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Schriftenreihe des

Käte Hamburger Kollegs


Maurizio Ferraris
»Recht als Kultur«
Manifest des
Herausgegeben von Werner Gephart
neuen Realismus
Band6

Aus dem Italienischen von


Malte Osterloh

......
.._, ...._,
recht als kultur

l 211 VITTORJO KLOSTERMANN


Frankfun am Main 2014
·
kät.e II.!U.uhurgor kollcg
Iaw as cuhurt
centte (or advanced study
Titel der Originalausgabe : ManifesLo del nuov o t·ealismo

Wenn auf einer Insel ein großer schwarzer Felsen

steht und alle Bewohner zu der

Ansicht gelangt sind -durch umfangreiche Erfahrungen

und die Aufbietung aller Überredungskunst-, dass der Felsen

we iß ist, bleiben der Felsen doch schwarz

und die Bewohner der Insel

Dummköpfe.

Paolo Bozzi (1930--2003)

Bi bliograp hisch e Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der


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©für die deutsche Au sgabe Vittorio Klostermann GmbH ·


Frankfun am Main 2014·

Alle Rechte vorbehalte n . Ohne Genehm igun g des Verlages ist es nicht
gestattet, dieses Werk oder Teile in eine m photomechanischen oder son·
stigen Reproduktionsverfahren oder unter Ver we ndung elektronischer
Systeme zu verarbeiten, zu vervielfaltigen und zu verbreiten.
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (8liS09706
Satz: post scrip tum, www.post-scriptum.biz
Um schlaggestaltung: Jörgen Rumbe rg, Bonn
Umschlagabbildtmg: V\'erner Gephart, Auf der Suche nach der
Wirklichkeit (Maurizio Ferraris nach der Manier Umberto Boccionis),
Pastell·Collage (29 X 15 cm), 2014
Druck und Bindung : Huben & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISSN 2193-2964
ISBN 978·3·465·04214-3
Inhalt

Vorwort des Herausgebers . ..... .... ..... .. ....... ..... .... ... ...... g
Vorwort.......................................................... 13

1. Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit

Von der Postmoderne zum Populismus 15 Ironisierung 18


Rotsublimierung 22 Rotobjektivierung 25 Vom Realitysmus zum
Realismus 27

2. Realismus. Dinge, die von Anbeginn der Welt existieren

Der Trugschluss Sein-Wissen 33 Experiment mit dem Pantoffel 37


Ontologie und Epistemologie 39 Veränderlich und unveränderlich 42
Innenwelt und Außenwelt 45 Wissenschaft und Erfahrung 46
Positivismus? 49

3. Rekonstruktion. Warum die Kritik mit der Wirklichkeit beginnt

Der Trugschluss Feststellen- Akzeptieren 51 Experiment mit dem


. ethischen Gehirn 52 Benaltrismus und Unwiderruflichkeit 54
Dekonstruktion 56 Kritik 59 Rekonstruktion 62

4. Emanzipation. Ein unerforschtes Leben hat keinen Wert

Der Trugschluss Wissen -Macht 67 Experiment mit dem Abschied von


der Wahrheit 70 Dialektik 73 Gewissheit 76 Aufklärung 78
Befreiung 82

Bemerkung zum Text... .. ..... ........... ......... .. ...... ..... .. . 83

Literatur .. .... . ... ... ... . .. . ... .............. .. ... ...... ...... . .. 85
Vorwort des Herausgebers

Zum Manifest des neuen Realismus

Welche Bedeutung hat ein »Manifest« wie dieses für die Fragestellungen, die
sich ergeben, wenn die Sphä1·e des Rechts als Teil der Kultur verstanden wird, die
ihrerseits durch Recht geprägt ist, und »Kultur« sich als eigene Geltungsquelle i n
den normativen Ordnungen moderner und nachmoderner Gesellschaften global
bemerkbar macht? Würde man den feinsinnigen, ironisch melancholischen Text
Maurizio Ferraris', der heldenhaft amIdeal objektiver Erkenntnis festhält, in die
Sprache der Futuristen übersetzen, dann käme diejenige Vermischung von Kunst
und Wissen, Machtanspruch und verbreitetem Nichtwissen zum Vorschein, die
er gerade verurteilt:

1. Wir wollen die Gefahr der Erkenntnis preisen,


2. wir verdammen das Schaukeln der Wahrheit in den Gondeln der Begriffsscha­
len,
3· wir loben den unerschrockenen Blick ins Antlitz der Wahrheit und
4· wir verachten den Krieg als Hygiene der Welt und bekämpfen die Verachwng
des Weibes.

In diesem Duktus würde sich ein heutiger Autor lächerlich machen,' und der
Herausgeber nimmt in diesem Beispiel dem verehrten Autor, Maurizio Ferraris,
ein solches Peinlichkeitsrisiko gerne ab. Mit seinem Manifest kämpft auch Fer­
raris gegen einen zum »Passatismus« degenerierten Gedanken vor allem zweier
Bewegungen, die er im Visier hat, eine durch Lyotard, Derrida und Foucault per­
sonalisierte »Postmoderne« und einen t·adikalen Konstruktivismus, der die Welt
in der Begriffsarbeit seiner Beobachter hervorbringe. Mit einer Zustimmung er­
zwingenden Beobachtungsgenauigkeit erinnert nun der Autor des Manifests im
ersten Kapitel an unsere eigenen Gepflogenheiten postmodernen Denkens: die
Ironisierung, den Kult der Anführungszeichen, der aus orge um möglicherweise
unkorrektes Reden das Denken insgesamt unter den Universalverdacht der Fäl­
schung setzt und am Ende gar den Wert der Wirklichkeit bzw. eines Wissens von
der Wirklichkeit diskreditiert.

tgog wnr dies noch ande�s: Vgl. Werocr Gephart: Bilder der Moderne. Studien �u einer Sozio­
logie der Kunst· und Kulturinhalte, Opladen 1998, S. u8ff.
10 Vorwort des Herausgebers Zum Manifest des neuen Realismus 11

Die Argumentation ist philosophisch elegant um die Auflösung dreier Trug­ des neuen Realismus« von Maurizio Ferraris lesen. Es ist kein »poetischer« und
schlüsse organisiert: der Verwechslung von Ontologie und Epistemologie, der Ver­ kein »magischer« Realismus deT Begriffsbeschwörung, wie sie eine Begriffsjuris­
mengung von Ethik und Wirklichkeitswissenschaft sowie der Reduktion von prudenz gepflegt hatte, und erst recht keine affirmative, auf Machbarkeitsfragen
Wirklichkeitswissen auf Machtstrukturen. Dem postmodernen Angriff auf die reduzierte Wissenschaft vom »wirklichen« Recht, sondern »Aufklärung«, auch
Wirklichkeit im Medium der Entdifferenzierung von Sein und Wissen, Feststel­ darüber, dass sieb die letzte Frage der »Gerechtigkeit« mit Derrida nicht dekon­
len und Akzeptieren, Wissen und Macht wird eine Wiederbelebung der Philoso­ struieren lässt. Dem neuen Realismus ist daher ein boher moralischer Anspruch
phie als Brücke entgegengestellt - zwischen dem gesunden Menschenverstand eingeschrieben, mit dem sich auch die Bewegung des »Legal Realism« neu lesen
und den momlischen Werten und Meinungen und der Welt des Wissens (denn es lässt.
gibt nicht nur die Physik, es gibt auch das Recht, die Geschichte, C.l.ie Ökonomie) Über diesen Bemerkungen zu einem besonderen Anwendungsfeld des »Mani­

(S. 35 f.). Für sämtliche Exzesse dieses postmodernen Denkens gäbe es in den Dis­ fests« in der Rechtsanalyse soll der allgemeine Anspruch nicht zurücktreten: Es
ziplinen, die von Normativität handeln, der Rechts· und Moralphilosophie, der formuliert ein Unbehagen an der Postmoderne und dem Pankonstruktivismus,
Rechtssoziologie und soziologischen Theorie usf., zahlreiche Belege. um ihnen »Alt.europäisches« entgegenzustellen: Und wenn sich erweisen sollte,
So hat sich die Idee der Mehrfachcodierung, wie sie sich in der architektoni­ dass dieses Wirklichkeitsverständnis gegenüber den adressierten Verkürzungen
schen Variante der Postmoderne niedergeschlagen hat, in einem normativen und Verzerrungen einen widerständigen Kern aufweist, dann müsste es für all
Pluralismus wiedergefunden, der im Verdacht der Beliebigkeit seiner norma­ diejenigen von Bedeutung sein, die sich auch in anderen >>Kulturen« nicht auf
tiven Projektionen steht. diesen partikularen Kontext reduzieren lassen mögen.
Dass die Welt zur Auslegung aufgegeben sei, wird nicht. allein als Schicksal der
Alltagsmenschen, sondern als Merkmal des Rechts behandelt, das aus seinen Werner Gephart
hermeneutischen Zirkeln der »menschlichen Ausle gung« niemals heraustTeten Bonn, im November 2013
könne.
Gerade das Wissen um Recht und Gerechtigkeit sei mit der Macht der Priester­
Richter und Normsetzungsapparate im unheimlichen Reich des Normativen
genealogisch verquickt.

Diese Thesen sind in der Tat aufregend in einem Klima, in dem die beliebige
Satzbarkeit des Rechts, Luhmanns Merkmal positiven Rechts, durch nichtbelie­
bige Grundrechte, Menschenrechte und institutionelle Ewigkeitsklauseln (Art. 79,
Abs. 3 GG) limitiert wird. Dies ist aufregend, wenn in postkolonialen Diskursen
der Verdacht ausgelöst wird, dass unsere Grundbegriffe der Analyse des Rechts
»Geltungskulturen« differenzieren, die Befangenheiteil eines eurozentrischen
Normenverständnisses spiegeln würden. Und dies ist irritierend, wenn ein Pan­
konstruktivismus nicht mehr zwischen der sozial-juridischen Konstruktion von
Begriffen und der wirklichkeitsbezogenen Analyse der Funktion des »Als-ob« der
realen Welt der Fiktionen zu unterscheiden weiß.
Was bei Lyotard oder Baudrillard als Welt der Simulakren erschien, ist von
Maurizio Ferraris in die wirkliche Welt der Ontologie zurückgeholt: in die Mate­
rialität der Dokumente und Archive, die Ferraris zufolge nicht etwa verschwin­
den, sondern in unseren Schubladen, Brieftaschen und Mobiltelefonen unendlich
vervielfältigt werden. Unter den zahlreichen Manifesten, die von den Futuristen
verfasst wurden - zur Musik, zur Architektur, zur Literatur etc. -, gibt es mei­
nes Wissens kein einziges zum Recht. Als solches lässt sich aber das »Manifest
Vorwort

Im Juni 2011 traf ich am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici in Neapel einen
jungen deutschen Kollegen, Markus Gabriel, der gerade eine internationale Kon­
ferenz plante zum grundlegenden Charakter der zeitgenössischen Philosophie.
Markus fragte, was meiner Ansicht nach der richtige Titel dafür sei, und ich
antwortete ihm: »New Realism.« Das war eine naheliegende Überlegung: Das
Pendel des Oenkens, das im 20. Jahrhundert Richtung Antirealismus und dessen
verschiedene Formen (Hermeneutik, Postmodernismus, sprachliche Wende etc.)
schwang, hatte sich um die Jahrhundertwende Richtung Realismus bewegt (auch
hier in seinen zahlreichen Ausprägungen: Ontologie, Kognitionswissenschaften,
Ästhetik als Wahrnehmungstheorie etc.).
Es war, um genau zu sein, am z3. Juni um 13:30 Uh r. Aber diese VVortschöp­
fung war lediglich der Titel einer Tagung: Der »neue Realismus« ist keineswegs
»meine Theorie«, ist -..,·eder eine bestimmte philosophische Richtung2 noch eine
Koine des Denkens, sondern schlicht die Fotografie (die ich, das schon, für rea­
listisch halte) eines Sachverhalts, wie mir die ausführliche Debatte der letzten
Monate mehrere Male gezeigt zu haben scheiot.5
Eben urn diesen Umstand zu unterstreichen, habe ich in einem Artikel, mit
dem ich die Tagung angekündigt habe,4 die Form des Manifests verwendet, ja so­
gar des Manifests: »Ein Gespenst geht um in Europa«. Als Marx und Engels dies
schrieben, taten sie das nicht, um urbi et orbi zu verkünden, dass sie den Kommu­
nismus entdeckt hatten, sondern um festzustellen, dass die Kommunisten zahl­
reich waren. Hätte dagegen Kant seine Kritik der reinen Vemurift begonnen mit
»ein Gespenst geht um in Europa, die Transzendentalphilosophie«, hätte man ihn
für verrückt gehalten, da er nun einmal eine Theorie entwickelte, die in diesem
Moment nur in seinem Buch existierte.
Was allerdings eine gewisse Originalität anstrebt oder was ich zumindest als
eine persönliche Ausarbeitung empfinde, sind die Gedanken, die ich im Laufe
de:r letzten zwanzig Jahre entwickelt habe und die ich in diesem Band zusam-

2 Anders als zum Beispiel der »Ncw 1\ealisrn«, eine Bewegung des frühen zo. Jahrhunderts; vgl.
etwa Holt cta 1.: The New Realism. Für eine programmatische Darstellung vgl. Holte t al.: 1'he Pro­
gram and First Platform of Sx i Reali su; turn zeitgenössischen Gebrauch d e s Begriffs »Realismus«
vgl . den Eintrag »Realism« in der Sumford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/

entries/realism/.
3 Vgl. die Übersicht zum neuen Realismus unter http://labom.it/dibattito-sul-nuovo-realismo.
Für eine Erläuterung erlaube ich mir, auf meinen Artikel Nuovo Realismo FAQ zu verweisen, der
in Noema erschien.
• »Lo. Repubblica«, 8. August 2011.
14 Vorwort

menfasse. Die Ausarbeitung des Realismus ist tatsächlich die Leitlinie meiner 1. Realitysmus.
philosophischen Arbeit geworden nach der Wende zu Beginn der neunziger Jahre
des zo. Jahrhunderts, die mich dazu gebracht hat, die Hermeneutik aufzugeben,
Der postmoderne Angriff
um eine Ästhetik als Theorie der Empfindung, eine Ontologie als Theorie der auf die Wirklichkeit
Unveränderlichkeit vorzuschlagen, eine So-.�;ialontologie als Theorie der Doku­
mentalität.5 Für mich hat der Rückbezug auf den Realismus also nicht die Bedeu­
tung, ein lächerliches philosophisches Monopol auf das Reale zu beanspruchen,
was kaum anders wäre als die Forderung, Wasser zu privatisieren. Es geht eher
darum, darauf zu bestehen, dass das Wasser nicht sozial konstruiert ist; dass die Von der Postmoderne zum Populismus
unantastbare dekonstruktivistische Berufung, die i m Zentrum aller Philosophie
steht, die dieses 1amens würdig ist, sich an der Wirklichkeit messen muss, sonst Die Postmoderne hält Einzug in die Philosophie mit einem kleinen Buch (109
ist sie ein nichtiges Spiel; und dass jede Dekonstruktion ohne Rekonstruktion Seiten) des französischen Philosophen Jean-Franl(Ois Lyotard: Das postmoderne
verantwortungslos ist.6 Wissen, erschienen im September 1979,1 das vom Ende der Ideologien sprach, also
Aber man darf natürlich nicht die kontextuelle Dimension vergessen, in der von denen, die Lyotard die »g·roßen Erzählungen« nannte: Aufklärung, Jdealis­
ich meine Betrachtungen anstelle, die von einer Reflexion über die Ergebnisse mus, Marxismus. Diese Erzählungen waren abgenutzt, man glaubte nicht mehr
der Postmoderne herrühren. Das, was ich »neuen Realismus« nenne, ist in der an sie, sie hatten aufgehört, das Gewissen aufzurütteln und Wissen und wissen­
Tat vor allem die Kenntnisnahme einer Wende. Die historische Erfahrung der schaftliche Forschung zu rechtfertigen. Es war eine Krise, aber- scheinbar- keine
populistischen Medien, der Kriege nach dem u. September und der jüngsten öko­ Tragödie, weit entfernt von den Dramen und den modernen Guillotinen, in einer
nomischen Krise hat zu einem zentnerschweren Widerruf dessen geführt, was aus Epoche, die nicht vorhersehen konnte, was von da an in Küne passieren sollte, vom
meiner Sicht die beiden Dogmen der Postmodeme sind: dass die gesamte Rea]jtät Balkan bis zum Nahen Osten, von Afghanistan bis Manhattan. Die Leichtigkeit,
gesellschaftlich konstruiert und unbegrenzt manipulierbar sei und dass die Wahr­ mit der die Pandemie sich ausbreitete, hing nicht nur mit dem zusammen, was
heit ein unnützer Begriff sei, da die Solidarität wichtiger sei als die Objektivität. man etwas dunkel »Zeitgeist« 1:1en nt, sondern vor allem mit der Tatsache, dass die
Die realen Notwendigkeiten, die realen Leben und die realen Toten, die nicht auf Postmoderne auf den Schultern einer kosmopolitischen Reihe von Eltern2 steht:
Interpretationen reduziert werden können, haben ihre Rechte geltend gemacht der englische Historiker Arnold Toynbee, der von ihr in den vierziger Jahren
und die Meinung bestätigt, dass der Realismus (genauso wie sein Gegenteil) nicht des zo. Jahrhunderts gesprochen hatte, der deutsche Anthropologe Arnold Geh­
nur auf die Erkenntnis Auswirkungen hat, sondern auch auf Ethik und Politik. len, Theoretiker der »Post-Histoire« in den fünfzigcr Jahren, der Schriftsteller
Selbstverständlich hat diese Wende nicht nur eine Geschichte, sondern auch Kurt Vonnegut, der in den sechziger Jahren schwarzen Humor mit Science-Fiction
eine Geografie, begrenzt auf das, was Husserl den »europiiischen Geist« nannte, mischte, der amerikanische Architekt R.obert Venturi, der in den frühen siebziger
das Abendland, dem Spengler vor mehr als neunzig Jahren den Untergang pro­ Jahren den Disney-Stil von Las Vegas rehabilitierte. Am Anfang von allem stand
phe7-eite. Es fällt schwer, sich eine Postmoderne in China oder Indien vorzustel­ in den dreißiger Jahren sogar der spanische Literaturwissenschaftler Federico de
len. ·wie dem auch sei, das Stückehen Welt, in dem wir leben- das allerdings, das Onis, der auf diesen Namen eine dichterische Strömung taufte.
will ich nicht ausschließen, ein bisscheu umfangreicher ist als der Kreis meiner Der kleinste gemeinsame enner all dieser Vorfahren liegt in dem Ende der
Freunde und Bekannten -, dieses Abendland, das e s mit der Postmoderne versucht Fortschrittsidee: Auf die Projektion einer unendlichen und unbestimmten Zu­
hat, scheint sie nun aufzugeben. Wie ist das passiert? kunft folgt ein Rückzug. Vielleicht ist die Zukunft schon da und ist die Summe
von allem Vergangenen: Wi:r haben eine große Zukunft hinter uns. Aber im Spe­
zifischen der Philosophie haben wir ein eigentümliches Element gefunden, mit

1 Lyotard: Das postmoderne Wissen.


"> Für eine Überblicksdarstellung vgl. meine Autopresenta<ione tn 1\ntiscri/Heidegger: »Nur 2 Für die Ursprünge und die Entwicklung der Postmoderne erlaube ich mir, auf meme Ana­
noch ein Gott kann uns retten.« DER SPIEGEL 23/1976: Filosofi italiani contemporanei. lysen in Tracce. Nichilismo rnoderno postmoderno (1983) und nuf das in die Ausgabe von zoo6 neu
5 Pumam: Für eine Erneuerung der Ph ilosop hie , S. 146. au.fgenonunene 1achwort Postmoderno t.l<!nt'anni dopo zu verweisen.
16 1. Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit Von der Postmoderne zum Populismu s 17

dem wir un$ wieder und wieder auseinandersetzen müssen in diesem Buch. Da der VVir haben es also mit einem eigentümlichen Umstand zu tun. Die Postmo­
Fortschritt in der Philosophie (wie im \iVissen im Allgemeinen) ein Vertrauen in derne zieht sich zurück, philosophisch und ideologisch, nicht weil sie ihre Ziele
die Wahrheit vorausset�t, setzt das postmoderne Misstrauen gegen den Fortschritt verfehlt hätte, sondern, ganz im Gegenteil, weil sie sie bereits zu gut erreicht hat.
die ��neignung der Idee voraus, die ihren paradigmatischen Ausdruck bei Nietz­ Das schwerwiegendste Phänomen - und ich würde sagen der wichtigste Motor
sche findet: dass die Wahrheit etwas Schlechtes sein kann und die Illusion etwas der ·wende -ist diese -...rirklich vollständige und perverse Realisierung gewesen,
Gutes und dass dies das Schicksal der modernen Welt ist, dessen harten Kern man die nun der Implosion nahe zu sein scheint. Das, wovon die Postmodernen ge­
nicht so sehr in dem Ausspruch »Gott ist tot« (,•"ie- noch vor Nietzsche- Tiegel träumt haben, haben die Populisten verwirklicht, und im Übergang vom Traum
behauptete) finden wird, sondern vielmehr in dem Satz »Es gibt keine Tatsachen, zur "Wirklichkeit hat mau erst wahrhaftig verstanden, worum es ging. Die Schä­
nur Interpretationen«3, weil die wahre Welt zu Ende ist, um eine Fabel zu werden. den sind also nicht direkt aus der Postmoderne entsprungen, die in den meis­
Eine Fabel, die sich wiederholt nach dem Zyklus der ewigen Wiederkehr, im Ge­ ten Fällen beseelt war von bewundernswürdigen emanzipativen Bestrebungen,
gensatz zum Werden der universalen Geschichte als Fortschritt der Zivilisation. sondern aus dem Populismus, der in den Genuss einer mächtigen, wenn auch in
So weit die Ideen der Philosophen. Allerdings hat die Postmoderne, anders als guten Teilen unfreiwilligen ideologischen Flankendeckttng seitens der Postmo­
andere Strömungen und Sekten, unendlich viel mehr als die Versuche Platons in derne gekommen ist. Mit Rückwirkungen, die nicht nur die mehr oder weniger
Syralms, aber auch als der Marxismus, eine volle politische und soziale Verw irkli­ umfangreichen Eliten getroffen haben, die sich für Philosophie, Literatur oder
chuag erfahren. Die letzten Jahre haben tatsächlich eine bittere Wahrheit gelehrt. Architektur interessieren konnccn, sondern vor allem eine Masse an Personen, die
Und zwar, dass die Interpretationen das Primat über die Tatsachen gewonnen von der Postmoderne nie oder kaum etwas gehört haben und die nur die Effekte
haben und sich die Überwindung der Objektivität durch den Mythos vollzogen des Medienpopulismus erlitten haben, einschließlich des ersten und größten: die
hat. Aber das hat nicht die von den Gelehrten prophezeiten emanzipatorischen Er­ Überzeugung, dass es sich um ein System ohne Alternative handle.
gebnisse gehabt. Das »Fabel-Werden« der »wahren Welt« hat nicht stattgefunden. Gerade deshalb ist es der Mühe wert, die verwirklichte und auf den Kopf ge­
Man hat keine Befreiung von den Ketten einer Realität gesehen, die zu monoli­ stellte Utopie näher zu betrachten und die drei entscheidenden Punkte zu über­
thisch, zu massiv, zu unumstößlich ist, keine Vervielfachung und Dekonstruktion denken, unter denen ich vorschlage, die postmoderne Koine zusammenzufassen:
der Perspektiven, die in der sozialen VVelt die Vervielfachung und die radikale die Ironisierun.g, d er zufolge es ein Zeichen einer Art von Dogmatismus ist, die
Liberalisierung (man denke an die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts) der Theorien ernst �u nehmen; man müsse in der Konfrontation mit den eigenen Be­
Fernsehkanäle zu reproduzieren schien. Die wirkliche Welt ist sicher eine Fabel hauptungen eine ironische Distanz wahren, bisweilen typografisch (und gestisch
geworden, ja- wir werden das sehr bald sehen- sie ist eine Reality geworden, im Gespräch durch die Bewegung von Zeige- und Mittelfinger beider Hände) de­
aber das Ergebnis ist der Medienpopulismus, ein System, in welchem man (vor· monstriert durch den Gebrauch der Anfüh rungszeichen.• Die Entsuhlimierung,
ausgesetzt, dass man die Macht dazu hat) verlangen kann, alles Mögliche glauben also die Idee, dass der W unsch als solcher eine Form der Emanzipation begründe,
zu machen. In den Nachrichten und den Talkshows wird die Herrschaft des »Es da Vernunft und Intellekt Formen der Herrschaft seien und die Befreiung mittels
gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen« unterstützt, was- und das ist leider der Gefühle und des Körpers erfolgen werde, welche in sich ein revolutionäres
eine Tatsache, keine lnterpretation-seine wahre Bedeutung gezeigt hat: »Die Reservat konstituieren würden.5 Und vor allem die Entobjektivierung beziehungs­
Vernunft des Stärksten ist immer die beste.« weise die These- deren ruinöse Zentralität man im Laufe dieses Buches erkennen
wird -, nach der es keine Tatsachen, nur Interpretationen gibt und deren Km·ol­
larium daher ist, dass die freundschaftliche Solidarität mehr wert sein muss als
� »Gegen den Positivismus, welch e!' bei dem Phänomen stehen bleibt >es giebt nurThntsAchcn<,
die gleichgültige und gewalttätige Objektivität.6
würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen gieb t es nicht, nur Interpreutionen. Wir können kein J:>'ac­
tum an sich< feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn so etwas zu wollen. >Es ist alles subjektiv< sagt ihr:
>

aber schon das ist Auslegung, das >Subjekt < ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-ßrdichtetes,
Dahinter-Gestecktes. - Ist es zulettt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu sct
zen? Schon da• ist Dichtun g, Hypothese. Soweit überhauptdas Wort >Erkenntniß< Sinn hat, ist die
Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar; sie hat keinenSinn hinter sich, sondern unt.ll.hlige Siune
>Perspektivismus<. Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsere Triebe und deren Fi.lr 4 Rorty: Kontingent, Ironie und Solidarität.
und Wider. Jeder Tneb i st eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm Deleuze/Guat tari: Anti-Öclipus.
allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.« Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, 7 [6o]. 6 Rorty: Solidarität oder Objektivität?
18 1. Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkelt lronisierung 19

Ironisierung Wenn man dann aus dem Himmelreich der Theorie hinabsteigt in die Verwirkli­
chung des Ideals einer »ironischen Theorie«, als allerdings partielle Zustimmung
Die Postmoderne markiert den Eintritt der Anführungszeichen in die Philosophie: zu den eigenen Behauptungen und Glaubenssätzen, so können sich die Konsequen­
Die Wirklichkeit wird »Wirklichkeit«, die Wahrheit >>Wahrheit«, die Objektivität zen der Ironisierungen erahnen lassen, wenn man sich fragt, was das sein könnte:
»Objektivität«, die Gerechtigkeit »Gerechtigkeit«, der Sex »Sex« etc. Dieser neuen ein, nehmen wir an, »po:stmodern ironischer Zeuge« vor einem Gericht, wo statt
Welt in Anführungszeichen lag eben die These zugrunde, nach der die »großen »Vor dem Gesetz sind alle gleich« geschrieben stünde: »Es gibt keine Tatsachen,
Erzählungen« (rigoros in Anführungszeichen) der Moderne oder, schlimmer noch, nur Interpretationen.« Lassen wir die geistigen Experimente sein und kommen
der antike Objektivismus der Grund seien für den schlimmsten Dogmatismus.' wir z u den realen Ereignissen: Wie wenig Emanzipation die Ironisierung mit sich
Anstatt fanatisch zu sein, verwandelt man sich lieber in »ironische Theoreti­ bringt, ·wird ausführlich demonstriert durch den Missbrauch des Gelächters, der
ker«, die die Unumstößlichkeit jeder ihrer Behauptungen widerrufen, da sie Tat­ Witze und Possen des Medienpopulismus, der eine letzte Bestätigung der etholo­
sachen, rormen und Regeln als ein Übel an sich ansehen (Roland Barthes hat den gischen Hypothese geliefert hat, dass die Mimik desLachens ein Erbe des Zähne­
Zeitgeist ganz gut repräsentiert, als er- nur halb scherzend - gesagt hat, dass »die Zeigens sei, das in der Tierwelt der Aggression vorausgeht.
Sprache faschistisch ist<<8, da sie Semantik, Syntax und Grammatik bestimme). Aber woher rührt die postmoderne Neigung zur Ironie? Gilles Deleuze
Das Anführungszeichen in seinen typografischen Varianten ist eine Distanzie­ behauptete,u dass man die Philosophie einer Operation unterziehen müsse, ähn­
rung, die auch eine lexikalische Unschärfe ausdrücken kann, sprich Ungefähres, lich der, die Duchamp in der Kunst gemacht hatte, und schlug einen »philoso­
oder ein Zitat, sprich Parasitismus:9 Es gibt eine Wirklichkeit, die von anderen phisch bärtigen« Hegel vor, eben wie Duchamp der Mona Lisa Schnauz- und
konstruierL worden ist. Wir, im Gewand der Dekonstruktivisten, ironisieren sie Ziegenbart verpasst hatte. Foucault, das Buch besprechend, erhöhte die Dosis (er
und halten damit unsere Arbeit für erledigt. wird es dann in extremis widerrufen, wie wir im vierten Kapitel sehen werden)
Das In-Anführungszeichen-Setzen ist in der Tat eine Geste, die der Epoche und meinte, dass das Denken eine Maskerade werden müsse.12
Husserls verwandt ist, der Suspension des Urteilsvermögens, dem In-Klammern­ Bei näherer Betrachtung zeigt der ironische Trieb, dass die Postmoderne ein
Setzen der Existenz der Objekte, die man untersucht, um sie in ihrer puren phä­ altes antikes Herz hat. Genau wie ein Stern, der vor langer Zeit explodiert ist,
nomenalen Dimension zu begreifen. Aber im Vergleich zum ln-Klammern- etzen weiter sein Licht sendet, so war der Lebenszyklus der Postmoderne dabei, sich zu
ist das In-Anführungsze ichen-Setze n eine ganz andere Strategie. Was bei Husserl erschöpfen, als sie Ende der siebz.iger Jahre in die Philosophie eingetreten ist.. Es
eine philosophische Übung war, wird ein Protokoll der politischen Korrektheit, war einLebenszyklus, der seinen Ausgang nahm im verzweifelten Radikalismus
mit dem man erklärt, dass wer auch immer versuche, die Anführungszeichen Jietzsches, in der Revolte gegen die systematische Philosophie und in den ver­
aufzuheben, einen Akt inakzeptabler Gewalt oder kindlicher Ahnungslosigkeit schiedenen Wellen der Avantgardephilosophie, die im 20. Jahrhundert aufein­
begehe und damit behaupte, das als wirklich zu behandeln, was im besten Falle anderfolgte.o, und zuallererst (wir werden das ausführlicher im zweiten Kapitel
»wirklich« sei.'0 Diese These, die implizit denjenigen in einen Fanatiker verwan­ sehen) in der kopernikanischen Revolution Kants13- in Wirklichkeit eine ptole­
delte, der sich -sei es auch mit voller Berechtigung - im Besitz einer Wahrheit mäische Revolution -, die den Menschen ins Zentrum des Universums gerückt
glaubte, hat den Fort.schritt in der Philosophie gehemmt (oder zumindest die Ab­ hatte, als Erschaffer der 'Welt durch Konzepte. In diesem Sinne ist die Postmo­
sicht dazu. gehabt), indem sie diese in eine Doktrin verwandelt hat, die program­ derne also kein philosophischer Abfall gewesen. Sie ist das Ergebnis eines kultu­
matisch parasitär ist, die jeden Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch der Wis­ rellen Wandels gewesen, der zu einem Gutteil mit der Moderne koinzidiert, also
senschaft überlässt und sieb auf das Setzen von Anführungszeichen beschränkt. mit dem Sieg der Begriffsschemata über die Außenwelt. Das erklärt den Gebr<�uch
der Anführungszeichen als Distanzierung: Wir haben niemals mit den Dingen an
7 Dies sind die beiden gemeinsamen Annahmen der zwei Gründungstexte der philo�ophischcn sich zu tun, sondern im Gegenteil immer mit mittelbaren Phänomenen, verzerrt,
Postmoderne: Lyotards Das postmodmne Wissen und Rortys Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der
uneigentlich, also der Anführungszeichen bedürftig. Was jedoch die Postmoderne
Philosophie.
8 Ba rt hes: Lc�;on/LcktiOJ1.
9 Rorty: Philosophy as a Kind of Writing. II De le uze: Differenz und Wiederholung.
10 Übrigens ist die Ironie ein Verfahren der Anspielungen, das hilft, die realen Tatsachen bis 12 Die Rezensiou von Differenz un.d Wiederholunf!. erschien zunächst in Crilique un d wurde
zur Lächerlichkeit zu verkürzen, indem man sie verfälscht: Tatsächlich bedeuten die Termi ni, die dann als Vorwort der ital ierüschen Übcrsctzung Dilferenza e ripetizione (•971) veröffentlicht.
die Trope bezeichnen, sowohl im Griechischen (eironeia) als auch im Lateinsi chen (simulatio) »Ver­ 13 Ich habe diesen Aspektanalysiert in Goodbye Kant! Cosa resta oggi della Crilica della ragion
stellung•, »Täuschung•. pur a.
20 1. Real itysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit lronisierung 21

im Verhältnis zu ihren Vorgeschichten und Vorfahren besonders charakterisiert, Das heißt Argwohn gegenüber dem Realismus (und gegenüber der Idee eines Fort­
isL, dass es sich um eine programmatisch parasitäre Bewegung handelt. In der schritts in der Philosophie), den man immer als ein strafendes Hindernis für die
Kunst gibt es ein ehrwürdiges Werk der Tradition und du verpasst ihm einen Flüge des Denkens erlebte. Der ideale Gegner des schwachen Denkens war also
Bart oder du nimmst ein Pissoir oder eine Kiste mit Stahlwolle zum Polieren nicht der immer zu diesem erklärte, sprich der Dogmat1.smus, sondern die Auf­
von Kochtöpfen und erklärst, das sei ein Kunstwerk. In der Philosophie nimmst klärung, die Forderung, mit dem eigenen Kopf zu denken, wie wir in dem letzten
du Platon und sagst, dass er antifeministisch gewesen sei, oder du nimmst eine Kapitel dieses Buches besser sehen werden.
Fernsehserie und sagst, in ihr sei mehr Philosophie als in Schopenhauer. Dann Vom Protestantismus sagte de Maistre: »Es ist ein Geist der Schikane, der vor
erklärst du allgemein (damit eine Tendenz vollendend, die bereits in weiten Teilen Begierde brennet, immer Recht zu haben; ein Gefühl, das bei allen Dissiden­
der Philosophie des 20. Jahrhunderts äußerst präsent war), dass die Philosophie ten sehr natürlich, auf Seite der Katholiken aber durchaus unerklärbar ist.«'6 Im

tot sei und dass sie im besten Falle in einer Form des Gesprächs oder einer Art der Rückblick scheint in dem schwachen Denken die katholische Polemik gegen die
Schrift bestehe, die nichts mit der Wahrheit und ihrem Fortschritt zu tun habe. espritsjorts wieder auf, gegen all jene, die die absurde Forderung erheben, Recht
Man wird einwenden, dass ich die Thesen der Postmoderne und vor allem die zu haben. Gleichzeitig ist der tiefe Skeptizismus und das radikale Misstrauen ge­
Ur-These »Es gibt kei_ne Tatsachen, nur Interpretationen« auf eine Karikatur redu­ genüber der Menschheit, die der Rettung und der Erlösung bedürftig ist, unfähig,
ziere. Aber das ist letztlich das fundamentale Charakteristikum der Postmoderne, dem Prinzip Rousscaus zu folgen, das Kant i_n seiner Schrift über die Aufklärung
sodass man dazu kommt, sich zu fragen: Und wenn diese These wesentlich aus ih­ hervorhebt: »'VVach auf! Tritt aus der Unmündigkeit heraus.«17
rer Karikatur bestünde? Wenn - i.m Einverständnis mit dem Geist Duchamp s ­ In diesem. anLiaufklärerischen Klima ereignet sich - mit der Hilfe der Ironie
sie ausschließlich darin bestünde, jedes Argument zu entleeren und das Denken und der Anführungszeichen - eine Verwechslung: Denker der Rechten werden
in eine Maskerade zu verwandeln? Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Ideologen der Linken. Ein umgekehrtes und symmetrisches Phänomen zu dem
Entstehung des »schwachen Denkens«1\ von dem zu sprechen ich mich besonders des Rocks (zu Beginn als links wahrgenommen), der ohne Probleme von der ex­
berechtigt fühle, da ich Mittäter und Augenzeuge gewesen bin, exemplarisch. Es tremen Rechten aufgenommen werden konnte. Der Fall Heideggers, der zu ei­
vereinigen sich VVissenschaftler diverser Fachrichtungen und Generationen unter nem antimetaphysischen Widerstandskämpfer wird, dessen organische Zugehö­
einem Titel von großer evokativer Wirkung, aber es ergibt sich daraus für nieman­ rigkeit zum ationalsozialismus man vergisst oder unterschätzt, ist unter diesem
den etwas Bindendes. Das, was präsentiert worden ist, ist keine Theorie, sondern Gesichtspunkt paradigmatisch. Ein Beispiel von vielen möglichen. Zu Beginn
geradezu eine Anthologie mit Vorschlägen, durchaus wertvoll, aber letztlich stark seines Beitrags zu dem Bändchen Ragionefilosofica eJede religiosa nell 'era post­
dissonant. Der Sache gelingt es, den Zeitgeist genau zu packen, der genug hat moderna•A schreibt Vattimo, dass I-Ieidegger »auch eine Reihe >politischer Feh­
von dem Talaren-Muff und von einem Fortschreiten der Medien im öffentlichen ler< wie seine Zusümmung zum Nationalsozialismus begangen hat.« Man fragL
Ansehen. Und die Harmonie beschränkt sich nicht auf das nationale Panorama, sich, warum Heideggers Zustimmung zum Nationalsozialismus für Vattimo ein
sondern begründet den internationalen Erfolg des Buc hes, sodass die Debatte über politischer Fehler in Anfühnmgszeichen ist, ein schwacher Fehler, vielleicht
das schwache Denken allmählich die Überzeugung erwachsen lässt, dass so etwas nicht einmal ein Fehler, sondern lediglieb eine Dummheit19, wie Heidegger im
wie ein schwaches Denken existiert, sprich ein erkennbarer theoretischer Kern, SPIEGEL-Interview von •g66 seine eigene Zustimmung zum ationalsozialis­
oder zumindest ein »schwaches Denken«, ein Hauch des Zeitgeistes. Der innerlich mus bezeichnet hat.20 Die Verdrängung des Nationalsozialismus hat viele Gründe,
ironische Aspekt dieses Vorschlags wäre noch offensichtlicher, wenn dem Werk einige zweifellos zufällig oder verwirrend/beschämend, zum Beispiel der Um­
ein Bändchen hinzugefügt wäre m it der Aufschrift: »Ceci n'est pas une theorie«. stand, dass Hcidcgger in Frankreich auch von Denkern aufgenommen worden
Aber ebenso wie das Lachen bedeutet Ironie nicht nur Abkehr und Gewaltlo­ ist, die der Linken nahestanden, und dass man im A llgemeinen gewillt war, das
sigkeit. In der Tat wiederholte die spezifisch ironische Theorie, die das schwache Bild der Beziehungen zwischen Heidegger und dem Nationalsozialismus zu ak­
i t, wie schon früh'l.eitig bemerkt worden ist,15 in mehr als einem Fall die
Denken s zeptieren, das Heidegger selbst in seiner Selbstven eidigung glaubhaft gemacht
Eigenheiten einer langen Periode der italienischen Philosophie: Argwohn gegen
die Wissenschaft und die Technik, gegen den Traditionalismus, den Idealismus. 16 de !vfaistre: Vom Papste, Buch L 15. Hauptstück.
11 Kam: Was ist Aufklärung?
18 Antiseri/Vattimo: Ragione filosofica e fede religio•a.

1-J Vattimo/RO\·atti (Hrsg.): n pensiero debole. 19 Im Original auf Deutsch; Anm. d. Übers.
15 Viano: Va' pensiero. 20 Heideggcr: »Nur noch ein Gott kann uns retten«.
22 1. Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit Entsublimierung 23

hatte. Unter den zahlreichen trategien der Entnazifjzierung2' kommt dennoch mit bedeutenden Vorgängern des Ancien Regime, zum Beispiel mit dem französi­
keine der plastischen Evidenz des Freispruchs a priori gleich (in dem erneut die schen Adel, geschildert in den Liaisons dangereuses von Laclos und zensiert von
Anfiihrungszeichen eine zentrale Rolle spielen), den man in der Anmerkung des den Jakobinern. Es gibt also Grund zu glauben, dass die Revolution des Begehrens
Herausgebers von Heideggcrs politischen Schriften liest. Hier wird der Schluss mit der Rück kehr nach rechts zu ihren eigentlichen Wurzeln zurückgefunden hat,
der Rede vom 17. Mai 1933, wo Heidegger sagt: »Unserem großen Führer, Adolf weil sich ein bestimmter Aufruf nietzscheanischer Prägung an den Leib und an
Hitler, ein deutsches Sieg Heil«, mit diesen \iVorten kommentiert: »Noch heute seine »große Vernunft« oder die Kritik der Moral als repressiv erfahrene Struk
wird der Ausdruck >Ski Heil< - ohne die geringste politische Konnotation - unter tur eine Zeit lang als ein linkes Ansuchen haben präsentieren können. Es bleibt
Skifahrern benutzt, um sieb eine gute Abfahrt zu wünschen.«22 Aber abseits von gleichwohl dabei, dass diese Elemente von Nietzscbe im Rahmen einer Theoreti­
jeder Folklore: Was in der Regel nicht gesehen wird (und was eine Halbblindheit sierung geformt wurden, die sein ganzes Denken beseelt, einer dionysischen Revo­
gegenüber den ideologischen eigungen Heideggers hervorgerufen bat), ist, dass lution, in der der »tragische Mensch«, die Antithese zum von Sokrates verkörper­
das heideggersche Denken in seiner Gesamtheit hyperhierarchisch ist und dass ten Vernunftmenschen, vor allem ein begehrender Mensch ist." Dieselbe Aner­
der Aufrufzum Nihilismus und zum Willen zur Macht, das Bestehen auf der Ent­ kennung der politischen Rolle des Köpers, die ein Teil des theoretischen Horizonts
scheidung, das Aufgeben des traditionellen Begriffs der »Wahrheit« eine tiefe und der radikalen Linken des 20. Jahrhunderts ist, findet ihre volle Verwirklichung
keine opportunistische Zustimmung zum Führerprinzipu konstituieren. für gewöhnlich in auf den Kopf gestellter Form: weil es der Körper des Kopfes ist,
Die Verdammung der Wahrheit und der Objektivität als Gewalt und der fol­ der ein hochpolitisches Element wird.25 Nun, auch ohne Nietzsche heranzuziehe11,
gerichtige Aufruf zur ironischen und zur Pop-Theorie bestimmen also zu ihrem wäre es hinreichend, Die Kunst und die Revolution von Wagner26 zu lesen - ein
Helden (was zweifelsohne eine ironische Objektivität in sich trägt) einen Philoso­ Wagner, der Marcuse vorwegzunehmen scheint -, um zu verstehen, dass es viel­
phen, der alles andere als Pop, und absolut frei von Ironie war, in höchstem Maße leicht eine Revolution des Begehrens geben könnte, aber dass es sich immer noch
überzeugt von sieb und seinem eigenen >>Schicksal«. um eine konservaLive Revolution handeln würde, da das Begehren, anders als die
Vernunft, zurtickfUhrt zum Archaischen, in die Unmündigkeit, zu den Müttern.
Im Tatbestand des Populismus zeigt sich die konservative Revolution durch den
bereits umfangreich von Horkheimer und Adorno�7 untersuchten Mechanismus
Entsublimierung der »repressiven Entsublimierung«. Der Souverän gesteht dem Volk die sexuelle
Freiheit zu und behält im Austausch für sich nicht nur die sexuelle Freiheit, die
Die Dialektik, die sich in der Ironisierung ausdrückt, ist auch in der Idee am er allen anderen zugestanden hat, sondern auch alle anderen genommenen Frei­
·werk, dass das Begehren an sich ein emanzipatives Elemem begründen könne. heiten als exklusives Privileg. Die Verflechtung von Körper und Begehren (irn
Wenn der Heideggerianismus eine Bewegung von rechts ist, die von links rezipiert Einverständnis mit dem Antisokratismus der dionysischen Revolution) schließt
worden ist, so treffen wir mit der Revolution des Begehrens auf eine Bewegung, sich einem diffusen Antiintellektualismus an, der wiederum die Spiegelung von
die- zumindest in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ­ Volk und Souverän verstärkt, in der ein fundamentaler Zug des Populismus be­
grundsätzlich links war, aber ein instrumenturn regni der Rechten wird. Tatsäch­ steht. In anderen Worten, da, wo man in den Anfangen der Postmoderne die
lich hat die Chronik der Populismen gelehrt, dass es möglich ist, eine Politik zu Möglichkeit der Revolution des Begehrens herbeisehnte, geht eine Restauration
entwickeln, die gleichzeitig begehrend und reaktionär ist, übrigens in einer Linie des Begehrens vonstatten, in dem Sinne, dass das Begehren sich als ein Element
der gesellschaftlichen Kontrolle bestätigt. Und es ist sicher kein Zufall, wenn

21 In de wurde die Zustimmung zum Nationalsozialismus dargestellt


i ser dominierenden Version
wie ein unglückli cher Zwischenfall, der bereits 1934 überwunden war (vollkommeJJ im Ei nklang 24 »Ja, meine Freunde, gl aubt mit mir an das dionysische Leben und an die \Viedergeburt der
mit der Selbstverteidigungdes Bct.roflencn). Und die Texte, die in der Linken :tirkulierten, waren Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist voriiher: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyr­
natürlich nicht die Rektoratsred�, sondern scheinbar harmlosere Texte, in denen es hieß, dass die susstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und P anther sich schmeichelnd zu euren
Sprache das Haus des Seins sei tlnd dass der Mensch dichterisch wohne. Natürlich z,eigen sich auch Knien nie derlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. Ihr
hier besorgniserregende Spri t1.er, zum Be ispiel in einem Kurs über Nietzsche von 194-0 eine Eloge solltden diony�ischen Festzug von lndien nach Griechenland geleiten. Rüsteteuch zu hartem Streite,
auf den Blitzkrieg oder auch in dem PI EGEL-Interview von 1966 die These, dass die Schoah auf aber glaubt an das Wunder eures Gottes!« Nietuche: Gcbur1 der Tragödie, S. 132.
dieselbe Stufe zu stellen sei wie die i\'lechanisierung der Land,virtschaft. 25 Belpoliti: I1 oorpo del capo.
2'l Heidegger: Scritti politici (1933-36), S. 329. % Wagner: Die Kunst und die Revolution.

Q� Im Original auf Deutsch; Anm. d. Übers. 27 Horkheimer/ Adorno: Dialektik der Aufklärung.
24 1. Realltysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit Ento bjektivierung 25

die Meinungsänderung, die Foucault dazu bringen wird, gegenüber der Postmo­ Entobjektivierung
derne antithetische Positionen zu ergreifen, ihren Ausgang genommen hat von der
Frage des emanzipatorischen Begehrens: Vier Jahre nach dem Anti-Odipus, mit ·wenn wir jedoch den himeichenden Grund und den politischen Motor der lroni­
dem Deleuze und Guattari die Verbindung von Begehren und Revolution wieder sierung und der Entsublirnierung suchen, finden wir die Entobjektivierung, die
bestätigen, publiziert Foucault Der Wille zum Wissen, den ersten Band seiner Idee, dass die Objektivität, die Wirklichkeit und die Wahrheit ein Übel seien und
unvollendeten Geschichte der Sexualität, die das Paradigma des emanzipatori­ die Unwissenheit geradezu eine gute Sache sei. Auch in diesem Fall fließen min­
schen Begehrens ersetzt durch die These, dass der Sex zuvörderst ein Instrument destens drei Strömungen von großem kulturellen Gewicht zusammen.
der Kontrolle und der Herrschaftsausübung sei; es ist die erste und fundamentale An erster Stelle steht die nietzscheanische Tradition, die zahlreiche Variatio­
Äußerung jener »Biopolitik«, die von da an im Zentrum der foucaultschen Über­ nen der These bietet, dass die Wahrheit nur eine alte Metapher sei, genauer eine
legungen stehen wird. Art Mythos oder ein Ausdruck des Wlllens zur Macht und dass das Wissen kei­
Ein weiterer Aspekt der repressiven Entsublimierung ist der autoritäre Ge­ nen autonomen emanzipativen Wert besitze, sondern vielmehr ein Instrument
brauch der Moralkritik nietzschescher Prägung. Dabei stellt sich heraus, dass der Herrschaft und des Betrugs sei und, noch radikaler, dass so etwas wie »die
der Relativismus, den die Progressisten theorisiert und die Konservativen ihnen Wahrheit« gar nicht existiere, sondern nur Kraft- und Schlachtfelder.29 Die Tat­
vorgehalten haben, tatsächlich von den letzteren viel häufiger praktiziert wor­ sache, dass der Unterschied zwischen Mythos und Logos verkleinert wird oder
den ist, im Einklang mit den Widersprüchen der Entwicklungskurve Postmo­ dass man den Unterschied zwischen wahrer Welt und erscheinender Welt ablehnt,
derne - Populismus, rnit der wir uns gerade auseinandersetzen. Man betrachte erzeugt dann einen zweiten Effekt: Der Rückgriff auf den Mythos, der traditio­
z.um Beispiel das scheinbar hyperrelativistische Argument des >>Was ist schlecht nellerweise ein Gemeingut der Rechten war, wird wiederaufgenommen von der
daran?«, worin ofl die Standardantwort auf Kritik angesichts der Verflechtungen nietzscheanisch-heideggerianischen Linken, und zwar als Ptojekt einer »Neuen
von Sex und Macht besteht. Nun, i n dem »Was ist schlecht daran?« kornmL eine Mythologie.«50
Formel zum Einsatz, die eine fundamentale Kategorie der Aufklärung direkt at­ Aber an dritter Stelle steht das bei Weitem verbreitetste Element, da es auch
tackiert: die öffentliche Meinung, welche als Raum entsteht, in dem die Kritik an weite Schichten der analyüschen Philosophie des 20. Jahrhunderts miteinbezieht,
der Macht als Kontrollinstrument und Rechtsgarantie der Individuen gilt. Schon welches mit einer Radikalisierung des Kantianismus verfügt hat, dass es keinen
Habermas�e beschrieb die Transformation der öffentlichen Meinung in der Me­ Zugang zur Welt gebe, außer durch die von Begriffsschemata und Repräsenta­
dienwelt vom Raum der Diskussionen hin zum Raum der Meinungsmanipula­ tionen bewirkte Vermittlung (die sich in der Postmoderne radikalisiert und zur
tionen durch die Inhaber der Massenmedien. Aber das »Was ist schlecht daran?« Konstruktion wird).
bezeichnet ein drittes Stadium, und zwar die Tatsache, dass jeder Fortbestand Von den perversen Auswirkungen der Entobjektivierung haben wir eine rich­
einer kritischen öffentlichen Meinung apriori entleert wird durch die Kategorie tiggehende case study. Mitte der siebziger Jahre hat der Epistemologe Paul K.
des »Moralismus«. Somit präsentiert sich das >>Was ist schlecht daran?« als ein Feyerabend behauptet, dass eine privilegierte Methode für die Wissenschaft
hocheffektives Instrument zur Dissensunterdrückung und erreicht seine Perfek­ nicht existiere, da sich im Aufeinandertreffen wissenschaftlicher Theorien Welt­
tion, wenn die Kritik zum Geschwätz deklassiert ist. Auch hier zeigt sich ein in­ anschauungen gegenüberständen, die zu großen Teilen ink
ommensurabel seien.
teressanter Mechanismus. Zum einen sorgt die charismatische Personalisierung Dementsprechend ist es durchaus nicht offensichtlich, dass Galileo gegenüber
der Macht dafür, dass sich alle Aufmerksamkeit auf einen Führer konzentriert, Bellarmin Recht hatte, im Gegenteil war Letzterer in vollem Recht, da er die
auf seine Umgebung und sein Verhalten, und das geschieht nicht aus einer Ent­ Lehre Galileos veruneilte, die negative Auswirkungen auf die Ordnung einer
scheidung der öffentlichen Meinung heraus, sondern aus einer entschieden politi­ Gesellschaft mit sich gebracht hätte, die in der Kirche den obersten Ordnungs­
schen Auswahl, die charakteristisch für den Medienpopulismus ist. Im Gegenzug hüter fand.31
werden jede Kritik und jedes Nichteinverständnis als Klatsch klassifiziert werden
können und die öffemliche Meinung wird zurückgehen in ihre voraufklärerische 29 Foucault: Nictzschc, die Genealogie, die Historie.
Phase, jene des beleidigten Tratschens über die schlechten Sitten der Nachbarn 50 Frank: Der kommende Gott.
öl Feyerabend: Widt!r den Methodenr.wang, S. 206: »Die Kirche zur Zeit Galileis hieltsich viel
und die Laster der Mächtigen.
enger an die Vernunft als Galilei selber, und sie zog auch die ethischen und sozialen Folgen der Ga­
lileischen Lehren in Betracht. HLr Urteil gegen GaliIei war rational und gerecht, und seine Revision
28 Habermas: Srrukturwandel der Öffentlichkeit. lässt sich nur politisch-opportunjstisch rechtfertigen.«
26 1. Realltysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit Vom Realitysmus zum Realismus 27

Es ist klar, dass Feyerabend mit dieser Behauptung einer restriktiven positi­ Bush gewesen, die theoretisiert hat, dass die Wirklichkeit nur der Glaube »einer
vistischen Konzeption der Physik entgegentreten wollte, der Idee, dass das Wis­ Gemeinde« sei »die auf der Realität basiert«, also von Naiven, die nicht ·wissen,
sen in einer reinen Datensammlung bestehe und Interpretationen oder Begriffs­ wie es in der Welt zugeht . Von dieser Praxis haben wir die konziseste Äußerung
schemata nicht bedürfe - nicht zu vergessen außerdem, dass der Kontext, in dem inder Antwort eines Beraters von Bush gegenüber dem Jour nalisten Ron Suskind
diese Positionen vorgetragen wurden, ein gewollt provokativer war: Es handelte gefunden: >>VVir sind jetzt ei n Imperium, und wenn wir handeln, erschaffen wir
sich um den pars destruens von Für und Wider die Methode, ein gemeinsam mit unsere eigene Wirklichkeit. Und während ihr diese Wirklichkeit studiert, han­
Imre Lakatos geplantes und nie geschriebenes Buch. Das Ergebnis ist aber, dass deln wir wieder und erschaffen neue Wirklichkeiten, die ihr dann wieder studie­
zwanzig Jahre später Feyerabends Argument mit vollem Ernst von Benedikt XVI. ren werdet.«M Eine arrogante Absurdität, sicherlich: Aber acht Jahre zuvor hatte
aufgegriffen worden ist, um zu beteuern, dass dieselben Epistemologen behaup­ der Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard behauptet, dass der erste Golfkrieg
ten würden, dass Galileo letztlich unrecht gehabt hätte, und vor allem, um eine nicht s außer einer Fernsehsendung gewesen sei,36 wobei er, wie Feyerabend, die
Rede zu halten, gemäß welcher das menschliche Wissen in Antinomien münde Rolle des nützlichen Skeptikers ausfüllte für eine Sache, die sicher nicht die seine
(genau wie jene, die Galileo Bellarmin gegenüberstellt), die nm in einer höheren war.
Rationalität versöhnt werden könnten.32
Hier ist die Dialektik der Postmoderne am Werk. Die E ntobjektivierung, for­
muliert mit emanzipativen Absichten, verwandelt sich in eine Rotlegitimierung
des menschlichen ·vvissens und in einen Rückgriff auf ein transzendentes Fun­ Vom Realitysmus zum Realismus
dament. Also einerseits sind die postmodernen Philosophen dem Skeptizismus
ausgeliefert und haben keine Gründe von letzter Instanz, um die Überlegenheit Das Endergebnis der gemeinsamen Aktion von Ironisierung, Entsublimierung
von Kopernikus gegenüber Tolomeo oder von Pasteur gegenüber Äskulap zu recht­ und Entobjektv
i ierung kann man »Realitysmus«�7 nennen, ein zufälliger Name
fertig en, da es sich schließlich nur um eine Auseinandersetzung von Begr i ffs­ (da er angelehnt ist an das Format des Reality-Fernsehens), der aber die Substanz
schemata handelt, weil eine Wirklichkeit »da draußen« nicht existiert. Anderer­ einfängt dieser »ziemlich verlorenen Welt<<58, in der die Postmodernen den posi­
seits - die Gle ichwertigkeit der Dinge der Welt und die Vergeblichkeit der Dis­ tiven Zug der Epoche sahen. Jede Autorität des Realen wird aufgehoben und an
pute unter Gelehrten übersteigend - öffnet sich der Raum für die Transzendenz. seiner Stelle errichtet man eine Quasiwirklichkeit mit stark märchenhaften Ele­
Hervorhebend »inwieweit der Zweifel der Moderne über sich selbst heute die menten, die sich auf drei fundamentale Mechanismen stützt. Der erste ist die
Wissenschaft und die Technik erreicht hat«, hat der Pontifex leichtes Spiel beim Juxtapos ition: zum Beispiel in Fernsehprogrammen, in denen einer Reportage
Zurückerlangen des Prestiges, das die Kirche verloren hatte, da ihre Ansicht der über atomare Kernspaltung eine über die Wiedergeburt folgen oder vorhergehen
Welt von der Wissenschaft angefochten wurde. Da die Verteidigung erschöpft ist, kann. Der zweite ist die Dramatisierung: Man nimmt etwas aus der Wirklichkeit,
kann man zum Angriff übergehen und eine Weltanschauunga� wieder einführen, dramatisiert es mit Schauspielern und verwandelt es damit in eine Semifiktion.
deren Ergebnis zweifach gerechtfertigt wird: sowohl als Weltanschauung, die zu­ Den dritten könnten wir die Traumwerdung nennen: Was ist das Leben der Rea­
lässig ist wie jede andere auch und daher nicht zu verurteilen, als auch als eine lity? Traum oder Wirklichkeit? In dieser Strategie zeigt sich die realisierte Post­
wahrhaftigere Weltanschauung, weil sie begründet ist »durch ihre Einschreibung moderne als gewalttätiger und umgestürzter Utopismus. Anstatt die Wirklichkeit
in eine größere Sinnhaftigkeit« und sich damit unterscheidet v on rel ati vistischen anzuerkennen und eine andere Welt zu ersinnen, die es anstelle der ersten zu rea­
Weltanschauungen. lisieren gilt, stellt man die Wirklichkeit als Fabel hin und nimmt an, dass das die
Aber der Bereich, in dem der Skeptizismus und »der Abschied von der Wahr­ ein zig mögliche Befreiung sei: Daher gibt es nichts zu verwirklichen und letztlich
heit« ihr Gesicht arn aggressivsten gezeigt haben, ist die Politik gewesen.�" Hier gibt es nicht einmal etwas zu ersinnen; es handelt sich ganz im Gegenteil dar um,
ist die postmoderne Entobjektivierung eindeutig die Philosophie der Regierung zu glauben, dass die Wirklichkeit ein Traum sei, der niemandem wehtun könne

32 R atzinger: Wendezeit für Eu.ropa? 35 Suskind: Faith, Certainty and the Presidency of George W. Bush.
33 Im Original aufDeutsch; Anm. d. Übers. M Baudrillard: Das perfekte Verbrechen.
� Diese These habe ich aufgestellt in Dal postmodemo al populismo und in Ricostruire la de­ 37 Ferraris: Benvenuti nel realytismo, was ich zum Teil hier wieder aufnehme.
costruzione. Ci11que saggi a partire da Jacques Derrida; sie findet sich auch in Magrelli: TI Sessamotto 58 Rorty: The World vVell Lost. Der Titel von RortysArtikel war übrigens einer Science-Fiction·
realizzato da Mediaset, und in Perniola : Berlusconi o il '68 realizzato. Erzählung von Theodore Sturgcon entnommen.
28 1. Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit Vom Realitysmus zum Realismus 29

und der befriedige. atürlich können sich diese drei Vorgänge verbinden, und das kein Herrschafts- oder Mystifikationsprojekt. Aber sie haben allzu oft die wag­
mit explosiven Ergebnissen, da sie den Effekt der 'Wirklichkeit ausbeuten, der aus nerianische Strategie angewendet, nach der »nur die Lanze die Wunde schließt,
dem Gebrauch der Mittel des Fernsehens kommt, aus den Nachrichten und aus die sie geöffnet hat«40, ein etwas weniger riskanter Satz als das Wort von Hölder­
der Reportage (»es ist wahr, sie haben's im Fernsehen gesagt«). Schon Thukydi­ lin »WO aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Das ist dann, wohlgemerkt,
des li�ß historische Figuren Reden halten, die zum großen Teil von ihm ersonnen das grundlegende Prinzip des magischen Denkens, in dem man Gleiches mit
waren, aber in der Kommunikations- und Aufzeichnungsgesellschaft scheint sich Gleichem heilt.. Trotz seines Beharrens aufironie und Entzauberung hat sich der
ein Statuswandel zu ereignen, gerade durch die Masse an Material im Netz; und Postmodernismus, genau betrach tet, dennoch als ein magischer Antirealismus
der Effekt ist insgesamt, dass nicht nur die Grenzen zwischen Wirklichkeit und entpuppt, eine Doktrin, die dem Geist eine unangefochtene Herrschaft über den
Fiktion aufgehoben werden, sondern auch jene zwischen Wissen.schaft, Religion Lauf der Welt zuerkennt. Gegen diesen Geist ist mit der Jahrhundertwende der
und Aberglauben. Realismus angetreten. Es ging darum, in der Philosophie, in der Politik und im
An sich ist der Realitysmus also kein reines Produkt der Postmoderne. Er hat täglichen Leben die Legitimität dieses Begriffs wiederherzustellen, der in den
ein altes Herz , was den dem menschlichen Wesen eigentümlichen Illus ions­ Hochzeiten der Postmoderne als philosophische Ahnungslosigkeit und Ausdruck
wunsch betrifft und bezüglich des Gefallens an Mystifikationen und ihren Vor­ eines politischen Konservativismus betrachtet worden ist; sich auf die VVirklich­
teilen. Auf diese Weise zeigt sich der Realitysmus in unserem Geist schon in der keit zu berufen, erschien in einer Epoche, die mit dem mörderischen Slogan »Die
Kindheit, we nn wir uns fragen, ob die Dinge um uns herum wirklich sind oder Phantasie an die Macht« verbunden war, wie der Wunsch, dass sich nichts ändere,
ob wir träumen, und er entfaltet sich in den Fabeln, mit denen wir hoffen, die wie ein Akzeptieren der Welt, wie sie ist. Dreißig Jahre der Geschichte haben das
VVelt zu verändern. An sich ist das nur eine Variante des Solipsismus, der Idee, Gegenteil gelehrt.
dass die Außenwelt nicht existiere, dass sie eine reine Vorstellung sei, die viel­ VVie ich im Vorwort angedeutet habe, ist das, was ich »neuen Realismus<< nenne,
leicht zu unserer Verfügung steht. Zunächst erscheint das wie ein Moment größ­ vor allem eine Gattungsbezeichnung einer Umwandlung, die die philosophische
ter Befreiung: Wir sind alle des Gewichts des Wirklichen entledigt, wir können Kultur erfahren hat und die sich auf viele Weisen niedergeschlagen hat. Vor al­
uns selbst unsere Welt erschaffen. ietzsche sah darin die schönste Befreiung, tem im Ende der sprachlichen Wende und der stärkeren realistischen Neigung
»das Bacchanal freier Geister«, aber es fällt schwer, dem zuzustimmen. Wenn die der Philosophen, die vorher, um nicht pestmodernistischen Positionen zuzustim­
Außenwelt nicht existiert, wenn es zwischen Wirklichkeit und Vorstellung kei­ men, empfänglicher gewesen waren für die Gründe des Konstruktionismus, der
nen Unterschied gibt, wird der vorherrschende Gemütszustand die Melancholie, gestaltenden Rolle von Begriffsschemata gegenüber der Erfahrung. Man denke
oder besser: das, was man als ein bipolares Syndrom definieren könnte, das zwi­ an Hilary Putnams Übergang vom »internen Realismus<< zum »Common-sense­
schen einem Bewusstsein der Allmacht und einem Gefühl der Vergänglichkeit des Realismus«*1 oder an die Forderung von Erfahrungsgründen gegenüber Begriffs­
Ganzen oszilliert. Am Ende jedoch fühlt man sich allein. Wenn es die Außenwelt schemata bei Umberto Eco*2 oder auch an die Entwicklung eines »spekulativen
nicht gibt, so träumen wir lediglich unseren Traum oder sogar einen Traum, den Realismus« in der jüngsten Generation von Philosophen.43
andere träumen, einen programmierten und etwas abgelaufenen Traum. Das Die zweite Weise, auf welche die Wende stattgefunden hat, ist die Rückkehr
erklärte im 18. Jahrhundert mit feiner Ironie der schottische Philosoph Thomas zur Wahrnehmung, also zu einer Erfahrung, die traditionellerweise vom philo­
Reid. Wenn alles Vorstellung ist, dann werden »das ganze Universum, von dem sophischen Transzendentalismus vernachlässigt wird, der im Postmodernismus
wir umgeben sind, die Körper, die Geister, die Sonne, der Mond, die Sterne, die
Erde, die Freunde und Eltern, alle Dinge ohne Ausnahme, denen wir eine Exis­
40 Was Zizek i n Livinß in the Jin.d Timeszweimal wiederholt. Vgl. meine Erörterung in Il segno
Lenz zuerkennen, unabhängig davon, ob sie wahrgenommen werden, in einem
di Zizek.
Augenblick verschwinden.«50 Und dann verwandelt sich alles in einen Albtraum 41 Oie Wende vom metaphysischen Rcnlismus zum internen Realismus (der sehr viel offener füt·

wie in The 1}uman. Show. den Relativismus ist) hat bei Putnam in dco Jahren der Postmoderne stattgefunden, also zw ischen
/1.1eaning and ehe MoraL Seiences (1978) 1.md Vemurifi., Wahrheit und Geschichte (tg8•), wohingegen
Was tun? Die Postmodernen sir1d nicht blind gewese n angesichts des Golems,
die realistische Perspektive einsetztmit Fareine Erneuerung derPhilosophie (tggz). Für eine exzel·
den sie gesch affen - oder zumindest philosophisch gutgeheißen - hatten, eben lente Darstellung von Putnams Weg durch den Realismus vgl. Oe Caro: TI lungo viaggio di Hilary
weil am Beginn ihrer Position ein ernster Wunsch nach Befreiung stand tAnd Putnam.
+2 Eco: Kant und da.s Schnabeltier, aber schon ders.: Oie Grenzen der Interpretation.
+5 Vgl. Meillassoux: Apres Ia finitude; Brassier: Nihil Unbound; Gabriel: Transeendental Onto·
Y.l Reid: Essays on rhe Intelleemal Powers of Man. logy; ders.: Il senso dell'esitenza. Vgl . auch Bryam/Srnicek/Harman (Hrsg.): The Speculative Turn
30 1. Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit Vom Realitysmus zum Realismus 31

gipf�lt. Bezeichnenderweise hat die Tatsache, dass man dazu zurückgekehrt ist, rien brauche. Aber dass Wasser H.O ist, isL vollkommen unabhän.gig von all mei­
die Asthetik nicht als eine Philosophie der lllusion, sondern als eine Philosophie ner Kenntnis. So war Wasser auch vor der Geburt der Chemie HA0 und es wäre es,
der Wahrnehmung zu betrachten,.... einen neuen Zugang zur Außenwelt eröff­ wenn wir alle von der Erdoberfläche verschwänden. Was die unwissenschaftliche
net, zu einem Wirklichen, das die Begriffsschemata übersteigt und das von ihnen Erfahrung betrifft, macht Wasser vor allem nass und Feuerbrennt, ob ich das nun
unabhängig ist - wie es ja tatsächlich nicht möglich ist, allein mit der Kraft der weiß oder nicht, unabhängig von Sprachen, Schemata und Kategorien. Irgend­
Reflexion optische Täuschungen zu korrigieren oder die Farbe der Objekte zu wann gibt es etwas, das uns widersteht. Das nenne ich die »Unveränderlichkeit«,
ändern, die uns umgeben. den wesentlichen Charakter des Wirklichen. Das kann natürlich eine Beschrän­
Ein drittes bedeutendes Element der realistischen Umwandlung ist das, was ich kung sein, die uns aber zugleich jenen Ausgangspunkt liefert, der erlaubt, den
die ontologische Wende nennen würde: die Tatsache nämlich, dass immer häufi­ Traum von der Wirklichkeit und die Wissenschaft von der Magie zu unterschei­
ger, m
i analytischen Bereich genauso wie im kontinentalen Bereich, eine Wieder­ den. Gerade deshalb habe ich das Kapitel über die Ontologie »Realismus<< betitelt.
belebung der Ontologie stattfindet als Wissenschaft vom Sein:s von der Vielzahl Kritik bedeutet dann dieses: Mit dem, was ich als Trugschluss Feststellen -

der Gegenstände, die - von der \lVahrnehmung bis zur Gesellschaft - einen ana­ Akzeptieren definiere, nahmen die Postmodernen an, dass die Feststellung der
lytischen Bereich konstiLuieren, der den Naturwissenschaften nicht notwendiger­ Wirklichkeit im Akzeptieren des existierenden Zustandes bestehe und dass im
weise untergeordnet i&'t. Mit der Rückkehr der Ontologie hat man also die in der Gegenzug (obschon ein logischer Sprung) der Irrealismus schon an sich befreiend
Philosophie von Kant an vorherrschende Haltung überwunden, die sich von der sei. Aber so ist es natürlich nicht. Der Realismus ist die Voraussetzung der Kritik,
Ontologie verabschiedet hatte, indem sie behauptet hatte, dass die Philosophie während dem Irrealismus die Nachgiebigkeit angeboren ist, das Märchen, das
aufhören müsse, sich um die Gegenstände zu kümmern (nunmehr die Zuständig­ man Kindern erzählt, damit sie einschlafen. Baudelaire hatte beobachtet, dass ein
keit der '1\Tissenschaft), und den »Stolze[n] Name(n] einer Ontologie« zurückwies, Dandy nur zur Masse hätte sprechen können, um sie zu verspotten.47 Stellen wir
um sich darauf zu beschränken, unter »dem bescheidenen, einer bloßcnAnalytik uns einen IrrealisteD vor, aufgrund seiner eigenen Theorien unfahig festzustel­
des reinen Vcrstandes«•6 die Bedingungen einer Erkenntnismöglichkeit dieser len, ob er wirklich sieb selbst und die Welt verändert oder ob er sich hingegen nur
Objekte zu erforschen (also für oder gegen die Wissenschaft Position zu beziehen). vorstellt oder erträumt, etwas in dieser Art zu tun. Dem Realisten steht dagegen
Dies ist also, grob skizziert, das Bild der zeitgenössischen Philosophie, das die Möglichkeit offen, zu kritisieren (so er es denn will) und zu gestalten (so er es
grundlegend verändert erscheint, verglichen mit der Situation, die sich noch am denn kann), kraft desselben banalen Grundes, aus dem die Diagnose die Voraus­
Ende des letzten Jahrhunderts bot. Wie ich im Vorwort allerdings angekündigt setzung der Therapie ist. Und da jede Oekonstruktion, die elbstzweck ist, Verant­
habe, ist das, was ich in den nächsten drei Kapiteln vorschlage, meine persönliche wortungslosigkeit bedeutet, habe ich das dritte Kapitel »Rekonstruktion« betitelt.
Konzeption des Realismus, ·welchen ich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt Kommen wir schließlich zur Aufklärung. Die jüngste Geschichte hat die Dia­
habe und den ich mit drei Schlüsselwörtern zusammenfasse: Ontologie, Kritik, gnose von Habermas bestätigt, der vor dreißig Jahren im Postmodernismus eine
Aufklänmg, die auf ebenso viele Trugschlüsse der Postmoderne reagieren wollen: antiaufklärerische Bewegung sah,48 die ihre Legitimation in dem fand, was ich
den Trugschluss Sein - Wissen, den Trugschluss Feststellen - Akzeptieren und als Trugschluss Wissen - Macht definiere. Danach verbirgt sich in jeder Form
den Trugschluss Wissen - Macht. des Wissens eine als negativ erfahrene Macht, da das Wissen, anstatt sich vor­
Ontologie bedeutet schlicht: Die Welt hat ihre Regeln, und die gilt es zu be­ rangig mit der Emanzipation zu verbinden, als ein Instrument zur Knechtschaft
achLen, sie isL nämlich nicht die fügsame Kolonie, in der die Begriffsschemata erscheint. Diese Gegenaufklärung ist das Herz der Finsternis der Moderne, die
ihre konstruktive Arbeit leisten. Der Irrtum der Postmodernen fußt hier auf dem Ablehnung der Fortschrittsidee und des Vertrauens i n die Verbindung von Wissen
Trugschluss Sein- Wissen, genauer auf der Verwechslung von Ontologie und Epi­ und Emanzipation bei großen Denkern wie de Maistre, Donoso Cortes, Nietzsche
stemologie, von dem, was ist, und dem, was wir von dem, was ist, wissen. Es ist. und es läuft zusammen in der Idee Baudelaires, dass »Thron und Altar« eine re­
klar, dass ich, urn zu wissen, dass Wasser H,O ist, Sprache, Schemata und Katego- volutionäre Maxime sei.'9 Und die postmodern-populistische Entwicklungskurve

« Ich erlaube mir, auf meine Esr.etica raziona.le zu verweisen; für eine umfassende Untersu·
-<1 Baudelai re: Mon cocur mis a nu, XIU: »Vous figurez-vous un Dandy parlant aupeuple, excepte
chung vgl. D'Angelo: Estetica.
•s EiXIe ausführliebe Behandlung dieser Wende fjndet man in dem Sammelband Swria
pour le bafouer?«
..S Habennas: Die Moderne- ein uJwollendetes Projekt.
dell'ontologi".
..0 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 247/B 303. 49 Baudelaire: Fusees, TJ.
32 1. Realitysmus. Der postmoderne Angriff auf die Wirklichkeit

scheint ihnen Recht zu geben. Um aus diesem dunklen Schacten herauszutreten, 2. Realismus.
um jene »Emanzipation<< zu erlangen, die dem letzte·n Kapitel seinen Titel gibt,
wird daher die Aufklärung notwendig sein, die, wie Kaut sagte, »wage zu den­ Dinge, die von Anbeginn
ken« bedeutet und den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten der Welt existieren
Unmündigkeit«50 verheißt. Und das erfordert auch heute noch, Stellung zu bezie­
hen, ein Vertrauen in die Menschheit zu haben, die keine gescheiterte Spezies ist
und der Erlösung bedürftig, sondern eine Tierart, die sich ennvickelt und die sich
in ihrem Fortschreiten mit der Vernunft ausgestattet hat.

Der Trugschluss Sein - Wissen

Wir beginnen mit der Ontologie und mit der Kritik des Trugschlusses Sein - Wis
sen, weil sich hier der sensible Kern der ganzen Debatte über den Realismus befin­
det. Diego Mcu·coi' hat die Auseinandersetzung zwischen Realisten und Antirea­
listen als Auseinandersetzung zwischen zwei Anschauungen charakterisiert. Die
erste, die realistische, glaubt, dass es Dinge gebe (zurn Beispiel die Tatsache, dass
sich auf dem Mond Berge befi nden, die höher sind als 4.000 Meter), die nicht von
unseren Begriffsschemata abhängen. Die zweite (die Marconi »hermeneutisch«
oder »kantianisch« nennt) glaubt dagegen, dass auch die Tatsache, dass sir.h auf
demMond Berge befinden, die höher sind als 4.ooo Meter,nichtunabhängigsei von
unseren Begriffsschemata oder auch einfach von den Wörtern, die wir verwenden
(»Könnten wir wirklich sagen, dass es Berge auf dem Mond gebe, wenn wir nicht
die Konzeple oder V'l7örter >Berg<, >Mond< etc. besäßen?«). Ich schlage vor, diese An­
schauung »konstruktionistisch« oder »konstruktivistisch« zu nennen, da sie an­
nimmt, dass mehr oder weniger große Teile der Wirklichkeit von unseren Begriffs­
schemata und von unseren ·vvahrnehmungsapparaten konstruiert seien. In den
nächsten beiden Kapiteln, die den theoretischen Kern des Buches bilden, beabsich­
tige c
i h, die Entstehung tmd die Grenzen del" konstruktionistischen Anschauung
zu beleuchten; sie mit der realistischen Anschauung zu vergleichen; die Bereiche
zu bestimmen, in denen man die konstruktionistische Anschauunglegitimerweise
anwenden kann; und schießlich
l ein »Traktat zum ewigen Frieden« zwischen Kon­
struktionismus und Realismus vorzuschlagen. Das Leitargument der konstrukti­
onistischen Anschauung, sprich die Annahme, dass »U1 gewissex· Weise« (ein Aus­
druck der den Konstruktionisten nicht zufällig sehr teuer ist) auch die Exisumz
von über 4 .ooo Meter hohen Bergen auf dem Mond von unseren Begriffsscbemaca
.

abhängt (oder von unserer Sprache), isteindeutig eine kantianische Schablone und
stellt eine Anwendung des Primips »Anschauungen ohne Begriffe sind blind<<2

Marcont: 11 posunoderno ucciso dalle sue caricature. Zum Thema desRealismus und Anti·
realismus vgl. auch ders.: Per la verilä.
� Kant: Kritik der reinen Vernttnft, A 5•/B 75: »Gedanken ohne ln haltsind leer, Anschattungen
�o Kant: Was ist Aufklätung?, § 1. ohne Begriffe s111d blind.«
34 2. Realismus. Dinge, die von Anbeginn der Weil existieren
Der Trugschluss Sein -Wissen 35

dar. Für sich genommen hat Kants Behauptung überhaupt nichts intrinsisch Pro­
Dieser hyperbolische Anspruch an das Wissen verkehrt sich jedoch in sein Ge­
blematisches, weil es mehrere Umstände gibt, unter denen man sie ohne Schwie­
genteil, wenn man ihn aufdie Erfahrung überträgt. Wir verlieren die natürliche
rigkeiten anwenden kann und es absolut gerechtfertigt scheint: Es ist schwierig,
Gewissheit und es gelingt uns nicht, sie durch eine vertrauenswürdige wissen
sinnvoll in der wissenschaftlichen Forschung oder in der politischen oder sozialen
schaftliehe Gewissheit zu ersetzen, da die Wissenschaft ihrem Wesen nach nun
Interaktion zu handeln, wenn man sich nicht mit Konzepten ausgerüstet hat. Das
einmal progressiv ist (daher niemals abgeschlossen). Es istsomit nicht gesagt, dass
Problem ist aber, dass Kant meinte, dass Konzepte notwendig seien, um überhaupt
es der richtige Schachzug ist, in der gewöhnlichen Erfahrung ebenso fordernd
irgendeine Erfahrung zu machen, beziehungsweise dass ein Konzept auch nütze,
zu sein, da wir anstatt der Sicherheit einen Zweifel ohne Abhilfe erhalten: Wenn
u m über eine Eisfläche zu schlittern.' Das ist nicht nur an sich falsch, sondern
man für die Erfahrung denselben Standard der Gewissheit fordert wie für die
bringt auch einen Prozess in Gang, der zu einem absoluten Konstruktionismus
Wissenschaft, wird es darauf hinauslaufen, dass wir keiner Sache mehr sicher sein
führt. In dem Moment, in dem wir annehmen, dass die Begriffsschemata für
werden. Der Beweis dafür ist von Humeerbracht worde� der zum Skeptiker wird,
jede beliebige Art von Erfahrung einen konstitutiven Wert haben, werden wir
da er genau wie Descartes bemerkt, dass induktive Schlüsse, die auf der Erfahrung
in einem nächsten Schritt behaupten können, dass sie für die Wirklichkeit einen
basieren, niemals z u einhundert Prozent sicher sein können.
konstitutiven Wert haben (zumindest, wenn wir kantianisch annehmen, dass es
Und da für Hume alles Wissen aus der Erfahrung kommt und der wahre Ab­
eine erscheinende Wirklichkeit der Welt gibt, die der Erfahrung, die wir von
grund nicht zwischen den einhundert und dem einen Prozent Wahrscheinlichkeit
ihr haben, entspricht). Bei einer vollständigen Verwirklichung des Trugschlusses
liegt, sondern zwischen den einhundert und den neunundneunzig Prozent, stütz�
Sein - Wissen ist nun das, was es gibt, bestimmt von dem, was wir davon wissen.
sich unsere ganze Erkenntnis auf einen unsicheren Boden, der keine Garantien
Zuallererst ist es sinnvoll, sich zu fragen, was die Philosophen dazu geführt hat,
bietet.
einen so riskanten und mühevollen Weg einzuschlagen. Die Erklärung lässt sich
Und hier schreitet das kantianische Moment mit einem Manöver ein, das dazu
leicht in einer Wende der modernen Philosophie zwischen Descartes und Kant
bestimmt ist, die ganze darauf folgende Philosophie zu prägen: Wenn alle Er­
finden; deswegen habe ich an anderer Stelle' vorgeschlagen, die Venvechslung
kenntnis mit der Erfahrung beginnt, diese aber strukturell unsicher ist, so wird
von Sein und Wissen den »transzendentalen Trugschluss« zu nennen. Von hier
es nötig sein, der Erfahrung die Wissenschaft zugrunde zu legen, indem man
auszugehen, bedeutet also nicht, zu weit auszuholen: »Es ist ein Gebot der Klug­
Strukturena priori findet, die Unwägbarkeiten stabilisieren. Um dieses Ergebnis
heit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben.«5
zu erhalten, ist eine Umkehrung der Perspektive nötig: Man muss vom Subjekt
So Descartes, um uns zu lehren, den Sinnen zu misstrauen, diesen unzuverlässi­
ausgehen anstatl von den Gegenständen und darf sich nicht fragen - mit dem,
gen Dienern, die uns gelegentlieb getäuscht haben und denen man daher besser
was die Schablone für alle folgenden Konstruktionismen ist. -, wie die Dinge
systematisch misstrauen sollte. In Einklang mit dieser These meint Descartes,
an sich seien, sondern muss ergründen, wie sie gemacht sein müssen, um von
dass die Gewissheit nicht draußen gesucht werde, in einer Welt, die ein Wald von
uns erkannt zu werden. Man folgt dabei dem Modell der Physiker, die die ratur
Sinnestäuschungen sei, sondern drinnen, im cogito, dem Sitz klarer und deutlicher
nicht wie Schüler befragen, sondern wie Richter, da sie sich nämlich Schemata
Vorstellungen. In dieser Entscheidung steckt etwas, das- man muss es tatsächlich
und Theoremen bedienen. Kaut verwendet also eine Epistemologie a priori, die
so sagen - ins Auge springt, es ist die Aufgabe des natürlichen Verhaltens. Wir
Mathematik, um die Ontologie zu begründen: Die Möglichkeit der synthetischen
vertrauen normalerweise unseren Sinnen, und wenn es vorkommt, dass wir an
Urteile erlaubt, eine andernfa lls zerfließende vVirklichkeit mittels einer sicheren
ihnen zweifeln, geschieht das unter besonderen Umständen, zum Beispiel wenn
Erkenntnis zu fixieren. Solchermaßen überträgt die Transzendentalphilosophie
wir eine hundertprozentige Gewissheit verlangen. Etwa wenn wir die Natur ei­
den Konstruktionismus aus dem Bereich der Mathematik in den der Ontologie.6
nem experimenlum crucis unterziehen und sie dazu bringen, uns auf eindeutige
Die Gesetze der Physik sind auf die Wirklichkeit angewandte Mathematik und
Art ja oder nein w sagen, da man nach Descartes sich nur (natürlich in der Eigen­
stellen, in der Hypothese Kants, keine Erfindungen einer Gruppe von Wissen­
schaft als Gelehrte) mit den Gegenständen beschäftigen soll, von denen man ein
schaftlern dar, sondern sie sind der Modus, in dem unser Gehirn und unsere
sicheres und unzweifelhaftes Wissen hat.
Sinne funktionieren. Unsere Erkenntnis wird nun nicht mehr von der Unzuver­
lässigkeit der Sinne und der Unsicherheit der lnduktion bedroht sein, aber der

$ Für eine Analyse erlaube ich mir, auf Coodbye Kaflt!(S. 73-84) tu verweisen. Preis, den es 1:u zahlen gilt, ist, dass es keinen Unterschied mehr macht, ob es
• Vgl. ebd., S. 65-72·
5 Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Phi losopbie, Erste Meditation, § 3·
6 Fenarin: CouHruction and Mathemaücal Schematism.
Experiment mit dem Pantoffel 37
36 2. Realismus. Dinge, die von Anbeginn der Weit existieren

einen Gegenstand X gibt oder ob wir den Gegenstand X kennen. Und da die Er­ Experiment mit dem Pantoffel
kenntnis eine innere Konstruktion ist, gibt es keinen prinzipiellen Unterschied
zwischen der Tatsache, dass wir das Objekt X kennen, und der Tatsache, dass Aber ist diese Übertreibung wirklich so unvermeidlich? Natürlich nicht, und es

wir es uns konstruieren, eben wie in der 1\tlathematik, in der zu wissen, dass ist nicht schwierig, zu rufen »die Wirklichkeit ist nackt«, sie ist nämlich durch­

7 + 5 = 12 ist, das Gleiche ist, wie die Addition 7 + 5 = 12. zu konstruieren. Sicher, aus nicht mit einem dichten Gewebe von Begriffsschemata bekleidet, mit dem die

Kant fordert uns auf, zu denken, dass hinter dem erscheinenden Gegenstand X Konstruktionisten sie einpacken wollen. Das lässt sich mit dem erklären, was ich

ein noumenisches Y existiere, ein Ding an sich und für uns unerreichbar. Aber »Experiment mit dem Pantoffel« genannt habe und das zurückgeht auf die Ter­

das ändert nichts daran, dass die Sphäre des Seins in sehr großem Maße der des mini, mit denen ich es vor zehn Jahren als antikonstruktionistisches Argument

Erkennbaren entspricht und dass das Erkennbare im Wesentlichen dem Konstru­ vorgestellt habe.

ierbaren gleicht.
Am Begim1 des Trugschlusses Sein - Wissen steht also ein Argumentationsge­ 1. 1\llenschen. Nehmen wir einen Menschen, der auf einen Teppich blickt, auf dem

flecht: 1. Die Sinne täuschen (sie sind nicht zu einhundert Prozent sicher); 2. die sich ein Pantoffel befindet; er bittet einen anderen, ihm den Pantoffel zu reichen,

Induktion ist unsicher (sie ist nicht zu einhundert Prozent sicher); 3· die Wissen­ und der andere tut dies, in der Regel, ohne auf besondere Schwierigkeiten zu tref­

schaft ist zuverlässiger als die Erfahrung, weil sie über mathematische Prinzipien fen. Es ist ein banales Interaktionsphänomen, das dennoch zeigt: Wenn die Außen­

verfügt, die von den täuschenden Sinnen und der Unsicherheit der Induktion un­ welt tatsächlich auch nur ein bisscheu von Neuronen abhinge - ich sage gar nicht

abhängig sind; 4· die Erfahrung muss sich daher in der Wissenschaft auflösen (sie von Interpretationen und von Begriffsschemata -, müsste der Umstand, dass die

muss durch die VVissenschaft begründet sein oder sie muss zumindest entlarvt beiden nicht dieselben Neuronen besitzen, die gemeinsame Wahrnehmung des

werden als ein betrügerisches und »manifestes Weltbild«); 5· da die Wissenschaft Pantoffels vereiteln. Man kann einwenden, dass die Neuronen sich nicht wirklich

von Paradigmen konstruiert ist, wird nun auch die Erfahrung konstruiert sein, als identisch enveisen müssen in Anzahl, Position oder Verbindungen; das aber

sie wird sich nämlich die Welt mittels der Begriffsschemata erschaffen. schwächt die These nicht nur, sondern widerspricht einer Offet1sichtlichkeit, die

Hier finden wir den Ursprung der Postmoderne. Kaut folgend und ihn radika­ schwerlich widerlegbar ist: Dass Unterschiede zvvischen vergangeneu Erfahrun­

lisierend werden die Konstruktionisten ohne Unterscheidung (indem sie nämlich gen, Kulturen, zerebralen Formen und Ausstattungen bis zu einem gewissen Ni­

auch das Noumenon aufheben) die Ontologie mit der Epistemologie verwechseln, veau bedeutende Divergenzen mit sich bringen können (Der Geistgeht vom Vater

das, was es gibt (und nicht von Begriffsschemata abhängt), mit dem, was wir wis­ und vom Sohn aus oder nur vom Vater? Was verstehen wir unter »Freiheit«?), ist

sen (und von Begriffsschemata abhängt). Die beiden Umstände entsprechen sich banal, es sind die Dispute zwischen Meinungen. Aber der Pantoffel auf dem Tep­

offensichtlich nicht, da die Tatsache, zu wissen, dass ein bestimmter Schlüssel pich ist eine andere Sache: Er ist außerhalb und getrennt von uns und unseren

mich die Haustür öffnen lässt (Epistemologie), mir nicht erlaubt, die Haustür zu Meinungen und ist daher mit einer Existenz versehen, die sich wesentlich unter­

öffnen, falls ich den betreffenden Schlüssel verloren habe (Ontologie). Aber, hätte scheidet von der, der man zum Beispiel beim Nachdenken über Fragen wie lebens­

Manzoni gesagt, »das sind metaphysische Spitzfindigkeiten, welche die Masse nie verlängernde Maßnahmen bei Hirntoten oder den Präventivkrieg gegenübertritt.

begreifen wird«, oder zumindest Umstände, um die man sich nicht schert, wenn Mit anderen Worten: Die Sphäre der Tatsachen erweist sich dann nicht als unent­

man als unreflektiertes Dogma annimmt, dass die Welt »da draußen« (wie im wirrbar verstrickt mit derjenigen der Interpretationen. Nur wenn ein normatives

ersten Kapitel gesagt, die Anführungszeichen sind von einer gewissen Strenge) Element auf dem Spiel steht, kann der Dialog wichtig sein: Um zu entscheiden,

ein Trugbild ist und dass die Beziehung zur Welt notwendigerweise mittels der ob etwas legitim ist oder nicht, ist es besser, sich ein wenig umzuhören, wie man

Begriffsschemata abläuft. darüber denkt, und sich Diskussionen zu stellen; aber um zu entscheiden, ob der

Tatsache ist, dass mit der gemeinsamen Handluug dieses und der beiden ande­ Pantoffel sich auf dem Teppich befindet, schaue ich, berühre ich; zu diskutieren

ren Trugschlüsse der Postmoderne, des Trugschlusses Feststellen - Akzeptieren hilft mir jedoch wenig weiter.

(für den Erkenntnis Resignation ist) und des Trugschlusses Wissen - Macht (für
den dagegen die Erkenntnis Manipulation ist), man zu einer vollständigen Diskre­
2. Hunde. Nehmen wir nun einen Hund, der dressiert worden ist. Man sagt ihm:

ditierung des Wissens gelangt - eine Diskreditierung, die die Eigentümlichkeit »Bring mir den Pantoffel!«. Und auch er tut das, ohne auf irgendwelche Schwie­

hat, von Professoren motiviert und kultiviert worden zu sein, die sie zum Thema rigkeiten zu treffen, genauso wie der Mensch oben, obwohl die Unterschiede zwi­

von Kursen, Büchern und Seminaren gemacht haben. schen meinem Gehirn und seinem enorm sind und sein Verständnis von »Bring
38 2. Realismus. Dinge, die von Anbeginn der Weit existieren Ontologie und Epistemologie 39

mir den Pantoffel!« nicht vergleichbar zu sein scheint mit dem eines Menschen: bedenke, dass die Existenz der Dinge abhängig zu machen von den Fähigkeiten
Der Hund würde sich nicht fragen. ob ich ihn wirklich bitte, mir den Pantoffel zu meiner Sinnesorgane, an sieb nichts anderes ist, als sie abhängig zu machen von
bringen, oder ob ich den Satz zitiere oder auf ironische ·weise benutze; wohingegen meiner Vorstellungskraft; und wenn ich dann glaube, dass es einen Pantoffel
es wahrscheinlich ist, dass das zumindest einige Menschen täten. nur gibt, weil ich ihn sehe, bekenne ich in 'Wirklichkeit, eine Halluzination zu
haben.
J· Würmer: ehmen wir nun einen Wurm. Er hat weder Hirn noch Ohren; Augen Es sind eben diese selbstverständlichen Umstände, die der Trugschluss Sein ­
sind ibm vorenthalten und er ist um einiges kleiner als der Pantoffel. Er besitzt Wissen verdeckt, wodurch wir alle kleine Physiker und Chemiker werden, mit
nur den Tastsinn, was auch immer ein solch dunkler Sinn bedeuten will. Daher der Absicht, Erfahrungen zu konstruieren, wie man Experimente im Labor kon­
können wir ihm nicht sagen: »Bring mir den Pantoffel!«. Dennoch, wenn er über struiert. Dieser Trugschluss öffnet einen ausgetretenen Pfad, der von der über·
den Teppich kriechend auf den Pantoffel trifft, kann er sich zwischen zwei Stra­ wältigenden Mehrheit der Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts beschritten
tegien entscheiden: Entweder er geht um ihn herum oder kriecht darüber. ln worden ist. Die eigentliche Revolution nach Kopernikus zu benennen, sprich nach
beiden Fällen hat er den Pantoffel angetroffen/ auch wenn er ihn nicht genau so demjenigen, der uns- zumindest dem modernen Bewusstsein -gelehrt hat, dass
antrifft wie ich. die Sonne nicht wirklich untergeht, ist sicher irreführend (bedenkt man, dass ge­
rade die Revolution von Kant eher eine ptolemäische ist). Aber es bedeutet, dass
4·Efeu. Dann neh men wir einen Efeu. Er hat keine Augen, er hat eigentlich nichts, man als Ausgangspunkt nicht das wäh h, was wir sehen, sondern wie viel wir wis­
trotzdem klettert er (so drücken wir es aus und behandeln ihn dabei wie ein Tier' sen, und vor allem zu schließen, dass eine Sache anzutreffen und sie zu kennen,
indem wir ihm eine bewusste Strategie zuschreiben) auf die Mauern, als ob er sie eigentlich dasselbe ist. Die Folgen sind zahlreich und stecken das Feld ab, in dem
sähe; oder er rückt langsam ab von Wärmequellen, die ihn belä.stigen. Der Efeu die modernen und postmodernen Konstruktionisten operieren: Man macht das,
wird den Pantoffel entweder umgehen oder hinübersteigen, nicht viel anders als was wir sehen, abhängig von dem, was wir wissen; man postuliert, dass überall
es ein Mensch machen würde gegenüber einem Hindernis größeren Umfangs, die Vermittlung der Begriffsschemata am Werk sei; und schließlich versichert
jedoch ohne Augen oder Begriffsschemata. man, dass wir niemals eine Verbindung mit Dingen an sich hätten, sondern im­
mer nur mit Phänomenen.
5· Pantoffel. Zum chluss nehmen wir den Pantoffel. Er ist noch unempfindlicher
als der Efeu. Wenn wir ihn jedoch auf einen anderen Pantoffel zögen, träfe er dar­
auf, beinahe wie es dem Efeu, dem Wurm, dem Hund, dem Menschen widerfährt.
Daher versteht man nicht wirklich, in welchem Sinn auch die vernünftigste und Ontologie und Epistemologie
minimalistischste These vom Eingriff des Wahrnehmenden in das Wahrgenom­
mene irgendein ontologisches Ansinnen befördern könnte, geschweige denn ir­ Anders als die antiken Skeptiker zweifeln die postmodernen Konstruktionisten
gendwelche anderen. Auch weil man gar keinen anderen Pantoffel hinzunehmen nicht an der Existenz der Welt; sie be::haupten, dass sie durch Begriffsschemata
müsste, sondern sich einfach vorstellen könnte, dass der erste Pantoffel da sei, in konstruiert sei und dass sie daher an sich amorph und unbestimmt sei. Das Ma­
Abwesenheit von irgendeinem tierischen Beobachter oder ohne eine Pflanze oder növer scheint sehr viel weniger gewichtig, aber da der Konstruktionist anders als
einen anderen Pantoffel, die mit ihm interagieren. der Skeptiker Sein und Wissen gleichsetzt, ist das Ergebnis ebenso wirksam, ob­
·vvas wäre, wenn es nun keinen Pantoffel auf dem Teppich gäbe? Wenn es gleich mit soziologisch anderen Ausgängen. Das Ziel des Skeptikers ist nämlich,
den Pantoffel wirklich gibt, muss er auch da sein, ohne dass ihn irgendjemand die Eitelkeit des menschlichen Wissens anzuprangern: Sein Gründungstext ist
sieht, wie es logischerweise der Satz impliziert »Da ist ein Pantoffel«, ansonsten der Adversus mathematicos von Sextus Empiricus, was man übersetzen könnte
könnte man sagen: »Mir scheint, dass da ein Pantoffel ist«, oder, noch korrekter: mit »Gegen die Professoren«, da er nicht nur die Mathematiker ins Visier nimmt,
»Ich habe in mir die Vorstellung von einem Pantoffel«, wenn nicht gleich: »Ich sondern auch die Gran1matiker, die Rhetoriker, die Astrologen, die Musiker, also
habe den Eindruck, in mir die Vorstellung von einem Pantoffel zu haben.« Man alle Künste des Triviums und Quadriviums. Beim Konstruktionisteil beobachten
wir dagegen eine dem diameLral entgegengesetzte Strategie, die die Funktion
7 Die BedeuLung des unbegrifflichen »Antreffell$« wird in dem Abschnitt otVerllnderlich und
des Professors bei der Konstruktion der Welt erhöht: Sein Gründungstext istDie
unveriinclerlichc dieses Kapitels geklärt. Ordnung der Dinge von Foucault, wo man liest, dass der Mensch von den Geis-
40 2. Realismus. Dinge, die von Anbeginn der Welt existieren Ontologie und Epistemologie 41

teswissenschaften konstruiert sei und mit ihnen verschwinden könnte.8 Wenn Erverficht eine Th.ese, die die KonstruktionisteiL bestreiten, nämlich dass es nicht
der Skeptiker danach trachtet, über nichts zu staunen, so hat der Konstruktionist wahr ist, dass Sein und Jlfl'issen sich entsprechen,ja dass zwischen Ontologie und
die Verwunderung zum Ziel und sein wesentliches Manöver ist die Abweichung Epistemologie zahlreiche wesentliche Unterschiede bestehen, denen die Konstruk­
vom Offensichtlichen, sprich die Formulierung vonfashionable nonsense9, von tionisten kei ne Auf�m.erksamkeit schenken. Der Konstruktionist behauptet: Ob das
überraschenden Behauptungen, die das Gewicht der Begriffsschemata und der Feuer brennt, das Wasser nass und der Pantoffel auf dem Teppich ist, hänge von
Kultur demonstrieren, das heißt in letzter Konsequenz: der P·rofessoren10 bei der Begriffsschemata ab.JZ Natürlich ist das nicht so.
Konstruktion der Erfahrung. Daher die Behauptungen, die der Wissenschaft eine Es hängt von der Tatsache ab, dass das Feuer brennt, das Wasser nass und der
übermäßige Macht verleihen, indem sie dem Trugschluss Sein und Wissen folgen, Pantoffel auf dem Teppich ist, dies sind ontologische Merkmale, keine epistemo­
wie es dem Erkenntnissoziologen Bruno Latour11 widerfahren ist, der behauptet logischen. Tatsächlich (denken wir an das Experiment mit dem Pantoffel) ist es
hat, dass Ramses II. nicht an Tuberkulose habe sterben können, weil die für das unzweifelhaft, dass wir uns durch Begriffsschemata mit der Welt in Beziehung
.
bel verantwortlichen Bazillen erst 1882 entdecktworden seien. Dabei unterlässt setzen (wer diese Zeilen liest muss das Alphabet gelernt haben und muss Deutsch
man es, zu erwägen, dass, wenn die Geburt der Krankheit tatsächJjch mit der Ent­ können), aber das bedeutet nicht, dass die Welt von unseren Begriffssche1nata
deckung der Krankheit zusammenfiele, man sofort alle medizinische Forschung bestimmt ist. Ich kann so viel wissen (oder nicht wissen), wie ich will, die Welt
einstellen müsste, weil wir tatsächlich schon Krankheiten zur Genüge haben ­ bleibt die, die sie ist.
und als der wahre Grund der Übel der Welt würde sich Äsk.ul�p entpuppen und Es ist überaus wichtig, Ontologie und Epistemologie nicht zu verwechseln. An­
nicht, wie man eigentlich dachte, Pandora. Dass dann die Professoren einander dernfalls gilt das »Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen«, ein Prinzip, mit
nicht lieben und, nachdem sie dem Wissen die Konstruktion der Welt zugespro­ dem man- wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, als wir über die >>Entobjck
chen haben, behaupten (auf der Basis des Trugschlusses von Wissen- Macht), dass tivierung« sprachen - behaupten kann, dass Bellarm in und Galileo recht gehabt
das Wissen ein Instrument des Willens zur Macht sei, ist alles in allem in der hätten oder dass sogar Bellarmin recht gehabt habe und nicht GaWeo, welcher
Ordnung der menschlichen Dinge. Und das letzte Ergebnis des Konstruktionis­ daher bekommen habe, was er verdiente. Dies ist ein deutlicher Beweis für die
mus ist das des Skeptizismus: die Diskreditierung der Wahrheit. Tatsache, dass, wenn wir die Beziehung zu einer Außenwelt aufgeben. die stabil
Es überrascht nicht, dass der Konstruktionist hier widersprechen kann - in und unabhängig von Schemata ist, alles möglich ist, da diese Entscheidung Aus­
polemischer Absicht u.nd teils in gutem Vertrauen-, dass der einzige Inhalt des wirkungen haben wird auf praktische Entscheidu ngen (politische und moralische)
Realismus die These sei: »Die Wirklichkeit existiert.« Es handelt sich um ein et­ und nicht nur auf theoretische Feststellungen. Man könnte sicher einwenden,
was übermütiges argumentatives Manöver, das sich nicht un terscheidet von dem­ dass die Ontologie nicht das sei, was ist, sondern der Diskurs über das, was ist.
jenigen, das behauptet, der einzige Inhalt des Idealismus sei »Es gibt Ideale«, der Daher gibt es immer einen Rest Episternol01:,rie in der Ontologie und einen Rest
einzige Inhalt des Nihilismus »Es gibt nichts« und der einzige Inhalt des Kommu­ Ontologie in der Epistemologie. Dies ist unbestreitbar: Es gibt niemals Ontologie
nismus gar »Es gibt Communen«. Um allerdings Missverständnisse zu vermeiden: ohne Epistemologie, wie man auch nicht wirklich leben kann, ohne zu wissen.
Der Realist beschränkt sich nicht darauf, zu sagen, dass die Wirklichkeit existierL Dennoch, wenn die Ontologie auch ein Diskurs ist, ist sie ein Diskurs, der den
Unterschied zur Epistemologie hervorheben muss uod nicht auf der Kontinuität
8 »Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz
bestehen darf, wie es oft von dem Trugschluss ein- Wissen unterstützt wird.'�
offen 1-eigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie Da es insofern banal ist, Ontologie und Epistemologie zu verwechseln, kann die
erschienen sind, wenn durch irgendein Ereigni s, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen kön­
theoretisch interessante Maßnahme nicht darin bestehen, zu sagen, dass Episte­
nen, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen
ins Wanken gerieten, wie an der Crenze des achtzehntenJahrhunderts die Grundlage des klassischen
mologie und Ontologie sich vermischen, sondern vielmehr zu unterstreichen, auf
Denltens es tat , dann kann man �ehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer welche und wie viele Weisen sich Ontologie und Epistemologie unterscheiden. Ich
ein Gesicht im Sand.« Foucuul�: Die Orduung der Dinge, S. .j.61l.
9 Vgl. Sokai/Bricmont: Eleganter Unsinn. Eine differenziertere E:rgiinzung kann man finden
bei Boghossian: Fear of Knowledge.
IO Ich habe diesen akademischen Skeptizismus dargesteilt in Una lkea di universiul.

11 Latour: Ramses l l est.-il roort de Ia tuberculose? Latour hat übrigens das Verdienst, seine Po­ 12 DieUnterscheidung von Ontologie und Ep•stemologic ht\be ich erläutert in Ilmondo esterno
sitionen gründlich zu überdenken,so zum Beispiel allgemeinseine hyperkonstruktiorustischen Posi­ und in Documerualiul. Perchi e necessarw lasciar tracce, worauf zuverweisen ich mir erlaube.
tionen in dem bewundernswürdigen Au fsatz Why Has Cril.i'lue Run oul ojSteam} From Mauers <{ 3
1 Vgl. dazu typisch McDowell: Gei$t und Welt. Für eine Krit.ik verweise ich aufmeinen Text
Facl to MattersoJCorteern. i nr.a 'd esperienza.
i\llenle e mondo o sce
42 2. Realis mus. Dinge, die von Anbeg inn der Weit existieren Veränderlich und unveränderlich 43

versuche das in dieser Spiegeltabelle z.usammenzufasse11, um es dann im Laufe des Widerstands und des Kontrasts. Ich l;:ann mich allen Erkenntnistheorien auf
des Kapitels z.u erläutern. der Welt anschließen, kann Atomist sein oder Berkeleyaner, Postmodernist oder
Kognitivist, ich kann mit dem naiven Realismus denken, dass das, was ich wahr­
Epistemologie Ontologie nehme, die wahre 'Welt ist, oder ich kann mit der Lehre des Vedanta denken, dass
veränderlich unveränderlich das, was ich wahrnehme, die falsche Welt ist. Es bleibt, dass das, was wir wahr·
das, was korrigiert werden kann das, was nicht korrigiert werden kann nehmen, unveränderlich ist, man kann es nicht korrigieren: Das Licht der Sonne
Innenwelt Außenwelt blendet, wenn die Sonne da ist, und der Griff der Espressokanne schmilzt, wenn
{= innerhalb der Begriffsschemata) (= außerhalb der Begriffsschemata) wir sie auf der Flamme gelassen haben. Es gibt keine Interpretation, die mau
Wissenschaft Erfahrung diesen Tatsachen entgegenhalten könnte; die einzigen Alternativen sind die Son·
sprachlich nicht notwendigerweise sprachlich nenbrille und der Topflappen.
geschichtlich nicht geschichtlich V\Tenn der Begriff des Wirklichen als »Hintergrund« von den Philosophen um­
frei unveränderbar fangreich theoretisiert wird,14 würde ich gerne die Aufmerksamkeit auf einen seh r
unendlich endlich viel weniger betonten Aspekt lenken, die Tatsache nämlich, dass dieser Hinter­
teleologisch nicht notwendigerweise teleologisch grund unseren Theorien oft z u widersprechen scheint beziehungsweise er nicht
die natürliche Voraussetzung bildet, weil sich die Erfahrung als disharmonisch
oder überraschend erweisen kann. Dieser Punkt ist relevanter, als es scheinen
mag. Die Wissenschaft ist (aristotelisch) das Erfassen von Regelmäßigkeilen und
Veränderlich und unveränderlich (empiristisch) die Wiederholbarkeit von Experimenten. Einige dieser Charakte­
ristika finden sich in der Erfahrung, die jedoch vor allem mit der tJberraschung
Kommen wir zur ersten wesentlichen Unterscheidung, um die sich die Konstruk­ rechnen muss. irgendetwas Unvorhergesehenes kann immer passieren und die
tionisten und diejenigen nicht kümmern, die denken, dass die Daten ein Mythos Regelmäßigkeit zerstören. Wie sehr dieser Umstand das Bild der Wissenschaft.
seien: die Unterscheidung zwischen veränderlich und unveränderlich. Ich kann als Regelmäßigkeit beschädigen kann, hatten die Empiristen verstanden, die, wie
wissen oder nicht wissen, dass Wasser H.O ist, auf jeden Fall werde ich darin nass wir gesagt haben, eben in der Überraschung, in dem Unvorhergesehenen der Er­
und ich werde mich nicht abtrocknen können allein durch den Gedanken, dass fahrung, ein unüberwindbarcs Hindernis bezüglich der Glaubwürdigkeit der In­
Wasserstoff und Sauerstoff als solche nicht nass sind. Und das - in Einklang mit duktion gefunden hatten. Trotzdem, wenn nicht immer mal wieder e·twas Neu.es
dem Experiment mit dem Pantoffel - würde auch für einen Hund gelten, der mit geschähe, das die Folge unserer Vorhersagen unterbräche, dann hätten wir kein
anderen Begriffsschemata ausgestattet ist als ich, oder für einen Wur:rn oder sogar Mittel, um die Wirklichkeit von der Vorstellung zu unterscheiden. Aber auch die
für ein un.beseeltes Wesen wi.e einen Computer: Obwohl ignorant gegenüber der Überraschung wäre wenig wert, wenn sie sich sofort korrigieren ließe. Nun, eine
chemischen Zusammensetzung von Wasser, könnte er irreparable Schäden erlei­ der Eigenschaften der Erfahrung ist hingegen die Tatsache, dass sie in sehr vie­
den in dem unglücklichen Fall, dass ein Glas Wasser sich auf die Tastatur ergießt. len Fallen da ist und man sie nicht korrigieren kann, man kann gar nichts tun,
Wie ich gesagt habe, schla.ge ich vor, diesen Fundamentalcharakter des 'Nirk­ sie vergeht nicht und sie verändert sich nicht. Diese Eigenschaft ist eben die Un­
lichen als »Unveränderlichkeit« zu definieren: die Tatsache, dass das, was uns ge­ veränderlichkeit und sie erweist sich als ein fundamentaler Zug- als beständige
genübersteht, nicht korrigiert oder umgewandelt werden kann durch den bloßen und nicht zufällige Eigenschaft- der Wirklichkeit. Der Grundgedanke ist dieser:
Rückgriff auf Begriffsschemata, anders als es in den Hypothesen des Konstrukti­ V\Tenn wir zugäben, dass eine Fundamentalvoraussetzung der Objektivität, auch
onismus geschieht. Das ist nicht nur eine Grenze, es ist auch eine Ressource. Die der wissenschafLlichen, die Invarianz unter Umwandlungen15 ist, müssten wir
Unveränderlichkeit zeigt uns tatsächlich die Existenz einer Außenwelt, nicht be­ erst recht annehmen, dass die Unabhängigkeit des Gegenstands gegenüber den
zogen auf unseren Körper (der Teil der Außenwelt ist), sondern bezogen auf un· Begriffsschemata des Subjekts (oder der Epistemologie im Allgemeinen) ein noch
seren Verstand und noch genauer: bezogen auf die Begriffsschemata, mit denen viel stärkeres Merkmal der Objektivität konstituiert. Eben das ist die »Unverän-
wir versuchen, die Welt zu erklären und zu interpretieren. Wie man gesehen hat
{und wir werden im dritten Kapitel darauf zurückkommen, wenn wir von der u Vgl. zum BeaspielSearle: Die Konstruktion der gesellschaftlieben Wirklichkeit, insb. S. 158 ff.
»Reibung« sprechen), manifestiert sich die Unveränderlichkeit als ein Phänomen 15 Nozick: lnvarinnces.
2. Realismus. Dinge, die von Anbeginn der Welt existieren Innenwelt und Außenwelt 45
44

derlichkeit«: Ich kann, während ich das Feuer betrachte, denken, dass es sich um Ansicht der Wahrnehmung als Aggregation von »Sinnesdaten« - enthüllt die
Unveränderli.chkeit, dass die Wahrnehmungserfahrung eine wunderbare Stabi­
ein Oxidationsphänomen handelt oder um einen Vorgang der Verbrennung und
der ·wärme, aber ich kann mich nicht nicht verbrennen, wenn ich die Hand ins lität und Widerständigkeit gegenüber begrifflichen Unternehmungen besitzt. Es

Feuer halte. Schließlich ist die Unveränderlichkeit ein Bereich, auf den sich Witt­ empfiehlt sich, dass diese Stabilität deutlicher (bedenkend, dass man wie in dem

genstein in einer berühmten Passage bezieht: »Habe ich die Begründungen er­ Experiment mit dem Pantoffel eine Interalttion zwischen ·wesen mit verschie­

schöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt denen Perzeptionsapparaten aufzeichnet) einer Stabilität der angetroffenen Welt

sich zurück. Ich bin dann geneigt, zu sagen: >So handle ich eben.«<'6 zugeschrieben wird, den Handlungen unserer Perzeptionsapparate und unseren

Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht überraschend, dass ein eminenter Aus­ Begriffsschemata vorgelagert, die sich eben erklären lässt mit der Unterscheidung

druck der Unveränderlichkeit tatsächlich der Bereich der Wahrnehmung ist. Von zwischen »Innenwelt« und »Außenwelt«.

den antiken Skeptikern über Descartes bis zur Phänomenologie des Geistes von
Regel erfolgtdie Anfechtung der sinnlichen Erfahrung aufgrund einer Verwechs­
lung zwischen Epistemologie und Ontologie: Die Sinne können täuschen, daher
spricht man der sinnlichen Erfahrung auch jede ontologische Maßgeblichkeit ab. Innenwelt und Außenwelt
Das wäre schließlich wie zu sagen, da Sinnestäuschungen existieren können, ist
es nicht mehr möglich, sich bei der Berührung mit Feuer zu verbrennen, ein Um­ Im Allgemeinen liegt die Außenwelt außerhalb der Begriffsschemata und von

stand, den Locke tatsächlich in der von ihm vorgeschlagenen Widerlegung des diesem Standpunkt aus findet man in der Unveränderlichkeit der Wahrnehmung

Skeptizismus mit Ironie beschworen hat." In Berücksichtigung dieser Umstände das eigentliche Paradigma. Dennoch darf man nicht vergessen, dass eine Sphäre
des nicht wahrgenommenen Unveränderlichen existiert, wie wir im nächsten
habe ich der Wiederbelebung des Werts der Ästhetik als Theorie der Wahrneh­
Kapitel sehen werden, das von der »Unwiderruflichkeit« handelt?' Im Fall der
mung besondere ontologische Relevanz verliehen18 und die Theorie der Unver­
änderlichkeit ausgearbeitet. Diese ist eng angelehnt an diejenige, die Wolfgang Wahrnehmung haben wir also lediglich einen Bereich von besonderer Evidenz,

Metzger und die Gestaltpsychologie unter der Kategorie der »angetroffenen Wirk­
in dem die Unveränderlichkeit sich darstellt als 1) Autonomie der Ästhetik gegen­
lichkeit« erarbeitet hatten, das heißt jener ·Wirklichkeit, die sich einem bietet, über der Logik; 2) Antinomie der Ästhetik gegenüber der Logik; 3) Autonomie
der VVelt gegenüber unseren Begriffsschemata und VVahrnehmungsapparaten.22
auch indem sie unsere begrifflichen Erwartungen19 zerstört und sich also der den
Untersuchen wir diese drei Punkte im Detail:
Konstruktionisten so teuren »vorgestellten Wirklichkeit« entgegenstellt.
Autonomie derAsthetik gegenüber der Logik. Kehren wir noch einmal zurück
Diese »angetroffene Wirklichkeit« - im Einklang mit ·dem, was Paolo Bozzi
zu der Verurteilung der Sinne bei Descartes: Die Sinne täuschen und es ist nicht
unter der Kategorie der »naiven Physik«20 vorgeschlagen hat - erscheint dem
gut, denen zu trauen, die uns mindestens einmal getäuscht haben. Nun, die Sinne
Wissen undurchdringlich und liefert einen klaren Beleg für den Unterschied zwi­
schen Erkenntnis der Welt und Erfahrung der Welt, der hilft, die transzenden­ besitzen weder Absichten noch Eigenschaften; vielleicht zeigen sie eine Tendenz,

talen Trugschlüsse zu vermeiden. Gegen eine mehr oder weniger offenkundig uns zu enttäuschen, uns nicht das zu geben, was wir erhofften: und das ist das Ge­
genteil des Willens zu täuschen. Hier stellen wir die Unabhängigkeit der Wahr­
konstru.ktionistische Pet·spektive - vom Transzendentalismus zur empiristischen
nehmung von den Begriffsschemata fest oder, im Positiven, die Existenz von nicht

16
begrifflichen Inhalten. Diese Inhalte zeigen sich eben in der traditionellen Un­
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 217 (Spätfassung).
l7 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, IV.z.14. zufriedenheit mit der Wahrnehmung, die man als eine Quelle der Erkenntnis
l& Unter diesem Gesichtspunkt, speziell für meine Forschungen, ist Analogon rationis der zu­
betrachtet, die zugleich notwendig und unglaubwürdig ist.
grunde Legende Text. Für eine zusammenfassende Darstellung meiner Perspektive aufdie Rolle der
Antinomie der /fstlzetik gegenüber der Logik. vVenn es wahr wäre, dass der Ge­
Perzeption erlaube ich mir, aufdas Nachwort der neuen Ausgabe der Estetica razionale (S. 575-586)
zu verweisen. e die Realität erschafft, sähen wir - es sei denn, wir wären masochistisch -
dank
19 Ferraris: Metzger, Kant and the Perception of Causality. Die Nähe von Metzgers Konzept des
nicht nur das, was wir wollten, sondern auch und immer das, was uns gefiele, und
»Angetroffenen<< und meinem Konzept des »Unveränderlichen« ist hervorgehoben worden von Vica­
wir wären niemals überrascht. Hingegen ka1m einer, so sehr er sich auch müht,
rio: Psico logia generale, S. 101. Ich verweise auf die Analysen von Vicario auch für eine Darstellung
des Konzepts der »Wirldichk.eit« ir1 der Psychologie.
20 Vgl. Bozzi: Fisica iugenua; ders.: Scritti sul realismo. Was ich hier gesagt habe, führe ich um­
fassender aus in der Einführung zu diesem Band; ich erlaube rnir außerdem, für die ontologischen 21 Vgl. auch Ferraris: Il mondo estemo, S. 1g8-zo1.
22 Vgl. ebd., S. 8g, worauf ich mir füreine Yollständige Phänomenologie zu verweisen erlaube.
Implikationen auf meinen Text Omologia corne.fisica in.gentLa zu verweisen.
46 2. Realismus. Dinge die von Anbeginn der Welt existieren Wissenschaft und Erfahrung
,
47

sich nicht daran btndern, Dinge zu sehen, die er nicht sehen möchte oder die er (die Wissenschaft hat kein Ende) und einer teleologischen (sie hat ein Ziel). Das
nicht nicht sehen könnte oder - sogar - von denen er Grund hat zu glauben, dass ist im Fall der Erfahrung nicht so. Versuchen wir diese Elemente zu vertiefen,
sie nicht da sind oder dass sie nicht sind, wie sie erscheinen, wie es sich eben bei im Bewusstsei n der Tatsache, dass die Postmodernen gerade durch die l\1issaeh­
optischen Täuschungen verhält (die sich nur deshalb Täuschungen nennen, weil tung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Erfahrung haben behaupten
man denkt, dass das Auge eine Stütze der 'Wissenschaft und der Wahrheit sei). können, dass nichts außerhalb des Textes, der Sprache oder irgendeiner Form des
Ich kann all die dieser Welt entgegengesetzten philosophischen Überzeugungen Wissens existiere.
haben (oder, und das ist bedeutsamer, ich kann philosophisch vollkommen un­ 1. Die Wichtigkeit der Sprache und der Schrift in der Wissenschaft als inner·
wissend sein), aber die Sinne werden fortfahren, auf h
i re Weise zu arbeiten. Aus liehe soziale Tatsache scheint schwerlich bestreitbar. Es gibtkeinen Zweifel, dass
der Perspektive, die ich vorschlage, präsentiert sich der Aufruf an das Wahrneh­ die Wissenschaftlichkeit es mit der Dokumentalität zu tun hat, von der ich im
mungsvermögen daher als Antithese zum Sensualismus: Wo der Sensualist von dritten Kapitel sprechen werde, mit einem System der Kommunikation, der Ein­
einem epistemologischen Standpunkt aus die Sinne als Erkenntnisinstrumente schreibung, der Bezeugung, der Kodifikation, der Aufbewahrung und des Pa­
bewertet, würdige ich sie von einem ontologischen Standpunkt aus, das heißt für tents. Wir können uns sehr gut Erfahrungen vorstellen, die ohne Sprache und
den WidersLand, den sie unseren Begriffsschemata entgegensetzen. Aus dieser ohne Schrift stattfinden; vice versa Entdeckungen mitzuteilen und festzuhalten,
Antinomie entsteht die Autonomie der ·vvelt, ihre Transzendenz gegenüber dem ist eine unerlässliche Bedingung für die Wissenschaft: Publish or perish ist viel­
Gedanken. leicht eine akademische Verirrung, die einzel ne Forscher betrifft, aber es formu­
Autonomie der Welt gegenüber den Begriffsschemata und den Wahrnehmungs­ liert einen kategorischen Imperativ für die Wissenschaft, die als kollektive und
apparaten. Die Wirklichkeit besitzt einen strukturellen (und strukturierten) Zu­ progressive Arbeit notwendigerweise den kommunikativen Austausch erfordert
sammenhang, der nicht nur den Begriffsschemata und den Wahrnehmungsappa­ (mündlich oder schriftlich) und die Aufbewahrung und Überlieferung der Entde­
raten widersteht (und in dieser Widerständigkeit besteht die Unveränderlichkeit), ckungen. Nichts von alldem zählt für die Erfahrung, die vonstatten gehen kann
sondern ihnen vorausgeht. Genau deswegen muss das Konzept der »Außenwelt« g
ohne jede Kommunikation, ohne jede Aufbewahrun , ohne jede Jotwendigkeit
zunächst verstanden werden im Sinne von »außerhalb unserer Begrifrsschemata eines sprachlichen Ertrags.
und unserer Wahrnebrnungsapparate«. Eine solche Welt existiert, sonst wäre 2. Die intrinsische Geschichtlichkeil der Wissenschaft ist nur ein Zusatz zu der
unser ganzes Wissen nicht zu unterscheiden vom Traum:u Ich kann (und in be­ vorhergehenden Betrachtung. Man hat Wissenschaft eben in dem Maße, in dem
stimmten Situationen muss ich) zweifeln an der Wahrhaftigkeit sogar all mei­ jede Generation die Entdeckungen der vorhergehenden Generation kapitalisieren
ner Erfahrungen, ohne deswegen an der Tatsache zu zweifeln, dass es allgemein kann. Und deswegen kann man von mehr oder weniger jungen Wissenschaften
etwas gibt. sprechen, womit man auf eine Biografie, ein Wachstum und eine Entwicklung
hinweist, die eben von der Möglichkeit der Einschreibung und der Dokumentation
herkommen - während ein Ausdruck wie »junge Erfahrung« als total unsinnig
oder rein metaphorisch erscheint: höchstens hat man jugendliche Erfalrrungen,
Wissenschaft und Erfahrung sprich Dinge, die uns als Jugendliche widerfahren.
3· vVas dann die Freiheit betrifft, scheint es offensichtlich, dass die Wissenschaft
Dritte und letzte Unterscheidung. Was der Trugschluss Sein - Wissen nicht be­ in einer absichtlichen Tätigkeit besteht. Irgendwann hat es in der intellektuel­
achtet, ist die entscheidende Differenz zwischen Erfahrung machen, über unsere len Geschichte einer jeden Zivilisation Anfänge der wissenschaftlichen Tätigkeit
Erfahrung sprechen und Wissenschaft betreiben (zum Beispiel zwischen Kopf­ gegeben, die sich frei entwickelt haben, auch wenn sie in vielen Fällen auf den
schmerzen haben, dies jemandem beschreiben und eine Diagnose erstellen). Beim Druck praktischer Notwendigkeiten reagiert haben. Diese Entwicklungen häl­
Sprechen über die Erfahrung und umso mehr beim Betreiben von Wi�senschaft ten auch nicht stattfinden können, und dass dies der Fall ist, beweist die Tatsache,
setzen wir uns au.seinander mit einer linguistischen Tätigkeit (die Wissenschaft­ dass einige Zivilisationen keine wissenschaftliche Entwicklung erfahren haben
ler sprechen), einer geschichtlichen (wir gehen einer anhäufenden Tätigkeit nach), und dass wiederum andere eine Wissenschaft ausgebildet haben, die sich von
einer freien (man kann auch keine Wissenschaft betreiben), einer unendlichen unserer wesentlich unterscheidet. Hier erweist sich der Vergleich mit der Erfah­
rung erneut als erhellend, weil die Erfahrungen eine interkulturelle Konstante
'23 Eine detailliertere Analyse findetsich ebd., S. •93-201.
darstellen und nicht als Ergebnis einer bewussten Entscheidung erscheinen. Ich
48 2. Realismus. Dinge, die von Anbegmn der Weit eXIstieren Positivismus? 49

spreche nicht nur von der Wahrnehmung, wenn man erst die Legenden aufge­ Positivismus?
geben hat, die wollen, dass die Inuit mehr Nuancen im Schnee sehen als wir. Ich
spreche von stark strukturierten Elementen, wie zum Beispiel den Mythen. Kurz Eine letzte Überlegung. Wie ich glaube, durch die bisher aufgezählten Unter­
und gut: Der Menschheit ist nicht die VVissenschaft universell (sie ist nur univer­ schiede gezeigt zu haben, stellt der Realismus, den ich vorschlage, eine Antithese
salisierbar), sondern die Erfahrung. zum Positivismus dar. Jedoch geschieht es bisweilen, dass, wenn man von der
4· Kommen wir zur Unendlichkeit. Die Wissenschaften mit dem größten Pres­ »Wirklichkeit« spricht, dies als ein Aufruf zu einer Form des Szientismus verstan­

tige sind die, die sich einer langen Vergangenheit rühmen können und eine sehr den wird_ Nun, der Positivismus ist eine Theorie von vor zoo Jahren und wenn

lange Zukunft vor sich haben, solche also, die am besten der Idee des Wissens die Freunde der Interpretationen die Drohungen. des Positivismus schüren, um
als unendlicher Entwicklung entsprechen. ichts von alldem kann man über die ihre Unduldsamkeit gegenüber den Tatsachen kundzutun, erinnern sie an die

Erfahrung sagen, welche sich nicht nur nicht als unendlich entwirft (ihre Dauer italienischen Populisten, die das Gespenst des Kornmunismus herbeirufen, auch

kann jedenfalls nicht die des menschlichen Lebens übersteigen), sondern sich noch Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer. Wenn ich dagegen in meinem Realis­

nicht einmal als fortschrittlich versteht. Damit meine ich nicht einfach, dass das musvorschlag so sehr aufdem Unterschied zwischen Ontologie (dem, was ist) und

Vorhaben, die Sinne zu verfeinern, auf objektive Grenzen stoßen wird (höchstens Epistemologie (dem, was wir wissen) bestehe, ist es tatsächlich deswegen, weil ich
kann man versuchen, mit Brillen oder Hörgeräten ihrm· Schwächung entgegenzu­ mich ihrer Vermengung direkt entgegenstelle. Also kein »Zurück zum Positivis­

wirken), sondern dass in demselben Bereich der Praxis und der diffusen Techniken nms«. Vielmehr gegen den Positivismus, den die Wissenschaft preist, und gegen

in der Lebenswelt der Fortschritt nicht notwendigerweise ein Ideal konstituiert. die Postmoderne, die diese herabsetzt zu einem Kampf zwischen Interessen (aber

Während jeder von uns es bevorzugen würde, statt von einem Arzt aus dem Jahr sie zugleich eintreten lässt in die allerkleinsten Details der Erfahrung und d.er

2012 von einem Arzt aus dem Jahr 2212 behandelt zu werden, und die Vorstellung Natur), schlage ich eine Wiederbelebung der Philosophie vor als Brücke zwischen

fürchten würde, einen Arzt aus dem Jahr 1812 in Anspruch zu nehmen, kann die dem gesunden Menschenverstand, den moralischen Werten und Meinungen und
Aussicht, ein Brot von früher zu essen oder seine Hand auf einen Stoff aus der der Welt des Wissens (denn es gibt nicht nur die Physik, es gibt auch das Recht,
Präglobalisierung zu legen, sehr verlockend erscheinen. Während darüber hinaus die Geschichte, die Ökonomie).

die Vorstellung von einem unendlichen Fortschritt der Wissenschaft vollkommen Es geht durchaus nicht darum, zu sagen, dass alle Wahrheiten in der Hand der

einleuchtet, ist der Gedanke, dass es eine unendliche technische Entwicklung Wissenschaften seien. In diesem Fall liefe die Philosophie Gefahr, als ein parasitä­

des Schalumlegens oder des Krawattenbindens gebe, wenig mehr als ein Scherz. res Wissen zu erscheinen, wie es sich die Postmodernen erträumten: Die Wissen­
5· Der abschließende Punkt zur Teleologie ist sehr einfach. Die Wissenschaft schaft machL die wirkliche Arbeit, die Philosophcu folgen wie die Amtsschimmel

ist eine gewählte Tätigkeit, wie es viele Techniken sind, uie in dieser Hinsicht und schweigen oder schreien. Der Fehler der Postmodernen (und es ist ein Fehler,

einen Mittelweg bilden zwischen der Wissenschaft und der Erfahrung: Das Bett der von weit her kommt; erinnert sei an die Tirade Heideggers, dass die Wissen­

frisch zu beziehen, scheint keine Tätigkeit zu sein, die einem unendlichen Fort­ schaft nicht denke) ist nun gewesen, entweder ein alternatives Wissen zur Wis·

schritt unterliegt (höchstens erfindet man Spannbettlaken), aber es ist sicherlich senschafterschaffen zu wollen, eine Para-, Super- oder Metawissenschaft, oder, be·
eine gewählte Tätigkeit. Dies gilt umso mehr für die Wissenschaft. Wer ohne scheidener, aber ebenso parasitär, ein die Wissenschaft dekonstruierendes Wissen.

Absicht ins Labor ginge, betriebe keine '1Vissenschaft, während derjenige, der Die grundlegende Annahme war jedoch, dass die Wissenschaft die einzige Quelle

ohne Absicht ein Wärmegefühl empfände, eine Farbe sähe oder an Zahnweh des V\Tissens sei. Die berechtigte Frage allerdings, die die Postmodernen sich nur

litte, keinen Grund auf der 'Welt hätte, auszuschließen, diese Erfahrungen zu spärlich gestellt haben, ist: In welchen Feldern bildet die Wissenschaft wirklich

haben. Und obwohl die Geschichte der Wissenschaft Geistesblitze liebt, die fun­ die letzte Instanz? Wichtige Teile der Natur: weit fortgeschritten im Fall des Stu­

damentalen Eingebungen in der Budewanne oder unter ei.nern Apfelbaum, wenn diums der Materie, eher fortgeschritten im Fall des Studiums der menschlichen

man von der Folklore zur Bewertung übergeht, zählt die Absichtlichkeit, der te­ Physiologie und vielversprechend, wenn auch noch in den Anfängen, im Fall des

leologische Finalismus und nichts anderes. Die Entdeckung des Penizillins durch Studiums des Geistes. Aber durchblättert man zum Beispiel die Zeitungen, so fallt

Fleming, die mit einem hohen Maß an Zufälligkeit verbunden war (ein Schim­ einem auf, dass der Prozentsatz an Problemen, zu denen die Wissenschaft etwas

melpilz hatte sich unvorhergesehen in einem offengelassenen Kühlschrank ent­ sagen kann, sehr bescheiden ist. Der Politik teil, die Kommentare, das Feuilleton

wickelt), erscheint typischerweise als eine weniger verdienstvoUe Entdeckung, da und der Wirtschaftsteil erhalten wenig Licht von der Physik oder der Medizin
sie weniger beabsichtigt war als andere. (beim SportteLl geht das wegen des Dopings schon besser). Und wir können uns
50 2. Realismus. Dinge, die von Anbeginn der Weit existieren

auch nicht an die Wissenschaft wenden, um diese Bibliothek von Babel, das In­
3. Rekonstruktion.
ternet, zu organisieren oder um das Bedürfnis zu befriedigen, das menschliche
Wesen häufig haben: ihr Leben zu erforschen. Nun, ich bin überzeugt, dass die Warum die Kritik mit der
Philosophie Antworten geben kann und dass das umso leichter geht, je eher man
Wirklichkeit beginnt
de � philosophischen Refrain des letzten Jahrhunderts beiseitelässt: die Überlegen­
heit der Frage über die Antwort, die Annahme, dass die Philosophie strukturell
unfähig sei, zu konstruieren, dass sie keinen Zugang zur VVirklichkeit habe und
dass ihre betriebliche Mission darin bestehe, zu sagen, dass die wahre Welt nicht
existiere. Das Wissen und den Glauben voneinander zu treruien, ist schließlich Der Trugschluss Feststellen - Akzeptieren
keine leichte Aufgabe. Daher allerdings ist eine rekonstruktive Philosophie nö­
:

tig. Im nächsten Kapitel möchte ich einige Vorschläge in diese Richtung machen. Erinnern wir uns des Einwands, dass der einzige Inhalt des Realismus die Bestäti­
gung der Wirklichkeit sei. Eine seiner ethisch-politischen Varianten besteht darin,
zu behaupten, dass der Realismus ein Akzeptieren des existierenden Zustandes
mit sich bringe (das ist, wie wenn man sagen würde, dass die Ontologie die Reali­
tät akzeptiere und die Onkologie die Tumore). Aber selbstverständlich ist das nicht
so. Der Realismus, so wie ich ihn vorschlage, ist eine kritische Lehre im zweifa­
chen Sinne: im kantianischen Sinn zu urteilen, was wirklich ist und was nicht,
und im marxistischen, zu verändern, was nicht gerecht ist. Dass diese zweifache
Dimension einigen nicht evident erscheinen kann, hängt genau mit dem zusam­
men, was ich als Trugschluss Feststellen - Akzeptieren bezeichne, beziehungs­
weise mit dem Dogma, dass das Feststellen der vVirklichkeit gleichbedeutend sei
mit dem Akzeptieren der Wirklichkeit. Wie Chance, der Gärtner aus Willkommen,
Mr. Chance, der versucht, sich von dem zu befreien, was vor ihm ist, indem er an
einer Fernbedienung rum fummelt, so glaubt der Postmoderne, dass es ausreiche,
zu behaupten, dass alles gesellschaftlich konstruiert sei, um sich gegen die Rei­
bungen der Wirklichkeit zu immunisieren. An sich ist der Trugschluss Feststel­
len - Akzeptieren eine direkte Konsequenz aus dem Trugschluss Sein - Wissen.

Die Welt ist meine Konstruktion, kann ich sie nicht vielleicht ändern, wann ich
,v:ill? Oder sie ist eine Konstruktion von anderen: ein Grund mehr, ihre Unwirk­
lichkeit zu ordnen.
Das ist jedoch eine Perspektive, die nicht nur schwer nachzuvollziehen, sondern
auch schwer zu verstehen ist. Man denke an die Mediziner: Sie wollen Krank­
heiten kennenlernen, aber sicher nicht, um sie zu akzeptieren, sondern um sie
zu heilen. Die Strategie von Chance hingegen birgt einen extremen Quietismus:
Wenn es regnet, hat man gut reden, den Regen als gesellschaftlich konstruiert zu
bezeichnen; unser Glaubensbekenntnis lässt den Regen nicht aufhören und of­
fenbart sich als das, was es ist: eine bohle Klage ''1rie »Es regnet, diebische Regie­
rung!«. Man befreit sich nicht von der Wirklichkeit (unterstellt, dass es sinnvoll
wäre, sich von der VVirklichkeit zu befreien, anstatt in ihr eine kritische Tätigkeit
auszuüben) mit einem bloßen Akt des Skeptizismus, weil eben das Sein unabhän-
52 3. Rekonstruktion. Warum die Kritik mit der Wirklichkeit begi nnt Experiment mit dem ethischen Gehirn 53

gig ist vom VVissen. Reziprok dazu ist der Realismus der erste Schritt auf einem man unterschlägt und vollbringt einen Akt der Heiligkeit. Kann man wirklich
Weg der Kritik und Emanzipation (oder zumindest der Nichtmystifikation). Die­ behaupten, dass es unter diesen Umständen moralische Handlungen gebe? Mir
jenigen, die die Unveränderlichkeit der Wirklichkeit nicht akzeptieren, tun das, scheint: nein. Es handelt sich im besten Fall um Vorstellungen, versehen mit mo­
und das ist verständlich, um sich vor den Frustrationen zu schützen, die von dem ralischen Inhalten, die aber kein Korrelat in der Außenwelt haben, insofern ist
mehr oder wcnigex banalen Gegenstandsvedust über die Scham ob der began­ es wahr, dass sie nach Gutdünken verbessert werden können, zum Beispiel durch
genen Fehler bis w den extremen Formen der Unveränderlichkeit reichen, wie andere Stimuli. Überprüfen wir hier die Gültigk
eit der Aussage, dass Intentio­
wenn Fran!foise in Au/derSuche nach derverlorenen Zeit dem E
rzähler verkündet nen nicht beurteilt werden können: Einem Gehirn, das überlegt hat- bei diesem
.»Mademoiselle Albertine ist fort!« oder wenn in Krieg und Frieden die beim Tod Sachverhalt sogar: das man zu der Oberlegung gebracht hat-, zu klauen, eine
Balkonskis anwesenden Fürstinnen sich fragen: »Wo ist er hingegangen? Wo ist er Freiheitsstrafe anzudrohen, ist nicht weniger ungerecht (oder, um genau zu sein,
jetzt?« Aber genau in dieser Unveränderlichkeit besteht das der Moral feindliche unsinnig), als ein Gehirn heilig zu sprechen, das überlegt hat, Akte der Fröm­
Fundament. Derrida hat behauptet,' dass die Gerechtigkeit nicht dekonstruierbar migkeit zu begehen. Dieses Experiment zeigt ein fach, dass der Gedanke allein
sei, und meinte damit, dass der Wunsch nach Gerechtigkeit der Grund aller De­ nicht ausreicht, weil es die Moral gibt, und dass diese in dem Moment begitmt, in
konstrukt.ion ist und selbst keiner Dekonstruktion unterliegen kann. Ich möchte dem es eine Außenwelt gibt, die uns veranlasst und uns erlaubt, Handlungen zu
vorschlagen, dass die Gerechtigkeit nicht dekonstruierbar ist , nicht, weil sie nichts begehen und sie sich nicht lediglich vorzustellen.
mit der Ontologie zu tun hätte, sondern gerade weil die Ontologie unverändel·­ Also anstatt dass sie uns gebietet, wie wir handeln sollen (das rät uns hoffent­
lich isL. Eben weil es eine wirklicheWelt gibt, deren Gesetze gegenüber unseren lich unsere Erkenntnis), sagt uns die Ontologie eher, dass es eine Welt gibt, in
Willensäußerungen und Überlegungen gleichgültig sind, ist es möglich, dass es der unsere Handlungen wirklich sind und nicht nur Träume oder Vorstellungen.
in einer solchen Welt Wissenschaft und Gerechtigkeit gibt. Im Realismus ist die Mit dem Appell zur Unterscheidung vou Ontologie und Epistemologie im zweiten
Kritik also inkorporiert, dem Antirealismus ist die Fügsamkeit angeboren, die Kapitel erkläre ich mich daher zum Befürworter eines minimalistischen oder be­
von Platons in der Höhle Gefangenen zu den Illusionen der Postmodernen führt. scheidenen Realismus, für den die Ontologie als eine Opposition, als eine Grenze
So ist das entscheidende Argument für den Realismus nicht theoretisch, sondern gilt... Das hat selbstverständlich nichts zu tun mit dem Appell an irgendein Na­
moralisch, \veil es nicht möglich ist, sich in einer ·welt ohne Tatsachen und ohne turrecht. Und bezogen darauf darf man sich fragen, ob die natürlichen Rechte
Gegenstände ein moralisches Verhalten vorzustellen. (die vor allem natürliche Pflichten sind) nicht ein Scherz sind, den man erfun­
den hat, damit man postmoderne Bücher über die Tatsache schreiben kann, dass
die Katur nicht existiert. Selbstverständlich kann man kein einziges Recht und
keine einzige Pflicht aus der atur herleiten. Das ändert aber nichts daran, dass
Experiment mit dem ethischen Gehirn die Natur existiert, dass sie Beschränkungen mit sich bringt (zum Beispiel die
Dauer des Lebens oder die Gesetze der Physik), dass diese Beschränkungen nicht
Man kann das besser verstehen durch ein Experiment, das eine ethische Version von Menschen geschaffen sind und dass schließlich eine wesentliche Differenz be­
vom Gedankene.xperiment2 des Gehirns im Tank ist.3 Die Idee ist folgende: teilen steht zwischen den Rentengesetzen und den Gesetzen der Thermodynamik, die
wir uns vor, dass ein verrückter VVissenschaftler Gehirne in einen Tank gelegt hat tatsächlich niemals Gegenstand der Diskussion sind, auch nicht der wagemutigs­
und sie künstlich ernährt. Durch die elektrischen Stimuli haben die Gehirne den ten finanziellen. In diesem Rahmen bedeutet »Leben nach der Natur«: »Springt
Eind1·uck, dass sie in einer wirklichen Welt leben, aber tatsächlich ist das, was sie nicht ohne Fallschirm, denn ihr habt keine Flügel«, und nicht »die heterosexuelle
erfahren, die Folge der einfachen elektrischen Stimuli. Stellen wir uns vor, dass Familie ist von der Natur gewollt und die Basis der Gesellschaft«.
mit diesen Stimuli Situationen hergestellt werden, die die Einnahme eines mora­ Weit davon entfernt, ein Naturgesetz herbeizuwünschen, handelt es sich also
lischen Standpunkts fordern: Man spioniert und man opfert sich für die Freiheit, darum, eine »Reibung des VVirklichen«6 in Gang zu setzen, eine ethische Version

+ Das ist der Un1.erschied meiner l:'erspehive gegenüber dem Ansatz von Bozzi, von Moore und
Derrida: Foro.: dc loi, S. 35·
von allen naiven Realisten. Vom »bcscheide11en Realismus" hat Kitcher in Scicrzce, Truth, and Demo­
2 Im Original auf Deutsch; Anm. d. Übers.
cracy gesprochen.
� Vorgeschlagen und entwickelt in Ferraris: Ricosnuiie la decostruzione; das Vorb1ld des Ex­ ; Vgl. Gargani: L'attrito del pensiero. Die Metapher kommt von Wittgenstei.n: Philosophische
periments findetsich natürlich in Putnam: Vernunft, VVahrheit und Geschichte, S. 15-;o. Untersuchungen, S >07: »Wir si nd aufs G
latteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen
54 3. Rekonstruktion Warum die Kritik mit der Wirklichkeit beginnt Banaltrismus und Unwiderruflichkeit 55

der Unveränderlichkeit, die in Kants Beobachtung nachhallt, nach der ohne den geben kann, die sich komplett unabhängig von unserer prache, von unserem
Luftwiderstand auch die Taube, Symbol der absoluten Moral, nicht fliegen könnte. Wissen und von unseren Begriffsschemata entwickeln.8 Oder auch, wenn wir so
Auch in radikaleren idealistischen Systemen wie dem Fichtes bietet die Präsenz wollen, der Ausdruck einer Ontologie, die jeder möglichen Epistemologie um Mil­
eines vom Subjekt unabhängigen Wirklichen (das daher den Unterschied absteckt lionen Jahre vorausgeht. Nun, auch in Bereichen, die von unseren Begriffssche­
zwischen dem, was existiert, und dem, was nur gedacht ist) einen Rückstoß d�rch mata abhängen, wie zum Beispiel geschichtlichen Ereignissen, haben wir es mit
die Handlungen eines Nicht-Ichs, das sich dem Ich entgegenstellt. Daher erweist einem reinen Ausdruck der Unveränderlichkeit zu tun: der Unwiderruflichkeit
sich der 011tologische Fundamentalcharakter der Unveränderlichkeit als zentral, der vergangenen Ereignisse, auf die sich die Interpretationen der Historiker stüt­
insofern sie nicht eine normative Ordnung vorgibt (wie ihre Feinde behaupten, zen.9 Zum Beispiel ist es eine Tatsache, dass 1813 das sächsische Kontingent Napo­
die die Berufung auf die Ontologie als eine Art Unterwerfung unter die Naturge­ leon bei Leipzig im Stich ließ und sich den Österreichern, Preußen, Russen und
setze oder sogar unter die menschliche Anmaßung/Gewalttätigkeit betrachten), Schweden anschloss: Es ist ein Ereignis, das auf verschiedene Weisen bewertet
sondern nur eine Linie des Widerstands gegen die Falsifikationen und Negationen. werden kann, aber es ist auf jeden Fall eine Tatsache und wer behaupten würde,
dass es nicht stattgefunden habe, gäbe keine bessere Interpretation des Ereignisses,
er würde einfach etwas Falsches sagen. Zur Kenntnis zu nehmen, dass die Dino­
saurier existiert haben und dass bei Leipzig die Sachsen die Seiten gewechselt
Benaltrismus und Unwiderruflichkeit haben, kann schwerlich als eine unkritische Haltung gegenüber dem Wirklichen
verstanden werden. Es ist eine neutrale Haltung, die allerdings die Voraussetzung
Auf das Experiment mit dem ethischen Gehirn und den Verweis auf die Reibung jedweder Kritik ist. Die Frage, ob die Sachsen gut oder nicht gut daran taten, die
des Wirklichen könnten die Antirealisten mit einem argumentativen Manöver er­ Seiten zu wechseln, ist zum Beispiel eine legitime Frage, die man aber nur stellen
widern, das ihnen sehr teuer ist, dem Benaltrismus. Der besteht darin, zu behaup­ kann, insofern die Sachsen tatsächlich die Seiten gewechselt haben.
ten, dass wir alle übereinkommen können über die (banale) Existenz von Tischen Zu behaupten (wie es die Benaltristen tun), dass es eine Kluft zwischen den
und Stühlen, aber die philosophisch wichtigen Dinge doch »ganz andere<<s seien. ·Wahrnehmungen und den Tatsachen und dann zwischen den Tatsachen und den
Aber ist das wirklich so? Primo Levi schreibt von der »Scham, die die Deutschen Urteilen gebe, wäre höchstens möglich, falls man in der Lage wäre, den Punkt der
nicht kannten, die der Gerechte empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf Diskontinuität anzuzeigen, an dem man vom Unveränderlichen und Unwiderruf­
sich lädt und die ihn quält, weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt lichen zum Interpretierbaren übergeht. Nun, ebendieser Punktder Diskontinuität
der existenten Dinge eingebracht ist und weil sein guter Wille nichts oder nicht scheint unauffindbar: Man bewertet Tatsachen und die Tatsachen finden in einer
viel gilt und ohnmächtig ist, sie zu verhindern.«' objektiven Welt statt. Wenn es sich so verhält, dann ist es nicht wahr, dass das Fest­
Im zweiten Kapitel habe ich von der »Unveränderlichkeit« gesprochen, die sich stellen von Tatsachen in der physischen Welt (zum Beispiel, dass der Schnee weiß
mit besonderer Deutlichkeit in der Sphäre der Wahrnehmungserfahrung zeigt: ist)'0 sich auf einem radikal anderen Niveau befindet als die Feststellung von Tat­
Ich habe kein Mittel, eine optische Tauschung zu korrigieren, so sehr ich mir auch sachen in der geschichtlichen Vvelt und im Allgemeinen in einer höheren Sphäre,
ihres täuschenden Charakters bewusst bin, und dasselbe gilt für die Wärme, das in der sich den Benaltristen zufolge die entscheidenden Partien abspielen wür­
Gewicht un.d das Ausmaß eines Körpers. Allerdings betrifft die Sphäre der Un­ den und die Interpretationen sich von den emam.ipativen Funktionen entbänden.
veränderlichkeit nicht nur die Wahrnehmung und zeigt sich sogar, in makrosko­ Es gibt ein ununterbrochenes Band, das von der Tatsache, dass der Schnee weiß
pischer Form, in der Unwiderruflichkeit von vergangeneu Ereignissen. ist, wenn und nur wenn der Schnee weiß ist, zur Tatsache führt, dass in diesem
Man nehme zum Beispiel den Fall der Dinosaurier: Sie existierten vor Millio­ Schnee am 27. Januar 1945 die Soldaten der Roten Armee Auschwitz betreten ha­
nen Jahren, dann sind sie verschwunden und geblieben sind nur Fossilien. Ein ein­ ben, und von dort zu der »Scham, die die Deutschen nicht kannten«. Sicher, man
leuchtender Beweis für die Tatsache, dass es ganze Formen organisierten Lebens kann entscheiden, eine Diskontinuität einzuführen, aber der Preis wäre sehr hoch,

iu gewissem SiuHt: ideal sind, aber wir eben deshalb auch nic;lat gehen können. ''Vir wollen gehen; & Mcillassoux: Apres Ia finitude.
dann brauchen wir Reibung. Zurück auf den rauben Boden.« 9 Zu diesem Thema erlaube ich mir, auf meinen Text Necessiui nwteriale zu verweisen.
6 AufItalienisch: »ben alu·e«. 10 In Übereinstimmung mit der sogenannten »Tarski-Bikonditionale«: »>Der Schnee ist wei ß<
7 Levi: Die Atempause, S. 8. ist wahr genau dann, wenn der Schnee weiß ist.«
56 3. Rekon struktion. Warum die Kritik mit der Wirklichkeit beginnt Dekonstruktion 57

denn wenn man an irgtmdeinem Punkt das Band unterbricht, das vom Schnee zur Ich glaube nicht. Zu behaupten, dass alles gesellschaftlich konstruiert sei und
Schoah führt, dann kann man alles verneinen. Wenn es so um die Sache steht, so dass es keine Tatsachen gebe, nur Interpretationen, bedeutet nicht, zu dekonst­
ist das »ben altro«, auf das sich der beruft, der behauptet, dass Tische und tühle ruieren, sondern im Gegenteil eine These zu formulieren - je nachgiebiger in
nicht von philosophischer Relevanz seien, mit der VVelt der Tische und tühle der Wirklichkeit, desto kritischer ist man in der Vorstellung-, die alles lässt wie
durch ein robustes, kontinuierliches Band verbunden, das man nicht zerreißen zuvor. Es ist in der Tat eine große begriffiiche Arbeit, deren die Freunde der In­
kann, ohne in die Idiotie oder die Verantwortungslosigkeit zu fallen. terpretationen sich befleißigen, wenn sie behaupten, dass alles gesellschaftlich
konstruiert sei - das impliziert wohlgemerkt, dass T1sche und Stühle keine ge­
sonderte Existenz haben, das heißt, um es ganz deutlich zu sagen, dass sie nicht
wirklich auf die Art und Weise existieren, die der gesunde Menschenverstand
Dekonstruktion Tischen und Stühlen normalerweise zuspricht. Diese Arbeit besteht darin, sehr
genau zu unterscheiden zwischen der ExisLenz der Dinge, die es nur für uns gibt,
Es geht also nicht darum, zu behaupten, dass es eine Diskontinuität zwischen Dinge, die nur existieren, weil es die Menschheit gibt, und Dingen, die hingegen
den Tatsachen und den Interpretationen gebe, sondern vielmehr darum, mittels auch existieren würden, wenn es die Menschheit niemals gegeben hätte. Daher
eines Prozesses der Dekonstruktion, der der totalisierenden These, nach der alles also muss sich die wahre Dekonstruhion meines Erachtens bemühen, zwischen
gesellschaftlich konstruiert sei, entgegengesetzt ist, zu verstehen, welche Gegen· den Gebieten zu unterscheiden, die gesellschaftlich konstruiert sind, und denen,
stände konstruiert sind und welche hingegen nicht. Hierzu ist es sinnvoll, eine die es nicht sind; muss sie für jedes Gebiet des Seins spezifische Modalitäten der
einleitende Betrachtung anzustellen. Vor zehn Jahren hat der Wissenschafts his­ Existenz etablieren; und schließlich die einzelnen Gegenstände einer dieser Re­
toriker Ian Hacking zu Beginn seines Buches The Social Construction ofWhat?11 gionen des Seins zurechnen, indem sie von Fall zu Fall vorgeht.15
eine Liste von Objekten vorgeschlagen, die, um den Postmodernen zu folgen, sich Um auf diese Forderung zu antworten, habe ich an anderer Stellei4 vorgeschla­
als sozial konstruiert erweisen: der Begriff des »Autors«, der der »Brüde·rlichkeit«, gen, die Gegenstände in drei Klassen zu unterscheiden: die natürlichen Gegen­
die Tatsache, dass die Kinder fernsehen, die Gefahr, die Gefühle, die Tatsachen, stände, die in Raum und Zeit unabh!ingig von Subjekten existieren; die sozialen
das sexuelle Geschlecht, die homosexuelle Kultur, die Krankheit, die Erkenntnis, Gegenstände, die in Raum und Zeit abhängig von Subjekten existieren; und die
die literarische Kultur, die Natur, die erzählte Geschichte, der Postmodernismus, sozialen Gegenstände, die außerhalb von Raum und Zeit unabhängig von Sub­
die Quarks, die Wirklichkeit, der Serienmord, die technologischen Systeme, die jekten existieren. Und an diesem Punkt können die Kontroversen beginnen. Ver­
städtische Schulbildung, die Statistiken über das Leben, Flüchtlingsfrauen, die binden wir sie mit den d1·ei Unterschieden, die aus der Unterscheidung zwischen
obdachlosen Jugendlichen, der Zulu-Nationalismus, der Geist, die Panik, die acht­ Ontologie und Epistemologie hervorgingen, die ich im zweiten Kapitel präsentiert
ziger Jahre. Und er hat hinzugefügt, dass während eines Workshops zu minder­ habe. Sie zielten darauf ab, zu zeigen, was das fundamentale Missverständnis des
jähriger Mutterschaft die Verantwortliche einer katholischen Vertretung erklärt Konstruktionismus war: zu denken, dass die 'Virklichkeit keine Gestalt habe ohne
hat: »Und ich selbst bin natürlich eine soziale Konstruktion; wir alle sind es.« Ab­ das Wirken eines Begriffsschemas uJtd dass die Tatsache ein Mythos sei. Aber an
gesehen von der undeutlich komischen und schwindelerregenden Wirkung der diesem Punkt erhebt der gesunde Menschenverstand selbstverständlich spontan
Enzyklopädie von Borges, ist das Gefühl, das man empfindet, das einer großen einen Einwand: vVillst du abstreiten, dass die Mehrwertsteuer sozial konstruiert
Unordnung. Tatsächlich fällt es schwer, zu bezweifeln, dass der Begriff des Au tors ist? Oder, schlimmer noch, dass die Mehrwertsteuer unveränderlich sei f
ür die
gesellschaftlich konstruiert ist, s o wie es auch unbestreitbar ist, dass ganze Kate­ zuständigen Stellen? Natürlich nicht. Die Unterscheidungen, die ich vorges chla­
gorien, 'l.um Beispiel die des »Orientalismus«, Gegenstand einer bewundernswer­ gen habe, zielen gerade darauf ab, die beiden sich ergänzenden Absurditäten zu
ten Analyse von Edward Said,t2 nicht nur konstruiert, sondern inkonsistent sind. vermeiden: zu sagen, dass gar nichts sozial konstruiert sei, nicht einmal die Mehr-
Aber ist es das Gleiche mit der Wirklichkeit oder der Natur? Und ist es wirklich
kritisch und dckonstruktiv solche schwerwiegenden Thesen über die 'Wirklich­ 1 5 Zur Notwendigkeit, Fa 11 filr Rall w diskutieren (was genau das Gegenteil ist von einer radi­
keit zu formulieren? kalen Lösung wie »alles ist gesellschaftlieb koosuuiert«), erlaube ich mir, auf meinen Dialog mit
Varzi zu verweisen: Che cosa c'e e ehe cos'e.
1+ Zur Thematisierung der sozialen Gegenstände und der sozialen Ontologie in ihrer Gesamt·
II Hacking: Tbc Social Construetion of What?, S. 1. heit erlaube ich mir, auf meine Texte Dovc sei? OntolO(Jia dcl telefonirw, Documenta.liu2 und An ma
i
12 Said: Orientalismus. e iPadzu verweisen.
3. Rekonstruktion. Warum die Kritik mit der Wirklichkeit beginnt 59
58 Kritik

geboren ist, und zwar nicht mehr


wertsteuer, oder dass alles sozial konstruiert sei, eingeschlossen die Tuberkulose. in einem anderen Bereich als dem, in dem sie
auf die sozialen Gegenstände.
Das Ziel des Realisten ist daher der Konstruktionismus und nicht irgendein ber­ in Bezug auf die natürlichen Gegenstände, sondern
-.,vie »Anschauunge n ohne Begriffe sind blind«,
keleyanischer Idealismus. In der Tat würde kein Realist bestreiten, dass die Mehr­ Die Grundidee ist, dass eine These
che Welt erkannt haben, sehr gut
wertsteuer von Begriffsschemata abhänge (was noch nicht bedeutet, zu behaupten, die wir als schwerlich anwendbar auf die natürli
Gegenständen gemacht ist w i.e
dass sie durch und durch subjektiv sei: Die Mehrwertsteuer gilt- im Prinzip - für unser Verhältnis zur sozialen Vlelt erklärt, die aus
nur existieren, weil wir, glauben,
alle, die in Deutschland einkaufen). Der Realist fragt sich, wie weit die Wirkung dem Geld, den Rollen, den Institutionen, die
der Begriffsschemata reicht, und hier ist es, wo sich die Meinungsverschiedenheit dass sie existieren.
in der sozialen Welt keine Inter-
zwischen Realisten und Postmodernisten offenbart. Letztere sind sehr viel groß­ Ich will also durchaus nicht behaupten, dass es
nen und braucht es Dekonsuuk­
zügiger in der Aufzählung der Teile der Wirklichkeit, die sie für sozial konstruiert pretationen gebe. atü.rlich gibt es Interpretatio
und ichtphilosophen ist, die
halten. In extremen F
ällen gehen sie so weit, zu behaupten, dass wir nie Zugang tionen. Aber die wichtigste Sache für Philosophen
einen Orkan, die existieren, ob
haben zu einer Welt »da draußen« und dass die, mit der wir in Berührung kom­ natürlichen Gegenstände wie den Mont Blaue oder
nicht, nicht z u verwechseln mit
men, von unseren Begriffsschemata konstruiert werde. es Men.schen und ihre Interpretationen gibt oder
Versprechen, den Wetten und den Hochzeiten,
Eben deshalb erweist sich die Distinktion zwischen sozialen und natürlichen den sozialen Gegenständen wie den
mit gewissen Begriffsschemata
Gegenständen als besonders entscheidend. Anders als letztere unterliegen erstere die nur existieren, wenn es Menschen gibt, die
- ein Gläubiger, ein Agnostiker
konstitutiv der "Wirkung der Epistemologie, da Dinge wie Hochzeiten oder Schul­ ausgestattet sind. Wenn sich - rein hypothetisch
vor einigen Jahren fotografiert hat
den nur existieren, weil es Personen gibt, die wissen, dass sie existieren. Es gibt und ein Indianer aus Mato Grosso, den man
Stamm angehört, vor dem Turiner
eine wesentliche Differenz zwischen krank sein und es nicht wissen (wir wissen und der einem im Neolithikum gebliebenen
natürlichen Gegenstand. Der Gläubige
es nicht, aber die Krankheit nimmt ihren Verlauf) und verheiratet sein und es Grabtuch befänden, sähen sie denselben
Christi, und der Agnostiker sähe
nicht wissen (wir wissen es nicht und wenn es die anderen nicht wissen, ist es würde dann glauben, er sähe das Schweißtuch
würden denselben physischen Ge­
genau so, als ob wir es nicht wären). Betrachten wir daher die folgenden beiden ein Leinentuch aus dem Mittelalter, aber sie
llen Begriff hat von unserer
Behauptungen: genstand sehen wie der Indianer, der keinen k.uhure
was wir wissen, das heißt, die
Welt. In der sozialen Welt zählt also durchaus das,
Das, was wir denken, das, was wir sa­
(1) »Berge, Seen, Biber und Asteroiden hängen von unseren Begriffsschemata ab.« Epistemologie determi1liert die Ontologie:
und es ist entscheidend, dass
(2) »Geldscheine, Studientitel, Schulden, Preise und Strafen hängen von unseren gen, und unsere Inte1·aktionen sind entscheidend,
werden. Daher ist die soziale
Begriffsschemata ab.« diese Interaktionen aufgezeichnet und dokumentiert
Welt voll von Dokumenten, in den Archiven,
in unseren Schubläden, in unseren
elefonen.
Um zu verfechten, dass die Berge und die Flüsse sind, wie sie sind, weil es Men­ Brieftaschen und jetzt auch i n unseren Mobilt
schen gibt und diese Sinne haben, die auf eine gewisse Weise gemacht sind, und
weil es Kategorien eines bestimmten Typs gibt, dazu braucht es schon viel Mut.
Tatsächlich sind Berge und Flüsse, die, die sie sind, für sich ganz allein und wer­
den allenfalls erka11nt von uns durch bestimmte Verfahren unserer Sinne und un­ Kritik
seres Intellekts. Aber betrachten wir jetzt den Bereich der sozialen Gegenstände.
Hier könnte man wirklich sagen, dass die Hochzeiten und die Scheidungen, die Um auf das Paradigma der politischen Einmischung der Philosophie zu verwei­

Darlehen und die Schachpartien, die Schulden und die Sitze im Parlament, die sen, zitiert man stets die elfte These von Marx über Feuerbach: »Die Philosophen

Gefängnisstrafen und die Nobelpreise so und so sind, weil unsere Sinne und un­ haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es k.ommt aber darauf an, sie zu

ser Intellekt auf eine gewisse Weise gemacht sind. Das ist eine wenig überra­ verändern.« Welche man vergisst zu zitieren, ist die erste: »Feuerbach will sinn­

schende These. Für einen Biber - dessen können wir recht sicher sein - existieren liche- von den Gedankenobjekten wirklich untcrschiedne Objekte: aber er faßl

keine Darlehen und Scheidungen, wohingegen die Berge und die Seen durchaus die menschliche Tätigkeil selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.« In meinem

existieren. Ist die Unterscheidung zwischen Ontologie und Epistemologie sowie Vorschlag ist nun das konstituierende Gesetz der sozialen Gegenstände: Gegen­

zwischen den Klassen der Gegenstände erst einmal anerkannt und begründet, stand = eingeschriebene Han.dlung. Das heißt, dass ein sozialer Gegenstand das

öffnet sich der Weg für eine erneute Etablierung der kantianischen Anschauung Ergebnis einer sozialen Handlung ist (eine, die mindestens zwei Personen mit-
60 3. Rekonstruktion. Warum die Kntik mit der Wirklichkeit beginnt Kritik 61

einbezieht oder eine programmierte Maschine und eine Person), die sich dadurch und Emanzipation, der von der Postmoderne begründet worden ist. Ein Zusam­
auszeichnet, dass sie aufgenommen wird auf einem Stück Papier, in einer Compu­ menhang, der seine typische Repräsentation im Internet gefunden hat, in der
terdatei oder auch nur im Kopf der von der Handlung betroffenen Personen. \iVas VVelt, in der jedem seine eigene Zeit zurückgegeben wird, man arbeitet, wo man
ich unter dem Namen »Dokumentalität« vorschlage, ist a.lso ein »schwacher Tex­ will und wann man will, und die sozialen ctzwerke einen aus der Einsamkeit
tualismus« (sprich auch ein »schwacher Konstruktionismus«): schwach, insoweit entreißen und die ahen Formen der sozialen Organisation ersetzen. Natürlich ist
man annimmt, dass die Einschreibungen entscheidend sind für die Konstruktion dem nicht so, in zweierlei Sinn. Vor allem ist es nicht wahr, dass im politischen
der sozialen Wirklichkeit, aber- anders als das, was man »S�arken Textualismus« und ideologischen Sinn die ganze Flüchtigkeit Emanzipation sei. Wie -,..rir im el·s­
nennen kann, den die Postrnodernen praktizieren - er schließt aus, dass die Ein­ ten Kapitel gesehen haben, hat sich alles, was in der Postmoderne Emanzipation
schreibungen konstitutiv für die Wirklichkeit im Allgemeinen sind. Der schwa­ versprach, in ejne Form der Unterwerfung verwandelt (oft freiwillig, aber das ist
che Textualismus ist also ein schwacher, weil er sich aus der Milderung der These nicht der Punkt).
Derridas ergibt, nach der »nichts außerhalb des Textes existiert«, die abgewandelt Darüber hinaus hat die flüchtige Postmoderne im ontologischen Sinn, also
wird in: »nichts Soziales existiert außerhalb des Textes.«15 Man lässt einen Kon­ unabhängig von dem, was wir denk
en oder hoffen, ein anderes Gesicht gezeigt,
struktionismus zu, aber eben einen moderaten Konstruktionismus, .der nicht mit und zwar nicht das einer schwankenden Welt, sondern vielmehr das einer tota­
realistischen Anschauungen kollidiert. Außer der Anerkennung eines positiven len Mobilmachung. Sie verwirklicht nämlich, in unerwarteter Form, die Idee des
ontologischen Bereichs erlaubt dieses Manöver, die Inkonsequenzen zu vermei­ soldatischen Arbeiters von Jünger16 und verwirklicht sich nicht in der Welt der
den, die aus der Nichtunterscheidung von Gegenständen und der Vennengung Stahlgewitter und der Fabriken, sondern in der des Siliziums und der Handys,
von Ontologie und Epistemologie herrühren, womit wir uns eine ganze Menge jenen Handys, die uns den Eindruck vermitteln, die Welt in der Hand zu haben,
fashionable nonsense ersparen. während wir in der Hand der Welt sind, immer verfügbar für ihre Befehle und
Der Verweis auf die sozialen Gegenstände hat aber vor allem einen intrinsi­ Anforderungen. Wenn diese Mobilisierung möglich ist, so ist sie es wegen eines
schen kritischen Wert. Die Postmodernen haben nicht nur behauptet, dass die fundamentalen Charakters der neuen Technologien, und zwar der Aufzeichnung
atur eine gesellschaftliche Konstruktion sei, eine These, die eher die Wirkung und der Einschreibung, wegen der Tatsache, dass in jedem Moment jede Hand­
eines geistreichen Scherzes hat. Etwas ernst zu nehmender ist ihre Verfechtung lung und jeder Satz fixiert werden kann, und dies gilt als Pflicht, Forderung,
einer Form des Irrealismus der sozialen Gegenstände, was die Grundlage ihrer Erpressung und VerantwortungP In diesem Fall erlaubt die Anerkennung der
These bildet, dass die Postmoderne eine flüchtige und verschwindende Wirklich­ Aufzeichnung und Einschreibung als eigentlicher Charakter der sozialen Gegen
keit sei. Bei der Analyse der spezifischen Charakteristika der sozialen Gegenstände stände eben den kri tischen Realismus, der dem Postmodernismus unmöglich war,
kommt hingegen heraus, dass die Gesellschaft alles andere als flüchtig ist: Sie ist der falschlieherweise die neue Welt als eine heimelige Fabel sah und einen Pro­

von Gegenständen wie Versprechen und Wetten, Geld und Reisepässen gemacht, zess der Erleichterung. Weit vom flüchtigen 'Wesen entfernt, ist die Moderne die
die oft solider sein können als Tische und Stühle und von denen das ganze Glück Epoche, in der Wörter 7.U Steinen werden und in der der Albtraum des verba ma­
und Unglück unseres Lebens abhängt. Davon wissen diejenigen leider einiges, die nent Wirklichkeit wird. Wir haben also, von einem ontologischen Standpunkt aus,
ein Darlehen zu einem variablen Zinssatz aufgenommen oder ihre Ersparnisse an eine Vermehrung der sozialen Gegenstände und damit das genaue Gegenteil von
der Börse verspielt haben. ich vorzumachen, dass diese Gegenstände eine Phan­ dem, was die Postmodernen behaupten: eine Zunahme des Wirklichen anstatt
tasmagorie seien, die unendlich interpretierbar sei, hieße, sich blind zu stellen und einer Entwirklichung.
also hilflos gegenüber der Welt zu sein, in der wir leben. Daher habe ich eine De­
finition der sozialen Gegenstände als »Einschreibung der Handlung« formuliert,
das heißt als die Festlegung der Beziehungen, die eben dUI·ch die Aufzeichnung
in die Dimension der Objektivität �reten.
Neben dem positiven Faktum der Konstruktion einer Klasse von Objekten zeigt
sich nun auch der Trugschluss vom Zusammenhang zwischen Entwirklichung

15 »11 n'y a pas de bors-texte«, wörtlich: »Ein Text-Äußeres gibt es nichu<, Oerrida: Grammato­ 16 Jünger: D1e totale Mobilmachung.
logie, S. 274. 17 Ich verwei"" wieder aufAnimo e iPad (S. 59-84).
62 3 . Rekonstruktion. Warum die Kritik mit der Wirklichkeit beginnt Rekonstruktion 63

Rekonstruktion stände oder auf die sozialen Gegenstände bezieht. Gegenüber den ersteren erfüllt
die Epistemologie eine rein rekonstruktive Funktion und beschrä nkt sich darauf,
Über die Analyse und die Kritik hinaus erlauben die bisher vorgeschla etwas zur Kenntnis zu nehmen, das unabhängig vom Wissen existiert
. Gegen­
genen Un­
terscheidungen eine Rekonstruktion,18 worin der positive Kern über den sozialen Gegenständen hingegen hat die Epistemologie einen bildenden
des Realismu s
besteht. Tch versuche, die grundlegenden Elemente zusammenzufassen. Was an Wert, sei es i n dem Sinn, dass ein gewisses Maß an Wissen notwendig ist, um in
erster teile die Unterscheidung zwischen Ontologie u n d irgendeiner sozialen Weh zu leben, sei es in dem Sinn, wonach es in der sozialen
Epistemologie angebt
.
(und d1e daraus folgenden Unterscheidungen zwischen Außen- Welt offensichtlich ist, dass man (zum Beispiel durch Cksetzgebung) neue Gegen­
u n d Innenwelt
zwischen Wissenschaft und Erfahrung), s o scheint es mir, dass stände hervorbringt mit einer Handlung, die performativ und nicht rein feststel­
sie auf die Notwen�
digkeit antwortet, die zwei wesentlichen Forderungen des Realismu lend ist, wie es bei der Bezugnahme auf die natürlichen Gegenstände geschieht.
s aufrechtzu­
erhalten und so den Trugschluss Sein-Wissen zu überkommen, Kommen wir schließlich auf die Wahl der konstitutiven Regel Gegenstand =
die Vermengung
der Gegenstände mit der Erkenntnis, die wir von ihnen haben, eingeschriebene Handlung. Sie erwächst aus dem Anspruch, eine Alternative
was sich mit der
Transzendentalphilosophie anbahnt und in der Postmoderne zu der konstitutiven Regel zu liefern, die vom einflussreichsten Theoretiker der
kulminiert . Einer­
seits ist es notwendig, die Tatsache festzuhalten, dass es einen unveränd
erlichen sozialen Gegenstände, .lohn Searle, vorgeschlagen wird, sprich: die Regel X gilt
Kern des Seins und der Erfahrung gibt, der vollkommen unabhän wie Y in C (der physische Gegenstand X gilt wie der soziale Gegenstand Y im
g ig von 'Begriffs­
schemata und Wissen besteht . Andererseits muss man die Möglichkeit offen las­ Kontext C)
. Dieser Vorschlag hat eine zweifache Grenze
.
sen, auf dieser Ebene Wissen als begriffliche, sprachliche, Zum einen scheint er nicht imstande, komplexen sozialen Gegenständen ge­
absichtliche und vor
allem emanzipative Handlung zu konstruieren . Falls man hingegen das Wissen rechtzu werden, wie zum Beispiel den Unternehmen oder den negativen Entitäten

als ein s mples Sp.iel mit Begriffsschemata betrachten würde,
die gleichwertig im wie den Schulden, wobei es zuerst schwcrfallt, einen physischen Gegenstand zu
Wahrheitsgehalt wären, müsste man sich damit abfinden, die finden, der geschaffen ist zur Umwandlung i n einen sozialen Gegenstand
. Zum
Wissenschaft nicht
als eine Wahrheitssuche (mit der Emanzipation, die aus ihr folgt) anderen macht es die gesamte soziale Wirklichkeit von einer Handlung einer eher
zu betrachten,
sondern als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Willen zur mysteriösen Entität abhängig, rtärnlich der kollektiven Intentionalität, die sich
Macht, was
tatsächlich das ist, was der Trugschluss Sein-Macht behaupte der Umwandlung des Physischen ins Soziale annähme.'8 Nach der Version, die
t, auf den ich mich
im nächsten Kapitel konzentrieren werde. ich vorschlage, ist es dagegen sehr viel einfacher, der Totalität der sozialen Ge­
Was an zweiter teile die Distinktion zwischen natürlichen Gegenstä genstände gerecht zu werden, von den informellen mündlichen Versprechungen
nden und
sozialen Gegenständen betrifft, so scheint sie mir ein entschei über Geschäftsstrukturen und nternehmen bis zu negativen Entitäten wie eben
dendes Element, um
den Tr�gschluss Feststellen-Akzeptieren zu umgehen u den Schulden.In all diesen Fällen fjnden wir eine minimale Struktur vor, garan­
n d um aus der gesell­
schaftlichen Wirklichkeit ein konkretes Terrain der Analyse tiert durch die Präsenz von min destens zwei Personen, die eine Handlung voll­
und Umwandlung
zu machen . Einerseits erlaubt sie uns, die natürliche Welt als unabhän ziehen (diese kann in einer Geste bestehen, in einem '1\Tort oder i n einem Schrift­
gig von
der menschlichen Konstruktion anzuerkennen und damit das stück), die von irgendeinem Träger aufgenommen werden kann (un d sei es bloß
nihilistische und
skeptische Ergebnis zu vermeiden, zu dem man gelangt, wenn die menschliche Erinnerung). Außer sich der physischen Grundlage des sozialen
man versucht, die
Unterscheidung zwischen atur u n d Kultur dialektisch aufzuheb Gegenstandes bewusst zu sein, der eben kein X ist, das allgemein verfügbar für
en
. Andererseits
ermöglicht sie, in der sozialen Welt das Werk der menschlichen Handlungen der kollektiven Intentionalität wäre, sondern eine Aufnahme, die
Konstruktion zu
sehen, die allerclings - eben insofern sie eine soziale Interakt auf vielfältigen Trägern erfolgt sein kann, hat die Regel, die ich vorschlage (und
ion ist- keine rein
s��jektiv� Produk�ion ist. Auf diese Weise wird die Sphäre der natürlichen Gegen­ die ich »Regel der Dokumentalität« nen ne, um sie der »Regel der Intentionalität«
.
s:ande ww auch d1e der soz1alen Gegenstände ein Feld einer gegenüberzustellen, womit man die Option von Searle bezeichnen könnte), den
möglichen und legi­
timen Erkenntn is, das heißt einer Epistemologie, die zweifello Vorteil, die soziale Wirklichkeit nicht von einer Funktion abhängig zu machen,
s eine Hermeneutik
in sich birgt (da die Erkenntnis in vielen Fällen ein mehr oder nämlich der kollektiven Intentionalität, die einem völlig geistigen Prozess ge­
weniger hohes N:i­
veau der Interpretation verlangt). Gleichwohl hat diese Epistemo fährlich ähnlich ist, der Searl.e zu der alles andere als realistischen Behauptung
logie einen Wert
der sich r.iemlich unterscheidet, je nachdem er sich auf die natürlich
en Gegen :
19 Die Rolle der kollektiven Intentionalität in der sozialen Ontologie von Searle istim Laufe der
tS Begründet in F'erraris: Ricostruire la ricostruzione, S. 79-g7. Jahre gewachsen. Ich diskutiere diese problematische Entwicklung in Anima e iPad (S. g6-101).
64 3. Rekonstruktion. Warum die Kritik mit der Wirklichkeit beginnt Rekonstruktion 65

hat verleiten können, dass die ökonomische Krise zu großen Teilen Frucht der er, rein hypothetisch, versuchen würde, ein Dokument aufzusetzen, nähme er
Imagination sei.20 Beim Geld handelt es sich um eine Form der Dokumentalität ein unmögliches Unternehmen in Angriff, weil es für ein Dokument mindestens
und doch ist es alles andere als eingebildet und ebendieser Umstand erlaubt es, zwei braucht: einen, der schreibt, und einen, der liest. In Wirklichkeit hätte unser
eine Unterscheidung zu ziehen zwischen dem Sozialen (dem, was die Handlungen Ur-Robinson nicht einmal eine Sprache und nur schwerlich könnte man von il1m
von mindestens zwei Personen aufzeichnet, selbst wenn die Aufzeichnung nur im sagen, dass er »denke« im herkömmlichen Sinne. Und es schiene schwierig, zu
Kopf der Personen stattgefunden hat und nicht auf externen Dokumenten) und behaupten, dass er stolz, arrogant oder verliebt sei, beinahe aus denselben Grün­
dem Geistigen (dem, was auch lediglich im Kopf eines Einzelnen stattgefunden den, derentwegen es absurd wäre, zu behaupten, dass er Freunde oder Feinde habe.
haben kann). In diesem Sinne kommt das Argwnent gegen Searle (der sich, da er Somit haben wir zwei Umstände, die die soziale Struktur des Geistes deutlich
das Geld als Frucht der Vorstellung definiert, wie ein Postmoderner verhält) aus machen.Z' Auf der einen Seite kann der Geist nicht entstehen, wenn er nicht in
der Ausarbeitung von Derridas Theorie über die Rolle der Schrift bei der Kon­ ein soziales Bad getaucht wird, das aus Erziehung, Sprache, Vermittlung und Auf­
struktion der sozialen ·Wirklichkeit. Wenn man, wie ich es vorgeschlagen habe, zeichnung von Verhaltensweisen besteht. Auf der anderen Seite gibt es die enorme
also erst einmal das »nichts existiert außerhalb des Textes« wnschreibt in ein ein­ Kategorie der sozialen Gegenstände, die nicht existieren könnten, wenn es nicht
gegrenztes »nichts Soziales existiert außerhalb des Textes«, findet man - glaube Subjekte gäbe, die denken würden, dass jene existierten. Statt eine Welt darzu­
ich - ein gutes Argument, um Searles These von der kollektiven Intentionalität stellen, die dem Subjekt zur totalen Verfügung steht, offenbart sich in der Sphäxe
zu widersprechen, die im Grunde wie ein »nichts Soziales existiert außerhalb des der sozialen Gegenstände die Inkonsistenz des Solipsismus: Dass es auf der Welt
Kopfes« klingt und damit gerade die Unterscheidung zwischen sozialen und geis­ außer uns auch noch andere gibt, ist eben durch die Existenz dieser Gegenstände
tigen Gegenständen aufhebt. bewiesen, die keinen Grund hätten, in einer vVelt zu sein, in der es nur ein ein­
Es bleibt ein letzter Punkt, der den Geist betrifft. Man kann sich legitimer­ zelnes Subjekt gäbe. V\Tenn es nicht möglich wäre, Spuren festzuhalten, gäbe es
weise fragen, was der Ursprung der Dokumentalität beziehungsweise der Inten­ keinen Geist und nicht zufällig wird der Geist traditionellerweise als eine tabula
tionen ist, die der Dokumentalität zugrunde liegen, aus der die soziale Wirklich­ r-asa dargestellt, auf der sich Eindrücke und Gedanken einschreiben. Aber ohne
keit besteht. Die Postmodernen hatten darauf bestanden, das Subjekt nicht als die Möglichkeit der Einschreibung gäbe es nicht einmal die sozialen Gegenstände,
eine grundlegende Gegebenheit zu betrachten; aber ihre Position war gewöhnlich die eben in der Aufzeichnung von sozialen Handlungen bestehen, beginnend mit
nicht über die Kl'itik an einem verabredeten Ziel, dem »cartesianischen Subjekt«, dem grundlegenden: dem Versprechen. Und wenn die Dinge so stehen, müsste
und über die reine Hypothese hinausgegangen, dass das Subjekt durch die Kul­ man vielleicht das Wort des Aristoteles, nach dem der Mensch ein zoon logon
tur konditioniert werde. Oie Perspektive der Dokumentalität hingegen erlaubt echon ist, übersetzen als: Der Mensch ist ein mit Einschreibungen versehenes
meiner Ansicht nach eine positive Entwicklung, die von einer Theorie ausgeht, Tier, oder besser (da eine der Bedeutungen von Logos im Griechischen tatsächlich
die - von den Antiken zu den Modernen - den Geist als eine tabula versteht, auf »Versprechen«, »gegebenes \Vort« ist) »der J\llensch ist ein Tier, das verspricht.«22
der sich Einschreibungen festhalten. Tatsächlich haben Einschreibungen, wie wir In kürzlich vorgenommenen Analysen23 schlage ich daher vor, die Intentio­
gesehen haben, eine mächtige Wirkung in der sozialen vVirklichkeit: Die sozialen nalität (verstanden als ein Wesensmerkmal des Geistigen) als ein Ergebnis der
Verhaltensweisen sind bestimmt von Gesetzen, Riten und Normen, und die Sozi­ Dokwnentalität zu sehen. Das Geistige, im Einklang mit dem Bild vom Geist als
alstrukturen und die Erziehung formen unsere Absichten. Stellen wir uns einen tabula, ist ein Träger von Einschreibungen (die, in den Worten de1· zeitgenössi­
Ur-Robinson vor, der der erste und der letzte Mensch auf der Erde ist. Könnte er je­ schen Neurophysiologie, mit den neuronalen Entladungen korrespondieren). Diese
mals zerfressen werden von Ambitionen, Konteradmiral, Milliardär oder Hofpoet Einschreibungen sind kein Denken und sie fordern es nicht, eben wie die Opera­
zu werden? Natürlich nicht, so wie er auch nicht sinnvoll danach streben könnte, tionen des Computers keine Kenntnis der Arithmetik fordern. Und dennoch ist das
der Mode zu folgen oder Fußballsticker zu sammeln oder Stillleben. Und wenn Ergebnis der Einschreibungen, da es in der Komplexität voranschreitet, Denken,

20 »&> ist es zttm Beispiel ein Fehler, Geld und andere Instrumente dieser Art so zu behandeln, 2t Fiir eine Weiterführung vgl. Ferraris: Documentalita, Teil 4 und 5·
als waren es Naturphänomene der gleichen Art, wie sie im Bereich der Physik, der Chemie und der 22 »Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf- ist das nicht geradejene puadoxe Aufgabe,
Biologie erforscht werden. Die 'Wirtschaftskrise, mit der wir es seit kurzem zu tun haben, rnacht welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat?« (Niet7�che: Zur Genealogie der
deutlich, daß diese Phänomene geballte Phantasieprodukte sind.« Searle: Wie wir die soziale Welt Moral, S. 29t).
machen, S. 278. Das englische Original ist noch klarer: »Tbe recent economic crisis makes it clear 23 Ich habe diesen Aspekt inAnima. e iPad (S. 144) ausgeführt; vgl. auch Torrengo: Docum.enti

that they are prodtlcts of massive fantasy.« e intenzioni.


66 3. Rekonstruktion. Warum die Kritik mit der Wirklichkeit beginnt

genau wie das Ergebnis der Operationen eines Computers eine arithmetische Be­
4. Emanzip ation.
rechnung ist. In der künstlichen Intelligenz wie in der natürlichen geschieht der­
selbe Prozess, wobei die Organisation voranschreitet und Verständnis produziert24 Ein unerforschtes Leben
und die Dokumentalit.ät voranschreitet und Intentionalität produziert.
Das Ergebnis der Rekonstruktion, die ich vorschlage, ist, wie im zweiten Ka­
hat keinen Wert
pitel angekündigt, >>ein Traktat zum ewigen Frieden<< zwischen den konstrukti­
onistischen und den realistischen Anschauungen. Es geht schlicht darum, jeder
den eigenen Kompetenzbereich zuzuweisen: 1. Die natürlichen Gegenstände sind
unabhängig von der Epistemologie und bewahrheiten sich in den Naturwissen­
Der Trugschluss Wissen - Macht
schaften. 2. Die Erfahrung ist unabhängig von der Wissenschaft. 3· Die sozialen
Gegenstände sind abhängig von der Epistemologie, ohne dass sie deswegen sub­
Es bleibt nur noch der dritte Trugschluss, der von Wissen und Macht, der das
jektiv sind. 4·· »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« gilt vor allem für die
Hauptargument gewesen ist, mit dem die Postmoderne sich bemüht hat, die
sozialen Gegenstände (wo es einen konstruktiven Wert hat) und in untergeord­
Aufklärung ins Abseits zu �Stellen. Wenn die Aufklärung das Wissen mit der
neter Form für den epistemologischen Zugang zur natürlichen Welt (wo es einen
Emanzipation verbindet, so obsiegt in der Postmodeme die nietzscheanische
rekonstruktiven Wert hat). 5· Die realistische Anschauung und die konstruktio­
Anschauung, nach der das Wissen ein Herrschaftsinstrument und ein Ausdruck
nistische Anschauung haben daher eine gleichwertige Legitimation in den ihnen
des Willens zur Macht ist. Hier ist das einzige kritische Wissen eine Art Gegen­
entsprechenden Anwendungsbereichen. Man kann natürlich über Fragen strei­
macht, die sich bemüht, das Wissen systematisch anzuzweifeln, und damit eine
ten wie: Existieren subatomare Entitäten? Welche Art von Existenz haben die
Dekonstruktion ohne Rekonstruktion durchführt, was übrigens kohärent ist mit
Versprechen? Sind die Spezies und die Geschlechter Natur oder Kultur? Dies ist
der Annahme des Schwindens jedweden autonomen Erkenntniswertes der Phi­
die wahre Debatle, und hier ist es, wo der philosophische, politische und wissen­
losophie. Dieser Trugschluss hat seinen Ursprung irn lnnern einer philosophi­
schaftliche Disput stattfindet. Die beste Art hingegen, alles vom Tisch zu fegen,
schen Kritik der V\rissenschaft, die paradoxerweise aus einer fast abergläubischen
jeden Dialog und jede Auseinandersetzung im Keim zu ersticken, ist tatsächlich,
Überbewertung seitens ihrer Kritiker entsteht. Ich sage »Kritiker« und nicht
den Weg der Pankonstruktionisten einzuschlagen als ein ehernes Gesetz der Poli­
»Befürworter«, da es vor allem bei den Ersteren ist, wo sich die Idee entwickelt
tik, das, nebenbei gesagt, zeigt, dass ""i.r es auch auf dem Feld der menschliehen
(die, wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, keinen Seinsgrund hat), dass
Dinge mit wunderbaren Regelmäßigkeiten zu tun haben.
für alles eine Wissenschaft existiere und dass die Wissenschaft die Philosophie
überall verdränge, die somit jeden konstruktiven Wert verliert und sich in das
Foyer der Kritik verkrümelt.
Daher, mit der Aussage eines Mitangeklagten, das Beharren auf der Idee, wo­
nach die V\fissenschaft ebenso wie das Schöngeistige sich Wörtern, Wörtern und
Wörtern bedient und niemals einen direkten Kontakt zur Welt »da draußen« hat.
Die Behandlung, eigentlich bestimmt für die Wissenschaft, galt auch für die Me­
taphysik, die auf der Ebene der Wahrheit und Wirklichkeit der Mitwisserschaft
mit der Wissenschaft verdächtigt wurde, b}s d<J.hin, dass die Überwindung der
Metaphysik der parteiische Kampf desjenigen geworden ist, der Heidegger vom
Nationalsozialismus freigesprochen hatte.
Eine erste Version von Wissen - Macht zielt einfach darauf ab, anzuzweifeln,
dass es am Beginn des Wissens desinteressierte Motive gebe. Diese milde Form
lässt sich nicht eigentlich als Trugschluss definieren, da sie etwas Wahres erkennt.
24 eins. AnalogeAnschauungen lassen sich in
Dennett: Philosophie des menschlichen Bewussts
dem Begriff des »Superorganismus« finden; zum Beispieleine Termitenfamilie, die ein rattonales Zweifellos kann das Wissen angetrieben sein vom Willen zur Macht oder ganz
Verhaltenentwickelt, obwohl keines ihrer Mitglieder in der Lage istzu denken, vgl.Hölldoblcr/Wil­ banal von Karriereinteressen. Daraus folgt jedoch nicht, dass man die Ergebnisse
son: Der Superorganismus.
des Wissens anzweifeln muss, denn wenn es auch wahr wäre, dass (wie Rousseau
4. Emanzipation. Ein unerforschtes Leben hat keinen Wert Der Trugschluss Wissen - Macht 69
68

behauptete•) die Astronomie aus dem Aberglauben erwächst, die Eloquenz aus Von dem Trugschluss Wissen - Macht haben wir dann eine dritte, erweiterte

dem Ehrgeiz, aus Hass oder Schmeichelei, die Geometrie aus dem Geiz, die Physik Version, die die Basis des Ideals eines »schwachen Denkens« bildet. Hier klingt

aus einer eitlen Neugier und die Moral ohnehin aus dem Stolz, gäbe es immer noch das Argument in etwa so: Wer behauptet, über die Wahrheit zu verfügen, tendiert

keinen Grund, die Tatsache anzuzweifeln, dass die Erde sich um die Sonne dreht dazu, dogmatisch und sogar gewalttätig zu sein. Es handelt sich um ei ne proble­

oder dass die Summe der Winkel eines Dreiecks 180 Grad ist- Streng genommen matische These, weil sie mindestens drei Umstände nicht in Betracht zieht: ers­

haben wir es also hier gar nicht mit einem Trugschluss zu tun, sondern schlicht tens, dass es darum geht, zu verstehen, was man unter »Wahrheit« versteht: jene

mit einer VorsichLSmaßnahme, die nicht ausschließt, an der aufklärerischen Idee des besessenen Mystikers oder jene des vernunftgeleiteten Gelehrten (die auf­

vom Wissen als Emanzipation festzuhalten.2 grund seiner Lehre und seiner Gescheitheit schwerlich gewalttätigist); zweitens,

Eine zweite, klassischere Version des Trugschlusses kommt aus der Analyse dass man Wahrheit ohne Gewalt und Gewalt ohne Wahrheit haben kann und

Foucaults und ist wesensgleich mit der Entstehung des ersten Teils seines Dcn­ dass sich infolge des Verzichts auf Wahrheit nicht der Verzicht auf Gewalt und

kens.$ Der Grundgeda11kc ist, dass die Organisation des Wissens streng bestimmt der Friede auf Erden ergibt, sondern nur der Aberglaube; drittens, dass man ge­

ist du1·ch Machtrootive: Es ist keine reine Tatsachenfeststellung, die bestimmt, nau wie beim »es gibt keine Tatsachen, nu.r Interpretationen« gegen das schwache

dass der Wahnsinn aufhört, eine Beziehung mit der göttlichen Ei ngebung z u Denken im mer einwenden kann, dass, wenn die Formulierung der Verbindung

haben, und der Sphäre des Pathologischen zugeordnet wird;.. die Brüche, die die von Gewalt und Wahrheit eine Wah rh eit ist, sich das schwache Denken da1m

Wandlungen des Wissens über den Menschen in der Moderne bestimmen, ant­ eben für d ieselbe Gewalt verantwortlich macht, die es verdammt. Abseits von
worten auf die Forde rungen der Macht;5 umgekehrt sind die Einrichtungen der Einwendungen bleiben einige Beobachtungen des gesunden Menschenverstands.

Macht immer in der Lage, ein Wissen zu produzieren, so weit, dass dieselbe Ge­ Die richtige Antwort, an der sich der 'Wunsch zeigt, das Massaker im Namen der

fängnisstruktur, die wenig am Wissen interessiert sein dürfte, ein Ideal der Kon­ Wahrheit zu beenden, wäre nicht, die Wahrheit zu attackieren, indem man auf

trolle ausdrücken kann, das emblematisch repräsentiert ist in dem von Bentham ihre sozialen Gefahren hinweist, sondern eventuell zu beachten, dass Gewisshei­

entwo rfenen Panopticon, also von einem Apparat, der die totale Kontrolle der ten, die nicht von Tatsachen unterfüttertsind, verheerende Auswirkungen haben
Gefangenen erlaubt.6 Auch in diesem Fall hatte die Theorie ihre Berechtigung können. Das ist überhaupt kein Argument gegen die Wahrheit, sondern ganz im

und dennoch gelangte sie zu unwahrscheinlichen Ergebnissen. Natürlich ist der Gegenteil das stärkste Argument für die Wahrheit und die Wirklichkeit. Wenn

Wahnsinn isoliert worden; aber muss man die antipsychiatrische Bewegung ih­ jemand gegen Windmühlen kämpft, ist es a m besten, ihn die Wahrheit sehen zu

rerseits als einen Ausdruck des Willens zur Macht verstehen? Und was soll ma.n lassen, das heißt, dass es sich um Windmühlen handelt und nicht um Riesen, die
von dem Kampf sagen, den ebenderselbe Foucault für die Häftlinge geführt hat? mit den Armen kreisen. Schließlieb zeigt sieb täglich der Fall, dass jemand (zum

Wille zur Macht auch in diesem Fall? Und als die Kirche anerkannt hat, dass Beispiel ein Antimafia-Staatsanwalt) für die Wahrheit kämpft und dass diese

Galileo Recht hatte: Ist das ein Ausdruck des Willens zur Macht oder zur Wahr­ Wahrheit objektiv wahr ist. Die Einwände, die das schwache Denken gegen die

heit gewesen? Aber auch abgesehen von diesen Aporien offenbart sich die größte Wahrheit als Gewalt vorbringt, sind auch bei einer oberflächlichen Betrachtung

Schwäche dieser These in den mechanischen und monotonen Anwendungen einer Einwä nde gegen die Gewalt, nichtgegen die Wahrheit und gründen daher auf ei­

Gleichwertigkeit von Wissen und Macht, die sich in ein antiwissenschaftliches nem Mi ssverständnis. Diese Umstände zu unterschlagen, führt uns in Situationen

und abergläubisches Dogma verwandelt.' ohne Auswege: Die Macht hat immer Recht, oder umgekehrt: Die Gegenmacht
bat immer Unrecht, und in geradezu noch perverserer Form: Die Gegenm acht
und das Gegenwissen - vielleicht auch das eines Mafioso oder das einer Hexe -
1\ousseau: Oiscoms sur !es Seiences et les Ans, S. 19. haben immer recht .
2 Vgl. dazu riubermas: Erkenntnis und Interesse.
3 Für oino Oarstellu ng clie�es Aspekts erlaube ich mir, auf die in Storittdell'ermemuaica (S. 185-
203) vorgelegte Analyse zu verweisen.
• Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft.
5 Foucault: Oie Ordnung der Dinge.
6 Foucault: Überwachen und Strafen.
7 Ausflihrlich und hilfreich veranschaulicht von Rossi: Pragone degli ingegni moderni e post­
moderni (die erweiterte Neuauflage von 2009 enthält weitere Beispiele für die rnechaniache Anwen­
dung von Wissen - Macht). Tatsächlich hätte schon die simple Betrachtung nicht etwa einer exoti­ vollkommen machtlosen Gelehrten und ebenso von machugen, d1e alles andere als allwissend sind..

schen Welt, sondern der Fachbereiche der Universitäten deutlich machen müssen, dass die Fälle von sehr häufig auftreten.
70 4. Emanztpation. Ein unerforschtes Leben hat keinen Wert Experiment mit dem Abschied von der Wahrheit 71

Experiment mit dem Abschied von der Wah rheit len waren die Thesen mit den besten Absichten formuliert, aber wenn diejenige
von James sich als verführerisch, obgleich falsch, erweisen konnte, erschien jene
Es gibt schließlich ein extremes Ergebnis, das darin besteht, die Wahrheit als sol­ von Rorty auch nach einem nur oberflächlichen Blick problematisch, da sie nicht
che negativ zu betrachten und sich dazu bemüßigt zu fühlen, sich von der Wahr­ bedachte, wie wichtig die Wahrheit in unserer täglichen Praxis ist und wie die
heit zu verabschieden.• Dieses Ergebnis ist derartig widersprüchlich, dass es sich Wahrheit mit der Wirklichkeitaufs Innerste verbunden ist. Schließlich ist es nicht
für ein geistiges Experiment gegen den Trugschluss Wissen - Macht eignet, und unnütz, zu wissen, ob der Pilz, den wir essen wollen, giftig ist, und das hängt nicht
zwar indem man versucht, den Abschied von der Wahrheit in die Praxis umzu­ von unseren Redepraktiken ab oder von unseren Theorien über Pilze, sondern vom
setzen. Hier also einige Vorschläge, die nach dem Abschied möglich wären: »Die Pilz. Nehmen wir an, dass ic.b, die Theorie der Irrelevanz der Wahrheit anwen­
Sonne dreht sich um die Erde«; »2 + z ::::: 5«; »Foucault ist der Autor des Faust«; dend, einen giftigen Pilz äße. Das Erste, dessen ich bedürfte, wäre ein Arzt, aber
»Noemis Vater war der Fahrer von Craxi«;9 und, um von der Farce zur Tragödie kein solidarischer Arzt, sondern ein objektiver Arzt, raltig, wenn möglich, mich zu
zu wechseln: »Die Schoah ist eine Erfjndung der Juden.« Da diese Sätze ganz na­ heilen. Wenn dann die Vergiftung unheilbar wäre (bei Pilzen, das ist unerquick­
türlich aus dem Akzeptieren der These folgen, dass es keine Tatsachen, sondern lich, aber wahr, kann das passieren), dann würde ich mich vielleicht über einen
nur Interpretationen gebe - wovon der Abschied der Wahrheit das nihilistische solidarischen Arzt freuen, aber deswegen würde c i h nicht als Ideal setzen, was
Extrem ist -, fragL man sich, wie es möglich ist, dass jemand seelenruhig behaup­ sich als Notbehelf entpuppt.
tet, zu fordern, dass der Schnee weiß ist, wenn und nur wenn der Schnee weiß Der Abschied von der Wahrheit und der Wirklichkeit ist also kein schmerzlo­
ist, sei eine Banalität und verdiene keine Diskussion. Eine Banalität, die zugleich ses Ereignis. Wenn die These von der Wahrheit als »Wirkung der Macht« nicht
keine Konsequenzen mit sich brächte, was Ethik, Politik und die menschliehe zu berücksichtigen scheint, dass sie schon Jahrtausende vor der Postmoderne All­
Solidarität betrifft, also hinsichtlich all der Dinge, die den Freunden der Inter­ gemeingut war, und zwar in der Fabel vom Wolf und vom Lamm, so scheint die
pretationen so teuer sind. These vom Primat der Solidarität über die Objektivität nicht zu bedenken, dass
Nein, es gibt diese Konsequenzen, und ob. Es gibt nicht nur - wie wir im drit­ die Solidarität auch das Bindemittel einer mafiösen Vereinigung sein kann oder
ten Kapitel gesehen haben, als wir vom Renaltrismus und der Unwiderruflichkeit Schlimmerem. Man kann in der Tat die schwerwiegende Evidenz nicht beiseite­
sprachen - einen ununterbrochenen Weg, der von der Wahrnehmung zur Moral wischen, dass zum Beispiel das Primat der Volkssolidarität über die Objektivität
führt, sondern dieser Weg kann auch in umgekehrter Richtung beschritten wer­ der Tatsachen das leitende Prinzip der nationalsozialistischen Prozesse nach dem
den, ein bisscheu wie es Bouvard und Pecuchet geschieht, die, nachdem sie Un­ Attentat des 20. Juli 194-4 auf Hitler gewesen ist- und ganz allgemein ist das na­
stimmigkeiten in den Daten der Olympiade und der Geburt Christi festgestellt tionalsozialisüsche Regime ein makroskopisches Beispiel einer Gesellschaft von
haben, sich der Verachtung der Tatsachen hingeben und daraus schließen, dass gewaltiger innerer Solidarität, das die Verwaltung der Wahrheit der Fürsorge des
die einzige wichtige Sache die Phil.osophie der Geschichte sei. Was bei ihnen eine Dr. Goebbels überließ. Wer also die These von der Überlegenheit der Solidarität
Farce ist, kann sich immer in eine Tragödie verwandeln, indem es dem rutschigen über die ObjekLivität äußert, die sich zusammenfassen lässt in dem Paradoxon
Abhang folgt, der von der Kritik des Wissens zum Skeptizismus führt und von da »Amica veritas, magis amicus Plato«, also in einem Prinzip der AutoriüiL, der
zur Holocaustleugnung. missachtet den Umstand, dass diese Überlegenheit für die schlimmsten Gewalt­
Es gibt noch einen Punkt zu bcLrachten, da wir vom Extremismus des Ab­ taten und Verfalschungen benutzt werden kann (wie es tatsächlich geschehen
schieds von der Wahrheit zu milderen und weniger nihilistischen Versionen über­ ist). Ist zum Beispiel die sogenannte »Konsensfabrik« nicht vielleicht eine Fabrik
gehen. Die Idee Rortys, dass die Wahrheit nicht helfe, s ie eine vielleicht schöne, der Solidarität?
aber unnütze Sache sei, eine Spezies des Kompliments oder des Schuherklopfens,•• Man könnte abschließend bemerken, dass es keinen gewalttätigeren Willen
war ein Auf-den-Kopf-Stellen der nicht weniger anfechtbaren Idee von Willian1 zur Macht gibt als denjenigen, der aus dem Akzeptieren des Trugschlusses Wis­
James, dass wahre Sätze die seien, die das Leben bereicherten. In beiden Fäl- sen - Macht kommt. Schauen wir uns die beiden11 grundlegenden Gleichungen
des Postmodernismus an: 1) Sein = Wissen und z) Wissen = Macht. Als transitive
Relation haben wir: Sein = Wissen = Macht, also: Sein = Macht. Im extremsten
8 Vattimo: Addio alla verita. Postmodernismus verwirklicht sich eben der logische Schritt, bei dem die Verbin-
9 So erklärte Silvio Berlusconi seine Bek..nntschaft zu der damals 17-jährigen Noemi Lctizia,
deren Vater freilich nie der Fahrer des einstigen Ministerpräsidenten Bettino Craxi war.
10 Engel/Rony: A quoi bon la veri�e? II Ich verdanke diese Beobachtung meinem Fretmd Enrico Terrone.
72 4. Emanzipation. Ein unerforschtes Leben hat keinen Wert Dialekti k 73

dung von Konstruktionismus (clie Wirklichkeit ist vorn Wissen konstru iert) und Dialektik
r ihilismus (das Wissen ist kons tru iert von der Macht) dafür sorgt, dass die Wirk­
lichkeit sich als eine Konstruktion der Macht erweist, was sie zugleich abscheulich Mit dem Trugschluss Wissen - Macht haben wir einen Maßstab, wie einflussreich
(wenn man unter Macht den Moloch versteht, der uns beherrscht) und formbar die Ph ilosophie Nietzsches gewesen ist und insbesondere wie sie es verstanden hat,
macht (wenn man unter Macht versteht: »in unserer Macht«). Dieses letzte El·­ typische Elemente der romantischen Reaktion i n ehe Zeitgeschichte hinüberzutra­
gebn is des Postmodernismus, der das Sein auf die Macht reduziert, erinnert an gen, indem sie, wie Habermas geschrieben hat,15 eine Art »Drehscheibe<< gebildet
die Zerstörung der Vernunft, also an die Delegitimierung der Aufklärung, die hat, die vom Archaischen in die Postmoderne führt. Das Ziel Nietzsches ist seit
Lukacs" als die Essen z der Entwicklung ausmachte, die mit der Romantik und der Geburt der Tragödie Sokrates, das heißt derjenige, der im Sterben behauptet
dem späten Schellin g, dem Theoretiker des Seinkönnens, begin nt und sich mit hat, dass es einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Wissen, Tugend und
Nietzsche vollendet,15 in Einklang mit dem abschließenden Pseudoaphorismus Glück gebe. Und gegen Sokrates, Philosoph, Wissenschaftler, Weiser, Rationalist,
aus Der Wille zur Macht: »Und wißt ihr auch, was mir >die Welt< ist? Soll ich sie weit entfernter Ahnherr der positivis tischen Lehre seiner Epoche, setzt ietzsche
euch i n meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne An­ die Idee des t ragischen Philosophen oder eines musikliebenden Sokra tes, also
fang, oh ne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht Wa gner: Die Philosophie muss zum Mythos zurückkehren, die dem Gelehrten
kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt [. . .]. Diese meine verspr ochene Glücks eligkeit muss ersetzt werden durch die Tragö die. Hier, um es
dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, mal so zu sagen, sprich t Nietzsche mit der Schwiegermutter Sokrates, um auf die
diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein >Jenseits von Gut und Schwiegertoch ter Aufklärung zu schimp fe n, weil es eben die Aufklärung i�t, die
Böse( [. ..], wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösun.g fiiralle ihre Rätsel? sich zur Ver fechterio des Beziehungsgeflechts von \1\Tissen, Fortschritt und Glück
Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mit­ macht. Damit gehört der K
ünstler-Philosoph, der den Schleier und die Illusion
ternächtlichsten? Diese Welt isl der Wille zur Macht- und nichts außerdem! Und liebt, zu derselben Welt wie der Großinqu isitor Dostojewskis, teilt mit ihm das
auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht- und nichts außerdeml«14 Vorhaben, der Menschheit das zu geben, was sie w[rklich braucht. Und dazu kehrt
�Wenn wir da her - mit einem radikalen Postmodernismus - sagen, dass die man zurück in die Welt de Maistres, des genialen Verleumders der Aufklärun g,
sogenannte »VVahrheit« ei ne Frage der Macht ist, müssen wir auch hi nzufügen, gerade da, wo sie seiner Meinung nach am stärksten geirrt hatte: in dem Anspruch,
dass d ie wahre Wahrheit, jene ohne Anführungszeichen, keine Frage der Macht den Menschen zu nutzen und sie zu lehren, mit dem ei genen Kopf zu denken, wäh­
ist. Sonst treten wir in einen Teufelskreis ein, aus dem herauszukom men unmög­ rend das Glück doch darin besteht, der Autorität zu gehorchen und verbunden zu
lich ist. Die Behauptu ng von der Wahrheit als reine Macbt ist primafacie sehr sein mit der süßen Kette der Unwissenheit nnd d er Tradition.
resig nativ, fast venweifelt: »Die Vernunft des Stärksten ist immer die beste.« Von der Geburt der Tragödie, diesem wahrhaft (wie man wohl sagen darf)
Aber es gibt Grund zur Hoffnung: Eben die Wirklichkeit, die Tatsache zum Bei­ » epoch alen« Text, veröffentlicht ein wenig mehr als hundert Jahre vor Das post­
spiel, dass es ·wahr ist, dass der Wolf auf dem Berg bleibt und das Lamm im Tal, moderne Wissen. von Lyotard, hat derWeg begonnen , der in der Postmoderne dazu
es also das Wasser nicht versehrnutzen kann, ist die Basis, um die Gerechtigkeit führt, das Verschwinden der »großen E rzählungen« zu erkennen: der Aufklärung,
wiederherzustellen. 'Veil es, anders als viele Postmoderne behaupten, begründete des Idealismus, des Marxismus; damit verbunden erkennt man dem Wissen eine
Motive gibt, vor allem aufgrund der Lehren der Geschichte zu glauben, dass die zentrale Rolle im vVohlbefinden der Menschheit zu. E ntweder weil das Wissen,
Wirklichkeit und die Wahrheit immer der Schutz der Schwachen gegen die Ge­ wie im Fall der Aufklärung, die das paradigmatische Elementbleibt, zur Eman­
walttaten der Starken gewesen sind. Wenn hingegen ein Philosoph sagt, dass die zipation führt; oder weil das vVissen, wie im Fall des Idealismus, vollkommen
»sogenannte >Wahrheit< eine Frage der Macht<< sei, warum ist er dann Philosoph desinteressiert und abgekoppelt von irgendeiner irdischen Finalität ist; oder aber
und nicht Zauberer? weil, wie irn Fall des Marxismus, die Aufklätung und der Idealismus, J?reiheit
und Desinteresse sich verbinden in einem Prozess der praktischen Umwand lu ng
der Gesellschaft. Ebendiese Elemente werden von ictzsche und der Postmoderne,
die von ihm abstammt, in Zweifel gezogen. Die Aufklärung ist durch das Ideal
12 Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunf�. des tragischen Philosophen widerlegt, der sich, wie wir gesehen haben, darum
,., Ich habe die nietzscheanischt> Ontologie analysiertn
i Guida a Nietzsclle.Etica, poli!U;a,fiw·
logia, musca,
i teoria dell'interpn:tazione, ontologia (S. •gg-z75).
14 ;.iiclzsche: Der Wille zur Mach1., $. 7•:;f. t5 Habermas: Oer philosophtsche Diskurs der Moderne, . 104-130.
74 4. Emanzipation. Ein unerforschtes Leben hat keinen Wert Dialektik 75

bemüht, jede Brücke zwischen Wissen und Glück in die Luft zu sprengen. Der Grundwiderspruch gegenüber. Die Ausgangsidee war die eines äußerst großen
Idealismus ist delegitimiert durch die Überlegung, die in der Genealogie der lVIo­ emanzipativen Ansinnens: Die Forderung nach Freiheit, die sich auf die Kraft
ral vollkommen entwickelt wird, wonach das Wissen nichts anderes bedeutet als der Vernunft, des Wissens und der Wahrheit stützt, welche sich dem Mythos ent­
Interesse, Hass zwischen den Gelehrten, Rivalität. Die Kritik des Sozialismus bei gegenstellen, dem Wunder und der Tradition, kommt an einem Punkt zu einer
Nietzsche scheint ein sekundäres Phänomen zu sein im Vergleich zu den radikalen extremen Radikalisierung und wendet sich gegen sich selbst.17 Nachdem man
antiaufklärerischen Stellungnahmen. Die These, nach der es »keine Tatsachen den logos verwendet hat, um den Mythos zu kritisieren, und das Wissen, um den
gibt, nur Interpretationen«, hat ihren Ursprung in diesem theoretischen Horizont: Glauben zu entlarven, richten sich die dekonstruktiven Kräfte der Vernunft gegen
Es ist wichtig, dass das Wissen sich in eine Aufeinandelfolge von Interpretationen den logos und das Wissen und beginnen die langwierige Arbeit der Genealogie
verwandelt, denen keine Tatsachen entsprechen, weil man dem Modell des künst­ der Moral, die im ·wissen die Handlung des Willens zm Macht enthüllt. Das Er­
lerischen Denkers folgen muss, der hinter der Maske wieder andere Masken sucht, gebnis ist der Trugschluss Wissen- Macht: Jede Form des VVissens muss verdäch­
und nicht dem des Gelehrten, der hinter dem Schleier die Wahrheit sucht. Die tig erscheinen, gerade als ein Ausdruck von irgendeiner Form von Macht. Daher
Vorgeschichte des grundlegenden Prinzips der philosophischen Postmoderne fin­ die Sackgasse: Wenn das Wissen Macht ist, dann ist die Instanz, die Emanzipa­
det man daher in folgendem Passus der Geburt der Tragödie: »Wenn nämlich der tion produzieren soll, sprich das vVissen, zugleich die Instanz, die Unterordnung
Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken und Herrschaft produziert Und daher, mit einem x-ten Salto mortale, kann man
.

an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, ge­ die Emanzipation nur im Nichtwissen haben, in der Rückkehr zum Mythos und
niesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgewotfenen Hülle.«16 zur FabeL Die Emanzipation dreht sich im Kreis. Aus Liebe zur Wahrheit und
Ebendieser Passus klingt wieder in einem berühmten Ausspruch aus Matrix: Wirklichkeit verzichtet man auf Wahrheit und Wirklichkeit. Das ist der Sinn der
»Ich weiß, dass dieses Steak nicht existiert: Ich weiß, dass, wenn ich es in meinen »Krise der großen Erzählungen« von der Legitimation des Wissens. Das Problem
Mund stecke, die Matrix meinem Gehirn sagt, dass es saftig ist und ganz köstlich. dieser Dialektik ist jedoch, dass sie schlicht jede Initiative anderen Instanzen über­
Nach neun Jahren ist mir eine Sache klar geworden: Unwissenheit ist ein Segen.« lässt und die Emanzipation sich in ihr Gegenteil verwandelt, wie deutlich wird
Die Unwissenheit ist ein Segen, weil das Wissen, das Enthüllen, kein Glück er­ an dem, was später passiert ist.
zeugt, das allein vom Mythos kommen kann. Bei Nietz.sche ertönt die Frage der Diese Dialektik hat nicht einfach eine geschichtlich-ideale Seite, sondern sie
Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Wie sind z.ooo Jahre vergangen und bringt die praktischen Verwirkhebungen mit sich, mit denen wir uns im ersten
wir nicht einmal dazu f
ahig gewesen, uns einen neuen Gott zu erfinden? Wir Kapitel beschä fti gt haben. Sie beginnt mit den dekonstruktiven Behauptungen,
müssen alles ändern und eine Revolution des Herzens und des Geistes ins Leben typischerweise mit Aussagen, die die Möglichkeit eines Zugangs zur Wirklichkeit
rufen. Als Ergebnis ist dabei (wohlgemerkt ohne ihre unmittelbare Verantwor­ in Zweifel ziehen, der nicht kulturell vermittelt ist, und die zugleich den Erkennt­
tung) eine Menge an charismatischen Figuren herausgekommen, eine neue My­ niswert der ·vvissenschaft relativieren und damit einem roten Faden folgen, der
thologie, die lange auf den beiden letzten Jahrhunderten gelastet hat. Konkret von Nietzsche und Heidegger zu Feyerabend und Foucault führt. Den Fall Heideg·
ist diese bunte, laute und vor allem falsche Welt, die uns umgibt, das Erbe des ger beiseitegelassen, wo das konservative und traditionelle Element weitgehend
romantischen Traums von einer ·Wiedergeburt des Mythos, der Tatsache, dass die dominiert, sind die Dekonstruktion der Wissenschaft und die Behauptung des
Vernunft ersetzt werden muss durch den Traum. Die Moderne ist, zumindest von Relativismus der Begriffsschemata ein Teil des emanzipativen Gepäcks, der dem
der Romantik an, zum großen Teil eher mythologisch und antiaufklärerisch ge­ ursprünglichen Impuls der Postmoderne zugrunde liegt aber ihr Ergebnis steht
,

wesen als rationalistisch, wie sie sich oft selbst beschreibt, und der Ausgang der dem diametral entgegen. Insbesondere haben, wie man gesehen hat, die Kritiken
Postmoderne steht absolut kohärent in dieser Entwicklungslinie. an der Wissenschaft als Apparat der Macht und als freies Spiel der Begriffssche­
Es ist der theoretische Mensch, der besiegt werden muss, aber er muss es, nota mata einen konservativen Postmodernismus erzeugt, der aus der Dialektik der
bene (und hier liegt die wesentliche Dialektik der Postmoderne), im Namen der Aufklärung und dem Kampf der Wahrheit gegen sich selbst ein Argument zieht
Wahrheit, die sich eben aus Wahrheitsliebe negiert und sich zum Mythos hin ori­
entiert. Dies ist also die edle Herkunft des Trugschlusses ·wissen - Macht. Wenn
·wir das philosophische Herz der Postmoderne betrachten, befinden wir uns einem
11 Adomo /Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 7: »Seit je hat Aufklärung im umfas·
sendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolg t, von den Menschen dieFurchtzu nehmen
und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumpha len
16 Nietzsche: Geburt der Tragödie, S. g8. Unheils.«
76 4. Emanzipation. Ein unertorschtes Leben hat keinen Wert Gewissheit 77

für einen Aufruf an eine höhere Wahrheit oder (und das ist dasselbe) für einen Gegenstände, zum Beispiel Götterstatuen. Diese beiden Typen von Fundgegen­
Abschied von der Wahrheit. ständen haben sich parallel entwickelt, nicht um die Ungewissheit zu vergrößern,
Dieses Patt schein ein konstantes Ergebnis de1· Dialektik der Postmoderne zu sondern um sie zu verringern. Allerdings leben wir heute in einer unvergleich­
sein:18 Der Skeptizismus und die Dekonstruktionen demontieren die philosophi­ bar sichereren Welt, wenn - was banal, aber entscheidend ist - unser Leben .sehr
schen Wahrheiten und es wiederholt sich regelmäßig die ursprüngliche Szene viel länger dauert, so hängt das nicht vom Vertrauen, sondern vom Wissen ab,
der Entwicklung Descartes - Kant - Nietzsche, umrissen im zweiten Kapitel. In das also i n jeder Hinsicht unsere Gewissheiten vergrößert hat. Und wenn wir
diesem Rahmen scheint der philosophische Vorschlag10 nur zu verständlich, einen dermaßen empfindlich gegenüber der Unsicherheit sind, so liegt das nicht an ir­
Ausweg aus der Dialektik der Postmoderne und der Sackgasse, in der sie sich befin­ gendeinem Versagen der Moderne, sondern eher daran, dass wir zivilisierter und
det, anzubieten, indem man die positiven Werte der Gewissheit anerkennt, eines anspruchsvoller geworden sind in einem Prozess, der dem ähnelt, der uns Ope­
vortheoretischen Vertrauens, das dem Syndrom des Verdachts abhilft, den Rissen rationen ohne Betäubung nicht mehr ertragen lässt, was unsere Vorfahren noch
der Moderne und dem Nihillsmus der Postmoderne. erleiden mussten.
Emotionale Sz:cherheit oder objektive Gewissheit? Die zweite Frage ist: Sind wir
sicher, dass (wie es auch die Freunde der Gewissheit behaupten) die erste Gewiss­
heit die aus Zuneigung bestehende Abhängigkeit von der Mutter ist und nicht
Gewissheit die Objektivität? Nicht nur, weil nicht alle ihre Mutter kennengelernt haben, die
Gegenstände hingegen schon, aber auch, weil es vor allem ein objektives Verhält­
Die Aussicht der Gewissheit verläuft in groben Zügen auf diese Weise. Wir leben nis ist, als das sich die Vertrauensbeziehung zwischen Mutter und Kind gestaltet.
in einem Zustand der Ungewissheit, der paradoxerweise durch die technisch-wis­ Dennoch ist es wahr, dass die Gewissheit etwas ist, was man sich nicht selbst gibt,
senschaftlichen Fortschritte vergrößert und nicht verkleinertworden ist. Die Mo­ sondernwas man empfängt. Aberwir erhalten sie wiederum fortwährend in einer
derne, die die Epoche der größten Erkenntnis ist, ist auch die Epoche der größten Welt, die stabil und sicher vor uns liegt. Die Beobachtung, dass wir umso unsiche­
Beunruhigung. Um die Sicherheit wiederzufinden, ist es daher notwendig, einem rer sind, je weniger Überlegungen 'vir in Gang gebracht haben, ist sakrosankt.20
anderen Weg zu folgen. Man denke nicht, dass der Frieden zu uns kommen könne Aber sie erweist sich als innerlich verbunden mit der objektiven Erfahrung, weil
mittels der Objektivität und der Erkenntnis (welche uns außerdem auf unsere wir uns sonst auf das credo quia absurdum einließen oder geradewegs auf die
biologische Dimension festnageln, also, behaupten die Freunde der Gewissheit, blinde Unterwerfung unter die Autorität.
auf die Verzweiflung). Aber umgekehrt setzte man auf die Gewissheit und das Gewissheit oder Hoffnung? Die dritte Frage ist: Sind wir sicher, dass die
Vertrauen, darauf, sich anderen anzuvertrauen, mit der Zuversicht, die das Kind Gewissheit das höchste Gut ist? Die Depression ist in letzter Konsequenz die
gegenüber der Mutter hat. Es handelt sich um einen Diskurs, der klar, ehrlich, menschliche Erfahrung, die dem ewigen Frieden und der absoluten Gewissheit
offen und profund sein kann, der aber mit vier Ungewissheiten konfrontiert wer­ am nächsten ist. Das ist es, was auch die Vorstellung des ewigen Lebens unbe­
den muss. friedigend und unerklärlich macht, wenn wir versuchen, sie in präzisere Umrisse
Die Moderne verursacht Unsicherheit? Sind wir dessen sicher? Das ist also die zu fassen. Sehr viel stärker, sehr viel entscheidender als die Gewissheit ist die
erste Frage. Denken wir an das Leben unserer weit entfernten Ahnherren in den Hoffnung (die in sich immer ein Element der Ungewissheit trägt), wie intuitiv
Savannen: Man lebte zo Jahre, die Zeit, um die zweiten Zähne abzunutzen, dann einleuchtet, wenn wir uns mit der unterschiedlichen Schwere ihrer Gegensätze
noch die Weisheitszähne als extrema ratio, schließlich der Tod durch Hunger und auseinandersetzen, der Ungewissheit und der Verzweiflung. Es gibt keinen Grund,
Rheumatismen, wenn man nicht vorher von einem Löwen gefressen worden war. zu glauben, dass das menschliche Wesen, wenn es einer transzendenten Ordnung
Unsere Vorfahren waren also deutlich mehr ausgesetzt als wir und ihr Leben entsagt hat, notwendigerweise aller Verzweiflung entledigt wäre. Tatsächlich
war unendlich viel kürzer, grausamer, brutaler und sinnloser als unseres. Es ist geht die Hofnung
f jeder religiösen Offenbarung voraus und kann sich zu einer
vor diesem Horizont, dass Vertrauen und Wissen ihren weit entfernten Ursprung rationalen und wirksamen Hoffnung für alle Menschen entwickeln. Sprich, zu
finden. ln den Gräbern finden wir 'Werkzeuge, Waffen und Hausrat und religiöse einer Hoffnung, die nicht mit dem kollidiert, was wir von unserem natürlichen

18 Detaillierter analysiert ist diese Dynamik in Ferraris: n pensiero debole e i suoi risci.
19 Esposito: E l'esistenza diventa una immensa certezzo.. 20 Newmatl: Entwurf einer Zustimmungslehre.
78 4. Emanzipation. Ein unertorschtes Leben hat keinen Wert Aufklarung 79

Wesen wissen, anders als es bei der nur für die Gläubigen gültigen Hoffnung auf - angesichts der Wende, die die Postmoderne nahm - das Bedürfnis nach einer
die Auferstehung der Fall ist.21 Rückkehr zur Aufklärung bekundet. Typisch ist der Fall Lyotards, der 1983 mit

Gewissheit oder Wahrheit? Und hier kommen wir zu einer vierten wichtigen einer offenen Lossagung von den von der Postmoderne eingeschlagenen Wegen
Ungewissheit. Sind wir sicher, dass wir der Gewissheit sicher sein können? Es eine Rückkehr zu Kant vorschlägt,22 der dann der rote Faden seiner letzten Arbei­
gibt falsche Mütter, sei es im eigentlichen, sei es im übertragenen Sinn; es gibt ten sein wird, in denen er sich zum Beispiel auf das Erhabene als Gegensatz zur

Betrüger und Manipulierer, sei es im Namen der Vernunft oder im Namen des Kulturindustrie konzentriert.25 Denselben Schritt kann man bei Derrida beob­
Glaubens. Zudem kann die Gewissheit, und die sinnliche Erfahrung zeigt uns achten, der seinen Beitrag zu einer Konferenz zu seinen Ehren in Cerisy-la Salle
das, trügerisch sein. So kann ich Opfer einer Halluzination sein; oder meine Mut­ (v.1r sind im Jahr 1980) mit Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton
ter kann auch nicht meine Mutter sein; oder, wie es den Jungen der Hitlerjugend in der Philosophie2• betitelt und in diesem die Zeichen eines »Epocbenendes«
ergangen ist, meine Gewissheit und mein tiefes Vertrauen könnten sogar Adolf aufs Korn nimmt, die die Debatte über die Postmoderne begleiteten, und der im
Hitlex heißen. Daher reicht die Gewissheit allein nicht bin, man bedarf auch Verlauf der Jahre seine Einlassungen zu einer »kommenden Aufklärung« und zu
der Wahrheit, also des Wissens. Und eher i n diesem Bereich als bei der Erfah­ einer >>Aufklärung des 21. Jahrhunderts«25 verstärkern wird. »Die Strömungen,
rung des Vertrauens in die Mutter sehen wir uns konfrontiert mit einer anderen die sich >postmoderne< nennen«, schreibt Derrida, »tun so, als ob sie die Aufklä­
Bewegung, mit dem Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, rnit dem rung überwunden hätten und ich glaube nicht, dass das so ist. Es geht darum, die
aufklärerischen »Wage zu wissen!«. Tatsachlich leugnet niemand, dass man im Idee der Aufklärung wiederzubeleben, nicht so wie sie sich im 18. Jahrhundert
Lichte des Vertrauens, der Gewissheit und der Abhängigkeit leben und sterben in Europa gezeigt bat, sondern indem man sie zeitgenössisch macht, und in den
könne - und vielleicht sogar sehr gut. Und sicher hätte Ödipus besser gelebt, wenn Fortschritt der T?ernunfc platziert.«26
er die Wahrheit nicht gekannt hätte. Diese praktischen, ja, wie man einst gesagt Der in dieser Hinsicht bedeutungsvollste Fall ist aber der von Foucault. Vom
hätte, »eudämonistischen« Beweggründe entheben uns nicht einer Betrachtung: 1. Februar bis zum 28. März 1984- gibt er am College de France seinen letzten
In der Gewissheit zu leben, nach alldem, was wir bis hierhin gesagt haben, bedeu­ Kurs,'27 Der Mut zur Wahrheit, während er in das letzte Stadium seiner Aids­
tet nicht, i n der Wahrheit zu leben. Und eben im Namen der Wahrheit müssten Erkrankung eingetreten ist, der er a m 25. Juni erliegen wird. Foucault ist er­
wir beobachten, dass das Versprechen der Gewissheit, vielleicht das >>Bewundern, schöpft, der Kurs hat mit einer Woche Verspätung begonnen wegen einer starken
Freuen, Schweigen«, womit ein großer Philosoph, Antonio 1\.osrnini, seine eigene Erkältung, dem schwachen Immunsystem geschuldet, aber er will die Aufgabe
irdische Erfahrung beschlossen hat, Frieden gibt. Aber es ist auch wahr, dass dies zu Ende führen, der er sich das Jahr zuvor verschrieben hatte: eine Geschichte
der Friede ist, den man, wie Kafka sagte, der Asche wünscht. der Parrhesie zu entwickeln, dem Wahrsprechen auf Kosten des Lebens, von ihrer
Geburt in Griechenland über ihre Entwicklung irn Mittelalter (die Predigt und
die Universität) bis zu den Modernen, wo sich der Parrhesiast in die Figur des
Revolutionärs zu verwandeln scheint. Für den Philosophen, der seinen Namen
Aufklärung verbunden hatte mit der Lehre von Macht und Wissen, mit der Idee, dass einem
das Wissen suspekt sein müsse, weil es das Vehikel der Macht sei, bildet dieses
Kommen wir nun zu der Alternative der Aufklärung. Wir haben einen mögli­ Vorhaben das Signal eines deutlichen Kurswechsels, wie schon die Rehabilitie­
chen Ausgang der Dialektik der Postmoderne gesehen, denjenigen, der zum Trug­ rung des Asketismus und der Sorge um sich selbst in der Geschichte der Sexua­
schluss Wissen - Macht führt und von da zum Antifundationalisrnus und dann lität, die das große unvollendete Unternehmen Foucaults ist. Bereits in seinen
weitei zu einem nicht theoretischen Neofundationalisrnus, geraue um die Wider­ ersten Vorlesungen präzisiert Foucault, dass die Interpretation seiner Forschun-
sprüche von Wissen und Macht zu umgehen. Aber es gibt einen Aspekt der neu­
eren Geschichte der Postmoderne, auf den ich gern die Aufmerksamkeit lenken
2Z Lyotard : Der Waderstreit.
würde: Drei Philosophen, die systematisch mit der Postmoderne assoziiert worden 2� Etwa in Lyotard: Intervento italiano.
sind, Foucault, Derrida und Lyotard, haben schon zu Beginn der achtziger Jahre 24 Oerri da: Apokalypse.
25 Zur Aufklärung bei Oerrida erla11be ich mir, aufmeine Texte ltllroduzione a Derrida {insb.
S. 95ff.) und Jnckit! Durida. RitraLto a memoria (S. 71 ff.) zu verweisen.
21 1\usführlich verhandeltwird dieses Argument in Ferraris: Babbo Katale, Gesu adulto. In cosa 26 La Jornada, Mexiko-Stadt, 3· Män zooz, Hervorhebungen von mir.
crede chic rede? <n Foucault: Der Mutzur Wahrheit.
80 4. Emanzipation. Ein unerforschtes Leben hat keinen Wert Aufklärung 81

gen als »Versuch, das Wissen auf die Macht zu reduzieren [. . .), nur eine reine und diesen Worten endet: »Als Philosophieprofessor sollte man mindestens einmal in
schlichte Karikatur sein kann.«28 seinem Leben eine Vorlesung iiber Sokrates und seinen Tod gehalten haben. Das
Dennoch war eben die dramatische Verflechtung von Macht und Wissen das ist nun getan. Salvate anima.m m.eam.«�2 Rettet meine Seele. Der Anruf ist iro­
erste Motiv des foucault.schen Denkens gewesen, wie es noch in der Ordnung des nisch, wie immer bei Foucault, dem es auch in diesen Vorlesungen geling t, Witze
Disk.urses�9 betont wird, der Vorlesung, mit der er 1970 seine Lehrtätigkeit am Col­ zu machen und sein einzigartiges Lachen durchblicken zu lassen, aber das Thema
lt�ge de France inaugurierte. Und es ist noch so in der Synthese der Mikrophysik ist gar nicht ironisch. Weil Sokrates für Foucault derjenige ist, für den das un­
der Mache: »Die Machtausübung bringt ständig Wissen hervor und umgekehrt erforschte Leben keinen Wert hat'" und er nun die Quintessenz des Risikos einer
bringt das Wissen Machtwirkungen mit sich.«�0 Wahrheit repräsentiert, die befreit und nicht versklavt.
Wie wir gesehen haben, kam es in der Theorie von Macht und vl7issen zu ei ner Ich glaube, dass man aus dieser intellektuellen Kehre mindestens eine Lehre
Wiedergeburt der Genealogie der Moral und es etablierte sich ein Paradoxon, das ziehen kann. Bei all den Unterschieden zwischen ihnen: Figuren wie Lyotard,
im Mittelpunkt des Denkens von Foucault wie auch desjenigen Nietzsches steht: Derrida und Foucault, die einem in den Sinn kommen, wenn man an die Väter der
Man kritisierL die Wa hrheit nicht aus Lustan der Mystifikation, sondern aus dem philosophischen Postmoderne denkt (obwohl der erste davon vor allem der philo­
genau entgegengesetzten Motiv, aus einer Wahrheitsliebe, die alles demaskieren sophische Täufer gewesen ist und sich die beiden anderen nie zu Postmodernen
will, einschließlich der Wahrheit, und somit den Mythos wiederherstellt. Ein ge­ erklärt haben), sind der Ausdruck einer radikalen Aufklärung oder, wenn man
fährliches Spiel, da die Wahrheit nur als eine Wirkung der Macht zu sehen, be­ so will, ein er Dialektik der Aufklärung, sprich des Paradoxons, das ich zu Beginn
deutet, genau die Tradition zu delegitimieren, die in der Aufklärung gipfelt, für dieses Kapitels dargestellt habe. Und deswegen haben sie ohne 'Widerspruch die
die das Wissen und die Wahrheit Vehikel der Emanzipation, Instrumente der Ge­ Inspiratoren e iner Bewegung sein können, die sich in konservativer und anti­
genmacht und der Tugend sind. Und ein unsicheres Spiel wie russisches Roulette, aufklärerischer Hinsicht entwickelt hat, und s ie haben sich zugleich legitimiert
weil man nicht weiß, wann es endet. Für Nietzsche war das Ergebnis der Mythos, gefühlt, die emanzipative Instanz der Aufklärung in Anspruch zu nehmen. Es
die Idee, dass die Wahrheit ihren Posten für die Illusion und die Entfaltung der ist offensichtlich, dass man fortfahren kann, wenn man es wünscht, auch heute
Macht r·äumen muss. Für Foucault ist das Ergebnis antithetisch. Tatsächlich ist noch die Parole des Hyperdekonstruktivisten Derrida zu wiederholen, der in den
es kein Zufall, dass neben dieser Apologie der Wahrheit als Kritik und als Gegen­ siebziger Jahren behauptete, dass nichts außerhalb des Textes existiere; oder man
satz zur Macht, der Wahrheit, die das Leben kostet oder die sich in der Lebensart kann darauf beharren, dieses Mal mit dem Foucault vor dem Überdenken des
der Kyniker als Gegner der .Macht verkörpert, Foucault sich um eine Verteidi­ Willens zum Wissen, dass die Welt das simple Ergebnis unserer Begriffsschemata
fk.lärung? Was ist
gung der Aufklärung bemüht, wie in der Vorlesung Was stAu
i sei. Aber vielleicht ist es besser, zumindest wenn man sich an den emanzipati­
Revolutiof"t?31 am College de France von 1983. ven Anspruch hält, der die Arbeit dieser Autoren animiert hat, zu versuchen, die
Dies also ist der ·weg, der sich in den Vorlesungen des letzten "Winters im Leben Augen vor den ungewollten Ergebnissen der Dialektik der Postmoderne nicht zu
von Foucault vollendet, wo der letzte Held eben der sterbe·nde Sokrates ist, sprich verschließen und die Lehre im Sinne einer neuen Aufklärung anstatt eines alt�::n
der Antiheld ietzsches, der in ihm denjenigen sah, der im Sterben die fa lsche Obskurantismus wiederzubeleben.
Gleichung von Wissen, Tugend und Glück aufgestellt hatte. Für Foucault hinge­
gen ist Sokrates der Parrhesiast par excellence, anders als der Wissenschaftler, der
i ht n
nc i der ersten Per·son spricht, als der Sophist, der gewinnen und übeneugen
will, als der Prophet, der im Namen Go��es s pricht, als der Weise, der an abgeschie­
denen Orten die Wahrheit sagt. Sokrates will in der Öffentlichkeit die Wahrheit
sagen als persönlicher Zeuge und auf Kosten seines Leb ens. Der Gipfelpunkt des 32 Foucault: Mut zur Wahrheit, S. 2o4f.
5; »Und wen�> ich wiederum sage, daß ja eben dies das größte Gut für den Menschen isr, tliglich
Kurses ist die Vorlesung vom 22. Februar, gewidmet dem Tod des Sokrates, die mit
über die Tugend sich zu unterhalten, und über die andern Gegenstände, über welche ihr mich reden
und rcich selbst und Andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbstforschung aber gar nicht verdient
gelebt zu werden, das werdet ihr mir noch wemger glauben, wenn tch es sage. Aber gewiß verhält
28 Ebd., S. <l3. sich dies so, wie ich es vortrage, ihr Männer, uur davon euch zu überzeugen ist nc
i ht leicht.« Piston:
29 Foucault: Oie Ordnung des Diskurses. Apologie des Sokrntes, 38a. Und auf di�cn Passus beruft sich Robert Nozick in Vom richti{ien, guten
50 Foucault: Mikrophysik der Macht. undglUcklichen. Leben, dessen Origina ltitel Tlu: E:r;arnined Life lautet, das Leben als Selbstforschung,
�� Foucault: Was istAufkl�ru.ng? der Bewertun g durch das Denken und die Forschung unterworfen.
82 4. Emanzipation. Ein unerforschtes Leben hat Keinen Wert

Befreiung Bemerkung zum Text

Kehren wir also dahin zurück, von wo wir ausgegangen sind, zu Lyotards Das
postmoderne Wissen. Die Analyse Lyotards, die durchaus keine Apologie der post­
modernen Brave rew World war, hatte das Verdienst, die Risiken dieser ideologi­
schen Zusammenbrüche zu ermitteln, die so reich an praktischen Konsequenzen Mit diesem kurzen Buch, das auf vielen meiner vorhergehenden Arbeiten basiert,
waren: von den drastischen, von Margaret Thatcher gew ünschten Kürzungen die hier wieder aufgenommen und überarbeitet werden, hoffe ich, eine klare -
der Finanzierung der Universitäten Englands bis zur Globalisierung des freien oder zumindest konzise - Darstellung der Gründe meines Realismus geliefert
Marktes, der nach 1989 ein planetarischer wurde. Das Resultat im Verlauf der z u haben.
neunziger Jahre ist gewesen, dass Idealismus und Aufklärung abgelöst worden Ich hatte die Möglichkeit, einige meiner Argumente auf zwei Konferenzen zu
sind von Englisch, Internet und Unternehmen, mit einer Einstellung, die nicht erproben: »Ün the Ashes of Post-modernism: A New Realism« (New York, Isd­
nur von den Mitte-lin ks-H.egierungen geteilt worden ist, die Einsparungen in tuto Italiano di Cultura, 7· November 20l 1) und »Nuovo realismo: una discussione
der Kultur und der Grundlagenforschung vornehmen wollten, sondern auch von aperta« (Turin, Fondazione Rossclli, 5· Dezember 2011). Ich danke daher den Kolle­
vielen IntelJektuellen, die skeptisch geworden sind gegenüber dem Sinn ihrer gen, die teilgenommen haben: Akeel Bilgrarni, Ned Block, Paul Boghossian, Petar
Aufgabe und wahrscheinlich beeinflusst (oder besser: gerechtfertigt) vom Trug­ Bojanic, Mario De Caro, H.oberta De MonLicelli, Massimo Dell'Utri, Umberto Eco,
schluss Wissen - Macht. Wir haben auch die beiden möglichen Reaktionen auf Costantino Esposito, Paolo Flores d'Arcais, Markus Gabriel, Miguel Gotor, Andrea
den Trugschluss untersucht: jenen, der sich auf die Gewissheit stützt, und jenen, Lavazza, Sirnone Maestrone, Diego Marconi, Arrnando Massarenti, Massimo Mori,
der sich auf die Emanzipation stützt. Ich glaube, dass es besser ist, sich an das Hilary Putnam, Stefano Rodota, Riccardo Viale, Alberto Voltolini.
zu halten, was wichtig und lebendig in der Postmoderne war, und das ist eben Ich danke auch den Freunden, die diesen Text gelesen und mir geholfen haben,
die Forderung nach Emanzipation, die ausgeht vom Ideal des Sokrates und vom ihn besser zu machen: Tiziana Andina, Carola Barbero, Elena Casetta, Anna Do­
moralischen Wert des Wissens und sich präzisiert in Kants Rede über die Auf­ nise, Daniela Padoan, Vincenzo Santarcangelo, Raffaella Scarpa, Enrico Terrone.
klärung - die vielleicht die am meisten verleumdete unter den Kategorien des Ein besonderer Dank geht schließlich an Valentina Desalvo, der ich die Prä­
Denkens3• ist und die angesichts der Konsequenzen des Trugschlusses Wissen ­ gung eines Schlüsselbegriffs für meine Diskussion verdanke: »Realitysmus«.
Macht eine neue Stimme verdient in der zeitgenössischen intellektuellen Szene.
Irrend lernt man oder andere lernen. Die Wahrheit zu verabschieden ist nicht
nur ein Geschenk ohne Gegenleistung, das man der »Macht« macht, sondern vor
allem der Widerruf der einzigen Chance auf Emanzipation, die sich der Mensch­
heit bietet: des Realismus, gegen lllusion und Zauberei. Daher die Wichtigkeit
des Wissens: die Korrektu r - immer möglich und also geboten - des »krummen
Holzes der Humanität«, sich nicht damit zufriedengeben wollen, unmündig zu

sein (unabhängig vom Alter), so sehr es auch, wie Kant schrieb, bequem ist, un­
mündig zu sein. Den Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit abzulehnen,
vielleicht sogar mit dem Anspruch, die Absprachen zwischen Wissen und Macht
zu enthüllen, ist sicher möglich, aber es bedeutet, die immer gegebene A lternative
zu wählen, die der Großinquisitor vorschlägt: den Weg des Wunders zu nehmen,
des MySLeriums und der Autorität.

3+ Ferrone: Le•ioni illuminist.iche; zur auch theoretischen Wiederbelebung der Aufklärung vgl.
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Ziiek, Slavoj: Living in the End Times, London 2010. ISBN 978-3-465-04147-4

Recht als Kultur 1

Wie ist unter den Bedingungen von Globalisierung und der Wiederentde­
ckung der Religionen noch normative Verbindlichkeit herzustellen? Wie
kann die Vielfalt von normativen Projektionen zu einer verträglichen mul­
tiplen Ordnung verknüpft werden, ohne ein neues Einheitsreich des Nor­
mativen zu errichten? Und wie lässt sich dabei zugleich verhindern, dass
partikularen normativen Sonderreichen eine Geltungskraft verliehen wird,
die zur Auflösung von Normativität selbst führen würde? Im Rahmen der
Schriftenreihe »Recht als Kultur« veröffentlicht das gleichnamige Käte
Hamburger Kolleg seine an diesen Leitfragen orientierten Forschungs­
ergebnisse. Dieser erste Band der Reihe versammelt ausgewählte Beiträge
des Eröffnungssymposions des Käte Hamburger Kollegs »Recht als Kultur«,
auf dem exemplarischen Fragestellungen der sechs thematischen Jahres­
schwerpunkte des Kollegs nachgegangen wurde: den Grundlagen einer
geisteswissenschaftlichen Analyse von Recht, den Wahlverwandtschaf­
ten von Recht und Religion, der Rolle des Rechts im Globalisierungspro­
zess, der Genese, Verflechtung und dem möglichen Kont1ikt unterschied­
licher Rechtskulturen, den Kulturformen des Rechts, etwa in Literatur
und Film, sowie der Frage nach »Kultur« als einer genuinen Quelle von
Rechtsgeltung.

Werner Gaphart ist Direktor des Käte Hamburger Kollegs •Recht als Kultur«. Er
ist Jurist und Soziologe, Professor am Institut für Politische Wissenschaft und
Soziologie der Universität Bonn und u. a. Herausgeber des Rechtsbandes der
Max Weber Gesamtausgabe.
Günther Jakobs Rainer Zaczyk

System der Selbstsein und Recht


strafrechtlichen Eine rechtsphilosophische
Zu rechnung Untersuchung

2012. 108 Seiten 2014. 104 Seiten


ISBN 978-3-465-04146-7 ISBN 978-3-465-04199-3
Recht als Kultur 2 Recht als Kultur 3

Die Arbeit begründet die These, dass das Selbstsein des Menschen ohne
Das Ziel dieser Schrift ist es, die strafrechtliche Zurechnung als die Be­ ein Leben im Recht nicht zu denken ist. Anknüpfend an die praktische
stimmung der deliktischen Bedeutung eines Verhaltens zu begreifen: Der Philosophie Kants und die Philosophie des Selbstbewusstseins bei Fichte
Sinn des Verhaltens als eines Normwiderspruchs vermittelt zwischen dem zeigt der 1. Teil, dass Selbstsein als Autonomie zu fassen ist, deren Grund­
Sinn der o1·m und dem Sinn der Strafe. Norm, Normbruch und Strafe bestimmung aber tiefer reicht als bis zum autonomen Subjekt der westli·
werden als kommunikative Sequenz dargestellt. Manche Teile des hier chen Aufklärung und die sich so zu anderen Kulturen öffnet. Damit ist der
vorgetragenen Gedankengangs hat der Verfasser seit Jahren oder sogar Ursprung des Rechts aufgewiesen. Da das Selbstsein seinerseits nur als aus
Jahrzehnten in nicht wenigen Arbeiten vorgestellt; deren Zugehörigkeit einer Verbindung rojt anderen hervorgehend begriffen werden kann, wird
zu einem System soll an dieser Stelle demonstriert werden. im 2. Teil die Aufgabe gelöst, wie Selbstständigkeit und Gemeinschaft,
Differenz und Einheit zusammen bestehen können. Dies leistet das Recht.
Auf dem Fundament wechselseitiger Anerkennung werden drei Horizonte
Günther Jakobs war Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an den entfaltet, die in einander übergehen: Das interpersonale Rechtsverhältnis,
Universitäten Bochum, Kiel, Regensburg und Sonn. Seine- zahlreich in andere die verfasste Gemeinschaft und das Verhältnis der Staaten zueinander- in
Sprachen übersetzten - Publikationen erfassen einen großen Bereich der theo­ der einen Menschenwelt.
retischen Grundlagen des Strafrechts der letzten zwei Jahrhunderte.

Rainer Zaczyk ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Uni­
versität Sonn.

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recht als kuhur recht als kultur
kate hamhw-ger koUeß käte hambw-ger kolleg
lawu culturt lau1 as culrure
cenlre lor adv:utced otudy umre Coradvanoed srudy
Martin Albrow
Tribu nale
Literarische Darstellung Global Age Essays
1md j u ridische Aufarbeitnng on Social and Cultural Change
von Kriegsverbrechen
i m globalen Kontext 2014. Etwa 232 Seiten
ISBN 978-3-465-04211-2
Herausgegeben von Wemer Gephart,
liügen Brokojf, Andrea Schütte, Recht als Kultur 5

Jan Christoph Suntrup

In 14- bislang unveröffentlichten Essays entwickelt der britische Soziologe

2014. 244 Seiten Martin Albrow seine These vom »Globalen Zeitalter«, die er zuerst in den

ISBN 978-3-465-04200-6 1ggoer Jahren vortrug. Anregungen von Max Weber, Emile Durkheim, Ar­

Recht als Kultur 4 nold Toynbee und Norbert Eli as gehen dabei in einen globalen Diskurs ein,
der einen neuen Zugang sucht zu bleibenden menschlichen Dilemmata
im Zusammenhang mit, Glaube, Gerechtigkeit und Verantw ortung Auch .

Dieser Band versammelt Beiträge unterschiedlicher disziplinärer Ausrich­ wenn der Autor die Überzeugung von der Unabwendbark
eit von Globalisie­

tung, die sich mit Formen und Verfahrensweisen des Tribunals auseinan­ rung und Amerikanisieru ng nicht, teilt, vertritt er doch die Auffassung, der

dersetzen. Der Name des Tribunals steht aufgrund seiner ambivalenten Entwurf unserer Zeit als von dem Phänomen der Globalisierung geprägt

Geschichte einerseits grundsätzlich im Verdacht der Willkürjustiz, ande­ beinhalte die on'l'endigkeit einer kollektiven Antwort auf die Herausfor­

rerseits jedoch in jü ngerer Zeit auch fürinternationale und hybride Institu­ derungen, die sich der Menschheit heute stellen. Die Hoffnung auf eine

tionen, deren Aufgabe die Be- und Verurteilung fundamentalen Unrechts menschliche Zukunft beruht auf einer normativen Ordnung der globalen

ist: die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen und »Verbrechen Gesellschaft, einer Wcltrcgierung, die es den disparaten lokalen, nationa­

gegen die Menschlichkeit«. Die hier publizierten Texte fragen nach der len und globalen Kulturen erlaubt, zu koexistieren und zu prosperieren.

Rechtskultur des Tribunals, aber auch nach literarischen und anderen äs­
thetischen, bisweilen selbst tribunalartige Züge aufweisenden Formen der
Darstellung von Kriegsverbrechen, wie z.B. bei Peter Handke. Martin Albrow ist Professor emeritus der University of Wales. Honorary Vice
President der British Sociological Association und Senior Fellow am Käte Ham­
burger Kolleg »Recht als Kultur• in Bonn. Er ist Träger des Europäischen Amalfi­

Preises für Soziologie und Sozialwissenschaften.

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recht als kultur recht als kultur
käte hamburger kolleg käte hamburger kolleg
l.:tw a& culture law as culrure
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