer Stelle, z. B. bei der Beschreibung der
Räumlichkeiten, doch der Grenzen dieser Methode
Wort und Bild
bewusst und erklärt, er könne seine Argumente ohne
Den antiken literarischen Quellen entnimmt W. in der Hilfe von Abbildungen nicht hinreichend entfalten
Regel nur »Nachrichten« ohne ausführliche ekphrasti- (ebd., 47).
sche Schilderungen. Zur Veranschaulichung von Ge- Die Entscheidung, seine Betrachtungen auf einige
bäuden und architektonischen Details werden also Kunstdenkmäler zu beschränken, die W. aus eigener
Quellen herangezogen, die zwar deren Existenz be- Anschauung kennt und daher unmittelbarer und wir-
zeugen und allgemeine Charakteristika erkennen las- kungsvoller zu veranschaulichen weiß, kann ihn, wie
sen, bestenfalls aber spärliche Beschreibungen liefern. er selbst zugibt, freilich nicht vor der Unklarheit des
Hin und wieder werden jedoch Inhalte visualisiert. Wortes bewahren, weshalb er sich in einem einzigen
Das zeigt sich besonders deutlich dort, wo W. gelehr- Fall doch dazu entschließt, Bildmaterial zu verwen-
ten Zitaten den Hinweis auf Werke zur Seite stellt, die den: Eine nicht gerade elegante, aber doch funktionale
er persönlich in Augenschein hatte nehmen können typographische Lösung wählend, fügt er einen skiz-
und die er so schildert, dass der Leser sich eine plas- zenhaften Lageplan in den Text ein, der die besondere
tische Vorstellung davon machen kann. Form eines kleinen Raumes im Casino einer Villa in
Diese ekphrastische Intention zeigt sich besonders Tusculum erklären soll. Dieser Raum wird also nicht
deutlich im Vorbericht des Werks, einem in vielerlei mit Worten beschrieben, sondern dem Leser mit ei-
Hinsicht eigenständigen Text, der sich von der folgen- nem Zeigegestus vor Augen geführt, der die Grenzen
den Abhandlung methodisch und argumentativ un- des verbalen Codes überschreitet und das Bild für sich
terscheidet. Im Vorbericht resümiert W. den Kennt- sprechen lässt (ebd., 48) .
nisstand auf dem Gebiet der antiken Baukunst, den In den Anmerkungen, die ohne Bildmaterial ver-
die Forschung nach den jüngsten Errungenschaften öffentlicht wurden, findet W. für das Verhältnis von
der Archäologie erreicht hatte; er erinnert an die Un- Wort und Bild unterschiedliche Lösungen. Bei ver-
ternehmungen von Le Roy, Stuart, Revett, Dawkin schiedenen Gelegenheiten zeichnet sich in der Ab-
und Wood in Griechenland wie auch im Nahen Osten, handlung, offenbar in der Absicht, die Argumentation
um sich dann vor allem bei den großen Kunstdenk- klarer und kommunikativ wirksamer zu gestalten, ei-
mälern der Magna Graecia in Süditalien aufzuhalten, ne Tendenz zur Visualisierung der Untersuchungs-
die ihn zu einem langen Exkurs anregen. gegenstände ab. Neben Zitaten und Schilderungen aus
In diesem Zusammenhang beschreibt er die Anlage literarischen Quellen fließen auch direkte oder durch
von Paestum mit einer Ausführlichkeit, analytischen Reproduktionen vermittelte Erkenntnisse zu be-
Präzision und so außergewöhnlichen persönlichen stimmten Werken ein, so dass bemerkenswerte inter-
Anteilnahme, dass diese Schilderung es geradezu mit textuelle Passagen entstehen.
seinen berühmten und erlesenen Kunstbeschreibun- Eine derartige Schreibstrategie appelliert bei jedem
gen aufnehmen kann, die er bekanntlich 1759 den Durchlaufen des Werks neu an den Wissenshinter-
meisterlichen Schöpfungen der antiken Bildhauer- grund und das visuelle Gedächtnis des Lesers. Ein un-
kunst, dem Apollo von Belvedere und dem Torso von eingeschränkter Zugang zum Text setzt voraus, dass
Belvedere, widmete. der Leser die antiquarischen und archäologischen
Dieses Exerzitium architektonischer Ekphrasis Kenntnisse teilt, die der Verfasser besitzt, und die
führt zu Überlegungen über das Verhältnis von Bild mentalen Reisebewegungen nachvollziehen kann, mit
und Wort und bringt den Autor dazu, dem Wort ei- deren Hilfe W., souverän im Meer seiner Lektüren und
genständige Geltung zuzubilligen – »Dieses ist die ers- visuellen Erfahrungen kreuzend, die Grundzüge der
te ausführliche Nachricht von den Alterthümern der antiken Baukunst entwirft.
Stadt Pesto, so viel ohne Kupfer deutlich anzugeben Beim Orchestrieren dieser komplexen Partitur
ist« (Baukunst, Vorbericht, [VII]) – , eine Geltung, die stößt W. immer wieder darauf, dass die Ekphrasis
dem evokativen Potenzial und der ikonischen Wir- nicht ausreicht, um die Einbildungskraft des Lesers zu
kung der Sprache zu verdanken ist, welche daher mit beflügeln und ihm ein volles Verständnis des bespro-
voller Berechtigung die fehlenden Kupferstiche er- chenen Werkes zu ermöglichen. Daher wendet er pa-
setzt. ravisuelle Strategien an, die die Schranken und Res-
23 »Anmerkungen über die Baukunst der Alten« 217

triktionen einer verbalen Beschreibung hinter sich schen Strategie, das subversive Potenzial des Or-
lassen wollen und nach ikonographischer Unterstüt- naments zu neutralisieren. Laut W. hat die Form dem
zung der Argumentation rufen. Das Fehlen eines sol- Prinzip der Einfalt zu gehorchen und in ihrer eigent-
chen Beleges gleicht er gewissermaßen durch eine in- lichen Erscheinung völlig schlicht und schmucklos
tertextuelle Konstruktion aus, die die Grenzen des zu sein.
Textes überwindet und den Leser auf andere Werke Aus diesem Grund konzipiert W. das Kapitel II vor
verweist, die einschlägige Bilder enthalten: eine Art der Folie einer regressiven Geschichtsphilosophie, die
ideale Referenzbibliothek, in der der Bildapparat stell- den Entwicklungsprozess der Ornamentik verzeit-
vertretend nach außen verlagert ist. licht. Vom Beginn des Kapitels an beschreibt er sie als
gefährliche pathologische Veränderung, die im Laufe
der Zeit die ursprüngliche schmucklose Reinheit ver-
»Die Zierlichkeit«: Ein Übel, das es zu beseitigen
dirbt: »Auf das Wesentliche in der Baukunst ist die
gilt.
Zierlichkeit derselben gefolget« (Baukunst, 50).
Die Kombination von literarischen Zitaten, ikonogra- In W.s Ästhetik versteht sich das Ornament als ver-
phischen Quellen und kurzen beschreibenden Exkur- werfliches Emblem eines zyklisch wiederkehrenden
sen erweist sich als ein Kompositionsmuster, das W. barocken Ideals, das die klassische Formvollendung
systematisch verwendet, um der dokumentarisch-de- korrumpiert, um die niedrigsten Stufen subjektiver
skriptiven Absicht der Anmerkungen über die Bau- Sinneswahrnehmung anzusprechen. Indem sich das
kunst zu entsprechen. Ornament über die Form legt, löscht es sie buchstäb-
Wie schon angedeutet, sind die Argumentationen lich aus: In der Absicht, sie zu bereichern, zerstört es
im Kapitel II, »Die Zierlichkeit«, von zwei Sektionen sie. In der Architektur stellt das Ornament für das Ge-
eingerahmt, in denen sich W. unterschiedlicher Regis- bäude das dar, was in der Bildhauerkunst der Falten-
ter bedient. Hier kann der Autor seinen pädagogisch- wurf für die Skulptur ist (vgl. Testa 1999, 245–260),
präskriptiven Intentionen und seinen theoretischen ein Parergon. Um mit Kant zu sprechen: »dasjenige,
Betrachtungen zur Schönheit, dem Grundstein seiner was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstandes
architektonischen Ästhetik, freien Lauf lassen; in an- als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als
deren Werken hatte er sie mit Blick auf die dokumen- Zutat gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks
tarische Neutralität zurückgenommen. vergrößert«. Ornamente gesellen sich zum Wesentli-
Eingeleitet wird das Kapitel durch eine knappe chen, um es zu verschönern und den Sinnen wahr-
Darlegung der ästhetischen Prinzipien, die den Ge- nehmbar zu machen – »bestimmter und vollständiger
brauch der Ornamentik regeln, um mit einer Schmäh- anschaulich [zu] machen, und überdem durch ihren
rede gegen die moderne Architekturtradition und Mi- Reiz die Vorstellung [zu] beleben, indem sie die Auf-
chelangelo zu schließen, den W. für deren Urheber merksamkeit auf den Gegenstand selbst erwecken
hielt. Diese Kritik steht im Zeichen der »simplicitas«, und erhalten« –, ohne »einen gleichartigen Zusatz zu
der »Einfalt«, die sich beispielhaft in den Werken anti- dem Wohlgefallen an der Form ab[zu]geben«; doch
ker Künstler äußert. auf diese Weise trüben sie die Umrisse – »die Zeich-
Wie um die Komplexität des Kapitels noch zu stei- nung [...] den eigentlichen Gegenstand des reinen Ge-
gern, gesellt sich zu den präskriptiven Akzenten der schmacksurteils« (Kant 1977, 140–141) – und ver-
knapp skizzierten Ästhetiktheorie noch der Faktor unstalten letzteren, indem sie »der echten Schönheit
»Geschichte«, und zwar in Form der Verzeitlichung. Abbruch« tun (ebd., 141; vgl. Derrida 1978, 19–94).
Diese kommt in den Ausführungen zur Ornamentik In W.s Betrachtungen zum Ornament spiegelt sich
zum Tragen – als Embryo einer Geschichte der mo- eine grundsätzliche Ambivalenz wider; denn das Or-
dernen Architektur, die nach bewährter Strategie W.s nament ist einer Gesetzmäßigkeit unterworfen, die
(vgl. Testa 1999, 77–123) vor dem Hintergrund der Derrida als wesentlich für das Parergon erachtet (Der-
Behandlung der antiken Baukunst gleichsam im Ge- rida 1978, 74 u. passim). Ihr zufolge ist es für die Wahr-
genlicht erscheint. nehmbarkeit der Form notwendig, während es zu-
Die beiden neuen Aspekte sind, wie so oft im Ge- gleich als deren Verfallserscheinung verworfen wird.
dankengebäude W.s, eng miteinander verzahnt: Der Die Spaltung des Parergon, die Derrida als Ausweg aus
Rückgriff auf die Kategorie der Zeit, der dazu be- dieser Aporie aufzeigt und die er als Spaltung zwischen
stimmt ist, Ordnung in die Ornamentik der antiken zwei antithetischen Polaritäten beschreibt, einem po-
Baukunst zu bringen, verbindet sich mit der theoreti- sitiven, akzeptablen und einem negativen, korrum-
218 III Werke

pierten Parergon, wird auch von W. vertreten, der auf »Denn da der wahre gute Geschmack fiel, und der
die Kategorie der Verzeitlichung zurückgreift und so- Schein mehr als das Wesen gesuchet wurde, sahe man
mit das Paradox der Gleichzeitigkeit der beiden Pole in die Zierrathen nicht mehr als einen Zusatz an, sondern
eine historische Abfolge auflöst (vgl. Testa 1999, 253– es wurden die Plätze, welche bisher ledig geblieben
260; ders. 2006, 140–150; ders. 2009a, 337–344). waren, mit denselben angefüllet. Hierdurch entstand
Das architektonische Ornament wird als »Zusatz« die Kleinlichkeit in der Baukunst: Denn wenn ein jedes
beschrieben (Baukunst, 50), als Parergon, das sich im Theil klein ist, so ist auch das Ganze klein, wie Aristote-
Laufe der Zeit gleich einem fremden Akzidens wie les saget. Der Baukunst ergieng es, wie den alten Spra-
ein Parasit zur Form gesellt, deren ursprüngliche au- chen, diese wurden reicher, da sie von ihrer Schönheit
tonome Vollkommenheit W. immer wieder heraus- abfielen, welches so wohl von der Griechischen als Rö-
stellt. mischen zu beweisen ist, und da die Baumeister ihre
Was die schmucklose Reinheit angeht, sieht sich W. Vorgänger in der Schönheit entweder nicht erreichen,
jedoch genötigt, auch ihre potenziell trostlose Mono- oder nicht übertreffen konnten, suchten sie sich rei-
tonie einzugestehen, eine Art von Bedürftigkeit, von cher als jene zu zeigen« (ebd., 51–52).
ursprünglicher Undurchsichtigkeit, die der Einfalt in-
newohnt und die von Anfang an danach verlangt, sich Auf diesem Weg findet die Dimension der Zeit ihren
mit dem Ornament zu verbinden, um die Sinne zu er- Weg in die Statik des antiquarischen Diskurses, der
götzen (ebd.). bislang den Text beherrschte. In die Abhandlungen
Wenn auch unverzichtbar, wird das Ornament fließen die Grundlagen der Geschichtsphilosophie
doch als prinzipiell gefährlich wahrgenommen: Der ein, aus denen W. sein revolutionäres Projekt einer
Logik des Parergons gehorchend, wird es zugleich ak- Historisierung der antiken Kunst entwickelte. Die
zeptiert und zensiert, zugelassen und neutralisiert, bis theoretische Linie, die er dabei verfolgt, führt von den
seine wahrnehmbare Präsenz die Grenzschwelle eines Gedanken über die Nachahmung zur Geschichte der
paradoxen Nullgrads erreicht, emblematisch aus- Kunst. Es gelingt W. jedenfalls, die Präsenz des Zier-
gedrückt durch die Metapher des »goldenen Fadens«, rats in der antiken Architektur zu rechtfertigen, in-
ganz im Sinne von W.s Begriffs- und Argumentations- dem er ihn zu einem historischen Phänomen erklärt;
strategie (vgl. Testa 1999, 215–298 u. passim): als hermeneutisches Schema legt W. ein deterministi-
sches Verhältnis von Kunst und Politik zugrunde,
»Es sollen daher Zierrathen eines Gebäudes ihrem all- demzufolge lediglich die in Freiheit lebenden Gesell-
gemeinen so wohl, als besonderem Endzwecke gemäß schaften – Paradebeispiel: die griechische Polis – das
bleiben: nach jenem betrachtet, sollen sie als ein Zu- Privileg besitzen, schöne Kunst zu schaffen.
satz erscheinen, und nach diesem die Natur des Orts Das in der ursprünglichen Schlichtheit fehlende
und ihre Anwendung nicht verändern. Sie sind als die Ornament wird auf diese Weise erklärt und sozusagen
Kleidung anzusehen, welche die Blöße zu decken die- begrifflich eingeordnet, als Zufallsprodukt der Ge-
net, und je größer ein Gebäude von Anlage ist, desto schichte, dessen Entwicklungszyklus die fortschrei-
weniger erfordert es Zierrathen; so wie ein kostbarer tende Aushöhlung der »blühenden Freyheit« (Gedan-
Stein nur wie in einem goldenen Faden einzufassen cken1, KS 34) der Griechen begleitet und dessen Tri-
wäre, damit er sich selbst in seinem völligen Glanze umph mit dem endgültigen Verschwinden der Frei-
zeige.« (Baukunst, 50) heit aus der antiken Geschichte und mit dem durch
Nero verkörperten Anbruch des kaiserzeitlichen Des-
Zwar – das Ornament ist ein Übel; gleichwohl bestä- potismus in Rom zusammenfiel (Baukunst, 52) .
tigt das Studium der antiken Baukunst, dass es dazu Auch wenn die Historisierung des Ornaments, das
beiträgt, in der geschichtlichen Entwicklung der Ar- sich längs einer durch die Geschichtsphilosophie be-
chitektur die Bedeutung des Antiken als eines ästheti- stimmten, axiologisch orientierten Zeitachse ent-
schen Modell von absoluter Geltung zu bewahren. wickelt, eine Ausnahme im statischen und systemati-
Deshalb sieht sich W. nun gezwungen, die monolithi- schen Bild antiquarischer Prägung der Anmerkungen
sche und zeitlose Einheit in Zweifel zu ziehen und die bildet, gestattet sie W. doch, die Aktualität der Ab-
Diskontinuitäten, Brüche und Abstufungen der anti- handlung zu markieren und der Dringlichkeit des En-
ken Baukunst offenzulegen. Dies ist das Ergebnis eines gagements Ausdruck zu verleihen, das seine Reflexio-
Prozesses, dessen Schauplatz die Zeit ist und der sich nen zu den künstlerischen Formen der Antike be-
in Form einer Geschichte beschreiben lässt. stimmt. Er folgt hier einer für ihn typischen Argu-
23 »Anmerkungen über die Baukunst der Alten« 219

mentationsstrategie, die in der Geschichte der Kunst aber doch miteinander verknüpften Ebenen, die den
(vgl. Testa 1999, 77–123) ein breites Anwendungsfeld Text durchziehen. Hier glaubt W., in provokativer Ab-
finden wird. sicht einen unerwarteten Gast, nämlich Michelangelo,
Die Überlagerung der verschiedenen Ebenen führt auf den Plan rufen und sein gelehrtes Werk über die
zu einem einzigartigen Überlappungseffekt: In einem antike Kunst mit einer Tirade beschließen zu müssen,
raffinierten Spiel von Analogien und Parallelismen, die die in den formalen Häresien Michelangelos wur-
das auch virtuose historisch-philologische Exerzitien zelnde Tradition der antiklassischen Moderne aufs
zur Sprache der Architektur einschließt, projziert W. Korn nimmt, »weil unsere Zeiten sich immer weiter
auf den durch zu viel Zierrat verursachten Niedergang von der Ernsthaftigkeit des Alten entfernen« (Bau-
der antiken Tradition im kaiserzeitlichen Rom eine kunst, 68).
analoge Entwicklungslinie, die sich in der modernen
Architektur abzeichnet. Diese wurde durch Michel-
Die Behandlung der Dorischen Ordnung: Die Ver-
angelos antiklassische Verstöße eingeleitet und mün-
zeitlichung der Formen als Grundstein einer
dete in die formale Häresie Berninis und Borrominis.
Architekturgeschichte
In diesem Sinne exemplarisch sind W.s Beobach-
tungen zu den Diokletiansthermen, einem Monu- Dieselbe Entschiedenheit, mit der W. das Prinzip der
ment, an dem man hier wie auch in der Geschichte der »simplicitas«, der »Einfalt« – im obigen Zitat als
Kunst der Alterthums (GK1, 432) die Zeichen des Ver- »Ernsthaftigkeit« bezeichnet –, zum absoluten ästheti-
falls, den die antike Baukunst unter der kaiserzeitli- schen Fundament der Baukunst erklärt, ist am Werk,
chen Tyrannen erlitt, ablesen kann. Die Nachahmung wenn er, nach der gewohnten Strategie, die Leitlinien
dieses antiken Modells durch die Modernen ist für W. für das Kapitel über die Dorische Ordnung festlegt
– der seine These mit genauen Erklärungen unter- (ebd., 25–28). Die »simplicitas« bildet den axiologi-
mauert – eine maßgebliche Ursache für die im 16. Jh. schen Rahmen, innerhalb dessen W. die Grundzüge
einsetzende Dekadenz des architektonischen Stils, da der historischen Entwicklung des Ornaments in der
»die Baukunst eine andere Gestalt bekam« und sich, antiken Welt entwirft. Wie schon erwähnt, tritt hier
angefangen bei den manieristischen Häresien bis hin die Historisierung des behandelten Stoffes in so be-
zum Delirium des Barock, immer weiter von der Aus- wusster und vollendeter Weise zutage, dass sie zu ei-
geglichenheit und Einfalt der klassischen Schönheit nem regelrechten Grundstein für die Geschichte der
entfernt habe. Das Vorbild der Diokletiansthermen, in Architektur wird, für eine Stilgeschichte als verzeit-
den Rang »der vornehmste[n] Schule der Baumeister lichter Taxonomie der Form. Wie eingewoben in das
in der Zierlichkeit« erhoben, brachte »Michel Angelo gelehrte altertumskundliche Gewebe des Textes,
ebenfalls [dazu], von der Regel« abzuweichen und die emanzipiert sich das Kapitel allerdings deutlich vom
klassische Ordnung zu missachten. Die einander ab- Rest der Werkes, um in einem radikalen epistemologi-
wechselnden konkaven und konvexen Formen der schen Bruch dieselben revolutionären Analyse- und
Exedren, die den Bau kennzeichnen, hätten auf dem Klassifikationsverfahren von Kunstwerken anzuwen-
Weg der Imitation jene barocke Vorliebe für eine kon- den, die in der Geschichte der Kunst systematisch zum
kav-konvexe Gestaltung der Wände befördert, für die Tragen kommen sollten (vgl. Testa 2001, 590–594;
W. exemplarisch die Fassade des Pietro da Cortona ders. 2003, 692–695; ders. 2006, 118–120; ders. 2008,
von Santa Maria della Pace und diejenige Berninis von 51–69; ders. 2009a, 344–354).
Sant’Andrea al Quirinale anführt (Baukunst, 54; vgl. Dass gerade die Behandlung der Dorischen Ord-
Testa 2006, 142–150; ders. 2009a, 343). nung die Historizität der antiken Baukunst bewusst
Dieser Teil der Abhandlung ist charakterisiert machte, ist kein Zufall. Dieser Umstand hat exempla-
durch ein raffiniertes Spiel von Zukunftsprojektionen, rischen Charakter und verdient, genauer untersucht
das, wie immer bei W., Verzeitlichungsprozesse aus- zu werden, um die Mechanismen und die Bedeutung
löst, ganz gemäß einer archäo-teleologischen Strate- der theoretischen Revolution zu begreifen, die gegen
gie, die das Interesse für die Vergangenheit mit der Ende des Jahrhunderts zu einer generellen Verzeitli-
Dringlichkeit einer Verbesserung des gegenwärtigen chung des Wissens führen wird.
Geschmacks begründet. Im letzten Absatz der Anmer- Die Dorische wird in der Tat mehr als jede andere
kungen nimmt dieses Spiel die Gestalt eines geradezu architektonische Ordnung dem wachsenden »Erfah-
verblüffenden Verfremdungseffekts an, der beispiel- rungsdruck« (Lepenies 1978, 16 u. passim) ausgesetzt
haft ist für die Komplexität der unterschiedlichen, sein, der im Laufe des Jahrhunderts in unterschiedli-
220 III Werke

chen Wissenszweigen eine Verzeitlichung nach sich plus beaux monuments de la Grèce (Le Roy 1758, II,
zog. Verzeitlichung ist ein Instrument, das hilft, Berei- 1–14) vorschlägt. »Die älteste aller Ordnungen«, (»Le
che empirischen Wissens, die turbulenten Wachs- plus ancien de tous les Ordres«), so erklärt der franzö-
tums- und Diversifizierungsprozessen unterworfen sische Archäologe einleitend, ist »diejenige, die in ih-
waren, wirkungsvoll und ökonomisch aufzuarbeiten ren grundlegenden Proportionen auch die größten
und zu organisieren. Änderungen durchlaufen hat« (»aussi celui qui a
Als um die Mitte des Jahrhunderts Forschungsrei- éprouvé les plus grands changements dans ses princi-
sen und Ausgrabungskampagnen eine bessere und de- pales proportions«) (ebd., II, 1). Eine Ordnung also,
tailliertere Kenntnis der antiken Baukunst in Grie- die im Laufe der Zeit eine Fülle von sehr unterschied-
chenland und im Nahen Orient ermöglichen, in Eu- lichen morphologisch-proportionalen Varianten her-
ropa begleitet durch die Publikation von prächtigen vorgebracht hat, die mithilfe der Zeitachse geordnet,
Stichwerken, und die dorischen Tempel in Paestum klassifiziert und auf eine dynamisch verzeitlichte Ein-
und Agrigent wiederentdeckt werden, sieht sich das heit zurückgeführt können.
Abendland mit einer verstörenden Anzahl von unge- Das auf der Korrelation von Zeit und Raum beru-
wöhnlichen Abweichungen der Dorischen Ordnung hende taxonomische Bild nimmt bei Le Roy die Form
konfrontiert, die gedrungenere und schwerfälligere einer embryonalen Geschichte der dorischen Ordnung
Proportionen aufweisen als das kanonische Maß von an (vgl. Grell 1985; Pousin 1990; ders. 1995, 12; Kisacky
sechs Durchmessern. Die Begegnung mit dieser neu- 2001; Armstrong 2005; ders. 2012, 87–110). Sie präsen-
en, fremden Formenwelt regt dazu an, die Formen des tiert sich als dreiphasiger Entwicklungszyklus, wäh-
griechischen Dorischen Stils, die vor dem 18. Jh. in rend dessen sich das Erscheinungsbild der dorischen
Europa nur wenig geläufig waren und deren Anders- Säule wandelt: Die ausgesprochen gedrungenen Pro-
artigkeit man jedenfalls nie bewusst wahrgenommen portionen – in einem Tempel von Korinth betragen sie
und diskutiert hatte (vgl. Günther 1999a, 162; ders. weniger als vier Durchmesser, Charakteristikum »ei-
1999b, 90–94), in das Regelwerk mit aufzunehmen. nes hohen Alters« (»d’une antiquité très reculée«; Le
Dieses Regelwerk, herangereift seit der Renaissance, Roy 1758, I, 4) des Bauwerks – verfeinern sich zu den
baute auf der klassischen römischen Tradition auf, die kanonischen sechs Durchmessern der klassischen Ära,
aus archäologischen Zeugnissen bekannt war und um nach und nach immer schlankere Formen bis zu
durch Vitruv und Plinius (Vitr., 6.1.6; Plin., Nat. hist., sieben Durchmessern anzunehmen. Am Rande des so
34.178) kanonisiert wurde. beschaffenen Dreierschemas erwähnt Le Roy schließ-
Wie auf zahlreichen anderen Wissensgebieten er- lich auch das Marcellus-Theater in Rom, dessen dori-
weist sich die Geschichte auch in diesem besonderen sche Stützen sogar Proportionen von nahezu acht
Kontext als erfolgreicher »Ordnungsentwurf« (Lepe- Durchmessern (ebd., II, 14) aufweisen.
nies 1988, 97; vgl. ders. 1978, 16–28; ders. 1984; ders. Die revolutionäre Tragweite von Le Roys herme-
1986; Jauss, 1973), der es möglich macht, einen neuen neutischem Schema wurde von W. sofort erkannt. An
Diskursraum zu erschließen, einer unübersichtlichen einer Stelle der Anmerkungen, an der er sich mit dem
Menge an empirischen Daten Form und Bedeutung ›Problem des Dorischen‹ auseinandersetzt, bezieht er
zu geben, sie in einer einheitlichen, organischen und sich ausdrücklich darauf:
sinnvollen Sequenz zu organisieren und sie auf der
Zeitachse zu fixieren. Dank dieses hermeneutischen »Herr Le Roy setzet in seiner Beschreibung der alten
und taxonomischen Modells können selbst die unge- Gebäude in Griechenland drey verschiedene Zeiten der
wöhnlichsten und schwerfälligsten Beispiele des dori- Dorischen Ordnung: die älteste, deren Säulen, wie die
schen Stils in ihrer ganzen antiken Andersartigkeit as- an vorhergedachtem Tempel zu Corinth nicht über vier
similiert werden. Die Alterität ist in einem dyna- Durchmesser haben; die andere Zeit in welcher der
mischen und flexiblen Schema verzeitlicht, das all die Tempel des Theseus und der Pallas zu Athen gebauet
verschiedenartigen morphologischen Varianten der sind; und die dritte Zeit, aus welcher der Rest des Tem-
Ordnung, die in der Archäologie belegt sind, in sich pels des Augustus in eben der Stadt ist, dessen Säulen
aufnehmen oder sie im Zuge der sich entwickelnden sechs Durchmesser haben« (Baukunst, 25).
Forschung künftig zuordnen kann.
Das ist die Lösung des ›Problems des Dorischen‹, In Wirklichkeit erliegt W. einem Missverständnis oder
die Julien-David Le Roy als erster in dem Kapitel zur gibt vielleicht einfach die Belege des französischen Ar-
dorischen Ordnung im zweiten Teil seiner Ruines des chäologen nicht korrekt wieder; doch angesichts der
23 »Anmerkungen über die Baukunst der Alten« 221

theoretischen Raffinesse, mit der das taxonomische und dokumentarische Quellen stützt. So sehr sich die
Schema mit seinen aufeinander folgenden historisch- beiden Methoden auch von den Prinzipien her unter-
stilistischen Phasen hier assimiliert wird, scheint dies scheiden mögen, scheinen sie sich doch gut miteinan-
von geringer Bedeutung zu sein. Dies gilt auch in An- der vereinbaren zu lassen und liefern für die neue Ge-
betracht einiger Passagen des vitruvschen Traktats, in schichte der Baukunst einen differenzierten und über-
denen eine Korrelation zwischen Temporalität und zeugenden Apparat an analytischen Instrumenten.
Form angedeutet wird. Der Verfasser spricht dort von Von diesem Potenzial gibt W. dem Leser sogleich ei-
der chronologischen Folge der Ordnungen und dem ne Kostprobe, wenn er die Datierung des Herkules-
allmählichen formalen Verfeinerungsprozess, der die tempels in Cori (Latium) in Angriff nimmt. Er inte-
gedrungenen Proportionen des Dorischen in die griert den Tempel in Le Roys Modell, um eine vierte
schlanke Eleganz des Korinthischen verwandelt (vgl. historische Entwicklungsphase der Dorischen Ord-
Testa 2003, 692–695). Le Roys Modell wird den nung anzusetzen, in der die Säulen zu noch leichteren
Grundprinzipien von W.s Geschichtsphilosophie an- und schlankeren Proportionen finden: »sieben Durch-
gepasst – mit theoretischen und methodologischen messer in der Höhe, ohne der Base und dem Capitäl«
Ergebnissen, die in diesem begrenzten Segment der (ebd., 26) .
Anmerkungen die radikalen epistemologischen Neue- Angesichts eines Gelehrtenstreits um die Interpre-
rungen vorwegnehmen, welche in der Geschichte der tation der Widmungsinschrift über der Eingangstür
Kunst die Kunstgeschichte als Stilgeschichte begrün- zur Cella, in der die Namen der die Tempelgründung
den werden. fördernden Duoviri genannt sind, plädiert W. dafür,
Man könnte behaupten, das ›Problem des Dori- dass der Bau »zur Zeit des Tiberius« anzusetzen sei.
schen‹ sei für W. eine Art Prüfstein. Denn an diesem Seine These begründet er ausschließlich mit stilisti-
Gegenstand scheint er auszuloten, ob es möglich ist, schen Kriterien und behauptet, »aus der Bauart« mit
das neue taxonomische Schema im Sinn einer all- Sicherheit schließen zu können, dass das Gebäude
gemeinen Theorie zum Verständnis und zur Kodifi- »kein Werk aus den Zeiten der Republik sey« (ebd., 28) .
zierung künstlerischer Phänomene als Ausdruck der Dank einem argumentativen Verfahren, das heute
Entwicklung von Form in der Zeit heranzuziehen. Er als selbstverständlich erscheint, damals aber den Be-
scheint die Implikationen zu studieren, die sich aus ginn einer epistemologischen Revolution markierte
der systematischen Anwendung solcher Prinzipien er- und, im Rahmen der Anmerkungen, eine innovative
geben, wenn der Forscher sie, auf der Grundlage von Öffnung bedeutete, wird eine empirische Erkenntnis
Formmerkmalen, zur Klassifikation und Datierung – die schlanken Proportionen der Säulen, die zusam-
der Bauwerke benutzt. men mit Basis und Kapitell acht Durchmesser aufwei-
Dank dieses neuen Ansatzes verfügt die Architek- sen – zu einem wichtigen Indiz für die zeitliche Ein-
turforschung über ein universales, offenes und flexi- ordnung des Bauwerks. Aufgrund dieses formalen
bles hermeneutisches Kriterium, das scheinbare Ano- Merkmals kann man es mit gutem Recht der Spätpha-
malien assimilieren kann, weil es imstande ist, begriff- se des stilistischen Entwicklungszyklus der Dorischen
lich alle nur vorstellbaren Abweichungen der Form Ordnung zuschreiben und in die römische Kaiserzeit
einzuordnen, die archäologisch belegt sind. Jede ein- datieren (vgl. Testa 2001, 590–594; ders. 2006, 118–
zelne dieser Abweichungen ist als individueller Mo- 121; ders. 2008, 61–65; ders. 2009a, 349–353).
ment eines einheitlichen Prozesses zu begreifen, und Der archäologische Beleg – der »Erfahrungsdruck«
sie alle reihen sich in den unaufhörlichen Fluss der – ist allerdings in diesem Fall für W. nicht der einzige
Geschichte ein: »Es führet derselbe [Le Roy] an und Grund, Le Roys Schema um eine vierte Phase zu be-
vergleichet mit jenen Werken, was ihm von Dorischen reichern. Denn während das nun erweiterte taxono-
Ordnungen und Säulen in Italien bekannt gewesen mische Modell einen größeren Anwendungsbereich
ist« (Baukunst, 25). bekommt, da es eine größere Bandbreite an Phänome-
Das Kapitel zum Dorischen übernimmt innerhalb nen in sich aufnehmen kann, ist ebenso erkennbar,
der Anmerkungen eine besondere Rolle, weil es durch dass es der Viererstruktur von W.s Geschichtsphiloso-
seine Anwendung möglich wird, bestimmte herme- phie verpflichtet ist – um so mehr, als es ein abstraktes
neutische Verfahren zur Untersuchung der Bauwerke Paradigma reproduziert, das auch der Gliederung von
zu entwerfen, die auf einer formalen Analyse beruhen Theaterstücken in Akte nachempfunden ist und die
und grundsätzlich von denen der Gelehrtentradition Periodisierung der griechisch-römischen Kunst in der
abweichen, die sich in erster Linie auf epigraphische Geschichte der Kunst entscheidend beeinflussen sollte.
222 III Werke

Die »vier Hauptzeiten«, in die sich die »Zeitfolge« Datierungsübung zum Herkulestempel von Cori bei-
in der Kunst gliedert – gemäß einer universalen Norm, spielhaft für W.s Geschichtskonzeption. Während er
die den Lebenzyklus von »jede[r] Handlung und Be- die Auffassung des Tacitus, der Tempel sei ein Em-
gebenheit« regelt –, reihen sich in einer axiologisch blem imperialer Tyrannei, in der Geschichte der Kunst
ausgerichteten Sequenz aneinander. Zum einen ist (ebd., 388–89) zurückweist, bestätigt er die These, der
diese Sequenz Ausdruck einer der künstlerischen Bau stamme aus Tiberius’ Zeit. Er beruft sich dazu,
Form eigenen, endogenen Entwicklungsdynamik, die wenn auch nur implizit, auf die allgemeine hermeneu-
im Laufe der Zeit einen Prozess von Aufstieg, Voll- tische Voraussetzung, die graduelle Verschlankung
endung und Niedergang erfährt, zum anderen spiegelt der Säulenordnung, die die spezifischen Kriterien für
sie durch eine Art exogenen Determinismus auch die die mittlere Phase des historischen Entwicklungs-
politische Geschichte wider, analog dem Verhältnis zyklus überschreitet, sei, wie schon von Le Roy betont
von Kunst und Gesellschaft, auf das W. von den Ge- (Le Roy II, 13–14), als Symptom eines endogenen for-
danken über die Nachahmung an sein Historisierungs- malen Degenerierungsprozesses zu werten. Als Krite-
modell der Kunst aufbaut. rium für das Dorische nennt er schon früher in den
Die Entwicklungslinie der klassischen Kunst, so Anmerkungen über die Baukunst der alten Tempel zu
wie W. sie rekonstruiert, beschreibt eine Parabel von Girgenti (Baukunst Girgenti, 238) das kanonische vi-
Aufstieg und Niedergang, die sich, wie ein Spiegelbild, truvsche Maß von sechs Durchmessern. In dieser De-
im parallelen Verlauf – Aufschwung, Reife und generierung reflektiert sich, ganz im Sinn des die win-
schließlich Verfall – in der »blühenden Freyheit« der ckelmannsche Geschichtsphilosophie beherrschen-
Griechen reflektiert. Die formale Vollendung, die die den Harmonieprinzips, ein despotisches Regime, das
griechische Kunst im idealisierten goldenen Zeitalter inzwischen selbst die letzten Reste der »blühenden
der athenischen Demokratie erreicht, erleidet jedoch Freyheit« der Griechen zerstört hat.
bereits in der hellenistischen Epoche einen Prozess Nach diesem historiographischen Paradigma, das
der Aushöhlung. Es ist der Beginn eines unaufhalt- auf der wechselseitigen Spiegelung zwischen Phäno-
samen Verfalls, der durch den Verlust der Freiheit menologie der Form und Phänomenologie der politi-
nach der Eroberung durch die Römer beschleunigt schen Macht basiert, richtet sich im Prinzip auch die
wird und schließlich, von der augusteischen Zeit an, Behandlung der Korinthischen Ordnung. Dies ergibt
in der Tyrannei der römischen Kaiser gipfelt (ebd., sich aus einer späteren Passage der Anmerkungen, die,
384–430). vergleichbar der Historisierung der Bildenden Künste
Der Entwicklungszyklus der künstlerischen Form in der Geschichte der Kunst, einen weiteren Grund-
zeichnet folglich nicht nur die geschichtlichen Mecha- stein zur Geschichte der Architektur legt.
nismen der politischen Herrschaft nach: In diesem
Spiel von Spiegelungen wird die künstlerische Form »Die Corintischen Säulen sollen, wie bekannt ist, neun
zu einer Projektionsfläche, auf der die politische Ge- Durchmesser in der Höhe haben; die Säulen an dem
schichte ihre Spuren hinterlässt, sich offenbart und ih- Tempel der Vesta aber haben mit dem Capitäl eilf
ren Ausdruck findet. Durchmesser, welches ein Beweis ist, daß dieser Tem-
So vertraut W. dem Kunsthistoriker die Aufgabe an, pel gebauet worden, da man sich schon große Freyhei-
die Sprache der Kunst zu entziffern und das komplexe ten in der Baukunst nahm, und in der Zeit, wo lange
Netz von Beziehungen, Einflüssen und Zeichen zu re- spillenmäßige Säulen Mode wurden« (Baukunst, 32).
konstruieren, das jede Form in sich birgt und in empi-
rische Evidenz übersetzt, und dieses Netz dann in Auch hier datiert W. ein Werk auf der Grundlage einer
schlüssige Zusammenhänge zu stellen. In deren Rah- stilistischen Untersuchung, die eine Gesamtbetrach-
men kann sich durch die Wechselwirkung von Zeit tung zur historischen Entwicklung der antiken Bau-
und Form jene Verzeitlichung der antiken Kunst voll- kunst nach sich zieht, und schreibt die theoretischen
ziehen, die das Zentrum der seit den Gedanken über Voraussetzungen fest, die der Analyse des Tempels
die Nachahmung konsequent verfolgten episte- von Cori zugrundeliegen. Angesichts einer korinthi-
mischen Revolution bildet. schen Säule mit elf Durchmessern beschränkt er sich
In das uneinheitliche Gewebe eines Textes ein- nicht darauf, eine spätere, axiologisch neutrale Datie-
gefügt, der sich durch eine rhapsodische und ab- rung vorzunehmen; vielmehr entwirft er ein weiter
schweifende Schreibstrategie auszeichnet, ist die be- ausgreifendes Szenario: In ihrer extremen Schlankheit
grenzte, auf stilistisch-formalen Kriterien gründende wirken die Säulen des Vesta-Tempels, als seien sie der
23 »Anmerkungen über die Baukunst der Alten« 223

durch übersteigerten Luxus verrohte Ausdruck eines Renaissance bis zum Beginn des Klassizismus. In: Baum-
nunmehr in all seinen Teilen verdorbenen architekto- stark, Reinhold (Hg.): Das neue Hellas. Griechen und
nischen Stils (ebd., 50–52; vgl. Testa 2006, 140–150; Bayern zur Zeit Ludwigs I. München 1999a, 149–170.
Günther, Hubertus: Kult der Primitivität im Klassizismus.
ders. 2008, 63–64; ders. 2009a, 353–354), befallen von In: Saage, Richard/Seng, Eva-Maria (Hg.): Von der Geo-
jener Krankheit, die unter der Tyrannei der römischen metrie zur Naturalisierung. Utopisches Denken im
Kaiser die bildenden Künste infiziert hatte. Gemäß 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und früh-
dem Spiel mit transhistorischen Projektionen, das für neuzeitlicher Gartenkunst. Tübingen 1999b, 62–108.
W. typisch ist, nehmen die Symptome dieses Verfalls Jauss, Hans Robert: Geschichte der Kunst und Historie. In:
Koselleck, Reinhart/Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Ge-
die formalen Häresien und die ornamentalen Ver-
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224 III Werke

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sione del suo settantesimo compleanno. Mailand 2000,
327–335.
Alterthums« und »Anmerkungen
Testa, Fausto: Winckelmann, il Tempio di Ercole a Cori e lo über die Geschichte der Kunst
sviluppo storico dell’ ordine dorico. In: Di Teodoro, Fran-
cesco Paolo/Scolaro, Michela (Hg.): L ’intelligenza della
des Alterthums«
passione. Scritti per Andrea Emiliani. Bologna 2001, 587–
609. Zur Ausbildung von Winckelmanns Geschichts-
Testa, Fausto: Vitruvio nelle Anmerkungen über die Bau- begriff
kunst der Alten di Winckelmann. In: Ciotta, Gianluigi
Alles deutet darauf hin, dass W. schon früh in der Ge-
(Hg.): Vitruvio nella cultura architettonica antica, me-
dioevale e moderna. Genua 2003. Bd. 2, 685–695. schichtsschreibung seine Hauptberufung gesehen hat.
Testa, Fausto: Winckelmann e l’ architettura antica. In: La- Bereits 1746, also noch lange vor seinen ersten Über-
manna, Federica (Hg.): Gusto dell’ Antico e cultura neo- legungen zur Kunst und Kunstgeschichte, stellt er in
classica in Italia e in Germania. Rende (Cz) 2006, 136– Seehausen für sich fest: »Mein Hauptwerck muß die
138. Geschichte sein.« (Br. I, 64). In seiner Exzerptensamm-
Testa, Fausto: »Quanto più s’inalza, più si degrada«. La stori-
cizzazione dell’ ordine dorico nella seconda metà del
lung sind die meisten der im 18. Jh. verbreiteten his-
XVIII secolo: Le Roy, Piranesi, Winckelmann, Milizia. In: toriographischen Genres – Polyhistorie, Weltgeschich-
Caracciolo, Daniela/Conte, Floriana/Monaco, Angelo Ma- te, Reichshistorie, Chronik, antiquarische Forschun-
ria (Hg.): Enciclopedismo e storiografia artistica tra Sette gen, philosophische Geschichtsschreibung (»histoire
e Ottocento. Lecce 2008, 51–69. philosophique«) – umfangreich vertreten. Seine nähe-
Testa, Fausto: Le Anmerkungen über die Baukunst der Alten
re Beschäftigung mit Fragen der Geschichtsschreibung
di J. J. Winckelmann: il testo di architettura tra continuità
e fratture epistemologiche nella cultura del Secolo dei Lu- als solcher dürfte spätestens auf seine Studienzeit in
mi. In: Di Teodoro, Francesco Paolo (Hg.): Saggi di lette- Halle (1738–1740) zurückgehen. Die Universität Halle
ratura architettonica, da Vitruvio a Winckelmann. Bd 1. hatte generell einen wichtigen Beitrag zur Geschichts-
Florenz 2009a, 313–354. wissenschaft und insbesondere zur Reichshistorie ge-
Testa, Fausto: Cultura architettonica e pratiche erudite nei leistet. 1740 arbeitete W. als Gehilfe in der Bibliothek
quaderni parigini di Winckelmann. In: Bertolini, Lucia
des Historikers Johann Peter Ludewig (1668–1743),
(Hg.): Saggi di letteratura architettonica, da Vitruvio a
Winckelmann. Bd. 2. Florenz 2009b, 179–230. der eine reiche Büchersammlung besaß und als Autor
Testa, Fausto: Le fonti iconografiche per la conoscenza eines Entwurffs der Reichs-Historie bereits eine gewisse
dell’ architettura antica nelle Anmerkungen über die Bau- Bekanntheit genoss (Ludewig 1710; Br. I, 69, 79). In
kunst der Alten di J. J. Winckelmann. In: Burns, Howard/ W.s Exzerptensammlung allerdings sind keine direk-
Di Teodoro, Francesco Paolo/Bacci, Giorgio (Hg.): Saggi
ten Spuren von Ludewigs Werk zu finden. Mit der
di letteratura architettonica, da Vitruvio a Winckelmann.
Bd. 3. Florenz 2010, 339–361. Übersiedlung nach Nöthnitz im Jahre 1748 begann W.,
Testa, Fausto: Documenti numismatici e glittici come fonti sich intensiv ‒ und bis zum endgültigen Überdruss ‒
iconografiche per la conoscenza dell’ architettura antica mit der Gattung der Reichshistorie auseinanderzuset-
nelle Anmerkungen über die Baukunst der Alten di J. J. zen. Dort trat er in die Dienste des Grafen Heinrich
Winckelmann. In: Cioffi, Rosanna/Scognamiglio, Ornella von Bünau, der seit den 1720er Jahren an einer vier-
(Hg.): Mosaico. Temi e metodi d’arte e critica per Gianni
bändigen Teutschen Kayser- und Reichs-Historie arbei-
Carlo Sciolla. Neapel 2012. Bd. 1, 281–292.
tete und ihn u. a. damit beauftragte, durch Recherchen
Fausto Testa und Exzerpte Vorarbeiten zu diesem Werk zu liefern
Aus dem Italienischen von Susanne Kolb (Bünau 1728–1743; Heres 1991, 39–40; Schurig 1910,
10, 87; Alschmer 1976). Wohl auf diese Periode sind
seine auf zwanzig dicht beschriebenen Seiten fest-
gehaltenen Notizen zu den Kaisern, angefangen bei
Karl dem Großen bis zu Heinrich IV., zu datieren, die
er der Vollständige[n] Einleitung zu der Teutschen
Staats-, Reichs- und Kayser-Historie von Simon Fried-
rich Hahn entnommen hatte (Hahn 1721–1724; Dé-
cultot 2016a, 106, 121).

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_24, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
24 »Geschichte des Alterthums« und »Anmerkungen über die Geschichte« 225

Die »Gedanken vom mündlichen Vortrag der hen: Zwar enthielt sie einige Ausführungen über die
neueren allgemeinen Geschichte« »Sitten und Gewohnheiten« der »Teutschen« (Bünau
Dass W. dieser eingehenden Auseinandersetzung mit 1728–1743, I, 3–4), in erster Linie aber verstand sie
dem Modell der Reichshistorie nicht nur eine Fülle sich als eine Geschichte der Kriege, Eroberungen und
von historischen Informationen, sondern auch we- Allianzen der Regierenden. Hervorzuheben ist dabei,
sentliche epistemologische Reflexionen entnommen dass die Kritik an der allein auf die Person und die
hat, beweist eine seiner frühesten Schriften, die Ge- Heldentaten der Herrscher zentrierten Geschichts-
danken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemei- schreibung eine kaum überhörbare politische Dimen-
nen Geschichte, die er Ende 1754 oder Anfang 1755 sion enthielt. Der Wunsch nach einer vielfältigen Ge-
verfasst haben dürfte. In diesem posthum veröffent- schichte, die ein umfangreiches Bild aller kulturellen
lichten Aufsatz zieht er eine kritische Bilanz seiner ers- Bestandteile einer Zivilisation liefern würde, war eng
ten historiographischen Erfahrungen und stellt ‒ noch mit dem aufklärerischen Motiv der Herrscher- und
lange vor der Arbeit an der Geschichte der Kunst des Tyrannenkritik verbunden. Damit deutete W. schon
Alterthums ‒ einige wichtige methodologische Über- in dieser frühen Schrift auf die enge Verbindung von
legungen zur Geschichtsschreibung an. Dazu gehört Kunstgeschichtsschreibung und Lob der antiken De-
in erster Linie das Bemühen um einen makrohistori- mokratie, von künstlerischer Produktion und politi-
schen Maßstab. Gegen die Historiker, die zu den be- scher Freiheit hin, die er später in der Geschichte der
schränktesten Gegenständen die ausführlichsten Aus- Kunst des Alterthums eingehender entfalten sollte
künfte liefern, tritt W. in dieser kurzen Schrift für eine (GK1, SN IV,1, 226–228; Décultot 2013a). Dass er
Geschichte der langen Zeiträume ein, die mehrere Na- schon in den ersten Zeilen dieses Werkes sein Ge-
tionen und Zeitalter umfassen und von dem »wunder- schichtsmodell von der »bloße[n] Erzählung der Zeit-
baren Wechsel in den Reichen« und ihren vielfältigen folge« klar abgrenzen wollte (GK1, SN IV,1, XVI),
Geschicken Zeugnis ablegen – eine »allgemeine« Ge- kann als Ergebnis seiner vorausgegangenen kritischen
schichte also, die in großen Strichen »Aufnahme, Auseinandersetzung mit dem Modell der Reichshis-
Wachsthum, Flor und Fall« der Reiche nachzeichnen torie interpretiert werden. Die Geschichte, die er sich
soll. Als Gegensatz zu dieser »allgemeinen« Geschich- nun zu schreiben vornahm, sollte keine einfache
te nennt er – unter Rückgriff auf übliche Kategorien Chronik der res gestae sein, wie er sie in Bünaus
der historiographischen Taxonomie seiner Zeit (Muh- Reichs-Historie hatte beobachten können, sondern an-
lack 1991, 97–150) – die »Special-Geschichte«, in die hand des makrohistorischen Maßstabs eine Übersicht
»alles Subalterne« gehöre (KS 21; Seeba 1986; Décul- über Wesen und Werden der Künste durch die gesam-
tot 2016a, 106–109; Rüdiger 1968). te Antike hindurch gewähren.
Hinter der positiven Bezeichnung der Gattung »all-
gemeine Geschichte« zeichnen sich im Negativrelief Die Wahl der Wörter: »Geschichte«
aufkeimende Bedenken gegenüber der Reichshistorie gegen »Historie«
ab, die sowohl deren nationale Beschränkung als auch Dass W. das Wort »Geschichte« und nicht den Termi-
deren Methode betreffen. Kritisiert werden historio- nus »Historie« zur Bezeichnung seines Hauptwerkes
graphische Werke, die sich nur mit dem politischen wählte, ist in diesem Zusammenhang keineswegs be-
und militärischen Geschehen beschäftigen. Dieser deutungslos. »Historie« war nicht nur seit langem in
verstümmelten Geschichte setzt W. den Aufruf ent- der deutschen Sprache zur Betitelung historischer
gegen: »Man zeige zugleich die großen Mittel an, wo- Werke üblich, wie er es bei Hahn und Bünau vor-
durch Staaten glücklich und mächtig geworden« – geführt sah, sondern hatte darüber hinaus den Vorteil,
und zu diesen »großen Begebenheiten in den Reichen sich etymologisch direkt aus der griechischen ›His-
gehören die berühmten Entdeckungen in der Natur toria‹ abzuleiten – ein Rückbezug auf die griechische
und Kunst: auf beyde sollen Lehrer der Geschichte Tradition, den er u. a. in der erwähnten Vorrede zur
nicht weniger als Staaten aufmerksam seyn.« (KS 22– Geschichte der Kunst des Alterthums einfordert (GK1,
23). Mit anderen Worten: Der Fortschritt der Künste SN IV,1, XVI). Warum aber nennt W. dann sein Werk
und Wissenschaften im Athen des Perikles oder im wider Erwarten »Geschichte« und nicht »Historie«?
England von Elisabeth I. sei, historisch gesehen, ge- Wie Reinhart Kosellek gezeigt hat, stehen die Wörter
nauso bedeutend wie die Chronik der Herrschaft und »Geschichte« und »Historie« bei ihrem ersten Auftau-
der Kriege. Einer solchen Kritik ließ sich die Reichs- chen im 13. Jh. für jeweils Verschiedenes (Koselleck
Historie des Grafen Bünau nur allzu leicht unterzie- 1975). »Geschichte« bezeichnet ursprünglich die res
226 III Werke

gestae, die facta, also die Ereignisse, die vorgefallenen wiederum immer häufiger zur Bezeichnung von blo-
Dinge; »Historie« dagegen verweist auf ihre Erzäh- ßen Chroniken verwendet wird. Mit seiner Geschichte
lung, ihre Überführung in eine narrative Form. Vom der Kunst des Alterthums nahm W. an dieser semanti-
Mittelalter bis zum Ende des 18. Jh. erfährt der Begriff schen Wandlung aktiv teil (Décultot 2016a, 109–110).
»Geschichte« jedoch eine semantische Verschiebung
und weist zunehmend auf eine Form des historischen Das Vorbild Voltaire
Erzählens hin, die Anspruch auf eine synthetische und W.s Auseinandersetzung mit dem Modell der Reichs-
reflexive Dimension erhebt. In dieser Bedeutung ver- historie fiel zeitlich mit seiner eingehenden Lektüre der
drängt er allmählich den Terminus »Historie«, der Schriften Voltaires (1694–1778) zusammen, wie sein

Abb. 24.1 Winckelmann,


Exzerpt aus: Voltaire: Le
siècle de Louis XIV. Paris,
Bibliothèque Nationale
de France, Département
des manuscrits, Fonds
allemand, Bd. 72, Bl. 1r.
24 »Geschichte des Alterthums« und »Anmerkungen über die Geschichte« 227

Exzerptmagazin beweist. In Voltaires üppigem Werk schickten. Dort tritt W. für die »edle Einfalt« ein, mit
las und exzerpierte W. von Nöthnitz aus so verschiede- der Xenophon seine Anabasis wie eine Fabel eröffnet,
ne Schriften wie die Lettres philosophiques, den Essay ein und spielt sie gegen die etwas ausgedehnten kriti-
sur la poésie épique, die Éléments de la philosophie de schen Reflexionen aus, mit denen Herodot und Thu-
Newton oder die in Prosa und Versen verfasste Erzäh- kydides ihre Erzählung einsetzen lassen (KS 13). Dass
lung Dans le temple du goût (Décultot 2016a, 110–113; er der Frage der Erzähltechnik in der Geschichts-
Fontius 1968). Ganz entscheidend scheint dabei die schreibung eine hohe Bedeutung beimaß, beweisen
Lektüre der historischen Schriften Voltaires gewesen zu auch seine aus dieser Zeit stammenden Exzerpte. »Ni-
sein, vor allem seines 1751 erschienenen Essays Le Siè- hil est in historia pura et illustri brevitate dulcius«, no-
cle de Louis XIV, dem er etwa zehn Exzerptseiten ent- tiert er z. B. aus Ciceros Brutus – eine Formel, die er in
nimmt (Abb. 24.1). Sein besonderes Interesse als Leser den Gedanken vom mündlichen Vortrag ins Deutsche
und Exzerpierer gilt bezeichnenderweise dem 32. Ka- übersetzt: »Nichts ist in einer Geschichte angenehmer
pitel, in welchem Voltaire dafür plädiert, die höchste als eine erleuchtete Kürze« (KS 24; s. dazu auch ebd.,
Ausdrucksform der Blüte des Zeitalters Ludwigs XIV. 15; Décultot 2016a, 114). All diese frühen Belege von
weder im Regierungsstil noch in den militärischen W.s Beschäftigung mit der grundlegenden Frage, wie
Feldzügen des Herrschers zu suchen, sondern in den die Geschichtsschreibung sich zur Beredsamkeit ver-
Werken der Dichter, Dramatiker und Historiker der hält, zeigen – noch lange vor der Arbeit am eigenen
Zeit. Erst der Glanz von Molière, Racine, Madame de Geschichtswerk – sein wachsendes Interesse für einen
Sévigné und Boileau zeige das Zeitalter auf seinem Hö- Geschichtsbegriff, der zwischen Kunst und Ge-
hepunkt. Damit bot Voltaire für W. das Vorbild einer schichtsschreibung keine scharfe Trennlinie zieht.
umfassenden Kulturgeschichte, einer »philosophi- Schon in diesen Jahren der intensiven Auseinander-
schen« Geschichte über den Fortschritt des Geistes und setzung mit Fragen des historischen Schreibens mag
des guten Geschmacks im Zeitalter der Aufklärung. sich also die Überzeugung gebildet haben, dass die
Zwar distanziert er sich vom Modell des Siècle de Louis Kunstgeschichte in einem gewissen Sinne auch eine
XIV in wesentlichen Punkten: Während Voltaire der künstlerische Dimension aufweisen muss, d. h. ein
Dichtung und dem französischen 17. Jh. den höchsten Gebilde ist, in dem Erfindung, Einbildungskraft und
Rang in seiner Hierarchie der Künste und Epochen zu- Schönheit zur Gestaltung und Vermittlung des his-
weist, sind es bei W. die Skulptur und das Perikleische torischen Wissens unentbehrlich sind.
Zeitalter, die in dessen Geschichte der Kunst des Alter-
thums diese Stelle einnehmen. Doch scheint W. bei sei-
Die »Geschichte der Kunst des Alterthums« –
ner Entscheidung, die Kunst zum Hauptgegenstand ei-
Versuch eines gedanklichen Überblicks
nes einzelnen Geschichtswerks zu machen, in Voltaire
zumindest einen Wegbereiter gefunden zu haben. Das Programm
Mit der Geschichte der Kunst des Alterthums (1764)
Wie schreibt man Geschichte? »Über Xenophon« wollte W. neue Maßstäbe setzen. In der Vorrede zu sei-
Seiner Auseinandersetzung mit dem Modell der ner Schrift rügt er jene Autoren, die sich vor ihm auf
Reichshistorie sowie mit Voltaires historischen Schrif- den Namen einer Geschichte der Kunst berufen oder
ten hat W. Überlegungen nicht nur darüber entnom- diesen Titel auch nur frei variiert hatten, wie etwa der
men, welche Gegenstände die »neuere allgemeine Ge- französische Gelehrte Pierre Monier mit seiner 1698 in
schichte« zu behandeln habe, sondern auch wie, d. h. Paris erschienenen Histoire des arts (GK1, SN IV,1,
anhand welcher erzählerischen und stilistischen Mit- XVI; Monier 1698). Geht es nach W., so habe erst sein
tel diese Gegenstände am besten zu behandeln seien. Werk wirklich Anspruch auf diesen Namen erworben,
Die frühe Diskussion dieser Fragen findet ihren Nie- weil es als einziges sowohl dem Begriff der Geschichte
derschlag in der Schrift Über Xenophon, die neben den als auch jenem der Kunst wahrhaft gerecht werde. Ers-
schon erwähnten Gedanken vom mündlichen Vortrag tens dürfe es sich »Geschichte« nennen, weil es den Le-
der neueren allgemeinen Geschichte zu W.s allerersten ser über »den Ursprung, das Wachsthum, die Verände-
historiographischen Arbeiten gehört (KS 13–16; Tibal rung und den Fall [der Kunst], nebst dem verschiede-
1911, 138). Der wohl um 1754 entstandene kurze, nen Stile der Völker, Zeiten und Künstler« unterrichte,
fragmentarisch gebliebene Entwurf besteht in einem sich dabei aber keineswegs auf die »bloße Erzählung
Vergleich der Einleitungen, die die großen griechi- der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben«
schen Geschichtsschreiber ihren Werken voraus- beschränke, sondern ‒ in Anlehnung an das Modell
228 III Werke

der griechischen historía ‒ ein »Lehrgebäude« aufstel- gelehret, worinnen die Schönheit einer Statue besteht?
le, ein zur Unterweisung des Lesers bestimmtes System Welcher Scribent hat dieselbe mit Augen eines weisen
also, das die Regeln der Schönheit in der Hervorbrin- Künstlers angesehen?« (ebd., XVI–XVIII).
gung sowie in der Beurteilung der Kunst vermittle
(GK1, SN IV,1, XVI–XVII). Zweitens dürfe die Kunst Eine grundlegende Antinomie: Historizität und
im strengen Sinne des Wortes als Gegenstand dieser A-Historizität der griechischen Schönheit
Geschichte betrachtet werden, weil zum ersten Mal Unter W.s Lesern fand diese Selbstdarstellung als
diesem Begriff in seiner spezifischen Dimension An- Neuerer breiteste Aufnahme. In zahlreichen Studien
erkennung gezollt werde. Dabei muss unterstrichen zur Kunstgeschichtsschreibung wurde W. als Neu-
werden, dass W. wiederholt auf die erst kurz zuvor im begründer, wenn nicht gar als eigentlicher Begründer
kunsttheoretischen Diskurs aufgetauchte Singular- der Kunstgeschichte und der klassischen Archäologie
form »Kunst« zurückgreift. Nicht um eine Geschichte dargestellt (Justi 1898, III, 220; Justi 1866, 136–137;
der »Künste« geht es ihm, d. h. um die Entwicklung der Stark 1880, 193–208; Schiering 1969, 20–22; Borbein
einzelnen, in ihrer empirisch-technischen, zum Teil 1986). Mit Blick auf den Einfluss, den sein eigenes
noch handwerklichen Dimension wahrgenommenen Werk auf nachfolgende Kunsthistoriker und Archäo-
Kunstformen. Auch hat er keine Geschichte der Künst- logen ausgeübt hat, mag eine solche Sichtweise durch-
ler nach dem von ihm unablässig kritisierten biogra- aus ihre Berechtigung haben. Allerdings befördert sie
phischen Modell der Viten im Sinn, wie Giorgio Vasari die Tendenz, das Vielschichtige, Schillernde, ja Brü-
oder Giovanni Pietro Bellori sie dargeboten hatten. chige seiner methodischen und theoretischen Ansätze
Sein Werk soll vielmehr, so W., in ein den verschiede- auszublenden oder zu ignorieren.
nen künstlerischen Manifestationen gemeinsames Diese Vielschichtigkeit betrifft zunächst W.s Ge-
»Wesen der Kunst« (ebd., XVI) einführen, dessen schichtsbegriff (Kreuzer 1959; Potts 1991). Zu den sein
»Mittelpunct« die »Schönheit« bilde (ebd., 240). gesamtes Werk durchziehenden Grundmotiven gehört
Die geschichtliche Darstellung dieses singulari- die Spannung zwischen zwei verschiedenen Ansichten
schen Kunst-Begriffs geht für W. jedoch mit einigen über die griechische Kunst. Einerseits sind die antiken
methodischen Neuerungen einher, die sowohl die Kunstwerke der höchsten griechischen Periode eine in
Wahrnehmung als auch die Darstellung der Kunst- seinen Augen absolut vorbildhafte Erscheinung, die die
gegenstände betreffen. Eine wahrhafte Geschichte der Modernen ungeachtet aller zeitlichen Entfernung
Kunst könne man nur dann schreiben, wenn man ers- nachzuahmen aufgefordert und befähigt sind. Ande-
tens direkten und wiederholten Kontakt zu den Kunst- rerseits aber sind diese Meisterstücke das Produkt ei-
gegenständen selbst habe und zweitens ein ausgepräg- ner unwiederholbaren Blüte, die erst durch das glück-
tes Gefühl für Schönheit besitze ‒ zwei Bedingungen, liche Zusammentreffen von politischen, gesellschaftli-
die W. in der bisherigen Kunstliteratur nur selten vor- chen und kulturellen Faktoren im antiken Griechen-
gefunden haben will und die er vorbildlich zu erfüllen land möglich wurde. Als einmaliger geschichtlicher
glaubt. Der ab Ende 1755 in Rom niedergelassene Au- Moment bleibt diese Blüte freilich unwiederbringlich
tor der Geschichte der Kunst des Alterthums, der unmit- – und somit unnachahmlich. Innerhalb seines Ge-
telbaren Zugang zu den größten Kunstsammlungen samtwerks scheint W. zwar bald für die eine, bald für
vor Ort hatte und sich bald einen europäischen Ruf als die andere Kunstvorstellung zu optieren. Auf die Zwei-
Führer durch die römischen Altertümer sicherte, wur- poligkeit seines Denkens hat er jedoch nie ganz ver-
de nicht müde, die direkte, feinsinnige Anschauung zichtet. Diese Spannung zwischen einer normativen
der Kunstwerke als einzige Quelle wahrer Kunstkennt- und einer historisierenden Vorstellung der antiken
nis anzupreisen und dabei die vorherigen Ansätze Kunst, die schon in den Gedanken über die Nach-
kunstgeschichtlicher Untersuchungen als Ausgeburt ahmung der griechischen Werke (11755, 21756) angelegt
kalter Büchergelehrsamkeit anzuprangern: »Es sind ei- ist, lässt sich bis in sein späteres Werk hinein verfolgen.
nige Schriften unter dem Namen einer Geschichte der In der Geschichte der Kunst des Alterthums wird zwar
Kunst ans Licht getreten«, schreibt er in der Vorrede die griechische Kunst einer stärkeren Historisierung
seines Geschichtswerks. »Aber die Kunst hat einen ge- unterzogen als in seiner Erstlingsschrift. Doch bleibt
ringen Antheil an denselben: denn ihre Verfasser ha- innerhalb dieses Werks die frühere Zweipoligkeit be-
ben sich mit derselben nicht genug bekannt gemachet, stehen. Dies erscheint besonders deutlich in den Über-
und konnten also nichts geben, als was sie aus Bü- schriften, unter die W. die beiden Hauptteile seines
chern, oder von sagen hören, hatten. [...] Wo [...] wird Buchs stellt. Im ersten Teil der Geschichte geht es da-
24 »Geschichte des Alterthums« und »Anmerkungen über die Geschichte« 229

rum, die Kunst »nach dem Wesen derselben« zu ana- vom Ufer aus das Schiff ihres »abfahrenden Lieb-
lysieren, worauf im zweiten Teil eine Untersuchung der haber[s], ohne Hofnung ihn wieder zu sehen, mit
griechischen Kunst »nach den äußeren Umständen der bethränten Augen verfolget«. Die Erläuterung, die W.
Zeit« folgt (GK1, SN IV,1, 2; 600). Anders gesagt, soll nachschickt, lässt nur wenig Zweifel darüber aufkom-
die Kunst sukzessive als a-historisches und als histori- men, wie gering er die Chancen einer Reproduktion
sches Gebilde beschrieben werden ‒ eine Zweiteilung, der griechischen Schönheit durch die Modernen ein-
die im Text selbst nicht wirklich durchgehalten wird. schätzt: »Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur
Diese Spannung bleibt im »Trattato preliminare« von einen Schattenriß von dem Vorwurfe unserer Wün-
W.s vorletztem Werk, den Monumenti antichi inediti sche übrig; aber desto größere Sehnsucht nach dem
(1767), bestehen, dessen Kapitel über die griechische Verlohrnen erwecket derselbe, und wir betrachten die
Kunst wiederum zwei distinkte Teile aufweist: eine Copien der Urbilder mit größerer Aufmerksamkeit,
»systematische Sektion«, welche Wesen und Regeln der als wie wir in dem völligen Besitze von diesen nicht
»Schönheit im allgemeinen« synthetisch zusammen- würden gethan haben. Es geht uns hier vielmals, wie
fasst, und eine »historische Sektion«, welche die ge- Leuten, die Gespenster kennen wollen, und zu sehen
schichtliche Entwicklung der griechischen Kunst von glauben, wo nichts ist: der Name des Alterthums ist
den Ursprüngen bis zu den römischen Nachahmern zum Vorurtheil geworden« (ebd., 838).
diachronisch schildert (SN VI,1, 63–86 [Sezione prima
sistematica], 86–128 [Sezione II. historica]). Sehen und lesen: Zu Winckelmanns Empirie-Begriff
Auch in seiner methodischen Herangehensweise er-
Nachahmung und Originalität weist sich W.s Werk als ausgesprochen spannungs-
Aus der zunehmend historisierenden Sicht auf die geladen. Der Autor der Geschichte der Kunst des Al-
Kunst, die sich in der Geschichte der Kunst des Alter- terthums sah sich als Urheber einer tiefgreifenden her-
thums manifestiert, geht eine weitere gedankliche meneutischen Umwälzung, mit der die Kunstgegen-
Spannung hervor. Hauptziel der Gedanken über die stände selbst in den Mittelpunkt des Kunstdiskurses
Nachahmung war es gewesen, die Modernen zur gerückt werden sollten: »Ich habe alles, was ich zum
Nachahmung der Griechen anzuhalten – eine Auffor- Beweis angeführet habe, selbst und vielmal gesehen,
derung indes, die eigentlich schon in dieser Erstlings- und betrachten können, so wohl Gemälde und Sta-
schrift keineswegs frei von Widerspruch war (KS 29). tuen, als geschnittene Steine und Münzen« (GK1, SN
Wenige Jahre später hatte W. auf die möglichen IV,1, XXVIII). Darin sah W. einen methodischen
Schwierigkeiten dieses Nachahmungsgebots explizit Bruch mit den meisten seiner Vorgänger und Zeitge-
hingewiesen, so etwa, als er in der Erinnerung über die nossen, die, wie etwa Bernard de Montfaucon, ihr
Betrachtung der Werke der Kunst (1759) den positiven »Werk entfernet von den Schätzen der alten Kunst zu-
Begriff der Nachahmung von dem negativen Begriff sammengetragen, und [...] mit fremden Augen, und
der Nachmachung abzugrenzen versuchte. Nach- nach Kupfern und Zeichnungen geurtheilet« hätten,
machung sei einfache Epigonalität, während Nach- was »große Vergehungen« verursacht habe (ebd.,
ahmung Kreativität erfordere (ebd., 151). Mit der Ge- XXII). Kunstwissen, so hingegen sein Plädoyer, bezie-
schichte der Kunst des Alterthums lässt er auch diese he man nicht aus Texten, sondern aus der direkten
Feindifferenzierung endgültig fallen. Der Verdacht, Anschauung der Kunstwerke selbst.
der bisher gegen den Begriff der Nachmachung for- Hervorgehoben werden muss, dass der hier be-
muliert worden war, wird nun gegen den Begriff der schriebene epistemologische Wandel von W. selbst an
Nachahmung selbst gerichtet. In der nunmehr dar- den eigenen Lebensweg zurückgebunden und so mit
gebotenen Periodisierung der griechischen Kunst ge- einer geradezu existenziellen Bedeutung aufgeladen
hört die Nachahmung eindeutig zur letzten, d. h. rö- wurde. Bevor er in Rom die Kunstwerke der Antike
mischen Periode der Kunst: der Epoche ihres Unter- mit eigenen Augen betrachten konnte, war W. in
gangs. Als Vertreter dieser letzten Verfallsepoche wer- Deutschland lange Zeit den traditionellen Weg eines
den die römischen Künstler genannt, die sich der aus einfachen Verhältnissen kommenden »Bücher-
Nachahmung der Etrusker und später der Griechen gelehrten« gegangen. Als Student in Halle (1738–
hemmungslos hingegeben hätten und deshalb als blo- 1740), als Hauslehrer in verschiedenen adligen Fami-
ße »ecclectici« (GK1, SN IV,1, 462) abgetan werden. lien (1740–1743) und als Konrektor der Schule von
Die Geschichte der Kunst des Alterthums schließt mit Seehausen (1743–1748) hatte er hartnäckig versucht,
dem malerisch anmutenden Bild einer Geliebten, die seinen Wissensdurst durch eine enzyklopädische Le-
230 III Werke

sewut zu stillen ‒ eine Leidenschaft, der er während nur in diejenigen, die dem gelehrten Modell der anti-
seiner Anstellung in Nöthnitz (1748–1754) erst recht quarischen Literatur verpflichtet waren – wie etwa die
nachgehen konnte. Die bei diesen verschiedenen Sta- Description des pierres gravées du feu Baron du Stosch
tionen erbeuteten Lesefrüchte hatte er ‒ einer alten ge- von 1760 oder die Monumenti antichi inediti von 1767
lehrten Tradition gemäß ‒ in zahlreichen Exzerpthef- –, sondern auch in die Geschichte der Kunst des Alter-
ten gesammelt, die bald zu einer stattlichen persönli- thums, wie man dem langen »Verzeichniß angeführter
chen, handgeschriebenen Bibliothek anwuchsen (Dé- Bücher« (GK1, SN IV,1, LXXXII-C) entnehmen kann,
cultot 2000, 9–78; Décultot 2004a, 11–52). Der das gleich im Anschluss an die Vorrede auftaucht.
regelmäßige Besuch der Dresdner Kunstsammlungen
ab 1754 und vor allem die Übersiedlung nach Rom am Die Kunst als Organismus
Ende des Jahres 1755 führten zu einer Veränderung, W.s Rückgriff auf so unterschiedliche, ja sogar anschei-
die W. gerne als Wendepunkt in seinem Leben stili- nend unvereinbare Kunstbegriffe und Methoden
sierte. »Ich habe erfahren«, schreibt er im Dezember könnte auf den ersten Blick für eine gedankliche Un-
1755 in Rom an seinen Freund Johann Michael stimmigkeit gehalten werden, entspricht aber – so eine
Francke, »daß man halbsehend von Alterthümern andere Lesart – der bewussten Absicht des Autors. Es
spricht aus Büchern, ohne selbst gesehen zu haben« liegt in der Tat nahe, anzunehmen, dass W. mit diesem
(Br. I, 191; vgl. auch ebd., 224, 227). Gegen das falsche, synkretistisch anmutenden Verfahren die Kohärenz
aus bloßer Büchergelehrsamkeit gewonnene Kunst- und Autonomie eines bestimmten Gebildes ver-
wissen wurde von nun an die wahre, auf unmittel- anschaulichen wollte, nämlich der Kunst. Dies wird be-
barem Kunsterlebnis beruhende Kunstkenntnis aus- sonders deutlich, wenn er in den Eingangszeilen der
gespielt. Die Gedanken über die Nachahmung bereute Vorrede zur Geschichte der Kunst seine Präsentation
er alsbald zu früh, d. h. vor den visuellen Offenbarun- der zweiteiligen Struktur des Werks exponiert ‒ »Lehr-
gen des römischen Aufenthalts, verfasst zu haben. gebäude« im ersten, »Geschichte« im zweiten Teil ‒,
»Man schreibe von nichts als man gesehen und gewiß und mit der entscheidenden Bemerkung schließt: »Das
weiß«, mahnt er in einem Brief aus Rom vom Jahre Wesen der Kunst aber ist in diesem sowohl als in jenem
1758 (ebd., 335). Nachdem er den Vatikanischen Cor- Theile der vornehmste Entzweck« (GK1, SN IV,1, XVI).
tile del Belvedere wiederholt aufgesucht hatte, be- Allerdings lässt W. die Frage letztlich unbeantwor-
schloss er, die dortigen Statuen ‒ u. a. den Apollo, den tet, was genau unter diesem synthetisierenden Kunst-
Laokoon und den Torso ‒ auf der Grundlage eigener Begriff zu verstehen ist. Vergeblich sucht man in sei-
visueller Erfahrung zu beschreiben. Bereits in dieser ner Schrift nach einer Definition der Kunst an sich,
Frühphase seines römischen Aufenthalts keimte das wie sie jenseits aller Unterschiede zwischen einzelnen
Projekt eines kunstgeschichtlichen Werkes, das die in Kunstformen (Poesie, Malerei, usw.) von Baumgarten
Italien gewonnenen empirischen Erkenntnisse zur bis Hegel im Laufe des 18. und 19. Jh. allmählich for-
antiken Kunst – darunter auch die Einsicht in das Pro- muliert wurde. Auch wenn im Titel eine historische
blem der Restaurierung und der daraus resultieren- Untersuchung zur »Kunst« im Allgemeinen angekün-
den Fehldeutungen – zusammenfassen sollte. digt wird, handelt die Geschichte der Kunst des Alther-
Allerdings deckt sich die von W. stilisierte Anti- tums doch eigentlich nur von Bildhauerei und Male-
nomie von Lesen und Sehen, Büchergelehrsamkeit rei. Auf die Architektur war W. in früheren Traktaten
und Kunsterlebnis nur zum Teil mit seiner realen Ar- zu sprechen gekommen, wie z. B. in den Anmerkungen
beitsweise (Décultot 2000, 33–56, 217–227; Décultot über die Baukunst der alten Tempel zu Girgenti von
2004a, 21–33, 134–139). Zwar erfuhr seine Wahrneh- 1759 oder in den Anmerkungen über die Baukunst der
mung von Kunstgegenständen mit der Übersiedlung Alten von 1762. Über die Poesie äußerte er sich zeit-
nach Rom einen tiefgreifenden Wandel. Seiner Praxis lebens nur am Rande. Dennoch markiert sein Werk
des gelehrten Lesens, Exzerpierens und Schreibens tat zweifelsohne eine wichtige Etappe für die Konstituie-
dies jedoch keinen Abbruch. Der antiquarischen Lite- rung der Kunst als einheitlich-autonomes Gebilde.
ratur entnahm er in Rom weiterhin eine gewaltige
Ausbeute an Informationen über antike Numismatik,
Struktur
Architektur, Glyptik usw., die er in seinen Exzerpthef-
ten sorgfältig speicherte. Diese Lesefrüchte flossen Zur Etablierung eines solchen Kunstbegriffs leistete
zum großen Teil in die während seines Italienaufent- die Geschichte der Kunst des Alterthums allein schon
halts entstandenen Publikationen ein, und zwar nicht durch ihren Aufbau einen substantiellen Beitrag. W.s
24 »Geschichte des Alterthums« und »Anmerkungen über die Geschichte« 231

Geschichte offenbart in ihrem Grundriss zwei gleich- Seine Wurzeln hat dieser Begriff in der Rhetorik. Tat-
zeitig waltende Konstruktionsprinzipien, aus deren sächlich steht der Terminus »Stil« bereits seit der An-
Zusammenspiel Anordnung und Dynamik des Textes tike in begrifflich engem Zusammenhang mit Poesie
unmittelbar hervorgehen: ein ethnographisches, das und Beredsamkeit. Innerhalb dieser rhetorischen
in der historischen Sukzession der antiken Völker Tradition wird er hauptsächlich in zweierlei Bedeu-
gründet, und ein formales, das sich an der zeitlichen tungen gebraucht, zunächst und vor allem als klassifi-
Abfolge einander ablösender Stile orientiert. Entspre- katorisches Konzept zur Sortierung und Hierarchi-
chend wird im ersten Teil, im Anschluss an eine all- sierung von Arten der Rede bzw. Stillagen (»genera
gemeine Einleitung (Kap. 1), das geschichtliche Pano- dicendi«). Unterschieden werden hiernach vor allem
rama der antiken Kunst in ihrer jeweils von Volk zu der »stilus gravis«, der »stilus mediocris« und der
Volk unterschiedlich vollzogenen Entwicklung entfal- »stilus humilis«. Ein solcher Stilbegriff findet sich et-
tet. Mit anderen Worten wird ihr geschichtlicher Ver- wa bei Quintilian, Cicero, Plinius dem Jüngeren oder
lauf nach ethnisch aufgegliederten Sektionen jeweils Servius (Müller 1998, 150; Himmelmann 1961). Da-
gesondert in den Blick genommen: Nach einer Über- neben finden sich bereits erste Verwendungen des
sicht über die Geschichte der Kunst bei den Ägyptern, Stilbegriffs zur Charakterisierung der individuellen
den Phöniziern und den Persern (Kap. 2) folgen die Eigenart eines Autors. In dieser ersten Bedeutung er-
Etrusker und ihre benachbarten Völker (Kap. 3), dann füllt der Stilbegriff zunächst also eine typologisieren-
die Griechen (Kap. 4) und schließlich die Römer de und normierende Funktion. Noch in der Antike,
(Kap. 5). Demgegenüber wird im zweiten Teil der Ge- spätestens aber zu Beginn der Renaissance erfährt der
schichte der Fokus ausschließlich und detailliert auf Terminus jedoch bereits eine Erweiterung hin zu ei-
das antike Griechenland gerichtet. Allgemein aber ner historischen Kategorie, mit der nunmehr ganze
gilt: Jede dieser nach Völkern gegliederten Einzel- Epochen charakterisiert und miteinander verglichen
betrachtungen ist intern noch einmal nach aufeinan- werden. Es wird fortan möglich, anhand des Stil-
derfolgenden Stilphasen (»älterer«, »großer«, »schö- begriffs einzelne Epochen hinsichtlich ihrer literari-
ner« etc. Stil) organisiert, deren Anzahl und Qualität schen Produktion in eine diachrone Abfolge zu brin-
je nach dem in den Blick genommenen Volk variieren. gen, mit anderen Worten die Dicht- und Redekunst
Ein Inhaltsverzeichnis an zentraler Stelle des Werks zu historisieren.
liefert eine Vorstellung davon, wie die beiden Ord- W. kennt diesen in der rhetorischen Tradition wur-
nungsprinzipien – das ethnographische und das stilis- zelnden doppelten Stilbegriff sehr genau. In der Ge-
tische – redaktionell ins Verhältnis gesetzt werden schichte der Kunst des Alterthums etwa nimmt er di-
(GK1, SN IV,1, XXXVI–LXXX). rekten Bezug auf das Lebensaltermodell von Julius
Diese Doppelstruktur folgt einer sorgsam durch- Caesar Scaliger, der in seinen Poetices libri septem fünf
dachten Logik. Ihr zugrunde liegt eine grundlegende (und nicht vier, wie er irrtümlicherweise anzunehmen
hermeneutische Entscheidung hinsichtlich dessen, scheint) Epochen innerhalb der Geschichte der latei-
wie sich Kunst zu Geschichte verhält und welchen nischen Poesie ausmacht (Kindheit, Jugend, Reife,
Gang sie darin nimmt. Die Kunst ist für W. zum einen Apotheose und Alter) (Scaliger 1994–2011, V, 42–47;
eminenter Ausdruck der Verfasstheit und Geschichte Häussler 1964; Ax 1996). »Die Kunst unter den Grie-
eines Volkes, also das Produkt einer spezifischen Ge- chen hat, wie ihre Dichtkunst, nach Scaligers An-
mengelage politischer, sozialer, kultureller, klima- geben, vier Hauptzeiten, und wir könnten deren fünf
tischer und anatomischer Faktoren, die – obgleich den setzen. Denn so wie eine jede Handlung und Begeben-
Kunstwerken sensu stricto äußerlich – dennoch einen heit fünf Theile und gleichsam Stufen hat, den Anfang,
direkten Einfluss auf selbige ausüben. Zum anderen den Fortgang, den Stand, die Abnahme und das Ende,
bleibt die Kunst auch innerhalb eines jeden Volkes worinn der Grund lieget von den fünf Auftritten oder
selbst noch einmal einem internen Entwicklungs- Handlungen in Theatralischen Stücken, ebenso ver-
gesetz unterworfen, das sie durch verschiedene Sta- hält es sich mit der Zeitfolge derselben« (GK1, SN IV,1,
dien – »Stile« genannt – führt. 428). In dieser zentralen Passage bezieht W. das Vier-
Phasen-Modell, auf welches er für die Geschichte der
Winckelmanns Stilbegriff griechischen Kunst zurückgreift, auf das Aktschema
Als W. mit der Arbeit an seiner Geschichte der Kunst des griechischen Theaters und verpflichtet somit seine
des Alterthums beginnt, blickt der Stilbegriff bereits Kunstgeschichte auf ein dramaturgisches, also poeti-
auf eine lange Geschichte zurück (Décultot 2016b). sches Modell. Hierdurch setzt er sich über die von
232 III Werke

Aristoteles in Kapitel  9 der Poetik vorgenommene ausklammern konnte, dem er jegliche Regelhaftigkeit
Leitunterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und daher jede Entwicklungslogik und Stilkom-
und Dichtung hinweg: Die bei Aristoteles noch strikt petenz absprach (Müller 1998, 670–671; Gombrich
aufrechterhaltene Grenze zwischen dem Hoheits- 1960). Zum eigentlichen Motor der Handlung inner-
gebiet des Historikers, welcher erzählen soll, was ge- halb des geschichtlichen Narrativs wird der Stil aber
schehen ist, und jenem des Dichters, welcher erzählen erst bei W.
soll, wie es hätte geschehen können (Poetik, 1451b), Das Bemerkenswerte an seinem geschichtlichen
wird für porös erklärt. Zwischen beiden Bereichen Panorama ist, dass trotz der zum Teil erheblichen po-
wird eine Gemeinsamkeit postuliert, deren Grundlage litischen, klimatischen, kulturellen und ethnischen
im Erzählen besteht. Bewusst beansprucht hiermit W. Unterschiede, die untereinander herrschen mögen, al-
für seine Kunstgeschichte eine Sonderposition unter le antiken Völker ‒ die Ägypter, die Perser, die Etrus-
den historiographischen Genres. Was die historisie- ker, ganz zu schweigen von den Griechen ‒ eine stilis-
rende Rede gerade über die Kunst von allen anderen tische Entwicklung durchmachen. Je nach Volk kann
historischen Diskursen unterscheidet und heraus- zwar die Stil-Abfolge in ihrer Gestaltung sehr unter-
hebt, besteht in ihrer erzählerischen und damit auch schiedlich sein. So kenne die griechische Kunst vier
poetischen Dimension. Stilphasen: erstens den »älteren« Stil der Anfänge mit
Vor diesem Hintergrund erscheint W. geradezu als seinen imposanten, aber groben Linien; zweitens den
eminenter Vertreter dessen, was Jörn Rüsen eine »Äs- »großen« oder »hohen« Stil, der in den Skulpturen des
thetisierung« der Geschichte genannt hat, bzw. was Phidias kulminiere; drittens den »schönen« Stil, an-
man im Falle der Geschichte der Kunst des Alterthums mutig und gefällig, der von Praxiteles bis zu Lysipp
und in kritischer Anverwandlung des Aristotelischen und Apelles reiche und mit einer politischen, in der
Poetikbegriffs vielleicht treffender eine Poetisierung Perikleischen Demokratie wurzelnden Blütezeit zu-
der historischen Erzählung nennen sollte (Rüsen sammenfalle; viertens schließlich, beginnend mit dem
1997; Locher 2001, 50–51 132–147; Lepenies 1984; Tod Alexanders, den »Stil der Nachahmer« und den
Lepenies 1986; Lepenies 1988; Miller 1986). Ein zen- damit einhergehenden Niedergang der Kunst, dessen
trales Merkmal dieser Poetisierung liegt in der Über- Tiefpunkt im Römischen Reich erreicht sei (GK1, SN
zeugung, dass der kunstgeschichtliche Text direkt an IV,1, 428–478). Die etruskische Kunst zähle ihrerseits
der künstlerischen Dimension seines Objekts partizi- drei Phasen – ausgehend von den »einfältige[n] Ge-
piert, mit anderen Worten, selbst eine Vollzugsform staltungen ihrer ersten Zeiten« hin zum »Flor ihrer
von Kunst ist – ein künstlerischer Akt, den der Kunst- Kunst« und schließlich der »Nachahmung Griechi-
historiker mit seinen eigenen Mitteln, also als textu- scher Werke« (ebd., 166). Zuvor hätten die Ägypter
elles Phänomen realisieren muss: durch Arbeit an nur zwei eigene Stile durchlaufen, den »älteren« und
der Sprache. Der kunsthistorische Diskurs und die den »folgenden« bzw. »späteren« Stil. Während die
Kunstgegenstände, über die er geführt wird, gehor- erste ägyptische Stil-Epoche durch steife Linien und
chen damit ein und demselben Gesetz der Schönheit. schiefe Proportionen gekennzeichnet sei, steche die
In dieser Auffassung der Kunstgeschichtsschreibung zweite gegenüber ersterer durch etwas geschicktere
kommt dem Stil eine doppelte Funktion zu. Er dient Züge in der Repräsentation bestimmter Körperteile,
zunächst als taxonomische Kategorie, die die Klassifi- etwa der Hände, hervor – ein Fortschritt, den W. auf
zierung künstlerischer Erzeugnisse in einem breit an- Kontakte zu persischen und vor allem zu griechischen
gelegten historischen Rahmen ermöglicht. Parallel Künstlern zurückführt (ebd., 62–64, 82). Durch den
dazu avanciert er aber auch zum Träger, Hauptakteur Rückgriff auf die Stil-Abfolge wird die Kunst somit zu
und zur treibenden Kraft der Geschichte. Durch die einem geschlossenen, in sich beweglichen Ganzen er-
mannigfachen Veränderungen, die die Stilphasen im hoben, dem ein eigenes autonomes Entwicklungs-
Laufe der Zeit erfahren, wird der Stil zum Katalysator prinzip innewohnt.
der Handlung.
Natürlich ist W. nicht der erste, der den Stilbegriff Vom Stil in der Kunst zum Stil in der
aus seiner Verankerung in der Dicht- und Redekunst Völkergeschichte
auf die visuellen Künste überträgt. Den Weg dazu hat- Entscheidend dabei ist, dass der so begriffene Stil
te Vasari mit seiner Unterscheidung von drei großen nicht nur (kunst)historische Zeiträume taxonomisch
Stilepochen bereitet, die er mit den Anfängen der Re- erfasst, sondern auch die genetischen Stadien einzel-
naissance beginnen ließ – womit er das Mittelalter ner Völker historiographisch klassifiziert, genauer ge-
24 »Geschichte des Alterthums« und »Anmerkungen über die Geschichte« 233

sagt, sie hinsichtlich ihrer historischen »Schönheit« Einheit in der Mannigfaltigkeit gekennzeichnet ist
typologisiert (Décultot 2016b). Anders formuliert, je- (ebd., 250).
des Volk blickt nicht nur auf eine Abfolge verschiede- Dabei ist hervorzuheben, dass das vierstufige
ner Stile im Verlauf seiner geschichtlichen Kunstent- Schema, das die Matrix für die Darstellung der »schö-
wicklung zurück. Indem es diese aufeinanderfolgen- nen« griechischen Stilgeschichte abgibt, dem Kon-
den Stilperioden durchläuft, trägt es selbst Merkmale struktionsprinzip der gesamten Geschichte der Kunst
eines mehr oder weniger vollkommenen »Geschichts- des Alterthums zugrunde liegt. Denn genauso wie das
stils« oder »Entwicklungsstils«. Demnach gibt es anti- historische Vier-Phasen-Modell der griechischen
ke Völker, deren Geschichtsverlauf nur eine begrenzte Kunst – von ihren archaischen Ursprüngen über die
Anzahl von einander übergangslos ablösenden Stil- Zeit der Größe und der Schönheit bis zum Nieder-
phasen aufweist. Die Ägypter etwa, bei denen W., wie gang der Nachahmungsphase – weist auch das ge-
bereits erwähnt, nur zwei eigene, obendrein betont schichtliche Panorama der antiken Zivilisationen ein
unverbunden nebeneinander gestellte Stilperioden vierteiliges Schema auf, ausgehend von den Ägyp-
identifiziert (GK1, SN IV,1, 62–64; 82). Völkern, die tern, Phöniziern und Persern (Kap. 2) über die Etrus-
auf eine vergleichsweise monotone wie sprunghafte ker und ihre Nachbarvölker (Kap. 3) sowie die Grie-
Verlaufscharakteristik ihrer Stilgeschichte zurück- chen (Kap. 4) bis zu den Römern (Kap. 5). Beide Ent-
schauen, bleibt nicht nur der Gipfel künstlerischer wicklungskurven korrespondieren auf bemerkens-
Perfektion, sondern auch der Zugang zu einer »schö- werte Weise miteinander: Sie erreichen ihren Gipfel
nen« Geschichte verwehrt (ebd., 110). Dieser abrupte in der dritten und ihren Abstieg in der vierten Phase.
Entwicklungsmodus ist mitnichten alleiniges Merk- Von den Ägyptern, Phöniziern und Persern des ers-
mal des ägyptischen »Geschichtsstils«. W. sieht ihn ten Zivilisationsstadiums, mit ihren noch ungeschlif-
ebenso in der modernen Kunst am Zuge, wo er – wie fenen politischen, sozialen und künstlerischen For-
schon in der Antike – ein in seinen Augen sicheres In- men, gelangt man in W.s Modell zur nächst höheren
diz ihrer Unvollkommenheit liefert. So sei die Ge- Stufe der Etrusker, deren Kultur zwar weiter ent-
schichte der Malerei und Bildhauerei seit der Renais- wickelt, aber noch unvollkommen ist, bis schließlich
sance vom jähen Auftauchen zweier Lichtgestalten, mit den Griechen der unübertroffene Höhepunkt der
Michelangelo und Raffael, und einem ebenso un- ethnohistorischen Entwicklung der antiken Völker
erwarteten Verfall geprägt, der sich unmittelbar daran erreicht und von einer Abwärtsbewegung unter den
anschließe (ebd., 478). Römern wieder abgelöst wird. Das Schema der »schö-
In diesem Stilschema, das zugleich eine zivilisatori- nen«, graduellen Sukzession der Stile wird also auch
sche Rangordnung darstellt, siedeln sich die Griechen in der Abfolge der Zivilisationen reproduziert, die,
hinsichtlich ihrer Stilgeschichte bzw. ihres »Ge- analog zu den Kunstwerken, sich mehr oder weniger
schichtsstils« im Vergleich mit Ägyptern und Moder- von einem Höhepunkt entfernen. Demnach gibt es
nen am genau entgegengesetzten Ende der Skala an. archaische Völker, wie etwa die Ägypter, die von der
Von allen antiken Völkern weisen sie nicht nur die zivilisatorischen Perfektion, wie sie die Griechen ver-
meisten Stilperioden auf. Auch verlaufe im antiken körpern, noch weit entfernt liegen, und es gibt wiede-
Griechenland die Ablösung der Phasen untereinander rum solche, wie die Etrusker, die ihr schon nahe kom-
so harmonisch wie nirgendwo sonst. Mit Nachdruck men. Stil- und Völkergeschichte sind also sowohl auf
verweist W. auf den Umstand, dass die griechische der Ebene der historischen Fakten als auch auf derje-
Kunst ihre Entwicklungsstadien »stuffenweise« nigen der historiographischen Narration untrennbar
durchlaufen habe, ganz so, wie auch ein lebender Or- miteinander verbunden.
ganismus die Phasen des Lebens zwischen Kindheit Hierin offenbart sich die Funktion, die W. der Ge-
und Alter durchläuft (ebd., 4, 438). Von allen antiken schichtsschreibung zuweist. Aufgabe des Geschichts-
Zivilisationen können die Griechen die elaborierteste, schreibers ist es, die unterschiedliche graduelle Pro-
da feinstufigste Stilabfolge vorweisen. Dabei liefert die gression der Völker und ihrer Stilphasen mit Hilfe der
Vielfalt ihrer künstlerischen Hervorbringungen durch formalen Parameter seiner historischen Erzählung
die Zeit, ausdifferenziert und doch wie durch ein ge- freizulegen oder, besser gesagt, überhaupt erst herzu-
heimes Band zusammengehalten, genau jene Materie, stellen. Der erzählerische, poetische Einsatz im Akt
die es für eine »schöne« Geschichte braucht – eine Ge- der Geschichtsschreibung erfüllt in diesem Zusam-
schichte, und hierin bleibt W. ganz einem neoplato- menhang eine elementare Funktion: Erst mit ihm und
nischen Schönheitsverständnis verhaftet, die durch insbesondere mit der damit verbundenen narratologi-
234 III Werke

schen Entscheidung über die Anordnung des Textes Dabei fällt auf, dass nicht eine einzige der be-
soll sich dem Leser nichts weniger als der Gang der rühmtesten Skulpturen des antiquarischen Kanons,
Geschichte erschließen. die W. im Text beschreibt – Laokoon, Apollo, Torso
von Belvedere usw. – durch einen Stich abgebildet ist.
Erzählung und Erfindung Diese Bildenthaltsamkeit hatte sicherlich auch öko-
Schlüssel des W.schen Geschichtsmodells ist also die nomische Gründe, war die bildliche Reproduktion
Erzählung, eine narrative Strategie, die W. ‒ über den von Kunstwerken doch in der Regel mit hohen Kos-
Weg der Kunstbeschreibung ‒ auch konsequent als Er- ten verbunden (Br. II, 40). Dennoch ist dieser maß-
satz für die bildliche Reproduktion von Kunstwerken volle Umgang mit Stichen bei W. nur zum Teil als ein
verfolgt. Hatte Montfaucon in seiner Antiquité expli- Zugeständnis an den finanziellen Rahmen zu sehen,
quée et représentée en figures mehrere tausend Stiche der ihm von externen Akteuren ‒ wie etwa dem Ver-
veröffentlicht und aus ihnen das Herzstück seines leger Georg Conrad Walther ‒ auferlegt worden war.
Werks gemacht (Montfaucon 1719), so geht W. mit Il- Der mäßige Rückgriff auf Abbildungen ist vor allem
lustrationen deutlich sparsamer um. In seiner Ge- eine Entscheidung von epistemologischer Tragweite,
schichte der Kunst des Alterthums sind nur 24 Stiche zu die W. übrigens schon in einer früheren Schrift, der
sehen (GK1, SN IV,1, CIV–CX; SN IV,3, 51–52; 57– bilderlosen Description des pierres gravées du feu Ba-
63), die in Form von Vignetten das Titelblatt sowie die ron de Stosch, angedeutet hatte: Nicht durch das Bild,
ersten oder letzten Seiten der wichtigsten Kapitel des sondern in erster Linie durch die literarische Arbeit
Buches schmücken (Abb. 24.2). am Text – durch Kunstbeschreibung also – soll das
Kunstwerk der Einbildungskraft des Lesers präsent
gemacht werden (SN VII,1, 8; Décultot 2012, 184–
186). Dabei geht W.s textliche Beschreibung an man-
chen Stellen sogar über die Grenzen des Kunstwerks
in seiner historischen Gegebenheit hinaus. Als Para-
debeispiel dafür kann der verstümmelte Torso von
Belvedere gelten, aus dem W. einen Herkules mit un-
versehrten Armen und Beinen macht, dessen Hel-
dentaten durch einen poetisch ausgefeilten, bildlich
eindrucksvollen Beschreibungstext evoziert werden
(GK1, SN IV,1, 714–720).
Trotz aller Berufung auf Empirizität und Autopsie
bleibt W. somit von einem bloßen Positivismus weit
entfernt. Empfindung, Einbildungskraft, literarische
bzw. poetische Bearbeitung sieht er als integrale Be-
standteile der Arbeit des Historikers. Wissenschafts-
theoretisch findet diese Auffassung ihren stärksten
Ausdruck in seinem Interesse für den Status der
Konjektur in historiografischen Texten (Décultot
2016a, 116–118). In der Vorrede zur Geschichte der
Kunst des Alterthums tritt er offen für ein Modell der
Geschichtsschreibung ein, das »Muthmaßungen« als
»unentbehrlich[e]« Operationen der antiquarischen
Arbeit anerkennt (GK1, SN IV,1, XXXII). Als His-
toriker nimmt er sich dementsprechend das Recht,
die gelegentlichen Lücken der Primärquellen durch
Konjekturen aufzufüllen, um die Leerstellen der
Abb. 24.2 Vignette Nr. 6, S. 3. Zeichner unbekannt [Giovanni historischen Befunde zu überbrücken und damit
Battista Casanova (1730–1795)?]; Stecher: Michael Keyl eine zusammenhängende Erzählung aufbauen zu
(1722–1798). können.
24 »Geschichte des Alterthums« und »Anmerkungen über die Geschichte« 235

Die breite Resonanz der Geschichte der Kunst des


Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der
Alterthums erklärt sich zunächst durch die darin ver-
»Geschichte der Kunst des Alterthums«
tretene Kernthese eines unübertroffenen Vorrangs der
Die Rezeptionsgeschichte der Geschichte der Kunst des griechischen Kunst. Für ein Publikum, das sich seit
Alterthums entbehrt nicht einer gewissen Ambiva- der ersten Hälfte des 18. Jh. in ganz Europa immer
lenz: Das Werk, das schon früh als bahnbrechende stärker an der ‒ insbesondere griechischen ‒ Antike
Untersuchung zur Geschichte der griechischen Kunst orientierte, leistete W.s Schrift wertvolle Schützenhil-
gefeiert wurde, stieß auch – und manchmal sogar bei fe. Doch auch ihre Form trug nicht unerheblich zu
seinen Bewunderern – auf scharfe Kritik. dieser Aufnahme bei. Mit ihrem synthetischen und
doch informationsreichen Überblick im handlichen
Eine europaweite Resonanz Quartformat eröffnete die Geschichte der Kunst des Al-
Gleich nach ihrer Publikation wurde die Geschichte terthums dem gebildeten Leser im letzten Drittel des
der Kunst des Alterthums mit großem Interesse auf- 18. Jh. einen Bereich, der bis dahin allein dem engen
genommen, wie all die zahlreichen Rezensionen, Kreis gelehrter Antiquare vorbehalten war. W. konnte
Kommentare oder Erwähnungen jeglicher Art im auf 431 Seiten liefern, wofür Montfaucon ca. fünfzig
deutschsprachigen Raum ab 1764 beweisen (Hatfield Jahre zuvor noch 10 Foliobände benötigt hatte (Mont-
1943; Uhlig 1988). Dieser Widerhall blieb nicht auf faucon 1719). Damit trug er jener Verbindung von
Deutschland beschränkt, sondern erstreckte sich auf Eleganz und Gelehrsamkeit Rechnung, wie sie von
die europäischen Nachbarländer, und ganz besonders d’Alembert und Jaucourt in der Encyclopédie eingefor-
auf Frankreich und Italien. Zu den frühen französi- dert worden war (Le Rond D’Alembert 1755, 916; Jau-
schen Bewunderern von W.s Geschichtswerk zählen court 1765, 409).
u. a. Denis Diderot, Claude-Henri Watelet und der
Chevalier de Jaucourt. Es hatte aber auch scharfe Wi- Eine politische Rezeption
dersacher wie den Bildhauer und Kunsttheoretiker Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die Geschichte der
Étienne-Maurice Falconet (Décultot 2000, 285–292; Kunst des Alterthums auch als politisches Werk, und
Décultot 2004a, 166–170; Hartog 1995; Haskell 1991). dies bis in das 20. Jh. hinein (Sünderhauf 2004). Diese
W. selbst war zeit seines Lebens um die Verbreitung politische Lesart prägte ganz besonders die französi-
seiner Schrift in Frankreich bemüht und konnte dabei sche W.-Rezeption des ausgehenden 18. Jh. Ab 1789
auf die Unterstützung von Pariser Freunden wie etwa berufen sich zahlreiche Akteure der französischen
des deutsch-französischen Vermittlers Johann Georg Kunstpolitik auf W., um die Verbundenheit, ja die We-
Wille zählen (Décultot u. a. 1999a, 54–56). Zwischen sensverwandtschaft von Kunst und politischer Frei-
1766 und 1794 erschienen nicht weniger als drei ver- heit aufzuzeigen und damit die Vorteile der neuen po-
schiedene französische Übersetzungen der Geschich- litischen Ordnung für die künstlerische Produktion
te, die einen entscheidenden Beitrag zu ihrer europäi- darzulegen (Pommier 2003, 199–244; Baeumer 1986;
schen Verbreitung lieferten und oft für weitere Über- Pommier 1989; Pommier 1991a, 324–334; Décultot
setzungen in Europa benutzt wurden (Winckelmann 2013a). Diese politische Lesart hatte sich eigentlich
1766; Winckelmann 1781; Winckelmann 1794–1803). schon Jahrzehnte zuvor angebahnt, wie Diderots W.-
Eine vierte Übersetzung wurde um 1768 begonnen, Porträt aus dem Salon von 1765 zeigt (Diderot 1968,
blieb aber ein Torso (Ferrari 2011, 15–54; Baumgart- 611; Diderot 1960, 205–207). Grundlage für die Her-
ner 2004; Stoll 1960, 88–96). Vor 1790 erschienen vorhebung der politischen Freiheit als wichtiger Para-
noch zwei italienische, von Carlo Amoretti und Carlo meter der Kunstgeschichte, ja als eigentliche Ursache
Fea angefertigte Übersetzungen (Winckelmann 1779; einer jeden Kunstblüte war eine Passage aus der Ge-
Winckelmann 1783–1784; Ferrari 2002). Das komple- schichte der Kunst des Alterthums im Kapitel »Von der
xe Verhältnis zwischen der deutschen Vorlage, den Kunst unter den Griechen«: »In Absicht der Verfas-
französisch- oder italienischsprachigen Fassungen sung und Regierung von Griechenland ist die Freyheit
und den kritischen Anmerkungen von zeitgenössi- die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst.«
schen oder nachfolgenden Altertumswissenschaftlern (GK1, SN IV,1, 218). In W.s Panorama der Kunstent-
wie Christian Gottlob Heyne oder Ennio Quirino Vis- wicklung bei den Alten fällt in der Tat der Höhepunkt
conti bietet heute ein fruchtbares Feld für die Unter- der griechischen Kunst mit der Zeit der Perikleischen
suchung der Geschichte des europäischen Wissens- Demokratie zusammen. Nach diesem Höhepunkt,
transfers. dessen Glanz bis zum Ende der Herrschaft Alexanders
236 III Werke

des Großen zu spüren gewesen sei, musste, so W., »die 2004b; Grell 1995, I, 135–136, 180–182; Pomian 2000,
Kunst, welche von der Freyheit gleichsam das Leben 30–31). W.s historiographisches Unterfangen, das an-
erhalten, [...] also nothwendig durch den Verlust der- hand eines breit angelegten Narrativs auf die Produk-
selben, an dem Orte, wo dieselbe vornehmlich geblü- tion eines vollständigen, lückenlosen Tableaus der
het, sinken und fallen.« (ebd., 690). Die Römer ver- antiken Kunstgeschichte ziele, verfehle damit die we-
suchten sie zwar wiederzubeleben, aber selbst Kaiser senhafte Unvollständigkeit des Wissens über die Anti-
Hadrian habe trotz ausgezeichneter Bildung den Ver- ke. Schon an den strukturellen Unterschieden, die die
fall nicht verhindern können: »Der Geist der Freyheit Hauptwerke beider Autoren voneinander trennen –
war aus der Welt gewichen« (ebd., 802) – und damit auf der einen Seite eine vollständige »Geschichte« der
war das Kunstschöne unwiederbringlich dahin. Der antiken Kunst, auf der anderen die unsystematische,
Bezug auf W. ist im revolutionären Diskurs über die kumulative Form der Sammlung (»Recueil«) –, lässt
Kunst von besonderer strategischer Bedeutung, liefert sich eine epistemologische Divergenz erkennen, die
er doch eine ideale Grundlage, um eine Analogie zwi- die damals einsetzende Loslösung der Kunstgeschich-
schen dem revolutionären Frankreich und dem klassi- te von der antiquarischen Wissenschaft modellhaft
schen Griechenland unter dem Zeichen der Freiheit widerspiegelt.
herzustellen. Paris, das Vaterland der Freiheit, avan- Die von Caylus früh geäußerten Einwände waren
ciert so zum neuen Athen. Dass W.s Freiheitsbegriff bald in zahlreichen gelehrten Kreisen hörbar. In
ein streng politischer ist, der – gemäß einem weit ver- Deutschland wurde die Geschichte der Kunst des Alter-
breiteten Verständnis unter französischen W.-Lesern thums zwar regelmäßig als Gründungsdokument der
und -Verehrern zur Zeit der Revolution – seinen vor- Kunstgeschichte und Archäologie angeführt, jedoch
nehmlichsten Ausdruck in den Institutionen der selten ohne den obligaten Hinweis auf ihre, so die weit
altgriechischen Demokratie oder der französischen verbreitete Wahrnehmung, zutiefst unhistorische Di-
Republik fände, darf allerdings bezweifelt werden. mension (Seeba 1982; Seeba 1986). Das Werk gebe von
»[A]uch neben dem Throne der Könige« habe die der antiken Kunst mehr ein ideales als ein wirklich his-
Freiheit in Griechenland ihren »Sitz« gehabt, betont torisches Bild, tadelt Heyne in der Kasseler Lobschrift
der Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums auf Winkelmann von 1778. Es sei »voller Fehler wider
(ebd., 218; Décultot 2000, 151–159, 175–189; Décultot die Zeitrechnung, die Geschichtsfolge und den wahren
2004a, 95–99, 106–112). Die Freiheit der Griechen be- Verlauf der Geschichte« (Schulz 1963, 24–25; Heyne
sitzt bei W. somit eine naturgegebene, anthropolo- 1778–1779, I, 165–166). W. habe zwar Sinn für das Sys-
gisch-ethnographische Dimension, die von jeglicher tem, aber ihm fehle, setzt Friedrich August Wolf im
Regierungsform unabhängig ist. Jahre 1805 nach, »jenes gemeinere Talent« zum »Blick
auf die Geschichte«, jene »seltene Mischung von Geis-
Zur kontroversen Rezeption einer »unhistorischen« tes-Kälte und kleinlicher, unruhiger Sorge um hundert
Geschichte an sich geringfügige Dinge« (Wolf 1988, 397). In Nietz-
Wie bereits angedeutet, fanden sich unter den zahlrei- sches Augen schließlich waren W.s Griechen »über alle
chen Rezipienten des Werks durchaus auch kritische Maaßen historisch falsch« – dafür aber höchst »mo-
Stimmen, ein Phänomen, das sich bei der Aufnahme dern, wahr« (Nietzsche 1988, 140).
des gesamten Œuvres beobachten lässt. W. wurde Am weitesten hatte zweifellos Herder die Analyse
schon im ausgehenden 18. Jh. zugleich kanonisiert der widersprüchlichen Beziehung von Lehrgebäude
und als überholt kritisiert. und Geschichte bei W. getrieben (Berger 1903; Hat-
Vorbehalte wurden zunächst gegen die mangelnde field 1943, 87–98; Décultot 2013b). Die Vorstellung,
wissenschaftliche Stringenz der Geschichte und damit die geschichtliche Erzählung unter einem systemati-
auch gegen ihre epistemologische Verortung geäußert. schen Blickwinkel zu erfassen, also Philosophie und
Ein frühes Beispiel einer solchen Kritik lieferte der Geschichte zu vereinigen, missfiel ihm zwar keines-
Comte de Caylus, dessen Recueil d’antiquités zwischen wegs. Der ideale Historiker habe für ihn ein »pragma-
1752 und 1767 erschienen war (Caylus 1752–1767; tischer Systematikus« zu sein (Herder 1993, 12). In
Rocheblave 1889; Rees 2007). Aus Sicht des französi- dieser Paarung von Geschichte und Philosophie ste-
schen Antiquars verlässt der Autor der Geschichte der cke aber eine Schwierigkeit, die W. nicht ganz über-
Kunst des Alterthums vorschnell den Bereich der Em- wunden habe. Seine Kunstlehre tue der Geschichte
pirie, um allgemeine Thesen zur Entwicklung der Gewalt an und drohe sie zu ruinieren. In Herders Au-
Kunst aufzustellen (Nisard 1877, I, 410, 415; Décultot gen ist W. zu sehr Systematiker und zu wenig Pragma-
24 »Geschichte des Alterthums« und »Anmerkungen über die Geschichte« 237

tiker, seine Geschichte zu sehr »Lehrgebäude« und zu Ein solches Kulturmodell traf bei weitem nicht
wenig »Geschichte«. Ja, sie sei »willkürlich und unhis- überall auf Zustimmung. Anders als bei W. vertrat
torisch«, so das Fazit des Älteren kritischen Wäldchens Caylus etwa die Ansicht, dass die einzelnen antiken
(ebd., 13–14, 25). Völker ihre Energie nicht allein aus sich selbst bezogen
Solche Einschätzungen sind in der wissenschaftli- hätten, sondern vielmehr erst aus ihrer wechselseitigen
chen Literatur zur Geschichte der Geschichtsschrei- Durchdringung. Zwar bleibt auch in Caylus’ Recueil
bung nicht wirkungslos geblieben. In vielen Unter- d’antiquités die externe Struktur von ethnischen Un-
suchungen zur Entstehung und Entwicklung der His- terteilungen bestimmt. Dennoch werden vom ersten
toriographie seit der Aufklärung wird W. als Histori- Band des Recueil an die ethnischen Grenzen zwischen
ker eine eher beschränkte Rolle zugewiesen (Muhlack Ägyptern, Griechen, Etruskern, Römern usw. durch
1991, 250–254). Von Friedrich Meinecke wird er aus rege Wechselbeziehungen unterlaufen. Mehr noch:
der Ahnenreihe des Historismus und damit des his- Erst diese gegenseitige Beeinflussung liefert für Caylus
torischen Denkens selber ausgeschlossen, weil er zu den Nährboden, auf dem so etwas wie Kunst entstehen
sehr Theorie und Geschichte vermische und die Lehre kann (Décultot 2000, 168–173; Décultot 2004a, 103–
des Schönen mit der historischen Darstellung der 105). Aus diesen Austauschbeziehungen zieht er denn
Kunstentwicklung verwechselt habe (Meinecke 1959, auch eine völlig andere Schlussfolgerung hinsichtlich
295–302). In Friedrich Jägers und Jörn Rüsens, Rein- der Bewertung der kunstproduzierenden Völker. Zwar
hart Kosellecks oder Lutz Raphaels Arbeiten zur Ge- treffen W. und er sich in ihrer gemeinsamen Bewun-
schichtsschreibung wird er nicht oder nur am Rande derung für die Griechen. Doch verdanken jene Grie-
erwähnt (Koselleck 1979; Koselleck u. a. 1972–1992; chen aus Sicht des Franzosen ihre Überlegenheit in der
Jaeger, Rüsen 1992; Rüsen 1976; Raphael 2006). Kunst eben nicht nur eigenen Anstrengungen, son-
dern auch und vor allem der Mitwirkung der Ägypter,
Wie entsteht Kunst? Caylus und Herder als Leser die den Grundstein für die griechische Kunst damit
Winckelmanns überhaupt erst gelegt hätten. Nur »die Liebe zum
Neben dieser Divergenz in der Einschätzung von W.s Ruhm« (»l’ amour de la gloire«) habe die Griechen da-
Leistung als Historiker zeichnet sich allerdings ein zu verleitet, dieses Fremdverdienst zu vergessen (Cay-
noch tieferer Gegensatz in der Rezeption seines Ge- lus 1752–1767, I, 117–118). Anders also als es das
schichtswerks ab. Es geht um die Frage nach der zutref- Griechenbild W.s nahelegt, sind die Griechen bei Cay-
fenden Interpretation der griechischen Geschichte lus für lange Zeit nur talentierte Nachahmer – ein We-
und, allgemeiner noch, nach der Entstehung einzelner senszug übrigens, der allen antiken Völkern gemein
Kulturen. In seinem historischen Abriss der antiken sei: Ägypter, Griechen, Etrusker oder Phönizier seien
Völker sieht W. insbesondere die Griechen mit einer Ei- ursprünglich durch ein kontinuierliches Geben und
genschaft ausgestattet, die nicht zuletzt auch ihren Aus- Nehmen eng miteinander verbunden.
nahmestatus auf dem Gebiet der Kunst erklären soll: ih- Zwischen W.s ethnografischem, auf die Autonomie
rer Autarkie. Folgt man W.s Vorstellung, so haben die der antiken Völker aufbauendem Modell und jenem
Griechen ihre Kunst also aus sich selbst hervorgebracht: des französischen Antiquars, welches auf Austausch
»Bey den Griechen hat die Kunst, ob gleich viel später, und gegenseitige Beeinflussung setzt, herrscht eine
als in den Morgenländern, mit einer Einfalt ihren An- tiefe Kluft, die auch den zeitgenössischen Lesern, allen
fang genommen, daß sie, aus dem was sie selbst berich- voran Herder, nicht verborgen blieb. »[D]as Anden-
ten, von keinem andern Volke den ersten Saamen zu ih- ken an einen fremden Anfang, an die ersten von an-
rer Kunst geholet, sondern die ersten Erfinder scheinen dern entlehnten Begriffe« sei den Griechen schier un-
können.« (GK1, SN IV,1, 8). Diese Autonomie sei es, die erträglich, notiert Herder bereits 1767 in einem Kom-
ihre Überlegenheit vor allen anderen garantiere – eine mentar zur Geschichte der Kunst des Alterthums, den
Vormachtstellung indes, die in dem Moment Einbußen er in seinem Älteren kritischen Wäldchen entfaltet
erfahren und einen Niedergang ihrer Kunst eingeläutet (Herder 1993, 31). Nun habe W. in seiner historischen
habe, da sie sich mit anderen Kulturen zu mischen be- Darstellung der griechischen Kunst den Fehler began-
gannen. Anders ausgedrückt, kulturelle Vermischung gen, moniert Herder, den Standpunkt der Griechen
ist in W.s Lesart der Kunstgeschichte ein Faktor von De- einfach zu übernehmen, sich von ihrer »Original-
kadenz. Dieses auf Autarkie setzende kulturelle Ent- sucht« geradewegs anstecken zu lassen (ebd., 40). Ge-
wicklungsmodell gilt analog auch für die nicht griechi- gen W. tritt in diesem Punkt Herder entschieden für
schen Kulturen (ebd., 126). Caylus ein, dessen Verdienst es sei, eben jener »Origi-
238 III Werke

nalsucht« widerstanden und eine aus seiner Sicht zu- revidierte Fassung der Geschichte direkt in französi-
treffende Darstellung der Geschichte der antiken scher Sprache zu publizieren, also in Übersetzung jene
Kunst geleistet zu haben. ersehnte Neuauflage erscheinen zu lassen, die Walther
ihm verwehrte. Doch am Ende zerschlugen sich seine
Pläne. Es blieb ihm also nur noch, seine addenda in ei-
Von der »Geschichte der Kunst des Altertums«
nem separaten Band herauszubringen ‒ den Anmer-
(1764, 1776) bis zu den »Anmerkungen über die
kungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums,
Geschichte der Kunst des Alterthums« (1767) –
die 1767 im Dresdner Verlag erschienen. Durch die
Textgenese und -überlieferung
Publikation nur bedingt zufrieden gestellt, setzte W.
Die erste Auflage der Geschichte der Kunst des Alter- seine Arbeit an einer verbesserten Ausgabe der Ge-
thums erschien Ende 1763 (laut Titelblatt erst 1764) schichte der Kunst unbeirrt fort, für die er immer wei-
bei Walther in Dresden. Im selben Verlag erschienen tere Materialien sammelte. Ein guter Teil der in den
1767 die Anmerkungen zur Geschichte der Kunst des Anmerkungen gesammelten Informationen ging in die
Alterthums, die den Haupttext von 1764 ergänzten. zweite, posthume Ausgabe der Geschichte der Kunst
1776 schließlich wurde in Wien posthum eine zweite des Alterthums über, die 1776 in Wien erschien und
und stark vermehrte Ausgabe der Geschichte der Kunst deren komplexe Editionsgeschichte noch nicht ganz
des Alterthums veröffentlicht, die von der Kaiserlichen erschlossen ist.
Königlichen Akademie der bildenden Künste betreut Die Fassung von 1776 nimmt, soviel steht fest, ent-
und vom Kunsthistoriker Friedrich Justus Riedel weder wortgetreu oder in variierter Form jene von
(1742–1785) besorgt wurde. 1764 wieder auf und erweitert sie um viele Passagen,
Diese Editionsgeschichte ist das Ergebnis eines was den deutlich größeren Umfang der zweiten gegen-
Prozesses, der wertvolle Einblicke in W.s Schreib- und über der ersten erklärt. Die philologischen Grund-
Arbeitsmethode gewährt (Stoll 1960, 48–75). Kaum lagen der zweiten Edition von 1776, für die – wie für
hatte W. im Winter 1761/62 das »fertige« Manuskript die erste von 1764 auch – keine Handschrift vorliegt,
der Geschichte der Kunst des Alterthums an Walther sind noch relativ unklar: Wer die Ergänzungen und
abgeschickt, begann er bereits neue Materialien bzw. Korrekturen vorgenommen hat, ist nach dem jetzigen
Korrekturen oder Erweiterungen zu dem noch nicht Stand der Forschung nicht zu bestimmen. Eines ist zu-
veröffentlichten Werk zu sammeln. Als dieses Manu- mindest sicher: Für die europäische Rezeption W.s
skript ‒ mit einer Verspätung, die zum Teil auf die war die posthume Auflage von 1776 die entscheiden-
Wirren des Siebenjährigen Krieges zurückzuführen dere. Am Ende des 18. Jh. war sie die unter den Lesern
ist ‒ Ende 1763 endlich publiziert wurde, hatten seine am meisten verbreitete und zitierte Edition.
handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen ein Damit zeigt die Editionsgeschichte der Geschichte
derartiges Ausmaß angenommen, dass W. eine zweite, der Kunst des Alterthums sowie der Anmerkungen vor
verbesserte Auflage der Geschichte durchzusetzen ver- allem eines besonders eindrucksvoll: die schiere Un-
suchte ‒ dies umso mehr, als er mit der erstrebten abschließbarkeit des W.s Schreibverfahrens. Einen
Neuauflage einige grobe Fehler aus der ersten tilgen endgültigen Schlusspunkt hat W. tatsächlich nur un-
wollte, darunter seine Beschreibung des angeblich gern unter seine Schriften gesetzt. Die Abgabe eines
antiken Freskos Jupiter küsst Ganymed, welches sich Manuskripts an den Verleger bedeutete für ihn keines-
inzwischen als eine von seinem Freund Anton Ra- wegs den Abschluss der Redaktionsphase. Schon
phael Mengs angefertigte Fälschung erwiesen hatte 1755, als er die erste Auflage seiner Erstlingsschrift,
(GK1, SN IV,1, 544–546). Walther freilich weigerte der Gedancken über die Nachahmung der griechischen
sich, eine Neuauflage der Geschichte der Kunst des Al- Werke, in Druck gab, saß er bereits über einer zweiten,
terthums in Druck zu geben, bevor alle Exemplare der erweiterten Fassung, die kaum ein Jahr später er-
ersten Auflage verkauft waren. Doch W. ließ sich nicht schien. Grund für diesen fortlaufenden Schreibpro-
entmutigen und schmiedete immer neue Pläne, um zess war der ständige Rückgriff auf Exzerptkonvolute,
zur erhofften zweiten, verbesserten Auflage zu kom- die W. durch immer neue Auszüge anreicherte und die
men. Als 1766 eine von ihm nicht autorisierte, von eine Fülle von Informationen bereit hielten, die jeder-
Gottfried Sellius besorgte und durch Jean-Baptiste zeit in die eigenen Publikationen einfließen konnten
Robinet de Chateaugiron betreute französische Über- (Décultot 2000, 45–47; Décultot 2004a, 27–28). Damit
setzung seines Werkes erschien (Winckelmann 1766), bringen die Anmerkungen über die Geschichte der
verwarf er sie als fehlerhaft und erwog daraufhin, die Kunst des Alterthums die Komplexität der Beziehun-
239

gen ans Licht, die die im Rahmen der Arbeit an der Scaliger, Julius Caesar: Poetices libri septem ‒ Sieben Bücher
Geschichte entstandenen Texte zueinander unterhal- über die Dichtkunst. 6 Bde., lat.-dt. Ausg. Hg., übers., ein-
ten. Zwar sind die Anmerkungen primär als Ergän- gel. und erl. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Stutt-
gart-Bad Cannstatt 1994–2011.
zung zur ersten Auflage der Geschichte der Kunst des Winckelmann, Johann Joachim: Histoire de l’ art de l’ Anti-
Alterthums anzusehen, deren gröbste Fehler und zahl- quité [übers. von Gottfried Sellius und Jean-Baptiste-René
reiche Lücken sie auszumerzen intendierten. Doch Robinet de Chateaugiron]. 2 Bde. Paris 1766.
nicht alle Informationen, die die Anmerkungen ent- Winckelmann, Giovanni: Storia delle arti del disegno presso
hielten, sind auch in die zweite Auflage der Geschichte gli antichi [übers. von Carlo Amoretti und Angelo Fuma-
galli]. 2 Bde. Mailand 1779.
der Kunst des Alterthums übernommen worden, so
Winckelmann, Johann Joachim: Histoire de l’ art de l’ Anti-
dass der Text ‒ bei aller Abhängigkeit von dem monu- quité, aus dem Dt. übers. von Michael Huber. 3 Bde. Leip-
mentalen Geschichtswerk ‒ durchaus eine eigene, wis- zig 1781.
senschaftliche Existenz beanspruchen kann. Winckelmann, Giovanni: Storia delle Arti del Disegno presso
gli antichi, übers. von Carlo Fea. 3 Bde. Rom 1783–1784.
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1752–1767. Schaffens. 20 Bde. und 1 Registerbd. Hg. von Karl Richter
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242 III Werke

25 »Versuch einer Allegorie, Genese und Diskussionskontexte 1755–1766


besonders für die Kunst. Der
Erste Überlegungen zur Verwendung der Allegorie in
Königlichen Groß-Britannischen den Künsten gehen auf die Jahre in Dresden zurück
Gesellschaft der Wissenschaften und sind vermutlich in Diskussionen mit Adam Fried-
auf der berühmten Universität rich Oeser entstanden, auch wenn dieser letztendlich
zu Göttingen zugeeignet« ein vom Empfindsamkeitsdiskurs getragenes religiö-
ses Konzept verfolgte (vgl. John 2001). In den Gedan-
cken über die Nachahmung konstatiert W., der Künst-
Im Erscheinungsjahr seines Versuchs einer Allegorie, ler habe »ein Werck vonnöthen, welches aus der gant-
besonders für die Kunst (Dresden 1766) drückte W. ge- zen Mythologie, aus den besten Dichtern alter und
genüber dem Freskomaler Martin Knoller die Hoff- neuerer Zeiten, aus der geheimen Weltweißheit vieler
nung aus, die Schrift »werde das nützlichste seyn, was Völcker, aus den Denckmählern des Alterthums auf
ich geschrieben habe« (Br. III, 153). Nach einem Jahr- Steinen, Müntzen und Geräthen diejenige sinnliche
zehnt Vorarbeit verfolgte der Verfasser mit der ano- Figuren und Bilder enthält, wodurch allgemeine Be-
nym erschienenen Abhandlung das Ziel, zeitgenössi- griffe dichterisch gebildet worden« (Gedancken1, KS
schen Künstlern ein Kompendium zur Auffindung 57). Konkret sind W.s Überlegungen gegen die spät-
von geeigneten Bildthemen zu liefern. Der angebli- barocke Ausschmückung mittels der Rocaille gerich-
chen Willkür und Dunkelheit frühneuzeitlicher Bild- tet: »Der Abscheu vor den leeren Raum füllet also die
sprache wird dezidiert ein quellengestütztes und em- Wände; und Gemählde von Gedancken leer, sollen
pirisch am Objekt orientiertes Verfahren entgegen- das Leere ersetzen« (Gedancken1, KS 58). Der horror
gesetzt. Auch wenn W. in der Vorrede die Unvollstän- vacui soll demnach in Form einer inhaltlich reflektier-
digkeit seiner Ausführungen betont und vor allem ten Dekoration überwunden werden. Zugleich ist die
ihren methodischen Nutzen hervorhebt, ist unmiss- Nachahmung antiker Sinnbilder für den Künstler ge-
verständlich deutlich, dass er mit der Abhandlung den schmacksbildend (vgl. Gedancken1, KS 57). In der Er-
grundsätzlich reformatorischen Anspruch verband, in läuterung der Gedanken von der Nachahmung widmet
die aktuelle Kunstentwicklung einzugreifen. sich W. ausführlicher seinem Allegorie-Begriff: In der
Mit den hochgesteckten Zielen des Autors kontras- bildenden Kunst wird er mit der »Fabel« gleichgesetzt
tiert die überwiegend negative Rezeptionsgeschichte (Erläuterung, KS 118–139). W.s Definition nähert sich
der Schrift. Schon Christian Felix Weiße warnte kurz damit der des Historienbildes, das wiederum seiner-
nach dem Erscheinen vor der Gefahr, »aus diesem seits seinen Stoff aus der klassischen Epik und der Tra-
Buche« könnte »wieder ein Emblematen Säculum« gödienliteratur bezieht.
entstehen (Br. IV, 136). Später ist der Versuch einer Al- Von der Grundlegung der Dresdner Frühschrift
legorie als schwer integrierbarer Fremdkörper im ausgehend, scheint W. seit der Ankunft in Rom den
Œuvre W.s bewertet worden. So spricht etwa Carl Jus- für Künstler bestimmten »gelehrten Vorrath« (Gedan-
ti von einer allegorischen »Grille« (Justi 1956, I, 465), cken1, KS 56) ausgebaut zu haben. Zum einen verfolgt
und noch gegen Ende des 20. Jh. fällt das Verdikt von er im Wettbewerb mit den etablierten Antiquaren eine
einem »fast peinliche[n] Rückfall« in die barocke Äs- konsequent hermeneutisch fundierte Deutung antiker
thetik (Uhlig 1988, 10). Davon bleibt unberührt, dass Werke. Die im Versuch einer Allegorie thematisierten
die Abhandlung im Rahmen eines anspruchsvollen Fragestellungen resultieren aus der kontinuierlichen
methodischen Ansatzes gesehen werden muss. Ihre Erweiterung von W.s ikonographischem Wissen und
Ambivalenz besteht darin, dass in ihr einerseits die stehen damit in einer Linie mit dem Gemmen-Kata-
Kontinuität älterer Auffassungen manifest ist, wäh- log der Sammlung Stosch (1760) und den Monumenti
rend sich andererseits ein hermeneutischer Entwurf antichi inediti (1767). Mit diesem Aspekt korrespon-
ausbildet, der prinzipiell mit W.s klassizistischer Äs- diert zum anderen die ästhetische Diskussion mit An-
thetik und wissenschaftlicher Verfahrensweise ver- ton Raphael Mengs, die offenbar auch die Frage nach
einbar ist. geeigneten Sujets einbezog. So bespricht W. im Ver-
such einer Allegorie zwei Pastelle von Mengs, die 1756
für den Marquis de Croismare angefertigt worden wa-
ren (Roettgen 1999, 161–164). Das Pastell einer grie-
chischen Tänzerin (Abb. 25.1) gilt ihm als vorbildlich

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_25, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
25 »Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst« 243

für die Entwicklung einer neueren Allegorie, da die Kunst (1763) an den kunstinteressierten Laien richtet
dort abgebildeten Seifenblasen die Vergänglichkeit und eine allgemeine ästhetische Sensibilisierung ver-
versinnbildlichen sollen (Allegorie, 138). Die anhal- folgt, soll sich der geplante Versuch einer Allegorie an
tende Reflexion auf den Allegorie-Begriff und die den bildenden Künstler wenden und damit ein praxis-
Möglichkeiten seiner praktischen Anwendung bestä- bezogenes Seitenstück zu der rezeptionsästhetischen
tigen briefliche Äußerungen: Seit 1763 datierte W. die Anleitung bilden (Br. II, 284, 286, 328). Das Erschei-
Arbeit an der Schrift mit dem Beginn seines Rom- nen der ursprünglich für Winter 1763 in dichter Folge
Aufenthalts (Br. II, 330; III, 10, 19, 39). Die an den Ver- an die Abhandlung an Berg geplanten Schrift ver-
leger Walther ergangene Bitte, Exemplare an Oeser zögerte sich durch Nachträge und Umarbeitungen bis
und Hagedorn zu senden (Br. III, 123), verweist er- 1766; den ursprünglichen Plan einer Zueignung an
neut auf den Dresdener Diskussionskontext von 1755, Mengs ließ W. wegen des zeitweiligen Zerwürfnisses
der womöglich mit der geplanten Deutschlandreise mit dem Künstler fallen. In Ermangelung eines ande-
hätte wieder aufgenommen werden sollen. ren prominenten Künstlers widmete er schließlich die
Der früheste Beleg für eine Ausarbeitung stammt Schrift der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttin-
von 1759 (Br. II, 10), doch erst Ende 1762 konkretisie- gen, wohl auch, um angesichts konkreter Reisepläne
ren sich die Pläne im Zusammenhang mit W.s Arbeit der deutschen Gelehrtenwelt wieder näher zu kom-
an den Monumenti antichi inediti (Br. II, 272, 276). Ei- men. Der Wunsch, sich mit der Schrift philologisch zu
ne Kapiteleinteilung ist bereits in einem Brief vom profilieren, trat somit in der letzten Ausarbeitungs-
15. Januar 1763 belegt (Br. II, 283). In jene Zeit fällt phase stärker hervor (vgl. Br. III, 69). Ein Ärgernis
auch die Absicht, den Versuch einer Allegorie als Pen- stellten die zahlreichen Druckfehler dar, die W. nicht
dant zu der an Friedrich Reinhold von Berg gewidme- berichtigen konnte, da ihm keine Andrucke zur Ver-
ten Schrift abzufassen: Während sich die Abhandlung fügung standen.
von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der
Die Abhandlung von 1766: Zwischen Programm-
schrift und Stoffsammlung
Der zu Beginn des Jahres 1766 in der Waltherschen
Hofbuchhandlung erschienene Versuch einer Allegorie
verfolgt neben der theoretischen Fundierung des Alle-
gorie-Begriffs eine an zahlreichen Beispielen empi-
risch abgesicherte Anleitung zur künstlerischen wie
archäologischen Praxis. Bewusst verzichtete W. auf
Abbildungen und strebte eine verknappte, dem auf-
klärerischen Stilideal der brevitas entsprechende Dar-
stellung an. Ebenso fehlt der Verfassername, »da ich
hoffe kenntlich in der Schrift zu seyn« (Br. III, 72).
Acht von elf Kapiteln widmen sich Beispielen der anti-
ken Kunst, eingerahmt von einer Vorrede, dem ersten
theoretischen Kapitel sowie den beiden abschließen-
den Kapiteln zu »guten und brauchbaren Allegorien
der Neueren« und dem »Versuch neuer Allegorien«.
Die Vorrede distanziert sich von dem Anspruch, ein
umfassendes »Repertorium« zu liefern. Absicht des
Verfassers ist es vielmehr, wiederzugeben, »was ich
von alten und einigen neueren Bildern gefunden, und
eine Anleitung andere aus alten Nachrichten zu zie-
hen.« So bleiben die Ausführungen fest an den ar-
chäologischen Diskurs gebunden; allegorische Bilder
Abb. 25.1 Anton Raphael Mengs: Griechische Tänzerin. können daher vor allem durch die »Entdeckung alter
Karton für das 1756 ausgeführte und verschollene Pastell. Denckmale« eruiert werden (Allegorie, Vorrede, III).
Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle. Im ersten Kapitel führt W. die theoretischen und
244 III Werke

historischen Grundlagen seines Allegorie-Begriffs aus. Neuzeit gängige Auffassung von der Allegorie zu un-
Der Begriff Allegorie ist ihm gleichbedeutend mit dem terscheiden: Die Hieroglyphica (1556) von Pietro Vale-
von Cesare Ripa etablierten Terminus der »Iconolo- riano, Cesare Ripas Iconologia (1593) und die Iconolo-
gia«, der eine »Andeutung der Begriffe durch Bilder« gie tirée de divers auteurs von Jean-Baptiste Boudard
und damit eine »allgemeine Sprache, vornehmlich der (1759) werden wegen ihrer fehlenden altertumskund-
Künstler« bezeichne. Prinzipiell wirkt diese künstleri- lichen Fundierung, ihrer Affinität zur ›dunklen‹ Hie-
sche Sprache durch ihren mimetischen Abbildcharak- roglyphik und der Willkür ihrer Bildersprache kriti-
ter. Doch die natürlichen Zeichen sind nicht identisch siert. Mit der Forderung nach Reduktion von Attribu-
mit der allegorischen Bedeutung, die erst durch die ten und Vermeidung von Beischriften formuliert W.
Übertragung von oft abstrakten Inhalten auf das na- den Wunsch nach klassizistischer Simplizität in der al-
türliche Zeichen entsteht. Analog zu W.s Vorstellung legorischen Ausdruckweise: »Die Einfalt bestehet in
von einer idealisierten Natur soll die Allegorie »etwas der Entwerfung eines Bildes, welches mit so wenig
sagen welches von dem was man anzeigen will, ver- Zeichen als möglich ist, die zu bedeutende Sache aus-
schieden ist, das ist, anders wohin zielen, als wohin der drücke, und dieses ist die Eigenschaft der Allegorien
Ausdruck zu gehen scheinet«. Zeichentheoretisch be- in den besten Zeiten der Alten« (Allegorie, 30).
ruht somit die Allegorie auf dem Naturabbild, was ihre Vom zweiten bis zum sechsten Kapitel widmet sich
prinzipielle Verständlichkeit garantiert. Gefordert ist die Abhandlung in hierarchischer Abfolge von der
ein enges, aber qualitativ zu unterscheidendes Verhält- Götterdarstellung bis hin zu Fragen der ornamentalen
nis von natürlichem Zeichen und in einem höheren Ausstattung den einzelnen Aufgabenbereichen der
Sinn Bezeichnetem, das sich aufgrund der Ähnlichkeit Allegorie: Auf die Untersuchung der »Allegorie der
des Naturgegenstandes mit dem repräsentierten Inhalt Götter« im zweiten Kapitel, das Attribute der Götter
konstituiert: »Die Allegorie soll folglich durch sich behandelt (Allegorie, 33), folgen in meist alphabeti-
selbst verständlich seyn, und keiner Beyschrift von- scher Auflistung Kapitel mit den unterschiedlichsten
nöten haben; es verstehet sich jedoch diese Deutlich- Beispielen: Das dritte Kapitel behandelt die »bestimm-
keit Verhältnißweise« (Allegorie, 2). ten Allegorien, vornehmlich allgemeiner Begriffe«
Mit dem Konzept einer genetisch an die Natur ge- (Allegorie, 56). Hierbei steht die Verweisungskraft des
bundenen Bildersprache und ihrer gestaltinhärenten natürlichen Zeichens wie etwa des Delphins für die
Fortentwicklung zur höheren Sinnbildung korrespon- glückliche Schifffahrt (Allegorie, 76) im Vordergrund.
diert das im ersten Kapitel niedergelegte historische Die »Allegorien, die von Begebenheiten und von Ei-
Verlaufsmodell: Die allegorische Darstellung ent- genschaften und Früchten der Länder genommen
wickelt sich in der antiken Kunst in mehreren Phasen, sind« (Allegorie, 88), im knapp ausgefallenen vierten
die an die jeweilige Stufe der »Weisheit« und der An- Kapitel bezeichnen vorwiegend Tiere und Pflanzen,
näherung an humane Werte gebunden sind: Am An- die sich auf regionale mythische Ereignisse beziehen
fang stehen die ägyptischen Hieroglyphen, die ihrem und oft als Wappenzeichen auf Münzen zu finden
Ursprung nach als Bilderschrift anzusehen sind, sich sind. So dient der Gründungsmythos der Stadt Ephe-
dann zur kultischen Geheimschrift weiterentwickeln sos, dem zufolge die Musen in Gestalt von Bienen die
und ihre natürliche Verständlichkeit verlieren. Wäh- Athener nach Ionien geleiteten, als Erklärung für die
rend demzufolge die Weisheit der ägyptischen und dortigen Münzprägungen mit Bienen (Allegorie, 88).
der ältesten griechischen Kunst verhüllt ist und in Rät- Die Allegorien im fünften Kapitel lassen sich direkt
seln spricht, ist der Sinn in der fortgeschrittenen grie- aus phonetischen Ähnlichkeiten mit dem jeweils ge-
chischen Kunst paradoxerweise noch »verkleidet, meinten Gegenstand oder Ort ableiten: Die Stadt An-
doch ohne Verhüllung« (Allegorie, 7). Verständlich cona wird demnach auf Münzen durch einen ge-
wird sie nur demjenigen, der nach ihrem Sinn sucht. krümmten Arm repräsentiert, Delphi durch den Del-
In der dritten Stufe wird das Verhältnis von Ausdruck phin usw. (Allegorie, 93). Das sechste Kapitel behan-
und Bedeutung vom Schönheitsbegriff bestimmt. In delt »Allegorien in der Farbe, in der Materie von
der Verbindung von sinnlich Äußerem und Bedeu- Geräthen und an Gebäuden« (Allegorie, 101), womit
tung, für die die Epen Homers die Hauptquelle sind primär ornamentale Ausstattungen in der Architektur
(Allegorie, 11), realisiert sich die absolute Verständ- und im Kunsthandwerk gemeint sind.
lichkeit des allegorischen Bildes. Mit dem siebenten Kapitel geht die Abhandlung
Von dieser an das höchste Ideal der Kunst gebunde- von der ikonographischen Systematik in die kritische
nen Verständlichkeit ist nach W. eine seit der Frühen Reflexion über: Die »zweifelhaften Allegorien« (Alle-
25 »Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst« 245

gorie, 115) behandeln mutmaßliche Bedeutungen, die dass die Abhandlung trotz aller Polemik thematisch
nicht durch Schriftquellen belegbar sind. Die »er- und methodisch eng an die Sinnbildkunde der Frühen
zwungenen und ungegründeten Erklärungen der Al- Neuzeit anschließt: »Wie scharf er auch gegen die Stil-
legorien« im achten Kapitel versammeln die von W. prinzipien der barocken Allegorie sich wendet, seine
zurückgewiesenen antiquarischen Deutungen (Alle- Theorie bleibt früheren Autoren vielfach eng ver-
gorie, 121). Die »verlohrnen Allegorien« des neunten wandt« (Benjamin 1974, 348).
Kapitels bezeichnen Bildbeispiele, deren Gehalt nicht Die bereits im 18. Jh. aufkommende Meinung, bei
mehr auf Grundlage von Schriftquellen auflösbar ist W.s Allegorieverständnis handle es sich um ein Relikt
(Allegorie, 130). Mit den »guten und brauchbaren Al- barocker Kunstlehre, relativiert sich in Anbetracht des
legorien der Neueren« im zehnten Kapitel werden Umstands, dass es sich um ein höchst ambitioniertes
wiederum die wenigen nach-antiken Bildinventionen methodisches Programm handelt, das sich auf weit äl-
diskutiert, die sich mit W.s Allegorie-Verständnis ver- tere hermeneutische Traditionen bezieht. Gegenüber
einbaren lassen (Allegorie, 135). Zuletzt widmet sich dem rhetorischen Verständnis von der Verknüpfung
das elfte Kapitel dem ambitionierten »Versuch neuer heterogener Elemente wie Metaphern und anderer
Allegorien« (Allegorie, 139): Auf der Grundlage von Tropen (Quintilian, inst. or. 8,6,44) betont W. den ver-
Stellen antiker Autoren schlägt W. neue Beispiele für einheitlichenden Aspekt der Allegorie: Sinnbildend
die bildliche Umsetzung vor. Programmatisch endet gilt ihm weniger die Kombinatorik aus bereits tro-
jenes letzte Kapitel mit dem Wiederabdruck der Be- pisch überformten Elementen; vielmehr haben die na-
schreibung des Torso von Belvedere, die W. erstmals türlichen Einzelzeichen einen transitiven Verwei-
1759 in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und sungscharakter und sollen sich am Kunstwerk bruch-
der freyen Künste publiziert hatte (Beschreibung des los zu einem sinnhaft Ganzen zusammenschließen. In
Torso im Belvedere zu Rom, KS 169–173). Hinblick darauf, dass sich die Schrift als Anleitung zur
künstlerischen Reflexion über geeignete Bildinhalte
versteht, knüpft W. an das seit der Spätantike etablierte
Ästhetische und methodologische Problemfelder
Verständnis von Allegorese an, das sowohl den schöp-
Entsprechend der Definition als allgemeiner und ver- ferischen Prozess als auch die Werkdeutung ein-
ständlicher Sprache der Kunst sind W.s Überlegungen bezieht (Borinski 1924, II, 208–211; Käfer 1986, 132–
zur Allegorie vielfältig. Sie reichen von sprachtheo- 178). Gemäß dieser Doppelung sind das produktions-
retischen Reflexionen (Allegorie, 2) über Personifika- ästhetische Verfahren der Sinngebung und das her-
tionen mit ihren Attributen und farbsymbolischen meneutische Verfahren der Sinnerschließung in ihren
Charakterisierungen (z. B. das purpurne Gewand des jeweils gegenläufigen Denkbewegungen wechselwei-
Bacchus für die Farbe des Weins, Allegorie, 41) bis hin se aufeinander bezogen (Borg 1999). W.s Schrift ver-
zu antiken Berichten über Bildinventionen wie die folgt damit gleichrangig und komplementär eine An-
Verleumdung des Apelles (Allegorie, 83). Die allegori- leitung zur künstlerischen Bildinvention und eine An-
sche Bedeutung kann auf der Gestaltähnlichkeit des leitung für eine philologisch abgestützte archäologi-
natürlichen Zeichens zum Bezeichneten basieren, sche Werkexegese.
aber auch auf mythologischen Bezugnahmen und in- Die starke Prägung durch die hermeneutische Pra-
haltlichen, semantischen oder phonetischen Analo- xis zeigt sich schon an den Überlegungen zu Ohrfor-
gien. Dabei ist die »Abgrenzung von den Hierogly- men in der Vorrede (Allegorie, VI–IX). Der zunächst
phen, Symbolen, Emblemen, Rebus usw. [...] nicht im- wie ein Fremdkörper wirkende Exkurs bezeugt pro-
mer deutlich« (Rüdiger 1977, 127). Entgegen W.s ei- grammatisch die Einheit von philologischer und
genem Vorsatz enthält die Abhandlung zahlreiche formbetrachtender Werkdeutung, die aus dem Detail
Verbindungen zur älteren Emblemliteratur: Beispiels- heraus ikonographische Schlüsse auf das Ganze zu
weise finden sich bereits in Ripas Iconologia die ziehen vermag: Unter Einbeziehung antiker Schrift-
Schildkröte als Sinnbild für das weibliche Geschlecht quellen führt W. anhand verkrüppelt dargestellter
(Allegorie, 84, vgl. Heckscher 1953) oder die von W. als Ohrformen aus, dass diese im Unterschied zu den
»neu« ausgewiesene Personifikation des Flusses Nil, Ringern und Faustkämpfern nur den antiken Viel-
der wegen seiner unbekannten Quelle mit verbunde- kämpfern (Pankratiasten) eigen sind. Sinnkohärenz
nen Augen dargestellt wird (Allegorie, 138, vgl. De- und Geschlossenheit des Werks offenbart sich pars pro
ckers 2011, 58). Zusammen mit zahlreichen Kritikern toto aus der genauen Analyse der Details. Am Ende
ließe sich daher mit Walter Benjamin konstatieren, der Abhandlung nimmt W. dieses Verfahren mit der
246 III Werke

Beschreibung des Torso von Belvedere wieder auf, wo- frachtungen, wie sie bereits zu Beginn des 18. Jh. von
mit sich das hermeneutische Grundmuster in gestei- Shaftesbury in England oder von Dubos in Frankreich
gerter Form wiederholt. Die dort erfolgende Semanti- formuliert wurde. In der sinnerfüllten und vereinheit-
sierung der nacheinander beschriebenen Details und lichenden Tendenz grenzt sich W.s Allegorie-Begriff
die damit verbundene kettenartige Kommentierung zudem von den ornamentalen Ausstattungsformen
rekonstruiert sukzessive eine inhaltliche Geschlossen- des Rokoko ab (Raulet 1993; Hertel 2007).
heit, die selbst im fragmentierten Zustand den Gehalt, Eine lose Verbindung zu W.s ästhetischem Ge-
mit W.s Begrifflichkeit die Allegorie, erschließt (Käfer samtprogramm ergibt sich durch die mehrfach auf-
1986, 167–178; Borg 1999). tauchende Vorstellung, nach welcher der Kontur der
In Bezug auf die hermeneutische Fundierung von Naturgestalt auf den allegorisch repräsentierten Be-
W.s Abhandlung und ihrer Erhellung durch die Be- griff verweist: Demnach schafft die Natur »eidetische
schreibung des Torso von Belvedere erscheint der Ver- Gebilde, die ihres gleichen Umrisses wegen sich von
zeitlichungsaspekt von W.s Allegorie-Begriff fun- Natur aus gegenseitig bezeichnen können« (Käfer
damental. Unter Berufung auf das bei Plutarch über- 1986, 139). Dieser die disegno-Tradition weiterfüh-
lieferte Diktum des Simonides von der Malerei als rende Gedanke korrespondiert mit der angestrebten
stummer Poesie (Allegorie, 2) sieht dabei W. in Homer »Einfalt«, »Deutlichkeit« und »Lieblichkeit« (Allego-
nicht nur eine reichhaltige Quelle für Bildthemen, rie, 29). In klarer Abgrenzung zur barocken Bilder-
sondern auch das Paradigma einer sich in Bildern ein- sprache strebt die Forderung nach Simplizität und In-
kleidenden Sprache schlechthin: »Es wäre zu wün- haltsreduktion einen weitgehenden Verzicht auf attri-
schen, daß alle homerische Bilder sinnlich und figür- butive Anreicherung an. Angesichts der sich im
lich zu machen wären« (Allegorie, 8). Dieses von Käfer 18. Jh. vollziehenden Krise der frühneuzeitlichen Iko-
1986 mit Recht ins Feld geführte, letztlich vom ut pic- nographie verstärkt W. die »innere[] Logizität des Bil-
tura poiesis-Gedanken getragene Produktions- und des« und die Autonomie eines organologisch auf-
Rezeptionsverständnis greift im ersten Kapitel die zufassenden Kunstwerks (Fischer 1990, 254). Ansatz-
bildpoetologische Programmatik der Gedancken über weise sind somit für die Ausprägung späterer auto-
die Nachahmung und ihrer Erläuterung wieder auf, nomieästhetischer Auffassungen zentrale Gedanken
steht aber in evidentem Widerspruch zu den stark im ersten Kapitel formuliert. Die Trennlinie zum
philologisch argumentierenden Folgekapiteln. Hier hochklassizistischen Werkbegriff liegt jedoch darin,
dominiert der von mythographischen Traditionen dass für W. das natürliche Zeichen und seine abstrak-
übernommene Aspekt einer konsequenten Allegori- te Bedeutung nicht identisch sind, sondern in einem
sierung des Mythos, bei dem die Mythen und Home- Spannungsverhältnis zueinander stehen. Daher kann
rischen Epen nicht mehr in ihrem narrativen Zusam- sein Terminus der Allegorie letztendlich weder be-
menhang gesehen, sondern als Reservoir der allegori- grifflich noch inhaltlich mit der autonomieästheti-
sierenden Auslegung genutzt werden (Disselkamp schen Auffassung von Karl Philipp Moritz oder Goe-
2015, 46). Die Anwendung von textkritischen Verfah- the harmonieren.
ren entfernt sich dabei von der ursprünglichen Forde-
rung nach integraler Simplizität und zerlegt die my-
Wege der Rezeption
thologischen Figuren »in allegorisch interpretierbare
Details« (ebd., 45). Im deutschen Sprachraum ist der Versuch einer Allego-
Kunsttheoretisch ist W.s Allegorie-Begriff prinzi- rie nur zögerlich aufgenommen worden. In der bil-
piell vereinbar mit seiner Nachahmungslehre, da die denden Kunst blieb die vom Verfasser erhoffte Wir-
Allegorie das inhaltliche Äquivalent zur idealen Form kung nahezu aus. Selbst Künstler aus W.s direktem
bildet. Dem allgemein eklektischen Charakter von W.s Umfeld wie Martin Knoller machten von W.s Vor-
Kunstlehre entsprechend ist W.s Allegorie-Verständ- schlägen so gut wie keinen Gebrauch und griffen lie-
nis sowohl von platonischem Gedankengut wie von ber auf Ripa zurück (vgl. Baumgartl 2004, 57). Verein-
einer normativen Regelästhetik geprägt (Alt 1995, zelt findet sich noch die Begeisterung für Allegorien
435 f.). In der Betonung des natürlichen Zeichens im Frühklassizismus, so etwa bei dem zwischen 1778
bleibt W. dem Denken der Aufklärung verpflichtet. und 1793 in Rom tätigen Schweizer Bildhauer Alexan-
Mit der Ablehnung von allegorischem Beiwerk, das der Trippel (Grabmal des Grafen Tschernychew,
die Rezeptionsanforderungen erschwere, stellt sich W. 1786–1789). Insgesamt setzen jedoch die inhaltlichen
in eine Linie mit der Kritik an emblematischen Über- Überschneidungen mit der vorausgegangenen Em-
25 »Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst« 247

blemliteratur einen begrenzten originären Wirkungs- lassen sich dennoch Ansätze erkennen, die bei aller
spielraum, so dass sich der Nachweis einer direkten Kritik an W.s Vorgehensweise von der späteren philo-
Einflussnahme ins Unspezifische verliert. Auch die logischen Archäologie und Mythographie fortgesetzt
Gelehrtenwelt nahm die Schrift ohne größere Begeis- wurden. So hob Friedrich Creuzer ausdrücklich W.s
terung auf. Die namhaften Rezensionsorgane bespra- Verdienst hervor, »den Einfluß der Kunstgeschichte
chen sie abwägend (siehe [Anon.] 1766a-d; Klotz auf Fabellehre gezeigt, und zugleich practisch den An-
1766; Raspe 1771; vgl. Multhammer 2015, 187–191): fang gemacht« zu haben, »der alten Bildnerey ihre my-
Die Kritik betraf die zu gering erachtete Theoretisie- thologische Bedeutung wieder zu geben« (Creuzer
rung des Allegorie-Begriffs, die unklare Systematik 1808, 18).
und die fehlende Sensibilität für neuere Allegorien In der nachfolgenden Ästhetik und Kunsttheorie
(hierzu mit weiteren brieflichen Äußerungen Justi entwickelte sich eine kritische, wenn auch nicht un-
1956, III, 300–303). Während in Frankreich 1786 und produktive Auseinandersetzung mit W.s Allegorie-
1798/1799 zwei Übersetzungen erschienen, regte W.s Begriff (hierzu Fischer 1990, Gadamer 1990, Müller
Abhandlung in England den 1779 erschienenen Trak- 1937, Niklewski 1979). Wie Herder in seinem W.-Es-
tat Iconology, or, A Collection of Emblematical Figures say von 1781 hervorgehoben hat, ist W.s Anspruch, ei-
von George Richardson an, der sich wie W. für eine ne für alle Bildkünste allgemeinverbindliche Symbol-
Erneuerung der allegorischen Malerei aussprach und sprache zu etablieren, unzulänglich für die spezifische
eine Revision von Cesare Ripa verfolgte (vgl. Dobai Medialität der Untergattungen und die jeweiligen Zei-
1975, 1013). Eine deutliche, aber begrifflich mehr dif- ten und Sitten der Völker: »Keine Kunst kann völlig
ferenzierende Adaption von W.s Lehre ist im Allego- allegorisiren, wie die andre; kein Volk, wie das andre,
rie-Artikel in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen keine Zeit, wie die andre« (Herder 1888, 47). Karl Phi-
Künste (1771) belegbar. lipp Moritz verwirft 1789 die Allegorie, insbesondere
Die Gründe für den vergleichsweise geringen Er- W.s Verfahren der Bedeutungszuweisung an die äuße-
folg von W.s Spätschrift sind vielfältig. Erstens lässt re Gestalt: »Die Figur, in so fern sie schön ist, soll
sich der weitgefasste Allegorie-Begriff mit der avan- nichts bedeuten, und von nichts sprechen, was außer
cierten Aufklärungsästhetik der 1760er Jahre kaum ihr ist, sondern sie soll nur von sich selber, von ihrem
noch vereinbaren. Teilweise in kritischer Bezugnah- innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleich-
me auf W.s Gedancken über die Nachahmung finden sam sprechen, so durch sich selbst bedeutend werden«
sich bereits bei Moses Mendelssohn (1757) und Chris- (Moritz 1997, 1008–1009).
tian Ludwig von Hagedorn (1763) distanzierte bis ab- Gerade in Hinblick auf die Ausformulierung auto-
lehnende Standpunkte zur künstlerischen Verwen- nomieästhetischer Grundsätze und die Entwicklung
dung der Allegorie (siehe hierzu Sørensen 1972). In des konstitutiven Dualismus von Symbol und Allego-
dem gleichzeitig mit W.s Schrift 1766 erschienenen rie durch Goethe um 1800 ist die Bezugnahme auf W.s
Laokoon wendet sich Lessing gegen die »Allegoriste- Schrift von oszillierender Uneindeutigkeit. Goethes
rey« in den bildenden Künsten und lehnt gerade den Kunstberater Johann Heinrich Meyer exzerpierte zu-
von W. postulierten Zusammenhang von Allegorie stimmend aus der Abhandlung: »S. 2 heißt es: Die Al-
und Fabelbildung ab (Multhammer 2015, 197–203). legorie soll durch sich selbst verständlich seyn. ferner
Ein zweiter Grund für die distanzierte Aufnahme (S. 29) Einfach deutlich und lieblich« (Klassik Stiftung
der Schrift liegt in den strukturellen Problemen der Weimar, Goethe Schiller Archiv 64/106,1, Blatt 14).
Beispielsammlung begründet, die sich durch die etwas Im Theorem des ›durch sich selbst verständlichen‹
starr angewandte philologisch-textkritische Arbeits- Kunstwerks findet sich wohl der wegweisendste Bei-
weise ergeben. W. verfolgt eine stringente Verbindung trag für die weitere ästhetische Diskussion. Von den
zwischen antiken Textquellen und den besprochenen Weimarischen Kunstfreunden wird dieser Grundsatz
Kunstgegenständen, gerade um sich von den als zu jedoch nicht mehr mit dem allegorischen Denken
spekulativ wahrgenommenen Ansätzen seit Ripa ab- identifiziert. Dementsprechend verhalten fällt die wei-
zugrenzen (Rüdiger 1977). In ihren komplexen, bis- tere Wirkungsgeschichte in Weimar aus: Während
weilen abstrus wirkenden Ausführungen stehen je- Goethe die Schrift in dem biographischen Beitrag für
doch die Empfehlungen oft in Widerspruch zu dem Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) ignorierte,
im ersten Kapitel formulierten Postulat inhaltlicher hob Meyer im Kommentar seiner W.-Ausgabe hervor,
Transparenz. In den Bemühungen, den antiken Bild- die Einteilung der Abhandlung wäre wohl anders aus-
quellen systematisch eine Bedeutung abzugewinnen, gefallen, hätte »Winckelmann auf den Unterschied
248 III Werke

zwischen Symbolik, Allegorie, und emblematischer Klotz, Christian Adolph: Rez. zu »Versuch einer Allegorie,
Bezeichnung Rücksicht genommen, und die Ueber- besonders für die Kunst«. In: Acta Litteraria 3/2 (1766),
gänge der einen in die andere gekant und beachtet« 107–142.
Meyer, Johann Heinrich: Anmerkungen und Zusätze zu
(Meyer 1808, 675). Dieser Mangel sei ihm jedoch in- Winckelmann’s Versuch einer Allegorie besonders für die
sofern nicht vorzuwerfen, »als auch jezt diese ver- Kunst. In: Winckelmann’s Werke. Hg. von C. L. Fernow.
schiedenen Felder der Kunstdarstellung noch nicht Bd. 2. Dresden 1808, 673–762.
gehörig gesondert, und ihre mannigfaltig in einander Moritz, Karl Philipp: Über die Allegorie [1789]. In: Ders.:
laufenden Grenzlinien mit philosophischer Genau- Werke in zwei Bänden. Bd. 2: Popularphilosophie. Reisen.
Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert
igkeit bestimmt sind« (Meyer 1808, 676).
Meier. Frankfurt a. M. 1997, 1008–1011.
Für die romantische Kunsttheorie, die den Allego- Raspe, Rudolph Erich [gez. P*]: Rez. zu »Versuch einer Alle-
rie-Begriff wieder aufnahm, fehlte W.s Schrift nach gorie, besonders für die Kunst«. In: Anhang zu dem ersten
August Wilhelm Schlegel der inhaltliche Bezug zur bis zwölften Bande der allgemeinen deutschen Bibliothek
neuzeitlich-christlichen Kunst: »die Kunst der Neue- 1771/1, 391–395.
ren war ihm ein versiegeltes Buch, sonst hätte er sehen Schlegel, August Wilhelm: Rez. zu »Winckelmann’s Werke«,
hg. von C. L. Fernow, H. Meyer und J. Schulze. In: Heidel-
können, daß die großen Meister längst und weit über bergische Jahrbücher der Litteratur 5/1 (1812), 67–112.
seine Begriffe geleistet hatten, was er von der Malerei
begehrt, nämlich die Vorstellung unsichtbarer, ver- Forschung
gangener und zukünftiger Dinge« (Schlegel 1812, 87). Agazzi, Elena: Introduzione. In: Johann Joachim Winckel-
Während Georg Wilhelm Friedrich Hegel lapidar fest- mann: Saggio sull’ allegoria specialmente per l’ arte. Hg.
stellte, W. habe in dem »unreife[n] Werk« größtenteils und übers. von Agazzi, Elena. Bologna 2004, 7–25.
»Symbol und Allegorie verwechselt« (Hegel 1986, Alt, Peter-André: Begriffsbilder. Studien zur literarischen
Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995,
514), bezeichnete Arthur Schopenhauer W.s Begeiste-
434–455.
rung für die Allegorie als kunstfernes Unterfangen Baumgartl, Edgar: Martin Knoller 1725–1804. Malerei zwi-
(Die Welt als Wille und Vorstellung, § 51). Die christ- schen Spätbarock und Klassizismus in Österreich, Italien
lich-transzendente Verankerung des Allegorie-Be- und Süddeutschland. München 2004.
griffs durch die Romantiker und die starke Rezeption Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In:
von Goethes Symbol-Begriff sind die Hauptgründe Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.1. Hg. von Rolf Tiede-
mann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.
dafür, dass W.s Versuch über die Allegorie im 19. Jh. 1974, 203–430.
keine größere Rezeption fand. Borg, Barbara E.: Allegorie der Kunst – Kunst der Allegorie.
Winckelmanns »Kunstbeschreibungen« als archäologi-
Quellen scher Kommentar. In: Most, Glenn W. (Hg.): Commenta-
[Anon.]: Rez. zu »Versuch einer Allegorie, besonders für die ries – Kommentare. Göttingen 1999, 282–295.
Kunst«. In: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, Borinski, Karl: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Von
1766, 676–680. Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und
[Anon.]: Rez. zu »Versuch einer Allegorie, besonders für die Wilhelm von Humboldt. Bd. 2. Leipzig 1924, 208–211.
Kunst«. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften Deckers, Regina: Tradition und Variation. Die Rezeption der
und freyen Künste 3 (1766), 217–243. »Iconologia« im Zeitalter der Aufklärung. In: Logemann,
[Anon.]: Rez. zu »Versuch einer Allegorie, besonders für die Cornelia/Thimann, Michael (Hg.): Cesare Ripa und die
Kunst«. In: Neue Hallische Gelehrte Zeitungen 1 (1766), Begriffsbilder der Frühen Neuzeit. Zürich 2011, 57–75.
254–256. Disselkamp, Martin: Winckelmanns Mythen. Vorläufige
[Anon.]: Rez. zu »Versuch einer Allegorie, besonders für die Überlegungen. In: Aufklärung 27 (2015), 31–54.
Kunst«. In: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 1766, Dobai, Johannes: Die Kunstliteratur des Klassizismus und
580–584. der Romantik in England. Bd. 2. Bern 1975.
Creuzer, Friedrich: Philologie und Mythologie, in ihrem Fischer, Bernhard: Kunstautonomie und Ende der Ikonogra-
Stufengang und gegenseitigen Verhalten. In: Heidelbergi- phie. Zur historischen Problematik von »Allegorie« und
sche Jahrbücher der Literatur für Philologie, Historie, Li- »Symbol« in Winckelmanns, Moritz’ und Goethes Kunst-
teratur und Kunst 1 (1808). Philologische Abteilung, theorie. In: DVjs 64 (1990), 247–277.
3–24. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Äs- einer philosophischen Hermeneutik. Bd. 1. Tübingen
61990.
thetik I. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Mi-
chel. Frankfurt a. M. 1986 (Sämtliche Werke, Bd. 13). Heckscher, William S.: Aphrodite as a nun. In: The Phoenix
Herder, Johann Gottfried: Johann Winkelmann. In: Ders.: 7 (1953), 105–117.
Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 15. Ber- Hertel, Christiane: The Ends of Allegory: Winckelmann,
lin 1888, 36–50. Rocaille and Volcanic Displacements. In: Baskins, Cristel-
26 »Monumenti antichi inediti« 249

le/Rosenthal, Lisa (Hg.): Early Modern Visual Allegory. 26 »Monumenti antichi inediti«
Embodying Meaning. Aldershot 2007, 1–27.
John, Timo: Adam Friedrich Oeser (1717–1799). Studie Entstehung
über einen Künstler der Empfindsamkeit. Beucha 2001.
Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 3 Bde. Die 1767 erschienenen Monumenti antichi inediti illu-
Köln 51956. strati e spiegati sind W.s letztes, umfangreichstes und
Käfer, Markus: Winckelmanns hermeneutische Prinzipien. aufwändigstes Werk. Die Planungen gingen bereits auf
Heidelberg 1986. das Jahr 1762 zurück, noch bevor die Geschichte der
Käfer, Markus: Aspekte zu Winckelmanns Allegorientheo- Kunst erschienen war. Im April 1762 kündigte W. für
rie. In: Rößler, Detlef (Hg.): Antike und Barock. Stendal
kommenden Herbst »la Spiegazione de’ Punti difficili
1989, 25–35.
Müller, Curt: Die geschichtlichen Voraussetzungen des Sym- di Mitologia e d’Antiquità, che ho principiato a stende-
bolbegriffs in Goethes Kunstanschauung. Leipzig 1937, re in Italiano« (die Erklärung schwieriger Punkte der
20–85. Mythologie und des Altertums, die ich in italienischer
Multhammer, Michael: Johann Joachim Winckelmanns Sprache zu schreiben begonnen habe; Br. II, 219) an,
»Versuch einer Allegorie« im Kontext. Agonale Positions- und bereits im Mai zählte er unter den verschiedenen
bestimmung zwischen Lessings »Laokoon« und Heinses
»Ardinghello«. In: Aufklärung 27 (2015), 153–174.
Publikationsprojekten unter seiner Feder eine »Erklä-
Niklewski, Günter: Versuch über Symbol und Allegorie rung schwerer Puncte in der Mythologie und in den
(Winckelmann Moritz Schelling). Erlangen 1979. Alterthümern in Welscher Sprache, die ich meinem
Raulet, Gérard: Von der Allegorie zur Geschichte. Säkulari- Herrn nach und nach vorlese« (Br. II, 225) auf. 1762
sierung und Ornament im 18. Jahrhundert. In: Ders./ mahnte er von seinem Verleger Walther einen Vor-
Schmidt, Burghart (Hg.): Kritische Theorie des Or-
schuss auf die im Druck befindliche Geschichte der
naments. Wien u. a. 1993, 55–68.
Roettgen, Steffi: Anton Raphael Mengs 1728–1779. Bd. 1: Kunst an, er benötige ihn für »ein großes Werk in ita-
Das malerische und zeichnerische Werk. München 1999. lienischer Sprache von mehr als 60 Kupfern [...] wovon
Rüdiger, Horst: Eine vergessene Kunstlehre: Winckelmanns ich selbst der Verleger sein werde.« (Br. II, 234). Ein
»Versuch einer Allegorie«. In: Mielke, Friedrich (Hg.): halbes Jahr später waren schon 100 Tafeln geplant, und
Kaleidoskop. Fs. für Fritz Baumgart. Berlin 1977, 126– das Unternehmen gewann, zumindest in wirtschaftli-
143.
cher und technischer Hinsicht, an Konturen. Mit Gio-
Sørensen, Bengt Algot (Hg.): Allegorie und Symbol. Texte
zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen vanni Battista Casanova als Zeichner (Br. II, 268; 349)
19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1972. wollte er sich das Geschäftsrisiko teilen. Um für seine
Uhlig, Ludwig (Hg.): Griechenland als Ideal. Winckelmann Kalkulationen freie Hand zu haben, verzichtete er auf
und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen 1988. das übliche Verfahren der Pränumeration (Br. II, 346–
Johannes Rößler 347; 360), was bedeutete, dass alle Unkosten vom Au-
tor vorgeschossen werden mussten – also schließlich
von W. allein, nachdem ihn Casanova versetzt hatte.
Dieser hatte im September 1763 Rom verlassen, seiner
Berufung zum Direktor der Akademie der Bildenden
Künste in Dresden folgend, angeblich nachdem er sei-
ne Aufträge an andere Zeichner delegiert hatte (Br. III,
56). Kurz darauf entdeckte W., dass ihm Casanova Fäl-
schungen als Illustrationen zur Geschichte der Kunst
untergeschoben hatte, und es kam zum Bruch, sodass
das gesamte Projekt von W. allein geschultert werden
musste. Jetzt konnte er sich beglückwünschen, keine
Verpflichtungen gegenüber Subskribenten eingegan-
gen zu sein (Br. III, 65; 452–453). Wie viele der von Ca-
sanova gezeichneten Vorlagen dann tatsächlich gesto-
chen wurden, ist nicht klar, denn nach dem Bruch hat-
te W. Casanovas Beiträge revidiert: »Betrügereien, die
mir der Schelm aufgehängt hatte, sind vertilget, viele
Platten werden von neuen gezeichnet und gestochen«
(Br. III, 103). Wie umfangreich diese Revision ausfiel,
ist jedoch nicht nachzuvollziehen.

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_26, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
250 III Werke

Dessen ungeachtet wurde W.s Ehrgeiz durch die mangels Sprachkenntnissen deren Ergebnisse aber
Fortschritte beflügelt: Nicht nur der Umfang des ferti- nicht beurteilen (Br. III, 448).
gen, sondern auch der des geplanten Werkes nahm Die Arbeit an der sprachlichen Form nahm W. sehr
stetig zu. Ohne die ausgeschiedenen Beiträge Casano- ernst. So ließ er wegen sprachlicher Mängel die ersten
vas waren im Juni 1765 über 140 Stiche fertig, und der 12 Bögen neu drucken, was ihm einen Verlust von 100
geplante Umfang umfasste 170 Denkmäler (Br. III, Scudi bescherte (Br. III, 210). Außer Albani (Br. II,
101). 1767, als der Druck bereits begonnen hatte, kün- 225) lektorierten ausgewählte Autoritäten: Giovanni
digte W. die Monumenti mit 227 Tafeln an (Br. III, Antonio Baldani, Giovanni Gaetano Bottari, Contuc-
239), es erschienen schließlich 208. Das neu gesam- cio Contucci, Michelangelo Giacomelli (Fancelli/Fan-
melte Material und die Notwendigkeit, mit den Arbei- fani, in: SN VI,2, 12–13). In seinem Testament be-
ten zu den beiden ersten Bänden zum Abschluss zu dachte W. noch den »Corrector seines italienischen
kommen, ließen in W. den Plan zu einem dritten Band Werks Abbate Pirmei« (Br. IV, 281) mit 100 Zecchini.
– »hoffe ich, noch prächtiger« (Br. III, 228 f.; 520–521; Das Ergebnis ist ein Werk, dass vor den zeitgenössi-
eine Publikation der von W. dazu gesammelten Mate- schen Standards des toskanischen Italienisch bestehen
rialien ist in Vorbereitung, vgl. Kunze, in: SN VI,1, XI) kann und in dem dennoch »die lebendige, für Win-
– reifen. Der gewachsene Umfang und der erst spät ckelmann charakteristische Art des Schreibens [erhal-
bekundete Entschluss, dem Katalogteil eine systema- ten] blieb« (Fancelli/Fanfani, in: SN VI,2, 14).
tische Einleitung voranzustellen (Br. II, 192), dürften Zum Vertrieb der im April 1767 nach verschiede-
der Grund für die Entscheidung sein, das Werk in nen Verzögerungen fertig gedruckten Auflage konnte
zwei Bänden herauszugeben (Br. III, 182). sich der Selbstverleger seines inzwischen in ganz Eu-
W.s Kalkulation ging von einer Auflage von 1000 ropa verzweigten Netzwerks von Freunden und Kor-
Exemplaren aus, mit der er hoffte »für mein Alter ge- respondenten bedienen. Eine entscheidende Rolle
sorgt zu haben, und daßelbe in Rom beschließen zu spielte Heinrich Wilhelm Muzell-Stosch in Florenz,
können« (Br. III, 109). Aufgrund der steigenden Kos- der den Versand nach Übersee über Livorno organi-
ten wurden die beiden Bände am Ende für acht Zecchi- sierte (Br. III, 297; 303; 311), und aus der Korrespon-
ni angeboten (Br. III, 239). Dagegen mussten bei der denz mit ihm erfahren wir die meisten Einzelheiten
Auflage Abstriche gemacht werden; von den geplanten über den Absatz in Nordeuropa. William Hamilton in
1000 Exemplaren wurden nur 630 gedruckt (Br. III, Neapel hatte bereits 1766 seine Unterstützung ange-
252; 505); von den Tafeln ließ W. vorsichtshalber erst tragen und Kontakte nach Großbritannien vermittelt;
einmal nur 400 Exemplare herstellen (Br. III, 264). die von ihm genährte Hoffnung auf den Absatz von
Verzögert und verteuert wurde die Fertigstellung 300 Exemplaren daselbst sah W. jedoch selber skep-
von W.s Ambition, die Monumenti auf Italienisch zu tisch (Br. III, 223). Johannes Wiedewelt hatte schon
verfassen (Fancelli/Fanfani, in: SN VI,2, 9–19). Dies vor Erscheinen 14 Interessenten in Dänemark ange-
stand von Anfang an fest, weniger erfindlich ist das worben (Br. III, 250; III, 268–269). Stosch konnte er
Warum. Die Absicht, in der Sprache seines Gastlandes am 18.4. mitteilen, dass außer diesen vier nach Mar-
zu publizieren, bekundete er erstmals 1761, als er der seille elf nach Zürich und zwei nach Basel adressiert
Accademia Etrusca in Cortona eine italienische Schrift seien (Br. III, 254). Sein Verleger Walther hatte vorab
über »schwere und theils unbekannte Punkte der My- 50 Exemplare geordert (Br. III, 214). 40 Exemplare
thologie« (Br. II, 129) zu widmen gedachte. Der An- verschickt W. Anfang September nach England (Br.
stoß geht wohl auf Albani zurück, der sich an W.s fast III, 311), und kurz darauf bedankt er sich bei Ludwig
ausschließlich deutschsprachiger Schriftstellerei stieß von Moltke für die Abnahme von sechs Exemplaren
(Br. II, 147). Der tiefere Grund war aber wohl, dass sei- (Br. III, 330). Selbst nach Konstantinopel sei die
ne Schriften mit Ausnahme der Description außerhalb Schrift verkauft worden (Br. III, 279).
des deutschen Sprachraums nicht rezipiert wurden – Insgesamt blieb aber der Absatz hinter W.s Erwar-
was ihm überdeutlich aufstieß durch den Ärger, den tungen zurück. Bereits Mitte 1767 klagt er gegenüber
ihm die unautorisierte französische Übersetzung des Stosch, der Vertrieb gehe langsam und er sei zufrie-
Sendschreibens über die Herkulanischen Entdeckungen den, wenn er seine Unkosten wieder realisiert habe
und die dort vorgebrachten Invektiven eintrugen, die (Br. III, 273). Und ein gutes halbes Jahr später tröstet
in Neapel bis dahin nicht wahrgenommen worden wa- er sich mit der Hoffnung, sein Werk sei wohl eher ein
ren (Justi 1943, II, 189–191). Auch der Kreis um Cay- Long- als ein Bestseller (Br. III, 352). Auch zeigt er sich
lus verfolgte W.s Aktivitäten zwar mit Interesse, konnte jetzt geneigt, den Buchhändlern bei Abnahme größe-
26 »Monumenti antichi inediti« 251

rer Stückzahlen Rabatte einzuräumen (ebd., III,


Die Tafeln
335 f.).
W.s Angaben über sein finanzielles Engagement Der Leser von W.s vorherigen Schriften war, selbst
sind zu lückenhaft für eine Kosten-Nutzenrechnung. wenn er über eine gut sortierte Bibliothek verfügte, für
Den bedeutendsten Posten müssen die Kupferstiche das Nachvollziehen seiner Beobachtungen und Inter-
und ihre Vorlagen ausgemacht haben; allein die Zeich- pretationen auf seine imaginative Phantasie angewie-
nung für den allerdings mit Abstand aufwändigsten sen, da W. sie häufig an unpublizierten Denkmälern
Stich kostete sechs Zecchini (Br. III, 240). Albani war explizierte. Diesmal sollte der Leser jedoch seine Deu-
von seinem Versprechen, den Druck (Br. II, 221; 225; tungen an den Reproduktionen der Denkmäler nach-
247) zu finanzieren, abgerückt, auch Casanova war als vollziehen können, und entsprechend schlägt sich der
Finanzier ausgefallen. Zuwendungen erhielt W. von Aufwand, den der Autor damit trieb, in seiner Korres-
Stosch (Br. III, 200–201), de La Rochefoucauld (Br. III, pondenz nieder. Nichtsdestoweniger bleiben Zeich-
163) und Leopold III. von Anhalt-Dessau (Br. III, 176); ner wie Stecher weitgehend anonym. Wir wissen nicht
ob Albani, dem das Werk zugeeignet ist, doch noch et- einmal, welche von Casanova gezeichneten Vorlagen
was beigetragen hat, ist nicht zu verifizieren. Zwischen- W. übernahm. Naumer (Naumer 2000, 46) nimmt an,
durch klagte W. über Schulden (Br. III, 209), doch kurz dass W. die Tafeln anonym drucken ließ, um die Vor-
vor Abschluss des Drucks konnte er feststellen, dass es lagen Casanovas verwenden zu können, was dieser
»größtentheils bezahlt« sei (Br. III, 218; 219). Und am bereits unterstellt hatte (Br. IV, 399 f.). Signiert ist al-
Ende meinte er, ein Kapital von 10.000 Scudi angehäuft lein das am aufwändigsten wiedergegebene Antinoos-
zu haben (Br. III, 279; skeptisch zu W.s Kalkulationen Relief aus der Villa Albani (Nr. 180) von Nikolaus
Stoll 1960, 99–103). Ob er von dessen Rendite im Alter Mosmann als Zeichner, der bereits in der Geschichte
tatsächlich hätte leben können, sei dahingestellt. der Kunst als Zeichner und Stecher signiert hatte (SN
IV,1, XIV), und Nicolo Mogalli als Stecher. In einer
Liste für den dritten Band hatte W. die Namen der in
Ausstattung und Aufbau
Frage kommenden Zeichner bzw. Stecher vermerkt:
Der erste Band enthält die Widmungsvorrede an Alba- außer Mogalli noch Anton von Maron, Michelangelo
ni, die »Indicazione de’ rami frapposti nell’ opera« (Er- Ricciolini und Giovanni Antonio Gregorietti (Br. III,
klärung der in das Werk eingefügten Kupfer) und die 531–532 zu Nr. 850).
»Prefazione«, einheitlich in römischen Ziffern durch- Die auffällig differierende Qualität der Abbildun-
paginiert; dann folgt in eigener Paginierung, ebenfalls gen hat von Anfang an Kritik herausgefordert (Br. III,
in römischen Ziffern, der »Trattato preliminare dell’ ar- 544). Kunstwerke, die dem Autor auch als solche am
te del disegno degli antichi popoli« (Einleitende Ab- Herzen lagen wie der Apollon Sauroktonos Nr. 40
handlung von der bildenden Kunst der antiken Völ- oder das Antinoosrelief Albani Nr. 180 sind mit fein
ker), eingeleitet von der systematisch gegliederten In- abschattierter Schraffur wiedergegeben, andere wie
haltsübersicht. Daran schließen sich arabisch durch- das Relief mit der Kindheit des Dionysos Nr. 52 oder
nummeriert in 208 Kupferstichen die Illustrationen die Statue der Leukothea Nr. 54 sind dagegen auf die
der 202 besprochenen Monumente an. Der zugehörige Umrissskizze mit angedeuteter Abschattierung des
Text findet sich im arabisch paginierten zweiten Band, Binnenkonturs reduziert; dazwischen findet sich die
wiederum eingeleitet von einer Inhaltsübersicht: den gesamte Skala der Qualitätsabstufungen. Der Normal-
Abschluss bilden vier Indizes, gefolgt von einer mit ei- fall, wie bereits bei den meisten Vignetten der Ge-
ner Zeile bemerkenswert kurzen Corrigendaliste. schichte der Kunst, sind mit Umriss- und Binnenzeich-
Letztlich lag die Zusammensetzung der Bände jedoch nung wiedergegebene Figuren, deren Hintergrund in
beim Käufer bzw. beim Buchhändler, da Winckelmann Parallelschraffur ausgefüllt ist, z. B. Nr. 53.
die Monumenti zwar kollationiert, aber ungebunden Kritiker vermissten außerdem Angaben über die
auslieferte (Kunze, in: SN 6,2 XIV). Größe der abgebildeten Denkmäler, vor allem jedoch
Ausgangspunkt und Kernstück des Werks sind un- über die Ergänzungen (Heyne 1768, 149–150; Zoega 1,
publizierte Denkmäler, »unter welchen sehr viele 1808, VII). Hier trafen sie natürlich einen wunden
schwer zu erklären waren«, oder solche, die »von er- Punkt, da W. anderweitig besonders streng mit fal-
fahrnen Alterthumsverständigen, theils für unauflös- schen Ergänzungen ins Gericht gegangen war (GK1,
liche Rätzel angegeben, theils völlig irrig erkläret wor- Vorrede, in: KS 240–242). Nur in einem einzigen Fall,
den.« (GK1, Vorrede, in: KS 246). bei Nr. 23, ist in der Abbildung (SN VI,1, 178) und im
252 III Werke

Text (SN VI,1, 181) die Ergänzung angegeben. Ansons- chen Angabe der Ergänzungen ging es ihm nicht um
ten bleibt die Bestandskritik zurückhaltend: Bei Nr. 25 eine präzise Dokumentation des Bestandes und des
gibt K. den Kopf und den rechten Arm als ergänzt an formalen Befundes, sondern allein darum, den Leser
(SN VI,1, 185), allerdings ist der linke Arm mit entspre- seine Interpretationen nachvollziehen zu lassen.
chender Gewandpartie ebenfalls ergänzt; bei dem Rei-
terrelief Albani Nr. 63 kritisiert W. die falsche Ergän-
Die Denkmäler
zung in der Hand des vermeintlichen Polydeukes, eine
Doppelaxt, als barbarische Waffe (SN VI,1, 275) und W.s Hauptauswahlkriterium war die leichte Zugäng-
bildet sie auch nicht ab, ganz im Gegensatz zur Ergän- lichkeit der Denkmäler. 45 der abgebildeten Werke
zung des Unterteils des Reliefs, die nicht angegeben stammen aus der Sammlung Albani, 28 aus der Gem-
wird. Das Spadarelief Nr. 116 schließlich ergänzt W. mensammlung Stosch, 17 aus der öffentlich zugäng-
selber in der Zeichnung (SN VI,1, 366) mit einem Apfel lichen Sammlung Borghese (Kalveram 1995, 3), fünf
in der Hand des Paris, was er auch im Text angibt (SN Stücke aus dem Kapitol, fünf antike Vasen aus der
VI,1, 370), während der Marmor mit einem Zweig er- Sammlung Mengs, vier weitere aus dem Vatikan, vier
gänzt worden war. Daraus kann man schließen, dass W. Werke aus der Sammlung Rondinini, die er selber hat-
die von ihm nicht angegebenen Ergänzungen für kor- te aufbauen helfen (Br. I, 383), und drei aus eigenem
rekt hält. Nichtsdestoweniger fällt er auf drei irrige Res- Besitz. Nach nicht mehr nachweisbaren Zeichnungen
taurierungen herein: Die Eirene Nr. 54 war mit einer von Francesco Bartoli sind vier Gemälde (Nr. 18, 113,
Weinkanne ergänzt, was W. explizit als Grund anführt, 114, 160) wiedergegeben, deren Authentizität aller-
sie als Leukothea, Ziehmutter des Dionysos, zu iden- dings zweifelhaft ist, drei Reliefs nach Zeichnungen
tifizieren. Auf Nr. 15 (SN VI,1, 160) war ein fragmen- von Pierleone Ghezzi (Nr. 46, 73–74, 162), drei Stiche
tierter Vulkan mit Zange mit weiblichem Oberkörper verwenden Dal-Pozzo-Zeichnungen (75, 104, 204),
ergänzt worden, den W. als Iuno Martialis erklärt (SN drei weitere (127, 184, 197, 198) sind nach eigenen
VI,1, 161). Auf Nr. 6 (SN VI,1, 146) hatte der Ergänzer Angaben ebenfalls von Zeichnungen genommen. Von
die Nebris des Bacchus als Panzer missverstanden und zweifelhafter antiker Authentizität sind außer den Ab-
entsprechend ergänzt, W. machte daraus einen »Bacco bildungen nach den Bartoli-Zeichnungen diejenigen
armato« (SN VI,1, 237). Die ergänzte Figur hinter Mer- zu Nr. 45 (SN VI,2, 303 zu 221,7), 49 (SN VI,2, 316 zu
kur war W. hingegen aufgefallen und in der Abbildung 230,21) und 145 (SN VI,2, 556–557 zu 421,22: »Denk-
weggelassen worden. Nicht hinterfragt wurde von ihm bar wäre, dass es sich um eine freie Erfindung Casano-
auch die Ergänzung des Diogenes-Reliefs Nr. 174 (SN vas handelt«). Abgebildet, aber nicht besprochen ist
VI,1, 472), wo der Ergänzer mit der Figur des Alexan- Nr. 31, vermutet wird hier (SN VI,2, 264 zu 192,
der natürlich die bekannte Anekdote (Diog. Laert. 6, Nr. 31) ebenfalls eine Fälschung Casanovas.
38) im Auge hatte; nach antiken Parallelen war hier Nicht alle Denkmäler sind »inediti«, einige waren
eher ein weiterer Philosoph im Disput mit dem Pithos- bereits in Stichwerken des 17. und 18. Jh. publiziert
bewohner dargestellt (SN IV,2, Nr. 922). worden. Nr. 110 hatte Bellori (Bellori 1693, Taf. 22) mit
Im Einzelnen ist nicht mehr nachvollziehbar, wel- Vorbehalt als »Gallienum [...] proficiscientem in Ori-
che Gründe – wirtschaftliche? ästhetische? – W. dazu entem« (Gallienus auf dem Weg in den Orient) vor-
veranlassten, in ihrer Qualität derart differierende Il- gestellt, Nr. 123 (Bellori 1693, Taf. 75–77) als »Luctus et
lustrationen zu publizieren. Aber bereits in den Vi- lamentatio domus funestae« (Trauer und Wehklage des
gnetten der Geschichte der Kunst findet sich eine ähn- Trauerhauses) und »animarum ad inferos traiectus«
lich Heterogeneität: die Titelvignette (SN IV,1, IV), das (Überfahrt der Seelen in die Unterwelt), Nr. 148 als
Kitharoidenrelief (SN IV,1, XIV) oder die Gemme mit Überfall beim Opfer an Terminus (Bellori 1693, Taf. 52;
»Phaea« (SN IV,1, 210) sind fein abschattiert wie Nr. 67 vgl. SN IV,2, Nr. 969b). Den Volutenkrater Nr. 22 hatte
(SN VI,1, 258), Nr. 72 (SN VI,1, 276), Nr. 109 (SN VI,1, Montfaucon abgebildet und die Darstellung auf dessen
346) oder Nr. 150 (SN VI,1, 436), während sich die Hals als »D’une barque [...] sort Ceres & Proserpine sur
Prometheusgemme (SN IV,1, XXXIV) auf den Umriss un char à quatre chevaux« (Ceres entsteigt einem
und die leichte Abschattierung des Binnenkonturs be- Schiff, und Proserpina auf einem vierspännigen Wa-
schränkt. Die Betonung des Konturs gegenüber der gen; Montfaucon 1724, III, 84, Taf. 35) interpretiert,
Schattierung und der Tiefe entsprang auch W.s eige- Nr. 111 hatte ebenfalls Montfaucon (Montfaucon,
nen antibarocken ästhetischen Präferenzen (Oster- 1724, 5, 126, Taf. 51) publiziert und sepulkralsym-
kamp 1989, 303). Ähnlich wie bei der unterschiedli- bolisch gedeutet. Nr. 177 war in der Anthologie zum
26 »Monumenti antichi inediti« 253

Nasoniergrab (Bartoli, Bellori, La Chausse 1750, 99, zählenden Reliefs überzeugen: Nr. 27, Nr. 28: Ehe-
Taf. 16) als »Opfer an Mars« publiziert worden und zu bruch von Ares und Aphrodite; Nr. 42: Apollon und
Nr. 86 führt W. eine Monografie Begers als Erstver- Marsyas; Nr. 43: Sturz des Phaeton; Nr. 51, 52: Kind-
öffentlichung an (Beger 1703; vgl Hofter 2008, 89–90). heit des Dionysos; Nr. 61: Raub der Leukippiden (statt
Am nachhaltigsten aber bediente er sich bei eigenen Raub der Sabinerinnen); Nr. 66: Herakles, Hesione
Publikationen: aus der Geschichte der Kunst übernahm und Telamon (anstatt Antonius und Kleopatra, SN
er nicht weniger als elf Vignetten als eigene Nummern VI,1, 20); Nr. 93, Nr. 94: Daidalos und Pasiphae;
in die Monumenti: Nr. 105: Fünf gegen Theben (SN IV,1 Nr. 95: Daidalos und Ikaros; Nr. 96: Theseus findet die
IV), Nr. 153: Odysseus und Diomedes (SN IV,1, X); Waffen des Aigeus; Nr. 98: Theseus und Peirithoos ge-
Nr. 78: Sphinx vom Obelisk vom Montecitorio (SN gen Sinnis; Nr. 100: Theseus gegen den Minotauros;
IV,1, 52, 53); Nr. 75: Isisrelief (SN IV,1, 128, 129); Nr. 38: Nr. 102: Hippolytos und Phaidra; Nr. 111: Hochzeit
Relief mit Hermes, Apollon und Artemis (SN IV,1, 130; von Peleus und Thetis; Nr. 115, 116: Paris und Helena;
Nr. 106: Tydeusgemme (SN IV,1, 177), Nr. 190: Phlya- Nr. 123: Protesilaos, anstatt als Abstieg der Toten in
kenkrater (SN IV,1, 178, 179), Nr. 97: Gemme »Phaea« die Unterwelt und Totenklage (Bellori 1693, Taf. 75–
(SN IV,1, 210, 211), Nr. 126: Gemme Peleus (SN IV,1, 77); Nr. 124: Zorn des Achilleus gegen Agamemnon;
234, 235), Nr. 10: Kameo Farnese (SN IV,1, 598, 599), Nr. 131: Nereiden mit den Waffen des Achill; Nr. 132:
Nr. 186: Grabrelief des Alcamenes (SN IV,1, 600, 601). Rüstung Achills; Nr. 134: Hektors Schleifung und Lö-
Das ionische Kapitell aus S. Lorenzo fuori le mura hatte sung; Nr. 135: Hektors Lösung und Heimtragung;
er 1762 in den Anmerkungen über die Baukunst der Al- Nr. 136: Hektors Heimtragung; Nr. 137, 138: Trauer
ten (SN III,13, 40) abgebildet und erläutert. der Andromache und Ankunft der Amazonen;
Die Gliederung des Katalogteils folgt dem Schema Nr. 139: Achill und Penthesileia; Nr. 149: Orest und
der Description des Pierres gravées du feu Baron de Pylades auf Tauris; Nr. 51: Orest vor dem Areopag,
Stosch (SN VII,1): »Mitologia sacra«, »mitologia stori- statt Losorakel der Fortuna von Antium (Paciaudi I,
ca«, »storia greca e romana«. Die fünfte bis siebte 1761, 68); Nr. 157: Odysseus und Teiresias; Nr. 161:
Klasse der Description ist hier allerdings zu »Riti, cos- Odysseus und Eurykleia.
tumi ed arti« zusammengefasst und anstelle der ersten Nikolaus Himmelmann hat nun gezeigt, dass diese
Klasse der »Pierres égyptiennes« ist das Kapitel »Deità durchaus erfolgreiche Methode auch zu eklatanten
egizie« am Ende der »Mitologia sacra« (SN VI,1, 281– Fehldeutungen führte. Die von W. als »Peleus und
292) eingeschoben. Aber auch im Einzelnen folgt die Thetis« gedeutete Erzählung von Nr. 110 zeigt in
Zuordnung der »Description«: Kybele in Gleichset- Wahrheit Mars und Rhea Silvia, ein in der Tat seltenes
zung mit Rhea eröffnet als Vertreterin der ersten Göt- Beispiel eines römischen Mythos auf Sarkophagen
tergeneration die »Mitologia sacra« (SN VII,1, 39; SN (Himmelmann 1971, 13–14). W. erwähnt die rö-
VI,1, 150–151), und Herakles ist ebenfalls unter die mische Deutung selbst in der Vorrede SN VI,1, 20–21)
Götter aufgenommen und gegen Ende der Rubrik zu Sie geht, wie Henning Wrede festellen konnte, zurück
finden (SN VII,1, 161–174; SN VI,1, 257–280). Auch auf den Codex Coburghensis (Wrede/Harprath1986,
der »chronologische« Aufbau der »Mitologia storica« 49, 67 f. Nr. 69). Wrede konnte darüberhinaus nach-
folgt, beginnend mit Prometheus (SN VII,1, 185–186, weisen, dass auch W.s »griechische« Deutungsmetho-
SN VI,1, 295–299) und endend mit Odysseus und Te- de bereits im Codex Coburghensis völlig entwickelt
lemach (SN VII,1, 161, SN VI,1, 441–453) dem war (Wrede 1989); es handelt sich also um eine »Wie-
Schema der Description. derentdeckung« durch ihn.
Der Großteil der von W. zutreffend erklärten Denk-
mäler sind in der Tat Sarkophage, dekorative Reliefs
Die Methode
und Gemmen der Kaiserzeit, die sich an ein in der grie-
In den Monumenti inediti gewann »Winckelmanns chischen Literatur gebildetes Publikum wendeten, das
Hermeneutik« erst richtig und zusammenhängend ih- einen ähnlich klassizistischen Hintergrund hatte wie er
re Konturen, sein spezifischer Zugang zu den Denk- selbst. Dagegen versagt W.s »griechische« Interpretati-
mälern als Illustrationen griechischer Mythologie, on weitgehend vor authentisch griechischen Denkmä-
durch den er sich vom barocken Antiquarianismus lern der Archaik und Klassik (Himmelmann 1971, 14–
absetzte, der sie als Bilder der römischen Geschichte 16). Das Reiterrelief Albani Nr. 62, wahrscheinlich Teil
oder der »mores et instituta« interpretierte. In dieser eines attischen Staatsgrabmahls, wird unter Berufung
Hinsicht können v. a. seine Interpretationen der er- auf das Nr. 63 abgebildete, angeblich verquollene Ohr
254 III Werke

des Siegers als Tötung des Lynkeus durch Polydeukes dagegen um Klytemnaistra, »la quale celebrava con al-
erklärt (SN VI,1, 251, 255–256). Vergleichbares wider- legria e con danza l’ anniversario in cui essa con Egisto
fährt bürgerlichen Grabmälern: das spätarchaische aveva ucciso Agamemnone« (die mit Freude und Tanz
Grabrelief in der Villa Albani Nr. 56 mutiert zur Über- die jährliche Wiederkehr feierte, als sie mit Ägisth
gabe des kleinen Dionysos an seine Ziehmutter Leu- Agamemnon ermordet hatte; SN VI,1, 430).
kothea (SN VI,1, 243–244); zwei Reliefs mit Darstel- Diese Beispiele machen aber auch deutlich, dass
lungen tafelnder heroisierter Toter (Nr. 19, 20) mit »Winckelmanns Hermeneutik« keine Bildhermeneu-
Pferd bzw. Pferdeprotome, ein heroisches Attribut die- tik im eigentlichen Sinne ist, sondern dass er das Bild
ser Gattung, werden zu solchen des Pferdes Arion mit immer und ausschließlich dem Text unterwirft, den es
seinen Eltern Poseidon und Amphitrite (SN VI,1, 174– illustrieren soll. Dabei hatte er an anderer Stelle schon,
175), die Adoranten auf Nr. 20 zu Nereiden, denen Ari- wenn auch in normativer Absicht, die Grundlagen an-
ons Erziehung anvertraut war. Eine frühkaiserzeitliche tiker Bilderzählung skizziert (SN IV,1, 325, 327; Hofter
Variante dieser Ikonographie Nr. 72 wird dagegen als 2008, 151–152) Aber letztlich lag eine streng bild-
Wiedererkennung des Telephos durch Auge gedeutet immanente Hermeneutik außerhalb seiner Reichwei-
(SN VI,1, 280), Nr. 71 als Geburt des Telephos (SN VI,1, te, einerseits weil ihm die Grundlagen dafür fehlten.
277; vgl. Böhm 1995, 416–426). Ebenso verschlossen Denn er berücksichtigte weder die chronologische
blieben W. Darstellungen in der großgriechischen Va- Stellung noch die Besonderheit der Bildträger und ih-
senmalerei von Personen in der Grabädikula (Nr. 22) re Funktion; stattdessen behandelte er etruskische
oder am Grabhügel (Nr. 146), die er in letzerem Falle Gemmen, archaische und großgriechische Vasen, kai-
als Orest und Pylades am Grab des Agamemnon deutet serzeitliche Sarkophage und Reliefs, Wandmalereien
(SN VI,1, 427). Die Überlegungen seines Freundes und Mosaiken indistinkt allein unter dem Gesichts-
Paolo Maria Paciaudi, der in dem Relief Nani das punkt der »Fabel«, als stünden sie im Dienst einer ein-
Grabmonument einer bürgerlichen Verstorbenen er- zigen großen Erzählung. Dies liegt natürlich einmal
kannte, müssen W. zwar bekannt gewesen sein, fanden daran, dass ihm eine differenzierte Chronologie nicht
jedoch keine Berücksichtigung durch ihn (Paciaudi 2, zu Gebote stand, zu der er immerhin die Grundlagen
1761, 273–275; Hofter 2008, 106 f.) gelegt hatte, ebenso wenig eine Typologie der Denk-
Da nach W. in der antiken Bilderwelt auch kein mälergattungen mit ihren gattungsimmanenten Er-
Platz war für »immagini oziose«, gelangte er notwen- zählweisen; dies sollten die großen Aufgaben der Ar-
dig zu Überinterpretationen von Genredarstellungen. chäologie des 19. Jh. werden.
Um die sitzende Landschaftspersonifikation auf dem Derartige Differenzierungen hätten für W. anderer-
Rinderrelief Nr. 67 als Herakles identifizieren zu kön- seits aber auch eine untergeordnete Rolle gespielt, weil
nen, erklärt er ihn als Herkules-Silvanus, der einen Pi- die Texte für ihn einen sehr viel verbindlicheren Sinn
nienast im Arm halte und außerdem als Dendroforos und autoritativeren Status hatten als bloße Erzählung
oder Arboriger verehrt worden sei und dessen Kult zu sein. Ihre Dignität erschöpft sich für ihn nicht in
die Bruderschaft der Dendrofori besorge. Die Pria- dem in der Prefazione angeführten Dictum des Simo-
posherme sei ebenfalls gleichzeitig Silvanus, die dar- nides von der Malerei als stummer Dichtung (SN VI,1,
gestellten Rinder habe dagegen Cacus geraubt und in 18), seit der Renaissance ohnehin locus comunis. W.
der Höhle am Palatin versteckt (ohne dass jedoch der führt Dichtung, Philosophie und bildende Kunst auf
Räuber dargestellt wäre). Die brennende Ara verweise Homer als ihre ursprüngliche Quelle zurück (SN VI,1,
hingegen auf die Apotheose des Herakles, den Hund 19), der bereits in der Antike als Stifter der griechi-
schließlich habe Herakles ebenfalls von Geryoneus schen Religion galt (Herod. 2,53). Für den ehemaligen
geraubt (SN VI,1, 272). Die offensichtlichen Schwä- Theologiestudenten und aufgeklärten Deisten W. hat-
chen dieser eklektizistischen Interpretation werden ten die antiken Dichtungen den Rang »heiliger« Texte,
mit einem vermehrten Aufwand an Gelehrsamkeit deren kanonische Gültigkeit für die gesamte Antike
kompensiert. Noch gesuchter ist W.s Deutung zweier außer Frage stand.
von ihm zu einem einzigen Denkmal zusammengezo-
gener Tänzerinnenreliefs Nr. 147. Die Figur am Rande
Der »Trattato preliminare«
der Abbildung mit dem gesenktem Blick und dem be-
deckten Haupt sei die von Trauer um ihren Vater und Der »Trattato preliminare« war nicht Teil des ur-
Trennungsschmerz von ihren Bruder überwältigte sprünglichen Projekts der Monumenti inediti, und in
Elektra, bei der Tanzenden in der Mitte handele es sich der »Prefazione« gedenkt W. seiner nur in einem Satz
26 »Monumenti antichi inediti« 255

(SN VI,1, 17). Zwar hatte er bereits 1764 eine einlei- sicht des Verfassers, dem es in erster Linie darum ging,
tende Abhandlung »von dem Styl der Egypter, Hetru- den Kenntnisstand der Altertumswissenschaften in
rier, und vornehmlich dem der Griechen« angekün- systematischer Form zu präsentieren und eine Art Bi-
digt (Bibliothek der schönen Wissenschaften und der lanz der Bilderbuch- und Thesauruspublikationen des
freyen Künste 10,2, 1764, 406), konkretere Überlegun- 16. und 17. Jh. vorzulegen (Hofter 2008, 69). In Wirk-
gen dazu wurden jedoch erst erst spät und beiläufig lichkeit knüpft W. bereits mit der Description und da-
angestellt (Br. II, 192). Probleme, die er in seinen Brie- her auch mit den Monumenti inediti direkt an Mont-
fen meinte berühren zu müssen, scheint er mit dem faucons Systematik an – jedoch verbindet er sie mit der
Text nicht gehabt zu haben. Dies wundert nicht, han- inversen Zielsetzung, neue Monumente vorzustellen.
delt es sich doch um eine geraffte italienische Version In dieser Hinsicht blieben die Monumenti paradigma-
des ersten, ontologischen Teils der Geschichte der tisch für das gesamte 19. Jh. Das Lieferungswerk Guat-
Kunst, womit er auch die Gelegenheit nutzte, seine Äs- tanis (Guattani 1784–1805) und das des Instituto di
thetik in Italien und anderweitig außerhalb Deutsch- corrispondenza archeologica (Monumenti inediti
lands bekannt zu machen, und nicht zuletzt, den 1829–1885) liehen nicht zuletzt ihren Titel von W.s Pu-
schiefen Eindruck der missratenen französischen blikation. Zoëgas »Bassirilievi« begreifen sich als ihre
Übersetzung der Geschichte der Kunst zu korrigieren. direkte Fortsetzung (Zoëga I, 1808, III, VII); dies gilt
Der »Trattato« ist aber gegenüber der Geschichte der gleichermaßen für die gesamte sich mit der »Kunst-
Kunst auf das Wesentliche kondensiert, was bereits von mythologie« befassende Literatur in der deutschen
Zeitgenossen (Goethe 1988, 121–122; Heyne 1768, Klassischen Archäologie (Böttiger 1808–1810, Müller–
170) mit Wohlgefallen registriert wurde. Weggelassen Wieseler 1854–1856). Und zwar nicht nur für die
sind die Erörterungen über die mechanischen Aspekte äußere Form des genealogisch geordneten Denkmäler-
der Kunst, die äußeren Gründe der Schönheit, die Ka- apparats, sondern auch für die textorientierte Methode
pitel von der Kunst der Phönizier und Perser sowie der der Interpretation, die sich in der Archäologie des
»mit den Hetruriern gränzenden Völker«, von der 19. Jh. als Erfolgsmodell erwies (Bandinelli 1978, 49–
Kunst unter den Römern, über die Bekleidung und 71).
von der Malerei. Neue Gedanken enthält der »Tratta-
to« nicht; was W. an seiner Geschichte der Kunst zu er- Quellen
gänzen und zu korrigieren hatte, hatte er bereits in den Bartoli, Pietro Santi/Bellori, Giovanni Pietro: Admiranda
Anmerkungen formuliert. Die »Sezione II. Storica«, Romanorum antiquitatum ac veteris sculpturae vestigia.
Rom 1693.
die die Argumentation »Von dem Wachsthume und Bartoli, Francesco/Bartoli, Pietro Santi/Bellori, Giovanni Pie-
dem Falle der Griechischen Kunst« aus der Geschichte tro/La Chausse, Michel-Ange de: Picturae Antiquae Cryp-
(4. Kapitel, 3. Stück) wieder aufnimmt, ist um die Dis- tarum Romanarum Et Sepulchri Nasonum. Rom 1750.
kussion einzelner Denkmäler angereichert. Beger, Lorenz: Alcestis pro marito moriens, et vitæ ab Her-
cule restituta. Kölln 1703.
Boissard, Jean Jacques: Romanae Urbis Topographiae et An-
Die wissenschaftsgeschichtliche Stellung der tiquitatum. 6 Bde. Frankfurt a. M. 1597–1602.
»Monumenti antichi inediti« Böttiger, Karl August: Kunst-Mythologie. 3 Bde. Dresden
1808–1810.
W. bezog sich explizit in der »Prefazione« auf drei be- Cavalleriis, Giovanni Battista de: Antiquarum statuarum
rühmte Stichwerke der Renaissance und des Barock: urbis Romae. 4 Bde. Rom 1585–1594.
Boissard, Bartoli/Bellori und Montfaucon, an deren Galleria Giustiniana del Marchese Vincenzo Giustiniani.
2 Bde. O. O., o. J. [Rom 1631].
Tradition er anküpfen wollte (SN VI,1, 15). Seit dem Goethe, Johann Wolfgang: Winckelmann. In: Ders., Werke.
16. Jh. waren solche Alben als Vorläufer der Coffeetab- Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Bd. 12. Mün-
le-books das Medium, mit dem antike Monumente für chen 1988, 96–129.
das Publikum erschlossen wurden. Manche kamen Guattani, Giuseppe Antonio (Hg.): Monumenti antichi ine-
ganz ohne Text aus (De Cavaleriis, Galleria Giustinia- diti. Ovvero notizie sulle antichità e belle arti di Roma.
6 Bde. Rom 1784–1805.
ni), andere beschränkten sich auf Bildunterschriften
Heyne, Christian Gottlob. In: Göttingische Gelehrte Anzei-
(Perrier, Bellori) oder kommentierten mehr oder we- gen 1768, 146–158; 169–178.
niger ausführlich (Boissard, Sandrart, Maffei). Gegen Maffei, Paolo Alessandro: Raccolta di statue antiche e mo-
Montfaucon erneuert W. seine Kritik aus der Kunst- derne. Rom 1704.
geschichte (GK1, Vorrede, in: KS 239) und wirft ihm Montfaucon, Bernard de: L ’Antiquité expliquée et represen-
Beliebigkeit vor. Allerdings verfehlt er damit die Ab-
256 III Werke

tée en figures. 5 Bde. Paris 1719. Supplement. 5 Bde. Paris Himmelmann, Nikolaus: Winckelmanns Hermeneutik.
1724. Mainz 1971.
Monumenti inediti pubblicati dall’ Instituto di corrispon- Hofter, Mathias René: Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Be-
denza archeologica. Rom 1829–1885. gründung von Johann Joachim Winckelmanns Archäolo-
Müller, Karl Otfried: Denkmäler der alten Kunst. Nach der gie. Ruhpolding 2008.
Auswahl und Anordnung von C. O. Müller, Bearbeitung Justi, Carl: Winckelmann und eine Zeitgenossen. 2 Bde.
durch Friedrich Wieseler. 2 Bde. Göttingen 1854–1856. Leipzig 1943.
Paciaudi, Paolo Maria: Monumenta Peloponnesiaca. 2 Bde. Kalveram, Katrin: Die Antikensammlung des Kardinals Sci-
Rom 1761. pione Borghese. Worms 1995.
Perrier, François/Bellori, Giovanni Pietro: Icones et segmen- Osterkamp, Ernst: Zierde und Beweis. In: Germanisch-Ro-
ta illustrium e marmore tabularum quae Romae adhuc manische Monatsschrift 36 (1989), 301–325.
extant. Rom 1645. Naumer, Sabine: Monumenti antichi inediti. Johann Joa-
Sandrart, Joachim von: L ’Academia Todesca della Architec- chim Winckelmanns großes italienisches Werk, 2000.
tura Scultura et Pictura: oder Teutsche Academie der Ed- http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/
len Bau- Bild und Mahlerey-Künste. Nürnberg 1675. 2008/521 (20.8.2016).
Zoëga, Georg: Li bassirilievi antichi di Roma, 2 Bde. Rom Stoll, Heinrich Alexander: Winckelmann, seine Verleger
1808. und seine Drucker. Berlin 1960.
Wrede, Henning: Die Opera de’ Pili von 1542 und das Berli-
Forschung ner Sarkophagcorpus. Zur Geschichte von Sarkophagfor-
Allroggen-Bedel, Agnes: Die Monumenti inediti: Winckel- schung, Hermeneutik und Klassischer Archäologie. In:
manns »großes italienisches Werk«. In: Altertumskunde Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 104
im 18. Jahrhundert: Wechselwirkungen zwischen Italien (1989), 374–414.
und Deutschland. Stendal 2000, 89–105. Wrede, Henning/Harprath, Richard: Der Codex Coburgen-
Bianchi Bandinelli, Ranuccio: Klassische Archäologie. Mün- sis: Das erste systematische Archäologiebuch. Ausstel-
chen 1978. lungskatalog Coburg 1986.
Böhm, Stefanie: Griechische Sepulkralkunst im römischen-
Mathias René Hofter
Klassizismus. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologi-
schen Instituts 110 (1995), 405–429.
IV Rezeption
A Literatur

27 Kritische Zeitgenossen: Lessing, grundverschiedenen) Kritiken von Lessing und Heyne


Heyne, Herder auf herkömmlichen antiquarischen Methoden, ins-
besondere der Sichtung literarischer Quellen basier-
ten, ging es Herder darum, sowohl W.s Brillanz als auch
Die Geschichte der Kunst des Alterthums erschien 1763 seinen methodischen Mängeln Rechnung zu tragen.
in einer Atmosphäre hoher Erwartung. Dass W. an ei-
nem großen synthetischen Werk arbeitete, war bereits
1757 in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und 27.1 Lessing
der freyen Künste (Br. I, 293–294) annonciert worden.
Einleitung
In dieser Ankündigung bestimmte W. die unmittelbare
persönliche Erfahrung von Altertümern als Funda- Der erste Autor, der es wagte, in gedruckter Form öf-
ment des neuen Werks und schob das reine Buchwis- fentlich substanzielle Kritik an W. zu üben, war Gott-
sen zugunsten des Sehens beiseite. Die Autopsie spielte hold Ephraim Lessing, dessen Laokoon: oder über die
in zweierlei Hinsicht eine grundlegende Rolle: einer- Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Er-
seits in Bezug auf den Geltungsanspruch, den W. selbst läuterungen verschiedener Punkte der alten Kunst-
für seine Interpretationen der griechischen Kunst und geschichte Ostern 1766 erschien. Laokoon war Les-
Kultur erhob, andererseits in Bezug auf die Autorität, sings erste antiquarische Publikation. Vor 1766 war er
die W.s Zeitgenossen seinen Deutungen zusprachen. als Publizist und Dramatiker – Verfasser des bürger-
Selbst die Gedancken über die Nachahmung, die W. ver- lichen Trauerspiels Miss Sara Sampson – bekannt.
fasst hatte, bevor er nach Italien ging, wurden im Kon- Dieser Vorstoß auf ein neues Gebiet mag strategische
text seiner Umsiedlung nach Rom und in der Erwar- Beweggründe gehabt haben: Zu jener Zeit war Lessing
tung rezipiert, wie Friedrich Nicolai in einer begeister- nämlich sehr daran gelegen, seine Eignung für eine
ten Rezension der zweiten Auflage schrieb, »daß die Anstellung an der Königlich Preußischen Staatsbiblio-
schönen Künste [dar]aus... großen Nutzen schöpfen thek – ein Posten, für den auch W. als Kandidat infrage
würden« (Nicolai 1757, 347). W.s Ausspruch »Ich kam kam – oder an der Dresdner Gemäldegalerie unter
nach Rom, nur um zu sehen« (Br. I, 226), der von Nico- Beweis zu stellen (Fick 2010, 258; Nisbet 2013, 330).
lai zitiert wird, wurde zu einem Prüfstein seiner Me- Ein öffentlicher Disput mit einem angesehenen Anti-
thode und zu einem Schlüsselelement seiner Selbst- quar war eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der
positionierung gegenüber anderen Antiquaren (vgl. Gelehrtenwelt auf sich zu ziehen. Die Polemik zählte
etwa seine einleitenden Anmerkungen in GK1 und ohnehin zu Lessings bevorzugten literarischen Strate-
AGK: SN IV,1, XVI–XXVIII; IV,4, 7–10). gien: Im 70. Stück seiner 1768 veröffentlichten Ham-
Diesen Autoritätsanspruch konnten W.s Leser in burgischen Dramaturgie rät er dem Kritiker: »Er suche
seiner Heimat Deutschland nicht anfechten, da sie kei- sich erst jemanden, mit dem er streiten kann: so
nen unmittelbaren persönlichen Zugang zu den Alter- kömmt er nach und nach in die Materie, und das übri-
tümern besaßen, die er beschrieb. Vergleichsweise we- ge findet sich.« (Lessing, Werke und Briefe VI, 535;
nige seiner frühen Rezensenten gingen über Bewun- Mauser/Sasse 1993).
derung für W.s Analyse oder begeistertes Lob für seine Der Erfolg des Laokoon war so groß, dass er den
Sprache hinaus und setzten sich kritisch mit seinen Ar- Werken W.s in ihrer Wirkung auf die Nachwelt in
gumenten auseinander. Drei Autoren unterzogen je- nichts nachsteht: Lessings Schrift wird heute als
doch zu seinen Lebzeiten seine Argumente einer Markstein in der Geschichte der Ästhetik gefeiert.
gründlicheren Prüfung. Während die (ansonsten Während die engen Grenzen, die Lessing zwischen

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_27, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
27 Kritische Zeitgenossen: Lessing, Heyne, Herder 259

Malerei und Bildhauerei als Raumkünsten und der Li- weise behauptete, mit W.s neuestem Werk erst in Be-
teratur als Zeitkunst zu ziehen suchte, infrage gestellt rührung gekommen zu sein, nachdem er seine eigene
wurden und die Unterscheidung zwischen »natürli- Schrift bereits in Druck gegeben hatte; er habe daher
chen« und »willkürlichen Zeichen« – auf der seine Ar- nur in einen wenigen, eilig verfassten und unvollstän-
gumentation basiert – nun als Produkt ihrer Zeit er- digen Schlusskapiteln darauf eingehen können (Les-
scheint, findet die Einsicht, dass visuelle und verbale sing 1985–2003, V,2, 183–206; Fick 2010, 257). Élisa-
Repräsentation unterschiedlichen Regeln folgen, An- beth Décultot (2013, 323–328) hat gezeigt, von wel-
erkennung als Wendepunkt in der Geschichte der Äs- chem strategischen Nutzen diese falsche Behauptung
thetik, weil sie mit der Tradition des ut pictura poesis für Lessing war, gab sie ihm doch die Möglichkeit, sei-
der neoklassischen Kunsttheorie und Poetik bricht ne Diskussion auf die Laokoon-Beschreibung aus den
und die moderne Erzähl- und Zeichentheorie vor- Gedancken zu beschränken, wo W. – anders als in der
bereitet (vgl. bspw. Giuliani 2003). Zahlreiche Sam- Geschichte – Parallelen zu Vergil und Sophokles gezo-
melbände (Gebauer 1984, Koebner 1989, Burwick gen hatte, die Lessing als Ausgangspunkt für die Aus-
1999, Baxmann u. a. 2000, Robert/Vollhardt 2013, Lif- arbeitung seiner medienästhetischen Unterscheidung
schitz/Squire 2017) zeugen von der anhaltenden intel- zwischen »Mahlerey« und »Poesie« diente. Décultot
lektuell-historischen und philosophischen Auseinan- geht Lessings forciertem Versuch nach, den Kontrast,
dersetzung mit Lessings Argumenten. den W. zwischen Vergils Beschreibung des troja-
nischen Priesters Laokoon und der berühmten Skulp-
tur festgestellt hatte (»Er erhebt kein schreckliches Ge-
»Laokoon« und die »Gedancken«
schrey, wie Virgil von seinem Laokoon singet [...]; es ist
Lessing war mit W.s Schriften spätestens seit 1756 ver- vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie
traut, als Moses Mendelssohn ihn in einem Briefwech- es Sadolet beschreibet«) in einen Vergleich umzumün-
sel auf die Gedancken über die Nachahmung aufmerk- zen, um W. – entgegen der allgemeinen Tendenz seiner
sam machte. Ferner wird Lessing sicher die Rezension Schriften – als Anhänger des ut pictura poesis dar-
Friedrich Nicolais in der Bibliothek der schönen Wis- zustellen. Lessings Umgang mit W.s Erwähnung von
senschaften gekannt haben. Seit der ersten Begegnung Philoktetes ist nicht weniger tendenziös. Wenn W. be-
im Jahr 1754 hatte sich eine tiefe Freundschaft zwi- merkt, dass »Laokoon leidet, aber er leidet wie des So-
schen Lessing, Nicolai und Moses Mendelssohn ent- phokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die See-
wickelt. Ihren Höhepunkt erreichte ihre Zusammen- le; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann das
arbeit mit den Briefen, die neueste Literatur betreffend Elend ertragen zu können«, so ist gemeint, dass beide
von 1759–1765; sie dauerte indes bis in die 1770er Jah- Helden angesichts von höchstem Leid gleichermaßen
re an. Sowohl Mendelssohn als auch Nicolai haben bewundernswert sind; die Formulierung bedeutet
Entwürfe zum Laokoon kommentiert. Einer dieser nicht zwangsläufig, dass eine strenge Übereinstim-
Entwürfe vom Anfang des Jahres 1763 (Lessing 1985– mung im emotionalen Ausdruck (schreien/seufzen)
2003, V,2, 217–245) zeugt vom Einfluss der Gedancken vorliegt. Herder wird in seinem ersten Kritischen
über die Nachahmung. Doch erst im Laufe des darauf- Wäldchen W.s Analyse des seinen Schmerz unterdrü-
folgenden Winters überarbeitete Lessing seine Schrift, ckenden Philoktetes gegen Lessings Idee des schreien-
um W. ins Zentrum seiner Abhandlung zu rücken. den Helden verteidigen (Raulet 2013, 34–38).
Entwurf Nr. 7, der aus jener Zeit stammt, beginnt mit
einem Verweis auf W.s Beschreibung der Laokoon-
Intellektueller Hintergrund: Debatten über die
Gruppe in den Gedancken; die späteren Abschnitte
Tragödie
enthalten Referenzen auf die Geschichte der Kunst
nach Seitenzahlen (Lessing 1985–2003, V,2, 253–256). Lessings Beharren auf einem gesteigerten emotiona-
Dies steht im Kontrast zu früheren Entwürfen, in de- len Ausdruck von Sophokles’ Helden sowie die eher
nen die Kritik an anderen Antiquaren – hauptsächlich allgemeine Behauptung, »daß Schreien bei Empfin-
dem Comte de Caylus und Joseph Spence – mehr dung körperlichen Schmerzes, besonders nach der al-
Raum einnimmt. ten griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer
Die Hypothese, dass die Veröffentlichung der Ge- grossen Seele bestehen kann« (Lessing 1985–2003,
schichte der Kunst den Anstoß für die Überarbeitung V,2, 21–22), weisen auf das hin, was ihn ursprünglich
des Laokoon gab, wird dadurch zwar nicht widerlegt, zum Studium der Gedancken gebracht hatte. Wie er-
aber doch verkompliziert, dass Lessing fälschlicher- wähnt, war es Moses Mendelssohn, der Lessing Ende
260 IV Rezeption

1756 im Rahmen einer Debatte zwischen ihm selbst, diese Identifizierung wird er später in seinem 38. Anti-
Lessing und Nicolai über die Tragödie erstmals auf quarischen Brief zurücknehmen). Im Falle des Lao-
die Schlüsselpassage aufmerksam gemacht hatte (der koon (XXVI–XXVII) greift Lessing auf die entspre-
sogenannte Briefwechsel über das Trauerspiel; vgl. chenden Textstellen bei Plinius zurück, um zu be-
Martinec 2003, 2013). In diesem Briefwechsel zitierte gründen, dass der römische Gelehrte die Bildhauer in
Mendelssohn die Beschreibung W.s, um die eigene die Frühzeit des Römischen Reiches datiert hatte, und
Behauptung zu untermauern, dass antike Schriftstel- behauptet, dass diese Textanalyse schwerer wiege als
ler und Künstler »ihre Götter und Helden niemals alle Gründe, die W. »aus der Kunst« ziehen konnte
von einer ausgelassenen Leidenschaft dahin [hätten] (Lessing 1985–2003, V,2, 183–190). Insgesamt kommt
reißen lassen« und stattdessen die Leidenschaften in diesen Kapiteln eine grundsätzliche Skepsis gegen-
stets »von einer gewissen Gemütsruhe begleitet [dar- über der Reichweite von W.s Methode der Autopsie
gestellt hätten], dadurch die schmerzliche Empfin- zum Ausdruck: Lessing bedient sich wiederholt der
dung des Mitleidens gleichsam mit einem Firnisse philologischen Analyse, um Winkelmanns Deutun-
von Bewunderung und Ehrfurcht überzogen wird« gen zu korrigieren oder schlichtweg zu widerlegen.
(Mendelssohn an Lessing, erste Dezemberhälfte 1756, Walther Rehm hat in einem Beitrag von 1951 diesen
in: Lessing 1985–2003, III, 690). W.s Deutung von Gegensatz zwischen Philologie und Autopsie zu einer
Laokoon, der seinen Schrei unterdrücke, stützt Men- grundsätzlichen Differenz im Temperament der bei-
delssohns These gegen Lessing, dass »Bewunderung« den Männer erklärt. Dies ist freilich übertrieben. Wer-
– und nicht »Mitleid« – der höchste tragische Effekt ke wie das Sendschreiben von den Herculanischen Ent-
sei. Die Fortführung dieser Auseinandersetzung, deckungen und die Monumenti zeigen, dass W. glei-
wenn auch sotto voce, kann erklären, warum Lessing chermaßen in der Lage war, philologisch zu verfahren.
in den frühen Kapiteln des Laokoon darauf beharrt, Lessings Bevorzugung des Buchs gegenüber dem Auge
dass ›Alles Stoische untheatralisch [ist]‹ (Lessing reicht tiefer (vgl. Riedel 2011). Lessings wenn auch po-
1985–2003, V/2, 21). Vollhardt (2013) zeigt, dass die- tenziell doppeldeutiges Gesamturteil, dass »es kein ge-
ser Abschnitt des Laokoon viel Material aus Lessings ringes Lob [ist], nur solche Fehler begangen zu haben,
unvollendetem Projekt einer kritischen Übersetzung die ein jeder hätte vermeiden können« (Lessing 1985–
von Sophokles’ Stücken enthält. Auch wenn W. in den 2003, V,2, 200), diente als Vorlage für spätere Beurtei-
einleitenden Kapiteln des Laokoon eine gewichtige lungen, die die Mängel von W.s Methode zwar einräu-
Rolle spielt, ist Lessing nicht nur darauf bedacht, ei- men, aber dennoch daran festhalten, dass seine Größe
nen Kommentar zu den Gedancken vorzulegen, son- dadurch nicht beeinträchtigt werde. In deutlichem
dern will auch ein bestimmtes Verständnis von der Kontrast zu Lessings späteren Disputen mit Christian
Wirkmacht der dramatischen, insbesondere der tra- Adolf Klotz und Johann Melchior Goeze sinkt Lessings
gischen Dichtung verteidigen. Kritik an W. nie auf die Ebene persönlicher Angriffe
ab. Auch wenn Lessing jede Gelegenheit nutzt, um W.
zu korrigieren, zitiert er ihn in seinen späteren anti-
Kritik an der »Geschichte der Kunst des
quarischen Schriften – den Briefen antiquarischen In-
Alterthums«
halts (1768–1769) und Wie die Alten den Tod gebildet
In den Kapiteln des Laokoon (XXVI–XXIX), in denen (1769) – weiterhin respektvoll. Multhammer (2015,
Lessing sich mit der Geschichte befasst, beziehen sich 198) nimmt an, dass der moderate Ton, den Lessing im
seine Beobachtungen auf W.s Interpretationen be- Laokoon anschlägt, selbst für Freund und Bekannte
stimmter Skulpturen und nehmen die konventionelle verwunderlich gewesen sei, da sie mit einer stärkeren
Form kritischer antiquarischer Bemerkungen an. Sei- Polemik gerechnet haben dürften.
ne wesentlichen Berichtigungen betreffen die Datie-
rung zweier antiker Skulpturen, die im 18. Jh. höchste
Winckelmanns Reaktion
Bewunderung genossen: die des Borghesischen Fech-
ters und die der Laokoon-Gruppe. Auf der Grundlage Das schmeichelnde Gewand, in das Lessing seine Kri-
literarischer Quellen behauptet Lessing, dass es sich tik gekleidet hat, erklärt die unsicheren und wechseln-
bei dem Fechter, den W. als griechischen Athleten um- den Reaktionen W.s auf den Laokoon in seinen Brie-
gedeutet und mithilfe von Inschriften früher datiert fen. W.s erste Erwähnung von Lessings Schrift ist de-
hatte, um den Athener Feldherrn Chabrias aus dem 4. fensiv: Im Mai 1766 bittet er Georg Conrad Walther
vorchristlichen Jahrhundert handle (Kapitel XXVIII; um Zusendung eines Exemplars des Laokoon sowie ei-
27 Kritische Zeitgenossen: Lessing, Heyne, Herder 261

ner negativen Rezension der Allegorie von Christian


Lessings Abwertung der Allegorie
Adolf Klotz, um in der Vorrede zu den in Kürze er-
scheinenden Anmerkungen über die Geschichte der Ein weiterer Aspekt von Lessings Abhandlung sollte
Kunst (Br. III, 178) auf beide reagieren zu können. In sich für die zeitgenössische W.-Rezeption als wesent-
Briefen, die W. im Sommer 1766 an unterschiedliche lich herausstellen: Lessings Abwertung der visuellen
Briefpartner verfasste (Br. III, 182–183, 188–191, 192– Allegorie. Bereits in den Gedancken hatte W. die alle-
194, 195–196), beklagt er, dass er immer noch auf das gorische Malerei charakterisiert als höchste Aufgabe
Exemplar warte, und er betrachtet die Aufgabe einer eines »Künstler[s], der eine Seele hat, die dencken ge-
öffentlichen Widerlegung entweder in den Anmer- lernet« – eine Aufgabe, die es dem Künstler ermögli-
kungen oder dem ›Trattato preliminare‹ zu den Monu- che, die Grenzen der Malerei zu überwinden und sich
menti als vorrangig. Nachdem er Lessings Schrift selbst als »Dichter« zu etablieren (KS 55). W. selbst
schließlich gelesen hatte, war seine erste Reaktion wollte mit seinem Versuch einer Allegorie, besonders
Freude: In einem Brief an Schlabbrendorf, den W. acht für die Kunst, der im Frühjahr 1766 fast zeitgleich mit
Tage nach Erhalt des Werkes im August 1766 verfasst Lessings Laokoon erschien, die Forderung nach ei-
hat, schreibt er, dass Lessing »schreibt wie man ge- nem »gelehrten Vorrath [erfüllen] [...] wohin er [der
schrieben zu haben wünschen möchte«, und bemerkt: Künstler] gehen, und bedeutende und sinnlich ge-
»Wie es rühmlich ist von rühmlichen Leuten gelobet machte Zeichen von Dingen, die nicht sinnlich sind,
zu werden, kann es auch rühmlich werden, ihrer Be- nehmen könnte« (Gedancken1, KS 56). Laokoon war
urtheilung würdig geachtet zu seyn« (Br. III, 198–199; zumindest teilweise für die kühle Rezeption dieses
Schlabbrendorf war mit Lessing bekannt und hatte an- Buches verantwortlich, das zu den am wenigsten er-
geboten, einen Briefwechsel zwischen den beiden folgreichen Werken W.s gehört. In deutlichem Ge-
Männern zu vermitteln). Bereits im September schlug gensatz zu W.s großer Wertschätzung für die Allego-
W. in einem Brief an Francke indes einen weniger ver- rie wendet sich Lessing gegen die »Allegoristerey« als
söhnlichen Ton an (»Des Herrn Lessings Schrift [...] den wesentlichen »üble[n] Einfluss«, den die Traditi-
ist schön und scharfsinnig geschrieben; aber über sei- on des ut pictura poesis auf die Malerei ausübte. Les-
ne Zweifel und Entdeckungen hat er viel Unterricht sing lehnt die Darstellung von »personifierte[n] Abs-
nöthig. Er komme nach Rom, um auf dem Ort mit tracta« durch symbolische Attribute als bedauerns-
ihm zu sprechen« (Br. III, 204). Schließlich wurde sein werte Notwendigkeit ab, die dem bildenden Künstler
Ton sogar abschätzig (»... es ist schön geschrieben, ob- durch die Gesetzmäßigkeiten der visuellen Darstel-
gleich nicht ohne bekannte Fehler in der Sprache: die- lung auferlegt werde, und argumentiert, dass die kon-
ser Mensch hat aber so wenig Kenntniß, da [daß?] ihn ventionalisierte Sprache der Allegorie im Widerstreit
keine Antwort bedeuten würde, und es würde leichter zu künstlerischer Größe stehe, da sie den Maler da-
seyn einen gesunden Verstand aus der Uckermark zu von abhalte, nach den Imperativen des Schönen frei
überführen als einen Universitätzwitz, welcher mit zu schaffen (vgl. beispielsweise Lessing 1985–2003,
Paradoxen sich hervorthun will«; Br. III, 220). Die öf- V,2, 15; 217–218; Multhammer 2015). Angesichts der
fentliche »Reaktion«, die W. erwogen hatte, schob er ablehnenden Haltung Lessings gegenüber der Alle-
immer wieder auf – von den Anmerkungen bis zu den gorie wirkt W.s detaillierte Ausarbeitung wenig über-
Monumenti und darüber hinaus. Und die Forderung, zeugender Allegorien für die Kunst ebenso barock
Lessing solle nach Rom kommen, um zu sehen, war wie nutzlos. Um nur eine Reaktion anzuführen: Eine
eine typische Reaktion W.s auf seine Kritiker. Rehm Rezension in den Göttingischen Anzeigen von gelehr-
versteht W.s Satz im Vorbericht der Anmerkungen – ten Sachen (höchstwahrscheinlich aus der Feder von
»Ich entsehe mich nicht die Mängel der Geschichte Albrecht von Haller) führt zu Beginn folgende Be-
der Kunst zu bekennen...« – als Anspielung auf Les- obachtung Lessings an: »Eigentlich, in so fern die
sings Kritik. Diese Deutung wird jedoch von den He- Schönheit der höchste Zweck der Kunst ist, ist die Al-
rausgebern der neuesten kritischen Ausgabe bezwei- legorie gar kein Gegenstand der Mahlerey sondern
felt (SN IV,4, 7, mit dem Kommentar; im Gegensatz blos in so fern die Kunst Begriffe ausdrucken will,
dazu KS 493–494). Immerhin gibt es Hinweise darauf, und in so fern sie in die Grenzen der Schrift eintritt.«
dass W. beabsichtigte, einige von Lessings Berichti- ([Haller] 1766: 676). Rehm (Br. IV, 135–142) führt
gungen in der zweiten Auflage der Geschichte der weitere negative Kommentare über die Allegorie von
Kunst zu berücksichtigen (Rehm 1951, 191–194; Rie- Zeitgenossen W.s an.
del 2011, 36–37).
262 IV Rezeption

27.2 Heyne nes Verhältnis zu W. im Speziellen siehe Bruer 1994,


26–42, Harloe 2013, 161–187; Bäbler 2014).
Heyne als Freund und Publizist Winckelmanns
Christian Gottlob Heyne war neben Lessing der ein-
Heynes Vorlesungen über die Archäologie
flussreichste zeitgenössische deutsche Kritiker W. s.
Während seiner vier Jahrzehnte währenden Lehrtätig- Obzwar Heynes primäres Fachgebiet die griechische
keit als Professor der Beredsamkeit und Dichtkunst an und römische Literatur war (er war Autor von hoch-
der Universität Göttingen (1763–1812) war Heyne – gelobten Kommentaren zu Vergil, Tibull, Pindar und
der W. in Sachsen kennengelernt hatte und bis zu sei- Homer), hatte er vor der Aufnahme seiner Lehrtätig-
nem Tode im Briefwechsel mit ihm stand – eine der keit in Göttingen auch eine antiquarische Schrift ver-
wichtigsten Schaltstellen für die Verbreitung von W.s öffentlicht: den Kommentar zum dritten Band der
Ideen im Deutschland des 18. Jh. Durch Rezensionen Dactyliotheca Universalis von Philipp Daniel Lippert
von W.s Schriften in den Göttingischen Gelehrten An- (Lippert/Heyne 1762). Daniel Graepler (2014, 80)
zeigen, die berühmten Vorlesungen über die Archäolo- glaubt, dass Heynes Mitarbeit an den Daktyliotheken
gie, die er ab 1767 jedes Jahr hielt, und zahlreiche anti- von Lippert und nicht sein Interesse an W. ausschlag-
quarische Publikationen in lateinischer und deutscher gebend für die Entscheidung gewesen sei, eine Vor-
Sprache machte Heyne W.s Schriften einem größeren lesungsreihe über die Archäologie in Göttingen vor-
Publikum bekannt und zu einem festen Bestandteil zuschlagen. Andererseits bezeugt Heynes Schwieger-
des universitären Lehrplans (Wilamowitz-Moellen- sohn Arnold Heeren: »Heyne war durch Winkel-
dorff 1921, 45). Nach W.s Tod war er der erste Brief- manns Werk für das Studium der Kunstgeschichte
partner, der den gemeinsamen Briefwechsel zur Ver- begeistert worden« (Heeren 1813, 522). Und Heynes
öffentlichung freigab. Dadurch und als Verfasser einer Kommentar im Vorwort zu seiner Sammlung antiqua-
preisgekrönten »Lobschrift auf Winkelmann«, die rischer Aufsätze, demzufolge W. »das antiquarische
1778 erschien (Heyne 1963), trug er – wenn auch un- Studium in sein rechtes Gleis gebracht und uns ein-
wissentlich – zum wachsenden Interesse am Leben W.s geleitet hat, die alten Kunstwerke als Kunstwerke zu
in den Jahrzehnten nach seinem Tod bei. Trotz der aus studiren«, liest sich wie der Versuch, W.s Methode von
zeitgenössischer Sicht engen Verbindung war Heyne der antiquarischen Forschung der vorhergehenden
alles andere als ein unkritischer Leser W. s. Auch wenn Generationen abzugrenzen, die – wie er in der »Lob-
die anhaltende kritische Erforschung der Archäologie- schrift auf Winkelmann« schrieb – lediglich »weit-
Vorlesungen Heynes bislang kein abschließendes Ur- schweifige, bis zum Eckel ausgedehnte Abhandlun-
teil darüber zulässt, inwiefern sich W.s Ideen auf Hey- gen« hervorgebracht hätten, die weit entfernt gewesen
nes Lehre auswirkten, ist der Ton in den veröffentlich- seien von »der Einsicht und dem Geschmack eines
ten Rezensionen und antiquarischen Schriften durch- wahren Kenners« (Heyne 1778, vii, s. a. Heyne 1963,
weg überlegt und bedacht, wenn auch skeptisch. 20). Heyne bewundert W. für sein ästhetisches Feinge-
Während Carl Justi die schärfsten Kritiken Heynes auf fühl und seinen Sinn für »das Ganze« – den Versuch,
Neid zurückführt (Justi II, 231–232), bestätigt die die Interpretation antiker Kunstwerke in ein ganzheit-
jüngste Forschung tendenziell folgende Schlussfolge- liches Verständnis für den kulturellen Kontext ein-
rung von Balbina Bäbler: »In jedem Fall sollte man die- zubetten, in dem sie entstanden sind. Diese Akzente
ses statt unter dem Aspekt der ›Krittelns‹ auch einmal gehen deutlich aus Heynes Stellungnahmen hervor
von der Perspektive aus sehen, dass Heyne wohl der (Döpp 2014; Harloe 2015). In der »Lobschrift« macht
einzige Zeitgenosse war, der W.s Werke einer wirklich er das Beispiel W.s zur Grundlage einer programmati-
fachlichen, tiefgründigen Analyse unterzog und sie al- schen Formulierung der Ziele und Methoden einer
so einer sehr genauen und aufmerksamen Lektüre für neuen »Wissenschaft des Alterthums«.
würdig gehalten haben muss; seine Kritik ist nicht nur Dennoch bleibt unklar, inwieweit Heynes Vor-
sachlich immer gerechtfertigt, sondern auch konstruk- lesungen über die Archäologie einem an W. angelehn-
tiv und für das Fach weiterführend. Damit ist Heyne ten Programm folgten. Auch wenn der 1772 unter
letztlich der Zeitgenosse, der W. am meisten gerecht dem Titel Einleitung in das Studium der Antike ver-
wird« (Bäbler 2014, 130; die umfassendste Diskussion öffentlichte Abriss des Vorlesungsstoffes Hinweise da-
von Heynes wissenschaftlicher Tätigkeit insgesamt fin- rauf enthält, dass Heyne sich eng an Teil I der Ge-
det sich in Heidenreich 2006; s. a. Vöhler 2002, Forna- schichte der Kunst hielt – denn er verweist auf »Physi-
ro 2004, Bruer 1994, Bäbler/Nesselrath 2014; zu Hey- sche und sittliche Ursachen« und deutet die griechi-
27 Kritische Zeitgenossen: Lessing, Heyne, Herder 263

sche Kunst als »die höchste Vollkommenheit der gung und Ergänzung der Winkelmannischen Geschichte
Kunst« (Heyne 1772, 10–12) –, findet man in erhalten der Kunst (Heyne 1771) und in ihrer Fortsetzung, Über
gebliebenen Vorlesungsmitschriften von Studenten die Künstlerepochen beym Plinius (Heyne 1778, 165–
kaum Spuren dieses Entwicklungsschemas (Graepler 236). Darin legte Heyne eine fundierte Kritik an der
2014, 95–97; siehe weiter Dohl 2007, Bräuning-Okta- Art und Weise vor, wie W. Pausanias und Plinius – zwei
vio 1971). Für Graepler, Kurator einer neuen Online- kanonische Autoren zur Kunst des Altertums – genutzt
Edition von Transkriptionen (heyne-digital.de; die hatte, um seine Chronologie der griechischen Kunst
früher veröffentlichte Edition, Anon. 1822, ist äußerst vor Phidias zu konstruieren. Während die »Berichti-
unbefriedigend) zeigt dies »Heynes ambivalentes Ver- gung« aus einer Liste von Korrekturen einzelner Fehler
hältnis zur Konzeption von W.s Geschichte der Kunst besteht, enthält »Über die Künstlerepochen« eine all-
des Altertums« (Graepler 2014, 96). Graepler glaubt gemeine Kritik daran, wie W. Plinius’ Liste berühmter
aber, dass Heyne W.s Betonung des Visuellen befür- Künstler, die in verschiedenen Olympiaden zur Blüte
wortet habe und diese hohe Wertschätzung des Auges gekommen waren, verwendet hatte. Gegen W., der die-
im Widerspruch sowohl zu der älteren archaeologia se Gruppierungen als Hinweise auf geschichtliche
litteraria seiner Leipziger Lehrer, Christ und Ernesti, Epochen gedeutet hatte, die für die Kunst förderlich
als auch zur philologischen Archäologie von Nachfol- waren, argumentierte Heyne, dass Plinius selbst sie
gern im 19. Jh. wie z. B. Karl Otfried Müller stehe synchronistischen Kapiteln von inzwischen verloren-
(Graepler 2014, 99–104). Die starke Verbreitung von gegangenen allgemeinen politischen oder historischen
Mitschriften und der Ruhm dieser Vorlesungen stüt- Chroniken entnommen hatte. Falls das stimmt, wären
zen zumindest Graeplers Schlussfolgerung: »Es be- Plinius’ Gruppierungen keine eindeutigen Belege für
steht kein Zweifel, dass diese Vorlesung zur Institutio- eine Geschichte vom Aufstieg und Niedergang der
nalisierung der Archäologie im frühen 19. Jh. ent- Kunst, wie W. sie dargestellt hatte.
scheidend beigetragen hat« (Graepler 2014, 97). Da Heyne übt auch Kritik an W.s historischer Darstel-
die Editionsarbeit an den Transkripten fortgesetzt lung insgesamt. So verweist er gleich auf mehrere Aus-
wird, darf für die Zukunft auf weitere Erkenntnisse ge- nahmen zu W.s Behauptung, dass Perioden, in denen
hofft werden. Frieden und Freiheit herrschte, mit Epochen von
künstlerischer Größe einhergingen (siehe zum Bei-
spiel die Abhandlung zur Pentekontaetia und zum Pe-
Antiquarische Aufsätze
loponnesischen Krieg, Heyne 1778, 183–184). Heyne
Hinweise auf Heynes ambivalente Haltung zu W.s For- lehnt die Gültigkeit von allgemeinen Ursachen wie
schungsarbeit finden sich auch in Heynes antiquari- »Freiheit« ab und argumentiert stattdessen, dass
schen Schriften. Seine grundlegendste Kritik ist in künstlerische Blütezeiten in wesentlich höherem Maß
mehreren Aufsätzen aus den 1770er Jahren enthalten. von lokalen Faktoren abhängig seien, allen voran den
Darin wendet Heyne sich W.s historischem Narrativ Aktivitäten großzügiger und aufgeklärter Mäzene
über die Kunst des Altertums »nach den äußern Um- (Heyne 1778, 171–173).
ständen der Zeit unter den Griechen betrachtet« aus Wie Lessing zweifelt auch Heyne an W.s Datierun-
dem zweiten Teil der Geschichte der Kunst zu. Wie Les- gen bestimmter Skulpturen, etwa der Niobidengruppe
sing wählt auch Heyne hier einen philologischen an- (Heyne 1778, 230–235), des Farnesischen Stiers (Heyne
statt eines archäologischen Ansatzes und sichtet die 1779, 186) und der Laokoon-Gruppe (Heyne 1779,
Textstellen der antiken literarischen Quellen, auf die 1–52). Doch auch wenn Heyne die Zuverlässigkeit von
W. sich gestützt hatte, um die Richtigkeit seiner Dar- W.s Methode des Sehens in manchen Fällen infrage
stellung auf die Probe zu stellen. Heynes Kritik, die stellt, geht er nicht so weit wie Lessing, Buchwissen dem
umfassender war und auf einem gründlicheren Studi- Auge vorzuziehen, und bringt seine Bewunderung für
um der Quellen basierte, betrifft W.s Datierung einzel- W.s ambitioniertes Programm zum Ausdruck. Aus ei-
ner Bauwerke und die Prinzipien, die W. seinem his- nem Brief von 1772 an den sächsischen Kunstsammler
torischen Narrativ zugrunde gelegt hatte. Christian Ludwig von Hagedorn geht hervor, wie sehr
Heyne entwickelt seine Kritik über mehrere Publi- Heyne seine eigene antiquarische Arbeit der Leistung
kationen – von einer Rezension der Monumenti aus W.s untergeordnet sah: »Die Sache also, worauf es an-
dem Jahre 1768 bis zu seiner Lobschrift ein Jahrzehnt kömmt, und die Aufgabe ist diese: ›Von allen den Mate-
später. Die ausführlichsten und vernichtendsten Ein- rialien, die hin und wieder in den Werken der Antiqua-
wände finden sich in zwei Aufsätzen: in der Berichti- ren zerstreuet sind, ein regelmäßiges und übersehbares
264 IV Rezeption

Gebäude aufzuführen; und das hat zuerst und allein ratur (1766–1768) bis zum Spätwerk Kalligone (1801)
unsrer W. versucht. Das nächste alsdann ist: Dem Stu- und der zum Teil posthum veröffentlichen Adrastea
dio des Alterthums eine wissenschaftliche Gestalt zu (1801–1804; s. Kap. 28). Dass der junge Herder gewis-
geben, so daß es, wie andre Wissenschaften, nach einer se Züge von W.s Stil und Symbolik imitiert hat, ist
bequemen Methode vorgetragen werden kann; und das schon mehrfach angemerkt worden (Irmscher 1973;
habe ich versucht« (zitiert nach Graepler 2014, 90; s. a. Décultot 2013, 83–84). Décultot und andere haben
Bräuning-Oktavio 1971, 38 ff.). außerdem gezeigt, dass das überschwängliche Lob für
W., das sich in allen Schriften von Herder verstreut
findet, mit grundsätzlichen Differenzen koexistiert: in
27.3 Herder Bezug auf die Erhöhung Griechenlands über andere
antike Kulturen wie beispielsweise Ägypten, seine Be-
Im Herbst 1766 äußerte sich der junge Herder in ei- vorzugung spätklassischer und hellenistischer Kunst
nem Brief, den er aus Riga an den in Königsberg le- vor der archaischen und seine Weigerung, diffusionis-
benden Schriftsteller und Juristen Johann George tische Theorien zur Entwicklung der Kunst des Alter-
Scheffner schrieb, zu Lessing und W.: tums zu tolerieren. Zu nennen ist auch der Gegensatz
zwischen der visuellen Ästhetik W.s und dem physio-
»[...] Lessing, mit Winkelmann zu vergleichen: ist jener logischen und synästhetischen Ansatz Herders, der
fruchtbarer und nützlicher, dieser mühsamer und flei- dem Tastsinn eine übergeordnete Rolle bei der Rezep-
ßiger; jener denkt mehr, und weiß es uns zu zeigen, tion von Skulpturen einräumt (Décultot 2013; Raulet
nicht blos, was, sondern wie ers gedacht hat; er führt 2013; Harloe 2013, 205–243). Zwei Aspekte verdienen
uns in die Werkstädt seines Geistes und lehrt uns den- eine ausführlichere Behandlung.
ken; dieser hat seine größte Gedanken aus den Alten, Erstens spielt W. trotz des Gegensatzes zwischen
und wo er denkt, zeigt er uns gleichsam nur das Pro- seiner platonisierenden Ästhetik des Auges und der
dukt seiner Geistesarbeit, nicht seine Denkart; jener ist haptischen Methode, die Herder in seinem Vierten
blos ein gelehrter Raisonneur von Genie und Ge- Wäldchen und in Plastik beschreibt (Raulet 2013), in
schmack; dieser ein geschmacksvoller Antiquarius von Herders ästhetischer Theorie weiterhin eine entschei-
wenigem, aber starkem Urtheil. Lessing sitzt auf Win- dende Rolle als positives Modell des engagierten und
kelmanns Schultern, und sieht also größer, und weiter: emphatischen Betrachters. Das eindringliche Bild aus
unter die Aesthetikern von Profession steht Winkel- Plastik von einem aktiven, entzückten Liebhaber, »der
mann und unter den Philologen vom Handwerk Les- tiefgesenkt um die Bildsäule wanket« und dessen »Au-
sing nicht vorzüglich in ihrer Sphäre, und wir versezzen ge [...] Hand, der Lichtstrahl Finger [ward]« (Herder
sie ingratis Musis – Winkelmannische Einbildungskraft 1985–2000, IV, 254), spielt auf die Kombination aus
gehört dazu, um unter Trümmern System zu finden; pygmalionesker Fantasie mit haptischen und visuellen
und unter Ruinen, wie in Athen zu wandeln. Etwas von Elementen in W.s gefeierter Ekphrase des Apollo von
seinem Zutrauen auf sich gehört freilich dazu, um den Belvedere an; mit seiner Betonung des Taktilen rea-
AltGriechischen, Hetrurischen, und Altrömischen Stil giert Herder hingegen auf die besondere Aufmerk-
so genau kennen zu können: aber die Künstlerschwär- samkeit für die Oberfläche und die Konturen, die in
merei ist bei mir nicht blos eine lässige Sünde, sondern seinen Beschreibungen antiker Kunstwerke offenbar
meistens, wie ich es bei dem Apoll, Herkules, und Lao- ist, und entwickelt sie weiter (Harloe 2013, 86–94).
koon [...] nach seiner doppelten Beschreibung sehe, auf Auch wenn Herders Theorie der ästhetischen Rezepti-
gute und kalte Regeln gebauet« (Br. IV, 139–140) on sich in mancherlei Hinsicht stark von der W.s un-
terscheidet, bleiben einige Elemente von W.s Beschäf-
Dieser Kommentar ist insofern typisch für Herder, als tigung mit Kunst für Herder doch ein positives Vor-
er das Charakteristische der Perspektive eines anderen bild. Indem Herder W.s »Begeisterung« einen solch
(sei es einer Person oder Kultur) zu erfassen sucht und hohen Stellenwert einräumt, hebt er sich deutlich von
diese Sicht anschließend mit alternativen Denkweisen jenem Strang antiquarischer Kritik ab, den Heyne re-
konfrontiert, die er innerhalb ihrer eigenen Sphäre als präsentiert, der W. sogar in seiner Lobschrift eine
gleichermaßen berechtigt darstellt. Harald Tausch überschäumende und ungezügelte Einbildungskraft
gibt im vorliegenden Band einen Überblick über Her- zugesprochen hatte (Heyne 1963, 19, 23–24).
ders lange Beschäftigung mit W. – von feierlichen Pas- Zweitens prägt Herders Bild von W. als emphati-
sagen in den frühen Fragmenten über die neuere Lite- schem Liebhaber Griechenlands auch seine Kritik an
27 Kritische Zeitgenossen: Lessing, Heyne, Herder 265

W.s historiographischer Methode. Dieser Strang sei- Heynes und Herders hervor. Dabei lassen sich durch-
nes Denkens über W. ist in Herders veröffentlichten aus Gemeinsamkeiten feststellen, so etwa Skepsis in
Schriften nicht vollständig ausformuliert – gleichwohl Bezug auf W.s Umgang mit literarischen und histori-
erwähnt Herder in einer Passage am Ende des ersten schen Quellen, Uneinigkeit in Bezug auf die Datierung
Kritischen Wäldchens seinen »Zweifel [...] was inson- einzelner Bauwerke und – besonders prominent bei
derheit sein [Winckelmanns] Geschichtsgebäude aus Heyne und Herder – Bedenken in Bezug auf einige der
den Materialien der griechischen Litteratur anbetrifft« Prämissen, die W. aufgestellt hatte, um seine systemati-
(Herder 1985–2009, II, 244). Und in einer zweiten sche Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der
Passage in Auch eine Philosophie der Geschichte aus antiken Kunst zu konstruieren. Alle drei zollten der
dem Jahre 1774 beschuldigt er W. neben anderen His- Größe von W.s Leistung und der Kraft seiner umfas-
torikern (darunter Robert Wood und Voltaire), über senden Vision von der griechischen Antike Achtung.
die Ägypter »aus Griechenland und also mit bloß grie- Für Heyne und Herder hatte diese Vision entscheiden-
chischem Auge« (Herder 1985–2009, IV, 23) geschrie- den Anteil an ihren eigenen, nicht unbeträchtlichen
ben zu haben. Dieser Argumentationsstrang do- Leistungen auf dem Gebiet der Geschichte des Alter-
miniert jedoch in Entwürfen zum sogenannten »Älte- tums und der Ästhetik.
ren Wäldchen« von 1767/8, den Überarbeitungen der
Zweiten Sammlung der Fragmente, die Herder etwa Quellen
zur selben Zeit vornahm (zu diesen Texten und zur [Anonym]: Akademische Vorlesungen über die Archäologie
Geschichte ihrer Abfassung siehe Herder 1990, II), der Kunst des Alterthums, insbesondere der Griechen
und Römer. Ein Leitfaden für Leser der alten Klassiker,
und in seinem »Denkmal Johann Winkelmanns« aus Freunde der Antike, Künstler und diejenigen, welche
dem Jahre 1777, das erst 1882 veröffentlicht wurde. Antikensammlungen mit Nutzen betrachten wollen.
Diese Schriften zeigen einmal mehr, dass Herder mit Braunschweig 1822.
der Frage nach Vorzügen und Nachteilen von W.s [Haller, Albrecht von]: Rezension von Winckelmann: Ver-
»Einfühlung« gerungen hat: Ihm zufolge versetzte die such einer Allegorie, besonders für die Kunst. In: Göttin-
gische Anzeigen von gelehrten Sachen 1766, 676–680.
Voreingenommenheit für Griechenland W. in die La-
Heeren, A. H. L.: Etwas über die Verhältnisse zwischen Hey-
ge, ein vollständiges und aufschlussreiches Porträt der ne und Winkelmann. In: Deutsches Museum 3 (1813),
griechischen Kunst und Kultur zu zeichnen, während 517–530.
sie ihn andererseits daran hinderte, ein ähnlich tiefes Herder Johann Gottfried: Schriften zur Literatur. 3 Bde. Hg.
Verständnis für andere Kulturen der Antike zu ent- von Regine Otto. Berlin/Weimar 1990.
wickeln. In Auch eine Philosophie, Herders bedeutend- Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden. Hg. von
Günther Arnold u. a., Frankfurt a. M. 1985–2000.
ster kritischer Abhandlung über die historische Me-
[Heyne, Christian Gottlob]: [Rezension von] J. J. Winckel-
thode, wird W. kaum namentlich erwähnt. Dennoch mann, Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati. In:
liegt sein Beispiel gewiss den Warnungen vor der Un- Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1768, 1857–
wahrheit derjenigen Art von »Schöne[r] Dichtkunst« 1864.
im klassischen Stil zugrunde, die als Geschichte da- Heyne, Christian Gottlob: Berichtigung und Ergänzung der
herkommt, während sie versucht, »ein Lieblingsvolk Winkelmannischen Geschichte der Kunst des Alterthums.
In: Deutsche Schriften von der Königl. Societät der Wissen-
der Erde, in übermenschlichen Glanz zu zaubern« schaften zu Göttingen herausgegeben, 1 (1771), 204–266.
(Herder, Werke IV, 38). Da Herder seine Argumente Heyne, Christian Gottlob: Einleitung in das Studium der
in Schriften darlegte, die größtenteils unveröffentlicht Antike, oder Grundriß einer Anführung zur Kenntniß der
blieben, übte seine Kritik an W. keinen so starken Ein- alten Kunstwerke. Zum Gebrauch bey seinen Vorlesungen
fluss auf Zeitgenossen aus wie diejenige von Lessing entworfen. Göttingen/Gotha 1772.
[Heyne, Christian Gottlob]: Johann Winkelmanns Briefe an
und Heyne. Gleichwohl muss man Herder zu den in-
Herrn H. Leipzig 1776.
teressantesten und einfühlsamsten Interpreten W.s im Heyne, Christian Gottlob: Sammlung antiquarischer Aufsät-
18. Jh. zählen. ze. 2 Bde. Leipzig 1778, 1779.
Heyne, Christian Gottlob: Lobschrift auf Winkelmann, wel-
che bey der Hessen Casselischen Gesellschaft der Alter-
27.4 Zusammenfassung thümer den ausgesetzten Preis erhalten hat. In: Schulz,
Arthur (Hg.) Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann.
Berlin 1963, 15–29.
Inmitten der allgemeinen Begeisterung, mit der W.s Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bän-
Schriften gleich nach ihrer Veröffentlichung auf- den. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt a. M. 1985–
genommen wurden, stechen die Reaktionen Lessings, 2003.
266 IV Rezeption

Lippert, Philipp Daniel/Heyne, Christian Gottlob: Dacty- Harloe, Katherine: Christian Gottlob Heyne and the
liothecae universalis signorum exemplis nitidis redditae Changing Fortunes of the Commentary in the Age of Al-
chilias tertia sive scrinium milliarium tertium... Stilum tertumswissenschaft. In: Stray, Christopher/Kraus, Chris-
accommodavit C. G. H. Leipzig, 1762. tina S. (Hg.): Classical Commentaries: Explorations in a
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schaften und der freyen Künste 1 (1757). 1. Stück, 322–347. chael (Hg.): Rethinking Lessing’s Laocoon: Antiquity, En-
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28 Die Winckelmann-Rezeption der klassisch-romantischen Moderne um 1800 267

Disciplining Classics – Altertumswissenschaft als Beruf. 28 Die Winckelmann-Rezeption der


Göttingen 2002, 39–54.
Vollhardt, Friedrich: Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings So-
klassisch-romantischen Moderne
phokles-Studien und seine Kritik an Winckelmann. In: um 1800
Robert/Vollhardt 2013, 175–200.
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Geschichte der Phi- Klassisch-romantische Epoche als Einheit
lologie (Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1, H.
1. Hg. von Alfred Gercke und Eduard Norden). Leipzig In jüngerer Zeit werden Klassizismus und Romantik
und Berlin, 1921. gemeinsam betrachtet. Aus problemgeschichtlicher
Katherine Harloe Sicht sind beide Strömungen der Zeit von ca. 1790 bis
Aus dem Englischen von Michél Dallaserra 1840 insofern als »gleichursprünglich« anzusehen, als
sie beide je eigene Antworten auf Probleme formulie-
ren mussten, die aus der Aufklärung des 18. Jh. resul-
tierten (vgl. Tausch 1998). Mit Blick auf W. ist ihnen
gemeinsam, dass sie an das von ihm Erarbeitete nicht
schlicht anknüpfen konnten, sondern dass sie Brüche
in der von ihm mitbegründeten Tradition des Rück-
bezugs auf die Antike konstatieren mussten; es trennt
sie jedoch die Spezifik der aus dieser Problemlage he-
raus gewonnenen Antworten. Sowohl klassizistische
Werke als auch romantische nahmen beispielsweise
Stellung dazu, dass W.s Geschichte der Kunst des Al-
terthums einerseits Anteil am fundamentalen Prozess
der Verzeitlichung allen Wissens genommen, sich
diesem andererseits aber auch (z. B. in den Beschrei-
bungen ›nach dem Ideal der Kunst‹) widersetzt hatte.
W.s rückwärts gewandter Utopismus stellte für die
Zeit um 1800 somit eine Herausforderung dar, die
diese auf verschiedenen Sachgebieten zu überdenken
hatte, so z. B. die ästhetische Theoriebildung, den all-
gemeinen Diskurs über die Antike sowie ihren Stel-
lenwert für die Moderne, die Gattungsreflexion bzw.
den poetologischen Diskurs über das Inhalt-Form-
Verhältnis, das altertumskundliche Wissen, das Wis-
sen über die Künste sowie Theoriebildungen über die
Künste in ihrer Historizität, Reiseliteratur im All-
gemeinen und die neue Kulturraumgeographie im
Besonderen.

Nicht-diskursive Rahmenbedingungen
Betrachtet man Klassizismus und Romantik im kul-
turhistorischen Kontext, so wird man finden, dass die
Rezeption der Theorien W.s kein ausschließlich dis-
kursives Phänomen ist (vgl. Cantarutti 2007; Bückling
2013). Wie der diffizile Fall der W.-Rezeption bei
Heinrich von Kleist nahelegt, boten ihr die Garten-
kunst und die Architektur einen ›wahrnehmungslei-
tenden‹ Rahmen, der sich für die Diskussion über W.,
über den von ihm intendierten oder von ihm mitaus-
gelösten Rückbezug auf die Antike sowie über das
grundsätzliche Verhältnis von Gegenwart und Ver-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_28, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
268 IV Rezeption

gangenheit anbot. Diese teils kritischen Gespräche dung gebracht wird, entstand unmittelbar nach 1800
konnten oder mussten sich also damit auseinander- eine vielgestaltige, gegenüber dem 18. Jh. neuartige
setzen, dass bereits die Aufklärung damit begonnen Wissenschaftslandschaft, in der grundlegende Ent-
hatte, den verlandschaftlichten Park zu einem Ort aus- scheidungen über Art und Methodik des sich ab 1826
zugestalten, an dem W.sche Theoreme auf didaktische etablierenden Fachs der Archäologie diskutiert wur-
Weise veranschaulicht wurden. Wer in der zweiten den. Faktisch übernahm jedoch meist nur ein ein-
Hälfte des 18. Jh. den Landschaftspark Wörlitz be- ziger profilierter Gelehrter die Zuständigkeit für diese
suchte, trat gleichsam immer auch in ein Gespräch Bestrebungen ›vor Ort‹. In Dresden etablierte sich die
über den Aufklärungsklassizismus W.scher Prove- Archäologie z. B. zunächst dadurch, dass Carl August
nienz ein, auch wenn W. hier mit Friedrich Wilhelm Böttiger seit 1806 in seiner Wohnung einschlägige
Eugen Doells Büste (ca. 1777–1782) ein nur beschei- Vorlesungen »vor den politisch relevanten Schichten«
denes Denkmal gesetzt war; man wusste einfach, dass hielt (Sternke 2008, 241). Böttiger, ein Netzwerker
Fürst Franz und sein Architekt Friedrich Wilhelm von ersten Ranges, stand u. a. in Kontakt mit W.s Brief-
Erdmannsdorff in Rom von W. geführt worden waren partner Christian Gottlob Heyne in Göttingen. Hey-
und dass die Schulung durch W. für die Ausgestaltung ne, der an der fortschrittlichen Göttinger Universität
des Parkprogramms mit antikisierenden Kleinarchi- eine einsemestrige Vorlesung über Archäologie an-
tekturen eine wichtige Rolle gespielt hatte. Dies gilt bot, schätzte den ersten Teil der Geschichte der Kunst
auch dann, wenn sich zeigt, dass der ›Römer‹ Vitruv des Alterthums sehr; was den zweiten betraf, so schien
(vgl. Holzer 2013), den der Dessauer August Rode er ihm durch neuere Erkenntnisse überholt zu sein. In
übersetzte, für Erdmannsdorf letztlich eine größere Jena wiederum wurde die Archäologie durch den für
Rolle spielte als etwa das architekturbezogene Schrift- den späten Goethe als Berater wichtigen Altphilolo-
tum W. s. Nur so lässt sich erklären, warum Berichte gen Karl Wilhelm Göttling vertreten, der hier die ar-
von Besuchen im englischen Park von Wörlitz – ob in chäologische Abgusssammlung aufbaute; während
Gestalt von Reisebüchern oder von stärker fiktionali- einer Forschungsreise durch Italien im Jahr 1828
sierter Literatur – immer auch zu W.s Ideen über das konnte er darüber hinaus Goethe mit neuen archäo-
Verhältnis zwischen Natur und Kunst in der Antike logischen Erkenntnissen versorgen, so z. B. in einem
Stellung bezogen. Es ist letztlich die spätaufklärerische Brief vom 17. April 1828 zu einem Relief der rö-
Friedensutopie, die sich rückblickend in Natur und mischen Villa Albani, »welches Winckelmann für den
Antike wiederzufinden meint, für die »W.« einen dis- jungen Bacchus und die Leukothea nahm« (zit. nach
kursiven Ausgangspunkt darstellt – und wäre es in Ge- Fischer 1889, 35). Der Bezug auf W. war somit ins-
stalt der Nennung des Namens »W.« im Rahmen einer gesamt für die diskursive Ausgestaltung der Lehre,
Elegie, wie sie der Wahl-Wörlitzer Friedrich von Mat- aber auch für die Institutionalisierung der Archäolo-
thisson mit Der Abend am Zürchersee. An Heinrich gie selbst von Bedeutung: in Rom – dem vielleicht
Füßli vorlegte (Riedel 1990, 23). wichtigsten ›deutschen‹ Zentrum des Klassizismus,
In diesem Sinn kann man bestimmte Zentren aus- zumindest, was Kommunikationsdichte, Innovati-
machen, in denen der neuartige, auf die Geschmacks- onskraft und Wissenstransfer betrifft – spielte die
bildung neuer Funktionseliten abzielende Klassizis- Gründung von W.-Feiern jedenfalls sowohl für die
mus in unterschiedlichen Ausprägungen veranschau- äußere Etablierung des Fachs als auch für den er-
lichend praktiziert und oft auch theoretisch gelehrt innernden und ins Zeitgemäße transformierenden
wurde (vgl. neben Wörlitz z. B. Weimar und Jena). Im Rückbezug auf W. für Wissenschaftler wie für Künst-
Zuge des allgemeinen Verwissenschaftlichungspro- ler und Schriftsteller die denkbar größte Rolle; so
zesses um 1800 differenzierten sich zudem Fachwis- wurde eine der wichtigsten vorbereitenden Sitzungen
senschaften als akademische Lehrfächer an Aka- vor der feierlichen Gründung des Instituto di Corri-
demien und Universitäten aus, wie z. B. die neue Ar- spondenza Archeologica im Jahr 1828 auf den 9. De-
chäologie bzw. Altertumswissenschaft. Bereits vor der zember verlegt – W.s Geburtstag (Rieche 1997, 37).
›eigentlichen‹ Begründung des Fachs der Archäolo- W. galt nun als Begründer der Archäologie als histori-
gie, die heute mit der Gründung des Instituto di Cor- scher Wissenschaft. Was dabei meist auf der Strecke
rispondenza Archeologica (dem Vorläuferinstitut des blieb, war W.s Annahme, dass es die politische Frei-
heutigen Deutschen Archäologischen Instituts zu heit gewesen sei, die zur Kulturblüte in Griechenland
Rom) durch Eduard Gerhard etwa 1822–1830 und geführt habe (vgl. Borbein 2008, 275).
der streng historischen Methode Gerhards in Verbin-
28 Die Winckelmann-Rezeption der klassisch-romantischen Moderne um 1800 269

im Verlauf der Jahre sich einstellenden Enttäuschun-


Diskursive Rezeption
gen und Kontroversen mit Zeitgenossen hinweg er-
Spätaufklärerische und klassizistische Literatur: halten bleiben: vom Ersten kritischen Wäldchen bis hin
Winckelmann in Weimar zum Spätwerk Kalligone (1800). Kalligone, das letzte
Herder: Der von 1776 bis zu seinem Tod 1803 als geist- größere ästhetiktheoretische Werk des vom Weimarer
licher General-Superintendent im klassischen Wei- Klassizismus inbesondere Schillers, aber auch Goe-
mar tätige Johann Gottfried Herder begann bereits thes enttäuschten Verfassers ist ein hervorragender
1764, also unmittelbar nach dem Erscheinen der Ge- Beleg dafür, dass Herder nicht nur an W.s Begriff der
schichte der Kunst des Alterthums und lange vor der sinnfälligen und handgreiflichen Plastizität alter
ersten Begegnung mit Goethe, sich intensiv mit den Kunst unverbrüchlich festhalten, sondern dass er die-
Schriften W.s auseinanderzusetzen. In ideengeschicht- sen auch noch nach 1800 als ein Korrektiv gegen den
licher Hinsicht wichtiger als die prominente Preis- ästhetischen Formalismus von Immanuel Kants Kritik
schrift für die Kasseler Gesellschaft der Altertümer der Urteilskraft (1790) und die an Kant anschließende
Denkmal Johann Winckelmanns, die 1777 entstand, Philosophie einsetzen zu können meinte: W., »der in
sind dabei die heterogenen Spuren der sowohl ein- Sachen der Kunst mit heller Fackel vorleuchtete«
fühlsam-begeisterten Übernahmen als auch und vor (Herder 1985–2000, VIII, 939), stellt im Rahmen die-
allem der Distanznahmen von grundlegenden An- ses Versuchs einer Fortsetzung dessen, was Herder in
nahmen W.s, die sich schon in Herders frühen Schrif- Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799)
ten auffinden lassen, im Älteren kritischen Wäldchen gegen Kant vorzubringen hatte, einen der wichtigsten
und im Ersten kritischen Wäldchen (1769) insbesonde- Referenzautoren dar. Dies gilt, obwohl Herder nicht
re (vgl. Décultot 2013). Wie nahe Herder sich W. als nur Kant, sondern mit Kant auch Schiller und dessen
Person fühlte, geht daraus hervor, dass er noch »im Gefolgsleute im klassischen Weimar treffen wollte –
selben Monat« (Riedel 1990, 7), in dem W. in Triest er- Kreise also, die ihrerseits zur selben Zeit, wenn auch
mordet wurde, Juni 1768 also, in Riga einen freirhyth- auf andere Weise, auf W. zu rekurrieren begannen.
mischen Lobgesang auf meinen Landsmann Johann Die neuere Forschung ordnet Herders Bezüge auf
Winckelmann niederschrieb, um spontane Nähe und W. somit in eine Entwicklung ein, die darauf hindeu-
Distanz zu W. in einem poetischen Text zu inszenieren tet, dass Herder von früh an das Projekt einer poeti-
(Text: Riedel 1990, 13–16). Diese empathische Bezie- schen Wissenschaft verfolgte, die Zielvorstellungen
hung bedingt, dass Herder gerade über die allmählich der philosophischen Frühaufklärung gleichsam in ei-
erkannten Differenzen, die ihn von W.s Ideen denn ne die Seele des ganzen Menschen erfassenden Weise
doch trennten, zu zentralen Positionen seiner eigenen des Fühlens und Denkens übersetzen sollte. W.s Grie-
Frühphilosophie fand. Drei solche Differenzpunkte chenbild und seine Schreibart gesuchter Simplizität
sind (nach Décultot 2013): Während W. die Entwick- konnten in bestimmten Grenzen ein Vorbild für die-
lung von Kulturen als autark ansah und deren unüber- ses Vorhaben abgeben. Auch in Herders letztem Pro-
bietbaren Höhepunkt in der griechischen Kultur fand, jekt, seiner ab 1801 erscheinenden Zeitschrift Adras-
veranschlagte Herder die Bedeutung des Transfers tea, bleibt diese Grundausrichtung, den starken W.-
zwischen Kulturen und somit auch diejenige der Bezug eingeschlossen, erhalten. Ulrich Gaier hat da-
Nachahmung weitaus höher; während W. den Sehsinn her mehrfach vorgeschlagen, W.s ›Griechen‹ sogar als
fast ausschließlich bevorzugte, suchte Herder Einzel- Prototyp eines ›neuen Mythos‹ des ›Griechen‹ anzuse-
ästhetiken aller Sinne zu begründen, unter denen ihm hen, wie er, vermittelt vor allem durch Herder, nach
aber der Tastsinn und das Gehör am wichtigsten wa- 1796 unter wechselnder Gestalt im Umkreis der Auto-
ren, da diese beiden Sinne mit der intensivsten Kraft ren des sog. Ältesten Systemprogramms diskutiert
›an die Seele gehen‹ (Raulet 2013); während W. vier wurde (Gaier 2004). Zudem hat Herder zeitlebens
Entwicklungsstufen der griechischen Plastik unter- über das Projekt eines philosophischen Lehrgedichts
schied, um erst der zweiten, nicht mehr nur erhabe- nachgedacht, das diesen Gehalt hätte aufnehmen kön-
nen, sondern schönen und auch graziösen den Preis nen, das aber im Leser einen Prozess der Wahrheits-
zuzuerkennen, neigte Herder zu einer Aufwertung ar- erkenntnis initiieren sollte, »der vergleichbar wäre mit
chaischer, ›härterer‹ Formen der Kunst. dem, der im Dichter stattfand« (Helmreich 2013, 157).
Diese starke Bindung an W. als einer der Ausgangs- Dass von diesem Projekt lediglich Fragmente überlie-
punkte der eigenen Philosophie sollte über die ver- fert sind, wäre vielleicht nicht die einzige Ähnlichkeit,
schiedenen Stationen seines Lebens und auch über die die es sogar bereits mit der Frühromantik verbinden
270 IV Rezeption

würde. Jedenfalls war es unter den Weimarer ›Großen über einzelne Werke antiker Bildkunst. In diesem
Vier‹ Herder, der sich in erkenntnistheoretischer Hin- Sinn meint Wieland bereits in einem frühen Brief an
sicht am intensivsten, wenngleich ganz in den Bahnen Schubart vom 28. Juni 1764, er halte bei aller Vorbild-
der Geschichtsphilosophie der Spätaufklärung mit W. lichkeit in der Argumentation W.s »körnigten Styl«
beschäftigte (s. a. Kap. 27.3 in diesem Band). für eine nicht nachahmenswerte Manier (Wieland
Wieland: Dies soll keineswegs die Bedeutung 1967–2003, III, 283). Dies ist von besonderer Bedeu-
Christoph Martin Wielands schmälern, von dem man tung deswegen, weil Wielands essayistisches und er-
zu Recht gesagt hat, dass er in der Antike lebte und zählerisches Werk seit einiger Zeit besondere Beach-
webte wie kein anderer. Doch scheint gerade die Ver- tung im Rahmen der Frage nach der Geschichte und
trautheit mit der Antike ein Grund für Wieland gewe- Theorie eines eigenständig aufklärerischen literari-
sen zu sein, bestimmten ›Einseitigkeiten‹ in W.s aus schen Klassizismus (Manger 1991; Broch 2012) fin-
seiner Sicht stärker platonisierendem Rückbezug auf det, der in zeitlicher Hinsicht ›vor Weimar‹ einsetzen
die Idealität der griechischen Kunst zumindest ein we- und die Diskussionen zwischen Goethe und Schiller
nig zu misstrauen. Es ist dabei – angesichts der Länge jedenfalls flankieren, kommentieren, vielleicht sogar
von Wielands Leben, der 1733 geboren wurde, dessen von einer dritten Position aus relativieren würde. Der
Erstlingsschrift Die Natur der Dinge (1752) noch vor entscheidende Differenzpunkt scheint hierbei nicht
derjenigen W.s erschien und der 1813 starb – schwie- so sehr der mediale Aspekt, der in Gotthold Ephraim
rig, die von mehreren Literaturwissenschaftlern be- Lessings Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei
obachtete Zwiespältigkeit, mit der Wieland W. hie und und Poesie (1766) zum Kernpunkt der W.-Kritik ge-
da begegnet (vgl. Sichtermann 1996, 117), mit be- macht worden war, als vielmehr der spezifisch Wie-
stimmten Lebens- oder Werkphasen in Verbindung landsche Perspektivismus zu sein: ein Perspektivis-
zu bringen. mus, der sich in historischer Hinsicht früh, weil zeit-
Wielands weitgespannter, kontinuierlich geführter gleich mit W.s eigener Erstlingsschrift in der Aus-
und ungemein informationsreicher Briefwechsel be- einandersetzung mit der aufklärerischen Anakreontik
legt u. a. folgende drei Punkte: Erstens, dass W. bereits ankündigt und der sich nicht nur auf die Sinne und
lange vor der Übersiedlung nach Weimar in Wielands die Sinnlichkeit erstreckt, sondern auch die Sichtwei-
Gesichtskreis trat – früher noch als im Falle Herders; sen von Personen unterschiedlichen Geschlechts, un-
bereits ein Brief an Johann Jakob Heß vom 7. August terschiedlichen Alters, unterschiedlichen Bildungs-
1759 spricht von »der schönen Einfalt und stillen stands etc. betrifft, wie sie Wieland schon als junger
Grösse« (Wieland 1967–2007, I, 503). Zweitens, dass Mann in den für ihn zeitlebens typischen dialogi-
Wieland dank der Vermittlung Julie von Bondelis schen Erzählformen literarisch ausgestaltete (vgl.
schon 1763 Kenntnis sogar von einer noch unge- Tausch 2005, 154). Während W. – vom Standpunkt
druckten Beschreibung des Apoll im Belvedere aus der bildenden Kunst aus, insbesondere der wenigen
der Feder W.s hatte, den Bondeli sogar als Wielands Zeugnisse antiker Wandmalerei – die Existenz der
derzeitigen »Liebling« bezeichnete (Wieland 1967– Perspektive als Wahrnehmungsform innerhalb der
2003, III, 160; vgl. dazu VI,1, 303). Drittens, dass eine Antike negierte, da sie seinen Begriff vom ›Ideal‹ der
vorsichtige Differenzierung zu einem Zeitpunkt er- Kunst infrage gestellt hätte, widerspricht Wieland
folgte, als der vor-weimarische Wieland sich in Er- dieser Sicht, indem er auf den innerantiken, sich vom
furt, wo er Philosophie lehrte und in Friedrich Just perikleischen Athen bereits ironisch absetzenden
Riedel einen atheistischen Dialogpartner fand, von Perspektivismus bei jenen Autoren aufmerksam
der Religiosität der eigenen, nunmehr als schwärme- macht, deren dialogische Prosa bzw. Briefe er später-
risch belächelten Jugenddichtung zu distanzieren be- hin auch ins Deutsche übersetzte: Lukian von Samo-
gann. Fast wie im Falle Herders tauchen unterhalb sata und Cicero (vgl. zu letzterem schon 1774: Über
der weiterhin aufrechterhaltenen Gemeinsamkeiten eine Stelle des Cicero, die Perspektiv in den Werken der
mit dem großen Antikenkenner Differenzen auf; an- Griechischen Mahler betreffend; Wieland 1909 ff., I.
ders als im Falle Herders scheinen diese Differenzen Abt., XXI, 92–95); zudem steht die Überzeugung,
jedoch vorrangig durch das Nachdenken über und dass selbst dem antiken Denken über Malerei solcher
das Entwerfen von literarischen Texten und somit Perspektivismus nicht fremd gewesen sein kann, hin-
durch einen Wechsel des Leitmediums bedingt zu ter Wielands Übertragung des horazischen »ut pic-
sein, nicht so sehr also durch die philosophische oder tura poesis« (vgl. Anmerkung IX zu Die Briefe des Ho-
antiquarische Auseinandersetzung mit W.s Ansichten raz, 2. Buch, 3. Brief; Wieland 1909 ff., II. Abt., IV,
28 Die Winckelmann-Rezeption der klassisch-romantischen Moderne um 1800 271

383–385). In seinem vermutlich theoretisch gewich- W.s (vgl. Osterkamp 1996, 575). Ebenso weiß man nur
tigsten Text zum Thema, Gedanken über die Ideale der aus der Italienischen Reise und dem Zweiten römischen
Alten (zuerst in: Der Teutsche Merkur, August – Oc- Aufenthalt – zwischen 1816 und 1829 im Rahmen des
tober 1777; in überarbeiter Fassung auch unter dem autobiographischen Projekts Aus meinem Leben er-
Titel: Über die Ideale der griechischen Künstler, Wie- schienen – , dass W. eine Art Augenöffner für jene alte
land 1909 ff., I. Abt., XIV, 123–169) kann Wieland da- Kunst gewesen zu sein scheint, die Goethe in Rom,
her in einer Absetzbewegung gegen W. – dessen Aus- Paestum und Sizilien entgegentrat. Dieser stilisierten
führungen zum Kanon des Polyklet aus der Geschich- Darstellung steht jedoch auf irritierende Weise ent-
te der Kunst des Alterthums er »nicht ohne Schüch- gegen, dass der junge Goethe W. lediglich ein einziges
ternheit« (ebd., 190) zurückweist – vier verschiedene, Mal erwähnt, und dies noch dazu ziemlich ironisch:
nur bedingt auseinander hervorgehende Formen ei- In Die Leiden des jungen Werthers (1774) karikiert
ner erfahrungs-basierten Genese des jeweiligen ›Ide- Goethe einen jungen Mann namens V, der all sein
als‹ bei den natürlich auch für W. zentralen griechi- kunstrelevantes Wissen aus Büchern habe, von Bat-
schen Künstlern Phidias, Polyklet, Praxiteles, Lysipp teux über de Piles bis eben hin zu W.! Wiewohl Goethe
und Myron aufzeigen. Dies ist ein psycho-genetischer im Allgemeinen von den Thesen W.s gewusst zu ha-
Erklärungsansatz des ›Idealisierens‹, der hinsichtlich ben scheint, sagte W. dem Dichter des Götz von Berli-
des unhintergehbaren Bezugs auf Erfahrung angibt, chingen (1773) anfangs also möglicherweise nur be-
einiges dem Empirismus von John Locke, mehr noch dingt zu. Überlegt man, wem der junge Goethe eine
aber dem antiken Epikureismus des Lukrez zu ver- positivere Einschätzung W.s verdankt haben könnte,
danken (ebd., 225). Dieser Ansatz gilt, einer anthro- kommen außer Oeser in Leipzig und Herder in Straß-
pologischen Grundannahme Wielands zufolge, so- burg weitere Personen infrage: in Straßburg z. B. Jakob
wohl für die Antike als auch für das Heute: »Die alten Michael Reinhold Lenz, der in einem vermutlich Mit-
Griechen, besonders im Jahrhundert Alexanders, wa- te September 1772 zu datierenden Brief Johann Daniel
ren überhaupt weder schönere noch bessere Men- Salzmann aufforderte: »Schaffen Sie sich sein [W.s]
schen als die heutigen Italiäner, Franzosen, Englän- Werk an« (Lenz 1987, III, 272); in Frankfurt und
der, Deutschen, u. s. w.« (ebd., 147). Um zu einem zu- Darmstadt z. B. der für Goethe als kritische Instanz
kunftsoffenen aufklärenden Gespräch über die eigene bedeutende Johann Heinrich Merck, der sich schon
Gegenwart einzuladen, macht gerade der spätere im ersten seiner überlieferten Briefe, am 6. April 1764
Wieland des Jahrzehnts zwischen Peregrinus Proteus an Christian Ludwig von Hagedorn gerichtet, als ge-
(1791) und Aristipp und einige seiner Zeitgenossen nauer Kenner W.s zeigte (Merck 2007, I, 8), wenn-
(1800/1802), auf der Basis einer Distanzierung von gleich auch er später, z. B. Johann Caspar Lavater ge-
W.s vermeintlich platonischerer Vorstellung vom Ide- genüber, kritischere Töne anschlagen sollte.
al, das Konstruierte der Rückbezüge auf eine ihrer- Tatsächlich war es dann aber erst Italien und die
seits bereits in sich heterogene Antike bewusst (Broch Verwirrung, in die Goethe angesichts der in Rom vor-
2012, 191). handenen antiken Bau- und Bildwerke geriet, die ihn
Goethe: Wenngleich zahlreiche literaturgeschicht- dazu brachte, zunächst W.s Briefe aus Rom, dann auch
liche Darstellungen die Bedeutung W.s für das klassi- die Geschichte der Kunst des Alterthums zu Rate zu zie-
sche Weimar um 1800 mit Johann Wolfgang Goethes hen (zu Goethes irritierenden Angaben hierzu vgl.
Reise nach Italien von 1786 bis 1788 beginnen lassen, Osterkamp 1996). Als Vermittler wirkte jedoch ver-
ist dieses Bild so nicht richtig; Wieland und Herder mutlich nicht, wie in der autobiographischen Italie-
bezogen sich in den Jahren von Goethes erstem Wei- nischen Reise im Nachhinein dargestellt, Johann Hein-
marer Jahrzehnt entschieden stärker als Goethe auf W. rich Meyer, den Goethe wohl erst im weiteren Verlauf
Man darf Goethes autobiographischen Schriften nicht seines Aufenthalts in Italien kennenlernte. Eher kom-
unbedenklich Glauben schenken, da Goethe sich bis- men Aloys Hirt und Karl Philipp Moritz in Frage, da
weilen großzügig über die Chronologie der Ereignisse diese beiden Spätaufklärer Goethes erste Anlaufstel-
hinwegsetzt, um aus ›Wahrheit‹ ›Dichtung‹ werden zu len für kunsthistorische Probleme in Rom waren.
lassen; andererseits weiß man so gut wie nur aus Dich- Wenn Goethe diese beiden Kenner der Materie in sei-
tung und Wahrheit (1811/14), dass Goethe bereits ner Autobiographie ›strafversetzte‹ und an ihrer Stelle
während seines Studiums in Leipzig 1767/68 erstmals Meyer ›vorzog‹, so ist dieser freie Umgang mit den
auf W. hingewiesen worden zu sein scheint, und dies Umständen des eigenen Lebens vermutlich mit jenen
noch dazu durch Adam Friedrich Oeser, den Freund differierenden Anschauungen vom Wesen der Antike
272 IV Rezeption

zu erklären, die nach Goethes Rückkehr aus Italien zu- Generell gilt W. als eine der Autoritäten, auf die die
tage traten. Aloys Hirt z. B., der sich in Italien einen Weimarischen Kunstfreunde (genannt: WKF, das
Namen als Kenner der römischen Baukunst gemacht sind vor allem Goethe und Meyer) sich mit ihrem
und der sein W. geradezu diametral entgegengesetz- Versuch einer Erneuerung des Klassizismus von Wei-
tes, weil körperliche Verfallserscheinungen mit medi- mar aus beriefen. Doch wenn Goethe sich seit etwa
zinisch geschultem Blick fokussierendes Verständnis 1799 verstärkt mit der Person W.s beschäftigte, so
antiker Plastik soeben unter dem Kampfbegriff des liegt dies auch an mehreren ›negativen‹ Faktoren: Seit
»Charakteristischen« in die Diskussion einbrachte, ir- seiner ersten Reise nach Italien hatte er ein größeres
ritierte Goethe zutiefst, als er im Jahr 1797 auf dem Werk über Kunst und Kultur des italienischen Sprach-
Weg nach Berlin in Weimar Station machte. Aber raums bzw. über seine Reise dahin geplant, doch die
auch Karl Philipp Moritz, der mit Hirt die Zeitschrift Ausführung verzögerte sich aus einer Reihe von
Italien und Deutschland herausgab und sich 1789 an- Gründen. Auch war es Moritz in Berlin gelungen, sei-
schickte, eine Professur an der Berliner Kunstaka- ne Reise- und Kunsteindrücke in den nachitalie-
demie zu übernehmen, lag – trotz eines freundschaft- nischen Büchern Reisen eines Deutschen in Italien in
lichen Verhältnisses zu Goethe – mit seinen Ansichten den Jahren 1786 bis 1788 (1792/93), Götterlehre oder
von einem einzigen Gesichtspunkt, von dem aus alle mythologische Dichtungen der Alten (1791) sowie An-
Kunst gesehen werden wolle, und mit seiner Grund- thusa oder Roms Alterthümer (1791) darzustellen.
satzkritik an W.s Beschreibungstechnik, der er vor- Sich mit W. genauer zu beschäftigen, bot sich für Goe-
warf, bloß additiv reihend zu verfahren, nicht auf der the also umso mehr als Ersatz an, als Moritz in diesen
Linie von Goethes W.-Rezeption. Entsprechend fan- Büchern sowie in dem Aufsatz In wie fern Kunstwerke
den weder Hirt noch Moritz, übrigens ebensowenig beschrieben werden können (1788/89) W.s Allegorie-
wie später Wilhelm von Humboldt oder Karl Fried- verständnis abgelehnt, seine Beschreibungssprache
rich Schinkel, ein positives Verhältnis zu W. und des- kritisiert, seiner Bevorzugung der griechischen Plas-
sen Anschauungen (vgl. Sichtermann 1996, 158). In tik den Paradigmenwechsel hin zur griechisch-rö-
diesem Differenzpunkt kann man tatsächlich einen mischen Religionsgeschichte entgegengesetzt und mit
Hauptunterschied im Klassizismus Weimarer und der Götterlehre geradezu einen »Gegenentwurf ge-
Berliner Provenienz sehen: Goethe schwebte bei aller gen« W.s Versuch einer Allegorie, besonders für die
Suche nach einer neuen Norm weiterhin ein perspek- Kunst vorgelegt hatte (Schrimpf 1980, 107). Aller-
tivischer Klassizismus vor, der mehrere, einander ›or- dings verschob sich bei Goethe das Interesse auf die
ganisch‹ ergänzende, durch Gespräch und Erfahrung Person W.s, da sich in ihr das eigene Interesse an Ita-
sich verändernde Standpunkte zulassen würde; daher lien, an der Antike, an einer neuen klassizistischen
schrieb er gemeinsam mit Meyer zwar Preisaufgaben Kunst spiegeln und somit indirekt auf Weimar bezie-
für bildende Künstler nach Themen der Antike aus, hen lassen würde. Und da in Weimar zudem unedier-
doch diskutierte er die hierfür nötigen, teils aber auch te Briefe W.s an einen Jugendfreund – nämlich den
eben unnötigen begrifflichen Anstrengungen im Rah- langjährig in Weimar als Geheimsekretär Anna Ama-
men eines multiperspektivischen Romans Der Samm- lias tätigen Hieronymus Dietrich Berendis – lagen,
ler und die Seinigen (1799), in dem die Figur eines entstand der Plan zu einem wiederum perspektivisch
›Gastes‹ sogar Hirts Ansichten vortragen durfte (vgl. verfahrenden Gemeinschaftswerk Winkelmann und
Pfotenhauer/Sprengel 1995, 659). Aber auch Friedrich sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen herausgege-
Schiller, dessen Freundschaft mit Goethe 1794 begon- ben von Goethe (1805), für welches Goethe zunächst
nen hatte, konnte in einer Figur von Der Sammler und Meyer und Friedrich August Wolf, dann aber auch
die Seinigen erraten werden: in der Figur des ›Philoso- den eben aus Italien nach Jena zurückkehrenden Carl
phen‹ (vgl. ebd. 653), deren Argumentation den Ver- Ludwig Fernow als Mitarbeiter gewinnen konnte. Es
fasser des Briefs eines reisenden Dänen (1785) verriet sind eben nur »Skizzen zu einer Schilderung Winkel-
(in welchem der Mannheimer Antikensaal mit W.s manns«, »von drei Freunden verfaßt« (Goethe 1985–
Begriffen gewürdigt wird) – einem philosophischen 1998, VI,2, 348), nicht etwa ein einsinniges Lebens-
Kopf zwar, wie Schiller selbst, der W. genau gelesen bild also, in denen angedeutet wird, wie wirkungsori-
hat, W.s Denkfiguren und ›Beispiele‹ jedoch nur entiert W. die eigene ›ästhetische‹ Existenz in Rom
punktuell an Scharnierstellen einer viel systemati- darzustellen wusste: in sehr bewusst ›perspektivisch‹
scheren Auseinandersetzung mit Problemen einer verfassten Briefen, aber auch ›zwischen den Zeilen‹
Produktionsästhetik aufruft. der wissenschaftlichen Texte: »So finden wir W. oft in
28 Die Winckelmann-Rezeption der klassisch-romantischen Moderne um 1800 273

Verhältnis mit schönen Jünglingen, und niemals er- che nach einem Verleger sich diffizil gestaltete, bis
scheint er belebter und liebenswürdiger, als in sol- endlich mit der Waltherschen Buchhandlung in Dres-
chen, oft nur flüchtigen Augenblicken.« (ebd., 356). den ein kooperierender, allerdings in die Gestaltung
Die ästhetisierende Skizze der ihrerseits ästhetisieren- der Ausgabe hineinredigierender Verlag gefunden
den Selbstdarstellung W.s in seinen Briefen war ver- war; dann aber auch, weil der WA nach der histori-
mutlich einer der wichtigsten Ausgangspunkte für schen Katastrophe der militärischen Niederlage Preu-
Goethes Transformation der eigenen Tagebücher und ßens und seiner Verbündeten bei Jena und Auerstedt
Briefe aus Italien zu dem als »Italienische Reise« be- im Herbst 1806, die die Auflösung des Reichs und die
kannten Buch. Sieht man auf die Konkurrenz Wei- faktische Vernichtung Preußens nach sich zog, nun-
mars mit dem Berliner Klassizismus, treten also die mehr eine über Weimar hinausgehende Bedeutung
tentativen Seiten dessen, was Goethe für Weimar vor- zukommen sollte. Letzten Endes ging es um Weimar
schwebte, umso stärker hervor: Sein monostilig auf als kulturellen Mittelpunkt eines sich als Kulturnation
die Antike gerichteter ästhetischer Historismus ist ein (vgl. Andurand 2013) definierenden, aus mehreren
Experiment, wie sich die Verzeitlichung allen Wissens ›perspektivisch‹ einander ergänzenden Machtzentren
aufhalten lassen würde, ohne dass deswegen der spe- bestehenden, dem griechischen Polisverband (vgl.
zifisch moderne Perspektivismus aufgegeben werden Wiedemann 1986, 178) ähnelnden Deutschland (vgl.
müsste; aus der Sicht der Weimarischen Kunstfreunde Fernow 2013, I, 595–597; 625–628). Der erinnernde
kann W.s Existenz in Rom dieses Experiment beglau- Rückbezug auf W. spielte der Absicht, Weimar zu die-
bigen (vgl. zu den einzelnen Facetten: Rosenbaum/ sem ›klassischen‹ Mittelpunkt werden zu lassen, auf
Rößler/Tausch 2013). ideale Weise in die Hände, da W.s Berendis-Briefe es
Fernow: Ästhetisierung im Zeichen des autobiogra- erlaubten, den ja auch von Herder, Wieland und – in
phischen Projekts ist indessen nur die eine Seite des- geringerem Maße – von Schiller verehrten Deutsch-
sen, was aus Winkelmann und sein Jahrhundert her- römer W. in den schwierigen Jahren nach 1806 gleich-
vorging. Bereits dieses Werk brachte als Abschluss ein sam nachträglich als Gründerfigur der eigenen Bil-
Verzeichnis aller bis dahin bekannten Briefe W. s. Für dungspolitik zu adoptieren.
die große Ausgabe der Werke (WA), die ab 1808 von
Weimar aus ins Leben gerufen werden sollte, war es Frühromantische W.-Rezeption in Jena
ein Glücksfall, dass Carl Ludwig Fernow, auf den Mey- Friedrich Schlegel wird von der neueren Forschung
er bereits in Italien aufmerksam geworden war, nun, nicht mehr nur als führender Kopf der Jenaer Früh-
nach seiner Rückkehr aus Italien, an der Universität romantik eingeschätzt, sondern es wird zunehmend
Jena eine Vorlesung archäologischen Inhalts hielt, für herausgearbeitet, dass Schlegel überraschend lange
die er sich auf W. stützte (vgl. Dönike 2013, 289). Fer- ein Klassizist blieb, für den das Vorhaben zentral war,
now stand u. a. in Kontakt mit Georg Zoëga, der den auf eine zwar an Friedrich August Wolfs Prolegomena
ersten Lehrstuhl für Archäologie an einer deutschen ad Homerum (1795) geschulte, doch letztlich neuarti-
Universität – in Kiel 1802 – hätte haben können, die- ge Weise über die Geschichte der Griechischen Poesie
sen aber zugunsten einer Verlängerung seiner For- wissenschaftlich-kritisch zu arbeiten. Soweit die Editi-
schungen in Italien ausgeschlagen hatte; auch war onslage zu erkennen gibt, spielte für dieses frühestens
Fernow durch sein seit 1795 verfolgtes Projekt einer 1794 während des Studiums in Leipzig, eigentlich aber
Ästhetik für bildende Künstler, durch seine zahlrei- erst nach 1795 in Dresden und Jena greifbare Vor-
chen kunstwissenschaftlichen Studien für den Neuen haben der an W. geschulte Ehrgeiz eine große Rolle,
Teutschen Merkur und durch eine in Jena begonnene niemals den Blick für das Ganze der Antike aus den
Ausgabe italienischer Klassiker (Dante, Petrarca, Augen zu verlieren. Die Idee, ein W. der Poesie werden
Ariost, Tasso) bestens ausgewiesen, sich einer W.- zu wollen – ein Wort, das eigentlich auf Herder zu-
Werkausgabe anzunehmen. Die Ästhetisierung wurde rückgeht und von Schlegel gleichsam übernommen
also durch Historisierung und Monumentalisierung wird (Matuschek 2003, 549) –, zielt beim jungen Fried-
in Gestalt einer Werkausgabe ergänzt. Wie den ver- rich Schlegel auf die Hybridisierung einer neuen Phi-
schiedenen Editionsplänen zu entnehmen ist, die lologie mit einer neuen Hermeneutik im Zeichen ei-
Fernow entwarf und in seinen Briefen erläuterte (vgl. ner möglicherweise organologisch, möglicherweise
den jüngst aufgefundenen Editionsplan in Fernow histor(ist)isch, vielleicht aber auch artifizieller als of-
2013, Bd. 2, 497–500), wurde deren genaue Anord- fenes Denkexperiment gedachten Ausbalancierung
nung mehrfach überarbeitet – zunächst, weil die Su- von Teil und Ganzem. Hingegen ging es nicht darum,
274 IV Rezeption

an die Methodik oder die Untersuchungsgegenstände sagekraft. In der Kölner Vorlesung wird W. als »Muster
bestimmter Hauptwerke W.s anzuknüpfen und diese deutscher Prosa« (Schlegel 2006, 23) – neben dem al-
weiterzuentwickeln. Schlegels Äußerungen über anti- lerdings ›affektierteren‹ Johannes von Müller – an den
ke Plastik, jedenfalls nach 1795/97, sind gerade nicht Anfang der eigentlichen romantischen Poesie gesetzt.
mit dem kompatibel, was W. dazu zu sagen hatte. Sie Nicht allein W.s Sprache, vielmehr der bei ihm sich
unterstellen vielmehr die Unterlegenheit von ›Plastizi- vollziehende Bruch mit dem Empirismus der Aufklä-
tät‹ gegenüber den medialen Möglichkeiten der Küns- rung seien Ursache für diese Musterhaftigkeit. Dies be-
te in einer jetzt auch futurisch von ihren Möglichkei- gründet Schlegel wie folgt: Alles, was an der ›moder-
ten her gedachten Moderne (vgl. Burdorf 2011, 127). nen‹ englischen und französischen Literatur verwerf-
In den Athenäumsfragmenten tauchen für letztere die lich und seicht sei (Schlegel setzt an dieser Stelle ›mo-
Leitvorstellungen der Vermischung der Künste, der dern‹ und ›modisch‹ annäherungsweise gleich, und
unabschließbaren Prozessualität, der Ironie und Frag- zwar unter pejorativem Aspekt), gehe auf den durch
mentarizität auf. W.s Werk fungiert für Schlegel wie John Locke innerhalb der Philosophie begründeten
ein Anreiz zu einer erst noch zu begründenden Form und dann von der französischen Aufklärung populari-
der Wissenschaft, die ebenso bedeutsam wie Fichtes sierten Empirismus zurück, der jedwedes Menschliche
Wissenschaftslehre sein und diese schon wieder über- auf Erfahrung und somit auf Soziales beziehe. Dem-
bieten würde: »Winkelmann und Fichte haben eine gegenüber habe W. mit dieser allgemeinen und vom
Ahndung von System«, notiert Schlegel in seine litera- Empirismus beförderten »Unfähigkeit [...], irgend sich
rischen Notizbücher, in denen er Fichte im Übrigen zu Ideen [zu] erheben« (ebd., 130), radikal gebrochen,
des öfteren kritisiert, über W. aber sagt: »Winkelmann indem er, zusammen mit den platonisch gedachten
allein hatte absolute S[yn]th[ese] in der Kritik« (Schle- Ideen, auf die hin er die Werke der Antike ausgelegt ha-
gel 1980, 107; 85). be, auch deren mythologischen Grund sichtbar ge-
Dass Schlegels Rekurs auf W. folgenreich für die macht habe. Da es nun die Tendenz der gegenwärtigen
Entstehung der frühromantischen Ästhetik und Her- Literatur sei, »uns gleichsam da zur Einheit wieder zu-
meneutik in Jena war, ist also unumstritten. Weniger rük[,] zu dem[,] wo von die Alten ausgingen[,] der
gut untersucht ist die Bedeutung, die die Auseinan- Mythologie« (ebd., 141) zu führen, müsse die W.sche
dersetzung mit W. für Schlegels Freund Novalis offen- Ideenlehre als entscheidender Anfang der sich in der
bar schon 1790 hatte. Unter den »Bücher[n], welche kommenden romantischen Kunst vollendenden neu-
ich unmittelbar nach Jena mitnehme«, zählte Novalis esten Tendenz der Gegenwartsliteratur begriffen wer-
schon 1790 neben Addisons Spectator, Wielands Lu- den. Seine einzige Grenze finde W. darin, dass er »bloß
kian-Übersetzung, Herders Sprachursprungsschrift für das griechische Alterthum« (ebd., 129) Sinn habe.
u. a. auch W.s Geschichte der Kunst des Alterthums auf Schlegel hingegen setzt mit seiner literaturhistorischen
(Novalis Bd. 4, 692). W.s Geschichte der Kunst ist zu- Rekonstruktion der Wege der Literatur zwischen der
dem das erste Buch, das im Allgemeinen Brouillon – gotischen Bibelübertragung des Ulfilas und den neues-
den Materialien zu einer romantischen Enzyklopädis- ten Produktionen Goethes dazu an, dieses vermeintli-
tik aus den Jahren 1798/99 – genannt und offenbar als che Manko W.s durch eine auf die deutsche Sprache als
ein Ausgangspunkt für das Projekt einer Wissen- Urgrund zielende neue Mythologie zu ersetzen. Wie
schaftswissenschaft angesehen wird, das Novalis eine der Herausgeber der Kölner Vorlesung, Hans Dierkes,
Zeitlang mit Schlegel gemeinsam betrieb (Novalis überzeugend plausibel machen kann, hat diese ent-
1960–2010, III, 242). schieden nationale Perspektive, unter der Schlegel
Eine der aufschlussreichsten Einschätzungen W.s nunmehr W. ›adoptiert‹, ihren Hintergrund in den Na-
aus der ›Zeit nach Jena‹ findet sich in Friedrich Schle- poleonischen Kriegen und dem gesteigerten Nationa-
gels sogenannter Kölner Vorlesung des Jahres 1807 lismus seit der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806
»Über deutsche Sprache und Literatur«. Diese Vor- (Einleitung, XXV).
lesung ist schon deswegen so interessant, weil sie zwar
noch vor Schlegels Konversion zum Katholizismus ge- W. im literarischen Leben der späteren klassisch-
halten wurde, gleichwohl aber in skizzenartiger Form romantischen Moderne
bereits die Grundzüge dessen erarbeitet, was der Kon- Wiewohl W. für den späteren Friedrich Schlegel kaum
vertit Schlegel später in Wien zur Literaturgeschichte mehr von Bedeutung ist, spielt er doch eine umso grö-
ausführen sollte; die Differenzen der in Köln und in ßere Rolle für Schlegels Schüler Sulpiz Boisserée, der
Wien vertretenen Ansichten sind von besonderer Aus- im Unterschied zu Schlegel nicht zum Katholizismus
28 Die Winckelmann-Rezeption der klassisch-romantischen Moderne um 1800 275

konvertierte, sondern ihm entstammte. Dies ist umso la, dort neugotische Kircheninnenraumausstattungen
bemerkenswerter, als die von dem reichen Kölner – ließ diese Opposition mehr als deutlich werden. Für
Kaufmannssohn zusammengetragene Sammlung alt- Boisserée wie für manche seiner Freunde – Clemens
niederländischer und altdeutscher Gemälde, die die- Brentano z. B., der hier in München Schinkel wieder-
ser in Heidelberg und Stuttgart präsentierte, bevor sie sah, mit dem Boisserée in intensivem Briefwechsel
für München angekauft wurde, im Allgemeinen als stand – war der Rückbezug auf W. daher zwiespältiger
Hort einer nazarenischen und also anti-klassizisti- Art; man musste nun Wege finden, W. mit der neuen
schen Kunstauffassung gilt. Diese Einschätzung steht Religiosität dieser Jahre zu vereinen oder an ihr vor-
in Kontrast dazu, dass Boisserée 1803/04 in Paris un- bei, gleichsam über verdeckende Umwege, neue For-
ter Friedrich Schlegels Anleitung W. zu lesen und zu men der W.-Rezeption zu ersinnen. Neben der Lektü-
lieben gelernt hat (Boisserée 1978–1995, I, 23) – eine re von W.s Schriften, meist in der Weimarer Ausgabe,
Liebe, der der Sammler zeitlebens treu blieb. Auf wel- die Boisserée zur Vorbereitung von Vorträgen und
che Weise Boisserée über W. dachte, dessen Lektüre Studien benötigte, notiert der ältere Boisserée daher
immer wieder im Tagebuch vermerkt wird, vermag ›offiziellere‹ Gespräche über W. eher auswärts, so, als
sein Besuch in der Villa Albani während einer aus- er im Dezember 1845 – im Jahr der Veröffentlichung
gedehnten Italienreise zu illustrieren, auf welcher von Jakob Philipp Fallmerayers Fragmente aus dem
Boisserée sich von München zu distanzieren hoffte. Orient – zur W.-Feier in Bonn eingeladen war, wohin
Boisserée notierte in seinem Tagebuch Trauer darü- er am Ende seines Lebens seinen Lebensmittelpunkt
ber, den Ort von W.s ehemaliger Tätigkeit verlassen verlegte (Boisserée 1978–1995, IV, 227).
sehen zu müssen und die Werke, die W. vor Augen Ein wenig ähnlich verhielt sich dies im Fall des
hatte, nicht mehr auffinden zu können: »Diese Bild- schwäbischen Klassizismus in Stuttgart, dem Boisserée
werke wandern auch wohl einmal nach Norden, wie durch seine Frau Mathilde verbunden war. Mathilde
schon manche aus dieser Sammlung! – Es tut weh zu Rapp stammte aus einer jener Stuttgarter Familien,
denken, man fühlt, daß sie diesem Clima diesem Bo- die hinter dem Bildhauer Johann Heinrich Danne-
den angehören« (Boisserée 1978–1995, III, 313). Nach cker und seiner berühmten, in W.s Geist aufgebauten
der Rückkehr aus Neapel und Sorrent nahm er im Ja- Gipssammlung – der ›Danneckerei‹ – standen; der mit
nuar 1839 am W.-Fest im Istituto Archeologico zu Schiller befreundete, später für seine Schiller-Büste be-
Rom teil (ebd., 463). rühmte Dannecker hat z. B. 1787/88 einen »Bacchus«
In München, wohin Boisserée zurückkehrte und nach W.s Beschreibung für die Bibliothek in Hohen-
wo Friedrich Wilhelm Joseph Schelling mit der stark heim geschaffen, über den Hirt sogar in Italien und
überarbeiteten zweiten Fassung seiner Akademierede Deutschland berichtete. Der schwäbische Klassizis-
Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur mus, der anfangs durchaus Wurzeln bei Künstlern hat-
(1. Aufl. 1807; 2. Aufl. 1809: vgl. Aler 1973, 205) den te, die an der Karlsschule ausgebildet worden waren
Bruch mit W. und mit Weimar vollzogen hatte, stan- und also einem spätabsolutistischen Umfeld ent-
den sich allerdings schon seit langem zwei klar ge- stammten, gegen das sie sich prompt zur Wehr setzten
schiedene Fronten gegenüber: einerseits eine klassi- – u. a. Joseph Anton Koch, Christian Gottlieb Schick –,
zistische Partei um Leo von Klenze, andererseits eine der dann aber durch die Gründung des bei Cotta er-
nazarenische Partei um Friedrich von Gärtner, für die scheinenden Morgenblatts stark befördert worden war
W. tabu war (vgl. Nerdinger 2000). Gerade München und zunehmend überregional ins Bürgertum aus-
war seit etwa 1820 das Zentrum der philhellenischen strahlte, brachte auch eine Reihe von Schriftstellern
Bewegung geworden, die den sog. ›Freiheitskampf‹ hervor, die auf ihre Weise an W. anzuknüpfen suchten,
der Griechen gegen die seit Jahrhunderten bestehende wiewohl sie die Unmöglichkeit dieses Versuchs unter
Oberherrschaft des Osmanischen Reichs unterstützte. den gewandelten Bedingungen des 19. Jh. erkannten.
Klassizismus bedeutete nun vor allem einen national Für diese durch Historismus und Hermeneutik be-
gedachten Philhellenismus, wie er in Karl Friedrich reits stark vom 18. Jh. geschiedene Form des schwäbi-
Schinkels Architekturentwürfen für Athen oder auch schen Klassizismus ist die Freundschaft zwischen Wil-
in den Gedichten des aus Dessau stammenden Wil- helm Waiblinger und Eduard Mörike ein gutes Bei-
helm Müller (»der Griechenmüller«) zutage trat, Na- spiel (vgl. Andressohn 2007, 6 f.). Die beiden jungen
zarenertum bedeutete nun vor allem den katholisie- Dichter, die in Tübingen studierten und um den
renden Bezug zum päpstlichen Rom (vgl. Miller wahnsinnigen Dichter Friedrich Hölderlin in Tübin-
1983); die rege Bautätigkeit dieser Jahre – hie Walhal- gen eine Art Kult betrieben, versuchten mit ihren Mit-
276 IV Rezeption

teln, an die antikisierende Dichtung Hölderlins an- von den Griechen tatsächlich gelebt vorzustellen. An
zuknüpfen (der seinerseits seit seinem Magisterspeci- das Denkbild der in die Vergangenheit zurückproji-
men Geschichte der schönen Künste unter den Griechen zierten Utopie konnten die klassizistisch-romanti-
zumindest mit der Geschichte der Kunst des Alter- schen Zeitgenossen auf sehr unterschiedliche Weise
thums nachweislich innig vertraut war, vgl. Hölderlin anknüpfen: man konnte den Bruch mit der barocken
1992–1993, II, 13, und der in Hyperion W.s Vorschlag Kunst des absolutistischen Zeitalters, den diese auf ei-
einer Grabung in Olympia dichterisch aufgriff, vgl. ne ideale Vorvergangenheit rekurrierende Utopie in
Honold 2002, 54), so dass die Rückerinnerung an W. ihrer eigenen historischen Zeit bedeutete, prinzipiell
wie eine in die Zeitentiefe zurückführende Besinnung gutheißen, nun aber auf ganz anderen Gegenstands-
auf denjenigen war, der mit allem angefangen hatte, feldern fortführen (z. B. durch den Bruch, den eine
was ihnen lieb und teuer war. Dies tritt besonders bei neue Gotik mit just dem bei W. beginnenden Rekurs
Wilhelm Waiblinger hervor: Waiblinger schrieb einen auf die Antike bedeutete), man konnte aber auch mit
Roman Phaëthon (1823), der Hölderlins Hyperion derselben Geste wie W. auf den Verlust dieser einst
oder Der Eremit in Griechenland (1797/99) nachemp- doch offenbar ›realen‹ Sehnsuchtslandschaft zurück-
funden ist, und legte Gedichte wie Das Pantheon vor, blicken und demjenigen, der dieser Verlusterfahrung
die von seiner Verehrung für eine mit W. gesehene zuerst Worte verliehen hatte, ein sentimentalisches
Antike zeugen. In Rom fand er Anschluss an jene Denkmal setzen, und dies gerade auch dann, wenn
Künstlerkolonie, die ›immer schon‹ W. auf ihre Fah- man W.s vermeintliche Vorhaben in der eigenen Ge-
nen geschrieben hatte (J. A. Koch, Johann Christian genwart nicht mehr verfolgen würde. Neben diesen
Reinhart). In einem Brief an Mörike, Rom den beiden übrigens auch gemeinsam auftretenden For-
12./13. Januar 1827, stilisierte Waiblinger seine rö- men, auf positive Weise entweder an den Geist oder
mische Existenz zu einer W.schen, den zu Hause ge- aber an die Gestalt W.s zu erinnern, konnte der Bezug
bliebenen und seiner Zukunft in einer Provinzpfarre auf W. um 1800 indessen auch skeptischer ausfallen,
traurig entgegensehenden Freund darauf hinweisend, und zwar ebenfalls sowohl in klassizistischen als auch
was er in Zukunft entbehren werde. Doch während in romantischen Texten. Manche »Romantiker«, wie
Waiblinger 1830 im Alter von 25 Jahren in Rom starb, inbesondere Friedrich Schlegel und sein Schüler Sul-
gewann Mörike im Verlauf seines langen Lebens der piz Boisserée, hatten sogar einen weitaus positiveren
Trauer neue Formen antikisierender Dichtung ab, de- und jedenfalls weitaus stärkeren Bezug zu W. als z. B.
ren sentimentalischer Gestus mit den unterdessen von die Berliner Klassizisten Karl Philipp Moritz, Aloys
der Fachwissenschaft entweder adaptierten oder auch Hirt und Wilhelm von Humboldt, die sich hinsicht-
radikal zurückgewiesenen Ideen W.s nichts mehr ge- lich dieser kritischen Haltung in einer durch Lessing
mein haben mochte, doch im abgedämpften Licht me- in Berlin eröffneten Traditionslinie sehen konnten
lancholischer Erinnerung insgeheim an das Schluss- (vgl. Nisbet 2008, 399–440). Es konnten durchaus ro-
bild der Geschichte der Kunst des Alterthums anknüp- mantische Texte sein, die an Impulse W.s anknüpften
fen konnte. und diese weiter ausbauten, wohingegen klassizisti-
sche Texte – wie gerade auch Goethes Winkelmann
und sein Jahrhundert – auf eine ganz unwinckelman-
Zusammenfassung
nische Weise der Person W. gewidmet sein konnten.
Insgesamt zeigt sich also, dass W. aus Sicht der klassi- Und doch war es Weimar, das die Zeitgenossen um
zistisch-romantischen Doppelepoche um 1800 als 1800 in allererster Linie mit dem Namen W. in Verbin-
Ideengeber für Entwicklungen eingeschätzt wurde, dung brachten. Es war Weimar, wo Fernow die erste
deren Relevanz erst in der eigenen Gegenwart seit der W.-Werkausgabe konzipierte: als ein Denkmal für ei-
Französischen Revolution erkennbar wurde (vgl. nen Vorläufer des Weimarer Klassizismus, und dies in
Tausch 2011): Was W. an der griechischen Kunst und einer Zeit, in der der Weimarer Klassizismus Funktio-
an den Bedingungen, unter denen sie blühte, mit Wor- nen für den Zusammenhalt der deutschen Kulturnati-
ten zu verlebendigen wusste, musste nunmehr aus on zugeschrieben bekam.
dem neuen Erfahrungshorizont der Zeit nach der
Französischen Revolution heraus als das gedankliche Quellen
Experiment wahrgenommen werden, eine utopische Boisserée, Sulpiz: Tagebücher. Hg. von Hans-J. Weitz. 5 Bde.
oder jedenfalls stark idealisierte Vorstellung von Frei- Darmstadt 1978–1995.
Fernow, Carl Ludwig: »Rom ist eine Welt in sich«. Briefe
heit als nicht nur möglicherweise lebbar, sondern als
28 Die Winckelmann-Rezeption der klassisch-romantischen Moderne um 1800 277

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278 IV Rezeption

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Winckelmann-Biographik
Rieche, Anita: Eduard Gerhard und die frühe Geschichte
des »Istituto di corrispondenza archeologica«. In: Wrede,
Henning (Hg.): Dem Archäologen Eduard Gerhard 1795– Seit 250 Jahren ist die Faszination an W.s Leben nahezu
1867 zu seinem 200. Geburtstag. Berlin 1997, 35–41. ungebrochen. Sie kommt bereits in der Anfrage des Ju-
Riedel, Volker (Hg.): Winckelmann in der deutschen Lyrik. gendfreundes Friedrich Wilhelm Marpurg zum Aus-
Stendal 1990. druck, deren Antwortschreiben W. mit der Wendung
Riedel, Volker: Antikerezeption in der deutschen Literatur
»Dieses ist das Leben und die Wunder Johann W.s«
vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine
Einführung. Stuttgart/Weimar 2000. schloss (Br. II, 276). Das früh geschätzte Briefwerk,
Rosenbaum, Alexander/Rößler, Johannes/Tausch, Harald durch Selbstdarstellung, strategische Positionierung
(Hg.): Johann Heinrich Meyer – Kunst und Wissen im und Offenherzigkeit in gleichen Maßen charakteri-
klassischen Weimar. Göttingen 2013. siert, trug wesentlich zur Glorifizierung seines Autors
Schrimpf, Hans Joachim: Karl Philipp Moritz. Stuttgart bei. Die Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen, eine
1980.
Sedlarz, Claudia (Hg.): Aloys Hirt. Archäologe, Historiker,
nahezu in Selbstausbildung vollzogene Aneignung der
Kunstkenner. Hannover-Laatzen 2004. griechischen Literatur, Erniedrigung als Konrektor in
Sichtermann, Hellmut: Kulturgeschichte der klassischen Seehausen, die Konversion zum Katholizismus, der
Archäologie. München 1996. Karriereweg in Rom, die wirkungsvollen Schriften zur
Sternke, René: Böttiger und der archäologische Diskurs. Kunstgeschichte und nicht zuletzt die tragische Er-
Berlin 2008.
mordung in Triest haben die Bausteine zu einer Le-
Sünderhauf, Esther Sophia: Griechensehnsucht und Kultur-
kritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Anti- benslinie geliefert, die wie eine Blaupause mit den am
kenideal 1840–1945. Berlin 2004. Ende des 18. Jh. aufkommenden idealistischen Bil-
Tausch, Harald: Klassizismus, Literaturtheorie. In: Nünning, dungsimperativen vereinbar ist. Auch wenn mit Man-
Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheo- fred Fuhrmann zu konzedieren ist, dass die »Winckel-
rie. Stuttgart/Weimar 1998, 261–264. mann-Panegyrik [...] ein erstaunliches Maß an Stereo-
Tausch, Harald: Wieland als Leser Anakreons. Zur Genese
des unzuverlässigen Erzählers bei der Lektüre moralischer
typizität« aufweise (Fuhrmann 1972, 265), müssen ne-
Wochenschriften. In: Beetz, Manfred/Kertscher, Hans- ben den ausgeprägten Kontinuitäten die erheblichen
Joachim (Hg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen Unterschiede in der Strukturierung und Bewertung
2005, 145–183. der Lebensabschnitte sowie die jeweiligen Zeithori-
Tausch, Harald: Literatur um 1800. Klassisch-romantische zonte der biographischen Aktualisierungen betont
Moderne. Berlin 2011.
werden. W.s Gelehrtenbiographie dient immer auch
Verspohl, Franz-Joachim: Carl Ludwig Fernows Winckel-
mann. Seine Edition der Werke. Stendal 2004. als Reflexionsmedium in der eigenen Gegenwart.
Wiedemann, Conrad: Römische Staatsnation und griechi-
sche Kulturnation. Zum Paradigmawechsel zwischen
Gottsched und Winckelmann. In: Mennemeier, Franz
Lobschriften vor Goethe
Norbert/Wiedemann, Conrad (Hg.): Deutsche Literatur In dem aus seiner Kasseler Lobschrift (1778) hervor-
in der Weltliteratur. Kulturnation statt politischer Nation?
gegangenen »Literarischen Denkmal« auf Johann
Tübingen 1986, 173–178.
Winkelmann (1781) hat Johann Gottfried Herder das
Harald Tausch Interesse an W.s Leben unabhängig von seinen Schrif-
ten begründet und den Grundgedanken von W.s indi-
vidueller Anlage und Begabung, die sich gegen die
widrigen Umstände seiner Zeit durchsetzen musste,
entfaltet. Die Würdigung von W. als »außerordentli-
che[m] Mensch[en]« (Herder 1889, 36) ist zugleich ei-
ne Abrechnung mit dem vom Wolffianismus gepräg-
ten deutschen Wissenschaftssystem. Dies und die da-
durch bewirkte nationale Vereinnahmung von W. als
authentischem und wahrhaftem Deutschen wirkten
nachhaltig auf die Grundmuster späterer Biographik
ein. Gering ausgeprägt ist dagegen die Berücksichti-
gung von W.s Zeitgenossen, die Herder in offenbar be-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_29, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
29 Winckelmann-Verehrung und Winckelmann-Biographik 279

wusster Reduktion und zur Steigerung des »Denk- wiederum aus dem »handelnden Vermögen« eines in
mal«-Charakters auf vier Namensnennungen be- sich ausgebildeten Menschen resultieren: Leidenschaft
schränkte. Diese Leerstelle markiert den zentralen und »edle Ruhmbegierde« (ebd., 40), Patriotismus und
Unterschied zur späteren W.-Biographik, die bis zu die Fähigkeit der sich bis zur Liebe steigernden
Justis monumentaler Biographie den kontextuellen Freundschaft. Diese aktiven Qualitäten werden er-
Horizont sukzessive ausweiten sollte. gänzt durch die kontemplativen Elemente der Sehn-
Während Herders Essay erste Grundlagen für eine sucht nach Ruhe (ebd., 52) und der in materieller Hin-
biographische Teleologie und für die Bewertung der sicht bescheidenen Lebensweise (ebd., 53).
Lebensleistung lieferte, drangen die noch aus W.s di- Morgensterns Text steht am Übergang zwischen
rektem Umfeld stammenden Beiträge von Konrad Lobrede und moderner, quellenkritisch gestützter
Friedrich Uden oder Johann Gottlieb Paalzow (Br. IV, Biographik. Anlässlich der Verleihung des ersten Dor-
164–282), Christian Gottlob Heynes Kasseler Lob- pater Universitätspreises gehalten, erfüllt er eine dop-
schrift sowie die pragmatischen Lebensabrisse in den pelte Strategie: Einerseits ist der exemplarische Cha-
Werkausgaben von Friedrich Justus Riedel und Micha- rakter von W.s Leben evident, andererseits wird an-
el Huber kaum zu einem interpretatorisch geschlosse- hand des Gegenstandes selbst ein Musterstück der
nen Lebensbild vor (Riedel 1776, Huber 1781). 36 Jah- wissenschaftlichen Kritik vollzogen. Das kurz vor
re nach W.s Tod kam daher der Dorpater Gelehrte Karl Goethes Winkelmann und sein Jahrhundert erschiene-
Morgenstern in einer im Dezember 1803 gehaltenen ne Werk wurde von einer zeitgenössischen Rezension
und 1805 gedruckten Universitätsrede zu dem Schluss, als nahezu gleichwertiger Beitrag aufgenommen: Wo
dass die W.-Biographik des vergangenen Jahrhunderts Morgenstern als »Redner und Psycholog« vom Detail
nicht dem Anspruch einer quellenkritisch fundierten ins Ganze vordringe, werde Goethe mehr dichterisch
Annäherung an Leben und Werk genüge: »Wir haben tätig, indem er vom Ganzen ausgehe (Anon.1806,
[...] noch keine Biographie des seltnen Menschen« 343 f.). Analogien zu Goethes Lebensskizze in Win-
(Morgenstern 1805, 5). kelmann und sein Jahrhundert bestehen in der rubri-
Morgensterns Rede teilt sich in einen Lebensabriss zierenden Aufschlüsselung von W.s Charakter nach
und eine gesamt-charakterologische Bewertung. Der Stichworten. Beide Publikationen betonten aber auch
narrative erste Teil setzt Schwerpunkte auf die Schlüs- den fragmentarischen Zustand und die Vorläufigkeit
selsituationen des schnell vollzogenen Konfessions- ihrer Ausführungen, was auf das anhaltende Deside-
wechsels und des krisenhaften Abbruchs von W.s letz- rat einer historisch-kritischen wie umfassenden Be-
ter Reise, deren psychologische Bewertungen auf- wältigung des Stoffs verweist.
grund von vergleichenden Analysen der Quellen vor-
genommen werden: Die Konversion dient demnach
Anthropologie und Klassizismus: »Winkelmann
allein der Realisierung von W.s Lebensziel, die abrupte
und sein Jahrhundert«
Rückkehr nach Italien resultiert aus der Loyalität ge-
genüber Kardinal Albani, womit zwei Seiten von W.s Der von Goethe herausgegebene Sammelband Win-
impulsivem Charakter, nämlich Pragmatismus und kelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsät-
freundschaftliche Treue, angesprochen sind. Die an- zen (1805) ist eine der bedeutendsten Programm-
sonsten knapp gehaltenen Ausführungen konzentrie- schriften zur Kunstlehre der Weimarer Klassik und
ren sich auf W.s Bildungsgang und Leistungen, wobei zum Neohumanismus des 19. Jh. (Schuler 1973; Kun-
sich Ansätze zur psychologischen Introspektion und ze 1977; Müller 1979; Uhlig 1981; Jaeger 1996; Voß-
Verfahren der rhetorischen Veranschaulichung mit kamp 1997; Riedel 2006; Rößler 2011). Den äußeren
dem Appell an die Studentenschaft zum fleißigen Stu- Anlass boten 29 unpublizierte Briefe W.s an den Wei-
dium und zur Selbstverwirklichung mischen. Dem marer Geheimsekretär Hieronymus Dietrich Beren-
Muster des biographischen Toposkatalogs folgend, be- dis, die Goethe 1799 aus dessen Nachlass von der Her-
handelt der zweite Teil der Rede W.s eigentlichen Cha- zoginmutter Anna Amalia erhalten hatte. Neben einer
rakter (Morgenstern 1805, 29–53): Zwischen betrach- Vorrede von Goethe, der Edition von 27 Briefen aus
tendem, darstellendem und handelndem Vermögen jenem Konvolut und einem von Johann Heinrich
unterscheidend, würdigt Morgenstern zunächst W.s Meyer verfassten Entwurf zu einer Geschichte der
Gedächtnis, Belesenheit, Kombinations- und Divinati- Kunst im achtzehnten Jahrhundert enthält das Werk
onsgabe, Urteilskraft und »systematischen Geist« die Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns, die
(ebd., 31), dann die schriftstellerischen Qualitäten, die wiederum in drei Beiträge von Goethe, Meyer und
280 IV Rezeption

Friedrich August Wolf unterteilt sind. Die multiper- herrühre. Die Lebenszäsur bildet die Ankunft in Rom
spektivische Anlage des Bandes noch steigernd, ent- (1755): Die in W.s Briefen omnipräsente Topik von
halten Meyers Entwurf einen Exkurs von Karl Ludwig Rom als Ort künstlerischer und intellektueller Freiheit
Fernow und Goethes Skizzen einen Brief Wilhelm von interpretiert Goethe, abgestützt durch den eingeschal-
Humboldts ohne Angaben der Verfassernamen. In teten Brief Wilhelm von Humboldts, als Erfahrung
den Band flossen somit Texte von insgesamt sechs Au- von All-Einheit, die im Wechselverhältnis mit der
toren ein. Ausprägung von W.s individueller Harmonie steht.
Bilden die Briefedition und Meyers umfangreicher Der bisweilen skeptische Tenor – so spricht Goethe
kunsthistorischer Entwurf die inhaltlichen Pole des z. B. von einem »orientalischen« Unterwerfungsver-
Bandes, so ist der von Goethe verfasste Teil der Skiz- hältnis zu den römischen Kardinälen (Goethe 1989,
zen als dessen integrales Element zu verstehen. Er 376) – bestätigt die konstitutive Spannung von Indivi-
schafft den vermittelnden Ausgleich zwischen authen- duum und Außenwelt. Dank W.s innerer Ungebro-
tischer Subjektivität der Briefdokumente und Meyers chenheit, seinem naiven Selbstvertrauen und seiner
Entwurf mit seinem äußeren, objektivistischen Rah- Wahrheitsliebe kann dieser Gegensatz jedoch glück-
men, der kontrastiv zu W.s Lebensleistung als »neuer lich gelöst werden. Als biographischer Ausklang fol-
Columbus« (Goethe 1989, 362) die allgemeine Kunst- gen die Abschnitte »Gesellschaft«, »Freunde«, »Welt«
entwicklung von 1600 bis zur Gegenwart behandelt. und »Unruhe«, die W.s soziales Verhalten aus dem
In der Zurückhaltung von biographischen Informa- »unnachlassenden Streben nach Ästimation und Kon-
tionen – ärmliche Herkunft, Studium und Tätigkeit sideration« erklären (ebd., 378). Der Abschnitt »Hin-
als Lehrer in der Altmark werden nur gestreift, der gang« nimmt zwei Topoi der antiken Biographik auf:
Mord an W. euphemistisch als »Hingang« beschrieben Der tragische Tod wird als Lebensende im Augenblick
– korrespondieren überdies Goethes biographische des Erlangens der höchsten Stufe des Glücks interpre-
Skizzen mit dem Zeitraum der abgedruckten Briefe tiert. Ebenso topisch ist die Vorstellung vom Fortleben
(1752–1767). Goethes Text zeichnet sich durch the- W.s in seinen Taten. Goethe endet deshalb mit dem
senartige Zuspitzungen aus. In 24 knappen, mit Stich- Appell, W.s Lebenswerk »mit Eifer und Liebe fort und
worten übertitelten Kapiteln steht W.s Persönlichkeit immer fortzusetzen« (Goethe 1989, 381).
im Zentrum: Die ersten fünf Abschnitte verfolgen in Indem Goethes Skizzen vom Allgemeinen zum Be-
ihrem gesetzhaften Duktus eher den Ansatz zu einer sonderen fortschreiten, verdichtet sich in der Biogra-
an W. explizierten Anthropologie. Goethe geht zu- phie ein symbolhafter Entwurf glücklicher Lebens-
nächst von allgemeinen Überlegungen aus (»Ein- führung. Zentral ist die zunehmende Versöhnung der
tritt«), setzt dann menschliche Vervollkommnung in- Gegensätze von Subjekt und Welt, die W. durch das
direkt mit der Antike gleich (»Antikes«), wertet in Fol- gelebte Prinzip der antwortenden Gegenbildlichkeit
ge dessen W.s Affinität zum Heidentum und sein produktiv verarbeitet. Zugleich macht ihn diese Be-
Freundschaftsethos als Indizien für dessen antikes fähigung zum idealtypischen Wiedergänger der Anti-
Wiedergängertum (»Heidnisches«; »Freundschaft«) ke, denn seine innere Autonomie und sein Selbstver-
und identifiziert schließlich im Schönheitssinn die äs- trauen kehren den unverfälschten »heidnischen Sinn«
thetische Realisierung des antik-anthropologischen in den Handlungen und Schriften hervor (Goethe
Konstrukts (»Schönheit«). 1989, 353). In der weltzugewandten Spontaneität und
Erst die nachfolgenden Abschnitte schildern W.s permanenten Aktivität liegt nach Goethe W.s Erfolg
Leben im Kontext der äußeren Umstände und expli- begründet, da die Schriften immer den unmittelbar le-
zieren damit ein Konzept von Individualität und ant- bendigen Moment der Aneignung dokumentieren
wortender Gegenbildlichkeit: Der Konfessionswech- (ebd., 370). Stets einer selbstkritischen Revision un-
sel, der Dresdner Kreis um Christian Ludwig von Ha- terworfen, sind sie der Beleg dafür, dass in der »Kunst,
gedorn und Adam Friedrich Oeser, die Freundschaft wie im Leben, kein Abgeschlossenes beharre, sondern
mit Mengs, das Verhältnis zu Kardinal Albani oder ein Unendliches in Bewegung sei« (ebd., 368). In die-
W.s polemische Abgrenzung von der Aufklärungsphi- sem dynamisierten Verständnis werden die Schriften
losophie werden von Goethe im thematischen Span- zum unmittelbaren Ausdrucksträger einer aufrichti-
nungsfeld von Freiheit und äußerer Einwirkung kom- gen Gesinnung.
mentiert. Den Übertritt zum Katholizismus wertet Der von Meyer verfasste zweite Teil der Skizzen
Goethe als pragmatische Entscheidung, die aus W.s wendet sich dezidiert W.s kunsthistorischem Œuvre
Indifferentismus gegenüber der christlichen Religion zu. In Abgrenzung zur antiquarischen Tradition und
29 Winckelmann-Verehrung und Winckelmann-Biographik 281

unter Einbeziehung der Historisierungsleistungen des Kunstpublizistik hin zu einer stärkeren Historisierung
Comte de Caylus wird W. als Überwinder der »alten der Kunst (Grave 2006, 346). Die konstruierte Einheit
schädlichen Vorurteile« gewürdigt (Meyer in Goethe von Leben und Werk verfolgt hierbei ein lebensprakti-
1989, 385). W.s sog. ›Griechenthese‹, jene These von sches Bildungsprogramm mit dem Ziel der indivi-
der Entstehung der griechischen Kunst unabhängig duellen Selbstvervollkommnung. Historisierung und
von der ägyptischen Kultur, wird als besonderes Ver- Ethisierung des Klassizismus sind deshalb die zentra-
dienst hervorgehoben. Auch W.s integrativer Ansatz len Elemente des Sammelwerks.
von gelehrter Quellenkenntnis und künstlerischer
Anschauung wird gegenüber den rein antiquarischen
Denkmale und Winckelmann-Feiern
Ansätzen als methodische Innovation erachtet. Der
von Friedrich August Wolf verfasste dritte Teil der Mit der Aufstellung der von Friedrich Wilhelm Eugen
Skizzen zeichnet W.s Bildungsweg im Kontext der phi- Doell geschaffenen Marmorbüste im römischen Pan-
lologischen Wissenschaften an den deutschen Gym- theon 1782 beginnt die W.-Verehrung in Form des
nasien und Universitäten zur Mitte des 18. Jh. nach. Denkmalkults (ein 1769 geschaffener Grabmalent-
Deutlich geht dabei Wolf auf Distanz zu W.s philologi- wurf von Adam Friedrich Oeser gelangte nicht zur
schen Leistungen. Ausführung). Allein König Ludwig I. von Bayern ini-
So wenig Winkelmann und sein Jahrhundert als tiierte drei W.-Büsten im öffentlichen Raum: Die Mar-
»echte« Biographie oder dezidiertes Bekenntnis zu morbüste des Canova-Schülers Salvatore de Carlis
W.s Ästhetik gesehen werden kann, so ist die Wirkung (1808) wurde später in der Münchner Glyptothek ge-
des Buchs hinsichtlich des von Goethe konstruierten zeigt, die 1814 in Auftrag gegebene Büste von Ridolfo
biographischen Konzepts, des damit in Beziehung ste- Schadow befindet sich seit 1842 in der Walhalla bei
henden Bildungsideals und seiner genuinen sprach- Regensburg, 1857 stiftete Ludwig eine Bronzebüste
lichen Form weitreichend. Keine der nachfolgenden von Emil Wolff (1851) für den Park der Villa Albani.
Biographien und kaum eine der zahllosen Reden auf Neben der Berücksichtigung W.s in größeren Bildpro-
W.-Feiern kamen ohne die Referenz auf Goethes Text grammen wie an einem der Sockelreliefs von Chris-
aus; in der Geschichte der biographischen Gattung tian Daniel Rauchs Berliner Reiterdenkmal für Fried-
sind die konstruierte Einheit von Leben und Werk wie rich den Großen (1836–1851), in Wilhelm von Kaul-
auch der essayistisch-reflektierende Modus bis ins bachs Freskenzyklus für die Münchner Neue Pinako-
20. Jh. einflussreich geblieben (Scheuer 1979). Der thek (1848–1853) oder in dem von Otto Geyer
Gedanke von einer im »Keim« festgelegten, sich gegen geschaffenen Wandfries für die Alte Nationalgalerie
alle Hindernisse durchsetzenden Begabung setzt sich Berlin (1870–1874) sind vor allem zwei auf bürger-
von Otto Jahn über Carl Justi bis zu Berthold Vallentin liche Initiative entstandene Denkmäler hervorzu-
als konstantes Deutungsmuster fort. Goethes Plädo- heben: So regte der Anwalt und Herausgeber von W.s
yer für eine fortschreitende Aktivität bei gleichzeitiger Mordakte Domenico Rossetti das 1822 von Antonio
Selbstbegrenzung formulierte nicht nur eine deutliche Bosa geschaffene Kenotaph auf dem Triester Friedhof
Kritik an der romantischen Bewegung, sie bezog sich San Giusto an (Bonifacio 2000). Erste Überlegungen
auch auf die Fortsetzung von W.s archäologischer zu einem W.-Denkmal in Stendal sind 1826 unter be-
Hinterlassenschaft, die im W.schen Sinne als selbstkri- ratender Mitwirkung Goethes belegt, sie konkretisier-
tische Revision der eigenen wissenschaftlichen Leis- ten sich ab 1841 im Zuge einer Berliner W.-Feier und
tungen verstanden werden sollte. Die unmittelbar auf eines dafür eigens gegründeten Vereins. Nach der zeit-
den Band erfolgte Herausgabe der Schriften durch weiligen Blockade durch den preußischen König
Karl Ludwig Fernow, Johann Heinrich Meyer und Jo- Friedrich Wilhelm IV. konnte das auf ein Tonmodell
hannes Schulze verstand sich als konkreter Beitrag zu von 1843 zurückgehende Bronzedenkmal von Ludwig
diesem Programm: Insbesondere Meyers ausführliche Wichmann 1859 realisiert werden (Schulz 1959).
Kommentare beziehen die neueren archäologischen Die enge Verbindung von Denkmalkult und Bio-
Forschungen ein, machen Gegenvorschläge und kor- graphik zeigt sich schon an der Publikation von Do-
rigieren philologische Irrtümer in permanentem Dia- menico Rossetti, die nicht nur anlässlich der Errich-
log mit W.s Texten. Zugleich besteht Übereinstim- tung des Triester Grabdenkmals erschien, sondern
mung zwischen Winkelmann und sein Jahrhundert auch nach dem Muster von Winkelmann und sein
und dem im Weimarer Kreis um 1805 einsetzenden Jahrhundert eine Textsammlung mit einem von Carl
Wandel von einer aktiven, produktionsbezogenen August Böttiger eingeleiteten Aufsatz zu W.s letzter
282 IV Rezeption

Lebenswoche, der italienischen Übersetzung von Gerhards Kritik divergiert mit der Auffassung von
Meyers Beitrag in den Skizzen zu einer Schilderung Otto Jahn, der als ebenso einflussreicher Altertums-
Winkelmanns und einer umfangreichen Bibliographie wissenschaftler und Vertreter einer politisierten aka-
enthielt (Rossetti 1823). Ein deutlicher Indikator der demischen Elite das W.-Bild zur Mitte des 19. Jh. ent-
W.-Verehrung sind auch die zunehmenden Feiern zu scheidend mitgeprägt hat. Der zunächst als Rede zum
W.s Geburtstag: Erstmals 1825, regelmäßig ab 1828 W.-Tag 1843 an der Universität Greifswald gehaltene,
begingen Vertreter aus der Altmark Gedenkveranstal- ein Jahr später in Broschur gedruckte und schließlich
tungen in Berlin. Das (später Preußische, dann Deut- 1866 in erweiterter Fassung erschienene Beitrag ist
sche) Archäologische Institut in Rom feiert seit seiner der erste anspruchsvollere biographische Versuch
Gründung 1829 alljährlich W.s Geburtstag. 1835 etab- nach Goethe. Anders als dieser, der W.s Lebensweg als
lierten sich jährliche W.-Feiern in Stendal, 1841 in universell-anthropologisches Muster und dessen
Berlin durch die Archäologische Gesellschaft (Roden- schriftstellerisches Werk als allgemeine Verpflichtung
waldt 1940). Weitere von Universitäten und Alter- zur Fortsetzung versteht, tendiert Jahn dazu, den em-
tumsvereinen ausgerichtete W.-Tage lassen sich ab pirischen Leistungen ein stärkeres Gewicht zu geben
den 1840er Jahren u. a. in Kiel, Bonn, Greifswald, Hal- und in den Schriften konkrete Anweisungen zur ar-
le und Leipzig belegen – bürgerliche »Klassiker«-Ver- chäologischen Praxis zu erkennen. Im Vergleich mit
ehrung und wissenschaftlich-universitärer Diskurs den Beiträgen von Meyer und Wolf in Winkelmann
gehen hier eine enge Wechselwirkung ein. Die daraus und sein Jahrhundert wirkt die Bewertung von W.s
entstehenden Broschüren (sog. Winckelmannspro- wissenschaftlichem Erbe unkritisch, was sich aller-
gramme) dienen der Präsentation neuer archäologi- dings auch durch den situativen Zusammenhang der
scher Forschungsergebnisse, der allgemeinen Würdi- Festrede erklären lässt. Deutlich ist auch die patrioti-
gung von W.s Lebensleistung oder der Publikation sche Umdeutung: W. ist hier »ein Deutscher an Sinn
neuer Erkenntnisse zu W.s Leben mit oft regionalhis- und Geist, und wie er sein Volk in seinen schönsten
torischem Bezug. Bestrebungen geweckt, gefördert und gehoben hat«.
Die »bewundernde Anerkennung« in ganz Europa be-
legt die »Kraft und Gediegenheit des Deutschen Geis-
Das archäologische Curriculum: Otto Jahn
tes« (Jahn 1866, 3–4).
1823 bibliographierte Rossetti 45 biographische Bei- Schon das an klassischen rhetorischen Mustern
träge seit ihren Anfängen (Rossetti 1823, 182–204). orientierte Prooemion gibt den nationalen und kul-
Während beispielsweise die Abrisse von Johann Jakob turpolitischen Tenor an: Der bildenden Kunst wird
Horner (1808) und Joseph Eiselein (1825) ohne weit- das gesellschaftliche Alleinstellungsmerkmal attes-
reichende Resonanz blieben, ist die W.-Biographik tiert, über die sozialen Grenzen hinweg zu wirken. Sie
nach Goethe vor allem vor dem disziplinhistorischen und die Beschäftigung mit ihr sind Garant des sozia-
Hintergrund der klassischen Altertumswissenschaft len Aufstiegs. Wie in Goethes Skizzen vollzieht sich
zu sehen. Wie schon die zahlreichen W.-Feiern zeigen, W.s Lebensweg instinktmäßig und im intuitiven Er-
ist mit zunehmender Institutionalisierung archäologi- kennen der eigenen Begabung. Zugleich bildet sich in
scher Forschungen die Berufung auf W. als Vorbild W.s Methodik und Schriften ein prototypisches ar-
ungebrochen; so nahm etwa der dänische Archäologe chäologisches Curriculum aus: Auf die erste römische
Frederik Christian Petersen einen langen biographi- Erfahrung der fast unbeherrschbaren Objektfülle folgt
schen Abschnitt in seine Allgemeine Einleitung in das die Schärfung des stilkritischen Bewusstseins anhand
Studium der Archäologie auf (Petersen 1829). Zugleich der Gemmen der Sammlung Stosch. Die Arbeit an
ist in der Altertumswissenschaft seit 1800 eine zuneh- dem Sammlungskatalog erweist sich als bedeutender
mende methodische Diversifizierung und empirische Schritt in der Selbstausbildung zum Archäologen, weil
Erosion von W.s stilgeschichtlichem Periodensystem die Konzentration auf einen begrenzten Teilbereich
zu beobachten. Eine besonders kritische Auseinan- »eine feste Grundlage für die Methode bietet und [...]
dersetzung lieferte 1856 Eduard Gerhard in der Berli- die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, welche zur
ner Rede Winckelmann und die Gegenwart, die W. eine Darstellung gebracht werden, den Gesichtskreis er-
große Zahl von Irrtümern und Fehlschlüssen nach- weitert« (Jahn 1866, 48). Ein methodisches Korrektiv
wies und den »Heroendienst« (Gerhard 1856, 3) aus bilden die Alltagsgegenstände der Ausgrabungen bei
Sicht der wissenschaftlichen Archäologie ablehnte Neapel, die W. immer wieder zur Revision seines His-
(hierzu Sünderhauf 2004, 2, 6 f.). torisierungsmodells zwingen. Während sich die Ge-
29 Winckelmann-Verehrung und Winckelmann-Biographik 283

schichte der Kunst des Alterthums als für Jahn noch im- Erzählnexus, kulturhistorische Tableaus und essayisti-
mer gültige Darstellung der Stilgeschichte erweist, bil- sche Reflexion sind eng miteinander verknüpft. Ana-
den die Monumenti antichi inediti die Grundlegung log zu W.s Entwicklung und sozialem Aufstieg wird
einer archäologischen Hermeneutik. Visionär seien das Personal aus W.s Umfeld in einzelnen biographi-
schließlich W.s Überlegungen zum antiken Griechen- schen Miniaturen beschrieben. Die formalen Vorbil-
land, die sich bei späteren Ausgrabungen weitgehend der des historischen Romans Walter Scotts oder des
bestätigt hätten. deutschen Bildungsromans sind dabei nicht zu über-
Für Jahn ist W. der erste moderne Archäologe. In sehen. Weitere Parallelen von Michel Montaigne, Da-
dessen Vorgehensweise realisiert sich das metho- vid Hume, Voltaire bis hin zu Gottfried Kellers Grü-
dische Ideal von Jahns eigenem neoklassizistisch-po- nem Heinrich oder Gustave Flauberts Salammbô wur-
sitivistischem Verständnis. Anders als Goethe, der die den von der Forschung bemüht. Eine von Zitaten der
allgemeine Fortsetzung des Lebenswerks einfordert, Weltliteratur durchwebte Textstruktur distanziert sich
betont Jahn in W.s Leben eine konkrete methodische zudem indirekt von einer patriotischen oder gar na-
Handlungsanweisung für die Nachwelt. Entsprechend tionalistischen Vereinnahmung des Helden, wobei be-
der zeitgenössischen »idealrealistischen« Forderung sonders in der ersten Auflage eine antiklerikale und
nach Verbindung von Abstraktion und konkreter Em- kulturkämpferische Haltung gegenüber dem Katholi-
pirie erkennt er in W. »den unwiderstehlichen Trieb, zismus und die Resignation über die Modernisierung
von abstractem Wissen zur lebendigen Anschauung Roms deutlich sind (Pieper 1982; zur Kritik an den
zu gelangen, kurz jene plastische Kraft, welche erst auf Glättungen in der 2. Auflage s. a. Mehring 1909, 747).
dem Gebiete der Kunst voll entwickeln konnte« (Jahn Die »zwei deutlich und schroff markirte[n] Hälf-
1866, 10). Die leistungsethische Interpretation spie- ten« (Justi 1866/1872, I, 8) von W.s Leben spiegeln
gelt den liberalen Gesellschaftsentwurf wider, durch sich wider in dem ersten Band Winckelmann in
Kulturleistungen zur nationalen Einheit zu gelangen, Deutschland und dem zweiten Band Winckelmann in
was sich insbesondere in der Fassung von 1866 nie- Rom, der wiederum in die (ab der 2. Auflage als eigen-
derschlägt. Vermag W.s »Seherblick« »aus dem Schat- ständige Bände gezählten) beiden Teilbände Römische
tenleben der römischen Kunst die griechische in’s Le- Lehrjahre 1755–1763 und Römische Meisterjahre
ben zu rufen« (ebd., 59), so lässt sich die Würdigung 1763–1768 unterteilt ist. Der erste Abschnitt des Ban-
jener divinatorischen Gabe als implizite Aufforderung des Winckelmann in Deutschland widmet sich W.s Bil-
zur visionären nationalen Gestaltung der eigenen Kul- dungsweg, beginnend mit den ersten Lehrern wie
tur verstehen. Esaias Wilhelm Tappert in Stendal und Christian To-
bias Damm in Berlin. Das deutsche Wissenschaftssys-
tem zur Mitte des 18. Jh. steht wie bei Herder und
Historismus: Carl Justi
Goethe in schroffem Gegensatz zu W.s natürlicher
Dass Carl Justis dreibändige monumentale Biographie Anlage, wird allerdings in den Abschnitten zu den
Winckelmann, sein Leben, seine Werke, seine Zeitge- Professoren Johann Heinrich Schulze, Alexander
nossen (1866/1872) das historistische Pendant zu Gottlieb Baumgarten und Johann Peter von Ludewig
Goethes Sammelband darstelle, wurde schon früh be- in Halle sowie Georg Erhard Hamberger in Jena aus-
merkt (Grimm 1890), wenn auch das Werk anfangs in führlich gewürdigt. Mit dem Abschnitt Winckelmann
der formalen Anlage, der sprachlich-stilistischen Ge- in Sachsen erfolgt die erste biographische Zäsur: Sie ist
staltung und dem zu international wirkenden Aus- schon an der verstärkten Einbeziehung des kulturto-
sagegehalt dem literarischen Zeitgeschmack teilweise pographischen Aspekts erkennbar, der mit der Würdi-
widersprochen hat (vgl. Jordan 1867, Springer 1873). gung von Kunst, Architektur und Kultur Dresdens im
Der seit der zweiten, stark überarbeiteten Auflage ge- 18. Jh. den ersten Ansatz zu einer kunsthistorischen
läufige Titel Winckelmann und seine Zeitgenossen deu- Erschließung des Barocks bildet (Heres 1982). W.s in-
tet die Gewichtung zugunsten des lebensweltlichen tellektuelles Umfeld um Adam Friedrich Oeser oder
Umfelds und der Milieuanalyse an. In gleichen Maßen Christian Ludwig von Hagedorn bildet eine »Gegen-
gegen spekulative wie mechanistisch-materialistische strömung« zum Rokoko, die in Dresden bereits zu W.s
Tendenzen in der Kulturgeschichtsschreibung gerich- Ankunft vorhanden war: W. »ward von ihr ergriffen,
tet, erzählt Justi W.s Lebensweg in einem pluralisier- um dann der Erste deren zu werden, die ihr zum Sieg
ten Zeitkontext, der als nicht näher definierter Syner- verhalfen« (Justi 21898, I, 237). Auf fast neunzig Seiten
gismus auf das Individuum einwirkt. Biographischer würdigt Justi die von Otto Jahn kaum beachteten und
284 IV Rezeption

von Goethe als »barock und wunderlich« (Goethe durch Pierre Bayle, Montesquieu, Shaftesbury, Vol-
1989, 359) bezeichneten Gedancken über die Nach- taire, Alexander Pope oder Joseph Addison gelegten
ahmung und versucht sie im zeitgenössischen ideen- intellektuellen Grundlagen in W.s Denken offenlegen
geschichtlichen Rahmen zu bewerten. – ihr internationaler Charakter bildet das Rückgrat
Die Fortsetzungsbände Römische Lehrjahre 1755– des von Justi verfolgten Konzepts von W.s innerer Au-
1763 und Römische Meisterjahre 1763–1768 behandeln tonomie gegenüber den beengenden deutschen Ver-
nach demselben Prinzip die zentralen Personen aus hältnissen. Dies alles geschieht nicht in reflektieren-
W.s römischem Umfeld wie Künstler, Gelehrte, Kardi- der Rückschau wie beim hochklassischen Goethe
näle und den Hochadel auf Grand Tour. Mit W.s An- oder dem methodologisch gefestigten Otto Jahn, son-
kunft in Rom beginnt ein Prozess der italienischen As- dern im identifikatorischen Nachvollzug des Lebens-
similierung und der strategischen Positionierung in- wegs, indem der studierte Theologe und habilitierte
nerhalb der italienischen Gelehrtenwelt, die sowohl Philosoph Justi mit Forschung und Niederschrift
auf Konversation als auch auf Abgrenzung beruht. Die selbst eine Wende zur Kunstgeschichte vollzieht (Os-
Existenzsicherung unabhängig vom Dresdner Hof bil- terkamp 1991). Zugleich baut Justi auf den Vorgän-
det hierbei ein zentrales Moment von W.s Handeln. gern auf: Viele biographische Topoi schließen an
W.s Schriften werden nach ihren kontextuellen Bedin- Goethe an, für die archäologische Fundierung nutzte
gungen, Genese, Inhalt und Rezeption erschlossen. er unter anderem eine anonyme Vorlesungsnach-
Herausragend ist die umfassende kritische Würdigung schrift bei Otto Jahn, die er 1864 im Antiquariatshan-
von W.s empirischen, methodischen und schriftstel- del erworben hatte (Archiv der BBAW, Teilnachlass
lerischen Leistungen im Sinne einer deutschen Wis- C. Justi, 68).
senschaftssprache. Angesichts der zur Zeit Justis ver- Trotz des identifikatorischen Moments vertritt Justi
breiteten normativ-positivistischen Wissenschaftsauf- keineswegs den Standpunkt eines doktrinären Klassi-
fassungen erhält etwa der Abschnitt zu den Beschrei- zisten, sondern führt mit W.s Positionen einen kriti-
bungen der Statuen im Hof des Belvedere fast schen Dialog. So ist gleich zu Beginn in ungewöhnli-
Manifestcharakter, indem er den individuell geprägten cher Verwendung des Genitivs von der »Abrechnung
und sprachschöpferischen Zugang zu Kunstwerken seiner [d. i. W.s] geistigen Hinterlassenschaft« die Re-
betont (Justi 1866/1872, II,1, 38–64). Der Abschnitt de (Justi 1866/1872, I, 2). Besonders scharf sind die
zur Geschichte der Kunst des Alterthums bildet den Kul- Ausführungen zur Laokoon-Diskussion, die Wider-
minationspunkt am Anfang des dritten Bandes. Von spruch hervorgerufen haben (vgl. die Streitschrift Fi-
diesem ausgehend, setzt die Rückbewegung zur scher 1887; allgemeine Ablehnung von Justis »laxen
deutschsprachigen Welt ein, indem Justi W.s Cicerone- Kritiken« bei Baumecker 1933, 157 sowie passim). Die
Tätigkeit und die zunehmende Anerkennung in Bestimmung des eigenen Standorts im Medium der
Deutschland schildert. historischen Biographie ist typisch für die Geisteswis-
Als eines der Hauptwerke der historistischen Kul- senschaften der 1860er Jahre: Wie in der Biographik
turgeschichtsschreibung und als Meilenstein in der Rudolf Hayms und Wilhelm Diltheys wird in Abkehr
Gattungsgeschichte der Biographie schöpft Winckel- vom Systemdenken die Wende zu einer historischen
mann und seine Zeitgenossen die verfügbaren Quellen Anthropologie vollzogen. Dementsprechend finden
auf maximale Weise aus. Die Fülle erstmals berück- sich in Justis Individuationskonzept Elemente der
sichtigter Archivalien und die kenntnisreiche Ein- protestantischen Prädestinationslehre und der Hel-
beziehung literarischer und kunsthistorischer Kon- denverehrung Thomas Carlyles, die Vorstellung von
texte macht Justis Buch bis heute zu einem Standard- Arthur Schopenhauers dunklem Trieb des Willens so-
werk, nicht ohne in der nachlässigen Zitierweise wei- wie die Strukturierung von W.s Lebensphasen nach
terhin Herausforderungen an die Leser zu stellen Friedrich Schleiermachers individualethischem Im-
(Ansätze zu einer Kommentierung durch Walther perativ zur Selbstvervollkommnung (vgl. Rößler
Rehm in Justi 51956). Neben einem polyhistorisch an- 2009, 201–210). In deutlicher Anlehnung an Schleier-
mutenden Lektürepensum bilden hierfür die Sich- machers Reden Über die Religion (1799) und die Mo-
tung des W.-Nachlasses in Paris (1863) und intensive nologe (1800) gestaltet sich W.s Lebensweg als selbst-
Kunst- und Archivstudien in Italien (1867–1869) eine verantwortete Herausführung aus der absoluten Kon-
Grundlage. So rekonstruiert etwa der erste Band in tingenz: Erste Bildungserfahrungen als »Excerptor
mehreren Phasen das Lektüreverhalten W.s auf der [...] ohne Plan und Ziel« werden durch das passive
Basis der Exzerpte und kann damit erstmalig die Verlieren in einen unübersichtlichen Universalismus
29 Winckelmann-Verehrung und Winckelmann-Biographik 285

gesammelt (Justi 1866/1872, I, 178). Es folgt der zen- 1873 in den Studies in the History of Renaissance zu-
trale Akt der Selbstdetermination: In der Entschei- sammenfasste (eine deutsche Übersetzung erschien
dung, sich ganz der griechischen Sprache und Litera- 1902). Die gegenüber dem Zeitschriftenbeitrag stark
tur zu widmen, überwindet W. nicht nur die »Ziello- erweiterte Buchfassung bildet den Abspann zu den
sigkeit seiner gelehrten Irrfahrten« und die »Un- Renaissance-Studien. In weiten Teilen an Goethes
kenntniß seiner eigentlichen Bestimmung« (ebd., Skizzen anknüpfend, bilden die zunächst referierten
244), er befreit sich auch aus der »Verkettung von Um- Lebensdaten jeweils Anlass zur Reflexion, um dann in
ständen« (ebd., 215), indem er »die Abhängigkeit [...] einem zweiten Teil in die weitgreifende kulturphiloso-
in Freiheit« verwandelt (ebd., 446). Von diesem relativ phische Digression überzugehen. Die W.-Verehrung
früh bestimmten Wendepunkt ausgehend, findet W. Goethes und Hegels Vorlesungen über die Ästhetik bil-
seinen Platz im »Universum« (vgl. ebd., II,1, 5) und den hierbei die geistesgeschichtlichen Koordinaten,
betätigt sich im sozialen Zusammenhang. auf die Pater immer wieder zurückkommt. Wie Justi
deutet Pater W.s Hinwendung zur Antike als notwen-
digen Akt der Selbstbeschränkung, dies allerdings in
Essay: Von Hermann Hettner zu Franz Mehring
Hinführung auf einen radikalen ästhetizistischen Le-
Seit 1860 kristallisiert sich ein Strang einer essayisti- bensentwurf. Eines von zwei längeren W.-Zitaten
schen Beschäftigung mit W.s Leben in den aufkom- stammt bezeichnenderweise aus der Abhandlung von
menden Rundschau- und Publikumszeitschriften he- der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst
raus. Der junghegelianisch geprägte Kunst- und Li- (1763), womit die Tendenz zu einer ästhetizistischen
teraturhistoriker Hermann Hettner, seit 1855 Direk- Interpretation besonders deutlich wird. Für Pater ver-
tor der Dresdner Antiken-Sammlung, verfolgt eine körpert W. »das Kulturproblem an sich: Gleichge-
Sicht auf W. aus der materialistisch-sensualistischen wicht, Einheit mit sich selbst, vollendete griechische
Perspektive von Ludwig Feuerbachs Philosophie Plastik« (Pater 2010, 76). Kunst und Leben finden ih-
(Hettner 1860). Gemäß diesem idealrealistischen ren gemeinsamen Stimulus in der »Schönheit der le-
Standpunkt ist W. nicht nur Reformator der deut- benden Form« (ebd., 34), adäquat umgesetzt in der
schen Kunst und Überwinder des Zopfstils, seine Formbegrenzung der griechischen Antike. W.s »äs-
historische Bedeutung wird hinsichtlich der Etablie- thetische[r] Trieb« (ebd., 26), der die homosexuelle
rung des (auch für den Junghegelianismus zentralen) Veranlagung mit einschließt, bildet somit das Ideal ei-
Entwicklungsdenkens, der notwendigen disziplinä- nes ästhetisierten Lebensentwurfs aus, der im Rah-
ren Eingrenzung der Kunstgeschichte und des An- men des viktorianischen cult of beauty und des euro-
teils an der Sprach- und Literaturgeschichte gewür- päischen Ästhetizismus zu sehen ist (Potts 1992, Øs-
digt. Entsprechend dem Feuerbachschen religions- termark-Johansen 2010).
kritischen Immanentismus wird W. als »Mensch mit Ausgehend von Justis Monographie publizierte der
voller und ganzer Seele« (Hettner 1860, 202) be- in Florenz ansässige Kulturphilosoph Karl Hillebrand
zeichnet, dessen antike Gesinnung (wie schon bei im Fortnightly Review einen langen Essay zu W.s Le-
Goethe) von einer Neutralisierung des Christlichen ben, der auch als Antwort auf Paters ästhetizistische
gekennzeichnet ist (ebd., 203). Hettners geistes- Vereinnahmung gelesen werden kann (Hillebrand
geschichtliche Auseinandersetzung mit W. ging in 1874). Die verdichtete Form der Darstellung folgt der
die zwischen 1862 und 1870 erschienene Geschichte typischen Darstellungsweise kulturhistorisch-biogra-
der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert phischer Tableaus in Rundschauzeitschriften. Bei aller
ein, die W. erstmals im literaturhistorischen Zusam- Bewunderung für Justis Buch und in enger Anleh-
menhang behandelte. nung an dessen biographisches Konstrukt verschärft
Die Deutung von W. als gesteigertem Wiedergän- Hillebrand die Kritik an W., indem er ihn als Propa-
ger der humanistischen Antikenverehrung des 16. Jh. gandisten eines abstrakten Idealismus ablehnt. Das
findet sich auch bei Walter Pater. Im Januar 1867 pu- von ihm ausgehende Entwicklungsdenken habe zwei-
blizierte er im Westminster Review einen Essay, der im fellos die Wissenschaften geprägt, verheerend habe
Untertitel Otto Jahns W.-Aufsatz von 1866 und die aber die Nachahmungslehre gewirkt, die zur dogmati-
englische Übersetzung der Geschichte der Kunst des schen Verhärtung in allen Kunstströmungen bis zur
Alterthums aufführte (Pater 1867). Der Text, der kei- Gegenwart geführt habe. Im Umfeld von Hans von
nen näheren Bezug zu den vorgeblich rezensierten Marées, Adolf von Hildebrand und Conrad Fiedler
Werken hatte, eröffnete eine Aufsatzserie, die Pater entstanden, formuliert damit Hillebrands Essay am
286 IV Rezeption

Beispiel W.s eine grundsätzliche Kritik an den ästheti- seit Justi neue auf die Region bezogene Quellen be-
schen Auffassungen des 18. und 19. Jh. Teile des Es- rücksichtigt werden (so etwa zu W.s Familien-
says gingen in den zweiten Brief der im selben Jahr er- geschichte). In der Weimarer Republik bleibt das In-
schienenen Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers ein, teresse an W. konstant erhalten, namentlich haben
die grundlegende Überlegungen zur Ästhetik des Hil- sich die Archäologen Ludwig Curtius und Gerhart
debrand-Fiedler-Kreises enthielten. Rodenwaldt und der Altphilologe Werner Jaeger im
Sich gleichfalls auf Justi berufend, veröffentlichte Rahmen eines »Dritten Humanismus« auf W. berufen
der sozialdemokratische Literaturkritiker Franz (hierzu Sünderhauf 2004, 249–255, 267–272). Ab der
Mehring 1909 einen Essay zu W. Wie schon in der Mitte der 1920er Jahre herrscht die Tendenz vor, W.
1893 erschienenen Lessing-Legende verfolgt Mehring aus einer nationalen und antimodernen Perspektive
die Zerstörung »bürgerlicher« Mythenbildung und zu deuten, was schließlich in die nationalsozialistische
eine sozialkritische Abrechnung mit dem preußi- Vereinnahmung münden sollte (Sünderhauf 2004,
schen Staat (vgl. Irmscher 1973). Das sich bei Herder, 247). So lobte Ludwig Curtius 1941 in einer Rede den
Goethe und Justi zu W. antithetisch verhaltende geis- »neue[n] Klassizismus unserer Tage [...] im Geiste
tige Klima der deutschen Aufklärungsphilosophie Winckelmanns« (Curtius 1941, 27).
wird hier durch die sozialen Verhältnisse und absolu- Prägend für das Verständnis von W. als Gründer-
tistische Unterdrückung ersetzt: W.s Lebensweg un- vater der deutschen Kunstgeschichte wurde der Ab-
terscheidet sich von dem der anderen »Klassiker« schnitt in dem Standardwerk Deutsche Kunsthistori-
dadurch, »daß keinem von ihnen das Unglück be- ker von Wilhelm Waetzoldt (1921), das im Rahmen
schieden gewesen ist, die ersten dreißig Jahre seines der Historismusdebatte der Weimarer Republik die
Lebens in der Altmark zu hausen, der ›Wiege des Ho- erste Disziplingeschichte der deutschsprachigen
henzollernstaates‹, womit im Grunde schon alles ge- Kunstwissenschaft darstellt. Waetzoldt bezeichnet W.
sagt ist« (Mehring 1909, 749). Ebenso kritisiert Meh- als »Vater der deutschen Kunstbildung« und »der eu-
ring den von den »bürgerlichen« Biographen an W. ropäischen Bildungskunst« (Waetzoldt 1921, 72), be-
betriebenen Geniekult (ebd., 752) und die zu große tont aber den Unterschied zur Kunstgeschichte seiner
Zaghaftigkeit, mit der der homosexuelle Hintergrund eigenen Gegenwart. In Abgrenzung zu W.s normati-
von W.s Freundschaftsverständnis angedeutet werde vem Stilverständnis hebt Waetzoldt die moderne, im
(ebd. 749). W.s an der attischen Polis explizierter Erlebnis fundierte Kunsterfahrung hervor: »[W]ir
Freiheitsgedanke ist »weiter nichts als ein leeres Spiel haben als Kriterium nur die künstlerische Wertigkeit,
mit Worten, ohne alle greifbare Beziehung auf die po- und diese kann nicht restlos auf Begriffe abgezogen,
litischen und sozialen Zustände des alten Griechen- sondern muß unmittelbar erlebt werden« (ebd.). Ent-
lands« (ebd., 757). Auch wenn W. die »Sklavensehn- sprechend dieser eigenen Vorgabe würdigt Waetzoldt
sucht nach dem Kerker nie überwinden konnte« insbesondere W.s Kunstbeschreibungen und seine
(ebd., 758), bildet bei Mehring der Aufstieg des Gabe zum »Sicheinfühlen und Sicheindenken [...] in
Schuhflickersohns aus erniedrigenden Lebensbedin- den Gegenstand wissenschaftlicher Behandlung«
gungen einen paradigmatischen Fall der Emanzipati- (ebd., 64).
on des Handwerker- und Arbeitertums, ein Bild, das Einen größeren, wenn auch besonders problemati-
später für die W.-Pflege der DDR grundlegend wer- schen biographischen Beitrag bildet das Buch von
den sollte. Berthold Vallentin (1931), das von Stefan George in
Auftrag gegeben wurde. Vallentin betreibt einen Ge-
niekult in »hemmungslos superlativistischer Empha-
Winckelmann-Biographik in der Weimarer
se« (Fuhrmann 1972, 279). Deutschtum, Männlich-
Republik
keit, Leibvergottung und Freundschaftskult bilden
Die um 1900 bestehende Tendenz zur thesenartigen hierbei die zentralen, eng an die Gedanken des
Behandlung von W.s Leben belegt den vorläufigen Ab- George-Kreises anschließenden Motive: »Nur dem
schluss quellenbezogener Forschung und die Hinwen- Mann, dem männlichen Schöpfer Winckelmann gilt
dung zu einer verstärkt gegenwartsbezogenen Aus- dieses Buch, und es hat seine Rechtfertigung daher,
einandersetzung. Nur das 1917 erschienene Buch des daß Winckelmann in dieser Sicht sicher noch nicht ei-
Stendaler Augenarztes Heinrich Segelken nutzt noch ne umfassende Darstellung gefunden hat« (Vallentin
die biographische Gattung zur Darlegung positivis- 1931, 7). Neben der Erschließung der Antike und dem
tisch-archivalischer Ergebnisse, indem dort erstmals Beitrag zur deutschen Sprache wird als W.s dritte und
29 Winckelmann-Verehrung und Winckelmann-Biographik 287

wichtigste Leistung »das Werk am Menschen, am Heyne, Christian Gottlob: Lobschrift auf Winkelmann. Kas-
deutschen Menschen« (ebd., 86) hervorgehoben, die sel 1778.
sich in seinem pädagogischen Eros zeige. W.s Verhält- Hillebrand, Karl: Winckelmann. In: The Fortnightly Review
15 (1874), 760–784; 16 (1874), 27–51.
nis zu Friedrich Wilhelm Peter Lamprecht dient als [Horner, Johann Jakob:] Johann Winkelmann. In: Künstler-
paradigmatischer Fall, an dem W.s Verständnis von Galerie oder Biographien und Charakterschilderungen
»heroischer Freundschaft« expliziert wird. Die Bezie- berühmter Maler und Dichter nebst ihren Bildnissen.
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Friedrich Wilhelm Graf von Schlabrendorf u. a. die- Huber, Michael: Mémoires pour servir à l’ histoire de de la
vie et des ouvrages de Winkelmann. In: Johann Joachim
nen als weitere Belege. Goethe und insbesondere Justi
Winckelmann: Histoire de l’ art de l’ antique. Übers. von
werden wegen der Vernachlässigung des Aspekts von Michael Huber. Leipzig 1781, Bd. 1, XXXVII–CL.
W.s Freundschaftsbegriff scharf kritisiert. Vallentins Jahn, Otto: Winckelmann. In: Ders.: Biographische Aufsät-
Beitrag ist daher vor allem aus ideologiegeschicht- ze. Leipzig 1866, 1–88.
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Justi, Carl: Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und sei-
untersucht und mit der Betonung auf die »Männlich- ne Zeitgenossen. 2 in 3 Bden. Leipzig 1866/1872.
keit« der Aspekt der homosexuellen Veranlagung in Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 2. veränd.
der W.-Biographik in größerem Ausmaß berücksich- Aufl., 3 Bde. Leipzig 21898.
tigt wurde. Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 3 Bde.
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Pater, Walter: Winckelmann. Englisch und Deutsch. Hg. von
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Eiselein, Joseph: Johann Winckelmanns ausführliche Bio-
ckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Nach
graphie aus allen vorhandenen Quellen geschöpft. In: Jo-
dem Tode des Verfassers herausgegeben, und dem Fürsten
hann Winckelmanns sämtliche Werke. Einzige vollständi-
Wenzel von Kaunitz-Rietberg gewidmet von der kaiserli-
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288 IV Rezeption

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30 Winckelmann in der fiktionalen Literatur 289

30 Winckelmann in der fiktionalen fekten Stoff für einen bürgerlichen Roman abzuge-
Literatur ben. Die bescheidene Herkunft als Sohn eines Schuh-
machermeisters, die hartnäckig betriebenen Studien,
sein Genie, sein Erfolg in Europa und sein schreck-
Symbol Winckelmann
licher Tod konnten leicht als Parabel des Strebens
W., sein Werk und sein tragisches Ende beanspruchen nach Erkenntnis von faustischem Format interpre-
in der fiktionalen Literatur vom 19. Jh. bis heute eine tiert werden.
deutlich profilierte Stellung und leisten, wie Hellmut Bei allen Unterschieden im Niveau ist der fiktiona-
Sichtermann in seinem Beitrag über W. im 20. Jh. len W.-Literatur gemeinsam, dass sie sich auf solche
(Sichtermann 1991, 3) hervorhob, ihren Beitrag zur Lebensetappen konzentriert, an denen sich, wie man
Entstehung des ›Symbols W.‹. In literarischen Bearbei- glaubte, die ›Hybris‹ und das Wirken der ›Nemesis‹
tungen läuft eine Reihe von Diskursen zusammen; ihr ablesen lassen. Auch W.s Werke erfahren dabei ›Neu-
Gegenstand sind das Schöne, die Vitalität der Deut- auslegungen‹. W. ist Gegenstand von Novellen und
schen Klassik, die Kulturgeschichte Deutschlands, Erzählungen, aber auch von ganzen Romanen. Wich-
nicht zuletzt das Mysterium von Tod und Schicksal. tige Stoff- und Ideenlieferanten sind Goethes Essay
Die Darstellungen gehen psychoanalytischen Per- Winckelmann und sein Jahrhundert (1805), später die
spektiven nach, interessieren sich für die Entwicklung monumentale Biografie von Carl Justi, Winckelmann.
einer homoerotischen Literatur, assoziieren W. mit Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen
Faust und geben sich Spionage-Fantasien hin. (1866/1872). Vor allem sie bilden die Grundlage, auf
Wenn vielfach das Interesse an W.s außergewöhn- der sich dann eine lebhafte literarische Produktion
lichem Leben und seinem tragischen Ende im Mittel- entwickelte. Diese widmet sich W. als Künstler und
punkt steht, so ist dafür die Veröffentlichung der Do- Genie, in dessen Darstellung Elemente des histori-
kumente mitverantwortlich, die sich auf seinen Auf- schen Romans einfließen konnten, der in der zweiten
enthalt in Triest und die Ermordung durch Francesco Jahrhunderthälfte eine Blütezeit erlebte. Die Figur
Arcangeli am 10. Juni 1768 im Zimmer 10 der Locan- W.s ließ sich auch innerhalb von historischen Roma-
da Grande bezogen, wo W. seit dem 8. Juni zu Gast nen einsetzen, etwa im Sinn eines Eskapismus, der es
war. Die Publikation der Akten noch in W.s Todesjahr dem Leser ermöglichte, sich in »schönere und größere
unter dem Titel Distinta relazione del premeditato, Zeiten« zu versenken und sich an der »stolzen natio-
atroce, proditorio omicidio commesso in Trieste leistete nalen Vergangenheit« zu berauschen (Marcuse 1978,
dem ›Mythos W.‹ Vorschub. Die Dokumente trugen 233). Auf eine besondere Konzentration an Texten, in
zu einem populären Interesse an W. bei, das sich im denen W. als literarische Figur auftritt, stößt man in
Wesentlichen auf die Mordtat konzentrierte. Den dem Jahrzehnt zwischen 1920 und 1930, bevorzugt in
Einstieg bildete eine Veröffentlichung in Der neue novellistischer Gestalt. Wie Sascha Kiefer feststellt,
Pitaval, einer Sammlung interessanter Kriminal- korrespondiert in der Novelle als »(überlegener) Son-
geschichten von Willibald Alexis und Julius Erhard derform des italienischen Vorbilds« die »›strenge No-
Hitzig, die zwischen 1842 und 1890 in 60 Bänden er- vellenform‹ mit den ästhetischen Auffassungen des
schien und Ausgangspunkt zahlreicher Bearbeitun- formbewussten Klassizisten Winckelmann« (Kiefer
gen wurde (Frenzel 2001, 186–195). Die Umstände 2010, 134). Gerade die Beziehung zwischen Italien
von W.s Tod erwiesen sich bald als fruchtbarer Stoff und Deutschland ist ein weiterer Inspirationsfaktor
für die Konsumliteratur; die nie beseitigten Zweifel für W.-Erzählungen. Mit dem italienischen Schau-
über das wirkliche Motiv und den Mordablauf boten platz kommt das Thema von Kunst und Ästhetik fast
der Fantasie einen weiten Spielraum. Die einen ließen wie von selbst ins Spiel. Als Gegenstand der Reflexio-
sich von Komplott- und Kriminalfantasien treiben, nen der Hauptfigur und als szenografischer Hinter-
andere gaben sich ganz der pathetischen oder makab- grund ist die Kunst omnipräsent und bildet den Aus-
ren Beschreibung eines gewaltsamen Todes hin. Mo- gangspunkt von Handlungen und ästhetischen Pro-
tive und Ablauf des Mordes wurden vielfach mit Blick blemstellungen. Der schöne und anmutige Schau-
auf die Dichotomie zwischen dem idealen und dem platz gerät so in einen Kontrast zu der brutalen
menschlichen Schönen betrachtet. In den gelungene- Handlung und den Alltagsgeschäften; in anderen Fäl-
ren Fällen wurde W.s Biographie Erscheinungsform len führt er zu einem Konflikt zwischen dem schein-
eines Symbolsystems, aufgeladen mit mythologi- bar zum Greifen nahen Ideal und den persönlichen
schen Bezügen. Darüber hinaus schien sie den per- Erfahrungen des Protagonisten. Der Tod in Venedig

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_30, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
290 IV Rezeption

von Thomas Mann ist das bedeutendste Beispiel für der einschlägigen Texte vollzieht die Biographie des
die Wahl des italienischen Handlungsortes in der Ab- Protagonisten nach. Generell haben in der zweiten
sicht, den Konflikt zwischen Kunst und Vergänglich- Hälfte des 19. Jh. Biographien und kulturgeschicht-
keit zu zeigen. Der Aufbau, die Themen dieses Werkes liche Werke Hochkonjunktur; für die fiktionale Lite-
und vielleicht auch die Bildung seines Protagonisten ratur steht hier Walter Scott Pate, dessen Romane in-
sind ein deutlicher Widerhall der Geschichte W. s. tensiv rezipiert wurden. Ein Beispiel ist Winckelmann
Wenn Erzählungen und Novellen über W. in der von Alexander von Ungern-Sternberg (1806–1868)
ersten Hälfte des 20. Jh. in hoher Konzentration auf- aus dem Jahr 1861. Ungern-Sternberg ist auch Autor
treten, so entspricht dies einem epochalen Charakter- des erfolgreichen Zeitromans Die Zerrissenen (1832).
zug, den Kracauer in Die Biographie als neubürgerliche Winckelmann, eine Neuauslegung der Biografie der
Kunstform entwickelt: Die Autoren wenden sich der Titelfigur in romanhafter Form, besteht aus einer
psychologischen Analyse der Hauptfigur zu und grei- chronologischen Aufzählung der Ereignisse und Aus-
fen die jüngere psychoanalytische Forschung auf; ihr zügen aus seinen Briefwechseln und Werken, die
verdankt sich der Impuls, historische Figuren neu zu durch lange Dialoge der Figuren miteinander verbun-
behandeln und auszulegen. den sind. Die Figur W.s sieht sich polaren Spannungen
ausgesetzt; sie steht zwischen Gelehrsamkeit und Ar-
mut, evangelischer und katholischer Religion, Sin-
Romane und Novellen
nenlust und Kunstgenuss.
Der chronologisch erste literarische Text, der sich mit Zeitgleich erschien 1862 der umfangreiche »cultur-
der Figur W.s beschäftigt und sie erzählerisch behan- historische Roman« Von Stendal nach Rom in drei
delt oder jedenfalls auf sie verweist, ist die Novelle An- Bänden aus der Feder von Amely Bölte (1811–1891),
gelika, die Genueserin und Cosmus, der Seilspringer der eine mutigere Annäherung an seinen Gegenstand
von Ludwig Achim von Arnim aus dem Jahr 1812. In versucht und deutlicher konturiert ist. Bölte ist eine
der verwickelten Handlung tritt W. als Nebenfigur auf. interessante Figur in der literarischen Szenerie des
Im Mittelpunkt der Geschehnisse steht die Gräfin An- 19. Jh.: Aus Mecklenburg-Schwerin stammend, arbei-
gelika, die gemeinsam mit ihrer Nichte Marianina von tete sie zunächst als Erzieherin und zog 1839 nach
Italien nach Deutschland reist und in Heidelberg an- England, wo sie als Gouvernante tätig war, ihren Vor-
kommt. Dort besucht sie ein Konzert des Sängers Spo- namen von Amelie in Amely änderte und rasch Eng-
leto, dem sie am Tag darauf wiederbegegnet; diesmal lisch lernte. In England begann auch ihre literarische
tritt er unter dem Namen Cosmos als Seiltänzer auf. Karriere: Sie wurde Korrespondentin für deutsche
Er berichtet ihr von seiner verzweifelten Suche nach Zeitschriften wie das Morgenblatt von Cotta in Stutt-
seiner Mutter; diese ist, wie sich am Ende herausstellt, gart, trat in Kontakt mit Thomas Carlyle, übersetzte
Angelika selbst. Cosmos, so erfährt man weiter, ist ein deutsche Romane ins Englische, darunter Vittoria Ac-
Sohn Friedrich Winckelmanns, der als junger Doktor corombona von Ludwig Tieck, und schrieb Erzählun-
der Philosophie und Hofmeister in Angelikas Haus tä- gen. Ab 1851 lebte sie wieder in Deutschland und ver-
tig war. Der junge Gelehrte, der als »liebreich« und fasste eine größere Anzahl von Romanen und Erzäh-
»tiefsinnig« (Arnim 1812, 351) beschrieben wird, hat- lungen, in denen sie in der beginnenden Fraueneman-
te als Verehrer »der alten Kunstdenkmahle« seine Hei- zipation Stellung bezog.
mat verlassen und war nach Italien gezogen, wo er Dem dreibändigen W.-Roman steht als Sinnspruch
vom Kunsthandel und vom Privatunterricht lebte. Die ein Satz von Carlyle voran: »In jeder Seele liegt ein un-
W.-Handlung endet mit einer Bluttat: Der Gelehrte widerstehliches Verlangen, sich zu entwickeln«. Die-
wird von einem Förster ermordet, der sich die gesam- ses Motto führt den Leser durch die Biographie W. s.
ten Habseligkeiten des Opfers aneignet. Die Novelle Im ersten Band zeichnet Bölte die psychologische Ent-
macht von einer Struktur Gebrauch, die man auch in wicklung W.s nach. Sie beginnt bei seiner bescheide-
anderen zeitgenössischen Erzählungen findet: Im nen Herkunft und geht im Detail auf Schauplätze und
Mittelpunkt steht das Thema der melancholischen die jeweiligen historischen und sozialen Verhältnisse
Liebe. Die Erzählung folgt Cosmos’ Lebensgeschichte, ein. W.s Lebensbild entsteht durchgängig vor dem
deren wahre Anfänge sich dem Leser zusammen mit Hintergrund historischer und politischer Ereignisse
dem Protagonisten enthüllen. und im Kontext politischer Konstellationen und Pro-
Arnims Novelle bildet in der Reihe der W.-Erzäh- zesse. W.s Biographie gibt der Verfasserin die Gele-
lungen des 19. Jh. eine Ausnahme. Denn ein Großteil genheit, historische Figuren auftreten zu lassen und
30 Winckelmann in der fiktionalen Literatur 291

an bedeutende Ereignisse zu erinnern. Der Leser er- sich seine Stimmung zunehmend zum Schlechteren;
fährt von der Gründung der Universität Halle und W. wird reizbar, äußere und innere Welt erdrücken
schließt Bekanntschaft mit den dortigen Professoren ihn und er beschließt, die Reise abzubrechen und
im Jahr 1736, als W. sich dort immatrikulierte (Bölte nach Italien zurückzukehren. In einer Art fiktiver Rei-
1862, 66); er begegnet auch Gestalten wie Friedrich II. sebeschreibung lässt Schäfer die Etappen Revue pas-
oder der venezianischen Sängerin Faustina Bordoni sieren, die W. nach Wien, zu Wenzel Anton von Kau-
Hasse (ebd. 117). Der Protagonist seinerseits wird in nitz und Maria Theresia führen. Der letzte Teil der Er-
seiner Entwicklung und in seinem Erkenntnisdrang zählung ist von Albrecht Dürers Kupferstich Nemesis
beobachtet; die Welt freilich, in der er aufwächst, dominiert, dessen Vision W. während seines Fieber-
bleibt ihm fremd. In Dresden sind es die Figuren am zustands in Wien bedrängt und ihn mit seiner Sym-
Hof Augusts II. und in seinem Umfeld, die ausführlich bolik bis nach Triest begleitet. W.s letzte Lebensstun-
behandelt werden – etwa Christian Ludwig von Hage- den sind in einem Monolog des Protagonisten dar-
dorn und Gian Ludovico Bianconi, ebenso die Bezie- gestellt, der nochmals das Schwanken zwischen Sehn-
hungen zwischen den europäischen Höfen und die sucht und Trauer auf der einen und dem Wunsch nach
Verhältnisse in Italien, besonders im Vatikan. W.s Freiheit auf der anderen Seite aufgreift.
Ausführungen sind oftmals direkt seinen Werken ent- Die Entfernung von der historischen Realität ist in
nommen; meistens verweist Bölte sogar auf ihre Quel- der Erzählung von Viktor Meyer-Eckhardt (1889–
len. Anders als in anderen Beispielen der W.-Literatur 1952) Die Gemme (Jena 1926) noch augenscheinlicher.
steht der Tod des Protagonisten nicht im Vorder- Der Text behandelt die Ereignisse um W.s letzte Le-
grund. Bölte behandelt ihn in einem kurzen Kapitel benstage in Triest sehr frei und nennt dabei weder den
mit dem Titel Das Verhängnis. Namen des Gelehrten noch den seines Mörders. Der
Wenn sich in der Literatur der ersten Jahrzehnte Verfasser baut W.s Figur in Bilder von Italien und
des 20. Jh. das Interesse an W. erneut intensiviert, so Deutschland ein: »Seit mehr ja als zehn Jahren war der
mag dabei die dritte Auflage des Werks von Carl Justi deutschgeborene Gelehrte in die heitere Natürlichkeit
eine Rolle spielen, die im Jahr 1923 herauskam. Im des Südens so leidenschaftlich eingewachsen, wie ein
Unterschied zu den Werken des vorangegangenen Jh. Baum der aus fremdländischkühlem Gewächshause in
scheinen die Novellen das Projekt einer historischen den Urmutterboden zurückverpflanzt wird, dort erst
Rekonstruktion aufzugeben, um stattdessen den gro- seine Glieder: die unteren durch die Krume, die obe-
ßen Gelehrten in eine Gegenwartsmetapher zu ver- ren durch die Heimatluft verbreitet« (Meyer-Eckhardt
wandeln. Die Erzählung Winckelmanns Ende von Wil- 135). Die Geschichte dreht sich um die erotische Lei-
helm Schäfer (1868–1952) aus dem Jahr 1925 stellt die denschaft des Archäologen für einen Jüngling namens
letzten Lebensmomente des Kunstkenners dar und Angelo und um einen Karneol aus dem 2. Jh. v. Chr.
läutet damit eine ganze literarische Tradition ein. W. Dieser stellt eine männliche Figur dar, über der der Na-
tritt auch in Die dreizehn Bücher der deutschen Seele me »Alexandros« in griechischen Buchstaben zu lesen
auf, dort im Buch der Propheten, einem Text, der Zen- ist; neben ihr sieht man eine Jünglingsfigur mit dem
tralfiguren der ruhmreichen deutschen Vergangen- Namen »Hephaistion«. Der Protagonist dreht dieses
heit behandelt und aus heutiger Sicht als geradezu Schmuckstück beständig in seinen Händen. Er ist von
propagandistisch erscheint. Winckelmanns Ende er- Angelos Schönheit gefesselt und gibt sich der Liebe in
zählt von W., der gemeinsam mit Bartolomeo Cava- einer Art Traumzustand hin, in dem sich düstere Vor-
ceppi Deutschland bereist, und charakterisiert ihn als ahnungen, Wünsche, Sehnsüchte und die Hingabe an
einen psychologisch ambivalenten Mann, der kon- die Kunst mischen.
tinuierlich unter Gemütsschwankungen leidet. Der Bei den Erzählungen von Friedenthal und Bergen-
von Schäfer gezeichnete W., der sich in einem kon- gruen rückt die ästhetische Dimension in den Vorder-
stanten monologischen Fluss präsentiert, ist hin- und grund. In der Novelle Arcangeli von Richard Frieden-
hergerissen zwischen der Gefangenschaft, in der er thal aus dem Jahr 1927 findet W. in dem Körper der
sich in Rom sieht, und seiner schlechten Gemütsver- sechzehnjährigen Titelfigur die vollendete Schönheit
fassung auf der Reise. Hinter den Erinnerungen an des Antinoos wieder. Das reine Angesicht des Jüng-
Unterredungen mit Albani, dem Plan einer Griechen- lings verzerrt sich aber plötzlich beim Anblick der
land-Reise mit Riedesel und der Entscheidung, nach Wertgegenstände des Protagonisten, Gewalt erscheint
Deutschland aufzubrechen, steht stets das unstillbare als Kehrseite der Schönheit, als Arcangeli W. aus Hab-
Verlangen nach Freiheit. Im Verlauf der Reise wendet sucht tötet. Werner Bergengruen (1892–1964) schrieb
292 IV Rezeption

seine Novelle Winckelmann in Triest 1924. Er publi- ben gebraucht, die zwischen dem Weiß des Marmors
zierte sie erstmals 1926 und ließ sie 1933 in leicht ab- und der Hände W.s und Arcangelos Hautfarbe
geänderter Version unter dem Titel Die letzte Reise er- schwanken. Hier ist es der junge Hirt, der den Gelehr-
neut erscheinen. Die Erzählung behandelt die letzten ten und seine Mission der Erneuerung des Schönen
Tage in Triest. W.s Zustand und seine Annäherung an und der Kunst beobachtet und ihn schließlich in sei-
Arcangeli deuten einerseits auf ein Bedürfnis nach nen Armen sterben sehen will, damit sich auch dieser
Leichtigkeit und die Sehnsucht, sich von der eigenen kalte Körper gleichsam in Marmor verwandelt.
intellektuellen Welt zu lösen, und andererseits auf den Gerhard Hauptmann hat 1939 den interessantesten
Wunsch, den eigenen Erfolg in dem faszinierten Blick Text des 20. Jh. geschrieben, der uns in Fragmentform
des Jungen widergespiegelt zu sehen (Kiefer 2010, und zwei unterschiedlichen Versionen zugänglich ist.
133). Im ersten Teil der Novelle erscheint W. als eine Die Fragmente wurden zusammen mit den Paralipo-
Art Misanthrop und wird von Selbstzweifeln gequält. mena der zweiten Fassung 1970 in den Sämtlichen
Arcangeli, bei Bergengruen ein Mann mit schillernder Werken veröffentlicht. Den Fragmenten liegt das lang-
Vergangenheit und offensichtlicher Neigung zu Luxus jährige Interesse des Autors an der Figur W.s, der Klas-
und Geld, fasziniert W. durch Natürlichkeit, Sponta- sik und der Archäologie zugrunde. Ausgangspunkt
neität und Simplizität. Der Kunstkenner sieht sich da- beider Versionen ist der Protagonist in seiner letzten
rin an die eigene bescheidene Vergangenheit erinnert. Zeit in Rom, und zwar bei seinen Unterredungen mit
Während eines Spaziergangs tötet Arcangeli unver- Anton Raphael Mengs und Bartolomeo Cavaceppi.
sehens und brutal einen Schmetterling, antikes Sym- Die Texte behandeln W.s Entscheidung, eine Reise
bol der Seele, der sich auf seinen Arm gesetzt hat. Das nach Deutschland zu unternehmen, und seinen plötz-
Naturbild mit der jähen Bewegung Arcangelis, der mit lichen, durch Angstanfälle ausgelösten Entschluss,
einem Stock in der Hand an einen Baum lehnt, ver- nach Rom zurückzukehren und in Triest Station zu
wandelt sich in W.s Augen in den Genius mit der zu machen. W. ist von Unruhe, Unzufriedenheit, Lebens-
Boden gewendeten Fackel auf dem Grab der Klymene, ekel und unbändigem Fluchtbedürfnis getrieben. Der
einen Todesdämon, der die Schlussszene vorweg- Text ist reich an Reflexionen über Kunst und Schönheit
nimmt und auf den Kenotaph des Gelehrten anspielt. und enthält viele direkte und indirekte Anspielungen,
Ein Höhepunkt der literarischen W.-Rezeption ist etwa auf Lessings Schrift Wie die Alten den Tod gebil-
das ihm gewidmete Gedicht Winckelmann in Triest aus det. W., geplagt von selbstzerstörerischen Obsessio-
dem Jahr 1929 von Max Kommerell (1902–1944). Das nen, zeigt sich als Sklave der Schönheit und wohnt sei-
Gedicht stellt W. als Schlüsselfigur im Diskurs über das nem zunehmenden Kräfteverfall bei. Schon der Unter-
Schöne dar; es feiert W. und beschwört mit der griechi- titel der ersten Fassung besagt, dass W. Opfer eines
schen Klassik die homosexuelle Liebe herauf. Das Ge- »böse[r]n Dämon[s]« ist. Zwar zeichnet das Roman-
dicht von Kommerell findet sich in Gespräche aus der fragment eine historische Figur nach, doch verfolgt es
Zeit der deutschen Wiedergeburt, einem Werk über keine spezifisch historischen Interessen: In inneren
Hauptfiguren der Deutschen Klassik; es gilt als zentral Spannungen des Individuums verweben sich histori-
auch für die Konstruktion von W. als Ikone der homo- sches Ereignis und existenziell-menschliche Dimen-
erotischen Literatur (Adam 2009, 231). sionen. W.s »widerspruchsvolle Natur« (Hauptmann,
Die literarische Produktion jener Zeit zum Thema 471) kommt auf jeder Seite des Fragments zur Erschei-
W. beschließt Ernst Penzoldt (1892–1955), der 1930 in nung – etwa in der Fähigkeit, jeden Sachverhalt aus
einer Erzählungssammlung mit dem Titel Die portu- verschiedenen Perspektiven zu beurteilen, und im Lei-
galesische Schlacht die Novelle Winckelmann ver- den am eigenen Leben, das sich in Schwindelanfällen
öffentlichte. In einer Neuauflage der Sammlung, die und Todesahnungen andeutet.
von Suhrkamp 1992 unter dem Titel Die Erzählungen Die doppelte Natur des Kunstgelehrten zeigt sich
herausgegeben wurde, ist die Novelle nicht mehr ent- auch gegenüber dem jungen Francesco, doch jetzt ist
halten. Die Erzählung behandelt W.s Ankunft in Triest es nicht der Ästhet und Liebhaber der Schönheit, son-
und seine Begegnung mit dem jungen Arcangelo sehr dern der Sohn des Schuhmachers, der Trost sucht und
frei. Der Text stellt den Gegensatz zwischen der Ge- sich wie ein hilfloses Kind an einem ihm fremden Ort
lehrsamkeit des Protagonisten und der Einfalt des jun- verhält. Die letzten Seiten der Erstfassung beschreiben
gen Mannes, zwischen der statuenhaften Schönheit die langen Stunden seiner Agonie nach der Gewalttat
und dem erotischen Begehren in den Mittelpunkt. von Arcangeli und enthalten die Abschiedsgedanken
Dabei werden bei den Beschreibungen bewusst Far- des Protagonisten, der nicht mehr sprechen kann, aber
30 Winckelmann in der fiktionalen Literatur 293

beobachtet, was um ihn her geschieht. W. denkt an Werk, womit er allerdings eine heftige Debatte über
Lessings Schrift, an den Jüngling mit der Fackel, und die Zulässigkeit seines Vorgehens auslöste.
stellt sich den Parthenon vor; seine Gedanken begin- In der zweiten Hälfte des 20. Jh. rückt das histori-
nen, ineinander zu verfließen – er sieht sich in Dres- sche Ereignis W., in einigen Fällen auch die bloßen
den, im Gespräch mit Pater Rauch und Archinto, dann Fakten, wieder in den Vordergrund. Werner von der
wieder in Neapel, umgeben von etruskischen Vasen. Schulenburg (1881–1958), Schriftsteller, Übersetzer
Seinen Körper nimmt er immer weniger wahr, die vieler italienischer Werke und vor allem kultureller
Stimmen um ihn herum verwirren sich mehr und Vermittler, publizierte 1953 einen historischen Ro-
mehr, bis er stirbt. man (Der Genius und die Pompadour), der Parallelen
Die zweite Version hält an der Struktur fest, inten- zwischen dem Französischen Hof der Madame Pom-
siviert aber die Darstellung der Halluzinationen und padour und den Forschungen W.s zieht. Der Begrün-
Visionen des Protagonisten, der im Kampf zwischen der der Archäologie, der im zweiten und dritten Teil
intellektuellem Streben nach klassischer Harmonie des Romans auftritt, und der Hofstaat der Pompadour
und körperlichen Sehnsüchten steht, in einer Dialek- begegnen einander vermittelt durch weitere Figuren;
tik, die in den Dialogen der verschiedenen Figuren der Roman malt ein Bild Europas in der zweiten Hälfte
zum Ausdruck kommt. Der Schmetterling mit der des 18. Jh., das vom Geschmack am Schönen und der
Totenkopf-Zeichnung, den ihm das Modell Desiderio Vorliebe für den Grand Tour beherrscht wird. Von der
Arcangeli in Rom geschenkt hat, bekommt in W.s Schulenburg arbeitet mit dokumentarischem Material
Vorstellungen eine bedrohliche Vorbedeutung: »Du und verfasst einen Roman, dessen herausragende Fi-
singst ein dionysisches Lied, mehr vom Tode viel- gur der große Erneuerer W. im italienischen Kontext
leicht als vom Leben, du umhüllst mich mit einer le- ist (beindruckend sind die Beschreibung der katho-
bensgefährlichen Phantasmagorie, voll von Gedan- lischen Zeremonie in Cocullo, Abruzzen, und die
ken der blitzenden Götter, unschwer zucken die einen Schlangenprozession).
so weit, daß man plötzlich ersehnt, was man eben ge- Auf ähnliche Weise bringt Jutta Hecker (1904–
fürchtet: dann flogst du voran, und ich folgte willig in 2002), Autorin biografischer Romane und Erzählun-
das allversöhnende Totenreich« (Hauptmann, 581). gen über Figuren der Weimarer Zeit, ihre historische
Bei der Begegnung mit Arcangeli in Triest lässt der Kenntnis von W.s Leben und Werk in den Erzähltext
Autor die Zweifel zu Wort kommen, die der spätere Traum der ewigen Schönheit. Der Lebensroman Johann
Mörder an der wahren Identität des Archäologen Joachim Winckelmanns ein. Hecker neigt zu einem
hegt. Am Ende vermischt der Verfasser die Erzählung preisenden Ton. Strukturell unternimmt sie den Ver-
mit den wirklichen Begebenheiten, die er den Akten- such, Goethes Konzept des Bildungsromans auf W.s
stücken von Domenico de’ Rossetti entnommen hat. Biographie anzuwenden. Der Roman behandelt mit
So werden alle Fragen offen gelassen, die W.s Ankunft äußerster Genauigkeit alle Lebensphasen des Protago-
in Triest betreffen. Zweifelhaft bleibt auch, aus wel- nisten von der Kindheit bis zu seinem Tod in Triest
chem Grund er mit Arcangeli in Kontakt stand, und und endet mit einem Blick auf die Aufnahme der To-
warum dieser nicht einfach nur in W.s Zimmer Wert- desnachricht durch Goethe, Schiller und Lessing.
gegenstände stahl. Das Mordmotiv bleibt ebenso im Auch in Claus Backs (1904–1969) Roman Der Weg
Dunkeln. Auf dem Tisch des Zimmers wird das Ma- nach Rom. Ein Winckelmann-Roman (1964) wird die
nuskript der Geschichte der Kunst gefunden, an deren Lebensgeschichte des Begründers der Archäologie
neuer Ausgabe W. arbeitete. Auch die Gründe, die W. von seiner bescheidenen Herkunft bis zu seinem Ende
dazu brachten, »Erinnerungen für den künftigen He- rekonstruiert. Gerhard Köpf setzt sich in Piranesis
rausgeber der Geschichte der Kunst« zu schreiben, Traum, 1953 erschienen, mit der Geschichte der Titel-
bleiben unklar. figur auseinander, geht aber auch auf die Rivalität zu
1954 konstruierte Frank Thiess (1890–1977) aus W. ein und evoziert die Kulturgeschichte des mittleren
den beiden Versionen von Hauptmanns Winckelmann 18. Jh. Noch fantasievoller ist Tod in Triest. Miniaturen
und den in den Paralipomena enthaltenen Anmer- aus dem Leben von Lichtenberg, Winckelmann, Storm,
kungen einen einzigen Text, dem er den Titel Das Ver- eine Textsammlung von Wolfgang Eschker (*1941)
hängnis gab. Thiess beschränkte sich nicht darauf, die aus dem Jahr 1999, in der der Autor die Triester Tragö-
Texte zusammenzustellen, sondern er fügte auch neue die auf ironische und groteske Weise behandelt und
Dialoge ein und überarbeitete überhaupt das ganze dabei eine überraschende Parallele zum Spionagesys-
tem der Stasi zieht.
294 IV Rezeption

Ein ungewöhnliches Theaterstück ist Endpunkt Friedenthal, Richard: Arcangeli. In: Maria Rebscheider. Vier
Triest. Leiden und Tod von Johann Joachim Winckel- Novellen. Leipzig 1927, 61–81.
mann von Franco Farina, das 1992 für ein deutsches Goethe, Johann Wolfgang: Winckelmann und sein Jahrhun-
dert. In Briefen und Aufsätzen herausgegeben von Goethe,
Publikum in Stendal uraufgeführt wurde. Das Drama Tübingen 1805. Auch in: Werke, Hamburger Ausgabe. Hg.
besteht aus zwölf Stationen und beleuchtet die Hinter- von Erich Trunz. München 1998, Bd. 12, 96–129.
gründe des Verbrechens, wobei die dokumentierten Hauptmann, Gerhart: Winckelmann. In: Sämtliche Werke,
Zeugenaussagen zu Wort kommen und im Stil des an- Bd. X: Nachgelassene Werke. Fragmente. Frankfurt a. M.
tiken Chors kommentiert werden. Die einzelnen Sze- 1970, 443–674.
Hauptmann, Gerhart: Das Verhängnis. Roman. Vollendet
nen beschreiben, beginnend bei der Begegnung des
und herausgegeben von Frank Thiess. Gütersloh 1954.
Archäologen mit Francesco Arcangeli, die Schlüssel- Hecker, Jutta: Traum der ewigen Schönheit. Der Lebens-
ereignisse, durchlaufen den historischen Prozess und roman Johann Joachim Winckelmanns. Berlin 1965.
enden bei der Verurteilung des Mörders. Am Ende tritt Hitzig, Julius Eduard/Alexis, Willibald: Winckelmann. In:
ein verwandelter W. auf, der seinen Eingangsmonolog Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten
über den Apollo von Belvedere wieder aufnimmt. Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer
Zeit. Leipzig 1847, Bd. 12, 422–444.
Aus dem Jahr 2007 stammt die Erzählung Tornia- Kommerell, Max: Winckelmann in Triest. In: Gespräche aus
mo a Roma von Hans Joachim Schädlich (geb. 1935), der Zeit der deutschen Wiedergeburt. Verlag der Blätter
die in dem Band Vorbei. Drei Erzählungen enthalten für die Kunst. Berlin 1929, 5–8.
ist. Der kurze Text erzählt die wohlbekannte Ge- Köpf, Gerhard: Piranesis Traum. Hamburg und Zürich
schichte von W.s Reise nach Deutschland und seinem 1992.
Meyer-Eckhardt, Victor: Die Gemme. Florenz 1926. Reprint
plötzlichen Entschluss, nach Rom zurückzukehren
in: Novellen um Winckelmann. Beiträge der Winckel-
und in Triest Halt zu machen. Die Erzählung besteht mann-Gesellschaft. Bd. 20. Mainz 1993, 133–240.
aus einer Art Collage, die aus dokumentarischem Ma- Penzoldt, Ernst: Winckelmann. In: Die portugalesische
terial und fiktionalen Einfügungen zusammengestellt Schlacht. München 1930, 131–144.
ist. In nüchternem und auf das Wesentliche konzen- Schädlich, Hans Joachim: Torniamo a Roma. In: Vorbei.
triertem Stil, der perfekt mit dem Dokumentarischen Drei Erzählungen. Hamburg 2009.
Schäfer, Wilhelm: Die dreizehn Bücher der deutschen Seele.
korrespondiert, spricht der Text den dramatischen
München 1922.
Epilog eines Lebens. Die Geschehnisse, über die Schäfer, Wilhelm: Winckelmanns Ende. München 1925. Re-
Schädlich nach den Aktenstücken berichtet, werden print in: Novellen um Winckelmann. Beiträge der Win-
von den Figuren kommentiert; die Erzählung zeigt die ckelmann-Gesellschaft. Bd. 20. Mainz 1993, 41–132.
Anatomie der Tatbestände und zwingt den Leser zu Schulenburg, Werner von der: Der Genius und die Pompa-
eigener Auseinandersetzung mit den in dramatischer dour. Stuttgart 1953.
Ungern-Sternberg, Peter Alexander Freiherr von: Winckel-
Nacktheit präsentierten Ereignissen. mann. In: Künstlerbilder. 2 Bde. Leipzig1861, Bd. 2,
5–286.
Quellen
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ditorio omicidio commesso in Trieste li 8 dello scaduto Adam, Wolfgang: »Winckelmann in Triest«. Max Kom-
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lebre Signor Giovanni Winckelmann non che dell’ esem- der Zeit der deutschen Wiedergeburt«. In: Held, Heinz-
plare sentenza pronunziata contro l’ omicida, ed eseguita li Georg (Hg.): Winckelmann und die Mythologie der Klas-
20 luglio dello stesso anno. Triest, Rom 1768. sik. Narrative Tendenzen in der Ekphrase der Kunstperio-
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30 Winckelmann in der fiktionalen Literatur 295

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B Bildende Kunst

31 Die authentischen Porträts monographische Darstellung vor. Kanz 1993 unter-


Winckelmanns suchte die Reihe der authentischen Gemälde W.s aus
ikonographisch-stilgeschichtlicher Sicht. Die biogra-
phischen Abrisse und Würdigungen W.s, wie sie in
Die Ikonographie Johann Joachim W.s ist gering an den postumen Übersetzungen und Editionen seiner
Umfang. Lediglich fünf zu Lebzeiten entstandene Werke enthalten waren, warteten stets auch mit einer
bzw., das postume Bildnis von der Hand Anton Ra- kleinen Ikonographie des Archäologen auf (Winckel-
phael Mengs’ hinzugerechnet, sechs authentische Por- mann 1781, CXXXVI f.; ihm folgend Winckelmann
träts des Archäologen sind bekannt, wovon zwei ver- 1783–1784 sowie Fernow 1808, XLIII; Füssli 1806–
schollen und auch nicht durch Abbildungen überlie- 1821, 6101; weiterhin Eiselein 1825, CLVIII–CLX).
fert sind. 1760 entstand das erste der dokumentierten Wie in den biographischen Skizzen, so ist es auch in
Porträts, ein Werk des dänischen Malers Peder Als. den weiter ausholenden Biographien des Gelehrten
Zwischen Frühjahr und Herbst 1764 folgte die Por- zur Tradition geworden, dessen Porträts in die Be-
trätzeichnung von Giovanni Battista Casanova und im trachtung miteinzubeziehen – als biographische Quel-
Juli desselben Jahres das halbfigurige Bildnis von An- le wie als Facette dieses Lebenslaufs (Justi 1956, 87–91;
gelika Kauffmann, seit 1767 das Kniestück von Anton Wangenheim 2005, 275–284; Haupt 2012, 97).
von Maron, das zum Zeitpunkt von W.s Tod noch un- Die Quellenlage zur Entstehung und Rezeption der
vollendet war, und zu einem unbekannten Zeitpunkt Porträts W.s ist ausgesprochen gut. Angesichts der
während der römischen Jahre eine Wachsbossierung Dichte von Kommentaren des Porträtierten zur Ent-
von Johann Friedrich Reiffenstein. Das Bildnis von stehung der Porträts von Als, Kauffmann, Casanova
Anton Raphael Mengs schließlich ist mit höchster und Maron ist Misstrauen gegenüber Bildnissen an-
Wahrscheinlichkeit um 1778 entstanden. gebracht, die W. nicht erwähnt. Dies hat bezüglich des
Zu einzelnen dieser Porträts wie zu ihrer Gesamt- Mengs-Porträts immer wieder zu denken gegeben,
heit existiert ein nur noch schwer zu überblickendes dies muss auch hinsichtlich des Oeser zugeschriebe-
Schrifttum, bei dem auch die zahlreichen primären nen Porträts skeptisch stimmen. Allerdings ist bislang
oder nachrangigen druckgraphischen Reproduktio- auch keine Erwähnung des Wachsreliefs von Reiffen-
nen sowie die plastischen und skulpturalen Porträts stein durch W. selbst bekannt, das indes durch den
breitesten Raum einnehmen. Eine erste monographi- Künstler bezeugt ist.
sche Darstellung legte Otto Jahn 1854 vor. Ihm folgten Der Begriff der Authentizität ist eine bei der Be-
um die Wende vom 19. zum 20. Jh. Julius Vogel (Vogel schäftigung mit dem Porträt häufig bemühte Katego-
1898/1899; Vogel 1900) sowie 1913 Hermann Uhde- rie. Im vorliegenden Zusammenhang soll er nicht als
Bernays. Eine materialreiche Studie, welche die Por- Qualitätsmerkmal verwendet werden, nicht an Kult-
träts vor dem Hintergrund der jeweiligen biographi- wert oder auratische Qualitäten und ebenso wenig an
schen Situation analysierte, legte Hermann Thiersch das Kriterium der Ähnlichkeit geknüpft werden. Viel-
1918 vor. Die erschöpfende Monographie, die er ge- mehr sollen hierunter die auf der Grundlage eigener
plante hatte, setzte schließlich Arthur Schulz, Ge- gründlicher Anschauungen des Porträtisten von W.
schäftsführer der Winckelmann-Gesellschaft, der da- geschaffenen Bildnisse gefasst werden, worin über die
bei auf die Materialsammlung Thierschs zurückgrei- ›nach dem Leben‹ entstandenen Porträts hinaus auch
fen konnte, 1953 ins Werk. Zum bekanntesten und dasjenige von der Hand Mengs’ einzuschließen ist.
umstrittensten der Porträts W.s liegt mit der ideen- Neben den gesicherten wurden seit der Wende vom
geschichtlichen Studie Tutsch 1995 auch eine werk- 19. zum 20. Jh. immer wieder anonym überlieferte

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_31, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
31 Die authentischen Porträts Winckelmanns 297

Bildnisse mit dem Namen W.s verbunden. Gleich in halten wurde (Brann 1905, 175; Uhde-Bernays 1913,
zwei Porträts, die Adam Friedrich Oeser zugeschrie- 50; Lauts 1966, Nr. 484).
ben wurden, hat man geglaubt, W. zu erblicken, und Ebenso war die an das prominente Bildnis von der
fand dies umso plausibler, als der Maler und der Ge- Hand Marons erinnernde Kopfbedeckung offensicht-
lehrte während ihrer gemeinsamen Zeit in Dresden in lich entscheidend für die Bestimmung gleich zweier
enger Verbindung miteinander standen. Das eine da- Arbeiten von Angelika Kauffmann, eine mit »Ischia
von, ein Brustbild eines etwa dreißigjährigen Mannes 1763« bezeichnete Radierung eines Herrn mit Zei-
in häuslicher Tracht in der Kustodie der Universität chenstift (siehe Brann 1905, 175) sowie eine Kreide-
Leipzig, von Julius Vogel auf rein intuitive Weise be- zeichnung im Vallardi-Skizzenbuch (Victoria and Al-
stimmt (Vogel 1898/1899, 155), ist inzwischen wieder bert Museum London; siehe Walch 1977, 105, Abb. 56,
aus der Ikonographie W.s ausgeschieden (Uhde-Ber- Nr. 46), die auch den pelzverbrämten Hausrock mit
nays 1913, 59). Geradezu rätselhaft nimmt sich das der Arbeit von Maron gemeinsam hat. Der Turban
Brustbild eines etwa vierzigjährigen Mannes mit und der fulminante Rock sind jedoch Topoi des
hochgewölbter Stirn und schütterem Haar in ebenfalls Künstler- und Gelehrtenporträts. Auch physiogno-
häuslicher Kleidung aus, das in zwei unabhängig von- misch lässt sich die Bestimmung in beiden Fällen
einander überlieferten Varianten nach Abbildungen nicht stützen. Die Radierung wird inzwischen als Dar-
bekannt ist. Durch beinahe wundersame Zufälle auf- stellung Reiffensteins angesehen, die Kreidezeichnung
gefunden und in die Diskussion eingeführt wurden gilt noch im Katalog der Kauffmann-Retrospektive
beide von Hermann Thiersch (Thiersch 1918, 6–11 von 1998 (Baumgärtel 1998, 132, widersprüchlich da-
und Abb. 1–2). Im Werkverzeichnis Oesers sind die tiert 1763/65 bzw. 1767/68) als Porträt W. s.
beiden Exemplare aufgeführt (Friedrich 2005, Nr. 15 Als vermeintliche Vorstudien zu dem Porträtge-
und 107, 149, 191). Bis zur Möglichkeit, diese Bildnis- mälde von Peder Als wurden zwei Zeichnungen im
se im Original zu untersuchen, ist hier sicherlich Zu- Kopenhagener Statens Museum for Kunst in die Iko-
rückhaltung angebracht. nographie W.s eingeführt, die eine nur flüchtig skiz-
Das Porträtmedaillon in Oesers Entwürfen zu ei- ziert, die andere sorgfältiger ausgeführt, der Dar-
nem Denkmal für W., das derselbe auch zu einem Ge- gestellte in ersterer mit Gehrock und Perücke ange-
denkblatt ausarbeitete, das wiederum als Frontispiz tan, in letzterer mit Hausrock und turbanartiger Müt-
zu Übersetzungen der Geschichte der Kunst Verwen- ze (Thiersch 1918, 26; Schulz 1953, Abb. 3 f.). Beide
dung gefunden hat (Winckelmann 1781, Winckel- zeigen einen Herrn neben einem Tisch, darauf eine
mann 1783–1784; siehe Vogel 1898/99, 156; Kunze Statuette der Athene als Ausweis ästhetischer Bil-
1977, 19) ist nicht porträthaft ausgearbeitet und soll dung. Die weiter ausgeführte Zeichnung, für welche
daher hier aus der weiteren Erörterung ausgeklam- die Autorschaft Als’ unsicher ist, wurde zwischenzeit-
mert bleiben. lich als Porträt des Johannes Wiedewelt beziehungs-
Auch eine Arbeit eines anderen engen Freundes weise des Carl Marcus Tuscher identifiziert (Mittei-
W.s, Anton Raphael Mengs, von dessen Hand eines lung von Thomas Lederballe, Statens Museum for
der anerkannten Bildnisse stammt, wurde bei ihrem Kunst). Die Bestimmung des Dargestellten in der
Auftauchen im römischen Kunsthandel durch intuiti- physiognomisch völlig unbestimmten andern, die
ve Bestimmung als Porträt des Archäologen identifi- weiter als Arbeit des Peder Als zu gelten hat, ist nicht
ziert (Uhde-Bernays 1913, 58). Heute befindet es sich ersichtlich.
in der Eremitage und wird hier noch immer als sol-
ches geführt, von den Bearbeitern des Œuvres Mengs’
Das verschollene Porträt von Peder Als
allerdings aus physiognomischen Gründen abgelehnt
(Honisch 1965, 81; Roettgen 1999, Nr. 251 und 252). Das im Januar und Februar 1760 entstandene Porträt
Nicht stichhaltig war auch die versuchsweise Be- W.s von der Hand des dänischen Malers Peder Als
stimmung eines ehemals Pompeo Batoni zugeschrie- (1726–1776) ist allein einigen brieflichen Mitteilun-
benen Porträts in Mailänder Privatbesitz (Uhde-Ber- gen des Dargestellten an Heinrich Wilhelm Muzell-
nays 1913, 61). Gleiches gilt für das Bildnis eines jun- Stosch nach bekannt. Am 22. oder 23. Januar 1760 er-
gen Mannes in der Kunsthalle Karlsruhe, das wohl fährt der Adressat: »Mein Portrait machet itzo ein ge-
aufgrund seiner Provenienz aus der Sammlung eines schickter Dänischer Mahler, und ich glaube, es sey
römischen Diplomaten sowie vor allem wegen seiner eins der besten die gemachet sind« (Br. II, 73). Einige
turbanartigen Kopfbedeckung für ein Porträt W.s ge- Tage später folgen genauere Aufschlüsse zur Identität
298 IV Rezeption

des Malers (Br. II, 77) Wie später der Arbeit Marons geordnete Lockenfülle und die Heroisierung der Ge-
spendet W. auch derjenigen Als’ höchstes Lob. Über sichtszüge ist der antikisierenden Porträtform an-
die Komposition des Werks, seine Ikonographie und gemessen und lässt nicht etwa darauf schließen, dass
seinen Verbleib haben wir keinerlei Nachrichten. Zur der unmittelbare Eindruck des Darzustellenden nicht
wechselweisen Lösung zweier Probleme wurde die mehr gegeben gewesen wäre. Nicht den Monumenti
Gleichsetzung des materiell überlieferten, aber quel- freilich wurde dieses Porträt W.s beigeben, sondern,
lenmäßig nicht erwähnten Bildnisses Mengs’ mit dem gestochen von Bartholomeo Folin[o] (1730–1808),
dokumentierten, aber verschollenen Werk von Als 1766 dem dritten Band der in Leipzig erscheinenden
vorgeschlagen (Boenigk 1906). Dieser Befriedigung Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der
verschaffenden Idee neigten auch die Editoren der freyen Künste, in der W. seit 1759 publiziert hatte.
Ausgabe der Briefe zu (Br. II, 392; IV, 502–503, 509), Das Profil erfuhr im 18. Jh. Wertschätzung als An-
obwohl sie stilkritisch nicht überzeugend war. Sehr klang an das antike Reliefbildnis, das vor allem als
wahrscheinlich handelte es sich bei dem Porträt, das Münzbildnis und als Gemme beziehungsweise Ka-
Besucher W.s über dessen Schreibtisch gesehen ha- mee überliefert war. Casanovas Zeichnung ist als fin-
ben, um dasjenige von Als (Br. IV, 232; 258, hier als gierter Gemmenabdruck angelegt und legt dem Ar-
Porträt von Maron angesprochen, das jedoch zu dieser chäologen so den Nimbus des Altertums bei. Mit den
Zeit noch nicht vollendet war; allenfalls könnte es sich Seherfahrungen des späteren 18. Jh. ist uns diese
um eine Vorarbeit Marons gehandelt haben). Porträtform geläufig; zur Entstehungszeit von Casa-
Peder Als war als dänischer Stipendiat in Rom. Mit novas Zeichnung in den frühen 1760er Jahren ist sie
W. dürfte er als Schüler Mengs’ ebenso wie als Lands- allerdings ausgesprochen rar. Das Blatt, das durch
mann Wiedewelts, des zeitweiligen Wohnungsgenos- seine Reproduktion ein großes Publikum erreichte,
sen des Archäologen, in Berührung gekommen sein. dürfte maßgeblich zu ihrer Popularisierung beigetra-
Die Entstehung des Porträts verdankt sich damit offen- gen haben.
bar dem freundschaftlich-kollegialen Zusammenhang.

Die Profilzeichnung von Giovanni Battista


Casanova
Auch die Bleistiftzeichnung von der Hand Giovanni
Battista Casanovas (1730–1795) (Abb. 31.1) verdankt
ihre Entstehung freundschaftlichen Banden, und dies
in zweifacher Hinsicht: Nicht nur der Künstler war –
vor seiner Verwicklung in die für W. blamable Affäre
um die Fälschungen antiker Malereien – dem Dar-
gestellten freundschaftlich verbunden, sondern auch
der Adressat, der Liefländische Baron Friedrich Rein-
hold von Berg, dem W. die Planung des Porträts brief-
lich anzeigt (Br. II, 300; 328). Das versprochene Profil
sollte offenbar nicht nur eine Freundesgabe sein, son-
dern zugleich als Vorlage für eine Radierung als Fron-
tispiz zu W.s Monumenti antichi inediti dienen und
sich damit an die literarische Öffentlichkeit wenden
(vgl. Br. III, 18). Da Casanova zu dieser Zeit mit Nach-
druck an den Tafeln für die Monumenti arbeitete, ist
die Annahme naheliegend, dass auch das Porträt von
vornherein zu deren Ausstattung beabsichtigt war.
Die Form jedenfalls, ein fingierter Gemmenabdruck,
war diesem Zweck adäquat.
Casanovas Rückkehr nach Dresden markiert das Abb. 31.1 Profilbildnis von Giovanni Battista Casanova,
Datum ante quem für die Entstehung der »Ad Vivum« 1764, Bleistift, 15 × 10 cm. Museum der bildenden Künste
angefertigten Zeichnung. Die Idealisierung durch die Leipzig.
31 Die authentischen Porträts Winckelmanns 299

In halber Figur von Angelika Kauffmann


In denselben Monaten wie die Profilzeichnung Casa-
novas entstand W.s Porträt von der Hand der jungen
Angelika Kauffmann (1741–1807) (Abb. 31.2), wie W.
in seinem Brief vom 13. Juli 1764 an den Auftraggeber
Johann Heinrich Füssli meldet, der Rom erst vor kur-
zem verlassen hatte (Br. III, 48). Gemeinhin wird nicht
dieser, der Zürcher Historiker, Staatsmann und Ver-
leger (1745–1832) als der Auftraggeber des Porträts
angesehen, sondern sein Ziehvater, der Maler und
Kunstschriftsteller Johann Caspar Füssli, ein Freund
und Förderer W.s (Thiersch 1917, 29; Schulz 1953, 10;
dagegen aber Wehrli 1946). Gegen die Auftraggeber-
schaft Hans Caspar Füsslis spricht u. a. die Tatsache,
dass sich das Porträt nachweislich nicht in dessen Be-
sitz befand (Füssli 1770, 7; Hinweis von Sabine Hügli).
W. berichtet, die Kauffmann habe das Porträt »für
einen Fremden gemacht« (Br. III, 672). Als ›Fremde‹
wurden die Besucher der ewigen Stadt bezeichnet;
ebenso nannte etwa W. auch den jungen Füssli: »Er
scheinet mir ein Bild der Tugend in Fleisch und Bein
zu seyn [...] mit keinem Fremden bin ich mehr gleich-
sam handgemein geworden« (Br. III, 116). W. und
Füssli verband ähnlich wie W. und von Berg ein Abb. 31.2 Halbfigur von Angelika Kauffmann, 1764, Öl/Lw.,
freundschaftliches Schüler-Lehrer-Verhältnis, dem 97 × 71 cm. Kunsthaus Zürich.
sich die Entstehung des Porträts der Kauffmann ver-
dankte wie etwa gleichzeitig auch die Profilzeichnung
Casanovas. geordnet. Kann das Buch ganz allgemein für die Ge-
Die Künstlerin zeigt den Antiquar mit der Schreib- lehrsamkeit stehen, so ist das Relief, das kein be-
feder in der Hand über dem Papier am Tisch, den stimmtes Kunstwerk wiedergibt, als Bezug zu W.s
Blick seitwärts in unbestimmte Ferne gerichtet – ein Schrift Von der Grazie in Werken der Kunst (1759) zu
klassischer Topos der Inspiration (vgl. Raupp 1980, verstehen und darüber hinaus auf Grazie als zentrale
7–35). Allerdings erscheint der Archäologe durch sei- Kategorie von W.s Ästhetik. Claudia Tutsch erörtert in
ne Miene wie auch durch die aufeinanderliegenden ihrer Werkmonographie des Porträts von der Hand
Hände weniger temperamentvoll als es mit dieser Marons die Grazie im Zusammenhang der Ikonogra-
Bildformel häufig einhergeht, sondern gemessen, sin- phie der Freundschaft und bestimmt diese als Kern-
nierend. Darin stimmt das Bildnis mit jenen von Ma- gehalt der Darstellung (Tutsch 1995, 172–174).
ron und Mengs überein. Unwillkürlich denkt man an Angelika Kauffmann zeigt W. barhäuptig, im Haus-
W.s Formel von der »edlen Einfalt und stillen Größe«, rock mit offenem Hemdkragen, entsprechend den im
die als Vorgabe zu seiner Inszenierung im Bildnis Barock ausgebildeten Konventionen des Künstler-
wirksam geworden zu sein scheint. und Gelehrtenporträts, die allerdings gerade im Por-
Die empfindsame Note, die dem Porträt eignet, trät der Italienfahrer nicht auf diesen Personenkreis
entspricht der Stilistik der Porträtistin. Empfind- beschränkt sind. Bislang keine Beachtung gefunden
samen Gehalt birgt auch das leere Papier, ein Quart- hat der Shawl, den W. trägt und der ein ganz und gar
doppelblatt für einen Brief als Medium emotionaler ungewöhnliches Accessoire im Porträt des 18. Jh. ist.
freundschaftlicher Kommunikation. Der Gelehrte be- Möglich, dass dem Antiquar der Shawl genehm war,
kennt sich damit zu dem sozialethischen Prinzip da er wie die Garderobe der Griechen nicht genäht
Freundschaft, dem ja das Bildnis auch seine Entste- war, sondern nur drapiert wurde. Jedenfalls verleiht er
hung verdankt. Mit dem Brief sind ein Foliant sowie dem Porträt eine entschieden individuelle Note. Mit
ein Relief der drei Grazien auf dem Tisch vor W. an- beinahe noch lebhafterem Interesse als die Entstehung
300 IV Rezeption

sächlich entspricht die Radierung der Kauffmann


(Abb. 31.3) bei der Unbestimmt in der Zeichnung, vor
allem auch im Physiognomischen, und bei der Frei-
heit in der Wiedergabe, die sich nur der Urheber einer
Vorlage erlauben darf, nicht der Ästhetik der florie-
renden Reproduktionsgraphik der zweiten Hälfte des
18. Jh. Erst in den frühen 1780er Jahren erschienen
Reproduktionen des Kauffmannschen W.-Porträts
(Schultz 1953, 22–25 und 68–69), die jedoch so wenig
wie die späteren das Niveau der Druckgraphik der
Zeit repräsentieren.
Kopiert wurde das Bildnis hingegen bemerkenswert
häufig (aufgezählt bei Schulz 1953, 56, und Baumgärtel
1998, 129; hinzuzufügen wäre die verkleinerte Kopie
im Nachlass Johann Caspar Lavaters, Österreichische
Nationalbibliothek Wien, Sign. LAV IX/80/2004), vor
allem für die Schweizer Verehrer. 1794 kopierte es der
Stuttgarter Maler Christian Ferdinand Hartmann für
Johann Wilhelm Ludwig Gleims »Tempel der Freund-
schaft«, die bis heute bedeutendste Porträtgalerie deut-
scher Dichter und Denker der Aufklärung.
Füssli wurde nicht müde, das Porträt seinen Be-
suchern vorzuweisen und es über das Maronsche Bild-
Abb. 31.3 Radierung von Angelika Kauffmann, 1764, nis zu erheben (Eiselein 1825, CLIX). Auch anderwei-
21,1 × 15,9 cm. Berlin, Kupferstichkabinett. tig ist die Bemühung unverkennbar, das Werk Marons
zugunsten des Porträts der Kaufmann herabzusetzen,
seiner Porträts begleitete W. deren druckgraphische die nun als – auch hinsichtlich ihres Geschlechts – ex-
Reproduktion, von der er sich ungleich mehr Publizi- zeptionelle Künstlerin wahrgenommen wurde.
tät versprechen konnte und die zur Ausstattung seiner
Schriften beitragen sollte. Mehrfach berichtete er sei-
Das Kniestück Anton von Marons
nen Briefpartnern von den Kupferstichen, welche die
Künstlerin selbst nach ihrem Porträt geschaffen bezie- Über die Entstehung des bekanntesten und zugleich
hungsweise Reiffenstein sowie Christian von Mechel umstrittensten Porträts W.s von der Hand Anton von
begonnen hatten. Mechel bot W. seinen repräsentativ Marons (Abb. 31.4) sind wir vor allem durch die Briefe
in folio konzipierten Kupferstich als Frontispiz für W.s an den Besteller desselben, Heinrich Wilhelm
dessen Monumenti antichi inediti an, was dieser aller- Muzell-Stosch, bestens informiert. Erstmals kommt
dings ablehnte (Br. III, 212). Die Platte blieb ebenso der Archäologe am 15. August 1766 auf das offenbar
unvollendet wie Mechels Kupferstich nach dem Por- im vorhergehenden Brief Muzell-Stoschs gewünschte
trät von der Hand Marons, von dem er 1768 durch die Bildnis zu sprechen (Br. III, 197–198). Eine Woche
Vermittlung Reiffensteins eine Replik erhalten hatte. später berichtet er demselben Adressaten von Preis-
Von der Arbeit Reiffensteins erhoffte W. sich ein verhandlungen mit dem Maler und schlägt vor, den
Frontispiz für die Allegorie, an der er seinerzeit arbei- Ausschnitt nicht auf das für einen bürgerlichen Ge-
tete (Br. III, 49). Auch diese Platte scheint unvollendet lehrten übliche Brustbild zu beschränken (Br. III,
geblieben zu sein (Br. III, 441) – vielleicht, weil W. die 200). Wiederholt drückt W. seine Hoffnung aus, der
Radierung nicht goutierte (Br. III, 204). An der Radie- ausgewählte Maler werde ein Meisterwerk vollbrin-
rung der Kauffmann stellt der Gelehrte nicht aus- gen, so auch in der Ankündigung des Beginns der Ar-
drücklich ein Ungenügen fest, gibt aber eine Erklä- beit am Porträt im Brief vom 7. März 1767: »Morgen
rung für einen Mangel, nämlich die noch fehlende gedenke ich mein Bildniß für Sie anzufangen, und es
Routine in der Technik: »[...] die Mahlerinn ätzte da- wird auch, die Idee der Freundschaft bey Seite geset-
ßelbe selbst in Scheidewaßer; aber es ist einer der ers- zet, ein schönes Gemählde werden« (Br. III, 241). Be-
ten Versuche in dieser Art« (Br. III, 197–198). Tat- merkenswert, wie der Dargestellte sich selbst hier als
31 Die authentischen Porträts Winckelmanns 301

mete (Br. III, 509), zeigt den Gelehrten am Tisch, die


Rechte mit der Feder auf einem Manuskript, der linke
Arm über der Rückenlehne des Sessels hängend, die
Hand in einem Redegestus, das Gesicht fast en face,
den Blick dem Betrachter zugewandt. Es scheint weni-
ger die bestimmte Situation des Schreibens dargestellt,
sondern durch Feder und Manuskript das Schreiben,
durch den Kupferstich vor dem Gelehrten die Kunst-
rezeption und durch die Redegeste (vgl. Larsson 2012,
54–57) die Kunstvermittlung jeweils exemplarisch be-
zeichnet zu sein.
Der Archäologe ist gleichsam in ein Dreieck antiker
Bildwerke eingespannt: Vor ihm auf dem Manuskript
liegt ein Kupferstich des Antinoos-Reliefs der Samm-
lung Albani (in loco). Rechts hinter ihm ist im Profil
die Homer-Büste aus der Villa Albani (heute im Lou-
vre) zu sehen und auf der anderen Seite bildparallel die
Darstellung eines Hermes Psychopompos, die eine
Gemme in der Sammlung Stosch in eine große Relief-
platte übersetzt. Nach oben ist der Bildraum, ein klas-
sisches Würdemotiv des neuzeitlichen Porträts, von ei-
ner blauen Draperie geschlossen, die rechts über der
Schulter des Dargestellten den Blick auf das Meer frei-
gibt. Die Aufmerksamkeit des Betrachters ziehen der
Abb. 31.4 Kniestück von Anton von Maron, 1768, Öl/Lw., scharlachrote, mit üppigem Pelz gefütterte Hausman-
136 × 99 cm. Klassik Stiftung Weimar. tel sowie der ausladende orangefarbene Turban auf
sich, beide seideblitzend und mit reichem Faltenwurf.
Agens der Entstehung des Porträts ausgibt. Einen Mo- Die Kleidung des Gelehrten wird, gestützt auf Äu-
nat später kann W. von Fortschritten bei der Entste- ßerungen W.s zu seinen Bekleidungsgepflogenheiten
hung des Porträts, dessen Ähnlichkeit er rühmt (Br. (Br. I, 333), in der Literatur beinahe durchweg lebens-
III, 264), und von den Intentionen des Malers berich- weltlich gedeutet. Der Pelz auf dem Porträt war tat-
ten (Br. III, 245–246). Wie W.s Bemerkungen zeigen, sächlich W.s eigener (Br. III, 246). Gleichwohl ist der
war der Maler keinesfalls zum »ausführenden Instru- Hausrock zugleich eine Formel des Künstler- und Ge-
ment« degradiert (Betthausen 2002, 82), sondern ver- lehrtenporträts (Schmittmann 2013, 240), wie es sich
folgte künstlerische Intentionen und entwickelte mit seit der Renaissance als Typus geprägt hatte. Im Des-
dem Dargestellten zusammen das allegorische Pro- habillé, in Hausrock, Mütze anstatt der förmlichen Pe-
gramm. Ob die Absicht bestand, die Freundschaft mo- rücke und mit offenem Kragen, geht der Künstler oder
tivisch auszugestalten oder vor allem funktional, in Gelehrte seinem musisch-geistigen Schaffen nach; in
der Adressierung an den Freund Muzell-Stosch, wirk- dieser privaten Erscheinung zeigt er sich auch vertrau-
sam werden zu lassen, oder ob sie als Charakterzug im ten Besuchern. Im römischen Porträt des mittleren
Gesicht des Dargestellten zum Ausdruck kommen 18. Jh. treten allerdings vielfach auch Grand Touristen
sollte, geht aus W.s Formulierungen nicht eindeutig im Deshabillé auf und schmälern somit die Typik des
hervor. Auf erstere Deutung, die Absicht der motivi- Künstler- und Gelehrtenporträts.
schen Gestaltung, sowie außerdem auf den Stellen- Mehrfach ist der Turban als eine Form des Kopf-
wert der Freundschaft im Selbstverständnis W.s stützt tuchs, eines weiblichen Accessoires, missverstanden
Claudia Tutsch ihre Untersuchung (Tutsch 1995, pas- und als feminine Note, eine weibische Anmutung
sim), die ihre Aussagen allerdings nicht aus ihrem Un- oder gar als »Bekenntnis zu antiker ›Weichlichkeit‹«
tersuchungsgegenstand, dem Bildnis, ableitet, son- (Wangenheim 2005, 280) interpretiert worden. Häu-
dern aus W.s Gedankengebäude insgesamt. Marons fig, so mehrfach bei Mengs und Maron, treten jedoch
Porträt, dem schon Reiffenstein in einem Brief an Me- um die Mitte des 18. Jh. Gelehrte, und sicherlich nicht
chel eine konzise ikonographische Beschreibung wid- nur Homosexuelle, im Porträt mit Turban als einem
302 IV Rezeption

Äquivalent zu der Hausmütze auf, die wiederum ein entspricht Marons W.-Porträt nicht dem Charakter-
konstitutives Element des klassischen Gelehrtenpor- porträt der Aufklärung wie noch die Rötelstudie des
träts ist; kaum je erzielte dieser Kopfputz jedoch einen Kopfes mit ihrem eindringlichen Blick und der nuan-
derart bildbeherrschenden Effekt als Resonanzraum cierten Mimik und Physiognomie im Rijksprenten-
der Physiognomie. kabinett Amsterdam (Inv.-Nr. RP-T-1968–69)
Uneinigkeit herrschte stets über den Zeitpunkt der (Abb. 31.5). Vielmehr ist das Porträt als Programm-
Fertigstellung des Gemäldes und damit verbunden bild der Kunst- und Lebensauffassung des Dargestell-
über die Frage, ob der Hermes Psychopompos im Mit- ten zu verstehen. Überhaupt ist festzustellen, dass sich
telgrund eine Zutat des Malers als Anspielung auf den dieses Bildnis nicht an der progressiven Porträtkunst
gewaltsamen Tod oder aber Ausdruck der Todes- der Aufklärung orientiert. Das in Entstehung begriffe-
ahnungen W.s sei (letzteren Standpunkt vertreten bei- ne Werk könne »als ein schönes Portrait neben einem
spielsweise Thiersch 1918, 46; Schulz 1953, 12; Br. III, van Dyck und Rigaud stehen« versprach W. dem Auf-
509–510; Tutsch 1995, 19; Schmittmann 2013, 242– traggeber (Br. III, 245–246). Den Maßstab setzen
243; dagegen aber z. B. Roettgen 1972, 38; Kanz 1993, demnach der Altmeister van Dyck und der Haupt-
98). Noch Ende März 1768 wird, wie W. dem Besteller meister des absolutistischen Porträts Frankreichs,
Muzel-Stosch am 23. März schrieb, an dem Bild ge- Hyacinthe Rigaud. Tatsächlich ist in Marons Kunst
arbeitet (Br. III, 378); und noch Ende Januar 1769 war das Vorbild der genannten Meister wirksam. Beide
das offenbar vollendete und freilich zu dieser Zeit sind Muster malerischer Virtuosität; wobei die Bril-
auch bereits mindestens einmal replizierte Porträt lanz ihrer Widergabe von Samt, Seide und Pelz den
noch nicht ganz ausgetrocknet (Br. IV, 323–324). Die Dargestellten als Würde zukommt, dabei freilich aber
erhebliche Verzögerung der Fertigstellung verleiht der auch etwas großsprecherisch wirkt. Das Dekorum von
Auskunft Reiffensteins (Br. III, 509) Plausibilität, dass Marons Werk ist für ein Gelehrtenporträt der Aufklä-
es sich um eine allegorische Darstellung Marons auf rung gänzlich ungewöhnlich, stattdessen ist es der
den Tod W.s handele. Porträtauffassung des Barock verhaftet. Die moderne,
Die Aufklärung zeitigte die Konzeption des Por- eine natürliche Eleganz ins Bild setzende Porträtmale-
träts als Bildnis des Charakters, der in Gesicht und rei Englands und die jüngeren französischen Porträ-
Gestalt zu visualisierenden seelisch-geistigen Qualitä- tisten scheint W. nicht zu kennen. Batoni, dessen Por-
ten. Bei dem Gewicht des ikonographischen Apparats trät des englischen Aristokraten Edward Dering, later
6th Baronet, seinem eigenen Bildnis ganz frappierend
ähnelt (Schmittmann 2013, 243), ignoriert er in den
Äußerungen gegenüber dem Auftraggeber.
W. selbst wurde in den Briefen an den Auftraggeber
nicht müde, das Werk Marons in den höchsten Tönen
zu loben (Br. III, 257, 264, 313, 341, 375, 378), das
noch in der Zeit der Fertigstellung die Betrachter in
seinen Bann zog, wohl nicht nur mit der Wiedergabe
des Kopfes, sondern vor allem auch mit der überaus
anspruchsvollen Ausstattung der Porträtfigur und der
effektvollen Malerei (Br. III, 341).
Neben der primären Ausführung für Muzel-Stosch
(signiert und 1768 datiert, Schmittmann 2013, 236–
246, Nr. 62, von Erbprinz Carl Friedrich von Sachsen-
Weimar erworben und 1805 der herzoglichen Biblio-
thek Weimar geschenkt, heute Stiftung Weimarer
Klassik) entstand eine Replik für den Fürsten Franz
von Anhalt-Dessau (Kulturstiftung DessauWörlitz,
signiert und 1768 datiert, Schmittmann 2013, 247–
248, Nr. 64), dessen Cicerone di Roma W. war, dessen
Freund er geworden war und dessen eigenes Porträt
Abb. 31.5 Porträtstudie von Anton von Maron, 1767, Rötel, Maron kurz vor jenem des Archäologen gemalt hatte.
18,2 × 15,9 cm. Rijksprentenkabinet Amsterdam. Sehr wahrscheinlich hatte W. selbst den Auftrag zu der
31 Die authentischen Porträts Winckelmanns 303

Replik vermittelt (eine Zahlung des Fürsten an Maron das mit dem Kontrast des scharlachroten Mantels und
ist belegt durch eine Quittung in den Papieren, die des orangefarbenen Turbans ausgesprochen gewagte
sich bei W.s Ermordung in dessen Gepäck befand, sie- Kolorit (Uhde-Bernays 1913, 57; Schulz 1953, 14;
he Mordakte Winckelmann 1965, 150). Darüber hi- Roettgen 1972, 40).
naus sind an eigenhändigen Wiederholungen ledig-
lich zwei Ausschnittsrepliken nachzuweisen. Die eine
Das Brustbild von Anton Raphael Mengs
davon tauchte 1971 in Basler Privatbesitz auf und
stammt sehr wahrscheinlich aus dem Besitz von Me- Das Brustbild W.s von Anton Raphael Mengs
chels (Flitner 1971, passim; nicht bei Schmittmann (Abb. 31.6) mutet in seinem bescheidenen Dekorum
2013), die andere wurde 1970 vom Düsseldorfer Goe- wie auch in dem asketischen Ausdruck des Kopfes bei-
the-Museum erworben und gilt als die dem Kniestück nahe als Gegenentwurf zu dem Werk seines Schwa-
vorausgehende Porträtstudie (Schmittmann 2013, gers und einstigen Schülers Maron an. In der Perfekti-
248, Nr. 65). on der Malerei, insbesondere in der Stofflichkeit von
Kopien des späten 18. und des frühen 19. Jh. von Kleidung und Buch, in der Veristik des Gesichts sowie
fremder Hand in der Größe des Originals befinden in der Virtuosität der Wiedergabe der Hand in ihrer
sich im Herzog Anton Ulrich-Museum (wohl 1779 für komplizierten Anatomie erweist sich Mengs als Ma-
Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig- rons Meister. Die enorme physisch-psychische Prä-
Wolfenbüttel entstanden; Schmittmann 2013, 254, senz, die Mengs Arbeiten ansonsten in besonderer
WK1) und im Frankfurter Goethe-Museum (noch Weise auszeichnet, lässt sein Porträt W.s allerdings
von Schmittmann 2013, 246, Nr. 63 als eigenhändige vermissen.
Replik eingeschätzt, aber eindeutig schwächer in der Das Bildnis tauchte 1794 durch einen Stich von
Malerei, vgl. Maisak/Kölsch 2011, 172–174). Die ver- Jacques Louis Copia nach einer Zeichnung von Bona-
jüngte Kopie von der Hand Wilhelm Tischbeins im ventura Salesa als Frontispiz für die von H. Hansen be-
Landesmuseum Oldenburg (Schmittmann 2013, 254, sorgte französische Ausgabe der Geschichte der Kunst
WK2) gibt die Reliefplatte im linken Hintergrund we- (1794) gleichsam aus dem Nichts auf. Durch weitere
sentlich deutlicher wieder als selbst die eigenhändigen
Versionen Marons, auf denen heute lediglich noch die
Reliefdarstellung zu erkennen ist. Eine Teilkopie von
Wilhelm Ternite gelangte 2005 in den Kunsthandel.
Noch mehr als an der Zahl der Repliken und Ko-
pien lässt sich die Wertschätzung des Maronschen
Porträts an dessen druckgraphischen Reproduktionen
ablesen. Es fand nicht allein in kleinformatigen Sti-
chen innerhalb von Werkausgaben, Monographien
oder Zeitschriften Verbreitung, sondern auch in
selbstständig erschienenen Blättern stattlicheren For-
mats (siehe Schulz 1953, 26–28, 61–62). Seit dem frü-
heren 19. Jh. hatte indes, eingeleitet von dem von Jo-
hann Heinrich Füssli verfassten Eintrag W.s im All-
gemeinen Künstlerlexikon, der Beifall für Marons
Werk einer kritischen Bewertung zu weichen begon-
nen: »Drey Jahre nach dem meinigen gemalt, stellt es
einen – zwanzig Jahre jüngern Mann dar; und solche
Mütze eines Wascherweibs dürfte der Maler schwer-
lich auf W. ehrwürdiger Scheitel getroffen haben«
(Füssli 1806–1821, 6101). Der Tadel des angeblich fe-
mininen Eindrucks der Kopfbedeckung wurde von da
an häufig wiederholt (an Drastik kaum zu überbieten:
Hemsen 1854, 394). Eine entschieden negative Bewer-
tung erfuhr neben der Äußerlichkeit der großen Ges- Abb. 31.6 Porträt von Anton Raphael Mengs, wohl 1778,
te, der Opulenz der Ausstattung und der Technik auch 63 × 49 cm, Öl/Lw. Metropolitan Museum of Art New York.
304 IV Rezeption

Reproduktionsstiche von Karl August Senff aus dem Das Buch, das in der zweiten Hälfte des 18. Jh. nicht
Jahr 1805 sowie von Maurice Blôt aus dem Jahr 1815 mehr nur den Gelehrten kennzeichnet, sondern Attri-
erlangte es eine ähnliche Verbreitung wie die Bildnisse but der musisch-geistigen Interessen der Porträtfigur
Casanovas und der Kauffmann. Wie die Adresse des ist, wurde nur selten kompositionell derart vorder-
ältesten Stichs besagt, befand sich das Gemälde da- gründig und niemals mit solcher Signifikanz insze-
mals im Besitz des spanischen Gesandten in Rom und niert wie im Falle von Mengs’ W.-Porträt, wo es per
Freundes Mengs’ José Nicolás de Azara. Nach dessen Rückenbeschriftung in griechischen Majuskeln als
Tod gelangte es 1806/07 an den Pariser Kunsthändler Ilias-Ausgabe bestimmt ist. Homer wird damit wie be-
J. B. P. Lebrun. 1810 ging es in die Sammlung der Fürs- reits bei Maron als Wahrzeichen für die Geisteshal-
tin Isabella Lubomirska, Wien, über, von deren Fami- tung des Archäologen ins Bild gesetzt.
lie es 1958 in das Metropolitan Museum, New York, Auch in der Bewertung des Porträts von Mengs wa-
gelangte. ren sich die Ikonographien W.s uneins: Während etwa
Das Gemälde befand sich nicht im Nachlass Mengs’ Domenico Rossetti und Fernow 1808 einen Mangel an
und wird von W., soweit ersichtlich, nicht erwähnt, Ähnlichkeit rügten (Rossetti 1823, 22, 180; Fernow
wofür immer wieder nach Erklärungen gesucht wur- 1808, zit. bei Uhde-Bernays 1913, 56), nennt es Julius
de. Über das Porträt von Maron schrieb W. an Muzell- Brann, der es 1905 in der Sammlung Lubomirski in
Stosch: »[...] Kunstverständige sagen, daß Mengs Krakau aufgefunden hatte, »unter den Bildnissen
selbst, zum Probestück nichts Schöneres machen Winckelmanns an erster Stelle« (Brann 1905, 175).
könnte« (Brief an Muzell-Stosch, 27.5.1767, Br. III, Erneut bildet die Freundschaftspraktik W.s den Hin-
264). Aus dieser Formulierung ist zu schließen, dass tergrund. Der Maler gewann den von ihm wiedergege-
das Porträt Mengs’ zu dieser Zeit noch nicht existiert benen Eindruck des Dargestellten im freundschaftli-
haben kann (Roettgen 1999, 306, Nr. 237). Wiederholt chen Verkehr. Den eigentlichen Anlass jedoch gab die
wurde gemutmaßt, es könne sich um ein postumes Erinnerungskultur – die Arbeit an der Büste, die Doell
Porträt handeln, was in der Porträtkultur allerdings schaffen sollte. W. genießt mit dieser Büste, die aller-
stets einen Sonderfall darstellt. Roettgen bietet für das dings außerhalb der Reihe der authentischen Porträts
Vorliegen eines solchen Sonderfalles die sehr plausible steht, denkmalhafte Verehrung als Geistesheld.
Erklärung, dass Mengs mit dem Auftrag des Herzogs
Ernst von Sachsen-Gotha an Eugen Doell zu einer
Eine Wachsbossierung von Reiffenstein
Marmorbüste W.s Anlass hatte, sich mit der Physio-
gnomie des neun Jahre zuvor verstorbenen Freundes Johann Friedrich Reiffenstein machte sich vor allem
zu befassen (ebd.). Der Maler veranlasste den Bild- als Antiquar, Diplomat und Kunstagent einen Namen.
hauer, einen ersten Entwurf, der eine Porträtstudie Er selbst betätigte sich dilettantisch in verschiedenen
Marons (möglicherweise jene im Rijksprentenkabi- Kunstgattungen, so in der Malerei, der Radierung
nett Amsterdam) zur Grundlage gehabt hatte, zu ver- und der Wachsbossierung. Seine Radierung des W.-
werfen und sich stattdessen an einem Entwurf von Porträts der Angelika Kauffmann hat er nicht voll-
ihm, Mengs, auszurichten. Dabei sollte eine Büste Ci- endet, den Archäologen jedoch in einer damals recht
ceros, die seinem Dafürhalten eine frappierende phy- beliebten Porträtform festgehalten: »Ich habe unsern
siognomische Ähnlichkeit mit W. hatte, den Aus- seel. Freund nie gemahlt, aber sein Profil in Wachs
gangspunkt bilden. Der Vorschlag erklärt auch die modelliret, so mir aber durch einen Wiener Künstler,
Idealisierung, die das Bildnis aufweist und die bereits der es besser als ich wissen wollte, so verdorben, daß
früheren Autoren aufgefallen ist (z. B. Thiersch 1918, es so gut als gar nicht ähnlich ist« (Br. IV, 314). Diese
27), und die damit einhergehende alterslose Erschei- Auskunft ist alles, was über dieses Werk bekannt ge-
nung des Dargestellten. worden ist.
Wie die übrigen Porträtgemälde zeigt Mengs den Die angemessene Wertschätzung blieb der Porträt-
Gelehrten im Deshabillé – barhäuptig im Hemd mit form der Wachsbossierung vorenthalten. Ganz all-
offenem Kragen und mit einem über die linke Schulter gemein galt in der Kunst des 18. und 19. Jh. der Veris-
und den rechten Unterarm getragenen Umhang. Wie mus, wie ihn Wachsmodelle gestatteten, weniger als
der Shawl auf dem Porträt der Angelika Kauffmann ist die Idealisierung. Als Kleinkunst deklassiert, erfuhren
dieser als Reminiszenz an das Kostüm der griechi- diese Objekte nicht die Sorgfalt, derer sie bei ihrer Fra-
schen Antike zu verstehen. Zugleich wirkt die Drape- gilität umso dringender bedurft hätten. Die gesamte
rie kompositorisch als bedeutungssteigernder Sockel. Porträtform aus dem an sich nicht dauerhaften Mate-
31 Die authentischen Porträts Winckelmanns 305

rial Wachs ist weitgehend dem Untergang anheimge- oder Wer sein Glück erkennt und nutzt, der ist es wert!
fallen, und so auch die Wachsbossierung W.s von Reif- O. O. 2012.
fenstein. Hemsen, Wilhelm: Über Winckelmanns Bildnisse. In: Deut-
sches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffent-
Sämtliche bekannt gewordenen W.-Porträts ver- liches Leben 11 (1854), 394–396.
danken sich dem Freundschaftkult der Aufklärung. Honisch, Dieter: Anton Raphael Mengs und die Bildform
Formal sind sie jedoch nicht als Freundesporträts an- des Frühklassizismus. Recklinghausen 1965.
zusprechen. Während man dem empfindsam-freund- Jahn, Otto: Die Bildnisse Winckelmanns. In: Allgemeine
schaftlichen Porträtgebrauch typischerweise mit dem Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur 4 (1854).
Wiederabgedruckt in: Ders.: Biographische Aufsätze.
auf die geistig-seelische Ausstrahlung verknappten
Leipzig 1866, 70–88.
Brustbild entsprach, nahmen W.s Porträtisten reprä- Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. 3 Bde.
sentative Porträtformeln in Anspruch und schufen Köln 51956.
Zelebritätenbildnisse. Kanz, Roland: Dichter und Denker im Porträt. Spurengänge
zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts. Mün-
Quellen chen 1993.
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306 IV Rezeption

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manns. Berlin 1953. Ein Impulsgeber der Künste?
Thiersch, Hermann: Winckelmann und seine Bildnisse. Vor-
trag gehalten für die Freiburger Wissenschaftliche Gesell- Angesichts der Schlüsselstellung, die W. in der Theo-
schaft am 8. Dezember 1917 zur Vorfeier von Winckel- riegeschichte des europäischen Neo-Klassizismus ein-
manns 200. Geburtstag. München 1918.
nimmt, stellt sich die Frage nach seinem Einfluss auf
Tutsch, Claudia: »Man muss mit ihnen, wie mit seinem
Freund, bekannt geworden seyn ...«. Zum Bildnis Johann die Bildende Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts. Das
Joachim Winckelmanns von Anton von Maron. Diss. gilt gleichermaßen mit Blick auf globale Stiltendenzen
Köln 1990, Mainz 1995 (Schriften der Winckelmann-Ge- wie auf individuelle Künstlerpersönlichkeiten und de-
sellschaft 13). ren Werk. Die Brücke von der Geschichte der antiken
Tutsch, Claudia: Das Bildnis Johann Joachim Winckel- Kunst zu den Künsten der Gegenwart legt W. in sei-
manns von Anton Raphael Mengs. Ikonographische An-
merkungen. In: Mitteilungen der Winckelmann-Gesell-
nem Werk selbst an.
schaft 60/61 (1997/1998), Beilage 1–4. Schon in seinen Dresdner Schriften erwähnt W. ne-
Uhde-Bernays, Hermann: Zu den Bildnissen Winckel- ben antiken Meisterwerken solche der Neuzeit wie
manns. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft 6 (1913), z. B. Raffaels Sixtinische Madonna, die August III.
55–61. 1753 erworben hatte. In seinem Erstlingswerk, den
Vogel, Julius: Zu den Bildnissen Winckelmann’s. In: Zeit-
Gedancken über die Nachahmung, formuliert er das
schrift für bildende Kunst, N. F. 10 (1898/1899), 154–156.
Vogel, Julius: Nochmals die Bildnisse Winckelmann’s. In: Programm einer Erneuerung der zeitgenössischen
Ebd., N. F. 11 (1900), 92–93. Kunst durch das Studium der Alten, namentlich der
Walch, Peter: An Early Neo-Classical Sketchbook by Angeli- Griechen. Der von Raffael und Michelangelo verkör-
ca Kauffmann. In: The Burlington Magazine 119 (1977), perten italienischen Renaissance kommt dabei Vor-
98–111. bildcharakter zu (Schmälzle 2011).
Wangenheim, Wolfgang von: Der verworfene Stein. Win-
Die Nähe zu theoretisch informierten Praktikern
ckelmanns Leben. Berlin 2005.
Wehrli, R.: Zürich und das Winckelmann-Bildnis von A. scheint W. regelrecht gesucht zu haben. Den Buch-
Kauffmann. In: Neue Züricher Zeitung Nr. 440, 14.3.1946. schmuck zu den Gedancken über die Nachahmung
steuert Adam Friedrich Oeser bei, der spätere Zei-
Reimar F. Lacher chenlehrer Goethes (John 2001; Hecht 2017). In Rom
tauscht sich W. intensiv mit Anton Raphael Mengs
aus. Die Geschichte der Kunst des Alterthums enthält
nicht nur eine Widmung an Mengs, sondern preist ihn
auch als den »deutschen Raphael«, der phönixgleich
»der Asche des ersten« entstiegen sei (GK1, 184; vgl.
Roettgen 1986).
Der auf die Praxis der Künste gerichtete Impuls, der
von W.s Werk ausgeht, ist von anderen kulturellen
Einflussgrößen schwer abzugrenzen. Bereits Carl
Friedrich von Rumohr relativiert in Raczynskis Ge-
schichte der neueren deutschen Kunst die der Kunstlite-
ratur vielfach zugeschriebene Bedeutung als Motor
der Kunstentwicklung (Rumohr 1841, 372). Die ge-
genwärtige Forschung greift den methodischen Vor-
behalt auf: Eine wirkliche Auseinandersetzung der
Künstler mit W.s Schriften ist oftmals kaum nach-
zuweisen (Maaz 2017).
Keineswegs jeder normative Antikenbezug in der
Kunst des 18. und 19. Jh. lässt sich direkt auf W. als
Galionsfigur des Neo-Klassizismus zurückzuführen.
Die Tradition der europäischen »Renaissancen« (Pa-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_32, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
32 Winckelmann als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts 307

nofsky 1979) reicht bis ins Augusteische Zeitalter. mentale Kunstgeschichtsbilder und Denkmale im öf-
Schon die barocken Akademien legen Gipsabguss- fentlichen Raum (Reichardt 2009). Dabei wird W. im
Sammlungen an und pflegen das Antikenstudium als Bild häufig mit Personen konfrontiert, die er zu Leb-
Grundlage der Künstlerausbildung. Bewegungen wie zeiten nie getroffen hat bzw. nie hätte treffen können,
das Greek Revival in England entwickeln sich parallel ganz ähnlich zur frühneuzeitlichen Bildform der sacra
und zum großen Teil unabhängig von W. conversazione, die hier ebenso Pate gestanden hat wie
Schon früh zeigen sich innerhalb des Neo-Klassi- Raffaels Schule von Athen.
zismus Abgrenzungsbewegungen, die sich gegen den
mit W. assoziierten Topos einer affektarmen, am Ideal
Die Genese der Disziplin
der »edlen Einfalt« und »stillen Größe« orientierten
Kunst richten (Gedancken1, 19). Neben theoretischen Während W. in älteren Darstellungen meist als Grün-
Ansätzen, die anstelle des Schönen für das »Charakte- dervater der Kunstgeschichte firmiert, erscheint er ab
ristische« votieren (Dönike 2005), sind es insbesonde- Mitte des 19. Jh. zugleich als Freund und Lehrmeister
re die Künstler um Johann Heinrich Füssli und Johan der Künstler. Die zu Lebzeiten vollendeten Porträts
Tobias Sergel, die eine betont pathetische, gleichwohl von Angelika Kauffmann und Anton von Maron zei-
aber am Leitbild der Antike geschulte Kunst praktizie- gen W. als gelehrten Autor (Werche 2017). Aber erst
ren (Busch 2005; Busch 2013). die vielfigurigen Kompositionen der sogenannten
Statt W.s Wirkung auf die Kunst des 19. Jh. ins- ›Kunsthistorienmalerei‹ (Plagemann 1967) entfalten
gesamt zu untersuchen, soll das Augenmerk im Fol- seine fachgeschichtliche Leistung in Form einer vi-
genden auf seine Funktion als Symbolfigur der Kunst- suellen Argumentation, sei es nach dem Modell
geschichte gerichtet werden – und damit auf ein klar Gelehrtenversammlung (Kuhlmann-Hodick 1993, I,
umrissenes Corpus an Bildern und Skulpturen, die 462 f.), die im Wesentlichen den Kanon reproduziert,
ihn selbst zeigen. sei es in Gestalt einer zur Allegorie verdichteten his-
torischen These. Ab der zweiten Jahrhunderthälfte
zeigt sich ein Zug ins Biographisch-Anekdotische,
Der Gründervater im Bild
analog zu den W.-Romanen dieser Zeit (vgl. Abb. 32.4;
In der Ikonographie der Kunstgeschichte nimmt W. Sternberg 1861; Bölte 1862).
eine Doppelrolle ein. Einerseits wird er als Gründer-
vater der Archäologie und Kunstgeschichte inszeniert, Antonio Bosa
andererseits erscheint er auf prominenten ›Kunst- Ein herausragendes Beispiel für die bildhafte Würdi-
geschichtsbildern‹ (Kuhlmann-Hodick 1993) als Im- gung von W.s Lebenswerk ist das Relief, das der Cano-
pulsgeber einer durch das Studium der Antike wieder- va-Schüler Antonio Bosa für das 1833 fertiggestellte
belebten, meist deutschen Kunst (Schmälzle 2017). W.-Grabmal in Triest geschaffen hat. Das in der Stadt
Das dieser Ikonographie zugrundeliegende Narra- seines gewaltsamen Todes errichtete Monument ist
tiv mag aus der Sicht der modernen Forschung kritik- zugleich das erste zu seinen Ehren errichtete Denkmal
würdig sein, entfaltet im Lauf des 19. Jh. aber erstaun- überhaupt (Schulz 1953, 39 f.; Gröschel 1994, 16 f.). Es
liche, bis heute subkutan nachwirkende Evidenz. Die geht zurück auf die Initiative des kulturell vielfältig
vielen Text- und Bildquellen, die W. als vitalen Faktor engagierten Juristen Domenico Rossetti (Bonifacio
der Kunstentwicklung zeigen, folgen weitgehend dem- 1988–1994). Dieser begann schon 1808 mit Nachfor-
selben argumentativen Grundmuster, das auf die kul- schungen über den historischen Mordfall und rief
turgeschichtliche Produktivität seines wissenschaftli- mehrfach zu Geldspenden für ein W.-Denkmal auf.
chen Werks abhebt. Im Jahr 1818 publizierte er eine Rekonstruktion von
Demnach tragen W.s Studien zur antiken Kunst W.s letzten Lebenstagen (Rossetti 1818; vgl. Pagnini
nicht nur zu deren Verständnis bei, sondern entfachen 1965), 1823 eine Monographie über das geplante
eine der italienischen Renaissance analoge Befreiung Denkmal, die nicht zuletzt zu dessen Finanzierung
der Kunst des 18. und 19. Jh. von überkommenen Fes- beitragen sollte (Rossetti 1823).
seln. Stilpolitisch richtet sich diese Erneuerung v. a. Rossetti verfolgte mit seinem Grabmalsprojekt ein
gegen das französisch dominierte Rokoko, aber auch an W.s Gedankenwelt orientiertes kulturpolitisches
gegen den als zu »weich« verstandenen Neo-Klassizis- Ziel: Er wollte das Interesse für die römischen Wur-
mus der Canova-Schule (Justi 1872, 255). zeln der Stadt wecken und auf diese Weise zur kul-
So ergibt sich ein reiches Themenfeld für monu- turellen Erneuerung der Handelsmetropole beitragen.
308 IV Rezeption

Abb. 32.1 Francesco Bosa/Adolf Kunike nach Antonio Bosa: Sockelrelief von Winckelmanns Grabmonument in Triest.
In: Domenico Rossetti: Il sepolcro di Winckelmann in Trieste. Venedig 1823, Tafel 3 (KSW).

Aus diesem Grund sollte die Memorialstätte zugleich sein Relief programmatisch Kontur. Thema ist die von
als Museum für die Relikte des antiken Tergeste fun- W.s Zugriff auf die Antike ausgehende kulturelle Dy-
gieren. Doch statt des von Francesco Bruyn entworfe- namik, auf die auch Goethe in seiner Würdigung ab-
nen Tempietto, der Grabmal und Museum in einem hebt (Goethe 1805, 440).
Gebäude vereint hätte, wurde zunächst nur eine kleine Auf dem Kenotaph ruht – zeittypisch – ein geflügel-
Aedikula für das Denkmal auf dem Kirchhof von San ter Genius, die erloschene Fackel neben sich, den Arm
Giusto errichtet. Das zugehörige Lapidarium, die auf ein von der Ouroboros-Schlange gerahmtes Bild-
Keimzelle der Triester Antikensammlung, eröffnete nismedaillon gestützt. Der leere Sarg wird von einem
erst 1843, ein Jahr nach Rossettis Tod. mehrfach gestuften Sockel getragen, an dem das in-
Die Verbindung von (Künstler-)Grab und Museum haltlich zentrale Relief gut sichtbar angebracht ist: W.
ist kein Kuriosum, sondern ein innovatives, im 19. Jh. erscheint in antiker Gewandung am rechten Rand des
mehrfach belegtes Konzept, das am überzeugendsten Bildfelds vor einer im Flachrelief angedeuteten Pyra-
im Rahmen des 1848 fertiggestellten Thorvaldsen- mide. Die erhobene Fackel in der Linken, weist er auf
Museums in Kopenhagen verwirklicht wurde eine Homerbüste, eine Sphinx und einige antike Mün-
(Kahsnitz 1977, 159–161). zen, die vor ihm am Boden liegen, und blickt sich nach
Antonio Bosas Grabplastiken konnte Rossetti seinem Gefolge aus sieben weiblichen Gewandfiguren
schon zehn Jahre vor der Einweihung des Triester um, allesamt Allegorien der Künste und akademi-
Denkmals in seiner Monographie veröffentlichen schen Disziplinen.
(Rossetti 1823). Das Bildprogramm weicht deutlich Formal mag die Pyramide an die Cestius-Pyramide
von den Pietro Nobile zugeschriebenen Entwürfen oder an Canovas Grabmal in der Frari-Kirche in Ve-
aus dem Jahr 1810 ab (Gröschel 1994, 15 f.; Bonifacio nedig erinnern, meint aber etwas vollkommen ande-
1988–1994, 127–136), die W.s Tod und Verklärung so- res: W. steht nicht am Tor zur Unterwelt. Vielmehr
wie die Hinrichtung seines Mörders zeigen. Indem bringt er mit seinem Wissen Licht in eine ansonsten
Bosa von solch sentimentalen Sujets Abstand nimmt unzugängliche Vergangenheit.
und statt des blutigen Geschehens die historische Der Aufklärungsgestus richtet sich zwar prinzipiell
Leistung des Toten in den Mittelpunkt rückt, gewinnt an die Nachwelt, meint aber zunächst die Allegorien in
32 Winckelmann als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts 309

W.s Gefolge, insbesondere die zentrale Dreiergruppe, Philosophie, dessen verdunkeltes Verständnis W. auf-
die sich durch winzig kleine Attribute als Verkörpe- schließt durch Hindeutung auf die entlegene Kunst
rung der drei Künste zu erkennen gibt. Von rechts des Altertums.« (Schrörs 1906, 106 f.; vgl. ebd., 104;
nach links folgen W. Malerei, Skulptur und Archi- Raczynski 1836, 312, 315).
tektur. Diese profitieren unmittelbar von dem durch W.s Fingerzeig ist ein präzise gefasstes visuelles Ar-
ihn erschlossenen Wissen. Die Viergruppe am linken gument: Gemeint sind die beiden antiken Künstler am
Rand erschließt sich nur über Rossettis Beschreibung: rechten Bildrand, Phidias, der an der Büste des olympi-
Im Hintergrund stehen Geschichte, Kritik und Phi- schen Zeus arbeitet, und Polygnot, der den Säulengang
losophie, im Vordergrund sitzt schreibend die Ar- ausmalt, analog zur berühmten Lesche der Knidier in
chäologie als eine Art Königsdiszipin, in deren Buch Delphi. Schon in den Gedancken legt W. nahe, Raffael
die Gehalte aller anderen Fächer eingehen (Rossetti habe seine vorbildliche Größe nur durch das systema-
1823, 39 f.). tische Studium der Griechen erlangt (Schmälzle 2011,
W. erweist sich somit als maßgeblicher Förderer 102 f.). Derselbe Gedanke findet sich 1808 auf einer Vi-
der Künste und als Begründer einer akademischen gnette des Musée français, die Phidias’ Zeus, aber auch
Disziplin, die durch ihren privilegierten Zugang zur den Apollo vom Belvedere als Studienobjekte in Raf-
antiken Kunst den Schlüssel für eine Fülle verwandter faels Werkstatt zeigt (ebd., 105–107).
Fächer in der Hand hält. Die herausgehobene Stellung, die Götzenbergers
Fresko der Kunst und der Kunstgeschichte zuweist, re-
Jakob Götzenberger flektiert den generellen Statusgewinn kunstbezogenen
Eine ähnliche, auf die akademische Bedeutung kunst- Wissens innerhalb der philosophischen Fakultät zu
historischen Wissens gerichete Rolle nimmt W. auf Ja- Beginn des 19. Jh. Ausdruck dieser nicht zuletzt von W.
kob Götzenbergers Bonner Fresko der Philosophie von initiierten Dynamik sind die Bonner Vorlesungen Au-
1833 ein (Hinz 1978; Wagner 1989, 53–62; Miko- gust Wilhelm Schlegels und der kunsthistorische Lehr-
lajczak 2015, 67–73, 182–184). Das Bild ist Teil eines stuhl, der 1827 für Eduard d’Alton eingerichtet wurde
aufsehenerregenden Projekts: 1822 erhielt Peter Cor- (Schröter 1990, 386 f.; vgl. Füssli 1843, 300). Die Kunst-
nelius den Auftrag, die Aula der 1818 gegründeten religion des 19. Jh. und die akademische Etablierung
Bonner Universität mit monumentalen Fresken der der Kunstgeschichte und Archäologie sind dabei zwei
Vier Fakultäten auszumalen, gab die Ausführung aber Seiten derselben Medaille. Ein philosophisch aufgela-
bald an seine Schüler weiter (Schrörs 1906; Knopp dener Begriff der Kunst bleibt leer ohne die Erträge der
1989, 239–242). historisch-hermeneutischen Disziplinen.
Götzenberger, der während der Arbeit am Karton
längere Zeit zu Studienzwecken in Rom war und dort Ludwig Wichmann
im Haus Thorvaldsens logierte, orientiert sich locker Diese Entwicklung schlägt sich mit gewissen Ein-
an Raffaels Schule von Athen, indem er einen über- schränkungen auch im Bereich vollplastischer Denk-
zeitlichen Kanon von ›Kulturheroen‹ in einer fiktiven male wieder, insbesondere im Umfeld der Museums-
Architektur anordnet. Im Zentrum der Komposition bauten des 19. Jh. In einer Fassadennische der von Leo
befindet sich eine paradigmatische Dreiergruppe: von Klenze errichteten Neuen Eremitage in St. Peters-
Dürer, Raffael und W. Die Freundschaft der beiden burg erscheint W. als Exeget der antiken Kunst. Der
Maler ist ein Topos der Zeit (Reichardt 2016; Thi- leicht unterlebensgroße Torso eines Jünglings beglei-
mann/Hübner 2015). Erklärungsbedürftig ist indes tet ihn quasi als Attribut.
die Anwesenheit W.s, der sich gebückt von hinten nä- Eine Schlüsselstellung nahm W. im Statuenpro-
hert, mit einer Hand nach Raffaels Freskokarton gramm für die Vorhalle des Berliner Alten Museums
greift und mit der anderen in Richtung des Säulen- ein (Maaz/Trempler 2002/2003, 232–240; Reichardt
gangs am rechten Bildrand weist. 2009, 17 f., 37 f.), das nach dem erklärten Willen des
Eine von der Universität Bonn zusammen mit ei- Königs den »um die Wiederbelebung der Kunst« in
nem Nachstich publizierte zeitgenössische Beschrei- Preußen verdienten Männern gewidmet sein sollte.
bung erläutert den Zeigegestus: »Die Mitte des Bildes Das nach der Reichsgründung deutlich erweiterte
[...] nehmen die Meister der Malerkunst, welche die Programm bestand zur Zeit Friedrich Wilhelms IV.
ganze Welt der Wissenschaft zu dieser Darstellung zunächst nur aus vier exemplarischen ›Kulturheroen‹,
vereinigt, ein, Albrecht Dürer und Rafael, jener mit deren Standbilder mit den in der Museums-Rotunde
dem Gemälde des Nachsinnens, dieser mit dem der gezeigten Antiken konkurrierten. Dabei sind W. und
310 IV Rezeption

und in die Betrachung eines kleinplastischen Torsos


vertieft. Damit rückt der Schriftsteller gegenüber dem
Exegeten in den Hintergrund, der mit den antiken
Fragmenten intime Zwiesprache hält.

Léon François Comerre


Der von Wichmann inszenierte Dialog des Gelehrten
mit einem kleinplastischen Fragment prägt die Iko-
nographie der akademischen Archäologie nachhal-
tig. Aus diesem Motiv entwickelt Léon François Co-
merre sein Gemälde La Grèce antique se dévoile à l’ ar-
chéologie, das 1898 im neuen Gebäude der Pariser
Sorbonne im Amphithéâtre Guizot angebracht wur-
de (Bresc-Bautier 2007, 206 f.): Dem in die Betrach-
tung einer Statuette vertieften Archäologen enthüllt
sich während einer Grabung das Wesen der griechi-
schen Antike – und zwar als Vision einer sich ent-
schleiernden Frau, die über dem von Fragmenten
übersäten Schauplatz schwebt. Ihr Blick richtet sich
dabei nicht auf den Ausgräber als letztlich namenlo-
sen Fachvertreter, sondern auf die Disziplin ins-
gesamt, die sich in Gestalt einer zweiten weiblichen
Gewandfigur am rechten Bildrand mit ihren Büchern
niedergelassen hat. Die Szene erinnert an den viel zi-
tierten letzten Absatz der Geschichte der Kunst, in
dem W. ein platonisches Argument ausführt. Unsere
Kenntnis der Antike ist bruchstückhaft, doch setzt
der Mangel auch erstaunliche Triebkräfte frei, die der
Rekonstruktion des Verlorenen zugutekommen:
»Wir haben [...] gleichsam nur einen Schattenriß von
Abb. 32.2 Ludwig Wichmann: Winckelmann-Statue für die dem Vorwurfe unsrer Wünsche übrig; aber desto
Vorhalle des Alten Museums in Berlin, 1844–48. Staatliche größere Sehnsucht nach dem Verlohrnen erwecket
Museen zu Berlin. derselbe, und wir betrachten die Copien der Urbilder
mit größerer Aufmerksamkeit, als wie wir in dem
der Architekt Karl Friedrich Schinkel unmittelbar auf völligen Besitze von diesen nicht würden gethan ha-
den Bau und dessen kunsthistorische Zwecksetzung ben« (GK1, 430).
bezogen, während die postulierte Kunstblüte – man-
gels eines geeigneten Malers – von den beiden Bild-
Die deutsche Kunst
hauern Christian Daniel Rauch und Gottfried Johann
Schadow verkörpert wurde. Die W.-Ikonographie gewinnt in dem Moment an Dy-
Ludwig Wichmanns marmorne W.-Statue für das namik, als der Gründervater der Archäologie Teil der
Alte Museum unterscheidet sich deutlich von seinen Kunst- und Künstlergeschichte des 19. Jh. wird – und
parallel entstandenen Entwürfen für das Stendaler zwar nicht nur im Sinne textgebundener Genealogien,
Bronzedenkmal, das 1859 feierlich eingeweiht wurde sondern auch als Protagonist maßgeblicher Bilder-
(Bruer 1994). Dieses zeigt den berühmten Sohn der zyklen. Während Winckelmann sich auf Bosas Grab-
Stadt als antik gewandeten Autor, der – ein ionisches relief (vgl. Abb. 32.1) primär an Allegorien der Künste
Kapitell und eine Hermenbüste im Rücken – an einem wendet, zeigen ihn spätere Kunstgeschichtsbilder als
Text arbeitet: In der Linken hält er ein Buch, die Rech- Freund und Anreger der Künstler, bisweilen aber auch
te mit dem Stift ist nachdenklich zum Kinn geführt. In der Mäzene. Die dabei auftretenden Anachronismen
der Berliner Marmorfassung erscheint W. im moder- treten gegenüber der ›Wahrheit‹ der jeweils illustrier-
nen Kostüm, den Arm auf eine Doppelherme gestützt ten These in den Hintergrund (vgl. Abb. 32.5).
32 Winckelmann als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts 311

Wilhelm von Kaulbach der seinen Fäustel als Waffe gebraucht, und W., der –
In dem von Wilhelm von Kaulbach entworfenen Bil- analog zu Luther – mit dem Tintenfass nach der Bestie
derzyklus für die Außenfassade der Neuen Pinakothek wirft. Ihnen folgt als Nachzügler Schinkel, der, von
in München, dem dritten proinenten Museumsbau Unkenrufen und der Eule der Athena begleitet, eben
unter der Ägide Ludwigs I., kommt W. gleich zweimal dem märkischen Sumpfland entsteigt.
vor (Mittlmeier 1977; Eschenburg 1984, 217–243). Die Nazarener stürmen von rechts wie die Hai-
Das für die Mitte der Südfassade vorgesehene Mo- monskinder auf geflügeltem Ross herbei: Allen vo-
tiv huldigt auf vergleichsweise konventionelle Weise ran Cornelius, der den mittelalterlichen Bihänder
dem Monarchen als Sammler und Mäzen. Vor dem schwingt, hinter ihm Friedrich Overbeck, der mit
Hintergrund seiner bisher verwirklichten Bauten – frommer Gebärde die Fahne mit der Muttergottes
der Alten Pinakothek, der Glyptothek, der Staats- hält, und Philipp Veit, der einem zurückgebliebenen
bibliothek – schreitet Ludwig I. vom Thron herab und Vierten aufs Pferd helfen will, über dessen Identität
empfängt die ihm dargebrachten Kunstwerke mit aus- nur spekuliert werden kann.
gebreiteten Armen. Zu seiner Rechten türmen sich Indem Kaulbach den ›Kampf‹ um die Kunst als »lus-
antike Skulpturen, die alle im Bestand der Glyptothek tiges Carrousel-Stechen« anlegt, macht er ihn als Pose
nachweisbar sind. Inmitten dieser Schätze steht W., kenntlich, als kunsthistorisches Konstrukt, wie es im
legt dem androgynen Apollo Barberini, den er selbst Rahmen der Künstlerfeste zur Aufführung kommt,
noch als Muse gedeutet hatte, die Hand auf den Kopf und entlarvt den heiligen Ernst, mit dem die Genera-
und weist gebieterisch in Richtung der strahlend wei- tion seiner Lehrer ihr eigenes Tun betrachtet (Hagen
ßen Fassade der Glyptothek. 1857, 2). Strittig ist allenfalls die Rolle der Nazarener,
Zur Linken des Königs findet sich das historische nicht die der schon länger etablierten Neo-Klassizisten.
Münchner Personal, das ihm bei seinen Projekten zur Die Trias von Carstens, Thorvaldsen und Schinkel als
Seite stand, nämlich einer der beiden Brüder Boisserée den »Chorführern« und »Leitsternen« der in der Nach-
(deren Sammlung 1827 für die Alte Pinakothek ange- folge W.s wiedergeborenen Kunst ist Mitte des 19. Jh.
kauft wurde) mit einem zerbrochenen Kirchenfenster, längst kanonisch, also ein Gemeinplatz der zeitgenössi-
Galeriedirektor Johann Georg von Dillis mit einem Re- schen Kunstgeschichtsschreibung (Eggers 1867, 36).
naissancealtar, Martin von Wagner und ein Gehilfe mit Das von Kaulbach gemalte Narrativ bleibt nicht auf
antiken Vasen, der Inspektor der Kupferstichsamm- den Bereich der Kunst beschränkt. Auch Hermann
lung, Franz Brulliot, mit einer Zeichnungsmappe. Hettner greift den Topos in seiner Literaturgeschichte
Zwar verstarb W. lange vor Ludwigs Geburt, doch des 18. Jahrhunderts auf, um W.s Schlüsselstellung für
inszeniert Kaulbach ihn zu Recht als entscheidenden die in der Weimarer Klassik gipfelnde Erneuerung der
Impulsgeber für den Griechenkult des Königs. Weder deutschen Kultur zu illustrieren: »Durch W. erhielt
die Gründung der Glyptothek noch die Erhebung von der herrschende Zopfstil den Todesstoß. [...] Die gro-
Ludwigs Sohn Otto zum griechischen König wäre oh- ße Kunstrevolution, welche durch Asmus Carstens
ne den Einfluss von W.s Person und Werk denkbar. eintrat und in dem freien und heitern Hellenenthum
Das zweite Motiv, bei dem W. eine zentrale Rolle Thorvaldsen’s und Schinkel’s ihre reifste Blüthe und
spielt, ist das Eckbild im Osten der Südfassade. Die Frucht trieb, ist unmittelbar von W. abzuleiten.«
traditionell »Bekämpfung des Zopfes« betitelte Dar- (Hettner 1864, 434).
stellung fungiert als eine Art allegorischer Auftakt für Die Zuordnung W.s zu einer nationalen Modernisie-
das von Kaulbach in den folgenden Bildern entfaltete rungsbewegung, die sich erst im 19. Jahrhundert voll
kunsthistorische Panorama der ludovizianischen entfaltet, erklärt das von Kaulbach nicht weiter proble-
Kunstpolitik. Im Mittelpunkt des Bildes steht ein nach matisierte Nebeneinander von Neo-Klassizismus und
vorne offener Altarblock, der als Gefängnis für die Romantik. In der Paxis waren die komplementären
drei Grazien dient. Bewacht wird der Schrein von ei- Stiloptionen ohnehin keine sich ausschließenden Ge-
ner seltsamen Bestie, einer Art Chimäre mit drei perü- gensätze. So erhielten Leo von Klenzes Münchner Mu-
cketragenden Menschenköpfen. Zur Befreiung der seumsbauten allesamt eine nazarenische Ausmalung.
Grazien rücken nun sowohl die Neo-Klassizisten als
auch die Nazarener an. Edward von Steinle
Von links, unter dem Schutz der Athena Proma- Eine Verhältnisbestimmung zwischen den beiden
chos, nahen Asmus Jakob Carstens, der den Pinsel mit Schulen versucht Edward von Steinle wenige Jahre spä-
dem Kurzschwert vertauscht hat, Bertel Thorvaldsen, ter in Köln, konventionell auf W. als Repräsentanten
312 IV Rezeption

des neo-klassizistischen Paradigmas rekurrierend. Doms die Errichtung eines neo-gotischen Gebäudes
Steinle erhielt 1857 den Auftrag, das Treppenhaus des für die von Ferdinand Wallraf hinterlassene Altmeis-
neu errichteten Wallraf-Richartz-Museums mit einem tersammlung war. Um seine Auftraggeber zufrieden-
Zyklus zur rheinischen Kunst- und Kulturgeschichte zustellen, musste Steinle für die Fresken zur »moder-
auszuschmücken (Meyer-Wurmbach 1958; Meyer nen Zeit« jeweils zwei Entwürfe vorlegen. Während
1996). Dieser sollte die Geschichte Kölns in drei Haupt- die erste Fassung der »Neuesten Renaissance in der
abschnitte gegliedert zeigen, nämlich die »römische Kunst« noch ganz auf das lokale Personal und den
und romanische Periode«, die »mittelalterliche Perio- Dom- und Museumsbau fokussiert ist, hat die zweite,
de« und die »moderne Zeit«, letztere weiter unterteilt die schließlich realisiert wurde, einen historisch und
in zwei als Pendants angelegte Bilder über die »Periode geographisch weiteren Horizont.
der neuesten Renaissance in der Kunst« und den »Aus- Das Bild zeigt eine ideale Gelehrtenversammlung
bau des kölner Domes« (Steinle 1873, XII–XV). vor den Toren Kölns. Verkörpert wird die lokale
Es überrascht nicht, dass der Schwerpunkt der Kunstblüte von einem zeichnenden Knaben mit be-
beiden gegenwartsbezogenen Motive auf der romanti- kränztem Haupt, zu dessen Füßen eine Art Wappen-
schen Begeisterung für Gotik und Mittelalter liegt, de- schild mit dem Phönix und ein längst »abgeschnitte-
ren sichtbarster Ausdruck neben der Vollendung des ner Zopf« liegen. Es folgen im Uhrzeigersinn: Rubens,

Abb. 32.3 Edward von


Steinle: Die neueste Re-
naissance in der Kunst,
zweite Fassung. Entwurf
für ein (kriegszerstörtes)
Fresko im Treppenhaus des
alten Wallraf-Richartz-Mu-
seums in Köln. Aquarellier-
te Bleistift- und Federzeich-
nung, 1862. Rheinisches
Landesmuseum Trier.
32 Winckelmann als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts 313

dessen Blick auf dem Knaben ruht, während er den menden Jahrzehnte voraus, in denen auch die Bedeu-
Vertrag für sein Altarbild der Kirche St. Peter verhan- tung W.s immer mehr in Frage gestellt werden wird.
delt; der niederländische Dichter Joost van den Von-
del im Gespräch mit der Universalgelehrten Anna von
Zwischen Biographismus und antifranzösischem
Schürmann, beide in Köln geboren; W. bei der Be-
Affekt
trachtung einer von allen modernen Ergänzungen be-
freiten Laokoon-Gruppe sowie, aus dem Hintergrund Die Attraktivität historischer Narrative, die einen gro-
frontal ins Bild schreitend, Goethe. Im Mittelpunkt ßen Mann zum Kristallisationspunkt übergeordneter
aber steht dozierend Friedrich Schlegel. Ihm sind die Entwicklungen machen, ist bisweilen stärker als die
Brüder Boisserée beigeordnet, Sulpiz mit seinem kleinteilige, an Fakten orientierte Kritik. Aus diesem
Domwerk, Melchior mit einem altdeutschen Bild, Grund schmälert es W.s Bedeutung als Ikone des Na-
stellvertretend für ihre 1827 nach München verkaufte tionalbewusstseins kaum, dass seine Werke in der
Sammlung. Im rechten Vordergrund, auf einer Ebene Fachwissenschaft des ausgehenden 19. Jh. als hoff-
mit Rubens, steht, ganz auf Schlegel fixiert, der Samm- nungslos veraltet gelten. Als identitätsstiftender ›Kul-
ler Wallraf, in dessen Rücken sich die Schätze türmen. turheros‹, der für die Überwindung der französisch
Heinrich Richartz, der Finanzier des Museumsbaus, dominierten Kunst des Barock und Rokoko einsteht,
legt ihm die Hand auf die Schulter, blickt aber aus dem erfüllt er eine andere Funktion als im akademischen
Bild hinaus, den künftigen Besuchern entgegen. Diskurs der Archäologie.
Dass W. und Goethe wie aus der Zeit gefallene Ver- Dennoch verschiebt sich im letzten Drittel des
satzstücke anmuten, liegt vor allem daran, dass Steinle 19. Jh. der Schwerpunkt der Rezeption. Die Erzählung
die beiden als wörtliche Zitate berühmter Porträts an- vom Fachgründer und Impulsgeber des Neo-Klassizis-
legt: Seine Darstellung W.s folgt bis ins Detail dem Ge- mus behält ihre Gültigkeit, wird aber um neue, zeitge-
mälde Anton von Marons, die Wiedergabe Goethes ori- mäße Aspekte ergänzt. Zum einen entwickelt sich ein
entiert sich nicht minder pedantisch an Johann Hein- starkes Interesse an W.s Lebensumständen, dessen
rich Lips’ Medaillon von 1791. Aber in welchem Ver- Ausdruck Carl Justis große Biographie, aber auch die
hältnis stehen die beiden zur Kölner Kunstgeschichte? sentimental gefärbten Romane von Bölte und Stern-
Hier kommt der Einfluss von Steinles ikonograpi- berg sind (Dolberg 1976): Wie wird ein Schusterjunge
schem Berater, dem Theologen und Historiker Joseph aus Stendal zum Präfekten der römischen Altertümer?
Braun zum Tragen. Dieser vertrat die kunsthistorische Es ist eine Geschichte der Selbstermächtigung durch
Überzeugung, dass Schlegel »für die Wiedererwe- Bildung, die subkutan mit den Idealen des Bürgertums
ckung der christlichen Kunst das geworden ist, was W. verbunden ist. Zum anderen bietet W.s Werk durchaus
für die Wiedererweckung der Kunst des klassischen Ansatzpunkte für antifranzösische Affekte, die nach
Alterthums geworden war« (Braun 1859, 153 f.). So- der Reichsgründung besondere Konjunktur haben.
mit ist es der Gegensatz von Klassizismus und Roman-
tik, der die Bilderfindung strukturiert. W. ist das Pen- Theobald von Oër
dant zu Schlegel, zwischen den beiden steht vermit- Ein Musterbeispiel für das leicht sentimental getönte
telnd Goethe. Die ihm als Attribut zugeordnete Lao- Interesse an W.s Anfängen in Sachsen ist Theobald
koon-Gruppe fungiert als visuelles Gegenstück zu der von Oërs Gemälde Winckelmann im Kreis der Gelehr-
auf dem benachbarten Fresko im Rahmen der Dom- ten der Nöthnitzer Bibliothek (Schulz 1953, 29 f.). Der
feier abgebildeten monumentalen Kreuzblume. Die Künstler ist einer der Hauptvertreter des ›Literatur-
Inszenierung betont die Gleichrangigkeit der floralen geschichtbilds‹, wie man in Anlehnung an das Kunst-
Ornamente des neogotischen Prachtstücks mit den geschichtsbild formulieren könnte. Insbesondere sei-
zerklüfteten Körpern der antiken Statuengruppe. ne Darstellung des Weimarer Musenhofs (auch be-
Gegen die Darstellung Schlegels als einer Art W. kannt unter dem Titel Weimars Goldene Tage), die den
der Romantik regte sich in Köln erheblicher Wider- deklamierenden Schiller im Tiefurter Park zeigt, hat
stand, denn nicht Schlegel habe seinen Kölner Freun- einige Berühmtheit erlangt.
den die Augen für die mittelalterliche Kunst geöffnet, Das bis ins Detail ausgearbeitete Gemälde erzählt
sondern es sei vielmehr umgekehrt gewesen (Schrörs eine Geschichte, die sich so nie zugetragen hat. Oër
1925, 575). Der lokalpatriotische Einwand zeigt ein- versetzt die gesamte gelehrte Gesellschaft des
mal mehr, wie brüchig solche Narrative bei genaue- Dresdner Hofs in einen Raum der Nöthnitzer Biblio-
rem Hinsehen sein können – und weist auf die kom- thek, sorgfältig zu Gruppen arrangiert, die Gesichter
314 IV Rezeption

Abb. 32.4 Theobald von Oër: Winckelmann im Kreis der Gelehrten der Nöthnitzer Bibliothek. 1874. Dresden, SLUB.

nach historischen Vorlagen gestaltet, und macht sie theoretiker Christian Ludwig von Hagedorn vor ihm
zu Zeugen von W.s erwachendem Genie: Der junge sitzend, und, etwas abgerückt auf einem Stuhl, einen
Gelehrte hat zwar noch nichts publiziert, zieht aber weiteren Gemmenabdruck in der Hand, Philipp Da-
schon alle Blicke auf sich. Doch gerade die unwahr- niel Lippert. Um das Kernpersonal herum sind weite-
scheinliche Konstellation verdeutlicht die Sonderstel- re Figuren arrangiert, ohne Rücksicht darauf, ob sie
lung des ehrgeizigen Bibliothekars, den seine Karriere 1754 überhaupt in Nöthnitz waren. Hinter Archinto
weit über die Grenzen Sachsens hinausführen wird. und Bünau steht Francesco Algarotti, hinter W. befin-
Im Zentrum des Bildes steht W., über eine Gipsbüs- den sich Gottlieb Wilhelm Rabener, Lessing (ein Ab-
te des Apollo vom Belvedere und wohl auch über eini- solvent der Fürstenschule St. Afra in Meißen) und Jo-
ge Gemmenabdrücke aus Lipperts Daktyliothek do- hann Michael Francke. Auf der gegenüberliegenden
zierend. Seine Linke liegt auf Apolls Hinterkopf, seine Seite wiederum, vor dem von Büsten der Niobe und
Rechte weist auf die neben der Büste ausgebreiteten des Laokoon bekrönten Bücherregal, haben sich der
Gemmenabdrücke, sein Blick aber geht zum Fenster, Philologe Christian Gottlob Heyne sowie die Maler
wo der päpstliche Nuntius Alberico Archinto und Bernardo Bellotto (gen. Canaletto) und Christian
Heinrich Graf von Bünau unter einer Landkarte Ita- Wilhelm Ernst Dietrich (gen. Dietricy) eingefunden.
liens sitzen. Der Kontext ist klar: Es geht um die prekä- Die Frage nach der ereignisgeschichtlichen Wahr-
re Zeit von W.s Konversion zum Katholizismus, die heit der Szene ist falsch gestellt, denn sichtbar soll et-
ihm den Weg über Dresden nach Rom öffnen wird. was anderes werden: W.s extraordinäre Gelehrsam-
Um den Tisch mit den antiken Exempla sind W.s keit, die ihn aus dem Kreis der Honoratioren heraus-
nächste Fachkollegen versammelt: der Maler Adam hebt, obwohl sie zu diesem Moment seiner Karriere
Friedrich Oeser, zum Apoll hin gebeugt, der Kunst- kaum mehr als ein Versprechen ist.
32 Winckelmann als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts 315

Carl Gehrts Der W.-Bezug findet sich an prominenter Stelle.


Der antifranzösische Affekt, der der W.-Rezeption im Mit dem als Die neue Zeit bezeichneten Motiv enden
Kaiserreich oftmals anhaftet, wird an Carl Gehrts’ Zy- der Zyklus und die von ihm erzählte Geschichte. Die
klus für das Treppenhaus der 1881 vollendeten Kunst- Auswahl der dargestellten Personen überrascht kei-
halle in Düsseldorf besonders deutlich (Pickartz neswegs. In einer an das Forum Romanum erinnern-
2015). Gehrts’ Konkurrent im Wettbewerb um den den Ruinenlandschaft, die den Blick auf die Kuppel
prominenten Auftrag, Josef Scheurenberg, hatte als von St. Peter freigibt, haben sich vier Männer versam-
Thema die Geschichte der Düsseldorfer Malerschule melt. Im Vordergrund führt Carstens, nachdenklich
vorgeschlagen. Doch statt dieses zeitgenössischen und auf eine umgestürzte Säule gelehnt, Zwiesprache mit
lokal verankerten Sujets wurde ein vergleichsweise einem antiken Frauenkopf, der schon an anderer Stel-
konventionelles historisches Panorama realisiert, das le des Treppenhaus-Zyklus, der Darstellung der Re-
die griechische Antike und italienische Renaissance in naissance, zu sehen ist. Hinter ihm lauschen Schinkel
den Mittelpunkt stellt und mit dem Zeitalter Thor- und Thorvaldsen, einander freundschaftlich verbun-
valdsens und Schinkels endet. den, den Ausführungen W.s, der sich auf einem Kapi-
tell niedergelassen hat.
Die Begegnung der vier Männer ist biographisch ge-
nauso unmöglich, wie sie es schon auf Kaulbachs Fresko
war – aber sie behält ihre Berechtigung als Darstellung
eines Gemeinplatzes der deutschen Kunstgeschichte.
Berücksichtigt man die Anordnung des Freskos im
Raum, so weist W.s erhobener Arm nicht nur auf die an-
tiken Relikte, sondern auch auf die schräg gegenüber-
liegende Lünette mit dem Titel In Versuchung (Bodsch
1994, 64). Auf diesem Bild formuliert Gehrts einen of-
fen gegen Frankreich gerichteten moralischen Appell:
Die Kunst soll standhaft bleiben gegenüber den sinn-
lichen Versuchungen des Rokoko, verkörpert durch ei-
nen »alten Geck«, der Illustrationen für ein »lüsternes
Buch« begehrt (Schleicher [1897], 8 f.).
Gehrts greift damit ein Thema auf, das untergrün-
dig schon lange gärt, im Vorfeld des Ersten Weltkriegs
aber zunehmend Bedeutung erlangt: die Wahrneh-
mung der von W. verkörperten Form des Klassizismus
als spezifisch deutsch oder ›nordisch‹, als eine herbe,
strenge Schule, die »von der Rhetorik, der Sinnlich-
keit, der Geziertheit des Romanenthums [...] keine
Spur mehr übrig« lässt (Justi 1872, 255).
Auf diese Weise gewinnt das eigentlich überholte
Schema, das den schon zur Jahrhundertmitte etablier-
ten Kanon der führenden Neo-Klassizisten zum Ur-
sprung der modernen deutschen Kunst erklärt, eine
neue, politisch begründete Aktualität. Auch wenn die-
ses Konzept im Kaiserreich breite Zustimmung findet,
stößt es doch spätestens mit dem Aufkommen des Im-
pressionismus an seine Grenzen.

Konjunkturen der Rezeption


Abb. 32.5 Carl Gehrts: Die neue Zeit. Entwurf für ein
(kriegszerstörtes) Fresko im Treppenhaus der alten Man muss in der Rezeptionsgeschichte nicht nur nach
Düsseldorfer Kunsthalle, 1896, Öl/Lw., 76,5×41 cm. prominenten Bezugnahmen, sondern ebenso nach
© Dr. Axe-Stiftung, Bonn aussagekräftigen ›Lücken‹ fragen. Auch das Nach-
316 IV Rezeption

leben W.s hat seine Konjunkturen. Keineswegs alle ße hin in Frage kommen, schlägt aber vor, zwei der
kunsthistorischen Dekorationsprogramme integrie- sechs Balustradenfiguren »den beiden grössten Kunst-
ren den Antiquar in die Abfolge der dargestellten kennern und Kunstschriftstellern der Neuzeit: W. und
Künstler. Gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Lessing, zu widmen.« (Semper 1892, 62 f.) Nach sei-
mehren sich Stimmen, die den W.-Kult als histori- nem Tod wird indes eine Auswahl aus Bildhauern und
sches Phänomen betrachten, dem man mit fach- Malern getroffen, die vollkommen für sich steht und
geschichtlich informierter Skepsis begegnen sollte. keines Bezugs zu den Theoretikern des 18. Jh. mehr
Bei der Zusammenstellung des Programms für den bedarf (Bischoff 2008, 99).
Skulpturenschmuck von Christian Daniel Rauchs
1851 vollendetem Denkmal für Friedrich den Großen
Umwertung im 20. Jahrhundert
entschied man sich bewusst dafür, W. bloß auf einer
der Inschriftentafeln zu nennen, statt ihn neben Kant Bis heute gehört die Kunst des 19. Jh. aufgrund ihrer
und Lessing im Relief darzustellen (Eggers 1887, 119). stilistischen Heterogenität zu den umstrittenen Son-
Zum einen verfügte Berlin zu dieser Zeit bereits über derfällen der historischen Periodisierung (Kepetzis/
ein W.-Denkmal, nämlich Wichmanns Statue für die Lieb/Grohé 2007). Es wundert kaum, dass die zeitge-
Vorhalle des Alten Museums (vgl. Abb. 32.2), zum an- nössischen Geschichtsmodelle an der Schwelle zur
deren wurde kritisch bemerkt, der in Rom tätige Ge- Moderne einer kritischen Revision unterzogen wer-
lehrte habe sich nicht ausreichend um die Kultur im den. Insbesondere die Jahrhundertausstellung deut-
friderizianischen Preußen verdient gemacht und z. B. scher Kunst, die 1906 in Berlin stattfand, führte zu
keine Antiken-Ankäufe für das königliche Museum einer grundlegenden Neubewertung des bis dahin
vermittelt. gültigen Kanons (Scholl 2012). Von dieser Um-
Auch die vielfach vertretene Lehrmeinung, die W. schichtung ist nicht zuletzt die am Paradigma der
zum Ausgangspunkt einer von Carstens, Thorvald- Antike orientierte Kunst betroffen, die sich genealo-
sen und Schinkel verkörperten nationalen Kunstblü- gisch auf W. und den Neo-Klassizismus um 1800 zu-
te macht, verliert bei einer streng historischen Be- rückbeziehen lässt, von der aber kein Weg zur Abs-
trachtung an Plausibilität. Anders als die Fresken von traktion führt.
Kaulbach oder Gehrts (vgl. Abb. 32.5) illustriert z. B. Auch aus der Sicht einer Kunstgeschichte der Frü-
Otto Geyers chronologisch gegliederter Fries zur hen Neuzeit muss die W. im 19. Jh. zugeschriebene
Kulturgeschichte der Deutschen, der das Treppen- Rolle relativiert werden: So stellt der Dresdner Ba-
haus der 1876 eröffneten Berliner Nationalgalerie rockforscher Cornelius Gurlitt fest, dass W.s Karriere
ziert, gerade den historischen Abstand, der zwischen als »Messias« der deutschen Kunst letztlich Resultat
W., Carstens und anderen Heroen des 18. Jh. und den einer selektiven Wahrnehmung ist, die das »Rokoko
als »Wiedererwecker nationaler Kunstthätigkeit« in- in seinen Gedanken« ausblendet. Denn »W. war es
szenierten Monarchen Ludwig I. und Friedrich Wil- nicht, der den harten und grausamen Einschnitt in
helm IV. klafft (Jordan 1876, XXXVIf.; vgl. Wullen die künstlerische Entwicklung der Nation machte,
2001). Zumindest in der Form einer Reihe lässt sich die einen Fernow und die später zur geistigen Herr-
ein generationenübergreifender Inspirationstransfer schaft gelangende ästhetisch archäologische Schule
schwer vermitteln, während die gleichzeitige Präsenz der Kritik zu dem Glauben veranlaßte, die deutsche
›ungleichzeitiger‹ Protagonisten im Raum ein elas- Kunstgeschichte beginne eigentlich mit Carstens,
tisches, tendenziell vormodernes Bildverständnis vo- vorher sei die Leere.« (Gurlitt 1899, 36) Zu Recht be-
raussetzt. merkt Gurlitt in diesem Zusammenhang, »daß ne-
Ausgerechnet in Dresden, wo W.s Karriere ihren ben den Deutschen, ohne W. doch auch andere Völ-
Anfang nahm, ist der Gelehrte im Bild kaum präsent. ker zum Verständnis der Antike kamen« und es ent-
Das reiche Statuenprogramm der Dresdner Semper- sprechend ein Fehler sei, sich »durch W. im Allein-
galerie kommt ohne ihn aus, nur am später errichteten besitz des wirklichen und wahren Hellenismus« zu
Lipsiusbau finden sich zwei komplementäre Bildnis- fühlen (ebd.).
medaillons W.s und Schinkels. In seinem Programm- In der Praxis der Kunst ist W.s Einfluss um 1900
Entwurf für den Skulpturenschmuck des Kunsthis- schwer zu fassen (Maaz 2017). In kunsthistorisch-äs-
torischen Museums in Wien lässt Gottfried Semper thetischen Debatten erscheint sein Name vielfach als
zunächst offen, welche »neueren Meister« für die der omnipräsenter Topos für Antikenrezeption im weites-
»modernen Kunst« gewidmete Fassade zur Ringstra- ten Sinne oder als Platzhalter für einen apollinisch-
32 Winckelmann als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts 317

blutleeren Klassizismus, von dem man sich abzugren- derts. Bd. 3.2: Das Zeitalter Friedrichs des Großen. Braun-
zen sucht. Selbst in den Gymnasien ist seine über Les- schweig 1864.
sings Laokoon vermittelte Laokoon-Interpretation Jordan, M.[ax]: Beschreibendes Verzeichniß der Kunstwerke
in der königlichen National-Galerie zu Berlin. Berlin
von 1755 zwar allgegenwärtig, doch zugleich auch Ge- 1876.
genstand der Kritik. Gerade die enormen Fortschritte Justi, Carl: Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und sei-
der von ihm mitbegründeten Fächer führen dazu, ne Zeitgenossen. Bd. 2.2. Leipzig 1872.
dass seine Werke zunehmend veralten. Raczynski, Athanasius Graf: Geschichte der neueren deut-
Als Autor von Fachtexten erlangt W. nie dieselbe schen Kunst. Bd. 1. Berlin 1836.
Rossetti, Domenico: Joh. Winckelmann’s letzte Lebens-
Popularität wie die Autoren der literarischen Klassik.
woche. Ein Beitrag zu dessen Biographie. Aus den gericht-
Er wird, ungeachtet seiner Herkunft und des hohen lichen Originalacten des Kriminalprozesses seines Mör-
Stellenwerts, den der Begriff der Freiheit in seinem ders Arcangeli. Dresden 1818.
Werk genießt, keine politische Symbolfigur wie Schil- Rossetti, Domenico: Il sepolcro di Winckelmann in Trieste.
ler oder Nietzsche. Obwohl die meisten archäologi- Venedig 1823.
schen Institute bis heute eine W.-Büste besitzen, ist Rumohr, Carl Friedrich von: Über den Einfluß der Litteratur
auf die neueren Kunstbestrebungen der Deutschen. In:
sein Bildnis in privaten Interieurs eher selten zu fin- Athanasius Graf Raczynski: Geschichte der neueren deut-
den. Die Mitte des 19. Jh. begründeten W.-Feiern blei- schen Kunst. Bd. 3. Berlin 1841, 371–382.
ben auf den Bereich der Universität beschränkt. Die Schleicher, Wilhelm: Die Treppenhaus-Fresken von Carl
zugehörigen Winckelmanns-Programme entwickeln Gehrts. Düsseldorf [1897].
sich zum Forum der jeweils aktuellen Forschung. Semper, Gottfried: Die k. k. Hofmuseen in Wien und Gott-
fried Semper. Drei Denkschriften Gottfried Semper’s
Die Erneuerung des Antikenparadigmas im 20. Jh.,
hg. von seinen Söhnen. Innsbruck 1892.
die spätestens mit dem Dritten Humanismus einsetzt, Steinle, Edward: Die Fresken des Treppenhauses. In: J.[ohan-
bringt keine nennenswerten Beiträge zur W.-Ikono- nes] Niessen: Katalog der Gemälde-Sammlung des Muse-
graphie. Zwar spielt W.s ›Antikenideal‹ eine bedeuten- ums Wallraf-Richartz in Köln. Köln 1873, XII–XV.
de Rolle in der Lebensreform sowie bei späteren, teils Sternberg, Alexander von: Künstlerbilder. Bd. 2: Winckel-
totalitären Ansätzen zur Definition eines ›neuen Men- mann. Leizig 1861.
schen‹, doch geschieht dies weitgehend unabhängig
von seiner Person und Biographie (Sünderhauf 2004). Forschung
Bischoff, Cäcilia: Das Kunsthistorische Museum. Bau-
Die Diskurse, die im 20. Jh. die Geschichte der Kunst geschichte, Architektur, Dekoration. Wien 2008.
maßgeblich prägen, bleiben – mit Ausnahme des NS- Bodsch, Ingrid (Hg.): Carl Gehrts 1853, Hamburg – 1898,
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318 IV Rezeption

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Fries Otto Geyers in der Alten Nationalgalerie. Berlin/
Köln 2001.
In offenkundiger Übereinstimmung mit der Gramma-
Christoph Schmälzle tik des Outline style nach Flaxmans Muster, die sich zu
jener Zeit exponentiell wachsend in Europa verbreite-
te, beanstandete Friedrich Schiller (1759–1805), der
sich 1801 in einem Ideenaustausch mit Ludwig Tieck
(1773–1853) über die Ölgemälde in der Dresdner Ge-
mäldegalerie befand, die materiellen Qualitäten der
Farbe und pries mit nicht geringerer Entschiedenheit
die reine Umrisszeichnung:

»Ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß diese


Farben mir etwas Unwahres geben, da sie, je nachdem
das Licht so oder anders fällt, oder der Standpunkt, aus
dem ich sie sehe, so oder anders ist, sie doch verschie-
den gefärbt erscheinen; der blosse Umriß würde mir
ein weit treueres Bild geben.« (Biographische und lite-
rarische Skizzen 1846, 155–156; vgl. Köpke 1855, I,
258–259; Tordella 2012, 8)

Als eine Art Synthese und Vorwegnahme dieser ästhe-


tischen Auffassung beschwört Schiller im Vers 136
(»Im Umriß ward sein Dasein aufgefangen«) des Ge-
dichts Die Künstler (1788–1789), das Aufnahme in die
Gedichte (Leipzig 1800–1803) fand, den Mythos vom
Ursprung der Malerei, in dessen Mittelpunkt die
Tochter des Töpfers Butades steht (V. 133–138).
Aus dieser begrifflichen Positionsbestimmung, die
im Jahr der Veröffentlichung von Über das Erhabene,
der letzten seiner großen philosophischen Schriften,
auch den Meinungsaustausch mit Tieck während des
Besuchs der Pinakothek in Dresden prägt, wird er-
sichtlich, dass sich Schiller erneut Kants Ästhetik zu-
wendet. Ihr hatte er sich das erste Mal im Winter 1791
angenähert, um sie dann im Rahmen der Ästhetik-
Vorlesung, die er im Wintersemester des akademi-
schen Jahres 1792–1793 in Jena hielt und die in einer
fragmentarischen Mitschrift von Christian Friedrich
Michaelis überliefert ist, in einem auch in seiner di-
daktischen Klarheit meisterhaften Kompendium zu
behandeln:

»Da Schönheit blos in der Form der Zweckmäßigkeit


besteht, so besteht Schönheit überhaupt nur in der
Form. Rein ist ein Schönheitsurtheil dann, wenn weder
Reiz, noch Rührung dabei im Spiele ist. Daher besteht
alle Veredlung der Kunst in der Simplicität. – Reiz über-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_33, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
320 IV Rezeption

haupt ist Aufforderung zur Thätigkeit. Ein Gemählde an Dürer orientiert, wendet sich mit seinem Blick und
kann durch seine Farbe reizen, aber nur durch Com- seinen ästhetischen Überlegungen Aspekten zu, in de-
position und Zeichnung schön seyn. [...] Alle sinnliche nen sich der Maler aus Leiden von Dürer unterschei-
Schönheit ist entweder Form der Ruhe oder Form der det und sich ihm gegenüber als stilistisch unterlegen
Bewegung. Jene ist die Zeichnung überhaupt; die Far- erweist; Aspekte, bei denen das Zeichnerische eine
ben heben blos die Umrisse mehr hervor, wecken die wesentliche Rolle spielt, weil es bei dem holländischen
Aufmerksamkeit, und bewirken Uebereinstimmung Maler das Fehlen von Dürers »strenger Zeichnung«
mit der Natur.« (Erklärung des Schönen nach Kant, in: zum Vorschein bringt, verschärft durch die geringere
Geist aus Friedrich Schillers Werken, II, 1806, 266–267; Meisterschaft und Flüssigkeit der »Umrisse«.
vgl. Tordella 2012, 9–10) Trotzdem beeinflussen das geheime Echo Hogarths
(»Wave Line«) und die auf subtile Weise immer noch
Dieser Passus belegt jedoch nicht nur die Nähe zu anhaltende Wirkung des jahrhundertealten, gewisser-
Kant und die Wirkmächtigkeit des Begriffs des Ein- maßen unausgesöhnten und aporetischen Wider-
fachen, wie W. ihn geprägt hatte; in ihm hallt auch spiels von Zeichnung und Farbe, über die Annähe-
deutlich jene zwischen dem Blick auf das Antike und rung an Dürer in der Opposition gegen ihn, die Über-
einem neu entstandenen Primitivismus dialektisch legenheit, die Sternbald (i. e. Ludwig Tieck) dem Lu-
gelöste ästhetische Dimension nach, die gewöhnlich cas van Leyden zuerkennt, der anziehendere Formen
auf Flaxman zurückgeführt wird, aber schon bei Tho- und womöglich beruhigendere farbliche Partituren
mas Patch (1725–1782) anzutreffen war, wenngleich hervorbringt:
mit einer deutlichen Verschiebung hin zum Primiti-
vismus. All dies in Erwartung einer europäischen »Er [Franz Sternbald] beschaute während dem Spre-
Ausarbeitung des Begriffs der Schönheitslinie im Sin- chen aufmerksam das Bild, an welchem Lukas eben ar-
ne Hogarths (Tordella 2012, passim), den Schiller ins- beitete; es war eine Heilige Familie, er traf darinnen
besondere im Briefwechsel mit Gottfried Körner und vieles von einigen Dürerschen Arbeiten an, denselben
dann in der unvollendeten Schrift Kallias oder über die Fleiß, dieselbe Genauigkeit im Ausmalen, nur schien
Schönheit (1793) anhand des Themas der Freiheit ent- ihm an Lukas’ Bildern Dürers strenge Zeichnung zu feh-
wickelt; ein suggestives Thema, das in den Jahren nach len, ihm dünkte, als wären die Umrisse weniger dreist
der Revolution neue, ansteckende Tönungen annahm. und sicher gezogen; dagegen hatte Lukas etwas Liebli-
Was das Thema der Einfachheit betrifft, so stellt ches und Anmutiges in den Wendungen seiner Gestal-
Starobinski seine übereinstimmende ›nostalgische‹ ten, ja auch in seiner Färbung, das dem Dürer mangel-
Dechiffrierung bei Diderot und Schiller fest: »Viel- te. Dem Geiste nach, glaubte er, müßten diese beiden
leicht aber muss festgestellt werden, wie es Schiller tun großen Künstler sehr nahe verwandt sein, er sah hier
wird, dass das ›Naive‹ einer versunkenen Welt ange- dieselbe Einfalt in der Zusammensetzung, dieselbe Ver-
hört: ›Es hängt an fast nichts; oft ist der Künstler ihm schmähung unnützer Nebenwerke, die rührende und
ganz nah; aber es ist nicht da‹. Das Antike, die Natur, echt deutsche Behandlung der Gesichter und Leiden-
das Naive sind für Diderot Modelle, die entschwin- schaften, dasselbe Streben nach Wahrheit.« (Tieck
den.« (»Mais force est bien de constater, comme le fera 1798, I, Zweites Buch, 178–179; 1843, 88)
Schiller, que le ›naïf‹ appartient à un monde perdu: ›Il
tient à presque rien; souvent l’ artiste en est tout près; In der frühesten Phase dieser klassisch-romantischen
mais il n’y est pas‹. L ’antique, la nature, le naïf sont Osmosen, die dazu führen sollten, dass sich der späte
pour Diderot des modèles qui s’éloignent [...]« ; Staro- Canova in der Metope des Tempels von Possagno pri-
binski 1991, 62). mitivistischen Einflüssen öffnete (Venturi 1972, 225),
Tieck wiederum zeigt in Franz Sternbalds Wan- bringt die ästhetische Thematisierung der geometri-
derungen (1798) – wo sich Anregungen finden, die auf schen/metageometrischen und poetischen/metapoe-
Heinse zurückgehen (Ardinghello und die glücksee- tischen graphischen Umschreibung von Körpern und
ligen Inseln, 1787) – wie fremd ihm das ästhetische Gegenständen bei W. und über W. hinaus einen dem
Konzept ist, das Schiller 1801 in der Gemäldegalerie Anschein nach nicht eben geringen Unterschied zwi-
ihm gegenüber deutlich und mit Nachdruck artiku- schen Tieck und seinem Lehrer Karl Philipp Moritz
lierte. Im elften Kapitel hält sich Franz Sternbald in der zum Vorschein. Letzterer hatte in der »Monatschrift
Werkstatt des Lucas van Leyden auf, der konzentriert der Akademie der Künste und mechanischen Wissen-
an einer Heiligen Familie arbeitet. Sternbald, der sich schaften zu Berlin« 1789 die Grundlinien zu einer voll-
33 Winckelmann und die Kultur der Umrisszeichnung im Neoklassizismus 321

ständigen Theorie der schönen Künste publiziert. Die rein formale Beschaffenheit mit einem gegenständli-
Idee des Schönen als des in sich selbst Vollendeten, die chen Wert auszustatten (Testa 1999, 285–298). So ist
Moritz dort zugrunde legt, verweist auf die Thesen ei- die Linie zugleich Instrument formaler Abstraktion
ner früheren Abhandlung, Die Signatur des Schönen, und sublimierter Bindung an Materialität, auch durch
die zuerst unter dem Titel In wie fern Kunstwerke be- das ganz natürliche und oft unbewusste Zurückgrei-
schrieben werden können (I–III, 1788–1789) in dersel- fen auf die Komplizenschaft des Vorstellungsver-
ben Zeitschrift erschienen war. In dieser Schrift, die mögens. Die Relazione a Gian Lodovico Bianconi von
nicht nur am Rande von Schiller vertretene Positionen Mai/Juni 1758 stellt die Schönheit, in Begriffen, die
vorwegnimmt, trug Moritz, der überzeugt war, dass eher der Poetik der Theorie als der Poetik zuzuordnen
Kunstwerke die perfekte Beschreibung ihrer selbst sei- sind, als sichtbare Idee der Vollkommenheit dar. »Nun
en und als solche nicht Gegenstand einer Beschrei- stelle man sich vor, daß die Vollkommenheit der ma-
bung sein könnten, eine Frontalkritik an W.s Beschrei- thematische oder unzertheilbare Punkt wäre. Die
bung des Apollo von Belvedere vor (GK1, 392–394) Vollkommenheit begreift in sich alle namhaften löbli-
und verlieh seiner Überzeugung Ausdruck, dass Um- chen Kräfte: Diese können sich in keiner Materie fin-
risse verbinden, während Worte bloß trennen kön- den [...]« (»Rappresentiamoci la perfezzione come il
nen. Moritz stellt fest, dass Punto mattematico. La Perfezzione è un complesso di
tutte le virtù/:virtutes, vires: / che non coëstono in
»[...] die Werke der bildenden Künste selbst schon die niuna materia«; Br., I, 377; Winckelmann 1961, 297;
vollkommenste Beschreibung ihrer selbst sind, welche vgl. Testa 1999, 242, 248, 268). Der Punkt ist die ur-
nicht noch einmal wieder beschrieben werden kann. sprüngliche Keimzelle der Linie, die geometrisch als
Denn die Beschreibung durch Konturen ist ja an sich Abfolge von Punkten definiert werden kann. In der
selbst schon bedeutender und bestimmter, als jede Be- von W. geprägten Lesart (der gegenüber sich Kant auf-
schreibung durch Worte. Umrisse vereinigen, Worte merksam und empfänglich zeigen sollte) besteht die
können nur auseinander sondern; sie schneiden in die Linie, die zur Zeichnung wird und konkret in der Um-
sanfteren Krümmungen der Konturen viel zu scharf risszeichnung Gestalt annehmen kann, aus unteil-
ein, als daß diese nicht darunter leiden sollten. Win- baren Einheiten, die »tatsächlich unbegreiflich«, sub-
ckelmanns Beschreibung vom Apollo im Belvedere zer- stanzlos und folglich reich an unsichtbarer Vollkom-
reißt daher das Ganze dieses Kunstwerkes, sobald sie menheit sind. Umrisslinie, aber nicht Umgrenzung,
unmittelbar darauf angewandt, und nicht vielmehr als denn wie Plinius’ »extremitas« (»Ambire enim se ipsa
eine bloß poetische Beschreibung des Apollo selbst be- debet extremitas et sic desinere ut promittat alia post
trachtet wird, die dem Kunstwerke gar nichts angeht.« se ostendatque etiam quae occultat« [Naturalis his-
(Moritz 1962, 102; vgl. Tordella 2012, 20; Kurbjuhn toria, XXXV, 68; Plinius 1978, 57: Die Kontur muß
2014, 452; Pfotenhauer 2015) nämlich um sich selbst herumlaufen und so aufhören,
daß sie anderes erwarten läßt und hinter sich auch das
Hinsichtlich der Umrisszeichnung gelingt es der in- zeigt, was sie verbirgt]) scheint sie andere Ebenen und
trinsischen begrifflichen Vielschichtigkeit, welche die Linien außerhalb ihrer selbst zu erahnen oder ist so
Zeichnung mit ihren verschiedenen Ausdrucksfor- beschaffen, dass sie solche erahnen lässt, als wollte
men und ihrer Polysemie in den Mittelpunkt einer (könnte) sie auch jene Teile zeigen, die sie notwendi-
scharfen theoretischen und interpretativen Auseinan- gerweise verbirgt.
dersetzung stellt, die das Europa des 18. Jh. ganz und So wie es im Allgemeinen zum Thema der Zeich-
gar nicht im Verborgenen durchdringt und bewegt, nung und seiner spezifischen Auslegung als Umriss-
erneut und folgerichtig, einer möglichen »reductio ad zeichnung mannigfaltige Standpunkte gibt, existieren
unum« zu entgehen. In diesem Kontext wirkt W. als auch vielgestaltige Versuche einer Antwort, oder hin-
treibende Kraft eines Abstraktionsprozesses, der gegen Fragestellungen, die natürlicherweise daraus
durch Schwächung der physischen Darstellungsmittel hervorgehen. Was jedoch große Persönlichkeiten cha-
die Umrisslinie als überlegenes Instrument von Evo- rakterisiert, ist die Fähigkeit, Probleme (vor) zu stellen
kation und Suggestion adelt. Während diese Linie auf oder (voraus) zu setzen. Das Problem der graphischen
der einen Seite eine der Absicht nach überwundene, Umschreibung des passiven Objekts oder aktiven Sub-
tatsächlich jedoch unvermeidliche Materialität he- jekts wurde von Leon Battista Alberti und Piero della
raufbeschwört, wirkt sie auf der anderen Seite gleich- Francesca im Wesentlichen auf die »circumscriptio«
zeitig als Mittel der Suggestion, das imstande ist, die im geometrischen Sinne zurückgeführt. Leonardo
322 IV Rezeption

hingegen evozierte es, indem er die feine Grenze zwi- Die Ellipse, eine Art Kreis mit unregelmäßigem Radi-
schen mathematischer und nicht mathematischer Li- us, ist eine geometrische Figur mit zwei Brennpunk-
nie ins Spiel brachte, und Michelangelo, Raffael und ten, der als eine in ständiger Bewegung befindliche
andere lösten es auch durch die Keimzellen, die sich in Einheit dargestellt werden kann. Im 18. Jh., als den
achromatischen Metallstiftzeichnungen materialisier- meisten Menschen nicht bewusst war, dass es sich in
ten (Tordella 2008). Im 18. Jh. taucht es, nach mehr- Wirklichkeit um zwei verschiedene, wenngleich, was
fachem weiterem Auftreten, in einem grundsätzlichen das formale Resultat angeht, ähnliche geometrische
Versuch wieder auf, eine Synthese aus ästhetischer Figuren handelt, wurden nicht selten die Begriffe
Subjektivität und normativer Zentralität herzustellen. Oval und Ellipse gleichgesetzt. Während das Oval ei-
So lassen sich also, wenn man die Umrisszeichnung ne flächige geometrische Figur ist, die sich aus vier
nicht nur und nicht so sehr im Sinne W.s betrachtet, Kreisbögen zusammensetzt, für die schon Guarino
verschiedene Ebenen der Lesart und der kritischen Guarini in der zweiten Hälfte des 17. Jh. eine außer-
Lesbarkeit feststellen. Ebenen, auf denen sich ihre gewöhnliche Entwurfsmethode entwickelt hatte, die
Tragweite als stilistisches Modul entfaltet, als tenden- in der Kirche Santa Maria in Aracoeli in Vicenza zur
zielle Negation der imaginativen Komplizenschaft, die Anwendung kam (Fara 2010, 39, Taf. XIII), ist die El-
eng mit der subjektiven Wahrnehmung des Vollende- lipse eine gestauchte, geschlossene geometrische
ten verbunden ist, das das Nicht-Vollendete ist. Dies Kurve, die sich aus einem Kegelschnitt ergibt. Chris-
geht sowohl aus individuellen Überlegungen hervor, tian Ludwig von Hagedorn (1762, Kap. XXXVII, Von
die sich ganz der subjektiven Behandlung des Pro- der sogenannten Linie der Schönheit in der Stellung
blems verschrieben haben, als auch aus größeren Zu- und den Umrissen) setzt die elliptische Linie entspre-
sammenhängen. chend ihrer ästhetischen Dekodierung durch den
Freilich gehört all das theoretischen Ausrichtungen französischen Mathematiker Antoine Parent (1666–
an, die jenen gegenüberstehen, welche die Zeichnung 1716) ein, den Autor der Essais et recherches de ma-
als Instrument der Selbsterkenntnis betrachten, als thématique et de physique. Bei Hagedorn, den Leo-
äußersten Punkt tiefreichendster Selbsterforschung, poldo Cicognara in der französischen Übertragung
die ein Mensch in Angriff kann. Es handelt sich um von Michael Huber, dem Übersetzer auch von W.
den Gegensatz zwischen dem von Delacroix verteidig- und von Dichtern wie Salomon Gessner, gelesen hat-
ten »dessin par les milieux« und dem »dessin par le te, wird die elliptische Linie, mit Blick auf die theo-
contour«, zwischen der Farbe, die eine optische Ein- retische Unterscheidung zwischen »Line of Beauty«
fügung bewirkt, und der taktilen Isolation, die der und »Umriß« und in Bezug auf Hogarths Vermächt-
Umrisszeichnung eigen ist (Oesterle 1994, 63). nis, zu einer Art epistemologischem Gegensatz (Tor-
Da die wesentlichen Qualitäten des göttlichen della 2012, 27).
Schönen auf Einfalt und Unbeweglichkeit ausgerich- Noch zu Beginn des 19. Jh. sieht der Perikles (hier
tet sind, ist bei W. die Triebfeder der Schönheit in der zitiert nach der Ausgabe von 1806) von Karl Theodor
ganz klar auf Hogarth zurückzuführenden Bewegung Anton Maria von Dalberg (1744–1817), Fürstbischof
zu finden, die in der elliptischen Linie Gestalt an- von Mainz, die Ellipse als ästhetische Triebkraft im
nimmt, der perfekten Verbindung aus Einfachheit Zeichen der ihr innewohnenden Verbindung von Ein-
und ständiger Veränderung: heit und Vielfalt an:

»Die Linie, die das Schöne beschreibt, ist elliptisch, und »[...] die Ellipse ist die Schönheitslinie, deren allgemei-
in derselben ist das Einfache und eine beständige Ver- ner Charakter, wie Du weißt, in Verbindung der Ein-
änderung, denn sie kann mit keinem Zirkel beschrie- heit und Mannigfaltigkeit liegt. Die elliptische Linie
ben werden und verändert in allen Punkten ihre Rich- entwickelt in ihrem Laufe einen stets veränderten
tung. Dieses ist leicht gesagt und schwer zu lernen. Umriß, indeß die Zirkellinie immer und in jedem ihrer
Welche Linie, mehr oder weniger elliptisch, die ver- Theile sich selbst gleich ist. – Dasselbe gilt von den
schiedenen Teile zur Schönheit formt, kann die Algebra unter sich verglichenen Segmenten der graden Linie.
nicht bestimmen, aber die Alten kannten sie, und wir Die schönste aller elliptischen Linien ist jene, wel-
finden sie vom Menschen bis auf ihre Gefäße. So wie che einiger Maßen das Mittel zwischen der graden
nichts Zirkelförmiges am Menschen ist, so macht auch und der Zirkellinie hält; denn sie ist die mannichfal-
kein Profil eines alten Gefäßes einen halben Zirkel.« tigste in der Krümmung ihrer Bestandtheile.« (Dal-
(Betrachtung, KS 152) berg 1806, 51)
33 Winckelmann und die Kultur der Umrisszeichnung im Neoklassizismus 323

Der mit Goethe und Wieland befreundete von Dal- don erschienene Schrift fand nur wenige Leser, war
berg war auch ein Freund Schillers, von dem er einige Gegenstand negativer Rezensionen und entfaltete in
Begriffe aus Kallias indirekt entlehnt und dem rein England keinerlei revolutionäre, noch weniger eine
philosophischen Terrain entzieht. Dies geschieht in ei- destabilisierende Wirkung. Nicht weiter erstaunlich
ner durchaus nicht zufälligen chronologischen Nähe ist daher die Kritik, die Füssli in seiner im März 1801
zu Goethes Abhandlung über W. (Winckelmann und an der Royal Academy gehaltenen Lecture über An-
sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen), einem cient Art übt: Füssli wendet sich gegen das Degenerati-
Werk von grundlegender Bedeutung für die klassizis- ve bloß übersetzender Silhouetten, wie sie von jenen
tische Entwicklung einer Weltsicht, die zu jener Zeit vertreten wurden, die er als Parasiten der Lavater-
angesichts der romantischen Erfahrung unter dem schen Physiognomik bezeichnet, der einfachen Um-
Eindruck der Ernüchterung stand und später prophe- risslinien zur Umschreibung von Schatten, die einhel-
tisch für die Wende zum Positivismus wurde. Goethes lig als erste Kunstäußerungen gemäß dem Mythos von
Text wurde im Jahr 1805 veröffentlicht, in dem Schil- der Tochter des Butades anerkannt wurden, wie etwa
lers Tod zu beklagen war, und bezeugt seine mittler- in der Einführung zu den Outlines from Figures and
weile vertiefte und unumkehrbare Ablehnung der ro- Compositions (1804, XIII–XIV), in der sich Henry
mantischen Revolte. Kirk auf Gefäße aus dem Besitz Hamiltons bezieht:
In seinen jungen Jahren war Goethe Zeichenschüler
bei dem mit W. befreundeten Adam Friedrich Oeser »The first essays of the art were skiagrams, simple out-
(1717–1799), dem er das erste Mal im Herbst 1766 be- lines of a shade, similar to those which have been in-
gegnete. Mit dem Maler, Kupferstecher und Bildhauer troduced to vulgar use by the students and parasites of
Oeser, seit 1759 Leiter der Kunstakademie in Leipzig, physiognomy, under the name of silhouettes, without
beginnt das achte Buch von Goethes Aus meinem Le- any other addition of character or feature but what the
ben. Dichtung und Wahrheit. W., der Oeser 1754 in profile of the object thus delineated could afford.«
Dresden kennengerlernt hatte, analysiert dessen Art (Lectures, 1848, 530; vgl. Tordella 2012, 63)
zu zeichnen in einem Brief vom 9. April 1763 an Jo-
hann Caspar Füssli, den Vater von Heinrich Füssli. Ne- Während in W.s und ganz allgemein in der klassizisti-
ben dem Rubens-artigen (und damit tadelnswerten) schen Interpretation die Konturlinie (oder Umriss-
Charakter von Oesers Malerei richtet W. seine Auf- zeichnung) – die als solche ein inhärent metahistori-
merksamkeit auf das besonders ›Edle‹ der Zeichnung: sches und metalinguistisches Problem in sich auf-
nimmt, d. h. die Form als Begrenzung – als strukturel-
»Seiner Zeichnung fehlet eine strenge Richtigkeit der les und unzweideutiges Merkmal der antiken Kunst
Alten und seine Colorit ist nicht reif genug; es ist ein aufgefasst wird, öffnet die etymologische und dialekti-
Rubenscher Pinsel, aber deßen Zeichnung ist viel edler. sche Komplexität, die demselben Begriff und seiner
Es ist ein Mann der einen großen fertigen Verstand hat, praktischen Umsetzung innewohnt, notwendigerweise
und so viel man außer Italien wißen kann, weiß.« (Br. II, den Raum für andere kritische Konstellationen. Dies
307; vgl. Dürr 1879, 144) geschieht zum Beispiel im Fall von Johann Georg Adam
Forster (1754–1794), dem Naturforscher, Ethnologen
Wie ausführlich im Briefwechsel belegt (siehe Win- und Begründer der wissenschaftlichen Reiseliteratur.
ckelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz), ver- Der Bericht über die 1790 gemeinsam mit Alexander
band W. eine tiefe Freundschaft mit Johann Caspar von Humboldt unternommene Reise (Ansichten vom
Füssli, der die Schweizer Kunsthistorie mit Werken Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England
wie Geschichte der besten Maler in der Schweiz nebst und Frankreich, 3 Bde., 1791–1794) ist faszinierend zu
ihren Bildnissen (1769–1779) begründete und die lesen, auch angesichts der Überzeugung, wie sie schon
1762 und 1765 erschienenen Ausgaben von Mengs’ Jonathan Richardson und Antoine-Joseph Dézallier
Gedanken über die Schönheit und über den Geschmak d’Argenville vertraten, dass die Skizze – von Forster mit
in der Malerey besorgte, die W. gewidmet waren. dem Wort Umriss bezeichnet – dem vollendeten Ge-
Die deshalb von Anfang an engen Beziehungen mälde ästhetisch und konzeptuell überlegen ist:
zwischen Heinrich Füssli und W. wurden auch durch
Füsslis Übersetzung von W.s Gedanken über die Nach- »Findet sich dies alles mit einer edlen Zeichnung und
ahmung vertieft. Die 1765 unter dem Titel Reflections einer schönen Form zu einem Ganzen vereinigt; als-
on the Painting and the Sculpture of the Greeks in Lon- dann ist das Kunstwerk von einer hinreißenden Voll-
324 IV Rezeption

kommenheit; aber auch abgesondert von allem Ne- »[...] die Formen eines schönen Körpers sind durch Li-
benwerk ist ein bloßer Umriß mit Raphael’s Schön- nien bestimmt, welche beständig ihren Mittelpunkt
heitssinn entworfen, mehr werth als das vollendetste verändern und fortgeführt niemals einen Zirkel be-
Gemälde, dem dieses wesentliche Bedingniß fehlt.« schreiben, folglich einfacher, aber auch mannigfaltiger
(Forster 1969, II, 457; vgl. Tordella 2012, 124) als ein Zirkel, welcher, so groß und so klein derselbe im-
mer ist, eben den Mittelpunkt hat und andere in sich
Von einem anderen Standpunkt aus hatte Johann Gott- schließt oder eingeschlossen wird.« (GK2, 132–133)
fried Herder (Plastik. Einige Wahrnehmungen über
Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, Von wesentlicher Bedeutung für die ästhetischen Be-
1778) den Begriff der Vollkommenheit in Bezug auf trachtungen Christian Wolffs (1679–1754), den W. an
die geometrische Figur des Kreises ins Spiel gebracht. der Universität Halle gehört hatte, wurde das Konzept
Unter den für die Rezeption von Hogarths Analysis of der Vollkommenheit von Moses Mendelssohn (1729–
Beauty in Deutschland grundlegenden Texten lässt 1786) aufgegriffen, einem weiteren Vertreter der deut-
Plastik, zwischen 1768 und 1770 verfasst, gleichzeitig schen Aufklärung, der mit Nicolai, Jacobi und Lessing
den bedeutenden Einfluss Diderots (Lettre sur les aveu- befreundet war, und zwar in den Briefen über die Emp-
gles à l’ usage de ceux qui voient, 1749; Pensées sur l’ in- findung (1755). Sie erschienen im gleichen Jahr wie
terpretation de la nature, 1754) erkennen, den Herder W.s Gedanken über die Nachahmung in Dresden, die
ebenso wie d’Alembert 1769 in Paris getroffen hatte 1756 in einer zweiten, erweiterten Ausgabe heraus-
(Tordella 2012, 16–17): kamen. W. schreibt:

»Er [Hogarth] zeigt tätlich, was die gesunde Theorie »Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle
noch mehr bestärkt, daß alle Umrisse und Linien der Theile der schönsten Natur und der Idealischen Schön-
Mahlerei von Körper und lebendigem Leben abhängen, heiten in den Figuren der Griechen; oder er ist viel-
und daß, wenn diese Kunst nur Anschein dessen in ei- mehr der höchste Begrif in beyden. [...] Viele unter den
ner Flächenfigur gibt, dies nur daher komme, weil sie neueren Künstlern haben den griechischen Contour
nicht mehr geben kann. [...] Folglich sind alle Reiz- und nachzuahmen gesucht, und fast niemandem ist es ge-
Schönheitslinien nicht selbstständig, sondern an le- lungen. Der große Rubens ist weit entfernt von dem
bendigen Körpern, da sind sie her, da wollen sie hin.« Griechischen Umriß der Cörper, und in denenjenigen
(Herder 1778, 63; vgl. Tordella 2012, 17) unter seinen Werken, die er vor seiner Reise nach Ita-
lien, und vor dem Studio der Antiquen gemacht hat,
Als Ergebnis einer kritischen Progression, die nicht in am weitesten.« (Gedancken1, 19–20; Gedanken2, 16)
allgemein anerkannten theoretischen Überlegungen
aufgegangen war, nimmt die Vorstellung von einer ur- Umriss, Contour oder Umschreibung, Umgrenzung.
sprünglichen Beziehung zwischen Vollkommenheit Die neue poetische, ästhetische und begriffliche Di-
und Umrisslinie in einer Formulierung Gestalt an, die mension, die W. dem Umriss zumisst und mit der er
sich im dialektischen Gleichgewicht zwischen Objek- die unwägbare metageographische Eindringlichkeit
tivität der geometrischen Aussage und Subjektivität seines kulturellen Einflusses speist, macht erbar-
der ästhetischen Valenz befindet: mungslos, auch im themenbezogenen Vergleich, den
Mangel an konzeptueller Originalität bei anderen Au-
»Die Linie der Vollkommenheit ist der Kreis, wo Alles toren sichtbar. Unter ihnen ist Claude-Henri Watelet,
aus einem Mittelpunkt strahlet und in ihn zurückfällt, der zwar an der Durchführung des enzyklopädischen
wo kein Punkt dem andern gleich ist und doch Alles zu Projekts beteiligt war, jedoch die strenge Zensur durch
einem Kreise waltet. Wo es anging, hat die Natur die eine der Schlüsselpersönlichkeiten der Encyclopédie
Linie der Richtigkeit mit dem Kreise der Vollkommen- erfahren musste. Einige Jahre nach der Veröffent-
heit umwunden.« (Herder 1778, 103–104; vgl. Tordella lichung sollte mit vollem Recht Diderots Kritik auf
2012, 17–18; Kurbjuhn 2014, 379) L ’Art de peindre. Poëme. Avec des réflexions sur les dif-
férentes parties de la peinture (1760, neue Ausgabe
W. hingegen hatte dieser Figur, dem Kreis, die Geltung 1761) niedergehen, ein Lehrgedicht, das 1764 ins
als Mittel der ästhetischen Erfahrung, Werkzeug des Deutsche übersetzt wurde und seinerseits einen wü-
Ausdrucks und Code einer Sprache des Schönen ab- tenden Angriff auf Molière enthält, den scharfsinni-
gesprochen: gen Dichter und Kunstschriftsteller in La Gloire du
33 Winckelmann und die Kultur der Umrisszeichnung im Neoklassizismus 325

Val-de-Grace. Der erste Gesang, von dem Diderot zer Philosoph und Wissenschaftler 1763 über W.s Er-
schreibt: »Dieser Gesang ist abscheulich, gleich, ob läuterung der in Herculaneum durchgeführten ar-
man ihn von Seiten der Malkunst betrachtet oder als chäologischen Grabungen und über die kritischen Po-
ein Stück Poesie« (»Ce chant est détestable, soit qu’on sitionen von Venuti, Cochin und Bellicard schreibt,
le considère du côté de l’ art de peindre, soit qu’on le und zwar in der Wochenschrift Briefe, die Neueste Lit-
considère comme un morceau de poésie«; Diderot teratur betreffend (Bd. 16, 164–165, 178), die zwischen
1821, X, Salons, III, 249), erweitert, unter Negation ei- 1759 und 1765 von Nicolai, Mendelssohn und Lessing
ner begrifflichen Dimension und aus einem verein- in Berlin herausgegeben wurde (Harloe 2013, 103).
fachten und vereinfachenden Blickwinkel heraus, die In England hingegen beschäftigt sich James Barry
schon von Watelet im Discours préliminaire angekün- (1741–1806) im besonderen Umfeld der Royal Acade-
digte These »Die Zeichnung hat zum Ziel, mit der Li- my, während der Jahre, in denen er, vor seinem trau-
nie die Form zu imitieren, die jeglicher Gegenstand matischen Ausschluss (1799), den Lehrstuhl für Male-
unserem Auge darbietet« (»Le Dessein a pour but rei innehatte, von einem dialektischen Standpunkt aus
d’imiter, par le Trait, / La forme qu’à notre œil présen- mit dem Gegenstand der Zeichnung. Er tut dies in
te chaque objet«; Watelet 1760, 7; Tordella 2012, 119). zwei Lectures, die seinen theoretischen und begriff-
Vor einem nicht weniger trostlos-schulmeisterhaf- lichen Aufbau erforschen. Im abschließenden Teil des
ten kritischen Hintergrund erscheint, noch vor Wate- zweiten Vortrags wird die Idee der Zeichnung als Ter-
let, Jacques Lacombe (1724–1811). Obgleich das Dic- rain entwickelt, auf dem unterschiedliche semantische
tionnaire portatif des Beaux-Arts (1752) des Anwalts und exegetische Bereiche interagieren – auf den Spu-
Lacombe viele Winkel und Aspekte des kaleidoskop- ren der Jahre, die Barry zwischen 1766 und 1770 in
artigen Gegenstands von Kritik und Theorie, wie es Rom verbracht hatte, wo er sich, so wie W., auf das Stu-
offenkundig die Zeichnung ist, im Dunkeln belässt, dium der antiken Künstler und Michelangelos kon-
stellt es unter den »unterschiedlichen Bedeutungen« zentrierte, auch und nicht zufällig unter dem Aspekt
(»différentes acceptions«) ihre Ausführung flach und von »contours, terminations« etc.:
belehrend als einfache »Umschreibung von Gegen-
ständen« (»circonscription des objets«) dar (vgl. Tor- »Thus much may (for the present) be observed upon
della 2012, 5–6): Design, a term which, in its general acceptation, com-
prehends the whole conception or idea expressed in
»Zeichnung. Manchmal wird so die Skizze genannt, die painting and sculpture by the imitation of real or pos-
der Vorstellung von dem Bild entspricht, welches der sible objects, and in its more confined sense, as applied
Maler im Sinn hat; manchmal versteht man darunter to the contours, terminations, or lines by which the
die Studie oder Darstellung nach der Natur einiger Tei- whole and parts of objects are bounded in modelling
le der menschlichen Gestalt, eines Tieres oder eines or drawing.« (Lectures, 1848, 150–151; vgl. Tordella
Faltenwurfs. Zeichnung wird auch für die Umschrei- 2012, 6)
bung von Gegenständen verwendet; für die Maße und
Proportionen äußerer Formen und schließlich als 1799 beschäftigt sich Goethe gemäß einer Richtung,
Nachahmung des Charakters sichtbarer Gegenstän- die den Outline Style als Akt der ›Wegnahme‹ be-
de.« (»Dessein. Quelquefois on appelle ainsi l’ esquisse trachtet, mit Flaxman (»Merkwürdig ists daß diese
qui est comme l’ idée du Tableau que le Peintre médite; Zeichnungen dergestalt ziklisch sind daß sich keine
quelquefois on entend par ce mot l’étude ou la repré- einzige darunter findet die man in einem Gemälde
sentation d’après le naturel de quelques parties de fi- völlig ausgeführt zu sehen wünschte«; Über die Flax-
gure humaine, de quelqu’animal, ou de quelque drape- mannischen Werke, in: Goethe VI,2, 144–145, 1027–
rie. Le Dessein est encore pris pour la circonscription 1028), im selben Jahr, in dem Schlegel die Abhandlung
des objets; pour les mesures & les proportions des for- Über Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxman’s
mes extérieures, enfin pour une imitation du caractère Umrisse verfasst, mit der über die Zeitschrift »Athe-
des objets visibles«; Lacombe 1752, 213) naeum« Flaxmans Kunstphilosophie in die deutsch-
sprachige Welt eingeführt wird; eine durch die geistige
Emblematisch und von nicht geringer Bedeutung ist Meisterschaft des Kupferstechers Tommaso Piroli ver-
die Wertschätzung, die Johann Georg Sulzer für dieses mittelte Philosophie, die sowohl mit den wegbereiten-
Glossar zum Ausdruck bringt, während er W. eher kri- den graphischen Wiedergaben der italienischen Pri-
tisch gegenüber steht. Dies geschieht, als der Schwei- mitiven (Giotto, Masaccio, Ghiberti) verbunden war,
326 IV Rezeption

die der in der Toskana ansässige Engländer Thomas d’Hancarville wirkte: Ein Werk in vier Bänden über
Patch in den 1780er Jahren auf Drucken darstellte, als die antiken Vasen der Sammlung Hamilton, mit Sti-
auch mit den ›Umrissen‹, die Pietro Leone Bombelli chen von Pietro Bracci (Collection of Etruscan, Greek
nach der Transfiguration Raffaels zeichnete, dem 1517 and Roman Antiquities, 1766–1767). Nicht geringer
von Kardinal Giulio de’ Medici für die Kathedrale in war der Einfluss von Johann Heinrich Wilhelm Tisch-
Narbonne in Auftrag gegebenen Gemälde, das sich bein (1752–1829). Der erste der vier Bände (1791) der
heute in der Vatikanischen Pinakothek befindet Collection of engravings from ancient vases [...] now in
(Bombelli 1777). the possession of Sir Wm. Hamilton wurde in Neapel
Flaxmans Ausdruckssprache, ein graphischer herausgegeben, als Flaxman in Italien weilte und zu
Code, der imstande ist, in ebenso trügerischer wie seiner zeitlich konzentrierten, durch Homer inspirier-
verführerischer Unveränderlichkeit die eigene sprach- ten Schaffensperiode ansetzte (Vollkommer 2007;
liche Dimension ständig zu erneuern und zu erwei- Tordella 2012, 62–63). Die griechischen Vasen und die
tern, wird also von Goethe als ›Wegnahme‹ selbst der lineare Reinheit der griechischen Vasenmalerei soll-
Hell-Dunkel-Kontraste betrachtet. In der diagramm- ten in jenen Jahren auch der primäre Grund dafür
artigen Reduktion der Form wirkt der aufklärerische sein, dass die von Pierre-Maurice Quays angeführten
Rationalismus bei Flaxman als Triebkraft von Verein- Barbus gegen den Klassizismus Davids aufbegehrten.
fachung und Synthese. Der Wunsch nach Verein- Im Mittelpunkt der Angelegenheit, die schon nach
fachung (»full resolution to simplify«) liegt auch Flax- kurzer Zeit mit dem frühen Tod Quays’ (1803) ein En-
mans Entscheidung zugrunde, London zu verlassen de fand, standen einige Schüler Davids, die von ihrem
und einige Jahre (1787–1794) Italien, vor allem Rom, Meister im Jahr 1800 des Ateliers verwiesen worden
als Ort seines künstlerischen Wirkens zu wählen. Ein waren, nachdem sie sein Enlèvement des Sabines
Wirken, das eine nicht unbedeutende Inspirations- (1794–1799; Louvre) kritisiert hatten.
quelle in den Vasen der Sammlung Hamilton findet In Flaxman verwirklicht sich mit dem Fehlen von
(Tordella 2012, 55). Indirekt erwähnt Philipp Otto Farbe, Chiaroscuro und Tiefe die radikale Reduktion,
Runge, der eine Zeitlang Schüler eines Schülers (Gerdt die imstande war, die Ausdrucksmittel zu revolutio-
Hardoff) von Giovanni Battista Casanova war, dem nieren, auch auf der Grundlage von W., insbesondere
Lehrmeister W.s, diese Vasen in einem Brief, den er des zweiten Kapitels (Von der Kunst unter den Ägyp-
am 23. August 1800 an seinen Bruder Daniel schreibt, tern, Phönizien und Persen) seiner Geschichte der
nur kurz nach Schlegels im vierten Heft des »Athe- Kunst des Alterthums (1764), in dem sich die Beson-
naeum« erschienenem Aufsatz: derheit der Kunst der Antike genau in der Linie und
im Umriss zeigt:
»Die Flaxman’schen Umrisse – (zur Jlias und zum Ae-
schylus) – dafür danke ich dir mit Thränen. Mein Gott, »In dem älteren Stil hat die Zeichnung des Nackenden
so etwas habe ich doch in meinem Leben nicht gese- deutliche und begreifliche Eigenschaften, welche die-
hen; die Umrisse nach den hetrurischen Vasen, die ich selbe nicht allein von der Zeichnung anderer Völker,
von der Br. habe, fallen doch dagegen ganz weg.« (Run- sondern auch von dem späteren Stil der Ägypter unter-
ge 1840–1841, II, 54; vgl. Tordella 2012, 56) scheiden; und diese finden sich und sind zu bestim-
men so wohl in der Umschreibung des Ganzen der Fi-
Bilder aus reinen Umrissen, und Umriss als von Schel- gur, als in der Zeichnung und Bildung eines jeden
ling in der Philosophie der Kunst (ca. 1802–1803) ent- Theils insbesondere.« (GK2, 65–66)
wickelter Begriff, dort, wo der Umriss (oder die Figur)
gleichwohl Begrenzung der Identität ist. Jonathan Richardson Senior, ein Vorläufer der bild-
Diese abstrahierende, ganz reine, stilisierende Li- lichen Philosophie des Outline Style in der Art Flax-
nie, welche die dritte Dimension scheinbar übersteigt mans und weiterer (»But if the Out-Lines are only
und sie tatsächlich meisterhaft evoziert und dabei den mark’d, this also is Drawing; ’tis living the true Form
Konstruktionsrhythmus der Linearperspektive Bru- of what is pretended to, that is, the Out-Line«), brachte
nelleschis hinter sich lässt, ist im Sinne Flaxmans, seine vielschichtige Definition von Zeichnung auf un-
durch die Anordnung der Figuren und Gegenstände terschiedlichen Gebieten der Interpretation zum Tra-
auf einer einzigen Ebene, wie auf einem antiken Fries gen (Richardson 1725, 144–145).
oder einer Vasenmalerei, eine Linie, auf die außer Wil- Später sollte Matthew Pilkington (1701–1774) ver-
liam Blake sicher das Werk Pierre François Hugues suchen, die zentrale Rolle Richardsons zu schwächen
33 Winckelmann und die Kultur der Umrisszeichnung im Neoklassizismus 327

und die strukturelle Funktion der Zeichnung in einem doli und die Vorstellung von der Architektur als Not-
Passus rezipieren (The Gentleman’s and Connoisseur’s wendigkeit verläuft, einer Vorwegnahme des moder-
Dictionary of Painters [...], 1770; zitiert nach der Aus- nen Begriffs des Funktionalismus.
gabe 1778), in dem Burkes und auch W.s Lehren mit- So steht der Umriss, befreit von jeglicher begriff-
schwangen (Tordella 2012, 39–40): lichen Hülle und in die Sphäre der malerischen Schöp-
fung projiziert, weiterhin und notwendigerweise im
»To acquire a well-founded taste for painting, there are Mittelpunkt von Formulierungen, die zuweilen so
many essential requisites, without it is scarce possible weit gehen, seine Existenz zurückzuweisen, angeregt
to discern the real perfections of a performance. [...] von dem, was Leonardo als Erster geschrieben und in
Another requisite is, to have a competent skill in Draw- Zeichnung und Malerei umsetzt hatte, als er im Sfu-
ing, and a knowledge of Anatomy; that the connois- mato die Grenze der Wahrnehmung zwischen Kör-
seur may form a steady judgment [...] of the elegance pern und Dingen auflöste. Auf den unauslöschlichen
of the contours.« (Pilkington 1778, VIII, IX, X) Spuren W.s oder in völliger oder teilweiser Kontra-
position zu seinem Wort wird dieser ästhetisch-be-
In Italien findet die endgültige Übersiedlung von griffliche Kernpunkt im Laufe des 19. Jh. nicht nur
Francesco Milizia nach Rom im Jahr 1761, wo er in sporadisch wieder auftauchen, auch bei Autoren wie
intensiven, fruchtbaren Kontakt mit W., Mengs und dem Physiologen und Physiker Ernst Wilhelm von
ihren Kreisen tritt, noch vor dem Dizionario delle bel- Brücke (Tordella 2016, 52–55):
le arti del Disegno (1797 und 1827) in der Schrift
Dell’ arte di vedere nelle belle arti del disegno secondo i »Der Contour ist der Träger des subjectiven Elementes
principi di Sulzer e di Mengs Widerhall, die 1781 ge- in der Zeichnung, er ist die Handschrift des Zeichners,
druckt wird, gleichzeitig mit den Principj di architet- und sein Verschwinden in der Neuzeit hängt zusam-
tura civile: men mit dem sterilen Naturalismus ihrer Geschmacks-
richtung.« (Brücke 1866, 293)
»Die Zeichnung ist folglich die Kunst, jedem Gegen-
stand sein wahres Maß und Verhältnis zu geben und Zuweilen bringt dieser Kernpunkt in der Polarität kri-
die Formen mit verschiedenen Konturen zu vollenden, tischer Wortmeldungen Formulierungen von poeti-
um die Haltung und den Ausdruck einer jeden Figur in scher Größe hervor. So geschieht es zum Beispiel bei
jeglichem Falle festzuhalten. Es ist eine enorme Auf- den Symbolisten, hier bei Hugo von Hofmannsthal, in
gabe, da die Natur unendlich viele Spielarten kennt, in dessen Werk sich verschiedene begriffliche Differen-
jeder Figur eine genaue Erscheinung der Verhältnisse zierungen des Themas zeigen, die zuweilen radikal an-
in allen unterschiedlichen Bewegungen, Abständen tidialektisch sind. So in Über Charaktere im Roman
und Ansichten zu bewahren; [...] viel mit wenigen Stri- und im Drama. Ein imaginäres Gespräch (1902), wo
chen auszudrücken, [...].« (»Il disegno è dunque l’ arte di Honoré de Balzac im Gespräch mit dem Orientalisten
dare a ciascun oggetto la sua vera misura e proporzio- Hammer-Purgstall den Maler Frenhofer ins Spiel
ne, e di compire le forme con contorni diversi, per fissa- bringt, den Protagonisten seiner Erzählung Le Chef-
re le attitudini e l’ espressioni di qualsiasi figura in qua- d’œuvre inconnu:
lunque caso. Studio immenso, perché la natura si di-
versifica all’ infinito conservare in ciascuna figura »Er ist der einzige Schüler des Mabuse. Er hat von sei-
un’esatta apparenza di proporzioni in ogni diversità di nem Meister das ungeheure Geheimnis der Form mit-
mosse, di lontananze, di scorci; [...] esprimer molto con bekommen, der wirklichen Form, des aus Licht und
pochi tratti [...]« (Milizia, Dell’ arte di vedere 1781, 49– Schatten modellierten menschlichen Körpers. Er weiß,
50; 1786, 30–31; vgl. Tordella 2012, 28) daß die Kontur nicht existiert.« (Hofmannsthal 1991,
34; vgl. Tordella 2016, 55)
Die unverändert in die 1786 in Genua gedruckte er-
weiterte Ausgabe übernommene Riflessione XV über Quellen
die Zeichnung durchzieht der Geist W.s: »Formen mit Biographische und literarische Skizzen aus dem Leben und
verschiedenen Umrissen vollenden« und »viel mit we- der Zeit Karl Försters. Hg. von Louise Förster. Dresden
1846.
nigen Strichen ausdrücken«. Sie fasst eine weitere Bombelli, Pietro Leone: Contorni dell’ insigne quadro di
Spielart des Neoklassizismus enzyklopädisch-aufklä- Raffaele d’Urbino rappresentante la Trasfigurazione di
rerischer Prägung zusammen, die auch über Carlo Lo-
328 IV Rezeption

Gesù Cristo che esiste in Roma nella chiesa di S. Pietro in Mengs, Anton Raphael: Gedanken über die Schönheit und
Montorio. Lucidati fedelmente dal quadro medesimo [...]. über den Geschmak in der Malerey. Zürich 1762.
Rom 1777. Milizia, Francesco: Dizionario delle belle arti del Disegno.
Bracci, Pietro: Collection of Etruscan, Greek and Roman 2 Bde. Bassano 1797.
Antiquities from the Cabinet of the Honorable W. Hamil- Milizia, Francesco: Principj di architettura civile. 3 Bde. Fi-
ton His Majesty’s Envoy Extraordinary at the Court of Na- nale 1781.
ples. Neapel 1766–1767. Milizia, Francesco: Dell’ arte di vedere nelle belle arti del dis-
Brücke, Ernst: Die Physiologie der Farben für die Zwecke egno secondo i principi di Sulzer e di Mengs. Venedig
der Kunstgewerbe auf Anregung der Direktion des kaiser- 1781 (Zweite Aufl. Genua 1786).
lich Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie. Moritz, Karl Philipp: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Hg.
Leipzig 1866. von Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962.
Dalberg, Karl Theodor von: Perikles. Ueber den Einfluß der Outlines from the figures and compositions upon the Greek,
schönen Künste auf das öffentliche Glück. Aus der franzö- Roman, and Etruscan vases of the late Sir William Hamil-
sischen Urschrift übersetzt von Ch. C. Grafen von Benzel. ton; with engraved borders. Drawn and engraved by the
Gotha 1806. late Mr. Kirk. London 1804.
Diderot, Denis: Lettre sur les aveugles à l’ usage de ceux qui Parent, Antoine: Essais et recherches de mathématique et de
voient. Londres 1749. physique. 3 Bde. Paris 1713.
Diderot, Denis: Pensées sur l’ interpretation de la nature. Pilkington, Matthew: The Gentleman’s and Connoisseur’s
O. O. 1754. Dictionary of Painters [...]. London 1778 (Erste Aufl. Lon-
Diderot, Denis: Œuvres. 21 Bde. Paris 1821. don 1770).
Dürr, Alphons: Adam Friedrich Oeser. Ein Beitrag zur Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinisch-deutsch.
Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1879. Buch XXXV. Hg. und übers. von Roderich König in Zu-
Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, sammenarbeit mit Gerhard Winkler. München 1978.
Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Richardson, Jonathan: An Essay on the Theory of Painting.
Mai, und Junius 1790. In: Werke in vier Bdn. Hg. von Ger- The second edition enlarged and corrected. London 1725.
hardt Steiner. Frankfurt a. M. 1969. Runge, Philipp Otto: Hinterlassene Schriften. Hg. von des-
Füssli, Johann Caspar: Geschichte der besten Maler in der sen ältestem Bruder. 2 Bde. Hamburg 1840–1841.
Schweiz nebst ihren Bildnissen. 5 Bde. Zürich 1769– Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der
1779. Kunst. In: Sämtliche Werke in zwei Abteilungen zu ins-
Geist aus Friedrich Schillers Werken, gesammelt von Chris- gesamt 14 Bänden. Hg. von Karl Friedrich August Schel-
tian Friedrich Michaelis. Nebst einer Vorrede über Schil- ling. Abt.1, Bd. 5. Stuttgart/Augsburg 1859.
ler’s Genie und Verdienst. 2 Bde. Leipzig 1805–1806. Schiller, Friedrich: Gedichte. 2 Bde., Leipzig 1800–1803.
Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen Schlegel, August Wilhelm von: Über Zeichnungen zu Ge-
seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Rich- dichten und John Flaxman’s Umrisse. In: »Athenaeum«.
ter u. a. 24 Bde. München 1985–1998. Zweiten Bandes Zweites Stück. 1799, 193–246.
Goethe, Johann Wolfgang: Winckelmann und sein Jahrhun- Tieck, Ludwig: Franz Sternbald’s Wanderungen. Eine alt-
dert. In Briefen und Aufsätzen. Tübingen 1805. deutsche Geschichte. 2 Bde. Berlin 1798.
Hagedorn, Christian Ludwig von: Betrachtungen über die Tieck, Ludwig: Franz Sternbald’s Wanderungen. Eine alt-
Mahlerey. Leipzig 1762. deutsche Geschichte. Berlin 1843.
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can, Greek and Roman Antiquities from the Cabinet of réflexions sur les différentes parties de la peinture. Paris
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ordinary at the Court of Naples. 4 Bde. Neapel 1766–1767. Winckelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz. Hg.
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über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Trau- Winckelmann, Johann Joachim: Lettere italiane. Hg. von
me. Riga 1778. Giorgio Zampa. Milano 1961.
Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische An-
gabe. Bd XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Forschung
Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1991. Fara, Amelio: L ’arte vinse la natura. Buontalenti e il disegno
Köpke, Rudolf Anastasius: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus di architettura da Michelangelo a Guarini. Firenze 2010.
dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und Kurbjuhn, Charlotte: Kontur. Geschichte einer ästhetischen
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33 Winckelmann und die Kultur der Umrisszeichnung im Neoklassizismus 329

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Tordella, Piera Giovanna: Forme dell’ idea e dialettica inven- Venturi, Lionello: Il gusto dei primitivi. Prefazione di Giulio
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23 September 2008. Mitteilungen des Kunsthistorischen
Institutes in Florenz, Bd. LII (2008), H. 2–3, 109–130. Piera Giovanna Tordella
Aus dem Italienischen von Julia Rader
C Philologie und Altertumswissenschaft

34 Publikationsgeschichte, Überset- Mumie und die Erläuterungen der Gedanken über die
zungen und Editionsgeschichte Nachahmung.
Am 27. Februar 1759 richtet Christian Felix Weiße,
(1755–1834) der die Leitung der Bibliothek der schönen Wissenschaf-
ten und der freyen Künste übernommen hatte, an W.
Winckelmanns Publikationen
die Bitte, er möge an der Zeitschrift mitarbeiten und
Von 1755 bis 1768, d. h. von der ersten edierten Schrift einige Beiträge zum Thema Antike und Kunst einsen-
bis zu seinem Todesjahr, gibt W. insgesamt siebzehn den (Br. IV, 78–79). Der erste Aufsatz aus Rom, der sich
Publikationen in den Druck. Sechs davon sind für in der Korrespondenz des Kunsthistorikers nachwei-
Zeitschriften bestimmte Artikel, elf sind kleinere sen lässt, sind die Anmerkungen über die Baukunst der
Schriften oder Bände. Mit Ausnahme von zweien sind alten Tempel zu Girgenti in Sicilien, die er am 13. Juni
alle anderen Veröffentlichungen in deutscher Sprache, abschickte (Br. II, 5 e IV, 153). Außer dem Artikel über
zum Beweis dafür, dass, wie Johann Gottfried Herder die Architektur der Antiken Tempel in Agrigent lässt
1778 nachdrücklich betont hat, W. »ein Deutscher Weisse in der Bibliothek von 1759 noch vier weitere Es-
[war] und blieb selbst in Rom. Er schrieb seine Schrif- says seines illustren Korrespondenten abdrucken: die
ten auch in Italien Deutsch und für Deutschland« Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst,
(Herder 1963, 31). In seiner Verlagsstrategie blieb er Von der Grazie in Werken der Kunst, die Nachrichten
ebenfalls Deutschland treu: Bis auf die beiden in Ita- von dem berühmten Stoßischen Museo in Florenz und
lien gedruckten Werke – das eine in französischer, das die Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom (KS
andere in italienischer Sprache – ließ er alle übrigen 149–185). Es handelt sich dabei um den wichtigsten
bei deutschen Buchhändlern bzw. Buchdruckern he- Beitrag, den W. je zu einer Zeitschrift leistete und der
rausgeben. Davon wurden ganze sieben Schriften von seinen europaweiten Ruhm begründen sollte.
Georg Conrad Walther ediert, einem der wichtigsten 1760 publiziert der Florentiner Verleger Andrea
Verleger im Deutschland des 18. Jh. Anhand von W.s Bonducci die Description des pierres gravées du feu Ba-
Korrespondenz kann man im Detail seine Verlags- ron de Stosch, das erste Werk W.s, das in Italien heraus-
politik nachvollziehen, die es vor allem darauf anlegte, gegeben wird und das einzige, das er in französischer
seinen Forschungen größere Verbreitung und höheres Sprache verfasst. Es entsteht im Auftrag von Heinrich
Ansehen zu verschaffen. Das erste Werk, das er dru- Wilhelm Muzell-Stosch, dem Neffen und Alleinerben
cken lässt, sind die Gedancken über die Nachahmung der Sammlungen des 1757 verstorbenen Philipp von
der Griechischen Wercke, die anonym bei der Drucke- Stosch. Es ist nicht nur ein Verkaufskatalog von über
rei Christian Heinrich Hagenmüllers in Friedrich- dreitausend antiken Gemmen, Glaspasten sowie anti-
stadt, einem Vorort von Dresden, erscheinen. Trotz ei- ken und modernen Abdrücken, deren geschichtlicher,
ner sehr niedrigen Auflage von nur fünfzig bis sechzig kunsthistorischer und wirtschaftlicher Wert heraus-
Exemplaren, die Pater Leo Rauch, der Beichtvater des gestellt werden soll; wir haben es vielmehr mit einer
Kurfürsten Friedrich August II., finanziert, verhilft theoretischen Schrift zu tun, die in nuce einige herme-
dieses Pamphlet seinem Autor in Deutschland und im neutische Prinzipien erarbeitet, die W. in seinen späte-
restlichen Europa zu beachtlichem Ruhm. Im Jahr da- ren Veröffentlichungen weiterentwickeln wird. Dieser
rauf erscheint eine neue Auflage mit einer leicht ver- weigert sich jedoch zunächst, bei Bonducci zu publi-
änderten Titelschrift, diesmal bei Walther. Ihr werden zieren, da er deutsche Verleger wie Walther, den Leip-
außerdem drei neue Aufsätze beigefügt: das Send- ziger Dyck oder sogar einen römischen vorziehen
schreiben über die Gedanken, die Nachricht von einer würde. Aufgrund der engen Beziehungen, die er zur

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_34, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
34 Publikationsgeschichte, Übersetzungen und Editionsgeschichte (1755–1834) 331

Familie Stosch pflegte, fällt die Wahl schließlich doch der geheimen Weltweißheit vieler Völcker, aus den
auf den Florentiner Buchdrucker. Er hatte nicht nur Denckmählern des Alterthums auf Steinen, Müntzen
1759 den zweiten Katalog der Stosch-Bibliothek he- und Geräthen diejenige sinnliche Figuren und Bilder
rausgegeben, sondern gehörte auch zu jenem kleinen enthält, wodurch allgemeine Begriffe dichterisch ge-
Kreis von Kunst- und Kulturliebhabern, die regel- bildet worden« (KS 57).
mäßig im Haus des Barons verkehrten. Nachdem W. Im Frühjahr 1767 werden die Monumenti antichi
1762 Dyck mit dem Druck der Anmerkungen über die inediti in zwei Bänden bei Nicolò und Marco Pagliari-
Baukunst der Alten, seines bedeutendsten Werkes zur ni in Rom herausgegeben. Im Unterschied zu anderen
antiken Baukunst, beauftragt hatte, lässt er noch im römischen Verlegern wie Venanzio Monaldini und
gleichen Jahr bei Walther das Sendschreiben von den Fausto Amidei hat W. insbesondere Nicolò stets die
Herculanischen Entdeckungen herausgeben. Es han- Freundschaft gehalten und sich sogar solidarisch mit
delt sich um einen kommentierten Führer zu den Al- ihm erklärt, als er Ende 1760 auf Befehl des römischen
tertümern von Herkulaneum, für Reisende gedacht, Gouverneurs verhaftet und ins Inquisitionsgefängnis
die während eines kurzen Neapelaufenthaltes nicht al- gesperrt wird, weil er eine Schrift gegen die Jesuiten
le Kunstschätze mit der höchsten Aufmerksamkeit be- und einige römische Kardinäle verlegt hatte. Obwohl
sichtigen können. W. weiß genau, wie sehr das euro- die Brüder Pagliarini dieses Werk drucken, ist W. in
päische Publikum darauf aus ist, mehr über die Ent- diesem Fall jedoch der Verleger, da er selbst das Vor-
deckungen der antiken Vesuvstädte zu erfahren, die haben finanziert. Im Laufe seines Lebens hat er sich
allerdings nur einem begrenzten Personenkreis des immer wieder mit dem Gedanken getragen, seine
neapolitanischen Hofes zugänglich sind und den aus- Werke im Eigenverlag herauszugeben, obgleich ihm
ländischen Besuchern vorenthalten werden. Ein Jahr diese Rolle nie Glück gebracht hat. Von den 630
später erscheint erneut bei Walther die Abhandlung Druckexemplaren der Monumenti antichi sollte W.
von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der nur einen ganz geringen Teil absetzen können, wes-
Kunst, eine der seltenen Schriften, in denen sich W. halb seine verlegerische Initiative in einem finanziel-
mit philosophischen Fragen auseinandersetzt. Ende len Eklat endete. Wie der Autor selbst eingesteht,
1763 wird, wiederum bei Walther, sein Opus mag- schreibt und publiziert er das Werk auf Italienisch,
num, die Geschichte der Kunst des Alterthums, erschei- um eine breitere Leserschaft zu erreichen als die, die
nen, das Werk, das ihm vor allem postume Berühmt- in den Genuss seiner deutschen Publikationen kam.
heit einbringen wird, da es die Gründerschrift einer Er beabsichtigt, damit in erster Linie den französi-
neuen Disziplin, der Kunstgeschichte, darstellt. Trotz schen und englischen Markt anzusprechen. Zu die-
einer hohen Auflage, die Justi auf 1200 Exemplare sem Zweck sieht er sich, wie auch andere Male, ge-
schätzt (vgl. Justi 1943, II, 490), sind in den Jahren zwungen, einige der strengen Positionen abzumil-
1806 und 1824 die Lagerbestände noch beachtlich dern, die er in früheren Schriften bezogen hatte. Mit
(vgl. Stoll 1960, 23; 88–90). den Monumenti antichi nimmt er die traditionelle
1764 publiziert Walther die Nachrichten von den Gattung der illustrierten Antikensammlungen wie-
neuesten Herculanischen Entdeckungen, die sich, an- der auf, gegen die er in der Vergangenheit eine gewis-
ders als das Sendschreiben von den Herculanischen se Aversion gehegt hatte, weshalb er ihr Format und
Entdeckungen, darauf beschränken, den Leser über die Inhalt der Geschichte der Kunst vorzog. W. scheint
neuesten Ausgrabungen in Herkulaneum und Pom- zwischen diesen beiden oft kontrapunktischen ver-
peji zu unterrichten. Im Jahre 1766 ist es wieder der legerischen Gattungen hin- und herzuschwanken,
Dresdner Verleger, der den Versuch einer Allegorie, be- obwohl sie in einem fruchtbaren Verhältnis zueinan-
sonders für die Kunst veröffentlicht. Dieses Werk be- der stehen. Schließlich publiziert Walther noch im
fasst sich mit dem Thema der Allegorie, das unter den Herbst desselben Jahres die Anmerkungen über die
Gelehrten des 18. Jh. nicht wenige Diskussionen aus- Geschichte der Kunst des Alterthums, das letzte Werk,
löste und das man ohne weiteres der traditionellen das zu Lebzeiten des Autors in Druck geht. Es ist der
Formel des ut pictura poësis zuschreiben kann. Es bil- Notwendigkeit geschuldet, die erste Fassung der Ge-
det übrigens die Krönung eines Plans, den W. schon schichte der Kunst zu erweitern und zu verbessern,
seit 1755, seit der Publikation der Gedanken über die soll aber auch die Pläne des Dresdner Verlegers ver-
Nachahmung, hegte, nämlich, den Lesern ein Werk zu eiteln, der die französische Übersetzung der Ge-
unterbreiten, »welches aus der gantzen Mythologie, schichte der Kunst, die Histoire de l’ Art chez les An-
aus den besten Dichtern alter und neuerer Zeiten, aus ciens (1766), neu auflegen möchte. Die Übersetzung
332 IV Rezeption

stammt von Gottfried Sellius, den W. für ungenau in Rom gedruckt werden sollte –, als einzige konkrete
und unzuverlässig hält. Möglichkeit, eine Überarbeitung des Werkes zu reali-
In den zwölf Monaten vor seinem Tod im Juni 1768 sieren. In einer anderen Sprache als der deutschen zu
in Triest verwendet der Kunsthistoriker seine ganze publizieren, war für W. auch der einzige Weg, wieder
Energie darauf, die verbesserte und erweiterte Neu- die komplette Kontrolle über das verlegerische Schick-
auflage der Geschichte der Kunst zu Ende zu bringen. sal seines Meisterwerks zu erlangen. Dank des Ein-
Leider wird das Werk erst im Jahre 1776 erscheinen. schreitens von Heinrich Wilhelm Muzell-Stosch fin-
Diese neue Auflage stellt von Anfang an ein ziemlich det sich Anfang 1768 ein Übersetzer in Berlin, der mit
unsicheres und problematisches Projekt dar, nicht nur der französischen Fassung der Geschichte der Kunst
wegen der geplanten Ergänzungen und Erweiterun- beauftragt wird: der Pariser Enzyklopädist und
gen, sondern auch wegen der zu verwendenden Spra- Schriftsteller François-Vincent Toussaint, der 1764 in
che. W. schwankt zwischen mehreren Lösungen, die die preußische Hauptstadt übersiedelte und genau zu
nicht von literarischen Kriterien abhängen, sondern Beginn des Jahres 1768 im Begriff war, Christian
eine Frage der Zweckmäßigkeit sind, die mit der Logik Fürchtegott Gellerts Fabeln aus dem Deutschen zu
des damaligen Verlagsmarktes zu tun hat. Zunächst übersetzen.
will W. sein Meisterwerk als natürliche Fortsetzung Mit W.s Tod schien das Projekt der französischen
der ersten Auflage wieder auf Deutsch drucken lassen. Übersetzung am Ende zu sein. Nachdem der kaiserli-
Als jedoch Sellius’ von ihm nicht autorisierte Überset- che Kanzler Wenzel Anton von Kaunitz das Manu-
zung erscheint, wird es für ihn dringend, ein weiteres skript für die Neuauflage der Geschichte der Kunst in
Werk auf Französisch herauszubringen. Und zwar seinen Besitz gebrachte hatte, zeigte er sich fest ent-
nicht so sehr, weil die neue Version sich sprachlich schlossen, es in Wien drucken zu lassen. Da aber der
nicht hinreichend an den Originaltext gehalten hätte, Kardinal Albani der rechtmäßige Erbe sämtlicher Pa-
sondern weil W. die erste Auflage, die als Vorlage für piere W.s war, sah sich der hohe österreichische Beam-
die französische Übersetzung diente, inzwischen als te gezwungen, ihn um die Erlaubnis zu bitten, das in
überholt ansieht. Er zieht sogar konkret in Erwägung, Triest aufgefundene Werk veröffentlichen zu dürfen.
auch eine englische Version herauszugeben und sie Jo- In seinem Antwortschreiben erteilte der römische
hann Heinrich Füssli anzuvertrauen. Schließlich be- Würdenträger Kaunitz die Genehmigung, das Manu-
schließt er, zuerst eine französische und dann eine skript der Storia delle Arti dell’ Antichità zu behalten,
deutsche Fassung zu publizieren. Eine der heikelsten unterrichtete ihn allerdings zugleich über die Absicht
Fragen, die sich W. stellt, betrifft die Wahl des Ver- W.s, das Werk nicht nur auf Deutsch, sondern auch
legers. Die Druckrechte der Geschichte liegen nämlich auf Französisch herauszugeben. Im Sommer 1768 be-
bei dem Verleger Walther, auch wenn der Kunsthis- ginnen die Vorbereitungen für die Veröffentlichung
toriker glaubt, diese umgehen zu können, da das zu der Neuauflage der Geschichte der Kunst. Es handelt
publizierende Werk ein vollständig überarbeiteter sich um eine komplexe und schwierige Arbeit, die erst
Text ist. Er kennt die Mechanismen, die das deutsche nach langen acht Jahren vollendet wurde. Sie gliedert
Verlagswesen regeln, nur zu genau, und das beunru- sich in drei unterschiedliche, aber komplementäre
higt ihn. Infolge der politischen Zergliederung der Phasen. Zunächst schreiben zwei leider anonym ge-
deutschen Staaten können Fälschungen kaum verhin- bliebene Mitglieder der Akademie der bildenden
dert werden, denn das Privileg auf Druckwerke gilt Künste in Wien das Manuskript ab und vergleichen es
nur innerhalb der Grenzen des Staates, der es erteilt mit dem Original. Dann wird der Kontakt zu Tous-
hat. Doch W. weiß sehr wohl, dass die Verleger des saint in Berlin wieder aufgenommen, der nach W.s
Kurfürstentums Sachsen ein viel mächtigeres Privileg Tod abrupt abgebrochen war; er erhält erneut den
besitzen als alle anderen, da die wichtigste deutsche Auftrag, die Geschichte der Kunst ins Französische zu
Buchmesse damals die Ostermesse in Leipzig war. Al- übersetzen. Schließlich wird Friedrich Justus Riedel,
lein dieses Kurfürstentum war in der Lage, die Plage der 1772 aus Erfurt nach Wien kam, mit der Be-
der Piraterie dadurch zu bekämpfen, dass es die Buch- treuung der neuen Auflage betraut, die vor allem aus
drucker sanktionierte, die sich nicht daran hielten. dem Verfassen einer neuen Vorrede besteht. Auf-
Mit der Zeit erweist sich die Idee, die französische grund von Toussaints frühem Tod im Jahre 1772 kann
Version der neuen Geschichte der Kunst zu veröffent- die französische Fassung nicht zu Ende gebracht wer-
lichen – die von einem Übersetzer in Berlin übernom- den. Das unvollständige Manuskript wird nach Wien
men und dann auf Kosten und unter der Leitung W.s geschickt, doch dort sucht niemand nach einem neu-
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en Übersetzer, der die Arbeit fertig stellen könnte. Von ber im Auftrag von Graf de Caylus und Pierre-Jean
diesem Augenblick an war das Vorhaben, eine franzö- Mariette übersetzt hat, herausgegeben wird, schreibt er
sische Version der Geschichte der Kunst zu veröffent- am 10. Oktober 1764 umgehend an seinen Freund Jo-
lichen, endgültig zum Scheitern verurteilt, und die hann Georg Wille und bittet ihn, die bevorstehende
Wiener Behörden waren gezwungen, sich ausschließ- Publikation zu verhindern, damit noch aktuellere Ver-
lich auf die deutsche Neuauflage zu konzentrieren. besserungen und Ergänzungen eingearbeitet werden
Obwohl nach ihrem Erscheinen 1776 viele Kritiker können und er außerdem die Zeit habe, ein Exemplar
beanstandeten, sie sei ungenau, fehlerhaft und nach- der kürzlich erschienenen Nachrichten von den neues-
lässig, wird es in erster Linie diese Schrift sein, die den ten Herculanischen Entdeckungen zu schicken, eine
Kunsthistoriker und sein Opus magnum in übersetz- Schrift, die er für wesentlich bedeutender und voll-
ter oder überarbeiteter Form in den wichtigsten euro- ständiger hält als die vorausgegangene. Die Überset-
päischen Ländern bekannt machen sollte. zung wird jedoch veröffentlicht, ohne dass die franzö-
sischen Verleger die vom Autor geforderten Änderun-
gen berücksichtigen können. Bekanntlich ist dies einer
Frühe Übersetzungen
der Hauptgründe für die Feindseligkeit, die der nea-
Das Problem der Übersetzung von W.s Werken muss politanische Hof, zumindest bis Anfang 1767, gegen-
zwangsläufig aus zwei recht unterschiedlichen Per- über W. an den Tag legte. Eine weitere Übersetzung,
spektiven betrachtet werden. Zum einen haben wir es die der Kunsthistoriker mit allen Mitteln zu hintertrei-
mit den Versionen zu tun, die unabhängig von der di- ben versucht, ist die von Gottfried Sellius ins Französi-
rekten Kontrolle des Kunstgelehrten auf dem europäi- sche übertragene und von dem Franzosen Jean-Baptis-
schen Buchmarkt verlegt werden, zum anderen mit te Robinet herausgegebene Histoire de l’ art chez les an-
Übersetzungen, die er persönlich zu betreuen sucht ciens, die 1766 zugleich in Paris und in Amsterdam er-
oder die er im Nachhinein genehmigt. Da ihm klar ist, scheint. In W.s Zeit, in der die Autorenrechte nicht nur
dass seine auf Deutsch geschriebenen Werke das breite nicht anerkannt, sondern auch regelmäßig von skru-
Publikum nur sehr bedingt erreichten, nimmt sich W. pellosen Verlegern mit Füßen getreten werden, bleibt
immer wieder vor, seine Muttersprache zugunsten ei- dem geschädigten Schriftsteller nichts anderes übrig
ner anderen Sprache aufzugeben, die ihm weitere Ver- als an den Gerechtigkeitssinn eines hohen Staatsbeam-
breitung zusichert. Dieses Vorhaben wird er jedoch nie ten zu appellieren, um die Rechte am eigenen Werk zu
in die Tat umsetzen. Als Schriftsteller sollte er Zeit sei- verteidigen. So wendet sich W. an Antoine-Raymond
nes Lebens der deutschen Sprache treu bleiben. Er de Sartine, »lieutenant général de police« und Direktor
überlegt sich ganz genau, welche Vorteile sich ihm der Librairie und bittet ihn, keine Druckgenehmigung
durch die Publikation in einer anderen Sprache bieten zu erteilen, bis die zur Ergänzung des Textes erforderli-
könnten, erwägt aber auch, wie eine eventuelle Über- chen Anweisungen eintreffen. Aus bis heute unbe-
setzung vom Publikum aufgenommen würde. Aus die- kannten Gründen erzielt dieser Schachzug allerdings
sem Grund bemüht er sich, die Übertragungen seiner nicht die erhoffte Wirkung. Als er am 11. Juli 1766 von
Werke in fremde Sprachen so rigoros wie möglich per- Herzog Louis-Alexandre de La Rochefoucauld ein
sönlich zu betreuen, wobei er auf die Aktualisierung Exemplar der neuen Übersetzung erhält, ist der Kunst-
der zu übersetzenden Texte und auf ihre sprachliche historiker nicht in der Lage, seine Wut und seine Em-
Korrektheit achtet. Wenn er die neu entstehenden Ver- pörung über die schlechte Qualität der Übertragung
sionen jedoch nicht persönlich überprüfen kann, ver- zu zügeln. W.s Reaktion ist nicht nur mit literatur- und
traut er darauf, dass diese Arbeit von dem Übersetzer sprachimmanenten Gründen zu erklären, sondern vor
selbst geleistet wird. Er setzt als selbstverständlich vo- allem mit der Notwendigkeit, den Absatz der im Er-
raus, dass sich zwischen dem Übersetzer und ihm scheinen begriffenen Monumenti antichi inediti nicht
selbst ein echtes Vertrauensverhältnis entwickelt, be- zu gefährden, die insbesondere für den französischen
ruhend auf einer Geistesverwandtschaft und der Tat- und englischen Markt gedacht sind.
sache, dass beide das gleiche Ziel verfolgen. Wenn die- Seine volle Zustimmung findet hingegen die leider
ses stillschweigende Abkommen aus den verschie- heute verlorene Übersetzung, die Toussaint in den ers-
densten Gründen nicht eingehalten oder, noch schlim- ten Monaten des Jahres 1768 nach einer reduzierten,
mer, missbraucht wird, reagiert er wütend und nur partiellen Abschrift der Geschichte der Kunst an-
unbeherrscht. Als er erfährt, dass in Paris bald die Let- fertigt. Wie ein auf den 30. Juli 1768 datierter Brief (Br.
tre sur les découvertes d’Herculanum, die Michael Hu- IV, 303) von Johann Friedrich Reiffenstein an Chris-
334 IV Rezeption

tian Mechel ausdrücklich bezeugt, enthielt ein heute Ein weiteres Element, das bei W.s Einschätzung der
nicht mehr erhaltenes Schreiben, das Muzell-Stosch Übertragungen seiner Werke ins Gewicht fällt, ist die
zuvor an W. gerichtet hatte, eine Probefassung des Person, die für die Übersetzung und daher auch für
französischen Übersetzers, die sich an einem von W. den Übersetzer bürgt. In den Jahren 1755 und 1756
nach Berlin geschickten Text orientierte. Der Kunst- erscheint in der Zeitschrift »Nouvelle Bibliothèque
historiker bestätigt Toussaint den Auftrag genau des- Germanique«, die der Berliner Akademie der Wis-
halb, weil er die partielle Übertragung seines Werks senschaften und der Gruppe der preußischen Refuge-
für gut befunden hatte. Vermutlich bewegen ein schon Hugenotten nahesteht, in zwei Folgen eine gekürzte
existierender Vertrag und die Tatsache, dass der Pari- Version der Gedancken über die Nachahmung, die
ser Enzyklopädist bereits an der Übersetzung der Ge- Winckelmann Johann Georg Sulzer zuschreibt (Br. I,
schichte der Kunst gearbeitet hatte, die österreichi- 180). Als Johann Georg Wille 1755 von seinem Ma-
schen Behörden dazu, Toussaint mit der Vollendung lerfreund Wilhelm Ernst Dietrich aus Dresden ein
des Werkes zu beauftragen. Exemplar der Zeitschrift erhält, beschließt er in völ-
Es ist freilich nicht immer einfach, W.s wirkliche liger Autonomie, das Werk ins Französische überset-
Beurteilung der Übersetzungen einzuschätzen, zu de- zen zu lassen, um es dann in der angesehenen Pariser
nen er mehr oder weniger direkt sein Placet gegeben Zeitschrift »Journal étranger« zu veröffentlichen.
hatte. Hier spielen viele Faktoren mit: auf der einen Diese neue Version wird, unter der direkten Aufsicht
Seite sprachliche, philologische oder kulturelle Aspek- Willes, Emanuel Jakob Wächtler anvertraut. Als die
te, auf der anderen Beziehungen zu bestimmten Per- Publikation der neuen Übersetzung angekündigt
sonen oder politischen bzw. kulturellen Institutionen. wird, erklärt sich W. voll und ganz einverstanden da-
Nicht selten ist auch die Person des Übersetzers von mit. Am 27. Januar 1756 gesteht er dem Kupferste-
Belang, wobei für den Kunsthistoriker Ansehen oder cher: »Von meiner Schrift sollte ich nicht reden; allein
Vertrautheit eine weitaus größere Empfehlung sind als die Danckbarkeit, meine höchste Pflicht, erinnert
Fachkompetenzen. Die Publikation der 1765 in Lon- mich, dem würdigen Patrioten, der sie in einer All-
don gedruckten englischen Version Reflections on the gemeinen Sprache bekannt macht, meine Erkennt-
Painting and the Sculpture of the Greeks, die Johann lichkeit, die ich fühle, zu bezeugen« (Br. I, 199). Diese
Heinrich Füssli besorgt hatte, stößt bei W. auf großen Übersetzung weist allerdings verschiedene Ungenau-
Anklang. Der Übersetzer, ein berühmter Schweizer igkeiten auf. Aus unerklärlichen Gründen wird ins-
Künstler und Schriftsteller, ist der Sohn von Johann besondere der Teil zu Michelangelos Bildhauerkunst
Caspar Füssli, einem Freund und langjährigen Brief- zunächst auf Veranlassung des Direktors der Zeit-
partner W. s. Am 8. Juli 1767 berichtet letzterer dem schrift, Élie-Catherine Fréron, weggelassen. Infolge
Grafen Johann Karl Philipp von Cobenzl, Füssli habe von Protesten aus der Leserschaft wird das Kapitel
»sehr gut ins Englische übersetzt (»fort bien traduit en über den berühmten italienischen Bildhauer dann
Anglois«; Br. III, 283). Trotzdem ist offensichtlich, doch in der Maiausgabe derselben Zeitschrift ver-
dass der Übersetzer in einigen Fällen W.s facettenrei- öffentlicht. Die Übertragung der Gedanken über die
che und komplexe Sprache forciert, um sie dem ein- Nachahmung folgt nicht immer dem Wortsinn;
fachen und prägnanten Wortschatz der englischen manchmal ersetzen Paraphrasen eine wirkliche Über-
Prosa anzupassen. Bezeichnend ist in diesem Zusam- setzung. W.s Ausführungen werden in der dritten
menhang z. B. die Übersetzung des berühmt geworde- Person wiedergegeben, ein Detail, das seine leiden-
nen Passus der Gedanken über die Nachahmung: »Das schaftliche, mitreißende Prosa verfälscht. Insgesamt
allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen enthält die Übersetzung diverse sprachliche Verein-
Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine fachungen und Interpretationen, die die Gedanken
stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck« des Autors verzerren. Zum Beispiel wird die bekannte
(Gedanken2, 21) wird zu »The last and most eminent Stelle »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der
characteristic of the Greek works is a noble simplicity griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Ein-
and sedate grandeur in Gesture and Expression« falt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als
(Winckelmann 1765, 30). »Stille Größe« mit »sedate im Ausdruck« (Gedanken2, 21) wiedergegeben mit:
grandeur« wiederzugeben, heißt in der Tat, die Poly- »Une noble simplicité & une grandeur tranquille, tant
semie des deutschen Adjektives »still« völlig zu miss- dans les attitudes que dans les expressions, font sur-
achten, das zwar ›ruhig‹ bedeutet, aber gleichermaßen tout le caractère général & distinctif des chef-d’œuv-
auch ›bewegungslos‹, ›schweigsam‹ und ›leise‹. res des Grecs« (Winckelmann 1756, 130).
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Nach dem Tod W.s im Juni 1768 verfolgen die ner ganzen Reihe von wesentlich weniger bekannten
Übersetzungskampagnen seiner Werke völlig andere Schriften wie den Remarques sur l’ architecture des an-
Strategien. Die französischen und italienischen Ver- ciens (1783), dem Recueil de lettres de Mr Winckel-
sionen tragen am meisten dazu bei, die Lehre des mann sur les découvertes faites à Herculanum (1784)
Kunsthistorikers in ganz Europa zu verbreiten. Hinter und dem Recueil de différentes pièces sur les arts (1786),
beiden stehen ganz unterschiedliche verlegerische wo neben den vier Texten der zweiten Auflage der Ge-
und kulturelle Zielvorstellungen. Die Übersetzungen danken über die Nachahmung (1756) auch die Ab-
ins Französische stammen von nichtfranzösischen handlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schö-
Intellektuellen, die die Sprache jenseits des Rheins nen in der Kunst und der Aufsatz Von der Grazie in
perfekt beherrschen. Ende des 18. und Anfang des Werken der Kunst versammelt sind. 1798 kündigt Jan-
19. Jh. sind W.s Hauptübersetzer der Deutsche Mi- sen im »Journal des Savants« die Publikation von W.s
chael Huber und der Niederländer Hendrik Jansen. Gesamtwerk in sieben großen und reich illustrierten
Der erste publiziert 1781 in Leipzig die dreibändige Quartbänden an. Von diesem ambitiösen Unterneh-
Ausgabe der Histoire de l’ Art de l’ Antiquité. Die Über- men werden freilich nur die Übersetzung der Histoire
setzung war im Rahmen eines Projektes entstanden, de l’ art chez les anciens (1794–1803) und der Abhand-
das vermutlich auf das Jahr 1766 zurückgeht, als die lung De l’ Allégorie, ou Traités sur cette matière (1799)
Übertragung von Sellius und Robinet erschienen war. fertig gestellt. Zweifellos wird dieses Vorhaben von
Huber hatte lange über die Fehler in der ersten Ver- den geschichtlichen Ereignissen begünstigt, die über
sion der Histoire de l’ art chez les anciens nachgedacht, das letzte Jahrzehnt des 18. Jh. hereinbrechen. W. wird
muss aber das Jahr 1778 abwarten, bis er endlich ei- zu einem der »offiziellen« Autoren der französischen
nen deutschen Verleger findet, der bereit ist, eine Revolution, da er in der Geschichte der Kunst nach-
neue Übersetzung von W.s Meisterwerks herauszuge- drücklich das enge Band zwischen Kunst und Freiheit
ben. Diese beruht jedoch auf einem recht ungewöhn- unterstrichen hatte. Wie schon im klassischen Grie-
lichen Originaltext. Huber, der von der Wiener Neu- chenland sollte das neue Frankreich seinen Bürgern
auflage der Geschichte der Kunst tief enttäuscht war, volle Freiheit gewähren und somit in der Lage sein, so-
kombiniert die deutsche Originalausgabe mit den wohl politisch als auch künstlerisch den absoluten
Anmerkungen über die Geschichte der Kunst. Da er Höhepunkt seiner Entwicklung zu erreichen.
sich für W.s Testamentsvollstrecker hält, fühlt er sich Die Übersetzungen ins Italienische bilden ein ganz
dazu berechtigt, wichtige Streichungen an der ur- besonderes Kapitel in der Geschichte des europäi-
sprünglich publizierten Schrift vorzunehmen. Der schen »Transfers« von W.s Werk. In Italien erscheinen
Teil zur griechischen Kunst wird z. B. von acht auf zwei verschiedene Übersetzungen der Storia delle Arti
vier Sektionen verkürzt. Außerdem werden Betrach- del Disegno presso gli Antichi, zuerst 1779 die von Car-
tungen zu den Proportionen, zur zeichnerischen Ge- lo Amoretti betreute in Mailand und dann 1783–1786
staltung der Faltenwürfe sowie zur Schönheit von Tei- die unter der Leitung von Carlo Fea herausgegebene.
len des menschlichen Körpers hinzugefügt. Trotz des Obgleich sie sich beide strikt an die Wiener Auflage
recht kontroversen textkritischen Ansatzes beschließt der Geschichte der Kunst halten, die als die letzte ver-
der Pariser Buchhändler Barrois 1789, Hubers Ver- besserte Fassung von W.s historiographischem Meis-
sion zu veröffentlichen. terwerk gilt, verfolgen sie ganz unterschiedliche kul-
Der zweite ausländische Übersetzer, der ungemein turelle und verlegerische Ziele. Amoretti liefert eine
zur Verbreitung von W.s Werken unter den franzö- Übersetzung, die auf ausdrücklichen Wunsch der ös-
sischsprachigen Lesern beiträgt, ist der Niederländer terreichischen Behörden primär den Zweck erfüllen
Jansen. 1781 gibt er bei dem Verleger Coutrier die Let- soll, die missglückte Neuauflage von 1776 wettzuma-
tres familières de Mr Winckelmann heraus. Die Brief- chen. Fea versucht stattdessen, mit der neuen italie-
prosa ist nicht nur einfacher zu übersetzen, sondern nischen Ausgabe die Tradition der römischen Alter-
erleichtert auch die Auseinandersetzung des französi- tumswissenschaften zu verteidigen, deren illustre Ver-
schen Publikums mit der vielschichtigen Persönlich- treter W. und er selbst sind. Während Mailand eines
keit des deutschen Gelehrten. 1783 macht sich Jansen der wichtigsten Zentren für die Verbreitung der deut-
im Auftrag des bekannten Pariser Buchhändlers Bar- schen Literatur in Italien ist, bleibt Rom unbestritten
rois an das anspruchsvolle Projekt, W.s Gesamtwerk die europäische Heimat der klassische Antike und der
zu übersetzen. Statt mit dem berühmtesten Werk, der Schönen Künste. Im Unterschied zu den französi-
Geschichte der Kunst, zu beginnen, widmet er sich ei- schen Ausgaben sind an den italienischen ganze Ar-
336 IV Rezeption

beitsgruppen beteiligt, die aus dem Übersetzer und überantwortet. Die gemeinsame Absicht der Überset-
mehreren Mitarbeitern bestehen und sich vor allem zer ist es, zu beweisen, dass die italienischen Gelehr-
um Revision und Ergänzung des paratextuellen Appa- ten, auch dank der gebührend berichtigten und ver-
rats kümmern. Amoretti übernimmt die Überset- besserten Storia delle Arti del Disegno presso gli Anti-
zung, während Angelo Fumagalli und Carlo Giovanni chi, es durchaus mit denen der wichtigsten europäi-
Venini die Anmerkungen vorbereiten und nach schen Länder aufnehmen können.
Zeichnungen für die Denkmäler suchen, um das Bild-
material der Geschichte der Kunst zu bereichern. Bei
Werkausgaben des beginnenden
der Verbesserung der Mailänder Edition steht Fea
19. Jahrhunderts
wiederum ein beachtlicher Stab von angesehenen und
qualifizierten deutschen und ausländischen Mitarbei- Nach den Projekten der Franzosen und Italiener, die
tern wie José Nicolás de Azara, Johann Friedrich Reif- aber nur einen Teil von W.s Schriften edierten, über-
fenstein, Ennio Quirino Visconti, Luigi Lanzi, Gaeta- nimmt es Anfang des 19. Jh. die deutsche Verlagswelt,
no Marini, Léon Dufourny, Jean-Baptiste Seroux sein Gesamtwerk zu publizieren. So wird auch der
d’Agincourt und Anton von Maron zur Seite. Reiffen- Merkwürdigkeit ein Ende bereitet, dass ein mittler-
stein hilft dem italienischen Herausgeber überwie- weile klassisch gewordener Autor der deutschen Lite-
gend dabei, Amorettis frühere Übersetzung zu über- ratur sogar innerhalb der deutschen Landesgrenzen
prüfen und zu berichtigen. Trotz der so unterschiedli- eher in Übersetzung als im Original gelesen wird.
chen Absichten lassen die beiden Versionen doch Hinzu kommt, dass W. und sein Werk nach 1770 zur
auch mehrere Berührungspunkte erkennen. Bei- Zielscheibe beißender Kritik von Seiten erstrangiger
spielsweise sind sowohl Amoretti als auch Fea der An- Altertumsforscher wie Heyne oder Friedrich August
sicht, dass die Textstruktur der neuen Edition zu einer Wolf wird. Von 1815 bis 1825 erscheinen in Dresden
Stabilität und Kohärenz finden müsse, die W. dem ei- und Berlin die elf Bände von Winckelmann’s Werken,
genen Werk nicht hatte verleihen können. De facto die Carl Ludwig Fernow, Johann Heinrich Meyer, Jo-
setzen die beiden italienischen Editionen aber dem hann Karl Hartwig Schulze und Friedrich Christoph
Prozess ein Ende, für den W. die Originalversion kon- Förster herausgeben. Die ersten drei sind enge Mit-
zipiert hatte: Er verstand das Werk als grundsätzlich arbeiter von Johann Wolfgang Goethe in Weimar, des-
unabgeschlossen; so war es ihm möglich, immer wie- sen 1805 veröffentlichter Sammelband Winckelmann
der Erweiterungen und Verbesserungen anzubringen. und sein Jahrhundert die theoretische Grundlage für
Gleichzeitig sind beide, Amoretti und Fea, auch der die neue Edition bildet. Die Werke verfolgen ganz of-
Überzeugung, dass W.s Text erst nach einer metho- fensichtlich das Ziel, den Hauptvertreter des deut-
disch rigorosen kritischen Prüfung herausgebracht schen Philhellenismus zu rehabilitieren, dessen Werk
werden dürfe. Da sie außerdem beide den fortschritt- den ersten Höhepunkt des deutschen Klassizismus
lichen Ideen ihrer Epoche anhängen, sind sie bemüht, markiert. Um gerade diesem Aspekt besondere Gel-
den deutschen Gelehrten als typischen Vertreter der tung zu verschaffen, werden sämtliche Schriften W.s
Aufklärung zu präsentieren. Wo die Übersetzer je- den gleichen verlegerischen und philologischen Re-
doch zu der Ansicht kommen, W. entferne sich zu sehr geln unterworfen, die gewöhnlich für die antiken Au-
von einer entschieden aufklärerischen Haltung, spie- toren gelten. Mit einem üppigen kritischen Apparat
geln sich ihre scharfen Urteile in den Anmerkungen versehen, haben sie ein handliches Format, das sich
wider. Amoretti und Fea schlagen sich auf die Seite der für den schulischen Gebrauch eignet. Darüber hinaus
Kritik, die Christian Gottlob Heyne an einigen der wird durch die Auswahl der Texte ein Kanon für das
theoretischen und methodologischen Kernfragen der Korpus von W.s Werken festgelegt. Ausgeschlossen
Geschichte der Kunst geübt hatte; in intellektuellem werden z. B. ein Großteil der Monumenti antichi inedi-
Gleichklang heben sie genau diese Probleme in den ti und die gesamte Description des pierres gravées, also
kritischen Apparaten ihrer jeweiligen Übersetzungen die nicht in deutscher Sprache verfassten Schriften,
hervor. Überdies halten sie W.s Lehrmeinungen für zu die noch eher der antiquarischen Gelehrsamkeit ver-
abstrakt und unsolide, fechten seine These an, nach pflichtet sind. Auf der einen Seite wollen Fernow und
der die Freiheit die Hauptquelle für die Überlegenheit Meyer nachweisen, dass W. die pedantische Gelehr-
der griechischen Kunst sei und unterstreichen seine tenkultur völlig fremd war, auf der anderen überset-
unklare Position hinsichtlich der neuen Aufgaben, wie zen sie den die Monumenti antichi inediti einleitenden
die moderne Wissenschaft sie dem Altertumsforscher Trattato preliminare ins Deutsche, weil sie den Autor
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des Ideal-Schönen rühmen möchten. Da sie sich der Vorzüge; sie war von jeher rar; es ist in den übrigen
vielen philologischen und kunsthistorischen Fehler Werken des Autors oftmal auf sie verwiesen und sie
bewusst sind, die ihrem berühmten Landsmann vor besizt allem andern ungeachtet gewisse Früchte der
allem in der Geschichte der Kunst unterlaufen waren, Lectüre und Beobachtung, die man sonst nirgends fin-
verspüren sie das Bedürfnis, diese durch einen umfas- det: weßhalb ich denn auch nicht angestanden habe,
senden kritischen Apparat zu korrigieren. Der Tod der Vollständigkeit und Seltenheit wegen dieses Stük
Fernows im Jahre 1808 zwingt Meyer, die gesamte zu übersezen und, in einen engen Raum gebannt, die-
Verantwortung für die neue Auflage zu übernehmen. ser Sammlung einzuverleiben.« (Eiselein IX, 272)
Wenn es gilt, W.s Ungenauigkeiten aufzuzeigen, ver-
fährt er jedoch mit großer Vorsicht. Er beschränkt Was dagegen die Geschichte der Kunst betrifft, be-
sich darauf, neue Informationen einzuarbeiten, ver- schließt Eiselein, die von Meyer publizierte Ausgabe
meidet es aber, ausdrücklich auf W.s Fehler einzuge- neu drucken zu lassen. Bei der Leserschaft wird so der
hen; statt sie zu verbessern, zieht er es vor, sie neu zu Eindruck bestärkt, statt der nunmehr überholten und
formulieren. Bei der Arbeit an der neuen Edition legt unzuverlässigen ersten Auflage von 1764 oder der
er die erste sowie die postume Fassung der Geschichte zweiten von 1776 von W.s Opus magnum müsse man
der Kunst und die Anmerkungen über die Geschichte sich nun der neuen Edition bedienen, in der die an-
der Kunst zugrunde. Wie Huber kürzt er die drei gebliche Inkonsequenz des Autors dank der sachver-
Quellentexte und fügt sie neu zusammen bzw. ver- ständigen Eingriffe der postumen Herausgeber be-
mischt sie, ohne dass dem Leser klar ist, auf welche hoben sei.
Ausgabe er sich wirklich bezieht. Auch er fühlt sich Schließlich drucken die Verleger Giachetti in Prato
von einer mehr geistigen als philologischen Mission von 1830 bis 1834 W.s Opere in zwölf Bänden. Die
beseelt; denn er glaubt, seine Edition sei so, wie »Win- Idee zu diesem verlegerischen Vorhaben stammt ur-
ckelmann selbst würde verfahren haben, wenn ihn sprünglich von dem Kunstschriftsteller Stefano Ti-
nicht ein grausames Schicksal an der Vollendung ei- cozzi, der am 17. Februar 1824 an Vincenzo Giachetti,
ner Arbeit verhindert hätte, welche noch in den letz- den Gründer der toskanischen Druckerei, schreibt:
ten Augenblicken des Lebens seine ganze Seele füllte« »Und warum, Signor Vincenzo, statt das partielle und
(WA III, 3). in vielen Teilen unvollkommene Werk von d’Agin-
Von 1825 bis 1829 gibt Joseph Eiselein in Donau- court zu drucken, bringt Ihr sie nicht alle zusammen
eschingen die zwölf Bände von Johann Winckelmanns heraus, die Kunstgeschichten W.s, d’Agincourts, Ci-
sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe heraus. cognaras und Lanzis?« (vgl. Ticozzi 1824). Doch die
Diese Werkausgabe strebt entschieden nach einer Verleger aus Prato drucken nicht nur die Storia delle
größeren Vollständigkeit als Winckelmann’s Werke arti del disegno presso gli antichi, sondern lassen sich
von Fernow, Meyer, Schulze und Förster. Zum Bei- auf ein noch viel ehrgeizigeres und kostspieligeres
spiel werden die Schriften wieder eingefügt, die in der Unternehmen ein: Sie geben die Übersetzung aller
vorhergehenden Edition zum Teil oder ganz gestri- Schriften des deutschen Kunsthistorikers heraus, ein-
chen worden waren, wie die erste vollständige deut- schließlich der Descrizione delle pietre incise del gabi-
sche Übersetzung der Denkmale der Kunst des Alter- netto del Barone di Stosch, wobei sie sich auf Eiseleins
tums und die gekürzte der Beschreibung der geschnit- Sämtliche Werke stützen. Wie alle anderen Titel der
tenen Steine des seligen Baron Stosch. Letztere trifft Druckerei erscheinen auch W.s Opere ohne Angabe
auch heute noch auf erhebliche Vorbehalte, die der der Übersetzer und Herausgeber. Doch wissen wir
verbreiteten Ansicht geschuldet sind, W. dürfe nicht zumindest, dass sie der gemeinsamen Arbeit von Gio-
mit pedantischer Gelehrsamkeit assoziiert werden, vacchino Benini und Ferdinando Baldanzi zu verdan-
sondern nur mit solchen Werken, in denen sich sein ken sind. Im Unterschied zur deutschen Edition, wo
raffinierter Interpretationsgeschmack zeigt. Der He- alle Schriften W.s in chronologischer Ordnung publi-
rausgeber schreibt: ziert werden, gibt die Ausgabe aus Prato dem Werk
den Vorrang, das schon seit dem 18. Jh. als der reprä-
»Diese Arbeit Winckelmanns ist zwar am wenigsten sentativste Text der gesamten literarischen Produkti-
eine Schrift, worin der Verfasser nebst seiner Gelehr- on des Autors aus Stendal galt, nämlich der Storia del-
samkeit auch seinen Geschmak in der Darstellung an le arti del disegno. Eine weitere Abweichung von Eise-
Tag legen könnte; allein sie hat dennoch immer, wenn leins Sämtlichen Werken stellt der Band XI (1832) dar,
man sie neben andere ähnliche Verzeichnisse hält, ihre in dem die Aggiunte alla Storia dell’ Arte versammelt
338 IV Rezeption

sind. Es handelt sich um eine Anthologie mit Beiträ- Winckelmann, Johann Joachim : Histoire de l’ art chez les
gen von Heyne, Gotthold Ephraim Lessing, Fea, anciens. Paris 1794–1803.
Christian Bernhard Rode und Andreas Riem sowie Winckelmann, Johann Joachim: De l’ Allégorie, ou Traités
sur cette matière. Paris 1799.
Antoine Chrysostome Quatremère de Quincy, die ein Winckelmann, Johann Joachim: Werke, Dresden-Berlin
aktuelles Bild von den altertumswissenschaftlichen 1808–1825.
Studien der fünfzig vorausgegangenen Jahre vermit- Winckelmann, Johann Joachim: Sämtliche Werke. Einzige
teln. Jedenfalls ist die Ausgabe von Prato bis heute die vollständige Ausgabe. Donaueschingen 1825–1829.
einzige vollständige Edition von W.s Schriften, die au- Winckelmann, Johann Joachim: Opere. Prato 1830–1834.
Winckelmann. Pensieri sull’ Imitazione. Hg. von Michele
ßerhalb Deutschlands aufgelegt wurde. Das zeugt si-
Cometa. Palermo 1992.
cher von dem tiefen Band, das die Kulturen der beiden
Länder im Namen des Vaters der modernen Kunst-
Forschung
geschichte verbindet. Die Giachetti-Ausgabe verdient, Allentuck, Marcia: Fuseli’s Translation of Winckelmann. A
so der italienische Germanist Michele Cometa, »we- Phase in the Rise of British Hellenism with an aside on
gen ihrer Vollständigkeit und vor allem wegen der William Blake. In: Brissenden, Robert Francis (Hg.): Stu-
philologischen Präzision der Texte und der Kommen- dies in the Eighteenth Century II: papers presented at the
tare sowie der Übersetzung eine herausragende Rolle second David Nichol Smith Memorial Seminar, Canberra
1970. Toronto 1973, 163–185.
nicht nur unter den W.-Ausgaben, sondern ist eine der Allroggen-Bedel, Agnes: Die Monumenti inediti: Winckel-
geglücktesten deutsch-italienischen Übersetzungen manns »großes italienisches Werk«. In: Altertumskunde
überhaupt« (Winckelmann 1993, 146). im 18. Jahrhundert. Wechselwirkungen zwischen Italien
und Deutschland. Stendal 2000, 89–105.
Quellen Auf der Heyde, Alexander; Steindl, Barbara: Leopoldo Cico-
Goethe, Johann Wolfgang: Winckelmann und sein Jahrhun- gnara, i fratelli Giachetti e l’ editoria storico-artistica a Pra-
dert. Tübingen 1805. to (1822–35). In: Winckelmann, Firenze e gli Etruschi. Il
Herder, Johann Gottfried: Die Lobschrift. In: Schulz, Arthur padre dell’ archeologia in Toscana. Catalogo della mostra.
(Hg.): Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann. Berlin Firenze, Museo Archeologico Nazionale 26 maggio 2016–
1963, 31–62. 30 gennaio 2017. Pisa 2016, 289–299.
Jansen, Hendrik: Œuvres complettes de Winkelmann. In: Baumgartner, Marcel: »Gewillet, ein ganz anderes Werk aus
Journal des Savants (1789), 57–60. derselben zu machen«. Zur Entstehungs- und Editions-
Ticozzi, Stefano: Lettera a Vincenzo Giachetti, 17 febbraio geschichte von Johann Joachim Winckelmanns Geschich-
1824. In: Modena, Biblioteca Estense, Autografoteca Cam- te der Kunst des Alterthums, 1755–1825. In: Griener, Pas-
pori. cal/Imesch, Kornelia (Hg.): Klassizismen und Kosmopoli-
Winckelmann, Johann Joachim: Reflexions sur l’ imitation tismus. Programm oder Problem? Austausch in Kunst
des ouvrages des Grecs, en fait de Peinture et de Sculpture. und Kunsttheorie im 18. Jahrhundert. Zürich 2004, 59–88.
In: Journal étranger (1756), 104–163. Décultot, Élisabeth: Untersuchungen zu Winckelmanns Ex-
Winckelmann, Johann Joachim: Lettre de M. l’ Abbé Win- zerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunst-
ckelmann à Monsieur le Comte de Brühl sur les découver- geschichte im 18. Jahrhundert. Ruhpolding 2004.
tes d’Herculanum. Paris 1764. Décultot, Élisabeth: Constructions éditoriales d’un mythe.
Winckelmann, Johann Joachim: Reflections on the Painting L ’élaboration des Winckelmann’s Werke à Weimar (1808–
and Sculpture of the Greeks. London 1765. 1820). In: Revue Germanique Internationale 1–2 (2005),
Winckelmann, Johann Joachim: Histoire de l’ Art chez les 23–34.
Anciens. Paris 1766. Décultot, Élisabeth: Genèse d’une histoire de l’ art par les
Winckelmann, Johann Joachim: Storia delle Arti del Di- images. Les recueils d’antiquités et la naissance du dis-
segno presso gli Antichi. Mailand 1779. cours historique sur l’ art, 1600–1800. In: Décultot, Élisa-
Winckelmann, Johann Joachim: Histoire de l’ Art de l’ Anti- beth (Hg.): Musées de papier. L ’Antiquité en livres 1600–
quité. Leipzig 1781. 1800. Paris 2010, 24–35.
Winckelmann, Johann Joachim: Lettres familières de Mr Décultot, Élisabeth: Eine Geschichte der antiken Kunst im
Winckelmann. Amsterdam/Paris 1781. Kleinen. Zu Johann Joachim Winckelmanns »Description
Winckelmann, Johann Joachim: Remarques sur l’ architectu- des Pierres Gravées du feu Baron de Stosch«. In: Antike
re des anciens. Paris 1783. und Abendland 58 (2012), 167–188.
Winckelmann, Johann Joachim: Storia delle Arti del Di- Décultot, Élisabeth: Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und
segno presso gli Antichi. Rom 1783–1784. Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahr-
Winckelmann, Johann Joachim: Recueil de lettres de Mr hunderts. Berlin 2014.
Winckelmann sur les découvertes faites à Herculanum. Espagne, Michel: Le creuset allemand. Histoire intercultu-
Paris 1784. relle de la Saxe (XVIIIe–XIXe siècles). Paris 2000.
Winckelmann, Johann Joachim: Recueil de différentes piè- Ferrari, Stefano: L ’eredità culturale di Winckelmann: Carlo
ces sur les arts. Paris 1786. Fea e la seconda edizione della »Storia delle Arti del Dise-
35 Winckelmann in der Altertumskunde: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsinstitutionen 339

gno presso gli Antichi«. In: Roma moderna e contempo- 35 Winckelmann in der Altertums-
ranea X, 1–2 (2002), 15–48.
Ferrari, Stefano: Carlo Amoretti e la »Storia delle Arti del
kunde: Wissenschaftsgeschichte
Disegno« (1779) di Winckelmann. In: Cantarutti, Giulia/ und Wissenschaftsinstitutionen
Ferrari, Stefano (Hg.): Paesaggi europei del Neoclassici-
smo. Bologna 2007, 191–212.
Ferrari, Stefano: Il piacere di tradurre. François-Vincent Die Wirkung W.s auf die Altertumskunde, insbesonde-
Toussaint e la versione incompiuta dell’ »Histoire de l’ art re die Wissenschaft von den antiken Denkmälern, also
chez les anciens« di Winckelmann. Rovereto 2011. die (Klassische) Archäologie, war grundlegend, inter-
Fontius, Martin: Voltaire in Berlin. Zur Geschichte der bei
national und andauernd (Borbein 1986; Bruer 1994).
G. C. Walther veröffentlichten Werke Voltaires. Berlin
1966. Sie setzte mit dem Erscheinen von W.s Hauptwerken
Griener, Pascal: La nécessité de Winckelmann: Hendrik Jan- ein und führte fast sofort zu einer Revolution der anti-
sen (1741–1812) et la littérature artistique à la fin du quarischen Studien. Was an W.s Einzelinterpretatio-
XVIIIème siècle. In: Entretiens de la Garenne Lemot. nen zeitbedingt war und sich vor allem auf eine relativ
Winckelmann et le retour à l’ antique. Actes du Colloque 9 beschränkte Materialbasis stützte, bot zwar Anlass zu
au 12 juin 1994. Nantes 1995, 111–126.
Griener, Pascal: L ’esthétique de la traduction. Winckel-
fortdauernder Polemik, doch mit dem Zuwachs an
mann, les langues et l’ histoire de l’ art (1755–1784). Genf faktischem Wissen sowie den sich ändernden Voraus-
1998. setzungen und Zielen einer selbstbewusst gewordenen
Justi, Carl: Winckelmann und seine Zeitgenossen. Leipzig Forschung verlor solche Polemik zunehmend an Be-
1943. deutung. Unabhängig von W.s Rolle für die Fachwis-
Kunze, Max: Winckelmann und seine Editoren. In: Dum-
senschaft – er gilt als Gründerheros der Klassischen
mer, Jürgen (Hg.): Johann Joachim Winckelmann. Seine
Wirkung in Weimar und Jena. Stendal 2007, 9–22. Archäologie und als einer der Väter auch der Neueren
Mason, Eudo C.: Heinrich Füßli und Winckelmann. In: La- Kunstgeschichte – richtete sich ein durchgehendes In-
zarowicz, Klaus/Kron, Wolfgang (Hg.): Unterscheidung teresse auf die Person und ihre ungewöhnliche Biogra-
und Bewahrung. Festschrift für Hermann Kunisch zum phie; W. konnte sogar den Status einer Identifikations-
60. Geburtstag. Berlin 1961, 232–258. figur gewinnen.
Morelli Timpanaro, Maria Augusta: Per una storia di Andrea
Bonducci (Firenze, 1715–1766). Lo stampatore, gli amici,
le loro esperienze culturali e massoniche. Rom 1996. Winckelmanns Errungenschaften
Richter, Paul Emil: Zur Vorgeschichte und Geschichte der
vormals Walther’schen, jetzt Burdach’schen Hofbuch- Was von W.s Konzeptionen und Methoden (Potts
handlung (Warnatz und Lehmann) in Dresden. In: Archiv 1994; Hofter 2008) in die Wissenschaft übernommen
für Geschichte des Deutschen Buchhandels 20 (1898),
wurde und auf Dauer wirksam blieb, lässt sich genau
109–167.
Stoll, Heinrich Alexander: Winckelmann, seine Verleger benennen: W. übertrug den Begriff des Stils von der
und seine Drucker. Berlin 1960. Literatur auf die bildende Kunst und schuf damit ein
Testa, Fausto: Le Anmerkungen über die Baukunst der Alten Instrument, um formale Eigenheiten von Kunstwer-
di J. J. Winckelmann: il testo di architettura tra continuità ken der verschiedenen antiken Völker und zugleich
e fratture epistemologiche nella cultura del Secolo dei Lu- bestimmte Kennzeichen der einzelnen Kunstepochen
mi. In: Di Teodoro, Francesco Paolo (Hg.): Saggi di lette-
zu definieren. Die Abfolge von Stilen deutete er als
ratura architettonica, da Vitruvio a Winckelmann. I. Flo-
renz 2009, 313–354. Entwicklung, so in der ägyptischen und etruskischen,
vor allem aber in der griechischen und römischen
Stefano Ferrari Kunst. Die Künstlergeschichte in der Tradition der
Aus dem Italienischen von Susanne Kolb Antike und Vasaris, damals die übliche Form von
Kunstgeschichte, gab er auf und machte statt der Suk-
zession von einzelnen Meistern und deren Œuvres die
Entwicklung der Kunst selbst zum Gegenstand der
Wissenschaft. Seine Gliederung der griechischen
Kunst in Stilepochen ist bis heute grundsätzlich gültig
geblieben; sie ist flexibel genug, um etwa Neufunde in
sie zu integrieren.
Eine große Wirkung, zunächst vor allem außerhalb
der Fachwissenschaft, hatte W.s Postulat, dass die Ent-
wicklung der Kunst von außerkünstlerischen Fak-

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1_35, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
340 IV Rezeption

toren wie dem Klima und insbesondere der politi- identifizieren und zu verstehen, zum anderen aber
schen Verfassung abhängig sei. Hier eröffneten sich werden die Objekte selbst als Quelle genutzt, um die
Erkenntnismöglichkeiten, die noch längst nicht aus- schriftliche Überlieferung zu erhellen.
geschöpft sind. Auf W. berufen kann sich auch ein Neu war nicht zuletzt W.s umfassende Kenntnis der
Forschungsinteresse, das nach überzeitlichen Kon- Denkmäler, der antiken Literatur, der antiken Ge-
stanten im Fluss der Entwicklung fragt wie z. B. die ar- schichte und auch der neueren wissenschaftlichen
chäologische Strukturforschung der 1920er bis 1940er Diskussion sowie seine Fähigkeit – wie schon Heyne
Jahre (Wimmer 1997). lobte (Schulz 1963, 21–23) –, alles aufeinander zu be-
In Abkehr von der Praxis der Antiquare (Schnapp ziehen. Detailkenntnis ohne Detailverliebtheit, ver-
2009, 135–200) rückte W. die bildende Kunst als Kunst bunden mit Urteilskraft: Das einzelne Werk wird im
in das Zentrum der Archäologie; er erreichte zudem, Kontext seiner Gattung und seiner Entstehungszeit
dass in der Epoche des Klassizismus die Plastik, nicht betrachtet, ohne dabei seine auch überzeitliche Wir-
mehr die Malerei als führende, auch den Zeitstil be- kung zu vergessen. W.s Erfolg gerade in der Alter-
stimmende Gattung galt. W.s Bevorzugung der grie- tumskunde beruhte wesentlich auf dieser Zusammen-
chischen Kunst, verbunden mit einer Abwertung der schau sowie dem Mut, Wichtiges von weniger Wichti-
römischen, blieb lange unbestritten. Erst seit dem spä- gem zu trennen und Qualitätsurteile zu begründen.
ten 19. Jh. ist die Kunst der Römer ein gleichwertiger Der neue Ansatz W.s wurde sofort als solcher er-
Gegenstand der archäologischen Forschung (Borbein kannt und allgemein begrüßt. Schon die Rezensenten
1991, 175–180; 189–195). seiner Hauptwerke reagierten trotz mancher Detail-
W. setzte Maßstäbe nicht zuletzt für die Praxis der kritik uneingeschränkt positiv (zu GK1, SN IV,5, 219–
Interpretation. Hier hat er Konzepte und Verfahren, 373; zu MI: Heyne 1768). Die Anerkennung war inter-
die er schon vorfand, so überzeugend weiterent- national: 1766 erschien die erste französische, 1779
wickelt, dass sie zu Allgemeingut wurden. Schon ge- die erste italienische Übersetzung der Geschichte der
genüber Lessing (Br. III, 195; 204) bestand er auf dem Kunst des Alterthums von 1764. Es wurde üblich, die
Primat der Anschauung: Am Anfang muss eine kriti- Geschichte der Altertumsstudien in die Epoche vor W.
sche Bestandsaufnahme möglichst durch Autopsie und in die Zeit nach ihm zu unterteilen. So stellte die
stehen, etwa die Unterscheidung zwischen antik und Hessische Gesellschaft der Altertümer in Kassel im
modern, zwischen genuin, ergänzt oder falsch. Eine Jahr 1778 die Preisfrage, in welchem Zustand W. die
detaillierte Beschreibung nimmt dann das Ganze ei- Altertumswissenschaft angetroffen und wie verändert
nes Kunstwerks in den Blick, um seine Entstehungs- er sie zurückgelassen habe. Der Göttinger Altertums-
zeit sowie seine inhaltliche Aussage zu bestimmen forscher Christian Gottlob Heyne (1729–1812), der
und schließlich sein ›Wesen‹ zu erfassen. den Preis gewann, und Johann Gottfried Herder, des-
Die inhaltliche Deutung der Bilder, eine Domäne sen Text zunächst ungedruckt blieb, hoben differen-
der Antiquare, hat W. in den Monumenti antichi inedi- ziert, wenn auch nicht unkritisch die epochale Leis-
ti zu systematisieren versucht. Dabei hat er insbeson- tung W.s hervor. In Heinrich Meyers Beitrag zu Goe-
dere der Erkenntnis zum Durchbruch verholfen, dass thes Winckelmann und sein Jahrhundert von 1805
Darstellungen aus römischer Zeit häufiger griechische (Goethe 1969, 232–237) und ebenso 1826/27 in der
Mythen als römische Historie zeigen (Himmelmann Besprechung neuerer Publikationen zur griechischen
1971; Käfer 1986). Ebenso hat er die Auffassung be- Kunst durch Heynes Nachfolger Karl Otfried Müller
stärkt, dass viele römische Statuen griechische Werke (1797–1840) ist W. der selbstverständliche Ausgangs-
kopieren. punkt der forschungsgeschichtlichen Rückschau
W. hat schließlich gezeigt, dass die Interpretation (Müller 1873).
antiker Kunst sich nicht auf ein Werk und eine Gat-
tung beschränken kann, sondern alle in Frage kom-
Ausbildung einer Fachdisziplin
menden Gattungen berücksichtigen muss, zu Statuen
z. B. entsprechende Münzen und Gemmen. Wichtiger Während W.s Programm, die Kunst der eigenen Zeit
noch als solche Querverweise sind möglichst enge durch Rekurs auf die Antike zu verbessern, an Über-
Verbindungen zur antiken literarischen und epigra- zeugungskraft verlor und sein Beitrag zur Philosophie
phischen Überlieferung. Dabei geht es um ein doppel- der Kunst wenig Nachfolge fand (z. B. Hegel 1970, I,
tes Ziel: zum einen dienen historische und literarische 92; II, 378), bildete sich in der kritischen Auseinander-
Quellen dazu, die zu erklärenden Objekte besser zu setzung mit den Einzelinterpretationen W.s die Uni-
35 Winckelmann in der Altertumskunde: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsinstitutionen 341

versitätsdisziplin Klassische Archäologie (Harloe dass im Laufe des 19. Jh. an fast sämtlichen deutschen
2013). Nicht ohne Verlust: Das erzieherische Engage- Universitäten Lehrstühle für Klassische Archäologie
ment W.s wurde von der Fachwissenschaft gleichsam eingerichtet wurden, häufiger und früher als Lehrstüh-
erstickt. Die Vermittlung von W.s Werk an die deut- le für die verwandten Fächer Neuere Kunstgeschichte
sche Universität wird in erster Linie Heyne verdankt, und Prähistorische Archäologie (Schiering 1969, 160–
dem Klassische Philologen, mit dem W. von 1764 bis 161). Es gibt dafür auch einen wissenschaftsimmanen-
zu seinem Tode ausführlich korrespondiert hatte (Br. ten Grund: Die Wissenschaft von den antiken Denk-
III, Nr. 686; 697; 716; 746; 749; 753; 760; 832; 853; 931; mälern verfügte dank W. früher als manche anderen
947). Heyne verband die literarische Überlieferung Disziplinen über ein differenziertes Lehrgebäude, ein
wie selbstverständlich mit der materiellen, legte dabei System sowohl der Kunstgeschichte als auch der Her-
aber, W. folgend, das Schwergewicht auf die Skulptur meneutik der »Bilder«, das in sich geschlossen war und
(Fittschen 1988; Graepler/Migl 2007). zugleich anschlussfähig an etablierte Fächer wie die
Die Klassischen Archäologen haben – gerade im Philologie und die Geschichte, schließlich auch die
Universitätsstudium – bis weit in das 20. Jh. hinein an Neuere Kunstgeschichte.
der von W. praktizierten Verbindung mit der Klassi-
schen Philologie festgehalten. Philologen, die wie
Archäologie als Kunstwissenschaft
Heyne auch archäologisch kompetent waren, gab es
relativ selten. In der als Philologie gut organisierten Die kunstgeschichtliche, stilgeschichtliche Orientie-
Altertumswissenschaft in Sinne August Boeckhs rung war und blieb eine international anerkannte Do-
(Boeckh 1886/1966, 40; 43; 61–62; 65; 69) spielten die mäne der deutschsprachigen Archäologie. Die hier
zunehmend eigenständigen Archäologen eine nur besonders deutliche Wirkung W.s ist in den Wissen-
kleine Rolle. Andererseits waren an den deutschen schaftskulturen anderer Länder weniger offensicht-
Universitäten im 19. Jh. die meisten der archäologi- lich, obwohl man auch dort nicht selten der deutschen
schen Fachvertreter von Haus aus Philologen. Tradition folgt. Viele griechische (Kyrieleis 2012/2013)
Kein Philologe, sondern Kunstgelehrter war Aloys und türkische (Akurgal 2013) Archäologen z. B. ha-
Hirt (1759–1837), der 1810 an der neu gegründeten ben an deutschsprachigen Universitäten studiert, und
Berliner Universität den überhaupt ersten Lehrstuhl der große Einfluss deutscher Emigranten der 1930er/
für ausschließlich das Gebiet erhielt, das wir heute 1940er Jahre des 20. Jh. auf die Wissenschaft in den
Klassische Archäologie nennen (Sedlarz 2004; Fendt/ USA betrifft auch die Klassische Archäologie (Hanf-
Sedlarz/Zimmer 2014). Hirt hatte lange als Fremden- mann 1983).
führer in Rom gelebt; seine Nachfolge W.s ging von In Italien jedoch hat die Archäologie der Kunst seit
der Autopsie der Denkmäler aus. In Berlin betrieb er jeher einen festen Platz in Forschung und Lehre. Aus-
die Archäologie primär als Kunstwissenschaft. ›Ar- gangspunkt waren die von Carlo Fea (1753–1836)
chäologie der Kunst‹ oder ›Kunstarchäologie‹ – so de- sachkundig übersetzten Schriften W.s: 1783–1784 er-
finierte sich die deutschsprachige Klassische Archäo- schien die Geschichte der Kunst (Storia delle arti del
logie im 19. Jh. Sie verstand sich als selbständige Dis- disegno presso gli antichi), 1830–1834 eine Gesamtaus-
ziplin der Altertumswissenschaften und nicht zuletzt gabe in 12 Bänden (Fea 1830–1834). Frühe italie-
als Erbe W. s. Das von K. O. Müller verfasste Hand- nische Nachfolger W.s mit weit reichendem Einfluss
buch der Archäologie der Kunst, Ausweis dieser Selb- waren auch Giuseppe Antonio Guattani (1748–1830),
ständigkeit, erlebte zwischen 1830 und 1848 drei Auf- der sich die Monumenti inediti zum Vorbild nahm
lagen (Müller 1848). Die Kunst der Antike blieb trotz (Stark 1880/1969, 242–243), und Ennio Quirino Vis-
vieler, vor allem durch Ausgrabungen erschlossener conti (1751–1818), Autor von Katalogen der Vatikani-
neuer Forschungsfelder zumindest bis in das späte schen Museen und der Villa Albani, als Direktor des
20. Jh. im Zentrum des archäologischen Universitäts- Musée Napoléon in Paris auch international wirkend
unterrichts. (Stark 1880/1969, 243–244). Obwohl es in dem an ar-
W.s weit über die Fachwissenschaft reichende Wir- chäologischen Stätten und wissenschaftlichen Institu-
kung (Valdez 2014), der Klassizismus, die Bedeutung tionen reichen Italien auch im 19. Jh. vortreffliche Al-
der griechischen Antike für die Begründung eines tertumswissenschaftler und Archäologen gab, wurde
deutschen Nationalbewusstseins, auch die Erziehung 1890 der erste Lehrstuhl für Klassischen Archäologie
durch das humanistische Gymnasium (Marchand in Rom, seit 1870 Hauptstadt des vereinten König-
1996, 23–35; 133–151) – dies alles macht verständlich, reichs, mit dem Österreicher Emanuel Löwy (1857–
342 IV Rezeption

1938) besetzt, der sein Fach als Kunstwissenschaft ver- für die allgemeine Bildung auch in der Gegenwart
stand (Barbanera 1998, 72–77; Brein 1998; Donato hinzuweisen. Nicht nur in den Zweigstellen des Deut-
1993). In der Tradition Löwys und W.s stand Ranuccio schen Archäologischen Instituts, sondern seit langem
Bianchi Bandinelli (1900–1975), der nach dem Zwei- auch in den meisten deutschsprachigen Universitäten
ten Weltkrieg in Rom eine Neuorientierung seiner laden Archäologen bis heute zu »Winckelmann-Vor-
Disziplin einleitete (Barbanera 2003). trägen« ein. Im Zentrum seiner Tätigkeit sah das rö-
mische Instituto di Corrispondenza Archeologica die
Veröffentlichung neuer Funde und bisher wenig be-
Das Deutsche Archäologische Institut
kannter »Denkmäler«. Vorbilder waren W.s Herkula-
In Rom, W.s zweiter Heimat, bildete sich 1828 inner- nische Schriften und vor allem seine Monumenti anti-
halb eines internationalen Kreises von Künstlern, chi inediti, deren Titel das Institut für eine eigene
Wissenschaftlern, Diplomaten und Dilettanten, die an großformatige Publikationsreihe übernahm.
antiker Kunst und an Archäologie interessiert waren, W. hat sein Vorhaben, nach Griechenland zu reisen
ein Verein, der sich wegen der Beteiligung von Euro- und im Heiligtum von Olympia auszugraben (Br. III,
päern aus dem Norden, nach griechischem Mythos 268; 307–308; AGK, SN IV,4, 91), nicht ausführen kön-
dem Land der Hyperboräer, Hyperboräisch-römische nen. Es dennoch zu verwirklichen, empfanden im
Gesellschaft nannte (Rodenwaldt 1929, 6–8; Rieche 19. Jh. nicht wenige Altertumswissenschaftler als eine
1979, 5–43). Spiritus Rector dieser Gesellschaft war Art Verpflichtung der deutschen Nation. Der Berliner
der Berliner Eduard Gerhard (1795–1867), ein Alt- Archäologe Ernst Curtius (1814–1896) setzte über
philologe, der während eines längeren Aufenthaltes in Jahrzehnte seine organisatorische Begabung und vor
Italien zum Archäologen geworden war (Wrede 1997). allem seine engen Beziehungen zum preußischen Hof
Zweck der Gesellschaft sollte die Förderung der ar- in Bewegung, um W.s Projekt zu realisieren (Borbein
chäologischen Forschung sein: durch Bekanntmachen 1989). Begünstigt auch durch den Ausgang des
von neuen Funden und Erkenntnissen, durch Verbes- Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 hatte er
serung des internationalen Austauschs und durch wis- Erfolg: Die Ausgrabungen in Olympia wurden 1874
senschaftliche Diskussionen. Es zeigte sich bald, dass als erste Großgrabung und »Friedenswerk« des neuen
ein derart anspruchsvolles Programm die Möglichkei- Deutschen Reiches beschlossen und von 1875 bis
ten eines private Vereins überstieg, und so kam es mit 1881 unter Curtius’ Oberleitung durchgeführt (Mall-
Hilfe des preußischen Kronprinzen schon 1929 zur witz 1977, 1–14). Wie W. hatte Curtius ursprünglich
Gründung des zunächst noch internationalen Institu- die Absicht, in Olympia Meisterwerke der griechi-
to di Corrispondenza Archeologica, aus dem das heu- schen Kunst und Architektur zu entdecken (Curtius
te weltweit agierende Deutsche Archäologische Insti- 1852), doch diese Zielsetzung änderte sich innerhalb
tut hervorging (Rodenwaldt 1929; Rieche 1979; der zwei Jahrzehnte zwischen der Projektidee und
Deichmann 1986). Das Anknüpfen an W. fand seinen dem Grabungsbeginn. Entsprechend der allgemeinen
Ausdruck in dem zunächst äußerlich und marginal er- Entwicklungstendenz der Archäologie verlor sich zu-
scheinenden Brauch, jährlich am 9. Dezember den gleich der Bezug zu W.: Nicht mehr die Wiedergewin-
Geburtstag W.s mit einem wissenschaftlichen Vortrag nung von Kunstwerken, sondern die Rekonstruktion
feierlich zu begehen. An dem von den »Hyperborä- topographischer und historischer Zusammenhänge
ern« eingeführten Brauch hat das Deutsche Archäolo- galt als Zweck von Ausgrabungen, die man jetzt wie
gische Institut trotz wechselnder Schwerpunkte der naturwissenschaftliche Experimente plante, um be-
Forschung festgehalten; bis in die zweite Hälfte des stimmte Probleme zu lösen (Curtius/Adler/Hirsch-
20. Jh. hinein gehörte die Verpflichtung zu einer öf- feld 1876, 9). Auch griff die Klassische Archäologie
fentlichen wissenschaftlichen Veranstaltung in den zunehmend über Griechenland und Rom hinaus; sie
Tagen um den 9. Dezember zu den wenigen in der Sat- entwickelte sich zur »Großen Archäologie« (Conze
zung verankerten Aufgaben des Instituts (Rieche 1902). Große staatlich finanzierte Grabungen wie die
1979, 27, 225). Gerade weil die Forschungspraxis sich in Olympia konnten sich aber der politischen In-
immer mehr von W.s nicht nur auf die Fachwissen- dienstnahme kaum entziehen (mehrere Autoren in:
schaft gerichteten Ambitionen entfernt hatte, fühlte Kyrieleis 2002, 9–84): »Erst mit Kaiser und Reich ha-
man sich gehalten, wenigstens zum »Winckelmanns- ben wir, W.’s Traum erfüllend, in Olympia vorbildlich
fest« auf den Anspruch der Archäologie auf breite eingreifen und diesem Vorbilde bis heute erfolgreich
Wirkung und auf die Bedeutung der antiken Kulturen nacheifern können« (Conze 1902, 167). Die Wieder-
35 Winckelmann in der Altertumskunde: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsinstitutionen 343

aufnahme der Olympiagrabung im Jahr 1937 in Er- sen. Ein faktenreiches Bild von W.s Leben und Wirken
innerung an die Berliner Olympischen Spiele von sowie von deren zeitgenössischem Umfeld hatte da-
1936 geschah auf Veranlassung des »Führers« (Wrede gegen Carl Justis große, im Geist des Positivismus ver-
1937). Sich auf W. zu berufen, reichte nicht mehr aus, fasste Biographie geliefert, eine bewundernswerte Leis-
um Grabungsprojekte zu rechtfertigen. tung, aus den Quellen geschöpft und maßgebend bis
heute (Justi 1866–1872/1898/1956; Waetzoldt 1956).
Winckelmann-Renaissance
Texteditionen
Die eingangs skizzierten methodischen Errungen-
schaften W.s blieben gültig; sie konnten dem jewei- Die Beschäftigung mit W.s Schriften und die Erfor-
ligen Stand der Forschung entsprechend modifiziert schung von W.s Wirkung überließen die Altertums-
werden. Als selbstverständliche Voraussetzungen und wissenschaftler anderen Disziplinen, insbesondere der
Instrumente der wissenschaftlichen Praxis lösten sie Germanistik. Dabei machte sich das Fehlen gesicher-
sich von W.s Schriften ab. ter Texte zunehmend bemerkbar. Karl Bernhard Stark
Die nach dem Ersten Weltkrieg von dem Klassi- (1824–1879) hatte bereits in seinem 1880 erschiene-
schen Philologen Werner Jaeger (1888–1961) aus- nen Handbuch der Archäologie die ausstehende kriti-
gehende Bewegung des »Dritten Humanismus« be- sche Edition der Schriften W.s als »deutsche National-
deutete innerhalb der Altertumswissenschaften eine schuld« bezeichnet (Stark 1880/1969, 194; vgl. Sauer
Abkehr vom Positivismus (Marchand 1996, 302–340; 1913, 101–102). Es dauerte bis 1937, dass wiederum
Sünderhauf 2004, 313–315); sie führte zur Rückbesin- ein Archäologe, Gerhart Rodenwaldt (1886–1945),
nung auf die in der griechisch-römischen Kultur auf- konkrete Schritte zu einer W.-Gesamtausgabe unter-
findbaren Werte und förderte die Auseinandersetzung nahm (Sünderhauf 2004, 319–323). Der Germanist
mit dem Phänomen des Klassischen (Borbein 1995). Walther Rehm (1901–1963), mit der Durchführung
Ihre Wirkung reichte über die Wissenschaft hinaus in des Projektes beauftragt, begann mit der Sammlung
das gebildete Bürgertum und in die Politik. Im all- und Edition von W.s Briefen, also mit Texten, die pri-
gemeinen Bewusstsein gewann die Antike gleichsam mär die Vita erhellen. Sie erschienen nach dem Zwei-
neuen Glanz. Teil der neuen Bewegung war der Re- ten Weltkrieg in vier Bänden (Br.) und wurden zu ei-
kurs auch auf W., doch bezog man sich weniger auf nem Meilenstein der W.-Forschung. Die wissenschaft-
ihn als den Erforscher der antiken Kunst, sondern fei- lichen Schriften W.s, insbesondere die großen Mono-
erte ihn als Vorbild, nahm ihn sogar als Erzieher in graphien, hielt Rehm (KS XI) für »Texte eines
Anspruch (Marchand 1996, 330–336). Eine Folge die- Gelehrten, deren sachlicher Gehalt größtenteils erle-
ser W.-Renaissance war die 1940 von Wissenschaft- digt ist oder nur noch antiquarisches Interesse er-
lern, Künstlern und interessierten Bürgern veranlasste wecken kann«. So beschloss er sein Engagement als
Gründung der Winckelmann-Gesellschaft in Stendal W.-Herausgeber mit der mustergültigen Edition von
(Kunze 2002; Sünderhauf 2004, 352–364). Die Gesell- Kleinen Schriften (KS, erschienen 1968).
schaft versuchte und versucht bis heute, W.s Anden- Seit den 1970er Jahren eröffnete die Rezeptionsfor-
ken zu fördern und seine Vita, seine Schriften und schung einen veränderten Zugang auch zu jenen
sein Weiterwirken zu erforschen. An der Berliner Schriften W.s, die der Fortschritt der Erkenntnis an-
Friedrich-Wilhelms-Universität, heute Humboldt- geblich überholt hatte. Man wurde aufmerksam auf
Universität, wurde das traditionsreiche Archäologi- die Wirkung, die von »veralteten« Texten ausgegan-
sche Seminar im Jahr 1941 umbenannt in Winckel- gen war und auf die Voraussetzungen, unter denen
mann-Institut (Sünderhauf 2004, 347). solche Texte entstanden. Die neue Gesamtausgabe
Die Verehrung W.s als Heros, nicht als Wissen- (SN), die seit 1996 erscheint und die auch digital ver-
schaftler erlebte in den 1920er und 1930er Jahren einen fügbar ist, will mit historisch-kritisch edierten Texten
Höhepunkt. Eingeleitet durch Goethes Winckelmann und mit Sachkommentaren, die diese Texte wieder
und sein Jahrhundert, war sie freilich während des gan- voll verständlich, wieder »lesbar« machen, dem ak-
zen 19. Jh. verbreitet, nicht zuletzt in der Archäologie tuellen Forschungsinteresse dienen. Neue Überset-
und den jährlichen Winckelmannsfeiern. Die Heroi- zungen der Geschichte der Kunst des Alterthums ins
sierung setzte an bei der wechselvollen Vita und fand Französische (Winckelmann 2005) und Englische
vor allem dort ihre Motive, ohne sich freilich allzu ge- (Winckelmann 2006) zeugen ebenfalls von einem er-
nau auf die komplexen Lebensumstände W.s einzulas- neuerten Interesse an W.
344 IV Rezeption

Quellen
Résumé Goethe, Johann Wolfgang: Winckelmann und sein Jahrhun-
Der Einfluss auf die Altertumskunde ist nur ein As- dert in Briefen und Aufsätzen. Mit einer Einleitung und
einem erläuternden Register von Helmut Holtzhauer.
pekt von W.s breiter und vielfältiger Wirkung. Aber Leipzig 1969.
dieser Einfluss war von Dauer, er definierte Positio- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die
nen, von denen aus das Altertum betrachtet und inter- Ästhetik, Bd. 2. Suhrkamp Werkausgabe 14. Frankfurt
pretiert wurde und noch wird, und er erweiterte das a. M. 1970.
Instrumentarium insbesondere der archäologischen Heyne, Christian Gottlob: Rezension zu Winckelmann, Mo-
numenti antichi inediti. In: Göttingische Anzeigen von
Forschung. Der von W. anfänglich ausgehende Enthu-
gelehrten Sachen 19; 20; 22; 23, 1768, 146–158; 169–178.
siasmus wurde bald in einer Fachdisziplin gebändigt, Winckelmann, Johann Joachim: Opere. Prima edizione ita-
die sich von vielen Einzelthesen zunehmend befreite liana completa 1830–1834. Hg. von Carlo Fea. 12 Bde.
und sich vom Studium der Schriften W.s dispensierte. Prato 1830–1834.
Was von W. angeregt und übernommen worden war, Winckelmann, Johann Joachim: Histoire de l’ art dans l’ An-
wurde ein so selbstverständlicher Teil der Wissen- tiquité. Traduction de Dominique Tassel. Introduction et
notes de Daniela Gallo. Paris 2005.
schaft, dass der Urheber hinter seinem Werk unsicht-
Winckelmann, Johann Joachim: History of the Art of Anti-
bar wurde. Als Archäologe war und ist W. weitgehend quity. Introduction by Alex Potts. Translation by Harry
vergessen – im Unterschied zu dem Philhellenen und Francis Mallgrave. Los Angeles 2006.
Erzieher W., dessen Thesen an die Person und ihre Vi-
ta gebunden blieben. In Adolf Michaelis’ Rückschau Forschung
auf die Archäologie des 19. Jh. (Michaelis 1908, 7–11; Akurgal, Ekrem: Erinnerungen eines Archäologen. Einige
289) sowie in den Kapiteln zur Fachgeschichte in den bedeutende Kapitel aus der Kulturgeschichte der Republik
Handbüchern von 1913 (Sauer 1913, 101–107) und Türkei. Hg. von Brigitte Freyer-Schauenburg und Erika
Simon. Ruhpolding/Wiesbaden 2013.
1969 (Schiering 1969, 15–22) wird dem Begründer Barbanera, Marcello: L ’archeologia degli italiani. Roma
der Klassischen Archäologie großer Respekt gezollt, 1998.
doch erscheint W. zugleich als Repräsentant eines Barbanera, Marcello: Ranuccio Bianchi Bandinelli. Biografia
überwundenen Forschungsstandes; man erwähnt sei- ed epistolario di un grande archeologo. Milano 2003.
ne »Irrtümer« , weniger seine Errungenschaften. Un- Boeckh, August: Encyklopädie und Methodenlehre der Phi-
lologischen Wissenschaften. Erster Hauptteil: Formale
bestritten bleibt die besondere Rolle von W.s Werk für
Theorie der Philologischen Wissenschaft. Hg. von Ernst
die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, neue Impul- Bratuschek. Wiesbaden 21886. Nachdr. Darmstadt 1966.
se für die Forschung erwartet man von ihm aber nicht. Borbein, Adolf Heinrich: Winckelmann und die Klassische
Eine »Kulturgeschichte der Klassischen Archäologie«, Archäologie. In: Gaehtgens, Thomas W. (Hg.): Johann Joa-
weitgehend eine Darstellung der Wirkung W.s, hat chim Winckelmann 1717–1768. Hamburg 1986, 289–299.
Hellmut Sichtermann vorgelegt. Auch hier geht es Borbein, Adolf H.: Ernst Curtius. In: Erbe, Michael (Hg.):
Berlinische Lebensbilder. Geisteswissenschaftler. Berlin
nicht primär um die wissenschaftliche Leistung; es do- 1989, 157–174.
minieren die Lebensumstände, aus denen das Werk Borbein, Adolf H.: Gerhart Rodenwaldts Bild der römischen
entstand, auch das begeisterte Engagement, das es Kunst. In: Gabba, Emilio/Christ, Karl (Hg.): L ’impero ro-
durchzieht und das weiterwirkte (Sichtermann 1996, mano fra storia generale e storia locale (Biblioteca di
besonders 80–106). Athenaeum 16). Como 1991, 175–200.
Borbein, Adolf Heinrich: Die Klassik-Diskussion in der
Dennoch kann eine ernsthafte Auseinanderset-
Klassischen Archäologie. In: Flashar, Hellmut (Hg.): Al-
zung mit dem Gelehrten W. und seinen Schriften ge- tertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und
rade der Altertumswissenschaft immer wieder nüt- Impulse. Stuttgart 1995, 205–245.
zen: Sie hilft, tradierte Interpretationsmuster besser zu Brein, Friedrich (Hg.): Emanuel Löwy – ein vergessener Pio-
verstehen und kritisch zu beurteilen, zeigt Wege zu nier. Wien 1998.
Forschungsansätzen, die wieder zu beleben sich lohnt, Bruer, Stephanie-Gerrit: Die Wirkung Winckelmanns in der
deutschen Klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts
und sie fordert auf, die Frage nach dem Warum des ei-
(Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz,
genen Tuns nicht zu verdrängen. Abh. der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse
1994, 3). Stuttgart 1994.
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35 Winckelmann in der Altertumskunde: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsinstitutionen 345

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Adolf H. Borbein
V Anhang

M. Disselkamp, F. Testa (Hrsg.), Winckelmann-Handbuch,


DOI 10.1007/978-3-476-05354-1, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Siglen und Abkürzungen

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De ratione De ratione delineandi Graecorum artificium pri-
1.1 Ausgaben mi artium seculi ex nummis antiquissimis dignoscenda.
WA Winckelmanns Werke. Hg. v. Carl Ludwig Fernow, Hg. v. Klaus-Peter Goethert. Wiesbaden 1973
Heinrich Meyer und Johann Schulze. 8 Bde. Dresden Description Description des Pierres gravées du feu Baron de
1808–1820 (Weimarer Ausgabe) Stosch. Florenz 1760
Eiselein Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Einzige Erläuterung Erläuterung der Gedanken von der Nach-
vollständige Ausgabe. Hg. v. Joseph Eiselein. 12 Bde. Do- ahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bild-
nauöschingen 1825–1929 hauerkunst; und Beantwortung des Sendschreibens über
SN Johann Joachim Winckelmann: Schriften und Nachlaß. diese Gedanken. In: Gedanken 1756, 99–172
Hg. v. d. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Florentiner Winckelmann-Manuskript Il manoscritto Fio-
Mainz, der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu rentino di J. J. Winckelmann. Das Florentiner Winckel-
Erfurt und der Winckelmann-Gesellschaft Stendal. Mainz mann-Manuskript. Hg. v. Max Kunze. Mit einer Einlei-
1996 ff. tung von Maria Fancelli. Florenz 1994
KS Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften, Vor- Fragment Baukunst Fragment einer neuen Bearbeitung der
reden, Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm, Mit einer Einlei- Anmerkungen über die Baukunst der Alten. In: WA,
tung von Hellmut Sichtermann. Berlin 1968 Bd. 1, 511–552
Br. Johann Joachim Winckelmann: Briefe. In Verbindung Gedancken1 Gedancken über die Nachahmung der Grie-
mit Hans Diepolder hg. v. Walther Rehm. 4 Bde. Berlin chischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst.
1952–1957 [Dresden] 1755
Gedanken2 Gedanken über die Nachahmung der Griechi-
1.2 Einzelschriften (alphabetisch nach den Abkür- schen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Zweyte
zungen) vermehrte Auflage. Dresden und Leipzig 1756
Abhandlung Abhandlung von der Fähigkeit der Empfin- GK1 Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764
dung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in GK2 Geschichte der Kunst des Alterthums. Nach dem Tode
derselben. Dresden 1763 des Verfassers herausgegeben [...] von der kaiserlichen
AGK Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Al- königlichen Akademie der bildenden Künste. Wien 1776
terthums. Erster und zweiter Teil. Dresden 1767 Grazie Von der Grazie in Werken der Kunst. In: Bibliothek
Allegorie Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst. der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Fünf-
Dresden 1766 ten Bandes erstes Stück. Leipzig 1759, 13–23
Alte Herkulanische Schriften Nachrichten von den alten MI Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati. 2 Bde.
herkulanischen Schriften. Übers. und hg. v. Johann Chris- Rom 1767
toph Gottsched. In: Das Neueste aus der anmuthigen Ge- Mumie Nachricht von einer Mumie in dem Königlichen
lehrsamkeit. Wonnemond 1758, 325–342 Cabinet der Alterthümer in Dreßden. In: Gedanken 1756,
Baukunst Anmerkungen über die Baukunst der Alten. Leip- 90–98
zig 1762 Nachrichten Nachrichten von den neuesten Herculanischen
Baukunst Girgenti Anmerkungen über die Baukunst der Entdeckungen. Dresden 1764
alten Tempel zu Girgenti in Sicilien. In: Bibliothek der Reifere Gedancken Reifere Gedancken über die Nach-
schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Fünften ahmung der Alten in der Zeichnung und Bildhauerkunst.
Bandes zweytes Stück. Leipzig 1759, 223–242 Fragment (1756/57?), aus dem Nachlaß publiziert, in: Stu-
Beschreibung Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde dien VI. Hg. v. Carl Daub und Friedrich Creuzer. Heidel-
der Dreßdner Gallerie. Fragment (1752). Aus dem berg 1811, 216–219 (in: KS)
Nachlass publiziert 1923. In: Jahrbuch der Sammlung Sendschreiben Sendschreiben von den Herculanischen Ent-
Kippenberg. Hg. v. Hermann Uhde-Bernays, 3, 5–23 (in: deckungen. Dresden 1762
KS) Sendschreiben Gedanken Sendschreiben über die Gedan-
Betrachtung Erinnerung über die Betrachtung der Werke ken von der Nachahmung der griechischen Werke in der
der Kunst. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und Malerey und Bildhauerkunst. In: Gedanken 1756, 45–89
Siglen und Abkürzungen 349

Sendschreiben Italien Sendschreiben von der Reise eines Nachlass Oefele München München, Bayerische Staats-
Gelehrten nach Italien und insbesondere nach Rom an bibliothek
Herrn M. Franken (Entwurf, in: Br. 4; KS) Nachlass Paris Paris, Bibliothèque Nationale, Fonds Alle-
Sendschreiben Rom Sendschreiben von der Reise eines mand
Liebhabers der Künste nach Rom an Herrn Baron von Nachlass Rom Roma, Biblioteca Nazionale Centrale
Riedesel. In: Carl Daub und Friedrich Creuzer (Hg.): Stu- Nachlass Savignano Savignano, Biblioteca Accademica
dien V. Heidelberg 1809, 269–278 (Entwurf, in: Br. 4; KS)
Stoß. Museo Nachrichten von dem berühmten Stoßischen 3. Zur Zitierweise
Museo in Florenz. In: Bibliothek der schönen Wissen- Ohne weiteren Zusatz verweisen die Siglen, die sich auf
schaften und der freyen Künste. Fünften Bandes erstes Winckelmann-Schriften beziehen, jeweils auf den Erst-
Stück. Leipzig 1759, 23–33 druck.
Torso Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: Bi-
bliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Beispiel:
Künste Fünften Bandes erstes Stück. Leipzig 1759, 33–41 GK1, 350 (Erstauflage der »Geschichte der Kunst des Alter-
Von der Restauration der Antiquen Von der Restauration thums«, S. 350)
der Antiquen. Eine unvollendete Schrift Winckelmanns
(in: SN 1) Werden andere als die Erstausgaben verwendet, so steht an
Vortrag Geschichte Gedanken vom mündlichen Vortrag erster Stelle die Sigle für den Erstdruck, gefolgt von der Sigle
der neueren allgemeinen Geschichte (1754/55), aus dem für den jeweiligen Druckort.
Nachlass publiziert. In: Erholungen. Hg. v. Wilhelm Gott-
lieb Becker, Leipzig 1800 (Entwurf) (in: KS) Beispiel:
Xenophon Über Xenophon. Fragment (1754?). Aus dem Gedancken1, KS 35 (Erstauflage der »Gedancken über die
Nachlass veröffentlicht in französischer Übersetzung von Nachahmung«, zitiert nach Kleine Schriften, Vorreden,
M. Hartmann. In: Magasin Encyclopédique (de Millin) 1 Entwürfe, S. 35)
(1809), 74–78. Deutsch zuerst publiziert v. Carl Justi: Bandzahlen werden jeweils in römischen Ziffern angegeben.
Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitge-
nossen. Leipzig 1866–1872. Bd. 1, 508–510 Beispiel:
Br. II, 350 (Briefe, Band 2, S. 350)
2. Handschriftlicher Nachlass Wenn ein Band in weitere Bände unterteilt ist, folgen der
Nachlaß Florenz Firenze, Biblioteca della Società Colom- römischen arabische Ziffern.
baria
Nachlass Hamburg Hamburg, Staatsbibliothek Beispiel:
Nachlass Montpellier Montpellier, Bibliothèque de la Facul- GK2, SN I,1, 350 (Geschichte der Kunst des Alterthums,
té de Médicine Ausgabe 1776, zitiert nach »Schriften und Nachlass«, Bd.
I,1).
Abbildungs- und Bildquellenverzeichnis

Abb. 5.1 Anton Raphael Mengs: Jupiter küsst Ganymed. © Abb. 15.2 Widmungsvignette »Gedancken über die Nach-
akg. ahmung« (Sinetas). © bpk/Staatsbibliothek zu Berlin –
Abb. 5.2 Maschine für die Entrollung der Papyri, die von Preußischer Kulturbesitz/Dietmar Katz.
Antonio Piaggi konstruiert wurde. Kupferstich. In: G. Abb. 15.3 Schlussvignette »Gedancken über die Nach-
Castrucci: La Real Officina dei Papiri Ercolenensi. Neapel ahmung« (Sokrates als Bildhauer). © bpk/Staatsbibliothek
1852, Tafel IV. zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/Dietmar Katz.
Abb. 5.3 Giovan Battista Lusieri: Ansicht von Portici mit Kö- Abb. 16.1 Apollo von Belvedere. © akg Images/Album/Pris-
nigspalast und Vesuv, ca. 1780. Turin. © akg-images/Mon- ma.
dadori Portfolio/2000/Electa. Abb. 16.2 Torso von Belvedere. © akg Images.
Abb. 5.4 Achilles wird von Chiron unterrichtet. In: Le Pit- Abb. 19.1 Akragas, Tempel der Concordia. In: Giuseppe Ma-
ture d’Ercolano I, 1757, Tafel VIII. © akg-images/Florile- ria Pancrazi: Antichità Siciliane spiegate colle notizie ge-
gius. nerali di questo regno, I-II. Neapel 1751–1752, II, 90.
Abb. 5.5 Luigi Vanvitelli: Sogen. Aquedotto Carolino in Valle Abb. 19.2 Akragas, Olympieion. In: Giuseppe Maria Pancra-
dei Maddaloni bei Caserta, 1762 fertiggestellt. © akg- zi: Antichità Siciliane spiegate colle notizie generali di
images/De Agostini/Archivio J. Lange. questo regno, I-II. Neapel 1751–1752, II, 78.
Abb. 5.6 Giuseppe Vasi: Ansicht des Palazzo della Cancel- Abb. 19.3 Akragas, Olympieion. Zusammenstellung ver-
leria mit dem Balkon zur Piazza della Cancelleria. © akg- schiedener Rekonstruktionen der Außendisposition. Von
images. links nach rechts Nr. 1–8: Robert Koldewey und Otto
Abb. 5.7 Anton Raphael Mengs: Bildnis Kardinal Alberico Puchstein, Pirro Marconi, Fritz Krischen, Silvio Ferri, Al-
Archinto, 1758. Lyon, Musée des Beaux-Arts. © akg- fredo Prado, Pietro Griffo, Ernesto De Miro und Jos de
images. Waele. In: Jos de Waele: Der Entwurf der dorischen Tem-
Abb. 5.8 Palazzo Albani bei Quattro Fontane in Rom. Foto: pel von Akragas. In: Archäologischer Anzeiger 1980, 180–
Steffi Roettgen, 2016. 241, hier: S. 206, Abb. 12.
Abb. 5.9 Der sogenannte »Winckelmannsche Faun«. ©Staat- Abb. 22.1 Tielvignette der »Geschichte der Kunst des Alter-
liche Antikensammlungen und Glyptothek München. thums«, Dresden 1764. © Winckelmann-Gesellschaft.
Foto: Renate Kühling. Abb. 24.1 Winckelmann, Exzerpt aus: Voltaire: Le siècle de
Abb. 5.10 Giovanni Paolo Pannini: Hauptportikus des Casi- Louis XIV. © Bibliothèque Nationale de France, Départe-
no der Villa Albani, ca. 1760. In: Beck/Bol: Forschungen ment des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 72, Bl. 1r.
zur Villa Albani, Abb. 29. Abb. 24.2 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alter-
Abb. 5.11 Carles-Louis Clerisseau: Ruinenzimmer im Kon- thums, Dresden, 1764. Vignette Nr. 6, S. 3. © Bibliothèque
vent der Péres Minimes bei S. Trinita ai Monti in Rom, ca. Nationale de France.
1766. © akg-images/Andrea Jemolo. Abb. 25.1 Anton Raphael Mengs: Griechische Tänzerin.
Abb. 5.12 Pompeo Batoni: Bildnis Erbprinz Carl Ludwig Karton für das 1756 ausgeführte und verschollene Pastell.
Ferdinand von Braunschweig, 1767. © Bildarchiv Foto Schwarze Kreide auf Papier, 970 × 710 mm. © bpk/Staatli-
Marburg. che Kunsthalle Karlsruhe/Wolfgang Pankoke.
Abb. 5.13 Anton von Maron: Bildnis Leopold Franz von Abb. 31.1 Winckelmann. Profilbildnis von Giovanni Battista
Dessau. © bpk. Casanova, 1764, Bleistift, 15 × 10 cm. Museum der bilden-
Abb. 5.14 Anton von Maron: Bildnis Bartolomeo Cavaceppi, den Künste Leipzig. © Foto: PUNCTUM/Bertram Kober.
1768. © bpk. Abb. 31.2 Winckelmann. Halbfigur von Angelika Kauff-
Abb. 5.15 Triest, Piazza Grande mit Albergo Grande. Zu- mann, 1764, Öl/Lw., 97 × 71 cm. © Kunsthaus Zürich.
stand im 18. Jahrhundert. © bpk. Abb. 31.3 Winckelmann. Radierung von Angelika Kauff-
Abb. 6.1 Notizen zu Aischylos, Sieben gegen Theben (Nach- mann, 1764, Radierung, 21,1 × 15,9 cm. © bpk/Kupfer-
lass Paris, Bd. 59/fol. 374). © Bibliothèque Nationale de stichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin/Jörg P. Anders.
France. Abb. 31.4 Winckelmann. Kniestück von Anton von Maron,
Abb. 15.1 Titelblatt der »Gedancken über die Nachahmung«, 1768, 136 × 99 cm. © Klassik Stiftung Weimar.
1755. © bpk/Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kul- Abb. 31.5 Winckelmann. Porträtstudie von Anton von Ma-
turbesitz. ron, 1767, Rötel, 18,2 × 15,9 cm. © Rijksprentenkabinett
Amsterdam, Inv.-Nr. RP-T-1968–69.
Abbildungs- und Bildquellenverzeichnis 351

Abb. 31.6 Winckelmann. Porträt von Anton Raphael Mengs, Abb. 32.3 Edward von Steinle: Die neueste Renaissance in
wohl 1778 Öl/Lw., 63 × 49 cm. © Metropolitan Museum der Kunst, zweite Fassung. Entwurf für ein (kriegszerstör-
New York. tes) Fresko im Treppenhaus des alten Wallraf-Richartz-
Abb. 32.1 Francesco Bosa/Adolf Kunike nach Antonio Bosa: Museums. © Rheinisches Landesmuseum Trier.
Sockelrelief von Winckelmanns Grabmonument in Triest. Abb. 32.4 Theobald von Oër: Winckelmann im Kreis der
© Winckelmann-Museum Stendal. Gelehrten der Nöthnitzer Bibliothek, 1874. © Deutsche
Abb. 32.2 Ludwig Wichmann: Winckelmann-Statue für die Fotothek/SLUB Dresden, Foto: Regine Richter.
Vorhalle des Alten Museums in Berlin, 1844–48. © Staatli- Abb. 32.5 Carl Gehrts, Die neue Zeit, 1896, Öl/Lw.,
che Museen zu Berlin. 76,5 × 41 cm. © Dr. Axe-Stiftung, Bonn.
Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Elena Agazzi, Universitá degli Studi di Berga- Prof. Dr. Katherine Harloe, University of Reading
mo – Dipartimento di Lingue, letterature e culture Department of Classics, United Kingdom
straniere, Ordinaria für neuere deutsche Literatur (IV.A.27 Kritische Zeitgenossen: Lessing, Heyne,
(II.A.10 Klassizistische Kunstprogrammatik vor Herder).
und zur Zeit von Winckelmann). Klaus-Werner Haupt, Spremberg (I.2 Studienzeit in
Prof. Dr. Adolf H. Borbein, Freie Universität Berlin, Halle, Saale und Jena).
em. o. Professor der Klassischen Archäologie PD Dr. habil. Mathias René Hofter, Ludwig-Maximili-
(IV.C.35 Winckelmann in der Altertumskunde: ans-Universität München, Institut für Bayerische
Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsinsti- Geschichte, Edition des Briefwechsels Ludwig I. –
tutionen). Martin von Wagner (III.26 »Monumenti antichi
Prof. Dr. Gabriella Catalano, Università degli Studi di inediti«).
Roma »Tor Vergata« (III.16.1–16.3 Kunstbeschrei- Dr. Susanne Kochs, Universität Jena, Dozentin für La-
bungen). tein und Griechisch (II.A.6 Philologie bei Win-
Prof. Dr. Elisabeth Décultot, Martin-Luther-Univer- ckelmann).
sität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, Agnes Kunze, Winckelmann-Gesellschaft, Stendal,
Humboldt-Professur für neuzeitliche Schriftkultur wiss. Bibliothekarin (I.1 Herkunft, Kindheit,
und europäischen Wissenstransfer (III.24 »Ge- Schulzeit; I.3 Hauslehrer- und Korrektorenjahre,
schichte der Kunst des Alterthums« und »Anmer- jeweils zus. mit Max Kunze).
kungen über die Geschichte der Kunst des Alter- Prof. em. Dr. Max Kunze, Berlin/Stendal (I.1 Her-
thums«). kunft, Kindheit, Schulzeit; I.3 Hauslehrer- und
PD Dr. Martin Disselkamp, TU Berlin; Leiter der Ar- Korrektorenjahre, jeweils zus. mit Agnes Kunze).
beitsstelle Kritische Karl Philipp Moritz-Ausgabe Dr. Reimar Lacher, Halberstadt, Gleimhaus – Mu-
an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der seum der deutschen Aufklärung, wissenschaftli-
Wissenschaften (II.A.13 Griechenland als Kultur- cher Mitarbeiter (IV.B.31 Die authentischen Por-
entwurf; III.14 Das Briefwerk). träts Winckelmanns).
Dr. Martin Dönike, Martin-Luther-Universität Halle- Prof. Dr. Federica La Manna, Università della Cala-
Wittenberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am bria, Dipartimento di Studi Umanistici, Arcavacata
Lehrstuhl für Neuzeitliche Schriftkultur und euro- di Rende (CS), Professore associato Letteratura Te-
päischen Wissenstransfer (III.15 »Gedancken über desca (III.16.4 Kunstbeschreibungen; IV.A.30
die Nachahmung der Griechischen Werke in der Winckelmann in der fiktionalen Literatur).
Mahlerey und Bildhauer-Kunst« und Nachfolge- Dr. Jörn Lang, Universität Leipzig, Institut für Klassi-
schriften). sche Archäologie und Antikenmuseum, Wissen-
Prof. Dr. Stefano Ferrari, Vice presidente dell’Accade- schaftlicher Mitarbeiter (III.22 »Description des
mia Roveretana degli Agiati (II.A.7 Winckelmanns pierres gravées du feu Baron de Stosch«).
Schreibweisen; IV.C.34 Publikationsgeschichte, Prof. Dr. Eric M. Moormann, Radboud Universiteit
Übersetzungen und Editionsgeschichte (1755– Nijmegen, Professor für Klassische Archäologie
1834)). (III.18 Winckelmann und die Ausgrabungen
Dr. Thomas Franke, Julius-Maximilians-Universität in Herculaneum und Pompeji; III.19 Winckel-
Würzburg, Dozent für neuere deutsche Literatur- mann und die griechischen Tempel von Agri-
geschichte (II.A.12 Winckelmann und die Natur- gento).
wissenschaften; III.20 »Grazie«).
Autorinnen und Autoren 353

Prof. em. Dr. Steffi Roettgen, Ludwig-Maximilians- PD Dr. Harald Tausch, Justus Liebig-Universität
Universität München (I.5 Winckelmann in Ita- Gießen, Institut für Germanistik (IV.A.28 Die
lien). Winckelmann-Rezeption der klassisch-romanti-
Prof. Dr. Orietta Rossi Pinelli, Università La Sapienza, schen Moderne um 1800).
Roma, Dipartimento di storia dell arte e dello spet- Prof. Dr. Fausto Testa, Dipartimento di Architettura e
tacolo, Professore ordinario di Storia della critica Studi Urbani, Politecnico di Milano, Professor für
d’arte (II.A.9 Kunstsammlung und Kunsthandel in Architekturgeschichte (II.A.11 Winckelmann, die
Winckelmanns Welt und in seinem Werk). Ursprungsmythen der Aufklärung und die Be-
Dr. Johannes Rössler, Institut für Kunstgeschichte an gründung der Kunst; III.17 »Von der Restauration
der Universität Bern, Abteilung für Ältere Kunst- der Antiquen«; III.23 »Anmerkungen über die
geschichte (III.25 »Versuch einer Allegorie, beson- Baukunst der Alten«).
ders für die Kunst. Der Königlichen Groß-Britan- Prof. Dr. Robert Deam Tobin, Clark University, Wor-
nischen Gesellschaft der Wissenschaften auf der cester, Massachusets, USA, Henry J Leir Chair in
berühmten Universität zu Göttingen zugeeignet«; Language Literature and Culture (II.A.8 Winckel-
IV.A.29 Winckelmann-Verehrung und Winckel- mann – Homosexualität, schwule Kultur, Queer
mann-Biographik). Theory).
Dr. Kathrin Schade, Winckelmann-Gesellschaft e. V. Prof. Dr. Piera Giovanna Tordella, Ph.D., Università
mit Winckelmann-Museum Stendal, Wissen- degli Studi di Torino, Dipartimento di Studi Uma-
schaftliche Kuratorin (III.21 Kunstbetrachtung, nistici, Scuola di Scienze Umanistiche, Professore
Kunsthermeneutik, Kunstpädagogik). ordinario (Museologia e critica artistica e del res-
Christoph Schmälzle, Martin-Luther-Universität tauro) (IV.B.33 Winckelmann und die Kultur der
Halle-Wittenberg, Postdoc (IV.B.32 Winckelmann Umrisszeichnung im Neoklassizismus).
als Symbolfigur der Kunstgeschichte des 19. Jahr- Dr. Wolfgang von Wangenheim, Berlin (I.4 Nöthnitz
hunderts). und Dresden).
Register der Werke Winckelmanns

A G
Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schö- Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke
nen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben 65– in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst 17, 58–59, 61–62,
66, 71, 85, 88–89, 96, 101, 103, 119, 192–197, 243, 285, 69–70, 80, 82–83, 85, 88–89, 93–97, 100, 102–103, 107,
331, 335 109, 126–128, 130–134, 136–137, 142, 144, 148, 151, 154–
Anmerkungen über die Baukunst der Alten 59, 159, 167, 155, 161, 185–186, 190, 192–193, 195, 204, 213, 218, 222,
180, 210–223, 230, 253, 331 228–230, 238, 242, 246–247, 258–261, 284, 306, 323–324,
Anmerkungen über die Baukunst der alten Tempel zu Gir- 330–331, 334–335
genti in Sicilien 53, 164, 180–182, 212, 230, 330 Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemei-
Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Altert- nen Geschichte 16, 126, 129, 225
hums 36, 60–61, 95, 158, 189–190, 238, 255, 261, 331, Geschichte der Kunst des Alterthums 8, 16, 19, 22–24, 36–
335, 337 37, 44, 52, 55, 58–63, 70, 80, 82–85, 94–96, 100–105, 108–
Antiquarische Relazionen 171–173 110, 120, 133, 143, 146, 148–149, 158–162, 164, 177, 184,
187–191, 193, 206–207, 210–211, 213, 218–219, 221–222,
B 225–238, 249, 251–253, 255, 259, 261–263, 267–269, 271,
Beschreibung der geschnittenen Steine des seligen Baron 274, 276, 283–285, 293, 297, 306, 324, 326, 331–333, 335–
Stosch 337 337, 340–341, 343
Beschreibung der vorzüglichsten Gemälde der Dreßdner
Gallerie 14, 17, 52, 137–139, 155, 187 H
Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom 62, 85, 101, Histoire de l’Art chez les Anciens 331, 335
143, 149–150, 161–162, 245, 330 Histoire de l’Art de l’Antiquité 335
Briefwerk 14, 18, 59–61, 63, 67, 106, 110, 114–123, 146–
147, 194, 196–197, 250, 260–262, 271–273, 278–280, 330, L
341, 343 Lettres familières de Mr Winckelmann 335

C M
Collectanea zu meinem Leben (Nachlass Savignano) 61 Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati 20, 23, 28,
33–34, 36–37, 40, 42, 44, 59–61, 94–95, 144, 159–161, 164,
D 190, 213, 229–230, 242, 249–255, 260–261, 263, 283, 298,
Das Florentiner Winckelmann-Manuskript 62, 149, 158 300, 331, 333, 336, 340–342
De l’Allégorie, ou Traités sur cette matière 335
Denkmale der Kunst des Altertums 337 N
Description des Pierres gravées du feu Baron de Stosch 21, Nachlass Florenz 62
55, 67, 141, 202, 204–210, 213, 215, 230, 234, 242, 250, Nachlass Paris 51, 53, 62, 100–103, 107, 148
253, 255, 282, 330, 336 Nachrichten von dem berühmten Stoßischen Museo in Flo-
Descrizione delle pietre incise del gabinetto del Barone di renz 205, 330
Stosch 337 Nachrichten von den neuesten Herculanischen Entdeckun-
gen 164, 173–176, 331, 333, 342
E Nachricht von einer Mumie 131, 133, 330
Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst 96,
162, 187, 192–196, 229, 322, 330 R
Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der grie- Reflections on the Painting and the Sculpture of the
chischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, und Greeks 192, 323, 334
Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedan- Reifere Gedancken über die Nachahmung der Alten in der
ken 56, 58–59, 103, 105, 131–132, 143, 186–187, 242, 246, Zeichnung und Bildhauerkunst 11, 133
330 Remarques sur l’architecture des anciens 335
Exzerpte 10, 14, 17, 51–53, 56, 100–103, 107, 130, 140, 207,
226, 230, 284
Register der Werke Winckelmanns 355

S Ü
Sachen welche von neuen zu untersuchen sind zur Abhand- Über Xenophon 50, 52, 227
lung der Restaur[ation] der Antiquen 53 Unterricht für die Deutschen in Rom 194
Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung
der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauer- V
kunst 59, 83, 131–133, 141, 143, 186, 330 Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst 144, 149–
Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen 20, 150, 242–246, 248, 261, 272, 300, 331
28, 164, 170–176, 250, 260, 331, 333, 342 Von dem Geschmack der Griechischen Künstler 133
Sendschreiben von der Reise eines Gelehrten nach Italien Von den Vergehungen der Scribenten über die Ergäntzun-
und insbesondere nach Rom an Herrn M. Franken 34, gen 52, 133
194 Von der Grazie in Werken der Kunst 22, 184–187, 330
Sendschreiben von der Reise eines Liebhabers der Küste Von der Restauration der Antiquen 52, 133, 157–158
nach Rom an Herrn Baron von Riedesel 21, 38
Sendschreiben von der Reise nach Italien 194 W
Storia delle Arti del Disegno presso gli Antichi 210, 335– Winckelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz 323
337, 341
Personenregister

A – Description des principales pierres Baldinucci, Filippo


Adam, James 20, 36 gravées du Cabinet de S. A. S. Msgr. – Vita del Cavalier Bernini 59
Adam, Robert 86 le Duc d’Orléans 201 Baldwin, James
Addison, Joseph 187, 284 – Museum Odescalchum 201, 209 – Giovanni‘s Room 69
– The Spectator 274 – Pitture antiche d‘Ercolano 26, 215 Baltimore, Frederic Calvert, seventh
Aebli, Daniel 186, 191 Antonelli, Niccolò 30 Lord of 36
Agesidamos 197 Apelles 190, 232 Balzac, Honoré de 327
Agostini, Leonardo 202 – Die Verleumdung 245 – Le Chef-d’oeuvre inconnu 327
Aischylos 190 Apollonios 175 Bandini, Angelo Maria 22
– Iphigenie 127 Appian 214 Banier, Antoine 109
Albani, Alessandro 19, 21, 24, 30–34, Arcangeli, Francesco 45, 66, 289, 291– Barasch, Moshe 82
36, 38, 43–44, 46, 65, 73–77, 82, 86, 294 Barazza, Francesco 36–37
123, 159, 164, 167, 176, 205–206, Archinto, Alberico 15–16, 18–19, 22, Barbeiratius, Johannes 10
250–252, 279–280, 291, 332 29–30, 115, 293, 314 Barberini (Familie) 78, 199
Albani, Francesco 195 Aretino, Pietro 81 Bär, Georg 13
Albani, Teresa 31 Ariosto, Ludovico 273 Barocci, Federico 20
Alberti, Leon Battista 81, 83, 212, 321 Aristophanes 52 Barrois (Buchhändler) 335
– De Pictura 85 Aristoteles 61, 106, 139, 152, 214 Barry, James 37, 325
– De Re Aedificatoria 212 – Ars rhetorica 5, 52 – Lectures on Painting by the Royal
– De Statua 85 – Poetik 232 Academicians 325
Alexander der Große 68, 232, 235, 271 – Politik 61 Barthélemy, Jean-Jacques 35
Alexis, Willibald Arkesilaos von Pitane 59 Bartoli, Francesco 78, 252
– Der neue Pitaval 289 Arnim, Ludwig Achim von 290 Bartoli, Pietro Sante
Alfani, Ciofano 37 – Angelika, die Genueserin und Cos- – P. Virgilii Maronis opera quae super-
Algardi, Alessandro mus, der Seilspringer 290 sunt in antiquo codice Vaticano ad
– Attila 21 Arrian 51 priscam imaginum formam inci-
– Enthauptung des hl. Paulus 44 Assemanni, Evodio 34 sa 215
Algarotti, Francesco 83, 314 Assemanni, Giuseppe Simone 34 Bassano, Francesco dal Ponte, detto il
Älian (Claudius Aelianus/Klaudios Athenaios 51, 214 giovane 139
Ailianos) 51 Audran, Girard 193 Bassi, Johann Baptista de 44
Allroggen-Bedel, Agnes 174 August II. von Polen und Sachsen 16, Batoni, Pompeo 19, 297, 302
Als, Peder 20, 296–297 137, 291 – Porträt Karl Wilhelm Ferdinand von
– Porträt Johann Joachim Winckel- August III. von Polen und Sachsen 14, Braunschweig-Wolfenbüttel 40
mann 296–298 16, 127–128, 130, 132–133, 137, 154, Batteux, Charles 271
Alton, Eduard d’ 309 167, 169, 306, 330 Baudelot de Dairval, Charles Cé-
Amidei, Belisario 24, 37 Augustus, Kaiser 84, 182 sar 202
Amidei, Fausto 331 Aulus Gellius 214 Baumecker, Gottfried 82
Ammanati, Bartolomeo di Antonio 21 Azara, José Nicolás de 304, 336 Baumgarten, Alexander Gottlieb 7, 80,
Amoretti, Carlo 235, 335–336 88, 139, 193, 230, 283
Anakreon 51 B – Aesthetica 88
Anders, Friedrich 37 Bäbler, Balbina 262 – Meditationes philosophicae de non-
Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Ei- Baciccio (Giovanni Battista Gaulli) 20 nullis ad poema pertinentibus 7
senach 272, 279 Back, Claus 293 Baumgarten, Siegmund Jakob 6–7, 10
Anon. – Der Weg nach Rom. Ein Winckel- Baxandall, Michael 140
– Ältestes Systemprogramm des deut- mann-Roman 293 Bayardi, Ottavio Antonio 173
schen Idealismus 269 Bake, Friedrich 4–5 – Prodromo delle Antichità d’Ercola-
– Antichità di Ercolano esposte 169– Baldani, Antonio 34, 250 no 169
171 Baldanzi, Ferdinando 337 Bayle, Pierre
Personenregister 357

– Dictionnaire historique et criti- – Six Livres de la République 106 – Die Physiologie der Farben für die
que 10, 284 Bodmer, Johann Jakob 85, 128 Zwecke der Kunstgewerbe auf Anre-
Bechdel, Alison – Kritische Betrachtungen über die gung der Direktion des kaiserlich
– Fun Home 69 poetischen Gemälde der Dichter 85 Oesterreichischen Museums für
Beger, Lorenz 5, 201, 253 Boeckh, August 341 Kunst und Industrie 327
– Thesaurus Brandenburgicus selec- Boerhaave, Hermann Brühl, Albert Christian Heinrich
tus 201 – Methodus studii medici 100 von 28, 38, 170
Bellicard, Jérôme Charles 168–169, Boileau, Nicolas 227 Brühl, Heinrich von 13–15, 28, 38,
325 – Traité sur le sublime 187 170, 200
Bellini, Giovanni 139 Boissard, Jean Jacques Brulliot, Franz 311
Bellori, Giovanni Pietro 58, 82, 141, – Romanae Urbis Topographiae et An- Brunelleschi, Filippo 326
228, 252 tiquitatum 255 Bruyn, Francesco 308
– Admiranda Romanorum antiquita- Boisserée, Melchior 311, 313 Bryant, Jacob
tum ac veteris sculpturae vesti- Boisserée, Sulpiz 274–276, 311, 313 – Gemmarum Antiquarum Delec-
gia 255 Bölte, Amely 290–291, 313 tus 201
– Descrizzioni delle imagini dipinte da – Von Stendal nach Rom 290 Buchholtz (Kantor) 12
Raffaëlle d’Urbino 82 Bolzenthal, Heinrich Eduard 208 Buchholtz, Samuel 12
– Idea del pittore, dello scultore e Bombelli, Pietro Leone 326 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 100,
dell’architetto scelta dalle bellezze Bondeli, Julie von 270 104
naturali superiore alla Natura 83 Bonducci, Andrea 330 – Histoire Naturelle 100–101, 107
– Vite de’pittori scultori e architetti Boni, Onofrio (Bajocco) 211 Bülow, Friedrich Ulrich Arwed
moderni 82 – Lettera di Bajocco al ch. signor abate von 10, 14
Bellotto, Bernardo 314 Carlo Fea 211 Bünau, Heinrich von 2, 7–11, 13–16,
Benedikt XIV. 19, 75 Bordoni Hasse, Faustina 291 18, 51, 115–116, 121, 137, 142, 155,
Benefial, Marco 37 Borghese, Scipione 76 224–225, 272, 314
Benini, Giovacchino 337 Borgia, Stefano 75 – Teutsche Kayser- und Reichs-His-
Benjamin, Walter 245 Borromeo, Vitaliano 21 torie 13, 51, 224–225
Bentley, Richard 50 Borromini, Francesco 82, 219 Buonaccorsi, Ottaviano 22
Berendis, Christian Friedrich 7 Bosa, Antonio 281, 307–308 Burke, Edmund 37, 90–91, 327
Berendis, Hieronymus Dietrich 7, 10– Bose, Johannes Andreas 8 Butades 319, 323
11, 16, 18, 23, 26, 28, 65, 100, 114– Boselli, Orfeo Butler, Judith 70
115, 117, 121–123, 126, 133, 137– – Osservazioni sulla scultura antica 81 Byres, James 37
138, 155, 272–273, 279, 287 Bosio, Antonio 165
Berenhorst, Georg Heinrich von 18, 39 Bosshard, Walter 190 C
Bergengruen, Werner 291–292 Boswell, James 37 Caesar (Caius Iulius Caesar) 52
– Die letzte Reise 292 Bottari, Giovanni Gaetano 19, 34, 75 Campenhausen, Catharina Doro-
– Winckelmann in Triest 292 – Del Museo Capitolino 75 thea 194
Berg, Friedrich Reinhold von 38, 65– – Sculture e pitture sagre estratte da i Campiglia, Giovan Domenico 75
66, 68, 70–71, 116, 119, 121, 192– cimiteri di Roma 75 Canova, Antonio 160, 281, 320
197, 243, 287, 298 Böttiger, Carl August 268, 281 – Metope des Tempels von Possa-
Bernini, Gian Lorenzo 21, 82, 123, Boudard, Jean-Baptiste gno 320
186, 197, 219 – Iconologie tirée de divers au- Cantoni, Giovanni Battista 33
– Sant’ Andrea al Quirinale 219 teurs 244 Capponi, Alessandro Gregorio 74, 200
Bianchi Bandinelli, Ranuccio 342 Bouhours, Dominique 84, 108, 188 Carafa, Giovanni, duca di Noja 26
Bianchi, Giovan Antonio 34 – Entretiens d’Ariste et d’Eugène 84, Caravaggio (Michelangelo Merisi) 20,
Bianchini, Francesco 166 106 69, 78, 139
Bianconi, Giovanni Lodovico 15, 18– Boysen, Friedrich Eberhard 2, 7, 10– Carl August von Sachsen-Weimar 69
19, 22, 34, 37–38, 40–41, 59, 86, 97, 11, 51 Carl Friedrich von Sachsen-Wei-
115, 146, 164, 170, 172–173, 291 Bracci, Alessandro 33 mar 302
Bianconi, Michelangelo 15, 18, 44 Bracci, Domenico 34, 202 Carlis, Salvatore de 281
Biester, Erich Bracci, Pietro 78, 326 Carlyle, Thomas 284, 290
– J. Winckelmanns Briefe an einen sei- Brann, Julius 304 Carracci (Malerfamilie) 139, 195
ner vertrautesten Freunde 114 Braun, Joseph 313 Carstens, Asmus Jakob 311, 315–316
Birken, Sigmund von 85 Breitinger, Johann Jakob 85, 140 Casanova, Giacomo 18, 37, 67
Blake, William 326 Brentano, Clemens 275 Casanova, Giovanni Battista 18–20,
Blank, Süsskind 69 Briseux, Charles-Étienne 91 23–24, 44, 117, 249, 251–252, 296,
Blôt, Maurice 304 – Traité du beau essentiel dans les 298, 326
Bodin, Jean arts 89–90 – Porträtzeichnung Johann Joachim
– Methodus ad facilem historiarum Brockmeyer, Rainer 115 Winckelmann 296, 298–299, 304
cognitionem 106 Brücke, Ernst Wilhelm von 327 Castellani, Niccolò 65
358 V Anhang

Castiglione, Badassare Contucci, Contuccio 20, 34, 250 – Lettera sopra il restauro di una antica
– Libro del cortegiano 187 Copia, Jacques Louis 303 Statua di Antinoo, e sopra il restauro
Cavaceppi, Bartolomeo 18, 20, 30, 32, Cornelius, Peter 309, 311 degli antichi marmi dei tre secoli
37, 43–44, 66, 74, 76–78, 157, 159– – Vier Fakultäten 309 precedenti al nostro 162–163
160, 162–163, 291–292 Correggio (Antonio Allegri) 17, 22, Derrida, Jacques 89, 93, 217
– Raccolta d’antiche statue, busti, bas- 81, 86, 139, 155 Descartes, René 155, 197
sirilievi ed altre sculture restaurate Corsini, Andrea 30 Desgodetz, Antoine 212
da Bartolomeo Cavaceppi scultore Corsini, Odoardo 34 – Les édifices antiques de Rome 165
romano 159–160, 162 Costa, Antonio 166 Desgouttes, Franz 69
Cavalleriis, Giovanni Battista de Coutrier (Verleger) 335 Desmarest, Nicolas 36, 60, 116
– Antiquarum statuarum urbis Ro- Cowley, Abraham 70, 196 de Smeth, Theodorus 201
mae 255 Cranach, Lucas 12 d’Espiard, François Ignace
Caylus, Anne-Claude-Philippe de 35, Creech, James 71 – De l’esprit des nations 107–109
74–75, 80, 109, 142, 166, 173, 177, Creuzer, Friedrich 247 de Wilde, Jacob 201
202, 207–208, 236–237, 250, 259, Croismare, Marc-Antoine-Nicolas – Gemmae selectae antiquae e museo
281, 333 de 242 Jacobi de Wilde 201
– Recueil d’antiquités égyptiennes, Cronawetter, Johann 132 Dézallier d´Argenville, Antoine-Jo-
étrusques, grecques et romai- Crozat, Pierre 200 seph 59, 323
nes 166, 236–237 Cureau de la Chambre, Marin 152 – Abrégé de la vie des plus fameux
Cellini, Benvenuto 69 Curtius, Ernst 342 peintres 59
Cerisano, Duca di 37 Curtius, Ludwig 286 d‘Hancarville, Pierre-François Hu-
Chabrias 260 – Winckelmann und seine Nachfol- gues 24, 28–29, 43, 171
Chambray, Roland Fréart de 82–83 ge 286 – Collection of Etruscan, Greek and
– Idée de la perfection de la peinture Roman Antiquities from the Cabinet
par les principes de l’art 83 D of the Honorable Wm. Hamilton His
Cheroffini, Checca 37 Dacier, Anne Le Fèvre 58–59 Majesty’s Envoy Extraordinary at the
Chesselden, William 101 Dalberg, Karl Theodor Anton Maria Court of Naples 28, 326
Chiaveri, Gaetano 13 von 322–323 Dick, Giovanni 78
Chigi (Familie) 167, 199 – Perikles 322 Diderot, Denis 86, 140, 143, 167, 235,
Chodowiecki, Daniel 155 d‘Alcubierre, Roque Joaquin 168, 174, 320, 324–325
Christina von Schweden 16, 58, 199 177 – De l’interpretation de la nature 324
– Ouvrage de loisir ou Maximes et sen- d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 235, – Lettre sur les aveugles à l’usage de
tences 58 324 ceux qui voient 324
Christ, Johann Friedrich 8, 201–202, Dal Pozzo, Cassiano 166, 252 – Pensées détachées sur la penture 86
263 Damke, Martin 7 – Salons 86, 325
Cicero (Marcus Tullius Cicero) 10, 36, Damm, Christian Tobias 5, 10, 50, Diel de Marsilly 24
127, 166, 187, 189, 231, 270, 304 283 Dierkes, Hans 274
– Brutus 191, 227 Dannecker, Johann Heinrich 275 Dietrich, Christian Wilhelm Ernst 15,
– De oratore 52 – Bacchus 275 19, 126, 133, 314, 334
Cicognara, Leopoldo 322, 337 – Schiller-Büste 275 Dillis, Johann Georg von 311
Cignaroli, Gianbettino 44 Dante Alighieri 34, 273 Dilthey, Wilhelm 284
Clemens VII. 145, 326 Dassdorf, Karl Wilhelm Diodor von Sizilien 51–53, 180, 183,
Clemens XI. 73 – Winckelmanns Briefe an seine 214
Clemens XII. 74, 76–77 Freunde 114 – Bibliothek 52, 182
Clemens XIII. 33–34, 43 David, Jacques-Louis 86, 326 Diogenes Laertios 51, 139
Clérisseau, Charles-Louis 19–20, 32– – Raub der Sabinerinnen 326 – Philosophiegeschichte 51
33, 35, 42, 116 – Schwur der Horazier 86 Dionysios von Halikarnass 51
Cobenzl, Johann Karl Philipp von 116, Daviler, Augustin-Charles 212 – Epistula ad Cn. Pompeium Gemi-
118, 334 Dawkin, James 216 num 52
Cocchi, Antonio 200 Décultot, Élisabeth 55, 58, 61, 100, Dioskorides 51, 170–171, 176
Cocchi, Raimondo 21 103, 130, 213, 259, 264 Disselkamp, Martin 115, 187
Cochin, Charles-Nicolas 168–169, 325 de Franciscis, Alfonso 171 Doell, Friedrich Wilhelm Eugen 268,
Colonna (Familie) 76, 199 Dehn, Christian 203 281, 304
Colonna, Marcantonio IV. 76 Delacroix, Eugène 322 Döhl, Hartmut 172
Colonna, Prospero 149 Demetrios von Phaleron 51 Dolce, Lodovico
Comerre, Léon François 310 Demosthenes 187, 189 – Il dialogo della pittura intitolato
– La Grèce antique se dévoile à l’Ar- Dempster, Thomas l’Aretino 81
chéologie 310 – De Etruria Regali 214 Dolci, Carlo
Cometa, Michele 338 Derks, Paul 65–66 – Heilige Cäcilie 138
Conradi, Johann Friedrich 12 de Rossi, Giovanni Gherardo
Personenregister 359

Domenichino (Domenico Zampie- – Endpunkt Triest. Leiden und Tod Frisch, Johann Leonhard 4
ri) 20, 195 von Johann Joachim Winckel- Fuhrmann, Manfred 278
d‘Orville, Jacob Philippe 55 mann 294 Fulß (Oberküster) 3
Dreyhaupt, Johann Christoph von 6 Farsetti, Filippo 35 Fumagalli, Angelo 336
Dubos, Jean-Baptiste 58, 80–83, 104, Fea, Carlo 23, 78, 210–211, 235, 335– Furtwängler, Adolf 209
109–110, 130, 246 336, 338, 341 Füssli, Heinrich 18, 119–120, 323
– Réflexions critiques sur la poésie et Félibien, André 82–83, 130, 188 Füssli, Johann Caspar 23, 116, 120,
sur la peinture 82, 94, 103, 108 – Conférences de l‘Académie royale de 299, 323, 334
Dufourny, Léon 336 peinture et de sculpture, pendant – Geschichte der besten Maler in der
Du Moulin, Pierre 4 l‘année 1667 84 Schweiz nebst ihren Bildnissen 323
Duquesnoy, François – Entretiens sur les vies et sur les Ouv- Füssli, Johann Heinrich 20, 28, 36, 38,
– hl. Andreas 21 rages des plus excellents peintres an- 42, 116, 171, 194, 299–300, 307, 332,
Dürer, Albrecht 309, 320 ciens et modernes 188, 190 334
– Nemesis 291 Ferdinand IV. von Neapel 28 – Allgemeines Künstlerlexikon 303
Dyck, Anthonis van 12, 302 Fernow, Carl Ludwig 136, 272–273, – Johann Joachim Winckelmann, Re-
Dyck, Johann Gottfried 330–331 276, 280–281, 304, 316, 336–337 flections on the Painting and the
Feuerbach, Ludwig 285 Sculpture of the Greeks 192
E Fichte, Johann Gottlieb 274
Ebermayer, Johann Martin Ficoroni, Francesco de’ 200–201 G
– Capita deorum et illustrium homi- – Gemmae 201 Gaier, Ulrich 269
num 201 Fiedler, Conrad 285 Galenus 51, 104
– Gemmarum affabre sculptarum The- Filippo I., Herzog von Parma 166 Galeotti, Nicolao 201
saurus 201 Firmian, Karl Joseph von 22, 26 Galiani, Berardo 25–26, 177
Edward Duke of York 36 Flaubert, Gustave Galiani, Ferdinando 171, 177
Eiselein, Joseph 337 – Salammbô 283 Gärtner, Friedrich von 275
– Johann Winckelmanns ausführliche Flaxman, John 319–320, 325–326 Gauricus, Pomponius
Biographie 282 Fontenelle, Bernard le Bovier de – De sculptura 85
Elgin (Thomas Bruce, VII. Lord El- – Digression sur les anciens et les mo- Gehrts, Carl 315
gin) 160 dernes 84 – Die neue Zeit 315
Elisabeth Charlotte von der Pfalz 200 Förster, Friedrich Christoph 336–337 – In Versuchung 315
Elisabeth I. von England 225 Forster, Johann Georg Adam 131, 323 Gellert, Christian Fürchtegott 118,
Epiktet 51 – Ansichten vom Niederrhein, von 332
Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm Brabant, Flandern, Holland, England Genzmer, Gottlob Burchard 7, 9–10,
von 18, 20, 39–41, 268 und Frankreich 323–324 12, 39, 115, 121–122, 124
Ernesti, Johann August 118, 263 Fougeroux de Bondaroy, Auguste George, Stefan 286
Ernst August I. von Sachsen-Weimar- – Recherches sur les ruines d’Hercula- Georg III. von England 200
Eisenach 8 num 167 Georg IV. von England 20
Ernst August II. von Sachsen-Weimar- Francesco III. d‘Este, Herzog von Mo- Georg zu Mecklenburg 39
Eisenach 15 dena 137 Gerhard, Eduard 268, 342
Ernst von Sachsen-Gotha 304 Francke, Johann Michael 13–14, 18, – Winckelmann und die Gegen-
Erxleben, Dorothea Christiana 6 42–44, 60, 63, 106, 115, 121, 133– wart 282
Eschker, Wolfgang 293 134, 142, 146, 194, 230, 261, 314 Gesner, Johann Matthias 8
– Tod in Triest. Miniaturen aus dem Fränkel, Hieronymus 69 Gessner, Salomon 28, 322
Leben von Lichtenberg, Winckel- Franke, Thomas 101–102, 106 – Der Tod Abels 120
mann, Storm 293 Frauenholz, Johann Friedrich 208 Geyer, Otto 281, 316
Étienne, Henri 11, 52 Fréart de Chambray, Roland 212 Ghezzi, Pier Leone 252
Eugen von Savoyen 14, 169 Fréron, Élie-Catherine 334 – I migliori antiquari di Roma 200
Euklid Friedenthal, Richard 291 Ghiberti, Lorenzo 325
– Stoicheia 51 – Arcangeli 291 Giachetti, Luigi 338
Euripides 52, 61, 214 Friedrich Christian von Sachsen 15– Giachetti, Vincenzo 337
– Andromeda 61 16, 25, 37–38, 120, 128, 133, 169, 172 Giacomelli, Michelangelo 19, 30, 34,
– Iphigenia in Aulis 127 Friedrich III. von Brandenburg 153 53, 250
Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Al- Gioeni y d‘Aragona, Lorenzo 180
F tenburg 14 Giotto di Bondone 325
Fabricius, Johann Albert 5, 52 Friedrich II. von Hessen-Kassel 15, 194 Gleichen Rußwurm, Karl Heinrich
Falconet, Étienne-Maurice 235 Friedrich II. von Preußen 38–39, 68, von 199, 205
Fallmerayer, Jakob Philipp 200, 204, 281, 291, 316 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 7, 51,
– Fragmente aus dem Orient 275 Friedrich Wilhelm I. von Preußen 3, 6 300
Fancelli, Maria 115 Friedrich Wilhelm IV. von Preu- Goethe, Johann Wolfgang 2–3, 14, 22,
Farina, Franco 294 ßen 281, 309, 316 24, 55, 67–69, 73, 114, 123, 144, 176,
360 V Anhang

180, 246–247, 268–271, 274, 281– – Betrachtungen über die Mah- – Abhandlung über den Ursprung der
282, 293, 306, 313, 323, 325 lerey 86, 155 Sprache 274
– Aus meinem Leben. Dichtung und – Lettre à un Amateur de la Peinture – Adrastea 264, 269
Wahrheit 14, 271, 323 avec des Eclaircissemens Historiques – Auch eine Philosophie der Geschich-
– Der Sammler und die Seinigen 272 sur un Cabinet et les Auteurs des te 265
– Die Leiden des jungen Werthers 271 Tableaux qui le composent 154 – Denkmal Johann Winkel-
– Götz von Berlichingen 271 Hagenmüller, Christian Heinrich 126, manns 247, 265, 269, 278–279, 283,
– Italienische Reise 181, 271, 273 330 286
– Skizzen zu einer Schilderung Win- Hahn, Simon Friedrich 225 – Eine Metakritik zur Kritik der reinen
kelmanns 279–287 – Vollständige Einleitung zu der Teut- Vernunft 269
– Über die Flaxmannischen Wer- schen Staats-, Reichs- und Kayser- – Fragmente über die neuere Litera-
ke 325–326 Historie 224 tur 264–265
– Wilhelm Meisters Lehrjahre 124, Haller, Albrecht von 115, 261 – Kalligone 264, 269
132 Halperin, David 69–71 – Kritische Wälder 143, 237, 259,
– Winckelmann und sein Jahrhun- Hamann, Johann Georg 61 264–265, 269
dert 18, 40, 44, 67–68, 80, 114, 133, Hamberger, Georg Erhard 8, 51, 100, – Lobgesang auf meinen Landsmann
247, 272–273, 276, 279, 281–283, 283 Johann Winckelmann 269
289, 323, 336, 340, 343 Hamilton, Gavin 19, 37, 78 – Plastik. Einige Wahrnehmungen
Goeze, Johann Melchior 260 Hamilton, William 28, 169, 171, 174, über Form und Gestalt aus Pygmali-
Gordon, William 36 250, 323, 326 ons bildendem Traume 264, 324
Gori, Antonio Francesco 166, 168, 201 Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr Heres, Gerald 16
– Museum Florentinum 201, 209 von 327 Herodian 4
Gorlaeus, Abraham Händel, Georg Friedrich 6 Herodot 10, 52, 214, 227
– Dactyliotheca 209 Hansen, H. 303 – Historien 52
Göttling, Karl Wilhelm 268 Hanses, Ludwig von 10–11 Hesiod 4, 11
Gottsched, Johann Christoph 128, Hardoff, Gerdt 326 – Werke und Tage 5
132, 140 Harloe, Katherine 2, 67 Heß, Johann Jakob 270
– Handlexikon oder kurzgefaßtes Harper, Adolf Friedrich 19–20 Hettner, Hermann 311
Wörterbuch der schönen Wissen- Hartenberg, Fritz 67 – Geschichte der deutschen Literatur
schaften und freyen Künste 85 Hartmann, Christian Ferdinand 300 im achtzehnten Jahrhundert 285
Götzenberger, Jakob 309 Hauptmann, Gerhart 292 – Winckelmann 285
– Philosophie 309 – Das Verhängnis 293 Heyne, Christian Gottlob 15, 43, 45,
Gracián, Baltasar – Winckelmann 292–293 50, 59, 110, 118, 121, 142, 167, 235,
– El discreto 187 Haym, Rudolf 284 258, 262–265, 268, 314, 336, 338,
Graepler, Daniel 262–263 Hecker, Jutta 293 340–341
Gregorietto, Giovanni Antonio 251 – Traum der ewigen Schönheit. Der – Berichtigung und Ergänzung der
Griotti, Gasparo 45 Lebensroman Johann Joachim Win- Winkelmannischen Geschichte der
Grolmann, Friedrich Georg Ludwig ckelmanns 293 Kunst 263
von 9 Heeren, Arnold 262 – Einleitung in das Studium der Anti-
Grolmann, Georg Arnold von 9 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 230, ke 262
Gronovius, Jakob 10 248 – Lobschrift auf Winkelmann 142,
Grosley, Pierre-Jean 74 – Vorlesungen über die Ästhetik 285 236, 262–264, 279
Grotius, Hugo 10 Heinecken, Carl Heinrich 15, 22, 133 – Sammlung antiquarischer Aufsät-
Guarini, Guarino 322 – Recueil d‘Estampes d‘après les plus ze 262
– Santa Maria in Aracoeli, Vicen- célèbres Tableaux de la Galerie Roya- – Über die Künstlerepochen beym Pli-
za 322 le de Dresde 15, 126 nius 263
Guattani, Giuseppe Antonio 341 Heine, Heinrich 69 Hildebrand, Adolf von 285
– Monumenti antichi inediti 255 Heinrich IV. (Kaiser) 224 Hillebrand, Karl
Guercino (Giovanni Francesco Barbie- Heinse, Johann Jakob Wilhelm 61, – Winckelmann 285
ri) 20, 195 140, 320 – Zwölf Briefe eines ästhetischen Ket-
Guibal, Nicolas 19–20 – Ardinghello und die glückseeligen zers 286
Guichard, Karl Theophil 7 Inseln 320 Himmelmann, Nikolaus 253
Gurlitt, Cornelius 316 Hemmeler, Daniel 69 Hippokrates 51, 103, 106
Guy, Pierre-Auguste 42 Hemsterhuis, Frans 201 Hirschfeld, Magnus 68–70
Hemsterhuis, Tiberius 50 Hirt, Aloys 271–272, 276, 341
H Henn, Claudia 187 – Italien und Deutschland 275
Hagedorn, Christian Ludwig von 15, Henry, Joseph 180 Hitler, Adolf 343
83, 86, 118, 126, 132–133, 154, 192, Herder, Johann Gottfried 61, 63, 67, Hitzig, Julius Erhard
243, 247, 263, 271, 280, 283, 291, 314, 81, 118, 236, 258, 264–265, 269–271, – Der neue Pitaval 289
322 273, 324, 330, 340 Hoffmann, Friedrich 154
Personenregister 361

Hofmannsthal, Hugo von 327 – Winckelmann und seine Zeitgenos- Krause, Tilman 68
– Über Charaktere im Roman und im sen 279, 281, 283–287, 289, 343 Krüger, Johann Gottlob 153–154
Drama. Ein imaginäres Ge- Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 11 – Naturlehre 101
spräch 327 – Versuch einer Experimental-Seelen-
Hofter, Mathias René 190–191 K lehre 153
Hogarth, William 90, 320, 322, 324 Käfer, Markus 52, 246 Kühze (Pastor) 4
– Analysis of Beauty 324 Kallimachos 52 Kunze, Max 147, 174
Holbein, Hans 12 Kallistratos 61 Kupffer, Elisar von 68
Hölderlin, Friedrich 275 Kant, Immanuel 91, 217, 316, 319–321 Kurbjuhn, Charlotte 84–85
– Geschichte der schönen Künste un- – Kritik der Urteilskraft 161, 217, 269 Kütze, Johann 7
ter den Griechen 276 Kanz, Roland 296
– Hyperion 276 Karl der Große 224 L
Home Kames, Henry 90 Karl I. von England 17 La Bruyère, Jean de 58
Homer 4–5, 11, 52, 55–56, 59, 148, Karl VII. von Neapel 25, 167–169 – Les caractères de Théophraste, tra-
189–190, 195, 244, 246, 254, 262, Karl V., Kaiser 43 duits du grec, avec les caractères ou
308, 326 Karl Wilhelm Ferdinand von Braun- les moeurs de ce siècle 58, 130
– Ilias 11, 56, 304 schweig-Wolfenbüttel 40, 43, 121, Lacombe, Jacques 325
– Odyssee 11, 56 303 – Dictionnaire portatif des Beaux-
Hope, Thomas 86 Katharina II. von Russland 200 Arts 325
Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 11, Kauderbach, Johann Heinrich 28 Lairesse, Gérard de 141
131, 139, 270 Kauffmann, Angelika 20, 28, 296–297, – Antiochos und Stratonike 132, 155
– De arte poetica 127 300, 307 Lami, Giovanni 22, 208
Horner, Johann Jakob – Porträt Johann Joachim Winckel- Lamprecht, Friedrich Wilhelm Pe-
– Johann Winkelmann 282 mann 296, 299–300, 304 ter 9–10, 14, 114–115, 287
Hössli, Heinrich 68–69 Kauffmann, Joseph Johann 28 Lamprecht (Oberamtmann) 9
Huber, Michael 279, 322, 333, 335, 337 Kaulbach, Wilhelm von 281, 311, 315– Landolina Nava, Saverio 180
Humboldt, Alexander von 323 316 Lange, Joachim 7
Humboldt, Wilhelm von 272, 276, Kaunitz-Rietberg, Wenzel Anton Lanzi, Luigi 336–337
280 von 44, 46, 291, 332 La Rochefoucauld, François Alexandre
Hume, David 90, 283 Keller, Gottfried Frédéric de 36, 251
Hutin, Pierre 131 – Der grüne Heinrich 283 La Rochefoucauld, Louis-Alexandre
Kent, William 22 de 333
I Kertbeny, Karl Maria 66, 68 Laugier, Marc-Antoine 90–92, 97–98,
Innozenz VIII. 145 Keyssler, Johann Georg 38 212
Isokrates 4 Kiefer, Sascha 289 – Essai sur l‘architecture 91
Kircher, Athanasius Lavater, Johann Caspar 151, 271, 300
J – Oedipus Aegyptiacus 165 La Vopa, Anthony 2
Jacobi, Friedrich Heinrich 324 Kirk, Henry 323 Lazzarini, Giovanni Andrea 83
Jaeger, Werner 286, 343 Kleinow, Johann Georg 2 Le Brun, Charles 83–84, 152, 154–155
Jagemann, Christoph Joseph 22 Kleist, Heinrich von 267 – L’expression générale et particulière
Jäger, Friedrich 237 Klenze, Leo von 275, 309, 311 des passions 152
Jahn, Otto 284, 296 Klopstock, Friedrich Gottlieb 134 Lebrun, J. B. P. 304
– Winckelmann 281–285 Klotz, Christian Adolf 260–261 Lenz, Jakob Michael Reinhold 271
Jansen, Hendrik 335 Knoller, Martin 20, 26, 60, 242, 246 Leonardo da Vinci 69, 190, 321, 327
Jaquier, François 35 Koch, Joseph Anton 275–276 Leopold II., Großherzog der Toska-
Jaucourt, Louis de 235 Koestenbaum, Wayne 71 na 32, 42–43
Jean Paul (Richter, Johann Paul Fried- Kolumbus, Christoph 280 Leopold III. Friedrich Franz von An-
rich) 61 Kommerell, Max 292 halt-Dessau 39–40, 42, 44, 114, 117,
Jenkins, Thomas 37 – Gespräche aus der Zeit der deut- 119–120, 251, 268, 302
Jens, Walter 115 schen Wiedergeburt 292 Leopold I., Kaiser 17
Joseph II., Kaiser 38, 42–44 – Winckelmann in Triest 292 Lepenies, Wolf 100
Julius II. 145 Konrad I. (Ostfrankenreich) 13 Leplat, Raymond
Junius, Franciscus 82 Köpf, Gerhard 293 – Recueil des marbres antiques que se
– Catalogus Architectorum, Mechani- – Piranesis Traum 293 trouvent dans la Galerie du Roy de
corum, Pictorum Aliorumque Artifi- Körner, Gottfried 320 Pologne a Dresden 126
cum Veterum 52 Kosellek, Reinhart 225, 237 Leppmann, Wolfgang 2, 65, 69
– De pictura veterum 82, 188 Kracauer, Siegfried 290 Le Roy, Julien-David 214, 216, 220–
Justi, Carl 2, 6, 17–18, 20, 68, 82, 100, – Die Biographie als neubürgerliche 222
147, 171, 174, 242, 262, 289, 291, 307, Kunstform 290 – Les Ruines des plus beaux monu-
313, 315, 331 Krafft-Ebing, Richard von 68 ments de la Grèce 220, 222
362 V Anhang

Lessing, Gotthold Ephraim 108, 131, Malvasia, Carlo Cesare 82, 137, 140, Mengs, Margarita 23
143, 258–262, 264–265, 276, 292– 197 Mercier, Louis-Sébastien 61
293, 314, 316–317, 324–325, 338, 340 Mann, Horace 21–22, 36 Merck, Johann Heinrich 271
– Briefe antiquarischen Inhalts 260 Mann, Thomas 290 Meyer-Eckhardt, Viktor 291
– Briefe, die neueste Literatur betref- – Der Tod in Venedig 69, 290 – Die Gemme 291
fend 259 Mantegna, Andrea 139 Meyer, Johann Heinrich 24, 100, 136,
– Briefwechsel über das Trauer- Maratta, Carlo 20, 82 247, 271–273, 281, 336–337, 340
spiel 260 Marées, Hans von 285 – Entwurf zu einer Geschichte der
– Hamburgische Dramaturgie 258 Maria Amalia von Neapel 25, 169 Kunst im achtzehnten Jahrhun-
– Laokoon oder über die Grenzen der Maria Theresia, Kaiserin 44, 66, 291 dert 279
Malerey und Poesie 134, 144, 155, Mariette, Pierre-Jean 202, 208–209, – Skizzen zu einer Schilderung Win-
247, 258–261, 270, 317 333 ckelmanns 279–280, 282
– Miss Sara Sampson 258 – Traité des pierres gravées 207 – Winkelmann und sein Jahrhun-
– Wie die Alten den Tod gebildet 260, Marini, Gaetano 336 dert 282
292 Maron, Anton von 19, 30, 37, 44, 251, Michaelis, Adolf 344
Lesueur, Thomas 35 296–298, 304, 307, 313, 336 Michaelis, Christian Benedict 7
Libanios 53 – Porträt Johann Joachim Winckel- Michaelis, Christian Friedrich 319
Lichtenberg, Georg Christoph 61, 151 mann 31, 296, 299–304 – Geist aus Friedrich Schillers Wer-
– Natürliche und affektierte Handlun- – Porträt Leopold III. Friedrich Franz ken 320
gen 155 von Anhalt-Dessau 40 Michelangelo Buonarroti 21, 69, 74,
Lippert, Philipp Daniel 15, 126, 133, Maron, Therese 24, 37 80–81, 83, 149, 185, 190, 195, 217,
202–203, 314 Marpurg, Friedrich Wilhelm 7, 116, 219, 233, 306, 322, 325, 334
– Daktyliothek 117, 202, 209, 262, 121, 278 – Lettera a Benedetto Varchi 96
314 Martial (Marcus Valerius Martialis) 16 – Moses 21
Lips, Johann Heinrich 313 Martorelli, Giacomo Orazio 25, 174, – Tageszeiten 22
Liverani, Paolo 166 177 – Zeichnungen 22
Livius (Titus Livius) 11, 172 – De regia theca calamaria 172 Migazzi, Christoph Anton von 26
Locke, John 94, 101, 271, 274 Masaccio (Tommaso di ser Giovanni di Milizia, Francesco 82, 327
Lodoli, Carlo 327 Mone di Andreuccio) 325 – Dell’arte di vedere nelle belle arti del
Longinos 51 Matthisson, Friedrich von disegno secondo i principi di Sulzer e
Lorrain, Claude 78 – Der Abend am Zürchersee. An Hein- di Mengs 82, 327
Löwy, Emanuel 341 rich Füßli 268 – Dizionario delle belle arti del Dis-
Lubomirska, Isabella 304 Mazocchi, Alessio Simmaco 25, 170, egno 327
Lucas van Leyden 320 174, 177 – Principî di architettura civile 327
Lucatelli, Marchese 34 Mechel, Christian von 20, 38, 43, 116, Millin, Aubin Louis 201
Lucius, Samuel Benedict 7 194, 300, 303, 334 Mogalli, Niccolò 20, 42, 44, 251
Ludewig, Johann Peter 7, 224, 283 Mehring, Franz 286 Mola, Pier Francesco 78
– Entwurff der Reichs-Historie 224 Mehus, Lorenzo 22 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 227,
Ludovisi (Familie) 199 Meier, Georg Friedrich 139 324
Ludwig I. von Bayern 281, 311, 316 Meinecke, Friedrich 237 – La Gloire du Val-de-Grace 325
Ludwig XIV. von Frankreich 84, 152, Meiners, Christoph Moltke, Ludwig von 250
200, 227 – Betrachtungen über die Männerliebe Monaldini, Venanzio 331
Ludwig XV. von Frankreich 200 der Griechen 69 Monier, Pierre
Lukian von Samosata 11, 52, 61, 190, Melanchthon, Philipp 4 – Histoire des arts 227
270, 274 Menandros 52, 190 Montagu, Edward Wortley 36
Lukrez (Titus Lucretius Carus) 271 Mendelssohn, Moses 5, 247, 259, 324– Montaigne, Michel 283
Luther, Martin 311 325 Montesquieu, Charles-Louis de Secon-
Lynar, Friedrich Ulrich von 36, 38, 194 – Briefe über die Empfindungen 324 dat de 61, 80, 109–110, 284
Lysippos 188, 190, 232, 271 Mengs, Anton Raphael 15, 19–20, 22– – De l’esprit des lois 94, 107–109
25, 27, 29, 34, 37, 41, 52, 65, 82–83, Montfaucon, Bernard de 50, 55, 229,
M 86, 115–116, 121, 141, 174, 205, 242– 235, 255
Mabuse (Gossaert, Jan) 327 243, 252, 280, 292, 297, 306, 327 – L’antiquité expliquée et représentée
Mac Leod, Catriona 70 – Gedanken über die Schönheit und en figures 58, 126, 166, 201, 234,
Maffei, Paolo Alessandro 202 den Geschmack in der Malerey 23, 252, 255
– Gemme antiche figurate 202 86, 323 Morgenstern, Karl
– Raccolta di statue antiche e moder- – Jupiter küsst Ganymed 238 – Johann Winkelmann. Eine Rede 279
ne 255 – Parnaso 86 Mörike, Eduard 275–276
Maffei, Scipione 44, 82, 166 – Porträt Clemens XIII. 33 Morison, Colin 36–37
– Museum Veronense 75 – Porträt Johann Joachim Winckel- Moritz, Karl Philipp 63, 140, 144, 246–
– Verona illustrata 82 mann 296, 298–299, 303–304 247, 271, 276, 320–321
Personenregister 363

– Anthusa oder Roms Alterthü- 131, 133, 143, 146, 148, 154, 186, – Le Siècle de Louis le Grand 84
mer 272 242–243, 271, 280–281, 283, 296– Perrault, Claude 59, 81, 90–91
– Die Signatur des Schönen 321 297, 306, 314, 323 – Les Dix livres d’architecture de Vi-
– Götterlehre oder mythologische Oesterreich, Matthias 132–133 truve 59
Dichtungen der Alten 272 Orford, Margaret 21, 28, 171 – Préface à l’Ordonnance des cinq
– Grundlinien zu einer vollständigen Orléans (Familie) 200 espèces des colonnes 81
Theorie der schönen Künste 321 Orsini-Rosenberg, Franz Xaver Wolf- Perrier, François 255
– In wie fern Kunstwerke beschrieben gang von 32 Petersen, Frederik Christian
werden können 272, 321 Osterkamp, Ernst 115 – Allgemeine Einleitung in das Studi-
– Reisen eines Deutschen in Ita- Oswald, Richard um der Archäologie 282
lien 272 – Anders als die Anderen 70 Petrarca, Francesco 273
Möser, Justus 110 Ottoboni, Pietro 29, 78–79 Petronius (Titus Petronius Arbiter) 16
Mosmann, Nikolaus 19–20, 37, 251 Otto I. 311 Phelps, Richard 181
Mosse, George 70 Overbeck, Friedrich 311 Phidias 160, 189–191, 232, 263, 271,
Mozzi, Giulio 28 Ovid (Publius Ovidius Naso) 11, 61 309
Müller, Johannes von 67–68, 274 – Heroides 61 Philippe II. d’Orléans 200, 202
Müller, Karl Otfried 263, 340 Philipp V. von Spanien 17
Müller, Wilhelm 275 P Philodemos 172
Multhammer, Michael 260 Paalzow, Johann Gottlieb 2, 10, 123 Philostratos 61
Münchhausen, Gerlach Adolph – Kurzgefaßte Lebensgeschichte und Phokylides 4
von 43, 118 Charakter des Herrn Präsidenten Piaggi, Antonio 24–25, 170, 172
Münnich, Graf von 194 und Abt Winkelmanns in Rom 279 Piazzetta, Giovanni Battista 154
Mussolini, Benito 181 Paciaudi, Paolo Maria 32, 34–36, 116, Picart, Bernard 152
Muzell-Stosch, Wilhelm 21–23, 26, 40, 166, 206, 254 Piero della Francesca (Piero di Bene-
42–44, 65–67, 69, 116, 119–121, 184, Paderni, Camillo 25, 171 detto de’Franceschi) 321
190, 204–206, 250–251, 297, 300– Pagliarini, Marco 331 Pietro da Cortona (Pietro Berretti-
302, 304, 330, 332, 334 Pagliarini, Niccolò 37, 41–42, 331 ni) 20, 82, 219
Mylne, Robert 181–182 Palladio, Andrea 81, 165, 212 Piles, Roger de 59, 82–84, 130, 137,
Myron 190, 271 – I quattro libri dell’architettura 81 139, 141, 155, 196, 271
Pallavicini, Lazzaro Opizio 25–26 – Abrégé de la vie des peintres 84
N Pancrazi, Giuseppe Maria 180, 182 – Conversations sur la conoissance de
Nagel, Georg Adam 20 Panofsky, Erwin 307 la peinture 83
Natter, Lorenz 202 Papier, Christian Friedrich 115 – Dialogue sur les coloris 83–84
Naumer, Sabine 251 Parent, Antoine 322 – Dissertation sur les ouvrages des plus
Needham, John Turberville – Essais et recherches de mathémati- fameux peintres 83
– Nouvelles Observations Microscopi- que et de physique 322 Pilkington, Matthew 326
ques 101 Parker, John 37 – The Gentleman’s and Connoisseur’s
Nero 147, 175, 218 Parrhasios 189 Dictionary of Painters 327
Nicolai, Ernst Anton 154 Pasolini, Pier Paolo 69 Pindar 194, 197, 214, 262
– Abhandlung von der Schönheit des Passeri, Giovanni Battista 201 Piranesi, Francesco 169, 175
Menschlichen Körpers 154 Passionei, Domenico Silvio 16, 19, 26, Piranesi, Giovanni Battista 19–20, 74,
– De dolore 154 29–30, 32, 34–35 97, 169, 213
– Gedancken von Thränen und Wei- Patch, Thomas 320, 326 – Diverse maniere d‘adornare i cam-
nen 154 Paternò-Castello, Ignazio, principe di mini 97–98
Nicolai, Friedrich 129, 132, 258–260, Biscari 42, 167, 180 – Parere sull‘architettura 97–98
324–325 Pater, Walter – Ragionamento apologetico 98
Nicolini, Antonio 21 – Studies in the History of Renais- Piroli, Tommaso 325
Nietzsche, Friedrich 236, 317 sance 285 Pisani, Salvatore 169
Nobile, Pietro 308 – Winckelmann 285 Pius VI. 166
Nolte, Johann Rudolf 2, 9, 115 Paul V. 76 Platen, August von 69
Novalis (Friedrich von Harden- Pausanias 11, 51–52, 214, 263 Platon 11, 51, 82, 189–190, 310
berg) 274 Payne Knight, Richard 173 – Apologie des Sokrates 5
Penzoldt, Ernst 292 – Timaios 95
O – Die portugalesische Schlacht 292 Plautus (Titus Maccius Plautus) 214
Odescalchi (Familie) 199 – Winckelmann 292 Plinius (Gaius Plinius Caecilius Secun-
Oër, Theobald von 313 Perikles 225, 227, 232, 235 dus d.J.) 231
– Weimarer Musenhof 313 Pernety, Antoine Joseph Plinius (Gaius Plinius Secundus
– Winckelmann im Kreis der Gelehr- – Dictionnaire portatif de peinture, d.Ä.) 58, 190–191, 220, 260, 263,
ten der Nöthnitzer Bibliothek 313 sculpture et gravure 81 321
Oeser, Adam Friedrich 15, 126–127, Perrault, Charles 58 – Naturalis historia 190, 321
364 V Anhang

Plutarch 11, 51, 246 – Wachsbossierung Johann Joachim Saint-Laurent, Joannon 21, 206
Pococke, Richard 214 Winckelmann 296, 304–305 Saint-Non, Jean Claude Richard de
Polybios 94, 214 Reinhardt, Carl Gottlieb 208 – Voyage Pittoresque ou Description
Polygnot 309 Reinhart, Johann Christian 276 des Royaumes de Naples et de Sici-
Polykletos 188, 190–191, 271 Reni, Guido 78, 139, 195 le 169
– Doryphoros 175 Revett, Nicholas 167, 216 Saint Odile, Mathieu-Dominique
Pommier, Édouard 81, 186 Ribera, Jusepe de 139 Charles Poirot de la Blandinier 37
Pompadour, Madame de 293 Ricciolini, Michelangelo 251 Salesa, Bonaventura 303
Pope, Alexander 58–59, 284 Ricciolini, Nicolò 19 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 61
– Essai sur la critique 59 Richard de Saint-Non, Jean-Claude – Catilina 61
Pöppelmann, Matthäus Daniel 14 – Voyage Pittoresque ou Description Salzmann, Johann Daniel 271
Potts, Alex 65, 69–71, 190–191 des Royaumes de Naples et de Sici- Sandrart, Joachim von 255
Poussin, Nicolas 20, 78, 80, 83–84 le 169 – Teutsche Academie 12, 85
Praun, Paulus II. 201 Richardson, George Sangiovanni, Giovanni da 22
Praxiteles 190, 232, 271 – Iconology, or, A Collection of Em- Sartine, Antoine-Raymond de 333
Proklos 95, 161 blematical Figures 247 Saunderson, Nicholas 101
Pseudo-Homer Richardson, Jonathan 82, 130, 137, Scaliger, Joseph Justus 50
– Batrachomyomachia 5 140, 323, 326 Scaliger, Julius Caesar
Pseudo-Longinos 155 – An Essay on the Theory of Pain- – Poetices libri septem 231
– Peri hypsous 189 ting 192, 326 Schädlich, Hans Joachim 294
– Two Discourses 195 – Torniamo a Roma 294
Q Richartz, Heinrich 313 Schadow, Ridolfo 281
Quatremère de Quincy, Antoine Chry- Richter, Johann Gottfried 132–133 Schäfer, Wilhelm 291
sostome 338 Richter, Simon 67, 70 – Die dreizehn Bücher der deutschen
Quays, Pierre-Maurice 326 Riedel, Friedrich Justus 238, 270, 279, Seele 291
Quintilianus (Marcus Fabius Quintilia- 332 – Winckelmanns Ende 291
nus) 152, 187–188, 231 Riedesel, Johann Hermann von 28–29, Scheffner, Johann George 264
– Institutionis oratoriae libri XII 191 38–39, 42, 116, 119, 171, 181, 194, Schelling, Friedrich Wilhelm Jo-
291 seph 100, 275, 326
R Riem, Andreas 338 – Philosophie der Kunst 326
Rabener, Gottlieb Wilhelm 314 Rigaud, Hyacinthe 302 – Über das Verhältnis der bildenden
Racine, Jean 227 Ripa, Cesare 244, 246–247 Künste zu der Natur 275
Raczynski, Athanasius 306, 309 – Iconologia 244–245 Scheurenberg, Josef 315
– Geschichte der neueren deutschen Robinet de Chateaugiron, Jean-Baptis- Schick, Christian Gottlieb 275
Kunst 306 te 238, 333, 335 Schiller, Friedrich 131, 269–270, 272–
Raffaello Sanzio 17, 22, 62, 77, 80–83, Rode, August 268 273, 275, 293, 313, 317, 319–321, 323
86, 138, 190, 195, 233, 306, 309, 322, Rode, Christian Bernhard 338 – Brief eines reisenden Dänen 272
324 Rodenwaldt, Gerhart 286, 343 – Die Künstler 319–320
– Porträt Leo X. mit seinen Bera- Roettgen, Steffi 304 – Kallias oder über die Schönheit 320,
tern 27 Rosa, Salvator 78 323
– Schule von Athen 307, 309 Rossetti, Domenico 281–282, 293, – Über das Erhabene 319
– Sixtinische Madonna 82, 130, 137, 304, 307–308 Schinkel, Karl Friedrich 272, 275,
306 Rotari, Pietro 154–155 310–311, 315–316
– Transfiguration 326 Rousseau, Jean-Jacques 86, 89, 91, 93 Schlabrendorf, Friedrich Wilhelm
– Zeichnungen 22 – Essai sur l‘origine des langues 89 von 38, 43, 116, 121, 194, 261, 287
Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basili- – Julie, ou la Nouvelle Héloïse 92–93 Schlegel, August Wilhelm 144, 149,
us 68 Rubens, Peter Paul 12, 84, 139, 313, 248, 309
– Venus Urania 66 323–324 Schlegel, Friedrich 273–274, 276, 313,
Raphael, Lutz 237 Ruggieri, Costantino 34 325
Rapin, René 187 Ruhnken, David 50 – Allgemeines Brouillon 274
Rapp, Mathilde 275 Rumohr, Carl Friedrich von 306 – Athenäumsfragmente 274
Rassbach, Quintus Georg Ludwig 3 Runge, Daniel 326 – Über deutsche Sprache und Litera-
Rauch, Christian Daniel 281, 310, 316 Runge, Philipp Otto 326 tur 274
Rauch, Leo 16–17, 114, 126, 131, 293, Rüsen, Jörn 232, 237 – Über Zeichnungen zu Gedichten
330 Ryff, Walther Hermann (Rivius) 85 und John Flaxman’s Umrisse 325–
Reclam, Friedrich 20 Ryssel, Friedrich Jakob von 8 326, 328
Rehm, Walther 114–115, 136, 260– Schleiermacher, Friedrich 284
261, 284, 343 S – Monologe 284
Reiffenstein, Johann Friedrich 28, 36, Sacchi, Andrea 20 – Über die Religion 284
44, 46, 194, 297, 300, 302, 333, 336 Sadoleto, Jacopo 259 Schlichtegroll, Friedrich
Personenregister 365

– Auswahl vorzüglicher Gemmen 208 Spinelli, Ferdinando Vincenzo, princi- – Vittoria Accorombona 290
– Dactyliotheca Stoschiana 208 pe di Tarsia 25 Tiepolo, Giambattista 154
Schmidtmayr, Joachim 44 Spinelli, Giuseppe 19, 32, 34–35 Timanthes 127, 154
Schnakenburg, Valentin 11 Spinola, Giovan Battista 78 Tintoretto (Jacopo Robusti) 12, 139
Schnapp, Alain 166 Spon, Jacob 165 Tischbein, Johann Heinrich Wil-
Scholle, Johann Georg 5 Stark, Karl Bernhard helm 303, 326
Schönbeck, Bartholomäus 6 – Handbuch der Archäologie 343 Tizian (Tiziano Vecellio) 78, 81, 86,
Schönbeck, Margarethe 6 Starobinski, Jean 320 139
Schopenhauer, Arthur 284 Stauder, Franz 22, 65 – Porträt Paul III. mit seinen Nef-
– Die Welt als Wille und Vorstel- Steinle, Edward von 311–313 fen 27
lung 248 Sternberg, Alexander von 313 Torre, Giovanni Maria della 27
Schröder, Johann Friedrich 3 Stobaios (Johannes Stobaios) 11 Toussaint, François-Vincent 60, 332–
Schubart, Christian Friedrich Da- Stoppani, Giovanni Francesco 33, 43 334
niel 270 Stosch, Philipp von 21–22, 67, 115, Trevisani, Francesco 29
Schulenburg, Werner von der 293 133, 192, 199–200, 202, 204–208, – Kindermord zu Bethlehem 138
– Der Genius und die Pompa- 252, 282, 301, 330–331 Trippel, Alexander
dour 293 – Gemmae antiquae caelatae 202, 207, – Grabmal des Grafen Tscherny-
Schulz, Arthur 296 209 chew 246
Schulze, Johannes 281 Strabon 52, 214 Tuscher, Carl Marcus 297
Schulze, Johann Heinrich 8, 50, 283 Strozzi, Pier Leone 200 Tutsch, Claudia 296, 299, 301
Schulze, Johann Karl Hartwig 336– Struensee, Adam 7
337 Stuart, James 86, 167, 216 U
Schulz, Johann 136 Sulzer, Johann Georg 82, 128, 325, 334 Uden, Konrad Friedrich 2–4, 115,
Schürmann, Anna von 313 – Allgemeine Theorie der Schönen 121–122, 126, 131–132, 137, 155
Schweickart, Johann Adam 208 Künste 81, 247 – Skizze von Winckelmanns Leben,
Scott, Walter 283, 290 Szondi, Peter 142 von seinem Jugendfreunde 279
Segelken, Heinrich Uhde-Bernays, Hermann 136, 296
– Winckelmann 1717-1768 286 T Ulfilas 274
Sellius, Gottfried 8, 238, 332–333, 335 Tacitus (Publius Cornelius Taci- Ulrichs, Karl Heinrich 68–69
Semper, Gottfried 316 tus) 175, 214, 222 Ungern-Sternberg, Alexander von 290
Seneca (Lucius Annaeus Seneca) 175 Tanucci, Bernardo 25–26, 28, 169–171 – Die Zerrissenen 290
– De Ira 152 Tappert, Esaias Wilhelm 4, 6, 50, 283 – Winckelmann 290
Senff, Karl August 304 Tassie, James 203 Unzer, Johann August 153–154
Sergel, Johan Tobias 307 Tasso, Torquato 273 – Gedancken vom Einflusse der Seele
Seroux d‘Agincourt, Jean-Baptis- Tausch, Harald 264 in ihren Körper 153
te 336–337 Terenz (Publius Terentius Afer) 214 – Neue Lehre von den Gemüthsbewe-
Servius (Maurus Servius Honorati- Ternite, Wilhelm 303 gungen 153
us) 231 Testelin, Henri 152 Usteri, Leonhard 18, 38, 66, 116, 119,
Sévigné, Marie de Rabutin-Chantal Theognis 4 194, 197
de 227 Theokrit 52 – Winckelmanns Briefe an seine
Sextus Empiricus 51 Theophrast Freunde in der Schweiz 194
Shaftesbury, Anthony Ashley Coo- – Charaktere 5 Usteri, Paul 20, 38, 116, 119, 194
per 246, 284 Theron 181
– Characteristicks 188 Thiersch, Hermann 296–297 V
Sichtermann, Hellmut 114, 136, 289, Thiess, Frank 293 Valckenaer, Lodwijk Caspar 50
344 Thomasius, Christian 6, 152–153 Valenti Gonzaga, Silvio 77
Simonetti, Michelangelo 146 – Die neue Erfindung einer wohl- Valeriano, Pietro
Simonides 246, 254 gegründeten und für das gemeine – Hieroglyphica 244
Sixtus IV. 74, 167 Wesen höchstnöthigen Wissenschaft Vallentin, Berthold
Skopas 190 / Das Verborgene des Hertzens ande- – Winckelmann 281, 286
Smith, Joseph 200 rer Menschen auch wider ihren Wil- Valvassori, Gabriele 76
Sokrates 127 len aus der täglichen Conversation Vanvitelli, Luigi 16, 26
Solon (Steinschneider) zu erkennen 152 van Wassenaer-Opdam, Johan Hen-
– Medusa Strozzi 200, 202 Thorvaldsen, Bertel 311 drik 201
Sophokles 11, 52, 259–260 Thukydides 52, 227 Vasari, Giorgio 62, 140, 228, 232, 339
– Iphigenie in Aulis 127 Tiberius 221–222 – Le vite de’ più eccellenti pittori, scul-
– Philoktetes 144, 259 Tibull (Albius Tibullus) 262 tori e architettori 81, 188, 190
Souriau, Étienne 80 Ticozzi, Stefano 337 Veit, Philipp 311
Spence, Joseph 259 Tieck, Ludwig 290, 319–320 Venini, Carlo Giovanni 336
Sperges, Joseph von 44 – Franz Sternbalds Wanderungen 320 Venuti, Marcello 168, 325
366 V Anhang

Venuti, Ridolfino 33–34 – Das Pantheon 276 Wilde, Oscar 67


– Collectanea antiquitatum romana- – Phaëthon 276 Wilhelmine von Ansbach-Bay-
rum 201 Walch, Johann Georg 152 reuth 205
Vergil (Publius Vergilius Maro) 11, – Philosophisches Lexicon 152 Wilkes, John 33, 36, 115
144, 215, 259, 262 Wallmoden-Gimborn, Johann Ludwig Wille, Johann Georg 116, 134, 235,
Veronese, Paolo 12, 78, 84, 139 von 39 333–334
Vettori, Francesco Wallraf, Ferdinand 312–313 Wilson, Daniel 68
– Dissertatio Glyptographica 201 Walpole, Horace 22 Winckelmann, Martin 2
Viscioletta (Kurtisane) 37 Walther, Friedrich Rudolph 2 Winckelmann, Nicolaus 2
Visconti, Ennio Quirino 235, 336, 341 Walther, Georg Conrad 15, 59, 115– Wolff, Christian 6, 80, 278, 324
– Il Museo Pio Clementino 159 116, 118, 131, 136, 143, 158, 193, 205, – Vernünfftige Gedancken von der
Visconti, Giovanni Battista 42 234, 238, 243, 250, 260, 330–332 Menschen Thun und Lassen zu Be-
– Il Museo Pio Clementino 159 Wangenheim, Wolfgang von 69 förderung ihrer Glückseligkeit, den
Vitruv (Marcus Vitruvius Pollio) 25, Watelet, Claude-Henri 35–36, 235, Liebhabern der Wahrheit mitgethei-
59, 81, 175, 212, 214, 220, 222, 268 324–325 let 153
– De Architectura 81, 85, 165, 177, – L´Art de peindre. Poëme. Avec des Wolff, Emil 281
182, 212, 221 réflexions sur les différentes parties Wolf, Friedrich August 50, 53, 55–56,
Vogel, Julius 296–297 de la peinture 324–325 236, 272, 336
Volkmann, Johann Jakob 28, 38, 116 Webb, Daniel 37 – Prolegomena ad Homerum 273
Volkmann, Peter Dietrich 28, 171 Weber, Karl 168, 174 – Skizzen zu einer Schilderung Win-
Vollhardt, Friedrich 260 Weigel, Erhard 8 ckelmanns 280–282
Voltaire (François-Marie Arouet) 6, Weinlig, Christian Traugott 20 Wood, Robert 86, 214, 216, 265
69, 226–227, 265, 283–284 Weirotter, Franz Edmund 20 Wrede, Henning 253
– Dans le temple du goût 227 Weiße, Christian Felix 123, 184, 192,
– Éléments de la philosophie de 242, 330 X
Newton 101, 227 Wichmann, Ludwig 281, 310 Xenophon 11, 51–52, 190
– Essay sur la poésie épique 227 Wiedewelt, Johannes 19–20, 23, 116, – Anabasis 52, 227
– Lettres philosophiques 227 250, 297–298 – Erziehung des Kyros 5
– Siècle de Louis XIV 227 Wieland, Christoph Martin 131, 270–
Vondel, Joost van den 313 271, 273, 323 Z
Vorstius, Johannes – Aristipp und einige seiner Zeitge- Zanetti, Antonio Maria 200
– Veterum Poetarum Graecorum Poe- nossen 271 Zarilli, Mattia 171, 177
mata 51 – Briefe 270 Zarlino, Gioseffo 81
Voßkamp, Wilhelm 80 – Die Briefe des Horaz 270 – Dimostrationi Harmoniche 81
– Die Natur der Dinge 270 – Istitutioni Harmoniche 81
W – Gedanken über die Ideale der Al- Zedler, Johann Heinrich
Wächtler, Jakob Emanuel 334 ten 271 – Universal-Lexicon 11, 109
Wackerbarth-Salmour, Joseph Anton – Lukians sämtliche Werke 270, 274 Zoëga, Georg 273
Gabaleon von 200 – Peregrinus Proteus 271 – Li bassirilievi antichi di Roma 159,
Waetzoldt, Wilhelm – Über eine Stelle des Cicero, die Per- 255
– Deutsche Kunsthistoriker 286 spektiv in den Werken der Griechi-
Wagner, Martin von 309, 311 schen Mahler betreffend 270
Waiblinger, Wilhelm 275–276 Wiesner, Joseph 100–101
Sachregister

A – Farnesischer Stier 263


Abbildungen 158–159, 199, 202, 208, 214, 216, 234, 251, 253 – Fünf gegen Theben (Stosch’scher Stein) 206, 253
Acta eruditorum 52 – Hektors Heimtragung 253
Adversaria 58 – Hektors Lösung und Heimtragung 253
Affektation 188 – Hektors Schleifung und Lösung 253
Affekte 151–155 – Herakles, Hesione und Telamon 253
Agrigent 167, 180–181, 220, 330 – Herkulanerinnen 14, 127, 129–130, 132
– Tempel der Concordia 181–182 – Hermes 145
– Tempel des Zeus 181–183 – Hermes, Apollon, Artemis 253
Ägypten 81, 94, 165 – Hermes Psychopompos 301–302
Ägypter 109, 203, 233 – Hippolytos und Phaidra 253
ägyptische Kunst 75, 98, 206, 231–233, 237 – Hochzeit von Peleus und Thetis 253
Albano 174 – Homer-Büste 301
Allegorese 245 – Isisrelief 253
Allegorie 132, 144, 150, 165, 242–247, 261, 331 – Kindheit des Dionysos 251, 253
Alnwick Castle 200 – Kitharoidenrelief 252
Alpen 44 – Laokoon 62, 70–71, 76, 85, 129, 144–145, 155, 185–186,
Alte Pinakothek 311 189, 230, 234, 259–260, 263–264, 284, 313
Altertumswissenschaft 50, 69 – Leukothea 251
Anakreontik 270 – Mars und Rhea Silvia 253
Anatomie 8, 62, 81, 100, 193, 327 – Nereiden mit den Waffen des Achill 253
Ancona 19 – Nilmosaik von Palestrina 215
Androgynie 70 – Niobe 185
Anthropologie 152–153, 186, 269, 280, 284 – Niobidengruppe 263
antike Kunst – Obelisk von Montecitorio 253
– Achilleus‘ Rüstung 253 – Odysseus und Diomedes 253
– Achilleus und Penthesileia 253 – Odysseus und Eurykleia 253
– Alcamenes (Grabrelief) 253 – Odysseus und Teiresias 253
– Amazone 175 – Orest und Pylades auf Tauris 253
– Antinoos 291 – Orest vor dem Areopag 253
– Antinoos-Relief 251, 301 – Paris und Helena 253
– Apollo Barberini 311 – Peleus 253
– Apollon Sauroktonos 251 – Perseus 145
– Apollon und Marsyas 253 – Phaea 253
– Apollo von Belvedere 62–63, 70, 76, 85, 143–148, 156, – Phlyakenkrater 253
160, 216, 230, 234, 264, 270, 294, 309, 314, 321 – Priapi 173, 175
– archaistische Diana 170, 172, 176 – Protesilaos 253
– Ares und Aphrodite 253 – Raub der Leukippiden 253
– Athena Promachos 311 – Reiterrelief Albani 252–253
– Bacchus und Leukothea 268 – Römische Wölfin 167
– Borghesischer Fechter 147, 260 – Schlafende Ariadne 76
– Daidalos und Ikaros 253 – Sturz des Phaeton 253
– Daidalos und Pasiphae 253 – Telephos 172
– Diogenes-Relief 252 – Thereus/Peirithoos gegen Sinnis 253
– Dornauszieher 167 – Theseus findet die Waffen des Aigeus 253
– Doryphoros 175 – Theseus gegen den Minotauros 253
– Eirene 252 – Torso von Belvedere 62–63, 70, 76, 85, 144–146, 149–150,
– Elgin Marbles 160 161–162, 192, 216, 230, 234, 246, 264
368 V Anhang

– Trauer der Andromache und Ankunft der Amazonen 253 Bildhauerei 61, 63, 76, 78, 81, 85, 157, 160, 162, 211, 214,
– Vasen 326 230, 233, 259
– Venus von Newby 78 Bildungsroman 283, 293
– Wandmalerei 270 Biographik 278–286, 290
– Zorn des Achilleus gegen Agamemnon 253 Blenheim Palace 200
– Zeus des Phidias 309 Bologna 44
Antikensammlungen 28, 30, 73–76, 159, 164, 166–167, – Bibliotheca San Salvatore 19
170–172, 174, 176, 252, 308, 326, 331 Bonn 309
Antiklassizismus 83, 155, 275 Botanik 8
Antimodernismus 286 Braunschweig 11, 43, 200
antiquarische Gelehrsamkeit 53, 58, 143, 145, 165, 175–176, Brevitas 243
201–202, 208–209, 212–215, 218–219, 221, 230, 253, 262– Briefausgaben 114
263, 336, 340 Briefforschung 114
Antium 147 Briefrezeption 114
arabische Kunst 75 Briefsteller 118
Archäologie 50, 164–169, 171–172, 174–176, 220, 262–263, Büchergelehrsamkeit 229–230
268, 273, 282–283, 307, 309–310, 313, 339–340, 342, 344
– Hausrat 175–176 C
– Papyrusrollen 172–173, 175–176 Campagna di Roma 19, 176
– Stratigraphie 169, 174, 176 Campaner 109
– Systematik 165, 175 Canova-Schule 307
– Wandgemälde 171, 173, 175 Cap Miseno 26
Architektur 59, 89, 91–92, 97–98, 180–181, 183, 211–222, Caserta 25–26, 28
230, 267 – Acquedotto Carolino 26
Architekturtraktate 212 Castel Gandolfo 23, 33, 39
Arezzo 22 Castle Howard 200
Arneburg 9 Catania 42, 167, 180
Ästhetizismus 285 Charakteristische, das 272, 307
Astronomie 8 Chatsworth House 200
Athen 111, 222, 264, 275 Chemie 8
– Parthenon 293 Chiaroscuro 139, 326
Athenaeum (Zeitschrift) 325–326 Chimäre 311
Aufklärung 70, 246, 267–270, 274, 280 Chiusi 22
Augsburg 44 Chronologie 206
Augspurgische Ordinari-Post-Zeitung 66 Ciceronisches Latein 4
Augusteisches Zeitalter 307 Cori
Ausfuhr von Kunstwerken 33 – Herkulestempel 221–222
Autarkie 237 Corneto (Tarquinia) 166
Autobiographie 61 Corpus Aristotelicum 151
Autonomieästhetik 140 Corpus Hippocraticum 100, 104, 151
Autopsie 52, 55, 126, 133–134, 158–159, 213, 215, 228–230, Cortona 22
234, 258, 260 – Accademia Etrusca 166, 208, 250
Cottasche Verlagsbuchhandlung 275, 290
B Cumae 28, 170
Baiae 26, 28, 170
Barock 81, 88, 90–92, 96–97, 144, 151, 154, 160, 217, 219, D
223, 242, 245–246, 283, 307, 313, 316 Dahlen, Schloss 13
Basreliefs 158, 215 Daktyliotheken 15, 202, 208, 314
Bel esprit 106 Darmstadt 271
Belvederehof 141, 143, 167 Dedikationen 119
Berlin 5, 42–43, 50, 201, 204, 283, 310, 316, 332 Dekonstruktion 70
– Alte Nationalgalerie 316 Delphi 309
– Altes Museum 309–310, 316 – Lesche der Knidier 309
– Sammlungen 200 Denkmal 309–310
– Staatsbibliothek, königlich Preußische 258 Denkmal für Friedrich d. Gr. 316
Berliner Klassik 271–273, 276 Dessau 42–43
Beschreibungsschema 84, 86 Deutsches Archäologisches Institut 342
Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Deutsches Reich 111
Künste 149, 180, 192, 245, 258–259, 330 Deutschlandkritik 122–123
Bibliotheken 5, 10–11, 313–314 Didyma 180
Sachregister 369

Disegno 80–84, 139, 320, 322–323 – Biblioteca Laurenziana 22


Draperie 85, 186, 193 – Biblioteca Marucelliana 22
Dresden 13–19, 41, 52, 126, 154–155, 169, 200, 283, 293, – Borgo degli Albizzi 21
306, 313–314, 316, 330 – Gemmen- und Medaillensammlung der Großherzöge 21
– Antikensammlung 126, 285 – Palazzo Pitti 22
– Frauenkirche 13 – Palazzo Ramirez de Montalvo 21
– Gemäldegalerie 13–14, 82, 136–138, 142, 258, 319–320 – Sammlung Arnaldi 22
– Hof 13, 15 – San Lorenzo 22
– Hofkirche 13, 15 – Schweizer Café 22
– Lipsiusbau 316 – Uffizien 22
– Sempergalerie 316 Foligno 22
– Zwinger 14 Forlì 19
Dritter Humanismus 317 Forum Romanum 315
Düsseldorf 200, 315 Fragment 150
– Goethe-Museum 136 Frankfurt 271
– Sammlung Kippenberg 136 Frankfurter Kayserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zei-
Düsseldorfer Malerschule 315 tung 66
Frankreich 107–108, 315
E Franzosenkritik 123
Edle Einfalt und stille Größe 74, 83, 90, 119, 122, 129–130, Französische Revolution 276
185–186, 190, 270, 299, 307, 334 Frascati 30, 39
Einbildungskraft 62, 85, 109–110, 216, 227, 234, 264 Freiheit 19, 110–111, 120, 123, 130, 218, 222, 225, 235–236,
Einfalt 80, 124, 143, 182, 187–188, 193, 213, 217–219, 244, 268, 276, 280, 286, 320, 335–336
246, 269, 319–320, 322 Fremdsprachen 115, 177
Einheit 80, 86, 102–104, 106, 144, 160–161, 196, 218, 220, Fresko 309, 313, 315
233, 280, 322 Freundschaft 66, 118–120, 192, 279–280, 286–287, 298–
Ekphrasis 132 301, 304–305
Ellipse 322 Freundschaftsbriefe 118–121, 124
Emanation 86, 161–163 Frühe Neuzeit 316
Emblematik 245–247
Empfindsamkeit 118, 299 G
Empirie 103, 105–107, 109–110, 130, 140–141, 146, 229, Gartenkunst 267
236, 283 Gazette littéraire 177
Empirismus 90, 94, 100–104, 107–108, 110, 271, 274 Gehör 81
Encyclopédie 324 Gelehrsamkeit 299, 301–302, 304
England 290 Gelehrtenbriefe 117–118, 121
Ephesos 180 Gelehrtenkritik 52, 118, 122–123, 137, 147
Epigraphik 50 Gelehrtenporträt 297, 299, 301–302
Epikureismus 271 Gelehrtenversammlung 307, 312
Erdbeben von Lissabon 19 Gemmen 15, 21, 141, 192, 199–209, 215, 252, 314
Erster Weltkrieg 315 Gemmenkataloge 201–202
Essay 129 Geniekult 286
Ethik 186–188 Geschichtsschreibung 224–227, 233
Ethnographie 231 Geschmack 86, 88–89, 91, 94, 103, 207–208
Etrusker 97, 109, 166, 203, 232–233 Geselligkeit 119
etruskische Kunst 22, 34, 75, 94, 98, 206–207, 209, 229, Gesichtsausdruck 151–156
231–233, 237, 254, 293, 339 Glyptik 34, 214
Evidentia 85 Glyptothek (München) 311
Exegese 7 Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung (Ausstel-
Exzerpiertechnik 51 lung) 68
Exzerpte 58–62, 213, 215 Gotha 200
Göttingen 262
F – Gesellschaft der Wissenschaften 243
Fackel 308 Göttinger Taschenkalender 155
Faenza 19 Göttingische Gelehrte Anzeigen 261–262
Fehldeutungen 253–254 Grabmal 307–308
Fiktionale Literatur 289–294 Grand Tour 77, 284
Florenz 21–22, 41, 43, 205, 330 Grazie 82, 84, 184–191, 299
– Accademia dei Colombari 147 Grazien 311
– Accademia Etrusca 21 Greek Revival 307
370 V Anhang

Griechenbild 237, 269 – Schlossbibliothek 8


Griechenkult 311 – Universität 8
Griechenland 105, 107–111, 130, 186 – Universitätsbibliothek 8
– Archäologie 167 Jenaer Romantik 273–274
griechische Kunst 50, 80, 94–98, 103, 105, 110, 129–130, Jena und Auerstedt, Schlacht 273–274
132, 143–144, 147, 150–151, 161, 171, 185–186, 193, 196, Je ne sais quoi 84, 188
206–207, 221, 228–229, 231–233, 235, 237, 244, 254–255, Journal des Savants 335
258, 263, 265, 269–272, 276, 281, 283, 326, 335–336, 339– Journal étranger 134, 208, 334
340, 342, 345 Juden 109
griechische Literatur 10, 25, 50–51, 53, 61, 190, 242, 253, Junghegelianismus 285
262, 278, 285, 340
K
H Kaiserreich 315
Hadmersleben 2, 9–10 Kalabrien 27, 180
Hadrian 236 Kanon 307, 309, 311, 316
Haimonskinder 311 Karthago 181
Halle 2, 11, 50, 118, 153–154, 229, 283 Kassel 200
– Franckesches Waisenhaus, Bibliothek 7 Katholizismus 283, 314
– Marienbibliothek 7 Kennerschaft 118
– Universität 6–7, 224 Kenotaph 308
– Universitätsbibliothek 7 Klassifikation (Gemmen) 205–209
Havelberg 12 Klassik 80–81, 311, 317
Hellenismus 316 Klassische Philologie 341
Helvetische Gesellschaft 120 Klassizismus 67, 71, 80, 82–83, 86, 89–97, 267–270, 272–
Herculaneum 24, 28, 164, 166–168, 170–171, 173–176, 214, 273, 275–276, 286, 336
325, 331 Klimatheorie 94–95, 100, 103–104, 106, 108, 110, 130,
Herkulestempel in Cori 222 340
Hermeneutik 253 Köln 311–313
Hierarchie der Sinne 81, 269 – Dom 312
Historiographie 264–265 – St. Peter 313
Historisierung 81, 83–84, 94–97, 147, 212, 218–219 – Wallraf-Richartz-Museum 312
Historismus 94, 96, 275, 284 Kolorit 80–84, 139, 155, 193, 196, 319–320, 322–323, 326
Historizität 80, 130, 132 Konjekturen 234
Hofkritik 120 Kontur 80, 82, 84–86, 96, 142, 155, 161, 192–193, 195, 217,
Homoerotik 9, 119, 124, 192, 196 319–327
Homosexualität 14, 65–71, 285–287, 292 Kopenhagen 308
Horror vacui 242 – Thorvaldsen-Museum 308
Humoralpathologie 106 Körperausdruck 152–153, 155
Hypotyposis 85 Korrespondenten 115–116
Krakau
I – Sammlung Lubomirski 304
Iatromathematik 51 Kreis 324
Ideal 92, 94–95, 102, 104–105, 110–111, 130, 132, 147, 161, Kreuzblume 313
191, 270–271 Kulturanthropologie 105–106, 108–109
Idea-Lehre 83 Kulturgeschichte 265, 269
Idealismus 285 Kulturheros 313
Idealrealismus 283, 285 Kulturnation 273
Ikonographie 148, 164, 206, 244–245, 307, 310, 317 Kulturraumtheorie 206
Imagologie 105 Kunstakademien 203, 247, 272, 323
Impressionismus 315 Kunstautonomie 143–144, 230, 246
Individualität 280 Kunstbegriff 230
Inquisition 331 Kunstbeschreibung 61–63, 110, 137, 139–150, 152, 155,
Ischia 28 206–207, 209, 214, 216, 234, 272, 284
Italien 18, 25, 42, 69, 77, 164, 166–167, 199–200, 271–272, Kunstbetrachtung 141–142, 145, 147, 193, 196–197
289, 291, 314, 323, 326, 341 Kunstgeschichte 160, 164, 191, 207–208, 211–213, 222,
227–229, 231–233, 263, 269, 284, 286, 307, 309, 313, 315–
J 316
Jahrhundertausstellung deutscher Kunst 316 Kunstgeschichtsbild 307, 310, 313
Jena 9–10, 283 Kunsthalle 315
– Dominikanerkloster 8 Kunsthandel 33, 77–78, 167
Sachregister 371

Kunsthistorienmalerei 307 – Alte Pinakothek 311


Kunstkammer 137 – Glyptothek 311
Kunstkennerschaft 192, 194 – Neue Pinakothek 311
Kunstkritik 143 – Staatsbibliothek 311
Künstlerausbildung 307 Münzen 8, 215, 308
Kunstpolitik 311 Musealisierung 146
Kunstterminologie 84–85 Musée français 309
Kunsttheorie 80–86, 89, 100, 102, 126, 137–139, 184, 186, Musiktheorie 81
188, 192–193, 228, 247–248, 259 Mythologie 119, 142–143, 146, 148–150, 165, 205, 209, 253,
Kupferstiche 158–159, 199, 202, 208, 251, 253 274, 340
Kürze 129, 143
N
L Nachahmung 89–93, 95–98, 130, 132, 160–162, 185, 187,
Lagrima di Christo 41 192–193, 195, 229, 246, 285
Landschaft 42 Nachdrucke 208
Landschaftsgarten 92–93 Nacktheit 69, 93, 147
Lapidarium 308 Nationalgeist 105–107, 109, 111
lateinische Literatur 11, 262, 340 Nationalismus 286
Lebensreform 317 Nationalsozialismus 286
Leidenschaften 185 Nationalstereotypen 105–106, 123
Leipzig 11, 42, 201, 271 Natur 148, 186, 188–189
Linearperspektive 326 Naturnachahmung 83, 86, 100, 102, 104, 155, 188, 191
Literaturgeschichtsbild 313 Naturrecht 118–120
Livorno 22 Naturwissenschaft 6, 8, 62, 100–104, 106–107, 161
London 36 Nazarener 275, 311
– Society of Antiquaries 208 Neapel 21–22, 69, 167–168, 170, 173, 180, 275, 282, 293
– Society of Dilettanti 166 – Accademia Ercolanese di Archeologia 169
Loreto 19 – Capodimonte 27, 168, 173
– Basilika 44 – Münzkabinett des duca di Noja 26
– Sanktuarium 44 – Sammlungen 200
– Sammlung Farnese 27, 168
M Neo-Klassizismus 306–307, 311–313
Magdeburg 11 Neoplatonismus 145, 233
Magna Graecia 216 Neuaristotelismus 83
Mailand 335 Neuer Mensch 317
Malamocco 18 Neugotik 276
Malerei 81, 83, 154–155, 189–190, 211, 230, 233, 246–248, Niederlande 86
254, 259, 261, 270, 298, 302–303, 309, 319, 323, 325, 327, – Sammlungen 201
340 Niobe 189
Manierismus 80 Normativität 81, 83, 89, 95–96, 130, 132, 212–213, 217, 228,
Mannheimer Antikensaal 272 306
Materialität 160–162 Nöthnitz 12–14, 16, 52, 55, 126, 137, 192, 224, 227, 230,
Mathematik 5, 8, 51 313–314
Medizin 5, 8, 50, 52, 100, 107, 151–153 Nouvelle Bibliothèque Germanique 334
Medizinische Zeitung 69 Novelle 289
Meißen 314 Novelle Letterarie 208
– St. Afra 314 NS-Kunst 317
Methodenlehre, kunsthistorische 195 Numismatik 50, 214
Mittelalter 311–313 Nürnberg 201
Moderne 186, 267, 312, 315–316
Molyneux‘sches Problem 101 O
Monatschrift der Akademie der Künste und mechanischen Öffentlichkeit 116–117, 121–122
Wissenschaften zu Berlin 320 Olympia 276, 342
Montepulciano 22, 41 Oper 71
Moral 7, 66–68, 105, 110, 151, 155–156, 186, 188 Originalität 61
moral Grace 188 Ornamentik 212–213, 217–219
Moralisten 129, 152 Orvieto 41
Mord 307 Osterburg 8–9
Mosaiken 214 Ostia 165
München 44, 275 Oval 322
372 V Anhang

P Q
Päderastie 67 Queer Theory 65, 69–71
Paestum 27, 164, 167, 170, 180, 216, 220, 271 Querelle des Anciens et des Modernes 80, 82–84, 97, 106,
Palermo 168, 180 110, 130, 132
Pankratiasten 245
Parenthyrsos 155, 185 R
Paris 310 Rechtsgeschichte 8
– Académie des Inscriptions et Belles Lettres 166 Rechtswissenschaft 50
– Académie des Sciences 84 Regensburg 44
– Académie Française 83–84 Reichshistorie 7, 225–227
– Amphithéâtre Guizot 310 Reiseliteratur 107, 194, 267, 323
– königliche Bibliothek 8 Rekonstruktion 142–143
– Louvre 40, 152 Renaissance 80–83, 108, 165, 306–307, 311–312, 315, 318
– Münzkabinett 35 Restauratoren 158–159, 162
– Sorbonne 310 Restaurierung 55, 73–74, 157–162, 230
Park 313 Rhetorik 85, 119, 121, 152, 187, 189, 193, 231
Pathognomik 151–156, 185, 189 Rimini 19
Pathos 187 Rokoko 246, 283, 307, 313, 315–316
Patriotismus 120–121 Rom 16, 73, 199, 268, 271, 276, 280, 283, 306, 309, 314, 326,
Pedantismus 188, 197 331, 335
Periodisierung 316 – Accademia del Nudo 19, 38
Perser 109, 232–233 – Accademia di San Luca 83, 181, 208
persische Kunst 206, 231–233 – Albergo di Londra 39
Perücke 311 – Archäologie 165
Perugia 22 – archäologische Topographie 166
Philhellenismus 275 – Belvederehof 61–62
Philologie 4–5, 11, 50–56, 165, 260, 263 – Biblioteca Angelica 16
Philosophical Transactions of the Royal Society of Lon- – Biblioteca Barberini 19
don 100 – Biblioteca Corsini 19
Phönix 306, 312 – Biblioteca Imperiali 19
Phönizier 109, 233 – Biblioteca Vaticana 32–34, 38, 43, 53
phönizische Kunst 231, 233, 237 – Casino Rospigliosi 20
Physik 8, 100 – Cestius-Pyramide 308
Physiognomik 50, 151 – Collegio Romano 19, 34
Pietismus 115, 124 – Diokletiansthermen 219
Pisa 22 – Fontana Paolina 41
Plastik 171, 173, 175 – Galleria Altemps 76
Platonismus 81, 83, 86, 89–90, 95, 102–103, 130, 157, 160– – Galleria Barberini 76
163, 246, 264, 270–271, 274 – Galleria Chigi 76
Polemik 21, 34, 122–123, 174, 258, 260 – Galleria Corsini 76
politische Klugheit 153 – Galleria di Palazzo Colonna 76
Pompeji 24, 28, 164, 166–168, 170–171, 173–176, 331 – Galleria Doria Pamphili 76
Portici 24, 28, 166–167, 169–170, 173, 176 – Gianicolo 41
– Casino di S. Antonio 25 – Hyperboräisch-römische Gesellschaft 342
– Museum 168 – Instituto di Corrispondenza Archeologica 268, 342
Porto d‘Anzio 28, 31 – Kapitol 74
Porto Empedocle 180 – Kapitolinisches Museum 34, 38, 74–75, 77–78, 167, 252
Positur 185–186 – Konstantinsbogen 74
Potsdam 14 – Marcellus-Theater 220
Pozzuoli 26, 28 – Museo Pio Clementino 76, 146
Präformationslehre 161–162 – Museo Profano 33
Preußen 286, 309, 316 – Palazzo Albani alle Quattro Fontane 30, 37, 123
Proportionenlehre 81–83, 85, 89–91, 193, 220–222 – Palazzo Barberini 20
Publikationsgeschichte 330–337 – Palazzo Colonna 19
Puteoli 170 – Palazzo della Cancelleria 15, 29, 41
Pygmalion 148 – Palazzo della Consulta 19
Pyramide 308 – Palazzo della Propaganda Fide 34
– Palazzo Farnese 37
– Palazzo Mattei 20
– Palazzo Riario alla Lungara 76
Sachregister 373

– Palazzo Rondanini 20 – Dorische Ordnung 182, 213–214, 219–222


– Palazzo Zuccari 19 – etruskische Ordnung 214
– Petersdom 21, 315 – Korinthische Ordnung 221–222
– Piazza Barberini 23 Schönheit 62–63, 65, 67–68, 70–71, 74, 80–81, 83–84, 86,
– Piazza del Campidoglio 74 88–91, 94–97, 100–104, 130, 139, 143–145, 147–148, 154,
– Piazza della Cancelleria 29 160–161, 163, 166, 184–185, 188–190, 193, 195–196, 205–
– Piazza della Pilotta 37 207, 212, 217, 219, 228–229, 232–233, 244, 255, 261, 280,
– Piazza di Spagna 19, 39 285, 291–292, 319, 321–322, 324
– Porta Pia 74 Schulen 203
– Porta Pinciana 76 Schwäbischer Klassizismus 275
– Porta Salaria 77 Schweiz 42, 120
– Quirinalspalast 29, 74 Scriptores Historiae Augustae 214
– Ripa Grande 77 Seehausen 2, 9–14, 56, 229
– Ripetta 77 Segesta 180
– Sammlung Borghese 252 Selbstdarstellung 121, 123, 272
– Sammlungen 199–200 Selbststilisierung 118
– Sammlung Rondanini 252 Selinunt 180
– Santa Maria della Pace 219 Sensualismus 94, 96
– Sant‘ Andrea al Quirinale 219 Siena 22
– S. Bartolomeo 34 Sinnlichkeit 184
– S. Lorenzo fuori le mura 253 Sizilien 180–181, 271
– S. Trinità ai Monti 35 Sorrent 275
– Vatikan 38 Sozialistischer Realismus 317
– Vatikanische Museen 75, 252 Spalato
– Vatikanische Pinakothek 326 – Kaiserpalast 36
– Via condotti 19 Sphinx 308
– Via del Babbuino 76 Sprachstil 143–144, 148–149, 270
– Via del Corso 76 Staat 111
– Via della Gatta 76 Stabiae 28, 164, 170, 174
– Via Salaria 31, 74 Stendal 2–5, 9, 50, 283, 310, 313
– Via Sistina 19 Stil 164
– Villa Albani 21, 23, 31–32, 38, 74, 77, 159, 162, 251, 268, Stilgeschichte 108, 188–191, 203, 205–208, 219, 221–222,
275 231–233
– Villa Borghese 19, 38, 76 Stil, hoher 186, 188, 190–191
– Villa Medici 19 Stille 193
– Villa Negroni 38 Stil, schöner 188–191
– Zeichnungssammlung Albani 20, 36 St. Petersburg 309
Roman, historischer 283, 289–290 – Neue Eremitage 309
Romantik 92, 248, 267, 273–274, 276, 311, 313, 320 Straßburg 42, 271
römische Kunst 80, 206, 221, 229, 232, 236–237, 264, 272, Stuttgart 275
283, 339–340 Subjektivität 148
Romreise 194 Symbol 247–248
Royal Academy 325 Syrakus 180
Rubrikenschema 141
Ruhm 117, 121 T
Tempel 180–183
S Temperamentenlehre 106
Sacra conversazione 307 Textkritik 55
Salzdahlum 43 Theologie 6, 50
Salzwedel 2, 5 Tiefurt 313
Sammlungen 7–8, 12, 14, 20–22, 24, 27, 30, 38, 42, 44, 67, Tivoli 39
71, 73, 137, 157–158, 168, 173, 230, 268, 275, 282, 285, Topik 58
297, 301, 304, 307, 311–313, 330 Toreutik 214
– England 200 Torre Astura 36
– Frankreich 200 Toskana 81
– Russland 200 Tragödie 259–260
Sammlungskultur 167, 199–201, 204–209 Treppenhaus 312, 315–316
Samniter 109 Triest 66, 289, 291–294, 307–308
Samos 180 – Osteria Grande 45
Säulenordnungen – San Giusto 308
374 V Anhang

– San Sebastiano 45 Winckelmann-Biographie


– Winckelmann-Grabmal 307–308 – Cicerone 284
Trilith 91 – Deutschlandreise 42–44, 121, 243, 279, 291–292, 294
Tusculum 166, 216 – Dresden 13–15
– Editionsprojekte 53
U – Erotik 22–23
Übersetzungen 235, 238, 331–336 – Fälschungsaffäre (Casanova) 23–24
Urbild 310 – Familie 2
ut pictura poesis 62–63, 144, 246, 259, 261 – Florenz-Aufenthalt 21–22
– Französische Gelehrte 35–36
V – Führungen durch Rom 32–33, 38
Vasenmalerei 254, 326 – Fürsten 38, 40, 120
Velleia 166, 176 – Hauslehrer 9, 229
Velletri – Italienische Gelehrte 34–35
– Museum des Kardinal Stefano Borgia 75 – Kardinäle 29–32
Venedig 18, 66 – Kleidung 41
– Biblioteca Marciana 44 – Konrektor 10–12, 229
– Frari-Kirche 308 – Konversion 15–16, 280, 314
– Palazzo Grimani 44 – Künstler 19–20
– Sammlung Grimani 44 – Kurrende 3
– S. Marco 44 – Liebesbeziehungen 14, 65–67
Venetien 81 – Neapelreisen 24–28, 42–43, 116, 170–171
Verdienst 111 – Nöthnitz, Bibliothek 13
Vererbungslehre 103–104 – Prefetto delle antichità 33
Vernunft 83–84, 108–109, 120, 184, 187, 193 – Privatleben 37, 40–41
Verona – Psychologie 279, 290
– Palazzo Bevilacqua 44 – Reise, akademische 8–9
– Sammlung Scipione Maffei 44 – Reise nach Griechenland 42
Versailles 26, 152, 200 – Reise nach Paris 42
Verzeitlichung 210–211, 213, 217–222 – Reise nach Sizilien 42, 180
Vesuv 41 – Rom-Reisende 36–39, 43, 119
Vesuvausbruch 28, 174 – Schulzeit 3–5
Viktorianismus 285 – Scriptor linguae teutonicae 32–33
Villeggiatura 28, 30–31, 33, 123 – Studium 6–8, 224
Volsker 109 – Tod 44–45, 269, 278, 280–281, 289, 292, 294, 332
Volterra 22 Winckelmann-Denkmäler 281, 307, 316
Vorstellungskraft 62 Winckelmann-Feiern 268, 275, 281–282, 342–343
Winckelmann-Gesellschaft 343
W Winckelmann-Kritik 236, 258–265, 270, 272
Walthersche Hofbuchhandlung Dresden 243, 273 Winckelmann-Philologie 60
Wandmalerei 214–215, 254 Winckelmann-Porträts 296–297, 299–303
Weimar 136, 311, 313 Winckelmanns-Programme 317
Weimarer Klassik 268–270, 272–273, 275–276 Winckelmannstag 282
Weimarer Republik 286 Winckelmann-Werkausgaben 136, 273, 276, 281, 336–338,
Werben/Elbe 12 341, 343
Wien 26, 43–44, 200–201, 316, 332 Wörlitz 40, 268
– Kunsthistorisches Museum 316
– Ringstraße 316 Z
– Sammlung des Fürsten Liechtenstein 44 Zopf (Zopfstil) 311–312
– Schloss Schönbrunn 44 Zürich 42, 120

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