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■ Beiträge
Inhaltsverzeichnis
Dietmar Langer
Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung. Über die Erziehung zur
und durch Vernunft bzw. Freiheit ........................................................................... 1
Henning Schluß
Ironie als Bildungsziel? .......................................................................................... 37
Christian Niemeyer
Nietzsche – nur Narr? Die Sprache des Zarathustra – und die Pädagogik.
Eine Zwischenbilanz nach 125 Jahren Rezeptionsgeschichte ............................... 55
Silke Traub
Selbstgesteuert lernen im Projekt? Anspruch an Projektunterricht und dessen
Bewertung aus Sicht von Lehrenden und Lernenden ............................................ 93
I
Besprechungen
Juliane Jacobi
Ariane Baggermann/Rudolf Dekker: Child of Enlightment. Revolutionary
Europe reflected in a Boyhood Diary .................................................................... 130
Elisabeth Badinter
Der Infant von Parma oder die Ohnmacht der Erziehung ...................................... 130
T. C. Boyle
Das Wilde Kind ...................................................................................................... 130
Berit Ötsch
Frank Surall: Ethik des Kindes. Kinderrechte und ihre theologisch-ethische
Rezeption ............................................................................................................... 134
Ewald Terhart
Hattie, John: Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses
relating to Achievement ......................................................................................... 136
Dokumentation
Impressum .............................................................................................................. U 3
Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe der Z.f.Päd. liegt ein Prospekt des Offizin Verlags,
Hannover und des Kohlhammer Verlags bei.
II
Table of Contents
Dietmar Langer
Possibilities and Limits of an Education Promoting the Values of Free Will.
On the concept of an education aiming at and relying on reason and freedom ..... 1
Henning Schluß
Irony – An Educational Goal? ................................................................................ 37
Christian Niemeyer
Nietzsche – Only a Jester? The language of Zarathustra – and pedagogy.
An interim assessment of 125 years of reception history ...................................... 55
Silke Traub
Self-Controlled Learning in Projects? Expectations regarding project-based
instruction and its evaluation by teachers and learners .......................................... 93
Impressum .............................................................................................................. U3
III
Hinweise zur äußeren Form der Manuskripte
1. Originalbeiträge – Manuskripteinreichung
2. Format – Umfang
Ein Manuskript soll in WORD im Schrifttyp ,Arial‘, Schriftgröße 12 pt mit einem obe-
ren Rand von 2,5 cm und einem unteren Rand von 2 cm (= Standard-Einstellung bei
WORD), einem rechten und linken Rand von jeweils 2,5 cm sowie einem Zeilenabstand
von 1,5 formatiert sein. Für die Fußnoten und das Literaturverzeichnis gelten diese An-
gaben ebenfalls. Die Seitenzahlen sollten oben rechts platziert sein. Der Umfang eines
Manuskripts darf (einschließlich der Fußnoten und des Literaturverzeichnisses) bei Ar-
tikeln höchstens eine Zeichenzahl (incl. Leerzeichen, Fußnoten und Literaturverzeich-
nis) von maximal 50.000 bis 55.000 Zeichen umfassen, bei Berichten und Diskussions-
beiträgen erheblich weniger. Rezensionen sollten einen Umfang von 150 bis 180 Zeilen
(zu 60 Zeichen) nicht überschreiten.
Die Zeitschrift für Pädagogik richtet sich bei Artikeln, die in deutscher Sprache verfasst
sind, in der Orthographie nach der amtlichen Regelung der neuen deutschen Recht-
schreibung.
IV
Deckblatt notieren Sie bitte außerdem 4-7 Schlagworte, die bei Annahme des Textes der
Verschlagwortung dienen (wichtig ist, dass die Schlagworte auch tatsächlich im Text
vorkommen).
5. Fußnoten
Die Fußnoten sind auf das Erforderliche zu beschränken und enthalten lediglich kurze
Weiterführungen oder Erläuterungen; sie dienen nicht zum Nachweis von Literatur.
Fußnotenziffern im Text werden nach dem entsprechenden Wort1 hochgestellt; am Ende
eines Satzes stehen sie – hochgestellt – nach dem Punkt.2
6. Literaturverweise
Verweise auf Literatur sind durch Nennung des Nachnamens des Autors und durch An-
gabe des Erscheinungsjahres der Publikation, die bzw. aus der zitiert wird, zu kenn-
zeichnen. Sofern nicht spezielle Gründe für eine Abweichung sprechen, sollte aus der
neuesten Ausgabe zitiert werden. Die Kennzeichnung erfolgt nach den APA-Richt-
linien. Weder im Text noch im Literaturverzeichnis sind Autorennamen in KAPITÄLCHEN
zu setzen! Bei der Zitierung klassischer Autoren und Werke wird das Erscheinungsjahr
der Erstausgabe vorangestellt. Beispiel: (Herbart, 1806/1982, S. 48). Werden mehrere
Veröffentlichungen eines Autors aus demselben Jahr zitiert, treten hinter das Erschei-
nungsjahr die Buchstaben a, b, c, etc. Diese Zusätze werden auch im Literaturverzeich-
nis hinter die Jahreszahl gestellt. Werden an einer Stelle mehrere Quellen erwähnt, wer-
den diese Angaben durch ein Semikolon getrennt. Beispiel: (König, 1993a, 1993b; Pe-
ters, 1998, 1999; Sander & Zober, 2000; Meier, Müller & Sander, 2000). Zitate sind
V
grundsätzlich mit einem Hinweis auf die Seitenzahl zu versehen. Beispiel: ,,. . . die Be-
dingungen der Industriegesellschaft offen zu halten“ (Berg, 1991a, S. 17-19). Seitenan-
gaben erfolgen durch die genaue Angabe der Seitenzahlen, d.h. nachfolgende Seiten
sind nicht mit den Abkürzungen f oder ff anzugeben. Weitere Hinweise zur Darstellung
von Zitaten sind den APA-Richtlinien zu entnehmen. Erfolgen Literaturhinweise auf
Arbeiten, die von zwei oder mehreren Autoren/Autorinnen verfasst worden sind, wer-
den die Namen der Autoren durch ein Komma voneinander getrennt, die letzten beiden
Autoren werden mit dem Wort und (Fließtext) und & (in Klammern) verbunden.
Bei mehreren Autoren: Bei zwei Autoren jedes Mal beide Namen erwähnen. Bei drei,
vier oder fünf Autoren nur das erste Mal alle Namen nennen, bei weiterer Erwähnung
wird lediglich der erstgenannte Autor genannt und ein ,et al.‘ angefügt. Bei sechs oder
mehr Autoren ist im Text immer nur der Name des ersten Autors zu kennzeichnen, ge-
folgt von et al. (Auflösung dann im Literaturverzeichnis). Im Literaturverzeichnis müs-
sen alle Autoren bzw. Autorinnen genannt werden.
Die Literaturangaben im Text dürfen keine aktiven Felder (wie z.B. vom Programm
EndNote) enthalten.
7. Literaturverzeichnis
Die Angaben im alphabetisch geordneten Literaturverzeichnis am Schluss des Textes
haben folgende Form:
Bei Monografien:
Nachname, Initiale[n] Vorname[n] (Erscheinungsjahr): Vollständiger Titel [inkl. Unter-
titel] (Auflagenangaben). Erscheinungsort: Verlag.
Beispiel:
Huber, Y. D. (2005). Bringt das alles wirklich etwas? Die internationale Testserie
auf dem Prüfstand (3. überarbeitete Auflage). Basel: Birkhäuser Verlag.
VI
Beispiel:
Möckli, P.-K. (2003). Die Länge eines Meters. Über die Entwicklung eines Län-
genmaßes. In F. Y. Bogner & R. L. Lödin (Hrsg.), Die Zeit und die Strecke. Erfah-
rungen mit der Dauer in den Jahrhunderten (S. 158-201). Augsburg: Puppenkisten
Verlag.
Bei Zeitschriftenartikeln:
Nachname Autor/Autorin, Initialen] Vorname[n] (Erscheinungsjahr). Vollständiger Titel
des Beitrags. Titel der Zeitschrift, Jahrgang(Nummer), Seitenzahlen.
Beispiel:
Frühling, B. (2008). Bärenfelle wärmen auch. Der moderne Hausmann, 8(1),
73-82.
Beispiel:
Rubin, H., Christen, P. & Weiss, R. (Hrsg.) (1996). Das Schloss des Grauens
(2. unveränderte Auflage). Schinznach: Verlag Schenkenberge.
Werden von einem Autor/einer Autorin mehrere Arbeiten zitiert, so werden diese Arbei-
ten im Literaturverzeichnis nach der Abfolge ihrer (Erst-)Erscheinungsjahre, beginnend
mit dem frühesten, geordnet. Bei Hinweisen auf Arbeiten, die zwei oder mehrere Auto-
ren/Autorinnen aufweisen, werden alle Autoren/Autorinnen (Name, Initiale[n]) genannt.
Bei Internetquellen:
Nachname Autor/Autorin, Initiale[n] ] Vorname[n] (Erscheinungsjahr in Klammern).
Vollständiger Titel. URL angeben [Abrufdatum].
Beispiel:
Lerntier, A. F., Faulpelz, D. R. & Duchsmaus, K. G. (2010). Wie unterschiedliche
Menschentypen lernen. Erfolgreiche Lehr- und Lernansätze im Unterricht.
http://www.bildungsseite-berlinlernt.de/lerntypen/fenrichs/2010.pdf
[12.05.2010].
VII
Beiträge
Dietmar Langer
Zusammenfassung: Wenn man nicht mehr vom Subjekt ausgehen kann, das wahre An-
bzw. richtige Einsichten und somit ‚a priori gültige‘ Erkenntnisse mit Gewissheit erstellt,
sondern nur von Tätigkeiten, in denen z.B. ökonomische, religiöse oder künstlerische
Handlungssubjekte zum Vorschein kommen, dann ist Willenserziehung jene Kommuni-
kation, die in allen Erziehungsbereichen (wie z.B. in der Umwelt-, Glaubens- oder Kunst-
erziehung) stattfinden kann. Als Erziehung zur und durch Vernunft bzw. Freiheit will sie
rationale Überlegungs- und Entschlussfähigkeiten vermitteln, wobei sich – so die These –
der Zu-Erziehende in jedem Erziehungsbereich einen freien und vernünftigen Willen an-
eignen kann. Grenzen dieser Vermittlung bestehen darin, dass die tatsächliche Aneig-
nung im Sinne sozialisierender Willensbildung von außen nicht bewirkt, dagegen von ge-
sellschaftlichen Zwängen und Aporien der Vernunft verhindert werden kann.
1. Einleitung
Für alle nachdenklichen Pädagogen, wie z.B. Petzelt (1947), Spranger (1969) oder Boll-
now (1988), lag es früher auf der Hand, wer oder was erzogen werden sollte, nämlich
das Subjekt oder das Ich. Und auch über den Zweck war man sich einig. Der Zu-Erzie-
hende wird im Zustand der Unmündigkeit angetroffen und soll mündig werden, wozu er
einen freien und vernünftigen Willen braucht; ersteren, um für unterschiedliche Hand-
lungsgründe zugänglich zu sein; letzteren, um sich von den einleuchtenden bzw. guten
Gründen in seinen Entscheidungen bestimmen zu lassen.
Unter Mündigkeit kann vernünftige Selbstbestimmung oder auch personelle Ver-
nünftigkeit begriffen werden. Dies bedeutet in intensionaler Hinsicht, sich ohne Anlei-
tung von außen seines eigenen Vernunftvermögens bedienen zu wollen und zu können,
um somit im Bedarfsfall richtig zu handeln. Vage Referenzen im Sinne der Begriffsex-
tension sind z.B.: ,offen und kritisch gegenüber neuen Ab-, An- und Einsichten zu sein‘,
,frei zugänglich für unterschiedliche Gründe sein‘, ,ungehindert Entschlüsse fassen zu
können‘, ,sich für gute Gründe entscheiden zu wollen, also guten Willens zu sein, es
aber auch tun und bei der Stange bleiben zu können‘.
Uneinig waren und sind lediglich die Antworten auf die Frage, wie dies durch Erzie-
hung erreicht werden soll. Ob dafür allerdings Mittel und Wege wie Dialog oder Diskurs
als Antworten geeignet sind, kann bestritten werden. Zweifel kommen deshalb auf, weil
sie jeweils den freien und den vernünftigen Willen schon voraussetzen, während diese
Fähigkeiten erst zu vermitteln sind. Wenn beide bereits zur Anwendung kommen, wenn
zur Lösung eines Problems nicht nur das bessere Argument vorgebracht, sondern auch
in die Tat umgesetzt wird, dann muss Mündigkeit nicht mehr vermittelt werden. Beide,
Dialog und Diskurs, sind Ziele oder Zwecke der Erziehung zur Vernünftigkeit, aber ge-
wöhnlich weder gehbare Wege dorthin noch geeignete Mittel dazu. Damit stellt sich die
Frage, wenn sich der freie und der vernünftige Wille in der Regel so nicht vermitteln las-
sen, wie denn dann? Etwa mit Quasi-Diskursen? Oder eher mit Laisser-faire? Zwang?
Tadel? Abrichtung? Dressur? Zufall? Durch naturwüchsige Reifung des Gehirns? Oder
gar mit Medikamenten?
Ob sie sich allerdings überhaupt vermitteln lassen, ist ein Problem, das logischer-
weise zuerst geklärt werden muss und sowohl vom Willen (individuelles System) als
auch von der Vermittlung (soziales System) abzuhängen scheint.
Betrachten wir dazu ein Beispiel aus der Gesundheitserziehung. Ein junges Mädchen
will sich unbedingt tätowieren lassen. Statt der Tätowierung könnte man auch das Ziga-
retten-Rauchen auswählen. Nehmen wir einmal an, wenn sein Wille in die Tat umge-
setzt würde, führe dies aus guten Gründen, nämlich aus gesundheitlichen, etwa Infekti-
onsgefahr, Hauterkrankungen etc. – und auch aus ästhetischen Gründen, worüber sich
aber nicht nur mit Zu-Erziehenden vorzüglich streiten lässt – zu einer nicht vernünfti-
gen oder gar unvernünftigen Handlung. Entschlüsse bzw. Handlungen erweisen sich als
irrational, wenn sie das Subjekt durch Überzeugungen rechtfertigt, deren Wahrheit es
selbst stark bezweifelt oder wenn zu ihrer Rechtfertigung Ziele dienen, die sich unter
den gegebenen Bedingungen nicht erreichen lassen, oder wenn bei ihrer Rechtfertigung
nicht alle verfügbaren relevanten Ansichten herangezogen werden, oder wenn relevante
Forderungen einfach übergangen werden. Die letzten beiden Aspekte könnte man dem
Mädchen vorwerfen.
Wie und wann wird dieses Mädchen vernünftig? Es würde vernünftig werden, wenn
es seinen Willen oder seine Absicht aufgeben oder umwandeln könnte und sich eben
nicht tätowieren ließe. Durch diese Unterlassung würde eine Tat realisiert, für die bes-
sere Gründe sprechen als für die Durchführung der Tätowierung (wie z.B. Gruppenzu-
gehörigkeit, eigener Lebensstil).
Nun ist zu überlegen, wer oder was eigentlich vernünftig wird. Aus dem Blickwin-
kel des Erziehers (Dritte-Person-Perspektive) ist es offensichtlich das Mädchen als gan-
zer Mensch. Aus der Sicht des Mädchens (Erste-Person-Perspektive) ändert sich das je-
doch. Durch Introspektion kann es nämlich sagen: Ich bin vernünftig geworden, weil
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 3
ich erst eine Tätowierung wollte, nachdem ich aber die einleuchtenden Gründe hörte,
habe ich darauf verzichtet. Damit ergeben sich eine Menge weiterer Fragen und tiefe
Problemabgründe, vor allem: wer oder was ist nun dieses ‚Ich‘?
Für Immanuel Kant (1724-1804) war es ein „bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe
begleitet“ (1983, S. 344). Ludwig Wittgenstein (1889-1951) stellte sich die Frage, was
denn übrig bleibt, wenn ich von dem Sachverhalt, dass ich meinen Arm hebe, die Tat-
sache abziehe, dass mein Arm sich hebt? (vgl. 2001, S. 974, § 621). Und die Antwort
lautete nicht etwa: das Ich oder mein Wille. Übrig bleibt ein praktisches Selbstverständ-
nis, also die reflexive, bewusste und freiwillige Struktur von Handlungen. Der Wille
bedeutete für ihn insofern weder etwas noch nichts; und dass man ich und selbst lie-
ber in der Kleinschreibweise benutzen sollte, darauf hatte er immer wieder hingewie-
sen. Schon Friedrich Nietzsche (1844-1900) zeigte großen Scharfsinn und beurteilte,
ohne jemals das Innenleben eines Gehirns auf irgendeinem Monitor gesehen zu ha-
ben, das mit den Begriffen ‚Ich‘ und ‚Wille‘ zu Bezeichnende als Erfindungen. Das
Ich kann die Vernunft des Mädchens jedenfalls nicht sein, denn diese müsste ja nicht
mehr vernünftig werden. Ist es also doch der Wille des Mädchens? Oder sein Geist,
sein Bewusstsein? Oder seine Neuronen? Oder was sonst? Und was ist nun der Wille?
Ist er wirklich nur eine Illusion? Lässt sich jeder Wille umwandeln? Braucht man dazu
einen freien Willen? Was ist dann (a) ein freier und (b) ein vernünftiger Wille? Kön-
nen beide vermittelt werden – und wie? In 3.2 steht die Antwort auf die Frage (a), in 4
die anderen. Es wird sich zeigen, dass Willenserziehung eigentlich zwei Adressen hat;
nämlich die „Person als die der pädagogischen Kommunikation zugängliche, in sie ein-
begriffene Adresse (= potentielles Sprach-, Handlungs- bzw. Erkenntnisvermögen, vgl.
3.3, D. L.) und das Individuum (= bewusster Wille im Sinne physisch-psychischer bzw.
neuro-mentaler Phänomene, vgl. 3.4, D. L.) als die ihr nicht zugängliche, außerhalb von
ihr liegende“Adresse (Kade, 2004, S. 222).
Der Schaden jedoch, der in der Pädagogik durch den Einfluss von Weltbild-Deutun-
gen einiger Hirnforscher entstehen könnte – wohlgemerkt: Konjunktiv –, besteht darin,
dass uns z.B. Neurophysiologen zurzeit einmal mehr weismachen wollen, wir müss-
ten unser Bild vom Menschen als ‚willensfreie Person‘ aufgeben, weil wir vernünf-
tige Selbstbestimmung aus naturwissenschaftlicher Sicht nur als Trugbild interpretieren
könnten.1 Dagegen konnte überzeugend gezeigt werden, dass Mündigkeit grundsätz-
lich möglich und vermittelbar ist (vgl. Speck, 2008; Langer, 2007), zumal neuerdings
Michael Pauen und der renommierte Hirnforscher Gerhard Roth von „einem ‚aufgeklär-
ten Naturalismus‘“ (Pauen & Roth, 2008, S. 9) reden, in dem Willensfreiheit und Deter-
minismus durchaus verträglich sein können (vgl. Fußnote 2). Und wenn z.B. (Neuro-)
Biologen zu weltbildgebenden Deutungen ansetzen und Willensfreiheit verdammen,
greifen sie auf evolutionäre und deterministische Annahmen zurück (vgl. 3.1), die aber
1 Kant würde heute den Hirnforschern eine unzulässige Verabsolutierung ihrer einseitig natu-
ralistischen Sicht vorwerfen und darauf bestehen, dass der „Mensch in seinem tiefsten We-
sen mehr ist als das, was unsere naturwissenschaftliche Schulweisheit begreift“ (Gölz, 2008,
S. 20).
4 Allgemeiner Teil
Wer die Vermittlung und Aneignung des freien und des vernünftigen Willens erklären
will, kommt an vier Problemen nicht vorbei, an dem der metaphysischen Voraussetzun-
gen und der damit unmittelbar zusammenhängenden Frage nach Willensfreiheit, ferner
am Problem der Erkenntnismöglichkeiten und schließlich am Leib-Seele- bzw. Körper-
Geist-Problem. Um es gleich zu sagen, keines dieser bisher ungelösten Rätsel kann im
Folgenden entschlüsselt werden. Was nur geleistet werden kann, ist die Beseitigung von
Missverständnissen nach Klärung der gegebenen Begriffe und die somit mögliche Be-
gründung der These des Beitrages.
Man kann die vielschichtige metaphysische Problematik so auf den Hauptnenner brin-
gen: der epistemische (In-)Determinismus sowie der ontologische (In-)Determinismus
stellen lediglich Hypothesen dar. Keine der vier Annahmen ist zurzeit bewiesen, aber
auch nicht widerlegt worden. Der epistemische Indeterminismus besagt, dass Ereignisse
dann indeterminiert erscheinen, wenn keine Erkenntnisse über ihre Determinanten vor-
liegen. Der ontologische Indeterminismus behauptet, dass es Ereignisse gibt, die nicht
von anderen Ereignissen determiniert werden oder irgendwie von diesen abhängen. Der
epistemische Determinismus des an naturnotwendige Gesetze gebundenen Erkennens
geht davon aus, dass Ereignisse dann determiniert sind, wenn ein Wissen über ihre De-
terminanten gegeben ist. Der ontologische Determinismus des Verursachens durch fak-
tische Ereignisse, die als Ursache-Ereignisse die entsprechenden Wirk-Ereignisse de-
terministisch erzeugen, besagt nun eben, dass es nur solche Ereignisse gibt, die von an-
deren Ereignissen determiniert werden oder in irgendeiner Weise von diesen abhängen.
Ein ontologischer Determinismus hätte jedenfalls den epistemischen Determinismus
zur Folge, aber nicht umgekehrt. Der epistemische Indeterminismus ist dagegen sowohl
(a) mit dem ontologischen Indeterminismus als auch (b) mit dem ontologischen Deter-
minismus vereinbar; mit (a), wenn man davon ausgeht, dass die nicht vorhersagbaren
Ereignisse tatsächlich nicht von anderen Ereignissen abhängen und unabhängig von
diesen auftreten oder ausbleiben; und mit (b), wenn man davon ausgeht, dass zwar alle
physikalischen Vorgänge determiniert sind, dass aber kein vollständiges Wissen bzw.
keine vollständige Vorhersagbarkeit über diese Zusammenhänge gegeben ist.
Das Fehlen der Vorhersagbarkeit von Ereignissen gehört insofern zur Variante des
epistemischen Indeterminismus, weil das Fehlen alleine keine Auskunft gibt, ob die
fraglichen Ereignisse, zu denen die Vorhersagbarkeit fehlt, im ontologischen Sinne tat-
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 5
sächlich determiniert sind oder nicht. Eine Unterscheidung in ontologischer und epis-
temischer Determinismus ist deshalb wichtig, weil die Faktoren der Verursachung der
realen Außenwelt, falls und wie wir sie erkennen können (vgl. 3.3), nicht dasselbe sind
wie die bloße Vorhersagbarkeit. Zwei dieser vier Standpunkte sind inkompatibilistisch,
die beiden anderen dagegen kompatibilistisch ausgerichtet. Je nach dem sind Freiheit
und Determinismus unverträglich oder vereinbar. Auf den Kompatibilismus II in einem
epistemischen Determinismus wird in Abbildung 1 aus Platzgründen verzichtet (vgl. die
Begründung dazu in Fußnote 2).
Vorausblickend ist die Frage ‚wie lässt sich die Freiheit retten?‘ so zu beantworten,
dass ein Kompatibilismus, der den Determinismus der Naturwissenschaften uneinge-
schränkt auf den Menschen anwendet, nicht ausreicht (vgl. in Fußnote 1). Und auch
ein Inkompatibilismus, der einen Leib-Seele-Substanz-Dualismus postuliert, scheint ein
Auslaufmodell zu sein. Die „Freiheit und damit die Würde des Menschen ist vielmehr
nur durch eine Vernunftkritik zu retten, welche das die Natur und den Menschen objekti-
vierende wissenschaftliche Denken und Handeln in seine Grenzen verweist“ (Rehbock,
2008, S. 137), was ja gerade schon Kant sehr am Herzen lag.
In den folgenden Überlegungen soll die Problematik der Willensfreiheit nicht noch ein-
mal aufgegriffen werden (vgl. Langer, 2009, S. 31-60). Die Argumente für und wider
den freien Willen sind ausgetauscht (vgl. z.B. Geyer, 2004). Die Befunde der Hirnfor-
schung decken nur einen schmalen Sektor ab. Als Fazit der Debatte kann man festhal-
ten, dass Willensfreiheit nicht als Gegensatz zur kausalen Naturnotwendigkeit verstan-
den werden muss, sondern dass sie als ‚Warumstopp‘ (Tugendhat, 2007, S. 63-64) in
ihrer Bedingtheit als Fähigkeit im Sinne einer – auf überlegungszugänglichen Gründen
beruhenden – Willensbildung (Keil, 2007) gelernt werden kann, wobei mit frei nur ge-
meint ist, wie unbehindert von äußeren und inneren Zwängen der bewusste Entschei-
dungsprozess ablaufen konnte, auch wenn dieser selbst sich deterministischen neurona-
len Prozessen verdankt und somit den Bezug zu den eigenen Wünschen und Überzeu-
gungen herstellt. Änderfalls ließe sich der selbstbestimmte Entschluss nicht von einer
zufälligen Entscheidung unterscheiden. Der freie Wille entpuppt sich als die unentbehr-
liche Befähigung, für unterschiedliche Gründe zugänglich zu sein, und als Suspensions-
vermögen zeigt er sich in der Aktivität, Propositionen, Urteile oder Handlungsmöglich-
keiten sowohl bejahen als auch verneinen zu können. Die folgende Abbildung 1 kann
die (Un-)Möglichkeit eines freien Willens veranschaulichen:
Die dualistische Sichtweise von Karl Popper (1902-1994) scheint ein Auslaufmodell
zu sein, nicht aber sein erkenntniskritischer Standpunkt (vgl. 3.3), der ein revidierter
und ergänzter Kantianismus ist (vgl. Albert, 1995, S. 210-215).
Überholt ist Kants Philosophie deshalb, weil er beim freien Willen von einem un-
begreiflichen Erstauslöser im Sinne eines unbewegten Bewegers (ursachenlose Ursa-
che) sowie von der Einheit von Wille und Vernunft ausgeht, ihn stets als autonomen
6 Allgemeiner Teil
____________________________________________________
Willensfreiheit (bzw.
Entscheidungsfreiheit) möglich unmöglich
ist
______________________________________________________
Inkompatibilismus I Anmerkung: nach Hume weil harter und weicher
(starker Naturalismus: und Schopenhauer ist (Motiv-)Determinismus
ontologischer Deter- Handlungsfreiheit möglich, wahr sind
minismus) weil man tun kann, was man (vgl. Fußnote 2)
will, aber man kann nicht wollen,
was man will.
_______________________________________________________________
Inkompatibilismus II weil harter und weicher (Mo-
(gemäßigter Naturalis- tiv-)Determinismus falsch sind
mus: ontologischer In- (z.B. Keil (2007) als Ereignis-
determinismus als Liber- kausalist, Popper als
tarismus) Leib-Seele-Dualist und
Kant als Zwei-Welten-Dualist)
______________________________________________________
Kompatibilismus I weil ein epistemischer In- (Kurzbeschreibung des K I:
(gemäßigter Naturalis- determinismus einen onto- Gedanken sind neuronal re-
mus: recht verstandener logischen Determinismus alisiert, aber man weiß nicht,
Determinismus als episte- nicht ausschließt wie Urteile oder Ein-
mischer Indeterminismus, z.B. Tugendhat 2007; sichten ausfallen, die Ein-
kurz: K I) Walde 2006) fluss auf Entschlüsse haben)
Willen mit dem vernünftigen Willen gleichsetzt und von der Notwendigkeit eines ,a
priori – Wissens‘, um Erfahrungswissen zu ermöglichen, auf dessen ,a priori-Gültig-
keit‘ schließt. Am Beispiel der Geometrie lässt sich dies veranschaulichen: Um unsere
Wahrnehmung zu interpretieren, brauchen wir eine Geometrie, die zumindest für unsere
nähere Umgebung euklidisch ist. Aber ob der Raum, der über die Erde und den Mond
hinausgeht, euklidisch ist oder nicht, ist eine andere Frage, hier kommen wir eben zur
Hypothese (vgl. 3.3).
Johann Friedrich Herbart (1776-1841) richtete sich schon gegen die kantische Ver-
mögenstheorie des Willens samt der ihr zugrundeliegenden Freiheitslehre, weil keine
Brücke zwischen empirischer und intelligibler Welt möglich ist, und weil somit jede
Erziehung durch und zum freien bzw. vernünftigen Willen von vornherein unbegreif-
bar bleibt.
Damit stellt sich erneut die Frage, welcher Gang sich für die Willenserziehung im
Sinne der Erziehung zur Freiheit und zur Vernunft dann eigentlich ziemt? Und die Ant-
wort kann aufgrund der bisherigen Überlegungen nur lauten: nicht im Rückgriff auf
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 7
Kants Willenstheorie, und schon gar nicht mit Hilfe der Unfreiheitslehre einiger Hirn-
forscher, sondern mit der hier im Beitrag vorzustellenden Willenserziehung (vgl. 4),
die auf eine lange Tradition zurückgreift (vgl. Petzelt, 1947; Spranger, 1969; Bollnow,
1988), aber auch andere Standpunkte berücksichtigt (vgl. Benner, 1991; Luhmann,
2004; Kade, 2004). Sollte nun jemand behaupten, die Willensbildung würde durch ver-
nünftiges Überlegen be- oder gar verhindert werden, so ist dies ebenso falsch wie jene
Behauptung, der im Beitrag vertretene ‚recht verstandene Determinismus‘ (= K I in Ab-
bildung 1) könne eine pädagogische Praxis z.B. des Tadelns gar nicht verständlich ma-
chen. Der letzte Einwand trifft vielmehr auf den strengen Naturalismus (Roths frühere
Unfreiheitslehre2) und auch auf Kants Libertarismus (transzendentale Freiheitslehre)
zu, denn wie soll man eigentlich den unbewussten Teilen des Hirnorgans (etwa dem
Erfahrungsgedächtnis) oder einem unbegreiflichen ‚unbewegten Beweger‘ (Erstauslö-
ser) im Sinne einer ursachenlosen Ursache Vorwürfe und Vorhaltungen machen kön-
nen? Durch angebrachten Tadel kann man willensfrei(er) werden (vgl. Langer, 2009,
S. 147-199). Er richtet sich aber nur indirekt an Gehirne, dagegen direkt an Personen,
die moralische Emotionen und ein Gewissen haben (vgl. 4) sowie selbstbewusste Trä-
ger mentaler Prädikate sind (vgl. 3.4) und über Sprach-, Handlungs- und Erkenntnisfä-
higkeiten verfügen (vgl. 3.3).
Unüberholt ist Kants Vernunftkritik dagegen vor allem deshalb, weil sein Haupt-
problem bis heute nicht gelöst wurde. Wo der Schnitt zwischen Erkenntnissubjekt und
Objekt gezogen wird, ist eine Überlegung, die uns noch lange beschäftigen wird, viele
Debatten ausgelöst hat, wie z.B. die Realismus-Antirealismus-Kontroverse oder den
Fallibilismus-Streit (vgl. Albert, 2007, S. 135-138), und im Grunde in Kants Frage zum
Ausdruck kommt: sind synthetische Urteile a priori möglich – und wie? Oder anders
formuliert: „Können wir durch bloßes Nachdenken, ohne uns auf Erfahrung (d.h. letzt-
lich auf Wahrnehmung) berufen zu müssen, etwas über die Elemente und Strukturen der
Wirklichkeit wissen?“ (Patzig, 1982, S. 12).
2 Gerhard Roth fasste seine Unfreiheitslehre früher so zusammen: der Sitz des Unbewussten,
also das „limbische System hat gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und
das letzte Wort. Das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen, das letzte
bei der Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand ausgedacht haben, jetzt
und so und nicht anders getan werden soll“ (Roth, 2003, S. 162). Dies macht einen freien
Willen unmöglich. Roth war ursprünglich Vertreter des Inkompatibilismus I (vgl. Abb. 1), er
ist aber inzwischen in Zusammenarbeit mit Michael Pauen zum Kompatibilismus übergegan-
gen: „Willensfreiheit und Determinismus bilden nicht nur keinen Widerspruch, vielmehr setzt
Willensfreiheit ein einigermaßen zuverlässig und gesetzmäßig funktionierendes System wie
das Gehirn voraus. Basis dieser Theorie ist erstens eine philosophisch-begriffliche Analyse
von Willensfreiheit als Selbstbestimmung, zweitens eine Vertiefung des Verständnisses der
neuronalen Grundlagen der Fähigkeit zu freiem Handeln“ (Pauen & Roth, 2008, S. 13). Ob
diese Auffassung auch als ein recht verstandener Determinismus im Sinne Tugendhats oder
Waldes ausgelegt werden kann (vgl. K I in Abbildung 1), hängt davon ab, ob Roth und Pauen
den Alternativismus als eine Zwei-Wege-Freiheit im Sinne des epistemischen Indeterminis-
mus akzeptieren können; falls nicht, würden sie den Kompatibilismus II im Sinne eines epis-
temischen Determinismus vertreten (vgl. Langer, 2009, S. 60).
8 Allgemeiner Teil
Kant brachte durch die Unterscheidung von ,Erscheinung und Ding an sich‘ den Skep-
tizismus verstärkt in die Erkenntnistheorie, weshalb sich der Sprachphilosoph Richard
Rorty (1931-2007) von Kant radikal abwandte. Kant wurde dabei von Kopernikus in-
spiriert, der die anscheinend wahrnehmbare Umlaufbahn der Sonne als eine Scheinbe-
wegung entlarven wollte. Entsprechend sollte Kants kopernikanische Wende in der Er-
kenntnistheorie einen Wechsel der grundlegenden Annahmen einleiten: unsere Erkennt-
nis könne sich nicht länger (unreflektiert bloß) nach den Gegenständen richten, sondern
umgekehrt, die Gegenstände müssten sich (auch) nach unserer Erkenntnis richten. Die
Einfügungen in Klammern sind wichtig, weil auch Kopernikus nicht behauptete, dass
alle Bewegungen der Himmelskörper Scheinbewegungen seien. Entsprechend behaup-
tete „auch Kant nicht, alle Eigenschaften der Gegenstände der Erfahrung ließen sich
auf unsere Auffassungsart zurückführen“ (Patzig, 1982, S. 16). Die Hintertür bzw. eine
Brücke hinüber zur Welt der ,Dinge an sich‘ baute sich Kant mit dem Satz, „es sei unge-
reimt, anzunehmen, daß ,Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint‘ …“ (S. 17).
Jedoch finden wir Menschen uns stets in einer Welt bloßer Erscheinungen vor. Dass wir
diese Welt dennoch „so gut, geradezu durch und durch erkennen können, liegt für Kant
nur daran, daß wir sie nach den Prinzipien unseres Erkenntnisvermögens selbst aufge-
baut haben“ (S. 17). Diese Grundidee wurde dann vom Konstruktivismus radikalisert,
z.B. von Ernst von Glasersfeld, aber auch in Gerhard Roths erkenntnistheoretischem
Konstruktivismus (vgl. dazu Langer, 2007, S. 155-158).
Andererseits wollte der Antirepräsentationalist Rorty die auf Kant zurückgehende
transzendentale Wende sowie die Unterscheidung zwischen Erscheinung und ‚Ding an
sich‘ (Sosein der bewusstseinsunabhängigen Welt) vermeiden, um durch die strikte Hin-
wendung zum ‚linguistic turn‘ sowie zur Unterscheidung zwischen mehr oder weniger
nutzbringenden Beschreibungen der Welt und dem Beschreiber weder eine Lücke mehr
zwischen Objekt und Subjekt noch Wahrheitsansprüche entstehen zu lassen (vgl. Rorty,
2000).
Will man den ‚linguistic-turn‘ im Sinne eines Anti-Realismus nicht überstrapazie-
ren und insofern nicht auf Wahrheit und Erfahrung verzichten, wie es dagegen Rorty tat,
dann muss man aber auch nicht in Kants Unterscheidung von ‚Erscheinung‘ und ‚Ding
an sich‘ zurückfallen. Kants Dualismus, der eine Lücke zwischen Subjekt und Objekt
entstehen lässt, kann dadurch vermieden werden, dass man die mehr objekt-betonte Un-
terscheidung von ‚Erscheinung und Ding an sich‘ durch die nunmehr subjekt-betonte
Unterscheidung von ‚Erklärer und Erklärung‘ ersetzt, ohne damit zugleich in Roths
Konstruktivismus geraten zu müssen, und ohne eine Erklärung der Wirklichkeit zu ver-
absolutieren, indem man sie mit der von uns unabhängigen Realität gleichsetzt. Der Er-
klärer ist dabei ein Subjekt im Sinne einer Leib-Seele-Einheit und eine Erklärung ist
eine sprachlich ausgedrückte Hypothese über ‚etwas in der Welt‘, die entweder objektiv
falsch oder nicht falsch sein kann. Wenn sie nicht falsch ist, dann kann man nicht sagen,
dass sie sicher wahr ist, vielmehr hat sie sich bewährt und ist somit auch nützlich. Er-
kenntnis ist so gesehen die isomorphe Zuordnung einer Erklärung zu Aspekten der rea-
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 9
len Welt. Und Wissen ist dann eine unwiderlegte, wahre, gerechtfertigte Überzeugung,
die zwar auf guten Gründen basiert, aber keinen unbedingten Gewissheitsanspruch er-
heben kann. Denn Vernunft kann nicht sagen, was eindeutig und für alle Ewigkeit die
guten Gründe sind, weil zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen werden kann, dass sie
später durch neue Evidenzen nicht doch noch revidierbar sind. Die Stichhaltigkeit der
neuen Gründe könnte im Lichte der erneuten kritischen Diskussion dann einfach über-
zeugender sein. Von daher hat nach Hans Albert jedes Wissen hypothetischen Charakter.
Es kann wahr sein, aber wir wissen nicht, ob es sicher wahr ist. Wir können zwar Wahr-
heit erreichen, aber keine Gewissheit.
Wird nun das Subjekt bzw. der Wille des Subjekts selber noch dazu zum Objekt der
Erkenntnis, dann nehmen die Schwierigkeiten noch einmal zu, weil Vernunft bzw. das
Subjekt alles erklären können, nur nicht sich selbst, denn dabei werden sie stets vor-
ausgesetzt bzw. immer schon in Anspruch genommen. An dieser Stelle können wir den
berühmten Satz von Wilhelm Dilthey (1833-1911) erörtern, nämlich ‚das Seelenleben
verstehen wir, die Natur erklären wir‘, der oftmals zu vielen Missverständnissen führte.
Der größte Fehler besteht in der Deutung, dass Pädagogik nur als hermeneutische Dis-
ziplin im Sinne einer Geisteswissenschaft zu betreiben ist, keineswegs aber als eine em-
pirische Wissenschaft. Auch die strikte Trennung in unterschiedliche Methoden hatte
Dilthey damit nicht gemeint, sondern eben nur den speziellen Zugang zum eigenen Ich
bzw. Subjekt über die verstehende Selbstreflexion. Anschaulich lässt sich das bisher Ge-
sagte nunmehr in Abbildung 2 darstellen:
Geht man auf ontologischer Ebene von einem Leib-Seele-Dualismus (Popper) aus, oder
auch nur von getrennt auftretenden neuronalen (N)- und mentalen (M)-Vorgängen, dann
mag es so erscheinen, als ob die (M) kausal ohne Bedeutung bzw. nur eine Begleiter-
scheinung (epiphänomenal) wären, also dass Einwirkungen nur aus dem körperlich-
neuronalen (N) in den mentalen Bereich (M) zugelassen werden, aber nicht umgekehrt.
10 Allgemeiner Teil
Der sogenannte Epiphänomenalismus (Huxley) stellt aus meiner Sicht jedoch – wie
auch der eliminative Materialismus (Rorty) oder der (nicht-)reduktive Physikalismus
(Roth) – keine brauchbare Lösung des Körper-Geist-Problems dar, insbesondere wenn
ein Substanz-Dualismus zwischen (N) und (M) oder gar immaterielle (M) zugrunde lie-
gen, (M) gar nicht mehr vorkommen oder beide gleichgesetzt werden.
Für eine pädagogische Theorie des Willens scheint die Doppelaspekt-Theorie des
Geistes (Nagel) aussichtsreicher zu sein. Wie schon Kant und Fichte in ihren Ansät-
zen geht auch Nagel lediglich von einem Perspektiven-, nicht aber von einem Subs-
tanz-Dualismus aus. Diese Theorie besagt, dass beispielsweise mein Überlegen, wel-
ches die Willensbildung begleitet, in meinem „Gehirn einen Zustand oder Vorgang mit
zwei Aspekten hervorruft: einem physikalischen Aspekt, der die vielfältigen chemi-
schen und elektrischen Reaktionen einschließt, und einem psychischen Aspekt“ (Na-
gel, 2005, S. 30-31) – der die kognitive Zugänglichkeit für Gründe aufgrund eigener
Einsicht ebenso umfasst wie die Leistungen des phänomenalen Bewusstseins, die da-
durch zum Ausdruck kommen, dass jemand etwas fühlt und aus tiefstem Herzen nor-
men-, sach- bzw. tatsachengerecht und somit vernünftig handeln will. Handlungen las-
sen keine sicheren Voraussagen zu, was mit der Doppelaspekt-Theorie des Geistes ein-
leuchtend erklärbar ist (vgl. Langer, 2009, S. 61-77). Der körperlich-neuronale Aspekt
bezieht sich auf biophysikalische Zustände der Sinnesorgane bis hin zu jenen der Ner-
venzellen im Gehirn (so genannte Neurone, kurz N), aber der neuronal-mentale Aspekt
des Bewusstseins, der z.B. für eine Umentscheidung wichtig ist, verweist nicht nur auf
andere physikalische Zustände (M), die sich auf (N) vollständig reduzieren lassen, son-
dern auf mentale Fähigkeiten im Sinne von (N-M), die neuronal realisiert sind, aber
geistige Eigenschaften haben, die (noch?) nicht physikalisch erklärbar, jedoch sicher-
lich kulturell bedingt sind.
Einen tatsächlich eine Handlung hervorbringenden Grund kann man auch hand-
lungswirksamen Grund nennen. Solche Gründe können z.B. Affekte, Bedürfnisse,
Wünsche, Absichten, Einstellungen oder Überzeugungen sein, aber auch Aufforderun-
gen oder Reize aus der Umwelt. Wie aber Gründe zu naturalisierten Ursachen werden,
ist bislang noch das zentrale Problem der Willensfreiheit (vgl. 3.2).
Zudem wissen wir nicht, wie der freie Wille zu Stande kommt und wie er ein Bünd-
nis mit der Vernunft eingeht, wie die semantische Dekodierung im Gehirn abläuft, wel-
chen Ursachen wir unsere Mentalität verdanken und welche unsere Handlungen ha-
ben, wenn man hier überhaupt von Verursachung sprechen kann (vgl. Ros, 2008). Da
der Kausalbegriff zunehmend differenzierter betrachtet wird, können wir den Glauben
aufgeben, dass nur physische Eigenschaften (N) Ursachen sein können. Das Prinzip ei-
ner Ereigniskausalität ist auch auf mentale Eigenschaften anzuwenden. Insofern kön-
nen auch (N-M) sowohl Grund als auch Ursache einer Entscheidung oder Handlung
sein, wenngleich das strenge Kausal-Prinzip, dass jedes Ereignis eine Ursache hat und
die gleiche Ursache stets die gleiche Wirkung hervorruft, nicht zutrifft, weil ein und
derselbe Grund nicht immer die entsprechende Entscheidung oder Handlung streng no-
mologisch bewirkt. So gesehen ist jede Handlung, die wir wählen oder nach einer mög-
lichst viele Gründe abwägenden Überlegung beschließen, zwar von vielen Faktoren be-
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 11
dingt, aber nicht prädeterminiert. Entscheidend ist also nicht, ob sie bedingt ist, sondern
wie sie es ist. Und dabei spielt unser geistiger Wille eine zentrale Rolle, denn seine Ei-
gengesetzlichkeiten können gelernt und durch die Willenserziehung handelnd vermit-
telt werden.
Wilhelm Kamlah (1905-1976) legte die Entlassung des Willens aus dem Begriffsre-
pertoire der Anthropologie nahe und setzte stattdessen im Rückbezug auf antikes Den-
ken den Terminus Entschluss (vgl. 1973, S. 69). Damit zeigt sich die Problematik von
Freiheit, Wille und Vernunft aus einer ganz anderen Perspektive. Denn der Wille steht
nun für den „Entschluß, gemäß dem Erwogenen zu handeln. Vernünftigkeitserwartun-
gen oder eine Verpflichtung zum vernünftigen Handeln knüpfen sich entsprechend an
Erwägung und Beratung, nicht an das vermittelnde Wollen. Dieses ist ein vernünftiges
Wollen darum auch nur dann, wenn es sich auf vernünftige Erwägungen und Beratun-
gen zu stützen vermag, bzw. den Entschluß darstellt, nach diesen zu handeln“ (Mittel-
straß, 1987, S. 35).
,Wollen‘ kann insofern als entschlossen sein gedeutet werden und der ,Wille‘ meint
entsprechend Entschlossenheit oder Entschlussfähigkeit. Das Reizwort ,Willensfreiheit‘
bedeutet folglich sowohl ungehinderte Entschlussfähigkeit als auch Zugänglichkeit für
Gründe (vgl. 3.2), die zwar neuronal bedingt sind, aber auch kulturell, weil sie immer
schon in einem normativen Kontext zu Stande kommen, indem sich Menschen von frü-
hester Kindheit in Sprachspielen die Spielarten des Willens gegenseitig zuschreiben.
Insofern gibt es schon einen vernünftigen, törichten und unvernünftigen Willen, näm-
lich wenn man sich für gute, weniger gute oder ausgesprochen schlechte Gründe ent-
schließt, aber auch einen freien und unfreien Willen. Der Letzte bedeutet, dass der Ent-
schluss gegen die eigenen Ein-, An- und Absichten aufgezwungen wurde. Und was den
freien betrifft, schon in Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814) Gehirntheorie verhindert
das Nervensystem nicht den freien Willen, sondern ermöglicht ihn allererst im Sinne
der Selbsttätigkeit. Wie auch Kant gingen Fichte und Herbart von der Bildsamkeit des
Menschen aus. Bildsamkeit meint dabei weder eine vorgegebene Bestimmtheit des He-
ranwachsenden durch dessen Anlagen noch durch das gesellschaftliche Umfeld, son-
dern das ,Bestimmtsein des Menschen zu produktiver Freiheit, Geschichtlichkeit und
Sprache‘ (Benner, 1991, S. 56).
Das pädagogische Handlungsproblem sieht Dietrich Benner insbesondere in Anleh-
nung an Fichte und Herbart grundsätzlich darin, (a) die Bildsamkeit des Zu-Erziehen-
den durch (b) Überführung gesellschaftlicher in pädagogische Determination so zu för-
dern, dass (c) zur Selbsttätigkeit ausdrücklich aufgefordert wird, wobei (d) eine nicht-
hierarchische Gesamtpraxis menschlicher Handlungsfelder (Arbeit, Religion, Ethik,
Politik, Pädagogik und Kunst) postuliert wird. (a) und (c) beinhalten individuelle, (b)
12 Allgemeiner Teil
und (d) gesellschaftliche Faktoren. Die ersten beiden stellen konstitutive, die letzten
beiden regulative Prinzipien des pädagogischen Handelns dar. Fragen zu (b) und (c)
ordnet Benner einer Theorie der Erziehung zu, jene von (a) und (d) gehören zu einer
Theorie der Bildung.
Niklas Luhmann (1927-1998) brachte zudem die Theorie der Sozialisation ins Spiel.
Jedoch „hat Erziehung den wichtigen Vorteil (gegenüber der Sozialisation, D. L.), Re-
sultate zu suchen und auch erreichen zu können, die man in anderen Systemen (bzw. in
den Handlungsfeldern von (d), D. L.) brauchen kann“ (2004, S. 117). Hier liegt nun der
Anknüpfungspunkt für Willenserziehung als „Absichtsvolle Kommunikation“ (S. 118)
im Sinne einer intendierten Vermittlung und für Willensbildung im Sinne sozialisie-
render Aneignung. Dabei liegt das Ziel pädagogischer Kommunikation letztlich in der
Ermöglichung (= Vermittlung und Aneignung) einer vernünftigen Selbstbestimmung
(vgl. 1), die in der Gesamtpraxis bzw. in allen gesellschaftlichen Systemen (Recht, Wirt-
schaft etc.) zur Anwendung kommen soll. „Dass die pädagogische Kommunikation kei-
nen Zugriff auf das Bewusstsein ihrer Adressaten hat, wird … dadurch kompensiert,
dass sie in der Lage ist, zwischen Vermitteln (= Operation des sozialen Systems: Erzie-
hung, D. L.) … und Aneignen (= Operation des psychischen Systems: Kind, D. L.) …
zu unterscheiden und sich entsprechend zukunftsoffen beobachten zu können“ (Kade,
2004, S. 209), wobei die Vermittlung nicht technologisch aufzufassen ist, sondern als
Anregung in einer pädagogischen Atmosphäre (Bollnow).
Willenserziehung kann in allen erzieherischen Handlungsbereichen vorkommen,
wie z.B. in der Verkehrs-, Sexual- oder Spielerziehung (vgl. zur Sexualerziehung als
Willenserziehung bei Langer, 2009, S. 191-199). Immer geht es jeweils zwar um die
Vermittlung konkreter Handlungsdispositionen, wie z.B. richtig spielen können, aber
stets auch um die Vermittlung des freien und des vernünftigen Willens. Während also
Verkehrserziehung (vgl. dazu Benner, 1991, S. 87-91) – und das gilt analog für alle an-
deren Erziehungsbereiche – nicht die Erziehung des Verkehrs meint, denkt man mit
Willenserziehung schon an die Erziehung des Willens – und zwar zur und durch Ver-
nunft bzw. Freiheit, zuweilen auch an seine Umerziehung bzw. Umwandlung. Und da-
mit kommen wir auf das in Abschnitt 2 erwähnte Beispiel zurück.
Es gibt vier Möglichkeiten, damit das Mädchen die Tätowierung nicht machen lässt
und dass Vernunft somit zur Anwendung kommt. Es kann überzeugt, überredet oder
gezwungen werden, sein Vorhaben nicht zu tun, oder die Unterlassung könnte aus Zu-
fall geschehen, z.B. wenn es seine Absicht einfach vergisst. Aber nur im ersten Fall
kann man ernsthaft sagen, dass das Mädchen selber vernünftig wird oder zur Vernunft
kommt, weil der Verzicht aus eigener Einsicht geschieht. Nur wenn es überzeugt wer-
den kann, vollzieht sich in ihm etwas, das einen unvernünftigen in einen vernünftigen
Willen umwandelt, wodurch eine neue Absicht entsteht, die als begründeter als die ur-
sprüngliche angesehen werden kann (vgl. 2).
Im Falle einer bloßen Überredung unterlässt das Mädchen die vorgenommene un-
vernünftige Handlung zwar auch, aber nur weil es z.B. als Gegenleistung dafür einen
anderen Wunsch erfüllt bekommt, oder weil es aus einem anderen Grund auf die Täto-
wierung verzichtet, sei es z.B. aus Angst vor den Schmerzen oder aus Kostengründen.
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 13
Dadurch muss sich aber keine Wandlung der ursprünglichen Absicht ereignen, viel-
mehr kann sie weiterhin latent vorhanden sein. Durch Zwang kann die Unterlassung
der Tätowierung auch erreicht werden, ob aber mit der rigorosen Beschränkung des
Handlungsspielraums, also durch striktes Verbot, jemand zur Vernunft gebracht werden
kann, ist sehr fraglich. Und auf den reinen Zufall kann eine Erziehung zur Vernunft si-
cherlich auch nicht bauen. Einen vernünftigen Willen kann sie in diesen letzten beiden
Fällen kaum erzeugen, vielmehr hoffen engagierte Erzieher, ihn auf den ersten zwei
Wegen, wie z.B. ‚anhand guter Argumente‘ oder durch ‚gutes Zureden‘ zu entbinden
oder wieder zu erwecken. Andernfalls verlöre der Appell ‚Sei doch vernünftig‘ und die
‚Mahnung zur Vernunft‘ jeden Sinn. „Bezogen auf die außerhalb der Kommunikation
stattfindende individuelle Aneignung kann die pädagogische Kommunikation nur da-
rauf vertrauen, dass sie stattfindet“ (Kade, 2004, S. 208).
Zwar hat Vernunft in allen vier Fällen mehr oder weniger Chancen, zur Anwendung
zu kommen. Aber nur im ersten Fall können wir aus pädagogischer Sicht die berech-
tigte Hoffnung hegen, dass es selber tatsächlich einmal vernünftig geworden ist. Bleibt
nur zu fragen – wie? Die Antwort lautet: durch eine Umwandlung seines Willens, wel-
che aber noch keine Garantie für das ,Vernünftig-Sein‘ des Mädchens ist, weil es hierfür
zukünftig die Wandlung des Willens selber stets leisten können müsste. Für die einma-
lige Umwandlung sollte das Mädchen dazu gebracht werden, an vernünftigen Gedan-
ken teilzuhaben, indem Argumente gesammelt und Vor- und Nachteile abgewogen wer-
den, wozu bestimmte Sprach- und Erkenntniskompetenzen nötig sind. Dabei ist zu be-
achten, dass auch gute Gründe für eine Entscheidung nicht kausal hinreichend sind für
ein Erzwingen dieser Entscheidung, und dass die Entscheidung selbst nicht kausal hin-
reichend ist für das Erzwingen einer Handlung bzw. Unterlassung (vgl. 3.4) Trotz ein-
leuchtender Gründe gegen eine Tätowierung könnte es dennoch gewillt sein, die beab-
sichtigte Handlung zu realisieren, bloß weil z.B. seine Freundinnen auch tätowiert sind,
also aus Gruppenzwängen.
Damit das vernünftige Denken in eine vernünftige Handlung mündet, müsste das
Mädchen in der Lage sein, autonom bzw. unabhängig seine Absichten bilden zu kön-
nen, also nicht so sein zu wollen wie die anderen Mädchen oder wie die von ihm verehr-
ten ,Stars‘. Es sollte zugänglich für andere Gründe sein und die Verlockungen aus der
Umwelt abwehren und zudem seine Wünsche und Begierde zügeln können. Aber auch
wenn es dazu in der Lage wäre, könnte es trotzdem nach wie vor an seinem Entschluss
festhalten wollen, sei es aus unbewussten Motiven, wie z.B. Kreativität, Neugierde, Ei-
gensinn, Angeberei oder aus bewussten, wie z.B. Lebensfreude oder Langeweile. Ein
dezisionistischer Rest bleibt bei jedem Entschluss bestehen.
Damit eine Umwandlung seines unvernünftigen Willens stattfindet, müsste das
Mädchen die einleuchtenden Gründe nicht nur akzeptieren, sondern sie auch zu eige-
nen Handlungsmotiven machen wollen, worin gerade die Schwierigkeit liegt. Soll es die
guten Gründe selber als Motive des Handelns heranziehen, so braucht es hierfür einen
vernünftigen Willen, der aber erst zu vermitteln ist. Mit dem guten Willen kann man die-
ses Problem überbrücken. Denn mit diesem Willen kommt der Zu-Erziehende zur Ver-
nunftanwendung, ohne dass der gute Wille schon frei oder vernünftig sein muss. Dies
14 Allgemeiner Teil
ist z.B. der Fall, wenn das Mädchen sich etwa der Mutter zuliebe für die guten Gründe
entscheidet und sich nicht tätowieren lässt. Aber erst ein guter und freier Wille ist ein
vernünftiger Entschluss. Anderseits ist jeder vernünftige Wille ein freier Entschluss,
aber nicht umgekehrt, denn ungehinderte Entschlossenheit ist nicht immer Ausdruck ei-
nes vernünftigen Willens, sondern zuweilen eines unvernünftigen und manchmal sogar
eines bösen Willens.
Erziehung des Willens durch Vernunft übt, fördert und entfaltet die Entschlussfähig-
keit für gute Gründe eben durch normen- und sachgerechtes Handeln. Wenn man z.B.
aus Überzeugung richtig spielt oder seine Hausaufgaben macht, dann hat man sich gute
Gründe angeeignet. Als Erziehung zur Vernunft vermittelt sie den vernünftigen Wil-
len in Sprachspielen, entbindet ihn (wieder) in Gesprächen oder verwandelt einen un-
vernünftigen bzw. bösen Willen ins Gegenteil. Erziehung durch Vernunft hofft sozusa-
gen auf die sozialisierende Aneignung von Vernunftprinzipien, wie z.B. Wahrheit oder
Richtigkeit. Dabei stehen die beiden für die Aneignung so entscheidenden Lernprozesse
(willensfrei werden und zur Vernunft kommen) in einem sich wechselseitig bedingen-
den Verhältnis, was besagt, dass man einerseits vernünftiger wird durch mehr Willens-
freiheit und anderseits willensfreier durch mehr Vernunftanwendung. Vernünftiges Den-
ken macht unabhängiger von drängenden Bedürfnissen und Illusionen, weil es mehr
Alternativen zur Lösung von Konfliktsituationen aufzeigen kann, und umgekehrt er-
leichtert und verbessert diese Unabhängigkeit wiederum den Zugang zum vernünftigen
Denken und Handeln. Deshalb kann man nicht nur zur Vernunft bzw. Freiheit, sondern
auch durch die beiden erzogen werden.
Richtet der Zu-Erziehende sich nach einleuchtenden Gründen und setzt sie in die
Tat um, hat er sich also entsprechende Fähigkeiten angeeignet, so kann man ihm die ge-
nannten Spielarten des Willens zuschreiben, andernfalls kommt Willenserziehung als
Vermittlung erneut und verstärkt auf den Plan. Jedoch ist sie als diskursive Kommu-
nikation nicht möglich. Denn gelingt ein solcher symmetrische Dialog, so bedarf es
gar keiner Erziehung mehr. Eher kommen asymmetrische Sprachspiele in Frage, wie
z.B. Tadel. Zu-Erziehende sollen jedoch auch dabei in contrafaktischer Manier als au-
tonom handelnde und zur Vernunft fähige Wesen angesprochen werden, um ihre ‚ratio-
nale Motivation‘ (vgl. Patzig, 1996) bzw. Personalität herauszufordern und zu fördern.
Und dazu gehören auch „moralische Emotionen“, wie z.B. „Scham, Schuld, Gewis-
sensbisse und Bedauern“ (Wollheim, 2001, S. 181). Der Erzieher sollte jedoch nur mit
gerechtfertigten Vorwürfen und vor allem sparsam damit umgehen sowie stets bemüht
sein, so zu handeln, dass die Edukanden (a) sich ernst genommen fühlen, (b) sich als
Partner anerkannt fühlen, (c) dem Pädagogen vertrauen können und (d) ihn als glaub-
würdig in seiner Fürsorge um sie einschätzen können. Allerdings sind die Bedingungen
(a) bis (d) nur notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen dafür, dass der Zu-
Erziehende seine Vernunft zum guten Gebrauch der Freiheit überhaupt einsetzt, zumal
auch die Aporien der Vernunft, also die Begründungs-, Anwendungs-, Motivations- und
Institutionsaporie (vgl. Wieland, 1989), ständig eine Belastung für die Aneignung der
Spielarten des Willens darstellen, sie aber ebenso wenig verunmöglichen wie die gesell-
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 15
5. Resümee
rig auseinander zuhalten. Oft ist es unklar, ob man nur überredet oder schon Überzeu-
gungsarbeit leistet.
Der Erziehung zur Mündigkeit liegt eine Vorstellung von Bildsamkeit zugrunde, die
sich so beschreiben lässt: der Mensch ist weder durch Anlagen noch durch das gesell-
schaftliche Milieu vorherbestimmt; was ihn im Kern als Person bzw. Subjekt ausmacht,
hängt von drei Faktoren ab, von der Erbanlage, von der Umwelt, in der man aufwächst,
und von dem, was man mehr oder weniger willensfrei aus seinem Erbe und seiner Um-
gebung aufgrund (ir)rationaler Entschlüsse selbsttätig gemacht hat. Dabei können wir
ruhig auf die Unfreiheitslehre einiger Hirnforscher, aber auch auf Kants transzendentale
Freiheitslehre in der Pädagogik verzichten, ohne auf die Erziehung des Willens zur und
durch Vernunft bzw. Freiheit, also ohne auf die Vermittlung des freien und des vernünf-
tigen Willens, verzichten zu müssen.
Dass dies so ist und somit kein Trugbild darstellt, konnte im vorliegenden Beitrag
konkret entfaltet und allgemein begründet werden, indem wesentliche Grundlagen die-
ses Menschenbildes erörtert wurden: die rationale Klärung metaphysischer Vorausset-
zungen rechtfertigt die Annahme der Willensfreiheit aufgrund eines epistemischen In-
determinismus; der kritische Realismus erweist sich als Möglichkeit, um zu wahren,
gerechtfertigten und unwiderlegten Überzeugungen sowie zum Nachweis der Nicht-
Richtigkeit von Gründen zu kommen, die man als schlechte Gründe jemandem, der aus
diesen Gründen handeln will, zum Vorwurf machen kann. Und schließlich bietet sich
die Doppelaspekt-Theorie des Geistes als Angebot auf dem Markt der Lösungsversu-
che der Körper-Geist-Problematik an, mit der man den Willen als psychisch-physisches
Phänomen erschließen, als neuro-mentales Ereignis verständlich machen und plausibel
begründen kann. Sie ist aber nur das aus meiner Sicht beste Angebot, keineswegs eine
endgültige Lösung, denn sie bringt nur zwei Aspekte zur Sprache, nicht aber das Dritte
(=Geist bzw. Wille an sich), wovon sie Aspekte sind. Insofern kann der geistige Wille
als physisch-psychisches System des Kindes im Sinne neuro-mentaler Phänomene
(Denken, Fühlen, Wollen) auch gar nicht die der pädagogischen Kommunikation zu-
gängliche Adresse sein, vielmehr ist es der Wille des Kindes als soziales Konstrukt, das
Fähigkeiten (Überlegungs- und Entschlussfähigkeiten) beschreibt, und das Kinder von
Erziehern zugeschrieben bekommen, wenn sie dementsprechend etwas tun oder lassen.
Diese Konstruktion ermöglicht es Erziehern, daran zu glauben, sie könnten Kinder er-
ziehen, indem sie Sprach-, Erkenntnis- und Entschlussfähigkeiten vermitteln. Dieser
Glaube beinhaltet auch jenen an die Verbesserungsfähigkeit der jeweils praktizierten Er-
ziehung. Beide sind im Alltag unentbehrlich, zumal das, was sich Erzieher vornehmen,
also die direkte Vermittlung, ja eigentlich unmöglich ist (Luhmann). Praktisch möglich
ist bei Kindern lediglich die selbsttätige Aneignung dieser Fähigkeiten, die zwar nicht
ganz verhindert, aber doch erheblich verkümmern würde und vor allem dem Einfluss
von anderen Sozialisations-Agenten überlassen bliebe, wenn Erziehern ihr Glaube ab-
handen käme und sie mit dem Erziehen völlig aufhörten. So wie der Glaube an Gott dem
religiösen Menschen Mut macht, und dem Wissenschaftler der Glaube an Erkenntnis-
fortschritte weiter hilft, so braucht der Erzieher seinen Glauben, zwar nicht an die Wirk-
samkeit der Vermittlung, das ist nur ein Aberglaube, sondern an die Auslöserfunktion
Langer: Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung 17
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1. Einleitung
Die Frage nach dem ‚Ursprung‘ dessen, was heute als ‚moderne Pädagogik‘ bezeichnet
werden kann, wird in deutschsprachigen pädagogischen Übersichts- und Einführungs-
werken häufig folgendermaßen beantwortet: Die moderne Pädagogik sei auf human-
philosophische Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert zurückzuführen, sie werde
neuzeitlich anthropologisiert, die Frage nach dem Menschen bilde von nun an ihre Le-
gitimation wie Ausrichtung. Und diese Frage nach dem Menschen wiederum sei von
aufklärerischen Philosophien initiiert wie beantwortbar.1
Mit dieser generellen Diagnose korrespondieren dann auch all die weiteren Dimen-
sionen, die historiographisch darum herum gruppiert werden, sei es die ‚Entdeckung
des Kindes‘ und die Berufung auf Natur/Natürlichkeit, sei es die anthropologisch un-
termauerte Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen und die Utopie einer Revitali-
sierung usw.
Diesem breiten Erklärungsstrom werden andere Entwicklungen bestenfalls beige-
fügt, so etwa die aufkommenden Praxis-Professionsdiskurse, die breite literarische Er-
örterung von Erziehungsfragen oder die ‚Erziehungsinstitution Familie‘. Eine auffällige
Lücke ist hinsichtlich der soziokulturellen und -politischen Bedingungsgefüge zu er-
kennen, insofern nämlich, als diese nicht nur in human-anthropologischer Perspektive
und gewissermaßen nachträglich, oftmalig unter Bezugnahme auf auserwählte Philoso-
phien/philosophische und pädagogische Größen thematisiert, sondern als Modernisie-
1 Vgl. als Exempel für Einführungs-/Übersichtswerke, die in diese Richtung gehen, Musolff
und Hellekamps (2006), Gudjons (2001), Breinbauer (2000).
rungsprimat verstanden werden können. Was die Pädagogik modernisiert, wären dem-
zufolge nicht ‚große Pädagogen‘, die soziale Prozesse allenfalls (mit-)besprechen, son-
dern profane soziale Prozesse als solche.
Ganz grundsätzlich ist hierbei an folgende zwei Aspekte zu denken:
Diese Aspekte sollen nachfolgend in den Mittelpunkt gerückt sein bei der Behandlung
der Frage, was Grundlagen moderner Pädagogik sind. Dazu werden zwei historische
Entwicklungen rekonstruiert, denen gemeinsam ist, dass
Diesen Leitfragen liegt folgende These zugrunde: Der Prozess der ‚Metrisierung‘, ver-
standen als wissenschaftliche Objektivierung, fließt auch in pädagogische Überlegun-
gen mit ein, wie gleichzeitig durch pädagogische Maßnahmen die Bedingungen für eine
Metrisierung – die im Sinne einer „technischen und wissenschaftlichen Aneignung der
Welt“ Teil des Modernisierungsprozesses ist (Sandl, 2006, S. 332) – überhaupt erst ge-
schaffen werden. Was heute als moderne Pädagogik zu bezeichnen ist, ist nicht zuletzt
aus diesem Gefüge heraus zu verstehen.
Dieser These widmen wir uns in zwei eigenständigen Teilen. In einem ersten Teil
wird einer Linie nachgegangen, die sich ab dem 17. Jahrhundert rund um die so ge-
nannten neuen Wissenschaften entwickelt. Beginnend mit der Bedeutung von ‚Öffent-
lichkeit‘ in diesem Kontext, rücken im Anschluss daran die pädagogischen Konzepte,
wie sie im Umfeld der neuen Wissenschaften entstehen, in den Mittelpunkt. Die Quel-
lenauswahl orientiert sich durchaus an einer ‚klassischen‘ Geschichtsschreibung, wenn
z.B. mit Francis Bacon, John Locke und Etiennne Bonnot de Condillac ‚große Namen‘
in der Analyse stehen. Dabei soll aber nicht eine anglo-französische ‚Heldengeschichte‘
geschrieben werden. Interessant daran – und durchaus im Gegensatz zu herkömmlichen
Erzählungen in ihrer national gebundenen Betrachtung – ist vielmehr die Internatio-
nalität und Intersubjektivität der Auseinandersetzungen, bei denen zudem die ‚großen
Namen‘ nicht nur pädagogischerseits tradiert werden, sondern in vielen verschiedenen
Kontexten und Wissenschaftsfeldern Wirkkraft entfalten.
Die neuen Wissenschaften und ihre Implikationen werden in einem zweiten Teil an-
hand der Standardisierung des Messwesens eigenständig vertieft. Bei den Diskursen zur
Einführung des Metermaßes wird das Konzept der Öffentlichkeit anhand der drei Mo-
dernisierungsaspekte Wissenschaft, Politik und Ökonomie untersucht, um danach auf
die Rolle von pädagogischen Überlegungen in diesem Gefüge einzugehen.
Das Konzept der Metrisierung, wie es Gegenstand der vorliegenden historisch-kon-
textuellen Rekonstruktion ist, stellt also die Verbindung von zwei Forschungsinteressen
dar: einerseits, wie „Pädagogik im Umfeld moderner Wissenschaft“ modernisiert wird
(Osterwalder, 1999; vgl. weiter Keller, 2005) und andererseits, wie mittels Standardisie-
rungen pädagogisch modernisierend ‚Normalität‘ produziert wird (Link, 1997).
Die spezifische Art der öffentlichen Ausrichtung ist bei allem kein ‚Gefälligkeitsdienst‘
an der Öffentlichkeit; vielmehr sind es zwei wesentliche Paradigmen der neuen Wis-
senschaften, die eine solche folgerichtig werden lassen. Dies lässt sich bereits an einem
historischen ‚Zulieferdiskurs‘ der Royal Society zeigen, wie er sich rund um die Vor-
stellungen von Francis Bacon konstituiert. Bacon, der mit seinem „Nova Atlantis“ 1627
eine Wissenschaftsutopie vorgelegt hatte, die für die Geschichte der Wissenschaft, ins-
besondere im angelsächsischen Raum, enorme Bedeutung hatte, steht Pate für einen
sich im London der 1640er-Jahre formierenden Zirkel, welcher „als Keimzelle der spä-
teren Royal Society angesehen wird“ (Krohn, 2006, S. 190). Dieses Londoner Forum
2 Für eine wichtige Differenzierung der Gegensätze ‚alt‘ und ‚neu‘ in diesem Kontext vgl.
Seubold und Koll (2008, S. 35-36).
Binder/Boser: Die Metrisierung der Pädagogik und die Pädagogisierung des Meters 23
folgt bereits lose einer Methodik, die in der Royal Society dann paradigmatisch wird:
In sukzessiv verfahrenden und geordneten Forschungsschritten sollen die Erkenntnisse
zutage gefördert werden. ‚Realitäten‘ und ‚Wahrheiten‘ sollen das Ergebnis von regel-
mäßigen Beobachtungen und nicht mehr von logischen Deduktionen von Begriffen und
Prinzipien sein. Nicht die ewigen Prinzipien, die formalen Sätze über letzte Gründe aus
der Antike, sondern Experiment und regelmäßige Beobachtung, die materielle und be-
schränkt wirkende Ursachen betrifft, soll nunmehr den Fortschritt bestimmen.
Was bei Bacon selbst noch weitenteils als Philosophieren über Wissenschaft daher-
kommt, wird in der Royal Society endgültig zum institutionalisierten geregelten Ver-
fahren und also vorgeblich methodisch korrekten wissenschaftlichen Erzeugen von Er-
kenntnis. Und dieses Erzeugen von sowohl sicheren als auch unsicheren Sätzen geht
arbeitsteilig vor sich.
Damit ist eine erste Art von Öffentlichkeit im Spiel, wenn sich Wissenschaftler
nun in ‚öffentlichen‘ Versammlungen auszutauschen haben, weil ein hier veranschlag-
tes „Advancement of Learning“ (Bacon, 1605/1975) voraussetzt, dass in ‚öffentlichen‘
Treffen die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse präsentieren und diskutieren, bisherige
Erkenntnisse in neuerlichen Experimenten prüfen und weiterentwickeln und also neues,
gesicherteres Wissen produzieren. Bei der neuen Wissenschaft hängt sonach alles von
der richtigen Verfahrensweise ab. Die Natur wird hier vorgängig als ein quantifizierba-
rer, relationaler Zusammenhang gesehen, was mit der Erforschung ebendieser in me-
thodisch veranstalteten Versuchsreihen korrespondiert, welche nur in quantifizierba-
rem, relationalem und transparentem Austausch (semi-)öffentlicher Art vonstatten ge-
hen kann (vgl. Sprat, 1667/1958, speziell „The First Part“).
Die Erzeugung von formalisiertem, gleichförmigem Wissen funktioniert bereits bei
Bacons philosophischem Programm (vgl. Bacon, 1620/1962) und erst recht später in der
Royal Society als ein sozialer Akt: als eine frühe soziale Konstruktion (vgl. vertiefend
Detel, 2002). Der wissenschaftliche Prozess des Metrisierens als ein Prozess der Objek-
tivierung und Systematisierung, d.h. der Gewinnung gemeinsamer intersubjektiver Re-
sultate, ist ein solcher der diskursiven Verständigung. Die Gemeinsamkeit der Urteile
ergibt sich nicht von selbst durch kommunikationsfreie Wahrnehmungen, sondern wird
im sozial-öffentlichen Austausch hergestellt.
Eine zweite Art der öffentlichen Ausrichtung offenbart sich – ebenso bereits bei Ba-
con – noch unbedingter. Es handelt sich um die allgemeine Nutzausrichtung der moder-
nen Wissenschaften: deren Funktion als materielle „nützliche Prinzipienwissenschaft“
(Krohn, 2006, S. 82). Die Prämisse dabei ist, „je mehr Erfahrung und Experimente ge-
macht werden, desto mehr weiß die Menschheit“ (Osterwalder, 1999, S. 40). Das „ex-
perimental knowledge“, wie es die Royal Society hervorbringen will, ist vollumfänglich
zum Fortschritt der Gesellschaften gedacht: „to attempt some greater Enterprise […]
for the benefit of human life, by the Advancement of Real Knowledge“, wie es Thomas
Sprat programmatisch festhält (1667/1958, S. 1-2). Die Royal Society will gerade nicht
eine jener bisherigen spekulativ-wissenschaftlichen „Talkative Sects“ samt deren „war
of tounges“ sein (S. 9, 12), sondern ausdrücklich öffentlich Wissenschaft für die Öffent-
lichkeit betreiben, was inkludiert, Wissen für öffentliche Kreise zur Verfügung zu stel-
24 Allgemeiner Teil
len bzw. diesem zum öffentlichen Durchbruch zu verhelfen im Sinne der Idee des all-
gemeinen Fortschritts.
Die (natur-)wissenschaftliche ‚Metrisierung der Welt‘ im Diskurs der Royal Soci-
ety of London stellt nicht nur wissenschaftstheoretisch-binnenperspektivisch eine be-
stimmte Forschungstradition infrage und erneuert infolge wissenschaftliches Denken
und Vorgehen, sondern beschleunigt (mindestens) einen frühen Modernisierungspro-
zess, welcher übergreifende und umfassende Auswirkungen individueller und sozialer
Art hat. Die Modernisierung, wie sie hier in Gang kommt und durch die „Institutiona-
lisierung der Erfahrungswissenschaften“ (Münte & Oevermann, 2002, S. 165) umfas-
send zur „Verwissenschaftlichung der modernen Welt“ (Remmert, 2008) beiträgt, ist
von Prozessen der gegenseitigen Durchdringung wissenschaftlicher und gesellschaft-
licher Entwicklungen geprägt, anders: Die neue pluridisziplinäre empirische Wissen-
schaft ist immer zugleich politisch und moralisch ausgerichtet. Aufseiten der Wissen-
schaft selbst betrifft das die methodischen Formen der Wissensproduktion genauso wie
die ganz grundsätzliche Ausrichtung, sich spiegelnd in der Relation von „Werken der
Wissenschaft und Bedürfnissen der Gesellschaft“ (Keller, 2005, S. 69, Bacon bespre-
chend), und aufseiten der Allgemeinheit greifen folgenreiche Dynamiken der Verwis-
senschaftlichung von Ökonomie, Politik, Arbeit usw., wie die modernen Wissenschaf-
ten überhaupt zu einem Aufklärungsprozess beitragen, der aufgrund der Infragestellung
von vorneuzeitlichen Ordnungsgefügen tief greifend die „Weltgestaltung“ (Nowak &
Poser, 1999) und also das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften verän-
dert. Fortan wird die moderne Gesellschaft an Nicht-Wissen und Wissen orientiert,
und die Erzeugung immer neuen Wissens (plus den inhärenten Strategien der Selbst-
erzeugung von Geltungsgewissheit des Wissens) mutiert zum zentralen Merkmal der
Moderne.
Pädagogische Überlegungen spielen nicht nur in diesem Prozess eine zentrale Rolle,
vielmehr wird die Pädagogik dabei selbst herausgelöst aus hermetischeren theologi-
schen und ständischen (Zunft-)Diskursen: Pädagogik wird ‚öffentlich‘.
Im 18. Jahrhundert wird Erziehung ganz allgemein zum Gegenstand großer öffentli-
cher Debatten: ein öffentlicher Diskurs über Erziehung etabliert sich. Weiter genährt
wird dieser z.B. durch Romane, in denen ‚die richtige Erziehung‘ besprochen bzw. die
belesenen Erzieherinnen erzogen werden, dementsprechend zu erziehen; desgleichen
in Zeitschriften und weiteren Publikationen wie z.B. Kalenderschriften für die unteren
Stände. Ebenso werden neue diskursive Formen von Erziehung etwa in öffentlichen
Vorführungen und Museen virulent.
Vor allem aber wird öffentlich politisch diskutiert, und infolge sind die Fragen nach
der adäquaten Erziehung des neuen Bürgers öffentlich verhandelte.
Dieses Muster ist auch dem neuen Wissenschaftsdiskurs inhärent: Wissenschaftsfra-
gen werden tendenziell öffentlich diskutiert – und sowieso als öffentlich relevant ange-
Binder/Boser: Die Metrisierung der Pädagogik und die Pädagogisierung des Meters 25
sehen –, und da diese Wissenschaftsfragen auch, wie gleich zu zeigen ist, pädagogische
in sich führen, ist der Diskurs über Erziehung auch von da her ein öffentlicher.
Dieser Prozess geht zunächst markant und plakativ im weiteren Umkreis der Royal
Society vonstatten, beschränkt sich aber längst nicht darauf. Vielmehr findet im weite-
ren zeitlichen Verlauf ein kontinuierlicher internationaler Austausch in der ‚république
des lettres‘ statt; über nationale Grenzen hinweg werden empiristische Erkenntnisse in-
tensiv diskutiert und dann institutionalisiert und dabei öffentlich wirkmächtig.
Die pädagogischen Aspekte, wie sie den Wissenschaftsdiskursen inhärent sind, äu-
ßern sich auf drei wesentlichen Ebenen: auf der eines empiristischen Schulprogramms
(a), auf der von neuen Forschungszugängen, bei denen Erziehen als eine empiristische
Tätigkeit erscheinen kann (b) sowie auf der ausdrücklichen Konzeptionen eines empi-
ristisch-sensualistischen Menschenmodells, das Erziehung am Erfahrungs- und Fort-
schrittsdenken der neuen Wissenschaften orientiert (c).
a) Zunächst speist sich aus dem weiteren Umfeld der Physik, die in der Royal Society
eine vorrangige Stellung einnimmt, eine Debatte rund um schulinstitutionelle und
-inhaltliche Fragen. Aus der Royal Society wird unverhüllt und offensiv eine Lehr-
plankritik artikuliert, bei der sie – gegen die traditionellen Gelehrten und Lehrer, ge-
gen die Kirche und insgesamt gegen die humanistische Bildungstradition – für den
Ausbau der Naturwissenschaften eintritt. Gefordert wird ein „neuer Lehrplan des
Wissens“ im Sinne der „Arts Of Experiment“ (Sprat, 1767/1958, S. 323, übers. d.
Verf.). Diese Lehrplankritik erweitert sich um eine die Lehr- und Lernformen be-
treffende, nicht zuletzt des Erhalts und Ausbaus der eigenen Wissenschaften wegen:
„Unsere grenzenlose Erforschung (universal inquiry) der Dinge, die bisher kaum
infrage gestellt wurde, könnte kaum mehr weiter geführt werden, ohne die gülti-
gen Regeln der Fächer und des Unterrichts zu verletzen“ (S. 323, übers. d. Verf.).
Analog zum eigenen experimentellen Forschen der neuen Wissenschaften wird von
diesen gefordert, die Infrastruktur von Schulen und Universitäten zu erweitern und
Laboratorien, botanische Gärten, Sternwarten usw. einzurichten, was schließlich
auch auf die Forderung nach neuen Unterrichtsformen hinausläuft, wenn infolge die
Schüler und Studenten genau wie die neuen Naturwissenschaftler in geordneten Ex-
perimenten sich die Welt metrisierend erschließen sollen.
b) Der Zusammenhang zwischen vonseiten der empiristischen Diskurse eingespeisten
Wissenschaftsfragen und pädagogischen Fragen eröffnet sich weiter dort, wo medi-
zinisch geforscht wird und die physische Erziehung in den Fokus rückt. Die Bedeu-
tung der Kleidung, der Bewegung und der Ernährung mündet letztlich in physiolo-
gisch-pädagogische Fragestellungen in zweierlei Hinsicht: wie das Kind richtig und
also entwicklungstechnisch gesund erzogen zu werden habe – und das umfasst hier
auch moralische Erziehung –, und grundlegend, wie die Entwicklungsstadien und
Erziehungseinflüsse medizinisch-biologisch erforscht werden könnten. In Wech-
selwirkung sind zwei Disziplinen betroffen: Das medizinische Gesundheitskonzept
wird infolge nicht nur Bestandteil der Pädagogik, sondern diese liefert der Medizin
zugleich ihr Konzept der Handlungssteuerung (vgl. diesbezüglich Hartley, 1749).
26 Allgemeiner Teil
Ein derartiges Konzept entspringt zunächst im Umfeld der Medizin. Dort bzw. davon
ausgehend wird die Sicht auf den Menschen als Person neu definiert und pädagogisch
interpretiert (vgl. radikal de La Mettries „Mensch als Maschine“ [1748/1988]). John
Locke, der als Arzt zusammen mit dem Mediziner Thomas Sydenham forschte – beide
als Mitglied der Royal Society –, stellt ausgehend von den medizinischen Forschungen
in seinem „Essay Concerning Human Understanding“ von 1690 die These auf, dass
Wahrheit, Erkenntnis und die bewusste Person weder gegeben noch im Menschen ein-
geboren sind, sondern durch sinnliche Erfahrung entstehen. Ideen und Wahrheit sind für
Locke einzig das Ergebnis von Sinneswahrnehmung (sensations) und Verarbeitung (re-
flections), von Erfahrung (experience). ‚Experience‘ ist hier im Vollsinn des englischen
Wortes zu verstehen als Erfahrungen zur Gewohnheit werden lassen, was heißt, ihnen
Regelmäßigkeit zu geben, damit daraus Erkenntnis und Person entstehen können.
Dieses Erkenntnis- und Personenmodell nun kann vollständig pädagogisiert werden.
Über Erfahrung wird das Individuum für die Erziehung zugänglich, weil erzieherisch
dieses Individuum als Summe von Erfahrungen in gewisser Hinsicht ‚metrisierend‘ auf-
gebaut werden kann. Personwerdung ist hier identisch mit Lernprozessen, und Erzie-
hung wird zu dem und faktisch einzigen Medium der Mensch-Konstitution: „Ich darf
wohl sagen, dass von zehn Menschen, denen wir begegnen, neun das, was sie sind, gut
oder böse, nützlich oder unnütz, durch ihre Erziehung sind“ (Locke, 1693/1967, S. 7).
Damit wird es auch möglich, Erziehung und Person aus der ständischen, geschlecht-
lichen und anderen Eingrenzungen herauszulösen. Die einzige Grenze der Erziehung
Binder/Boser: Die Metrisierung der Pädagogik und die Pädagogisierung des Meters 27
liegt nach Locke in der sinnlichen Anlage und ist weder von Herkunft abhängig noch
von der Annahme einer Kraft, die Heiligkeit erzeugt und Heiligung verlangt. Locke
stellt ein säkulares Konzept von Erziehung bereit, das „sich aus der theologischen Um-
fassung herauslösen und zum allgemeinen politischen und sozialen Reformkonzept
werden“ kann (Osterwalder, 1999, S. 48), indem es sich grundsätzlich von traditionel-
len Zugängen durch die unabschließbare Pluralität von Vorgängen und das Fehlen von
theologisch-religiösen Vorannahmen und ontologische Wesensannahmen unterscheidet
und sich – vgl. das Verständnis der Royal Society – prinzipiell der Kritik und Ver-
besserung auf Grund empirischer Argumente und Überprüfungen aussetzen will. Da-
mit ist ein Erkenntnis- und Personwerdungs- und schließlich Erziehungsmodell vorge-
legt, das, an die neuen Wissenschaften anschließend, als ‚Metrisierung‘ im Sinne der
wissenschaftlichen Objektivierung innerhalb der empirischen „Observations On Man“
(Hartley, 1749/1967) bezeichnet werden kann. Indem Locke den naturwissenschaftli-
chen Empirismus eines Newton, Boyles und vor allem den seines Lehrers Sydenham zu
einer generellen Theorie der menschlichen Erkenntnis, des Bewusstseins und der Per-
son verarbeitet, orientiert er Erziehung infolge am Erkenntnisprozess der empirischen
Wissenschaften: Erkenntnis und Wahrheit entstünden einzig und allein durch die Ver-
arbeitung der Daten der geordneten sinnlichen Erfahrung in bestimmten Denkoperatio-
nen; sie bildeten den einzigen Inhalt der Seele und verändern diese fortlaufend.
Lockes empiristisches Erkenntnismodell wird später im französischen Sensualismus
noch radikalisiert. Etiennne Bonnot de Condillac reduziert 1754 in seiner „Abhandlung
über die Empfindungen“ Erkenntnis, Denken und Handeln auf die Transformation von
sinnlicher Reizung und Wahrnehmung. Jede Funktion der Erkenntnis basiere allein auf
den Sinneswahrnehmungen. Nach Condillac gehen alle Funktionen der Seele (Gefühle,
Wünsche, Willensakte etc.) auf die ihnen zugrunde liegenden Empfindungen zurück.
Und die Empfindungen wiederum würden von den Dingen wie schlussendlich von so-
zialer Welt bewegt.
Um seine These zu verdeutlichen, wählt Condillac das Bild einer Marmorstatue, die
er nach und nach hypothetisch zum Leben erwachen lässt, indem er ihr nacheinander
die fünf Sinne ‚öffnet‘, beginnend mit dem Geruchssinn: „Wenn unsere Statue auf den
Geruchssinn beschränkt ist, so können sich ihre Kenntnisse nur auf Düfte beschränken.
Sie kann ebensowenig Vorstellungen von Ausdehnung, Gestalt und etwas außer ihr oder
ihren Empfindungen Seiendem haben, wie Farbe, Ton, Geschmack. Sie ist in Bezug auf
sich nur die Düfte, die sie riecht. Wenn wir ihr eine Rose vorhalten, so wird sie in Be-
zug auf uns eine Statue sein, die eine Rose riecht; aber in Bezug auf sich wird sie nur
der Duft dieser Blume selbst sein“ (Condillac, 1754/1983, S. 1). Nach und nach öffnet
Condillac der Statue in seinem Gedankenexperiment ihre Sinne und lässt im Weiteren
auch Bedürfnis, Begierde und Leidenschaft und daraus wiederum Liebe und Hass sowie
Willen, auch Zahlenvorstellungen usw. usf. entstehen.
Diese spezifische Spielart des ‚metrisierten Menschen‘, dessen Bewusstsein sich
nach und nach und letztlich folgerichtig durch Sinneseindrücke aufbaut, stellt sich sel-
ber zur pädagogischen Disposition. Zu seiner Statuen-Theorie schließt Condillac viel-
sagend: „Indem wir ihr allmählich neue Daseinswesen und neue Sinne gaben, sahen wir
28 Allgemeiner Teil
sie Begierden entwickeln, aus der Erfahrung lernen, sie zu beschränken oder zu befrie-
digen, und von Bedürfnissen zu Bedürfnissen, von Kenntnissen zu Kenntnissen, von
Freuden zu Freuden weiterschreiten. Sie ist demnach die Summe dessen, was sie erwor-
ben hat. Warum sollte es beim Menschen nicht ebenso sein?“ (1754/1983, S. 216). Und
es ist die Erziehung, die derartiges Fortschreiten leitet.
All diese hier aufgezählten – und äußerst folgenreichen – pädagogischen Heraus-
forderungen und Entwicklungen werden letztlich in öffentlichen Diskursen über Erzie-
hung relevant. Erziehung und Schule mutieren zum zentralen Medium gesellschaftspo-
litischer Reform- und Fortschrittsdebatten, und die Wissenschaftsdiskurse spielen da-
bei eine wesentliche Rolle, weil sie Fragen generieren und transferieren, die bis anhin
vorrangig im exklusiven theologisch-religiös-kirchlichen Umfeld Gegenstand waren.
Sie sind stark an der Modernisierung pädagogischer Perspektiven beteiligt, und das im
vorliegenden Fall schon insofern, als Modernisierung ganz grundsätzlich mit Öffent-
lichkeit korreliert, öffentlich virulent wird bzw. an öffentliche Problemlagen anschließt
(vgl. klassisch Webers These von der Säkularisierung der Öffentlichkeit). Die moder-
nen Wissenschaften sind so an einer spezifischen ‚Veröffentlichung‘ von Pädagogik und
also deren Modernisierung zentral beteiligt.
Bislang zeigt sich im Bezug zur These Folgendes:
● Im Umfeld der neuen Wissenschaften mit ihren Metrisierungen im Sinne von Ob-
jektivierung, Systematisierung, Klassifizierung und Standardisierung verschiedener
Phänomene werden pädagogische Konzepte entwickelt, die auf spezifische Art da-
von inspiriert sind bzw. daran anschließen.
● Pädagogische Themen werden, nicht zuletzt aufgrund der Einflechtung in die
neuen Wissenschaftsdiskurse mit deren weit über enge Wissenschaftsfragen hi-
nausgehenden öffentlichkeitsrelevanten Implikationen, zum Gegenstand öffentlicher
Debatten.
● Pädagogik ist von da her eingebunden in Modernisierungsprozesse wie jene der
Zweckrationalisierung, Verwissenschaftlichung und Säkularisierung.
Im zweiten Teil soll ein historisch vertiefender Blick auf dieses komplexe Modernisie-
rungsgefüge geworfen werden. Es ist nun nicht die spezifische ‚Metrisierung‘ der Päd-
agogik, wie sie die neuzeitliche Pädagogik mit fundiert, sondern, umgekehrt, die Päda-
gogisierung des Meters, die interessiert. Dazu werden die pädagogischen Hintergründe
der Vereinheitlichungsdiskurse des Messwesens in Frankreich und in der Schweiz
zwischen dem späten 17. und 19. Jahrhundert untersucht. Auch hier spielt der Faktor
‚Öffentlichkeit‘ eine wichtige Rolle, wenn aktiv eine Öffentlichkeit gebildet werden
soll.
Binder/Boser: Die Metrisierung der Pädagogik und die Pädagogisierung des Meters 29
In Europa der frühen Neuzeit hat sich eine Vielzahl verschiedenster Maße und Gewichte
im täglichen Gebrauch etabliert. Diese Maße und Gewichte sind die „reale Verkörpe-
rung von Ordnungen“, in die sich der Mensch in die Welt einfügt und sich diese ver-
fügbar macht (Witthöft, 1988, S. 14). Ganz im Sinne des oben erwähnten ‚alten‘ Wis-
sen basiert ihre Entwicklung keineswegs auf induktivem oder mathematisch-logischem
Vorgehen. Maßgebend – und das im doppelten Wortsinn – sind die Bibel, Könige und
andere theologische oder weltliche Autoritäten. Vormoderne und frühneuzeitliche Maße
sind anthropomorph und bezeugen damit die Stellung, die der Mensch in der vormo-
dernen Weltsicht innehat. Sie wirken auf den Menschen dahingehend, dass sie ihn von
frühester Kindheit an in ein bestimmtes ontologisches, stark lokal geprägtes Ordnungs-
system hineinwachsen lassen. Dabei stärken sie die jeweiligen lokalen Identitäten, wie
sie es erschweren, aus diesen lokalen Zusammenhängen auszubrechen. Eine weitere Öf-
fentlichkeit zu schaffen, dazu taugen die alten Maßeinheiten nicht, im Gegenteil: derlei
wird durch die lokale Begrenztheit des Maßgebrauchs geradezu behindert – dem Bacon-
schen „Advancment of Larning“ sind sie nichts als ein Hindernis.
Der Wunsch nach Objektivierung und Systematisierung der Welt, wie er im Verlaufe des
17. und 18. Jahrhunderts immer lauter wird, bedingt eine Öffentlichkeit, in der eine ratio-
nalistisch-empirische Weltsicht vorherrscht. Dazu müssen die Maße vom menschlichen
Körper gelöst und auf eine natürliche Basis gestellt werden. Wenn für die neuen Wis-
senschaften Intersubjektivität das entscheidende Kriterium für das Erkennen überhaupt
ist, dann muss dem wissenschaftliche Austausch eine einheitliche Sprache, die eine mo-
derne Öffentlichkeit erst möglich macht, zur Verfügung gestellt werden (La Condamine,
1751; Schinz, 1766). Analog zur Londoner Royal Society entsteht in Frankreich mit der
Académie Royale des Sciences eine Gesellschaft, in welcher sich die immer größer wer-
dende Gruppe der Wissenschaftler unter Einfluss einer Öffentlichkeit gebildeter Bürger
intensiv mit den Naturwissenschaften auseinandersetzt.3 Ihnen geht es in erster Linie
um den wissenschaftlichen Fortschritt, der durch die alte Ordnung behindert werde. An-
zustreben sei zweierlei: einmal das gemeinsam geteilte, verobjektivierte Kommunikati-
onsmittel und zudem das gemeinsam brauchbare, verobjektivierte Arbeitsinstrument. Es
fehle, weil doch gerade das exakte Messen eines der zentralen Elemente der neuen em-
pirischen Wissenschaften sei, ein gemeinsam geteilter, verobjektivierter Standard. Eine
Vereinheitlichung des Messwesens ist also die ‚conditio sine qua non‘ für das Funktio-
nieren der Naturwissenschaften (La Condamine, 1751).
3 Ähnliche Diskussionen, wenn auch in bescheidenerem Ausmaß, werden auch in den Schwei-
zer Reformsozietäten geführt.
30 Allgemeiner Teil
Um den neuen Maßen die nötige Legitimation zu geben, unternehmen die Wissenschaft-
ler gehörige Anstrengungen. Dabei wird die Welt selbst zur Referenzgröße für die in ihr
herrschende Ordnung, und diese Ordnung erschließt sich dem Menschen nur durch die
empirische Beobachtung der Natur. Für die Festlegung eines universellen Systems von
Maßen und Gewichten wird der Meridianbogen zwischen Dünkirchen und Barcelona
vermessen (vgl. dazu Alder, 2002). Das aus diesen Vermessungen hervorgehende Sys-
tem ist sowohl ein natürliches und wissenschaftlich fundiertes als auch ein genuin fran-
zösisches System.
Im Wissenschaftsdiskurs setzt sich das Metrische System rasch durch. Und „seitdem
die Wissenschaft immer mehr in täglichen Wechselverkehr mit dem praktischen Leben“
tritt, wird es für die Öffentlichkeit, will sie mit dem Fortschritt mithalten, zur Notwen-
digkeit, sich des Metrischen Systems zu bedienen (Schenk, 1865, S. 677).
Auch ökonomische Überlegungen nehmen in den Argumentationen der Wissen-
schaftler und Gelehrten viel Raum ein, wie schließlich auch die Politik in ihren Gedan-
ken und Handlungen eine gewisse Rolle spielt.
Der Einbezug dieser beiden anderen Aspekte führt zu einer Öffentlichkeit, die auf
der Nutzausrichtung und Fortschrittsorientierung der modernen Wissenschaften basiert
(vgl. grundsätzlich Bacon w.o.). Wissen dürfe nicht mehr im ausschließlichen Besitz
einer Elite (z.B. der „Talkative Sects“ bei Sprat) bleiben, es müsse für die Allgemein-
heit nutzbar gemacht werden. Unter den Aspekten der Wissenschaft, der Politik und
der Ökonomie wird darauf hingewiesen, dass wissenschaftlicher Fortschritt, politische
Ordnung und individuelle wie auch öffentliche Wohlfahrt von öffentlich vorhandenem
Wissen abhängig sind. Jeder Bauer und jede Marktfrau müsse in der Lage sein, die
Maße und Gewichte zu verstehen und selbstständig damit zu rechnen. Handelsräume
sollen erweitert, vereinheitlicht und schließlich mit den Territorien von Nationalstaaten
in Übereinstimmung gebracht werden. Damit wird die Grundlage geebnet für weitere
gesellschaftliche Fortschritte. Die objektivierte Ordnung der Natur soll auf den mensch-
lichen Verkehr in all seinen Formen übertragen werden. Dazu müssen die Ordnungskri-
terien der Welt zu einem Allgemeingut und also allgemein verständlich werden. Para-
digmatisch für die neuen Wissenschaften sollen Maße und Gewichte vor den Augen der
Öffentlichkeit konstruiert werden, wie der Prozess durch diese Öffentlichkeit nachvoll-
zogen und kontrolliert zu werden habe.
Der Aspekt der Politik spielt im weiteren Verlauf der Debatten um die Einführung
neuer Maßeinheiten eine immer bedeutendere Rolle, besonders als sich die noch rela-
tiv junge Gruppe der wissenschaftlich gebildeten Parlamentarier in Frankreich, Eng-
land und in den USA des Themas annimmt. Sie interessiert sich weniger für die wissen-
schaftliche Kommunikation als vielmehr für die politischen Vorteile, die sie sich durch
eine Vereinheitlichung der Maßsysteme versprechen. Zentrale Themen ihrer Debatten
sind die Homogenisierung des Raumes und die Symbolisierung der Nation.
Die Homogenisierung und Legalisierung der Maße und Gewichte in einem natio-
nalstaatlichen Rahmen sind unbedingt notwendig, um den Gedanken von staatlich ga-
rantierter Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit in die Tat umzusetzen. Ein homoge-
ner Wirtschaftsraum, in dem Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit herrschen, bildet
Binder/Boser: Die Metrisierung der Pädagogik und die Pädagogisierung des Meters 31
Allen drei dargestellten Aspekten von Öffentlichkeit ist zu Eigen, dass sie den Raum, in
dem und für den ihre Projektionen gelten soll, erst schaffen müssen: Die Wissenschaft
verlangt nach einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit, damit sich der wissenschaftliche
und technische Fortschritt weiter entfalten kann, die Politik verlangt nach einer politi-
schen Öffentlichkeit, denn eine moderne Republik oder Demokratie kann nur mittels
einer solchen funktionieren, und die Ökonomie schließlich verlangt nach öffentlichem,
freiem und sicherem Handel, um die individuelle und staatliche ‚Wohlfahrt‘ zu fördern.
Diese Öffentlichkeiten zu schaffen, das wird primär als eine pädagogische Aufgabe ver-
standen. Für alle diese Formen von Öffentlichkeit ist die Einheitlichkeit der Maße und
Gewichte eine grundlegende Voraussetzung.
Entsprechend der in Kapitel 2 gezeigten engen Verbindung von Wissen und Lernen
im Konzept der modernen Wissenschaften wird ein so geschaffener homogener Wis-
sens- und Handels-Raum auch als ein Lern-Raum verstanden. Damit die neuen Maß-
einheiten flächendeckend ihre pädagogische Wirkung entfalten können, werden im We-
sentlichen zwei Strategien vorgeschlagen.
Die erste, wie sie die erwachsene Bevölkerung als Zielgruppe hat, will möglichst
viele Meter-Maßstäbe mitsamt Umrechnungstabellen über das ganze Land verteilen. So
soll gewährleistet werden, dass das einheitsstiftende Symbol Meter den Menschen auch
physisch gegenwärtig ist, damit sich die Menschen – ganz im Sinne der Lockeschen
‚Experience‘ – ein eigenes Bild von dem neuen Grundmaß machen können. Verstärkt
soll dieser Eindruck noch durch die Bezeichnungen der Maße werden. Daher plant der
32 Allgemeiner Teil
bolen. Moderne Öffentlichkeit kann nicht per Dekret hergestellt werden, sondern sie
entsteht erst durch die Handlungen von Individuen, und die pädagogisch instrumentali-
sierten Alltagsgegenstände der Maße und Gewichte dienen in diesem Sinne als Medien
zwischen den politischen, wissenschaftlichen oder ökonomischen Ideen einerseits und
der Erfahrungswelt der Menschen andererseits. Maße und Gewichte sind so die Gestalt
gewordene, pädagogisch angeleitete Verbindung von Wissenschaft, Politik und Ökono-
mie in einem Gegenstand des täglichen öffentlichen Gebrauchs.4
Solcherlei ‚pädagogisierte Alltagsgegenstände‘ ermöglichen es, die Erfahrung der
Moderne Gewohnheit werden zu lassen, ihr Regelmäßigkeit zu geben, sie zu strukturie-
ren und schlussendlich auszuweiten. Durch die Pädagogisierung von modernen öffent-
lichen Alltagsgegenständen wie der Metrischen Maße und Gewichte lässt sich Öffent-
lichkeit und Modernisierung pädagogisch herstellen und anleiten.
Zusammengenommen zeigt sich in diesem Kapitel im Bezug zur These Folgendes:
● Pädagogisch inspirierte Maßnahmen spielen eine wichtige Rolle bei der Etablierung
des Metrischen Systems in seiner ganzen wissenschaftlichen, politischen und öko-
nomischen Bandbreite, wie die Etablierung des Metrischen Systems selber als pä-
dagogischer Akt verstanden werden kann und verstanden worden ist. Pädagogik ist
von da her zentraler Bestandteil der Modernisierung von Wissenschaft, Ökonomie
und Politik sowie der daran anschließenden Bereiche. Insofern lässt sich von einer
‚Pädagogisierung der Moderne‘ sprechen.
● Weiter lässt sich von einer ‚Modernisierung der Pädagogik‘ sprechen, welche im
Rahmen von profanen Modernisierungsprozessen abseits ideell-philosophischer
Konstrukte abläuft. Die moderne Pädagogik entwickelt sich ganz wesentlich auf der
Basis von Modernisierungsprozessen, die nicht aus ihren unmittelbaren, binnenper-
spektivischen theoretischen Diskursen stammen. Das heißt weiter, dass sich die mo-
derne Pädagogik auch qua ‚Alltagsgegenstände‘ konstituiert: dass sie sich öffentlich
bedeutsamen praktischen Problemlagen verdankt.
Zusammen mit den in Kapitel 2 rekonstruierten Konsequenzen ergibt sich ein Bild von
der Genese ‚moderner Pädagogik‘, das quer zu gebräuchlichen Meistererzählungen
liegt, zumindest aber diesen hinzuzufügen ist: Moderne Pädagogik offenbart sich als
ein Produkt von verschiedenen Metrisierungs- und also Modernisierungsprozessen, die
als solche zwingend auf ‚Öffentlichkeit‘ verweisen und verwiesen sind. Längst kein
alleiniges Konstrukt einzelner großer pädagogischer Denker oder Denkschulen, ist sie
in weiten Teilen ein nach wissenschaftlichen Kriterien konstruiertes, auf Öffentlichkeit
referierendes sowie an der Konstruktion einer rationalen Öffentlichkeit zentral beteilig-
tes ‚Alltagsprodukt‘. Moderne Pädagogik ist sonach aufs Engste verwoben mit Moder-
4 Ein so verstandener Alltagsgegenstand schlägt auch eine Brücke zwischen den von der Wis-
senschaft oft getrennten Bereichen des Öffentlichen und des Privaten, indem durch ihn ein
öffentlicher Gegenstand in die Sphäre des Privaten eindringt, wie privates Handeln durch ihn
öffentlich verhandelbar gemacht wird.
34 Allgemeiner Teil
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Henning Schluß
1. Einleitung
Die Überschrift: „Ironie als Bildungsziel“1 kann auf zwei verschiedene Weisen verstan-
den werden. Zum einen kann sie als empirische Frage aufgefasst werden: „Kann Ironie
Bildungsziel sein.“ Die Entwicklungspsychologie hält diesbezüglich Antworten bereit,
die erörtern, ab welchem Entwicklungsstadium Kinder überhaupt in der Lage sind, Iro-
nie zu verstehen. Diese Frage kann und soll hier nicht verfolgt werden. Lediglich der
Hinweis sei erlaubt, dass – seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts – Untersu-
chungen zunehmend der zuvor häufig anzutreffenden späten Datierung der Ironiefähig-
keit von Kindern mit begründeter Skepsis begegnen.2
Deshalb soll im Folgenden die Frage der Überschrift in der normativen Fassung ver-
standen werden: „Soll Ironie Bildungsziel sein und wenn ja, inwiefern?“
1 Der Text ist die überarbeitete Fassung des öffentlichen Fachvortrages zur Habilitation am
11.2.2009 unter gleicher Überschrift.
2 Vgl. Lapp (1992, S. 116ff.), der sich hier mit den einschlägigen Theorien auseinandersetzt.
Die komplexen Schlussfolgerungsmodelle, die die Grundlage zum Verstehen von Ironie bil-
den sollen (vgl. dort Anm. 4 zum Model von Booth, 1974), konnten sich empirisch nicht er-
härten lassen. Vielmehr konnte Gibbs (1984) zeigen, dass wörtliche und nichtwörtliche Be-
deutungen keine „wesentlich verschiedenen Verstehensmechanismen zugrunde“ liegen und
insofern die ironische Bedeutung zeitnah zur wörtlichen Bedeutung erfasst werden kann (vgl.
Lapp, 1992, S. 117).
In einem gemeinsam mit Fritz Oser herausgegebenen Sammelband setzte sich Roland
Reichenbach in einem Text nachdrücklich für Ironie als Bildungsziel im Bereich der
politischen Bildung ein (Reichenbach, 2000).3 Politik definiert Reichenbach in An-
lehnung an Hannah Arendt, als die kommunikativen Sozialpraktiken, in denen „Men-
schen, welche einander nicht befehlen können (oder wollen) in einem – Öffentlichkeits-
charakter aufweisenden – Überzeugungs- und Überredungskampf und mit einem ‚Wil-
len zur Macht‘ die soziale Welt in bestimmter Hinsicht dauerhaft verändern wollen“
(2000, S. 4). Dabei sieht er sehr wohl dass zwischen „Überzeugen und Überreden unter
den Bedingungen meist ungenügender Information, ungenügender Kenntnisse und Zeit-
druck empirisch nicht unterschieden werden kann“, wiewohl die Differenz analytisch
notwendig sei (S. 4, Anm. 3).4 Reichenbach argumentiert, dass es im Bereich der Politi-
schen Bildung eine Wirkungserwartung gäbe, der jedoch die erfahrbaren Wirkungen in
keiner Weise korrespondierten. Als Tatsache beschreibt Reichenbach (und zitiert dazu
entsprechende Untersuchungen), dass die meisten Menschen in westlichen Gesellschaf-
ten nie politisch aktiv werden (2000, S. 2). Teilnahme an Wahlen interpretiert er eher als
„Verhalten“ denn als politisches Handeln, was auch in Begriffen wie „Wahlverhalten“
zum Ausdruck käme.5 Im Unterschied zu den proklamierten Zielsetzungen der politi-
schen Bildung, die auf aktive Beteiligung an politischen Prozessen zielen, ist für Rei-
chenbach das unpolitische Verhalten keineswegs zu verwerfen. Beklagenswert sei diese
politische Abstinenz nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen; einerseits dann, wenn
„die abstinenten BürgerInnen eine Veränderung in ihrer Welt wünschen, aber nicht poli-
tisch aktiv werden – etwa weil sie es sich nicht zutrauen, oder weil sie sich berechtigter-
weise vor negativen Konsequenzen fürchten müssen – oder nicht politisch aktiv werden
wollen – etwa weil sie von der Erfolglosigkeit einer jeden Bemühung überzeugt sind.
Andererseits ist politische Enthaltsamkeit besonders beklagenswert, wenn die Folgen
der Abstinenz für andere BürgerInnen und Nicht-BürgerInnen gravierend sind, wenn
also die sich enthaltenden BürgerInnen einen „moralischen Unterschied“ hätten machen
können. „Das wäre eine Abstinenz aus Feigheit, Faulheit oder Gleichgültigkeit“ (2000,
S. 3).
3 Reichenbach macht eingangs deutlich, dass er einerseits „Bildung“ von „Erziehung“ unter-
schieden wissen will zum anderen, dass er das „Politische“ von „Staatsbürgerschaft“ trennt.
In seiner Untersuchung zum Verhältnis von Bildung und Politik teilt Heydorn diese Unter-
scheidung und begründet sie so, dass nur die Bildung ein wirkliches Verhältnis zur Politik ha-
ben könne. Die Erziehung dagegen könne in kein Verhältnis zur Politik eintreten, es sei denn
in ein exekutives (vgl. auch Heydorn, 1980, S. 8).
4 „Weiter muss betont werden, dass die Gleichberechtigung oder Symmetrie zwischen den
Streitenden und Beratenden unter diesen Bedingungen prinzipiellen und normativen, nicht
aber empirischen Charakter hat“ (Reichenbach, 2000, S. 4, Anm. 3).
5 Ein Verhalten, das keine klare Intention verfolge, so keineswegs für sich spreche, sondern erst
gedeutet werden müsse.
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 39
Die Möglichkeiten der politischen Bildung seien aber – und darin bestehe die Ironie
der politischen Bildung – angesichts der Zerrissenheit des spätmodernen Subjekts viel
bescheidener, als die hehren Programme politischer Bildung es vermeinen lassen. Viel
eher scheint es für Reichenbach so, dass die große Vision der politischen Bildung – ei-
ner freien und symmetrischen Kommunikation aller – nicht nur mit der Realität wenig
zu tun hat, sondern – würde sie durchgeführt – die Gesellschaft ernsthaft bedrohen und
funktionsunfähig machen würde (2000, S. 8). Würde demnach das proklamierte Ziel der
politischen Bildung – die Beteiligung aller am Politischen – verwirklicht, so würde ge-
nau das Politische unter dieser Beteiligung zusammenbrechen.
Reichenbach nennt Untersuchungen welche eine positive Korrelation von „Variab-
len wie Interesse, Kenntnisse, Handlungsmotivation einerseits und (politischen) Selbst-
wirksamkeitsgefühlen andererseits“ (2000, S. 10) belegen (Krampen, 1991; Fend, 1991;
Klöti & Risi, 1991). Solche Untersuchungen legen nahe, dass man sich in einem Be-
reich vor allem dann selbstwirksam fühlen kann, wenn man sich für ihn interessiert und
etwas von ihm weiß, bzw. dass man nur dann „aktiv“ wird, wenn man das Gefühl eige-
ner Wirksamkeit erworben hat. Reichenbach bezweifelt diese Ergebnisse nicht, aber er
problematisiert sie insofern, als sie dem spätmodernen Subjekt und seiner Welt nicht
angemessen seien. Sie gaukeln vor, das Subjekt werde durch genügenden Einsatz auch
im Sinne seines Handlungszieles erfolgreich sein. Sie erzeugen pädagogisch das Gefühl
von politischer Selbstwirksamkeit, wissend, dass die Vorstellung einer solchen Selbst-
wirksamkeit des Subjekts außerhalb der pädagogischen Provinz in der globalisierten
spätmodernen Welt kaum mehr zutreffend sei.6 Ein Bildungsziel, das auf politische Ak-
tivität der Zöglinge setze, lasse sie wissentlich in den selbst erlebten Misserfolg ihrer
Bemühungen laufen, weil die Aktivität vielfach wirkungslos verpuffe. Insofern sei der
ironischen Situation der politischen Bildung einzig ein Bildungsziel angemessen, das
selbst Ironie heiße. Wenn die Politik als „Praxis der Freiheit“ in ihrer substantiellen
„Bodenlosigkeit“ selbst nur noch ironisch zu fassen sei, so verlange auch die Einfüh-
rung in sie Ironie als personale Tugend, weil wir dieser Praxis trotz der Einsicht in ihre
prinzipielle Beschränktheit zustimmen (Reichenbach, 2000, S. 9). Im Hinblick auf die
Freiheit kommen so Politik und Bildung zusammen.
6 Für seine Beschreibung der Spätmoderne schließt sich Reichenbach dem Soziologen Alain
Touraine (1997) an, der die bedrohliche Wirkung des doppelten Prozesses von ökonomi-
scher Globalisierung und kultureller Fragmentierung in der Spätmoderne thematisiert, wel-
che er „basse modernité“ nennt (vgl. Touraine, 1997, S. 159-192). In gleicher Weise könne
er aber auch an Habermas, Beck, Giddens, aber auch Sennett oder Taylor anschliessen. Tou-
raine „spricht von démodernisation, um das radikale Auseinanderklaffen bzw. die Dekompo-
sition von Ökonomie und Kultur, von Rationalisierung der Welt und moralischem Individua-
lismus, von instrumenteller Vernunft und identitätsstiftender Praxis, also um die bekannten
epochalen Prozesse einer vorangeschrittenen Moderne zu bezeichnen. Das spät- bzw. „tief“-
moderne Subjekt ist vor die unmögliche Aufgabe gestellt, den Riss der Welt biographisch zu
beheben. Die (hochmoderne) Allianz von Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit ist als Ideal
auch in den Herzen der Menschen nahe am Tod“ (Reichenbach, 2000, S. 6).
40 Allgemeiner Teil
● Erstens, welcher Begriff von Ironie kann das von Reichenbach Angezielte leisten?
● Zweitens, welche Bildungszielbeschreibungen möchte Reichenbach eigentlich
durch das Ziel Ironie ablösen?
Nach einem exemplarischen Durchgang durch beide Fragen soll abschließend noch ein-
mal gefragt werden, ob Ironie als alleinige neue Bildungszielbeschreibung taugt.
7 Zur Verteidigung des Zynismus im pädagogischen Kontext vgl. Tenorth (2001), der aller-
dings Zynismus und Ironie gleichermaßen als notwendige Distanzierungsmöglichkeiten in
pädagogischen Zusammenhängen versteht. Die „Differenz von Ernst und Spiel“ ist nach Te-
north ebenso notwendig für pädagogische Prozesse, wie die Ernsthaftigkeit selbst (S. 452-
453).
8 „Doch dass wir über einen riesigen Erfahrungsschatz verfügen, der nicht nur die Hilflosigkeit
des Politischen bezeugt, sondern auch davon erzählt, wie das Demokratische in Despotismus
und Tyrannei umschlagen kann, ist kein Grund und gibt keinen Anlass, das apolitische Leben
zu bejahen. Nur wer das Politische nicht instrumentalisieren will, und zwar selbst unter den
nobelsten Fahnen und Idealen nicht, sondern – nebst jeder Problemlösungsintention – auch
als bloß Politisches bejaht und bejahen lernt, eben als Praxis der Freiheit, kommt früher oder
später zur Einsicht, dass das Bodenlose und Hilflose des Demokratischen gerade sein Lebens-
elixier ist“ (Reichenbach, 2000, S. 9).
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 41
3. Ironie
3.1 Sokrates
Was Aristoteles9 milder gegen die Ironie stimmte als gegen die Übertreibung war, dass
der Lehrer seines Lehrers, Sokrates, sich selbst der Ironie als Mittel der Belehrung oder
der Erkenntnisfindung bediente. In den frühen platonischen Dialogen zielen die Fra-
gen des Sokrates durchaus auf nicht nur bereits feststehende Antworten.10 Hier schei-
nen Formen einer Skepsis auf, die in ihrer prinzipiell alles in Frage ziehen könnenden
Haltlosigkeit an Beschreibungen erinnern können, die Reichenbach erst für die Spätmo-
derne beschreibt (vgl. Fischer, 2004).
Allerdings ist dieses alles in Frage stellen können schon in der griechischen An-
tike nicht typisch geblieben. Sokrates selbst ist mit dieser Haltung eines nicht natürli-
chen Todes gestorben – obschon er mit seinem Martyrium bezeugt, dass er in prakti-
scher Hinsicht durchaus feste Position zur polis bezieht. Schon für seinen Schüler Pla-
ton scheint das ironische Nichtwissen des Sokrates immer mehr zur bloßen Technik zu
verkommen.11 Für die Literaturwissenschaft wie für die Didaktik ist die Ironie des So-
9 Der Tugend der Wahrhaftigkeit stellt Aristoteles als Untugend die Unwahrhaftigkeit gegen-
über. Unwahrhaftig kann man nach Aristoteles auf zweierlei Weise sein. Die eine Möglich-
keit ist die Vergrößerungssucht, die andere, die Verkleinerungssucht. Letztere heißt bei ihm
Ironie. Ironie ist demnach eine von zwei Möglichkeiten, absichtlich die Unwahrheit zu sa-
gen, also zu lügen. Auf die Frage, ob Ironie ein Bildungsziel sein dürfe, wird Aristoteles mit
„Nein“ Antworten müssen. „Unwahrhaftigkeit ist nun an und für sich etwas Niedriges und
Tadelnswertes, dagegen Wahrhaftigkeit edel und löblich“ (Aristoteles, S. 90). Dieses Verdikt
mildert nur wenig der Umstand, dass für ihn die Verkleinerung – Ironie – weniger schlimm
als die absichtliche Vergrößerung war, denn die Verkleinerung hat es nicht zum Ziel die
eigene Bedeutung über Gebühr hinauszustellen (vgl. Aristoteles, S. 90). Vielmehr kann ein
sich der Ironie befleißigender – zumindest im Vergleich mit den Großsprechern – als gebil-
deter Charakter erscheinen: „Wer die Ironie mit verständigem Maße verwendet und sich in
Bezug auf solches ironisch äußert, was nicht zu klar und offenkundig vor den Füßen liegt,
der erscheint als ein feiner und witziger Mensch“ (Aristoteles, S. 91). Und so kommt der Alt-
meister der Ironie ins Spiel, der die Ironie für die Philosophie salonfähig gemacht hat: „Am
meisten lehnen solche Leute das von sich ab, was Ruhm verleiht; so pflegte es ja auch Sokra-
tes zu machen“ (Aristoteles, S. 91).
10 So gehen im Dialog „Protagoras“ alle am Gespräch beteiligten mit einer anderen Position aus
dem Gespräch als der, mit der sie hineingekommen sind. Im Gespräch um die Frage der Lehr-
barkeit der Tugend bezweifelt Sokrates eingangs die Lehrbarkeit der Tugend, die Protagoras
behauptet praktizieren zu können. Im Ausgang kommen beide überein, dass es im Bezug auf
die Tugend lehrbare (wissbare) und nicht lehrbare Teile gibt (vgl. Schluß, 2008).
11 In den späteren Dialogen drängt sich der Eindruck auf, es handele sich bei den Fragen des
Sokrates lediglich um eine rhetorische Figur, um die feststehende Wahrheit umso bedeutsa-
mer erscheinen zu lassen, als sie aus dem Munde des Kontrahenten schlussendlich eingestan-
den oder bestätigt werden muss. „Sokrates: Und weiter: besonnen doch durch die Freund-
schaft und den Einklang eben dieser, wenn das Herrschende und die beiden Beherrschten
darüber einverstanden sind, dass dem vernünftigen Teil die Herrschaft gebühre, und wenn
jede Auflehnung gegen ihn unterbleibt? Glaukon: Ja darin und in nichts anderem besteht die
42 Allgemeiner Teil
Bis spät ins 18. Jh. hat sich die Ironie in Europa fast ausschließlich in der römisch ge-
prägten rhetorischen Tradition erhalten (vgl. Behler, 1996, S. 815). Die Ironie als rhe-
torische Figur wird vor allem als spöttische Redeweise definiert bei der das Gegenteil
des Gemeinten zum Ausdruck gebracht wird;13 eine Redeweise die schon bei Cicero als
fein, elegant und urban gilt. Ironie als Sprachform ist insofern das Gegenteil von per-
formativen Sprechakten, die das was sie aussagen, durch das Sagen ins Werk setzen.
Die rhetorische Figur der Ironie ist mit dem Problem – oder Vorzug – versehen, dass
sie nicht von jeder und jedem verstanden wird. Dies verunsichert zuweilen. In Um-
berto Ecos „Der Name der Rose“ irritiert Bruder William von Baskerville seine Um-
gebung unter anderem durch die Besonderheit, dass er die rhetorische Form der Ironie
gebraucht, ohne diesen Gebrauch besonders anzuzeigen (vgl. Eco, 1982). So hat man
denn auch, neben den im Gespräch gebräuchlichen „Ironiesignalen“,14 immer wieder
über die Einführung eines besonderen Ironiezeichens analog dem Ausrufe- oder Frage-
zeichen nachgedacht.15
Auch die rhetorische Sprachform Ironie kommt als umfassendes Bildungsziel nicht
in Frage. Wohl ist es wünschenswert, dass Heranwachsende im Sprachunterricht mit
dem Gebrauch und der Geschichte dieser rhetorischen Figur bekannt gemacht werden,
dies ist allenfalls jedoch ein sehr spezifisches, kein allgemeines Bildungsziel.
Besonnenheit für den Staat sowohl wie für den Einzelnen“ (Platon: Der Staat. Viertes Buch,
S. 169).
12 Fast alle Theoretiker der Ironie in der klassischen Antike sind sich darin einig, „in Sokra-
tes den eigentlichen Meister der Ironie zu erblicken. Der durch das Untertreiben seiner Ta-
lente, durch das berühmte Nichtwissen, den Gegenspieler in Verlegenheit versetzt und diesen
gleichzeitig mit Fopp und Spott auf die richtige Gedankenbahn bringt. Die Ironie erscheint
hier in jener verfeinerten, humanen und zugleich humorvollen Selbstdemütigung, die Sokra-
tes zum Urbild des Lehrers macht“ (Ernst Behler in Fischers Literaturlexikon Bd. II, S. 811).
13 So schon in der „Rhetorik für Alexander“, die unter dem Namen des Aristoteles überliefert
ist, aber Anfang des 3. Jh. von Anaximenes verfasst wurde. Vgl. Behler (1996, S. 815).
14 „[…] durch eine kontextuell ungewöhnliche Ausdrucksweise beim Rezipienten den Verdacht
zu wecken, dass der Zeichenproduzent nicht genau das ausdrückt, was er meint“ (Müller,
1995, S. 242).
15 Der Gebrauch des Smiley ☺ kann in dieser Tradition verstanden werden.
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 43
Eine Neubestimmung der Ironie setzt bei Friedrich Schlegel (1772-1829) ein. Dabei
fällt auf, dass Schlegel sich in seiner Auseinandersetzung mit der Ironie auf Sokrates
zurückbezieht.16 In den kritischen Fragmenten von 1797 besonders im Fragment Nr. 42
erweitert Schlegel den Ironiebegriff weit über den bisherigen Gebrauch der Ironie hi-
naus.17 War Ironie seit der Antike als eine Sprachform verstanden worden, die beson-
ders dadurch wirksam sei, dass sie spärlich Anwendung finde,18 erweitert Schlegel den
Begriff in dem er ihn auf ganze Werke, wie von Cervantes, Shakespeare und Goethe an-
wendet die gleich wie die platonischen Dialoge insgesamt von ironischem Geist seien.
Gemeint ist damit eine „Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Bedingte
unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität“ (Schlegel, 1797, aus
Fragment 42). Ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive diese Ausweitung des Iro-
niebegriffs auf ganze Werke bedeutsam, so ist unter bildungstheoretischer Perspektive
hervorzuheben, dass Schlegels Ironie auch ein Verhältnis des Menschen zur Welt be-
schreiben kann. So wird ihr im Fragment 108 attestiert: „Sie enthält und erregt ein Ge-
fühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Un-
möglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung“ (Schlegel, 1797, aus
Fragment 108). Hier scheint schon etwas auf von dem, was Reichenbach (2000) als
menschlichen Dilettantismus beschreibt. In den mit „Ideen“ überschriebenen Fragmen-
ten findet sich der Satz: „Ironie ist klares Bewusstsein der ewigen Agilität, des unend-
lich vollen Chaos“ (Schlegel, KA II, 263, 69). Dies geht weit über Literatur hinaus und
zielt auf eine Lebenshaltung. Allerdings ist diese Lebenshaltung eine, die keineswegs
allgemein gelten zu können scheint, sondern an so exquisite Voraussetzungen gebunden
bleibt, dass sie nur für wenige erreichbar ist: „Sie entspringt aus der Vereinigung von
Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist, aus dem Zusammentreffen vollende-
ter Naturphilosophie und vollendeter Kunstphilosophie“ (Schlegel, 1797, aus Fragment
108). Dass ein solcher Ironiebegriff allgemeinverbindlich, z.B. im Sinne von Bildungs-
standards als Minimalstandards als Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Teil-
habe sei (vgl. Klieme, 2003), wird man schwerlich behaupten können.
Reichenbach (2000) allerdings hält an dem demokratischen Gedanken, als Manifes-
tation des Politischen, fest. Insofern wird die Ironie, die Bildung anzielen müsse, in sei-
nem Verständnis weniger exklusiv als die Schlegelsche Ironie sein müssen, auch wenn
sie an dem mit Schlegel thematisierten fragmentarischen Charakter der Bildung festhal-
ten wird.
16 Fragment 108 der Kritischen Fragmente ist überschrieben mit: „Die Sokratische Ironie“.
17 „Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im ganzen und überall den göttlichen
Hauch der Ironie atmen“ (Schlegel, 1797, aus Fragment 42).
18 „Freilich gibt’s auch eine rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht vortreffliche Wirkung
tut, besonders im Polemischen; doch sie ist gegen die erhabene Urbanität der sokratischen
Muse, was die Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen eine alte Tragödie in hohem Stil“
(Schlegel, 1797, aus Fragment 42).
44 Allgemeiner Teil
Richard Rorty (1931-2007) hat im Zusammenhang mit den Begriffen „Kontingenz“ und
„Solidarität“ auch den Begriff der „Ironie“ erörtert (Rorty, 1992). Darin nennt er „Iro-
nikerin“ eine Person, „die drei Bedingungen erfüllt: (1) sie hegt radikale und unaufhör-
liche Zweifel an dem abschließenden Vokabular, das sie gerade benutzt, weil sie schon
durch andere Vokabulare beeindruckt war, Vokabulare, die Menschen oder Bücher,
denen sie begegnet ist, für endgültig nahmen; (2) sie erkennt, dass Argumente in ihrem
augenblicklichen Vokabular diese Zweifel weder bestätigen noch ausräumen können;
(3) wenn sie philosophische Überlegungen zu ihrer Lage anstellt, meint sie nicht, ihr
Vokabular sei der Realität näher als andere oder habe Kontakt zu einer Macht außerhalb
ihrer selbst“ (S. 127).
Ironie beschreibt bei Rorty damit ein Selbstverständnis, das eigene Anschauungen
nicht verabsolutiert. Ironikerinnen behalten sie in dem Bewusstsein bei, dass sie prinzi-
piell auch anders sein könnten und zwar aus der Erfahrung heraus, dass sie auch schon
anders waren,19 oder dass es andere Überzeugungen gibt, die ebenso viel Plausibilität
für sich beanspruchen können. Ein solches Ironieverständnis könnte sich mit dem de-
mokratischen Prinzip zumindest hinsichtlich seiner Nichtexklusivität vertragen. Sollte
also solche Ironie Ziel der Bildung sein? Dies ist durchaus umstritten. Denn hier liegt
die – je nach Perspektive – Gefahr oder Chance der Ironie, nichts letztlich Ernst neh-
men zu können, sondern immer nur insofern, als es möglich wäre, auch gänzlich andere
Überzeugungen einzunehmen.20
Diese Kritik hat in aller Schärfe Hegel (1770-1831) geführt. Sein Gegenüber war frei-
lich nicht Rorty, aber das Argument gegen die romantische Ironie richtet sich auf die
für wünschenswert erklärte Möglichkeit, beliebige Perspektiven einnehmen zu können
und darin sind Rortys und der romantische Ironiebegriff durchaus verwandt: „Das aber
sind schlechte, untaugliche Subjekte, die nicht bei ihrem festen und gewichtigen Zwe-
cke bleiben können, sondern ihn wieder aufgeben und in sich zerstören lassen. Solche
Ironie der Charakterlosigkeit liebt die Ironie. Denn zum wahren Charakter gehört einer-
seits ein wesentlicher Gehalt der Zwecke, andererseits das Festhalten solchen Zwecks,
so dass der Individualität ihr ganzes Dasein verloren wäre, wenn sie davon ablassen und
ihn aufgeben müsste“ (Hegel, 1986, S. 63).
19 Hier scheint Rorty einen anderen Modus als den des Konvertiten im Sinn zu haben, der vom
Eiferer in der einen Richtung zu einem Eiferer in der anderen Richtung wird.
20 Vgl. zu dieser Ambivalenz der Ironie Tenorth (2001).
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 45
Die Ironie steht bei Hegel gegen jede Ernsthaftigkeit, sie ist unvereinbar mit wahrem
Charakter. Womit der Übergang zum zweiten Fragekomplex nach den älteren Bildungs-
zielen, die durch Ironie abgelöst werden sollten, markiert ist.21
4.1 Emanzipation
21 Kritisch, wenn auch weniger drastisch, setzt sich auch Kierkegaard (1813-1855) in seiner Dis-
sertation „Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“ mit dem roman-
tischen Ironiebegriff auseinander. Nach Scharper plädiert Kierkegaard gegen die romantische
Ironie darin für eine „beherrschte Ironie“ die sie als einen Mittelweg zwischen Wirklichkeits-
verlust und Wirklichkeitsabhängigkeit“ (Scharper, 1994, S. 33) beschreibt. Vgl. dazu Franke
(2009), der dieses Modell der beherrschten Ironie auch unter Aufgabe der Kierkegaardschen
christlichen Weltdeutung für nichtverbale Symbole fruchtbar zu machen versteht.
22 Parteinahme versteht er dabei in dem Sinne, als eine solche Theorie nicht exterritorial sein
könne, sondern immer eine Position im Zusammenhang vieler politischer Interessen sein
müsse.
46 Allgemeiner Teil
S. 151). Condorcets Nationalversammlungsrede gilt ihm als Beleg für die emanzipa-
torische Dimension des Erziehungsbegriffes.23 Auch Humboldt habe eine Antwort auf
die pädagogisch verbrämten Herrschaftsansprüche des absolutistischen Staates gege-
ben, die jedoch in der Abtrennung des Bildungsprozesses vom Staat aber auch von der
bürgerlichen Ökonomie bestand (vgl. 1973, S. 157). Problematisch sei nun, dass diese
emanzipative Trennung der Bildung von Staat und Ökonomie sich verselbständigt und
insofern ihre emanzipative Kraft verloren habe, als das so entstandene Gymnasium
kein Bewusstsein repräsentierte, das zu politischer Kritik fähig war, sondern den „affir-
mativen Charakter“ bürgerlicher Kultur bestärkte, die mit der sozialen Bewegung des
19. Jhs. zum Instrument der bürgerlichen Herrschaft verkam (vgl. S. 158). Um nun po-
litische Handlungsmotivation bei der heranwachsenden Jugend zu wecken und zu stär-
ken – was die eigentliche Aufgabe politischer Bildung sei (vgl. S. 154) – sei es nötig, die
Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft darzustellen, sowie die Interessenlagen, die
diesen Verhältnissen zugrunde liegen. Dazu müssten die verfassungsmäßig garantier-
ten Freiheitsrechte im Konflikt mit den „realen Formen von Unfreiheit und Ungleich-
heit“ konfrontiert werden.24 Politische Bildung impliziere deshalb „als eine pädagogi-
sche Veranstaltung die Motivierung der heranwachsenden Generation, sich in diesem
Prozess zu engagieren gegen die manifesten Formen von Unfreiheit und Ungleichheit“
(Mollenhauer, 1973, S. 160). Das Profil politischer Bildung könne „nicht mehr mit den
Begriffen Verantwortung, Gemeinwohl, Kooperation, Partnerschaft gezeichnet werden,
sondern eher mit Hilfe von Begriffen wie Interesse, Herrschaft, Konflikte, Regelsys-
teme“ (S. 160).
4.2 Einführung/Affirmation
23 „Ein derart emanzipatorischer Begriff von Erziehung ist nicht mehr funktional, sondern im
Sinne des gegebenen sozialen Systems disfunktional. Er markiert einen gesellschaftlichen
Konflikt“ (Mollenhauer, 1968/1973, S. 27).
24 „Die gegenwärtige politische Realität erschließt sich nur, wenn der in der Verfassung formu-
lierte und in den rechtsstaatlichen Organen institutionalisierte Begriff von einem die Freiheit
und Gleichheit der Bürger garantierenden Staat konfrontiert wird mit den realen Formen von
Unfreiheit und Ungleichheit, an denen die Gesellschaft festhält oder die sie neu hervorbringt“
(1973, S. 160).
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 47
1. Ein für die beginnende bürgerliche Gesellschaft fortschrittlicher Grund: Wenn die
Gleichheit der Menschen angezielt werden soll, so müsse jedes Kind das „Ganze“
lernen, auch wenn es nur einen kleinen Teil des gesellschaftlichen Lebens tatsächlich
zu Gesicht bekomme (vgl. Mollenhauer, 1983/2003, S. 53).
2. Ein eben diese Gesellschaft kritisierender Grund: Die Dinge erscheinen in Comenius
Bilderbuch in einer kosmologischen, gottgegebenen Ordnung. Dies liest Mollen-
hauer als Kritik an zweckrationalen Funktionszuschreibungen des Menschen in der
bürgerlichen Welt, da der Mensch als Gegenüber Gottes in der Schöpfung verortet
wird (vgl. 2003, S. 53, S. 58).
Bemerkenswert daran scheint mir, dass Mollenhauer nun in der Darstellung der Ord-
nung ein kritisches Moment zu erkennen vermag. Die Einführung in Bestehendes ge-
winnt für Mollenhauer einen Wert, der keinesfalls unkritisch sein muss, dennoch aber
nicht auf Emanzipation von etwas zielt, sondern auf seine Bejahung, seine Affirmation.
Da es problematisch erscheinen mag, Mollenhauer mit seiner Comenius-Exegese
zum Kronzeugen der Affirmation zu erheben, sei der Gedanke einer anderen Theoreti-
kerin kurz nachgezeichnet, der den Sinn von Affirmation als ein Bildungsziel plausibel
macht.
Hannah Arendt (1906-1975) hat in ihrem Aufsatz „Die Krise der Erziehung“ Ende
der 50er Jahre eine Figur entwickelt, in der sie eine Ursache der durch sie in den USA
diagnostizierten Krise der Erziehung darin meinte ausmachen zu können, dass ein Er-
ziehungssystem quasi über Nacht seinen Siegeszug gehalten hatte, dass die Methode
der eigenen Erfahrung, des Versuchs und Irrtums, zur allgemein praktizierten Lehrme-
thode machte. Gezielt ist auf die Formel des Pragmatismus, dass „man nur wissen und
erkennen könne, was man selbst gemacht habe, und ihre Anwendung auf die Erziehung
ist ebenso primitiv wie einleuchtend; sie besteht darin, das Lernen durch Tun so weit
wie möglich zu ersetzen“ (Arendt, 1994, S. 264). Sie nimmt wahr, dass die Lehreraus-
bildung lediglich auf die Vermittlung dieser neuen didaktischen Verfahren Wert lege,
die Fachausbildung jedoch verkümmern lasse.25 Fatal sei, dass dies jedoch nicht nur im
Fachunterricht gelte, sondern in den USA, als dem urdemokratischen Staat, dies prag-
matistische Paradigma auch auf den Bereich der Bildung und Erziehung übertragen
werde. Die Kinder – als die Neuen – sollen demnach im Bereich des Bildungssystems
sich selbst demokratisch organisieren und gleichberechtigt an ihren Erfahrungen lernen.
Damit seien sie jedoch der schlimmsten Tyrannei ausgeliefert, da sie keinen Schutzraum
der Erziehung mehr genössen, sondern sich ständig einer Mehrheit von Gleichaltrigen
gegenübersähen, derer sie sich erwehren oder an die sie sich anpassen müssten. Mit De-
25 „Der Grund, warum man keinen Wert darauf legte, dass der Lehrer sein Fach beherrschte,
war, dass man ihn zwingen wollte, die Tätigkeit des Lernens dauernd neu zu produzieren, da-
mit er nicht, wie man meinte, „totes Wissen“ weitergäbe, sondern ständig zeige, wie es ge-
macht wird. Man wollte bewusst kein Wissen lehren, sondern eine Geschicklichkeit einüben,
als sei die Schule eine Lehre, in der man ein Handwerk lernt“ (1994, S. 264).
48 Allgemeiner Teil
mokratie habe das nichts zu tun und könne nur zum Scheitern der Erziehung führen, was
in der Krise ihren Ausdruck finde.
Hier sei nicht untersucht, ob die Diagnose Arendts so eigentlich je zutraf. Für den
hier verhandelten Zusammenhang ist am Rande beachtenswert, dass Hannah Arendt bei
der Begründung der Einführung und Affirmation als Bildungsziel sich selbst des Mittels
der Ironie bedient, wenn auch nur als rhetorischer Form.26
Wichtiger aber sind die systematischen Schlüsse die sie aus ihrer Beobachtung zieht.
Erziehung zur Demokratie (die sie als Gesellschaftsform bejaht) dürfe selbst gerade
nicht demokratisch sein. Sie habe den Auftrag, die Kinder – als die Neuen – einzuführen
in unsere Welt, ihnen Geborgenheit und Schutzraum zur Verfügung zu stellen und ande-
rerseits auch die Welt vor den „heranstürmenden Kindern“ und schützen und sie schritt-
weise vom Elternhaus in die Schule und von dort weiter in die Welt zu entlassen.27 Die
Emanzipation der Arbeiter und der Frauen unterstützt Arendt (1994), aber das Bemühen
um die Emanzipation der Kinder sei ein folgenschweres Missverständnis,28 weil diese
noch nicht im Vollsinne Personen seien und den Schutz der Privatsphäre in der Zeit des
Aufwachsens brauchten, bis sie als Personen in die Öffentlichkeit treten könnten. Die
Kinder bräuchten Bezugspersonen, die ihnen gegenüber die Welt verbürgten, in die sie
hineinwachsen. Diese Verantwortungsübernahme für die Welt gegenüber den Heran-
wachsenden, nennt Arendt Autorität.29
Arendt (1994) unterscheidet zwischen Lehren und Erziehen. Lehren bedarf einer
nicht nur didaktischen sondern auch fachlichen Qualifikation des oder der Lehrenden.
Erziehen bedarf der Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für die Welt30 gegen-
26 „Die heutige Krise in Amerika besteht darin, dass man die Verderblichkeit dieser Grundüber-
zeugungen erkannt hat und nun verzweifelt versucht, das gesamte Erziehungssystem zu re-
formieren beziehungsweise ganz und gar umzustellen. Dabei will man im wesentlichen […]
nichts als restaurieren: Man will wieder im Sinne von Autorität erziehen; man will durch-
setzen, dass die Spielerei auf den Schulen aufhört und wieder ernsthaft gearbeitet wird; man
spricht schließlich sogar davon, die bisherigen Lehrerseminare so umzustellen, dass die Leh-
rer selbst etwas lernen müssen, bevor sie auf die Kinder losgelassen werden dürfen“ (Arendt,
1994, S. 265).
27 „Die Verantwortung für das Werden des Kindes ist in einem gewissen Sinne eine Verantwor-
tung gegen die Welt: Das Kind bedarf einer besonderen Hütung und Pflege, damit ihm nichts
von der Welt her geschieht, was es zerstören könnte. Aber auch die Welt bedarf eines Schut-
zes, damit sie von dem Ansturm des Neuen, das auf sie mit jeder neuen Generation einstürmt,
nicht überrannt und zerstört werde“ (Arendt, 1994, S. 267).
28 „Das „Jahrhundert des Kindes“, wie Sie sich erinnern werden, sollte das Kind emanzipieren,
und das hieß, es von der Unterdrückung durch die Erwachsenen und die Maßstäbe, die aus
der Welt der Erwachsenen stammen, befreien“ (Arendt,1994, S. 268).
29 „In der Erziehung äußert sich diese Verantwortung für die Welt in der Autorität“ (Arendt,
1994, S. 270).
30 „Die Qualifikation des Lehrers besteht darin, dass er die Welt kennt und über sie belehren
kann, aber seine Autorität beruht darauf, dass er für diese Welt die Verantwortung übernimmt.
Gegenüber dem Kinde nimmt er es gleichsam auf sich, die Erwachsenen zu repräsentieren,
die ihm sagen und im Einzelnen zeigen: Dies ist unsere Welt“ (Arendt, 1994, S. 270).
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 49
über den Heranwachsenden. Nur so sei eine bejahende Grundeinstellung zur Welt durch
die Kinder zu entwickeln, die Kritik und Stellungnahme allererst ermögliche.
31 In einer unterhaltsamen und aufklärenden Untersuchung hat Richard Schröder (2009) dies
in seiner Abschiedsvorlesung von der Berliner Humboldt-Universität zum Thema „Galilei,
Brecht und das Fernrohr“ vorgeführt.
32 Dem korrespondiert die Bildungsdefinition Saul Robinsons: „Bildung als Vorgang in subjek-
tiver Bedeutung ist Ausstattung zum Verhalten in der Welt. Das der Bildungsprozess sich am
Bestand der Kultur orientiert, dass die Interpretation der Wirklichkeit sich mit Hilfe tradierter
Formen und Gehalte vollzieht, widerspricht dieser Aufgabenstellung nicht, sondern ist in ihr
impliziert“ (Robinson, 1973, S. 132).
33 Auch der Vertreter einer negativen Erziehung, Rousseau, lässt seinen Erzieher Jean-Jaques
die Welt des Emile in höchstem Maße kontrolliert, wenn auch mit der Absicht des unbemerkt-
Bleibens ordnen. Herbart sieht in dieser „ästhetischen Darstellung der Welt“ gar die zentrale
Aufgabe der Erziehung (Herbart, 1804/1982).
50 Allgemeiner Teil
Diese vorgegebene Ordnung ist dabei keinesfalls mit der illusorischen Annahme ei-
ner heilen Welt zu verwechseln. Comenius lebt in der Zeit des 30jährigen Krieges und
ist sein halbes Leben auf der Flucht.
In Bezug auf die Beurteilung der dilemmatischen Grundsituation des Menschen
stimmen die Aussagen in den hier verhandelten Texten Arendts und Reichenbachs über-
ein: „Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende
Welt, denn dies ist die menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen
Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen“
(Arendt, 1994, S. 273). Arendts Konsequenz heißt jedoch nicht Ironie, sondern Affirma-
tion in der Phase der Erziehung, um sodann im Bereich des Politischen den Schutzraum
der Erziehung verlassen zu können und gleichberechtigt an dem beinahe immer vergeb-
lich erscheinenden Werk Anteil zu nehmen.
Dass in der Spätmoderne jeder Weltdeutung andere Weltdeutungen gegenüberstehen,
ohne dass sich eine Instanz benennen ließe, die eine bestimmte Weltdeutung letztgültig
verbürgen könnte, beschreiben Rorty (1992) wie Reichenbach (2000) als Eigenschaft der
ironischen Situation. Dies wurde freilich zuweilen in Erziehungskonzeptionen – zum Bei-
spiel vom DDR-Staatsbürgerkundeunterricht – vergessen, indem ihm die Aufgabe zukam,
in eine in bestimmter Weise gedeutete und für wahr erklärte Wirklichkeit einzuführen.34
Freilich scheiterte diese für wahr vorgegebene Deutung permanent an den konkreten Welt-
erfahrungen der Heranwachsenden, was nun wiederum eine unfreiwillig ironische Situa-
tion heraufbeschwor, die Tilman Grammes in der Formel von Staatsbürgerkunde als dem
„unmöglichen Fach“ verdichtete (vgl. Grammes, Schluß & Vogler, 2006).35
Gleichwohl kann die Ironie, wie die Emanzipation nicht gänzlich auf eine Einfüh-
rung verzichten, zu der sie ins Verhältnis setzt. Während die Emanzipation auf eine Be-
freiung von den Zwängen des Vorgegebenen zielt, geht die Ironie nur in Distanz zu ihr.
Dass nur die Emanzipation handlungsmotivierend sein könne, kann mit gutem Grund
bestritten werden. Reichenbach (2000) erkennt zum Einen, dass die Handlungsmoti-
vation der Emanzipation in vielen Fällen trügerisch ist, weil aller Erfahrung nach häu-
fig zum Scheitern verurteilt. Gleichwohl ist am Prinzip des Nicht-Ausgeliefertseins der
Emanzipation festzuhalten. Dies erfordert ein sich ins Verhältnis setzen zu. Das kann die
Emanzipation, aber auch die Ironie. Die Ironie befreie unter spätmodernen Bedingun-
gen deshalb zur Möglichkeit der Handlung, weil sie mit dem Scheitern rechne und ge-
rade daraus mit einem „fröhlichen Pessimismus“ sich in das Engagement hinbegibt, mit
dessen wahrscheinlichem Scheitern sie rechnen muss.
Wenn Mollenhauer in anderem Zusammenhang vom „Ernstcharakter“ pädagogisch
motivierter Handlungen sprach, so kommt in der Ironie – so könnte man umkehren –
gerade der „Spielcharakter“ zum Tragen.36 Ein Vergleich der Jugendbewegungen des
34 Ein anderes Beispiel mögen die Thesen Robert Spaemanns sein, der Erziehung als nahezu
distanzlose Einführung in die Sitte interpretiert (vgl. Spaemann, 1996).
35 Fatal war, dass dieses „unmögliche Fach“ dennoch unterrichtet wurde, was Indoktrinations-
bemühungen zur Folge hatte (vgl. Schluß, 2007, dort weitere Literatur).
36 Eben darauf bezieht sich Reichenbachs Rede vom wesensmäßigen menschlichen Dilettantis-
mus. Heydorn zeigt, was aus einer teleologischen emanzipatorischen Geschichtsauffassung
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 51
neuen Jahrhunderts und der 68er des alten Jahrhunderts mag das illustrieren. Selbst die
engagierte Antiglobalisierungsbewegung unserer Tage ist von der Selbstwirksamkeits-
überzeugung der 68er weit entfernt. Dies mag einem Überschlag in terroristische Ex-
treme entgegenwirken, die dann wahrscheinlicher wurden, als die anderen Aktivitäten
zur Veränderung der Gesellschaft nicht den gewünschten Erfolg zeigten, die Befreiung
von den gegebenen Verhältnissen jedoch zentrales Handlungsziel blieb. Die Emphase
der Emanzipation hat unter spätmodernen Bedingungen der Globalisierung an Über-
zeugungskraft eingebüßt. Beide Diagnosen Mollenhauers, sowohl das Zutrauen in die
Rationalität politischer Diskurse als auch die Messbarkeit des Grades der Offenheit von
Gesellschaften an dem Ausmaß der Erörterung der Widerstände gegen ihre rationale Er-
örterung, teilt Reichenbach nicht. Vielmehr könne eine solche öffentliche Widerständig-
keit gerade die reibungslos funktionierende Demokratie zum Erliegen bringen.
Freilich ist mit Reichenbach einzugestehen, dass Ironie mitnichten handlungsmoti-
vierend wirken muss. Die Ironie steht in der Gefahr zur bloßen, wenn schon nicht rhe-
torischen Figur, so doch zur distanzierten Zuschauerperspektive zu verkommen.37 Die
empirischen Untersuchungen im Bereich der Politik weisen, wie gezeigt, weit eher auf
Abstinenz, denn auf Aktivität hin.
Insofern die Emanzipation Handlungsmotivation zum Ziel hatte, jedoch Scheitern
systematisch provoziert, indem sie Einzelne oder Gruppen ins offene Messer der „Sach-
zwänge“ laufen lässt, Ironie Handlungsmotivation zwar nicht ausschließt, jedoch alles
andere als zwingend oder auch nur wahrscheinlich werden lässt, kann dem Hineinwach-
sen in die Welt, auch in ihre Zwänge, noch einmal neu eine nicht nur repressive, sondern
auch aktivierende Bedeutung beigemessen werden.38
Der Ironie als Bildungsziel ist eine Bedeutung gegenüber Affirmation wie Eman-
zipation zuzuerkennen. Auf diese Weise können bildungsidealistische wie normative
Positionen begrenzt werden. Zugleich begrenzen und kritisieren Affirmation und Eman-
zipation sich nicht nur wechselseitig, sondern eben auch die Ironie, die durch dieses
Wechselspiel nicht zur selbstgenügsamen Distanz verkommen muss.
Ein festes Verhältnis, wie eine Reihen- oder Rangfolge, wird sich zwischen Einfüh-
rung, Ironie und Emanzipation nicht herstellen lassen. Nicht einmal kann dieses Netzwerk
von Erziehungszielen als abgeschlossen gelten. „Kritik“ (vgl. Benner, Göstemeyer &
Sladek, 1999) z.B. verdient ebenso einen Platz in diesem homöostatischen Geflecht von
wird, die ihr Ende mit der Reihe Kant, Fichte, Humboldt und ihrem Höhepunkt Marx eigent-
lich schon hinter sich hat. Wenn hier noch in der Gegenwart gehandelt werden könnte, dann
nur noch ironisch. Das Fehlen von Ironie in der Heydornschen Konzeption politischer Bil-
dung macht die spürbare Lethargie dieser Konzeption für die Gegenwart aus (vgl. Heydorn,
1980).
37 Søren Kierkegaard stellte 1843 in „Entweder – Oder“ zwei Lebensweisen alternativ vor, die
er zwar nicht ironisch nennt, sondern die „ästhetisch und ethisch“ bezeichnet werden, von de-
nen jedoch die ästhetische insofern auch Nähe zur Ironie zeigt, als sie Distanz zu den Dingen
wahrt, sie unter dem Aspekt der Genussmaximierung klassifiziert und betrachtet (vgl. Kier-
kegaard, 1843/2005).
38 So jüngst die subjekttheoretisch orientierte Untersuchung von Bünger (2007, S. 174).
52 Allgemeiner Teil
Bildungszielen.39 Auf die Notwendigkeit der Kritik für die politische Bildung und das
Nicht-Genügen von Ironie als Ziel politischer Bildung weist Carsten Bünger hin:
„Die Betonung menschlicher Beschränktheit mag zwar von der Überforderung be-
freien, welche gegenwärtige Omnipotenzphantasien produzieren, doch vermag der
Hinweis auf prinzipielle Inkompetenz nicht die spezifischen gesellschaftlichen Ver-
hältnisse in den Blick zu nehmen, die gegenwärtige Subjektivität konstituieren und
damit das Verhältnis von Kompetenzlogik und Dilettantismus für politische Bildung
überhaupt erst bedeutsam werden lassen“ (Bünger, 2007, S. 173).
Bünger (2007) plädiert deshalb für einen „reflexiven Dilettantismus“ (Anm. 18), den
man mit gleichem Recht wohl auch „kritischen Dilettantismus“ nennen könnte.
Hier seien die Überlegungen abgebrochen und lediglich zwei Vermutungen noch an
den Abschluss gestellt, die es zu prüfen gälte:
● Zum Einen soll behauptet sein, dass die hier angestellten Überlegungen zu Bildungs-
zielbeschreibungen nicht nur für den Bereich der politischen Bildung relevant sein
können, sondern überall dort, wo Erziehungsbemühungen auf handelnde Stellung-
nahmen durch die sich bildenden Subjekte zielen. Das ist vermutlich kaum im Be-
reich der Mathematik der Fall aber zumindest in Fragen der unterrichtlichen Ausei-
nandersetzung mit Themen der Ethik, der Religion oder auch der Ästhetik sind beide
Voraussetzungen – wie im Bereich der politischen Bildung – gegeben.
● Zum Zweiten scheint es mir überlegenswert, ob die dilemmatische Situationsbe-
schreibung des spätmodernen Subjekts überhaupt auf die Spätmoderne begrenzt ist,
oder ob hier nicht auf einen Grundzug menschlicher Existenz rekurriert wird, der le-
diglich in gewissen Ermächtigungsphantasien der Vernunft oder auch des Subjekts,
philosophiegeschichtlich kurzzeitig überblendet war.40
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(S. 255-276). München: Piper Verlag.
Aristoteles. Nikomachische Ethik. I. Teil. Die sittliche Anforderung III. Die einzelnen Arten der
sittlichen Betätigung 3. Verhalten zu den anderen Menschen im Umgang c) Wahrhaftigkeit.
Jena 1909.
39 Inwiefern „Mündigkeit“ als Bildungsziel sich hier einreiht, oder nicht doch vorgeordnet sein
soll, oder ganz zu verabschieden ist, kann hier nicht erörtert werden (vgl. Rieger-Ladich,
2002).
40 Z.B. bei Schleiermacher korrespondiert dem was Reichenbach den menschlichen Dilettantis-
mus nennt, in seiner Glaubenslehre das Bild der schlechthinnigen Abhängigkeit (vgl. Schlei-
ermacher, 1830/1960, § 4), Rousseau spricht von der Perfektibilité, die eben nicht Vollkom-
menheit meint, sondern Vervollkommnung und schon Platon weiß, dass der Mensch „akos-
metos“ ist.
Schluß: Ironie als Bildungsziel? 53
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54 Allgemeiner Teil
Abstract: Starting from the plea for making irony an educational goal of political educa-
tion formulated by Roland Reichenbach in one of his writings, the author discusses the
question of which concept of irony is aimed at in this context. Reichenbach himself does
not elaborate on whether there should also be other educational objectives to be pur-
sued by political education. However, since he does not mention any other goals, the pre-
sent contribution mainly focuses on the thesis that irony – although it cannot be the only
educational goal of political education, superseding other educational objectives such as
emancipation or affirmation – could or should none the less – in combination with these
other objectives – be part of an open network of educational goals. The description of
the situation given by Reichenbach, which forms the basis of his thesis that the late mo-
dern situation requires irony to be a goal of political education, essentially holds true for
all areas of education. This leads to the question, discussed in the third part of this con-
tribution, whether this definition of educational goals could be extended to other areas of
education.
Christian Niemeyer
Es mutet paradox an, ist aber gleichwohl vorab zu konstatieren: Viele Nietzscheforscher,
aber auch Erziehungswissenschaftler und Lehrer aller Couleur machen um Nietzsches
Hauptwerk Also sprach Zarathustra (1883-1885) einen großen Bogen. Klammheimlich
halten sie es mit Hermann Wein. Er hat schon vor Jahrzehnten einem Nietzsche ohne
Zarathustra das Wort geredet und wollte dies als Beitrag zur Entkitschung Nietzsches
verstanden wissen, zur Wiedergewinnung des kritischen Aufklärers. Auch wollte er so
ein (mögliches) Missverständnis der Rezeptionsgeschichte beseitigen, in deren Verlauf
Nietzsche hineingeraten sei „in die deutsch-bürgerliche Hauspostille und in die Tornis-
ter des deutschen Soldaten des 1. Weltkriegs.“ (Wein, 1972, S. 359) Nietzsche selbst
hat mit anti-feministischen Sprüchen wie: „Das Glück des Mannes heißt: ich will. Das
Glück des Weibes heisst: er will.“ (KSA 4, S. 85) oder: „Alles am Weibe ist ein Räthsel,
und Alles am Weibe hat eine Lösung: sie heisst Schwangerschaft.“ (S. 84) einiges zu
dieser insofern scheinbar politisch korrekten Zurückhaltung beigetragen. Auch Nietz-
sches Anspruch, er habe mit dem Zarathustra „die deutsche Sprache zu ihrer Vollen-
dung“ gebracht, es sei „nach Luther und Goethe, noch ein dritter Schritt zu thun“ (KSB
6, S. 479) gewesen, kurz: Zarathustra sei ‚große Dichtung‘, war nicht wirklich hilf-
reich in der Sache. Viel eher sorgte derlei eher für Spott nach Art des schweizerischen
Dichters und (späteren) Literaturnobelpreisträgers (1919) Carl Spitteler. Er ließ sehr zu
Nietzsches Ärger den Zarathustra zwar „als ‚höhere Stilübung‘“ durchgehen, aber eben
anfügend, Nietzsche solle „später doch auch für Inhalt sorgen“ (KSA 6, S. 299).
Auch über Nietzsches geistigen Zusammenbruch hinaus dominierten derart skepti-
sche Wertungen. Genannt sei nur ein weiterer Literaturnobelpreisträger, Thomas Mann.
Er vermochte im Zarathustra nur „erregte[n] Wortwitz“ zu identifizieren sowie „ge-
quälte Stimme und zweifelhafte Prophetie“, ausgesprochen von einer „an der Grenze
des Lächerlichen schwankende[n] Unfigur.“ (Mann, 1947, S. 684). Insoweit hat es
durchaus etwas Beruhigendes, dass dem Wort von der ‚großen Dichtung‘ (à la Luther
und Goethe) ein anderes zur Seite steht. Gemeint ist die Sorge Nietzsches, mit dem Za-
rathustra „nun gar noch unter die ‚Litteraten‘ und ‚Schriftsteller‘“ zu geraten, mit der
Folge, dass „das Band, das mich mit der Wissenschaft verknüpfte, […] als zerrissen er-
scheinen [wird].“ (KSB 6, S. 360). Wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, sollte Nietzsche
mit dieser Sorge recht behalten: Im Ergebnis von Wertungen wie jener Thomas Manns
verkam ein Werk, das 1924 immerhin im 360. Tausend erschien und an das Nietzsche
die Erwartung auf den nun endlich fälligen Durchbruch seiner Philosophie gekoppelt
hatte, zur belächelten Kuriosität. Es erheischte eine Zarathustra-Lesart Geltung, die
man im August 2006 in Gestalt der Inszenierung Also sprach Zarathustra. ZARATHUS-
TRA – Die Gestalten sind unterwegs mit dem Aktionskünstler Jonathan Meese und dem
Schauspieler Martin Wuttke in den Hauptrollen im Park von Schloss Neuhardenberg
besichtigen konnte und die Nietzsche nach Erscheinen des ersten Teils schon antizipiert
zu haben schien: Von „jetzt ab“, so meinte er im Februar 1883 in jenem hier als Motto
genutzten Brief, „werde ich wohl in Deutschland unter die Verrückten gerechnet wer-
den.“ (KSB 6, S. 321).
Den Anfang damit machte vor über 100 Jahren der Leipziger Nervenarzt Paul Mö-
bius. Er verlor fast die Contenance angesichts von Zarathustra IV, speziell „das über
alle Beschreibung widerliche Eselsfest“ betreffend, ebenso wie die „vollkommen
blödsinnig[en]“ (Möbius, 1909, S. 125) Verse Unter Töchtern der Wüste. In der Summe
identifizierte Möbius im Zarathustra widerwärtige „Lästerung[en]“, „wüste[s] Schimp-
fen“, schlüpfrigen „Wortsalat“ (Möbius, 1909, S. 125-126) sowie Sätze, denen jeder
Sinn entbehre und denen insoweit ein besonderer Pathologiewert eigen sei. Möbius‘
zentrales Fundstück in diesem Zusammenhang war der Satz: „Wie Manches heisst jetzt
schon ärgste Bosheit, was doch nur zwölf Schuhe breit und drei Monate lang ist!“ (KSA
4, S. 185). Dies klingt in der Tat völlig sinnlos – aber auch nur, solange man nicht der
von Nietzsche in diesem Zusammenhang eingearbeiteten Quelle nachgeht. Wenn man
dies tut, stellt man fest, dass der Ausdruck ‚zwölf Schuhe breit‘ Bezug nimmt auf eine
mittelalterliche Rechtsbestimmung, der zufolge bei Haftantritt eine bestimmte, in die-
sem Fall durchaus komfortable Zellengröße zu verlangen sei. Ähnliches gilt für den
zweiten rätselhaften Ausdruck (‚drei Monate lang‘). Denn man musste der damaligen
Niemeyer: Nietzsche – nur Narr? 57
Rechtssprechung zufolge schon eine Strafe von mehr als drei Monaten in Aussicht ha-
ben, um ein Fall für das Schwurgericht (und nicht nur das Schöffengericht) zu sein (vgl.
KSA 14, S. 307) und mithin berechtigten Anspruch erheben zu dürfen auf das Attribut
‚ärgste Bosheit‘.
Halten wir kurz inne: Die Sprache des Zarathustra ist offenbar von einem hohen
Maß an Intertextualität geprägt. Sie fordert dem Interpreten also einiges ab in Sachen
Quellenforschung sowie Kontexterkundung. Natürlich kann man dabei den Autor fra-
gen, warum er sich denn so kompliziert ausdrücken musste. Eine vielleicht nicht ganz
statthafte Erklärung könnte lauten, dass es ihm schlicht eine klammheimliche Freude
gewesen sei, sich seine zukünftigen Leser beim Nüsse knacken vorzustellen.1 Eines
freilich geht fraglos nicht: nämlich aus Ärger über diesen bösen Streich Nietzsches oder
schlicht aus Faulheit den Autor dieses Werkes zu pathologisieren.
Damit sind wir durchaus auch bei der Pädagogik. Denn lege artis autorisiert sie
zwar nichts zum Pathologisieren. Andererseits gehört die Ausgrenzung des Störenden –
wie, metaphorisch gesprochen, jeder zweite Amoklauf lehrt und jeder dritte Sitzenblei-
ber bestätigen kann – so sehr zum erzieherischen Alltagsgeschäft, dass man sich nicht
wundern darf über das Treiben auf der Beletage, sprich: Zumal in der Zeit bis zum Ers-
ten Weltkrieg stand Nietzsche – genannt seien nur die Fälle Otto Willmann,2 Friedrich
Paulsen3 und Wilhelm Rein4 – mit seinem Zarathustra im Fokus eines in pädagogi-
erst schafft es, dass Etwas gut und böse ist.” (KSA 4, S. 247). Auch ohne tiefere Nietzsche-
Hermeneutik wird hier deutlich, dass Nietzsche keineswegs ‚den Wirrwarr der Meinungen‘
zu mehren sich anheischig machte, sondern Bedingungen diskutierte, die ein Wissen darüber
in Aussicht stellten, was ‚gut‘ und was ‚böse‘ sei.
5 Mit der Pointe, dass man, in deren Logik gedacht, „den Anspruch einer auf Autonomie und
Solidarität gleichermaßen ausgerichteten Begründung von Sittlichkeit und moralischer Erzie-
hung“ (Benner & Peukert, 1983, S. 395) fallen lassen müsse.
6 Dies gilt auch für die Kritik von Jürgen Oelkers an Nietzsches „allenfalls hochfahrender Po-
lemik, die die Argumente anderer nur verletzen, nicht aber oder allenfalls negativ von ihnen
lernen will.“ (Oelkers, 2001, S. 174).
Niemeyer: Nietzsche – nur Narr? 59
Habermas führen lässt, in Sachen Pädagogik und Zarathustra zu notieren ist, erlaubt
den Schluss, dass deutschsprachige Pädagogen sich in den letzten einhundert Jahren nur
selten für das ganze, insgesamt vierteilige Werk interessiert haben. Allenfalls einigen
Teil-Lehren – wie die vom Übermenschen – sowie einigen Schlagworten wurde erzie-
herischer Wert beigemessen. Diese Rezeptionshaltung verstärkte den Eindruck, Nietz-
sche sei vor allem zu beachten wegen seiner Sprachgewalt, wegen seiner Befähigung
zum geflügelten Wort oder zum packenden, pädagogisch relevanten Slogan, wie etwa:
„Gelobt sei, was hart macht!“ (KSA 4, S. 194), mit der noch griffigeren Variante: „wer-
det hart!“ (S. 268) In dieser Linie zog man – zumal nach 1933 (vgl. Niemeyer, 2002,
S. 114ff.) – auch Sätze in Betracht wie: „[W]as fällt, das soll man auch noch stoßen!“
(KSA 4, S. 261). Damit waren Reflexe grundgelegt, wie man sie nach 1945 bei Bruno
Reifenrath beobachten konnte: Ihm diente der von Nietzsche im Zarathustra eher bei-
läufig zitierte Assassinen-Wahlspruch „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ (S. 340) als
hinreichender Beleg, Nietzsche als Wegbahner der „Willkür des Übermenschen“ (Rei-
fenrath, 1980, S. 248), wenn nicht gar als Legitimator nationalsozialistischer Vernich-
tungspraxis ausweisen zu dürfen.
In diesen Zusammenhang gehört auch die merkwürdige Karriere des Zitats „‚Das
Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter.‘“ Nietzsche, der es ganz offenkundig
von Emerson übernahm (vgl. Baier, 1984, S. 68), notierte es sich erstmals im Frühjahr
1884 (KSA 11, S. 10). Offenbar schien es ihm hilfreich für die Ausgestaltung des Ab-
schnitts Gespräch mit den Königen aus Zarathustra IV (KSA 14, S. 698). Hier erwecken
jene Könige im angeblichen Befolgen der Lehre Zarathustras den Eindruck, sie wollten
oder könnten mit Schwertern Frieden schaffen (vgl. Niemeyer, 2007, S. 91ff.). Das Zi-
tat selbst begegnet einem dann noch in Ecce homo (KSA 6, S. 319) zwecks Affirmation
des ‚kriegerischen‘ Duktus der ersten Unzeitgemässen Betrachtung David Strauss der
Bekenner und der Schriftsteller sowie zweimal im Nachlass, zum einen nur als solches
(KSA 11, S. 333), zum anderen mit dem Zusatz: „– auch ein Symbolon und Kerbholz-
Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verrathen und errat-
hen.“ (KSA 12, S. 75). Man sieht: Im Vergleich zu der Zitatverwendung aus der Zara-
thustra-Zeit, die immerhin noch eine ironische Bedeutungsgebung einschloss, hat das
Zitat nun an martialischer Zurüstung gewonnen. Allerdings wäre es wohl unbekannt ge-
blieben – hätte Förster-Nietzsche die letztgenannte Stelle nicht unter § 952 als Teil des
(vierten) Buches Zucht und Züchtung ihrer Edition Der Wille zur Macht (1906) präsen-
tiert. Außerdem hat sie es im Ersten Weltkrieg als Teil der von ihr zusammengeklaub-
ten Worte ihres Bruders „für Krieg und Frieden“ (Förster-Nietzsche, 1918, S. III) der
bereits erwähnten Kriegsausgabe des Zarathustra vorangestellt. Damit gewann es eine
Prominenz, die zumal im ‚Dritten Reich, unheilvoll war. Dies kann am Beispiel des
Oberstudienrats Paul Schulz (1939, S. 247) belegt werden. Er sah die nun nötige heroi-
sche Erziehung u.a. durch dieses Zitat gerechtfertigt (vgl. auch Klein, 1940, S. 8). Dass
man Nietzsche dann nach 1945 eine „kriegstreiberische Philosophie“ (Barthel, 1947,
S. 59) zuschrieb und, nicht zuletzt dieses Zitats wegen, die ‚Entnazifierung‘ verwei-
gerte (vgl. etwa Müller, 1946, S. 7), kann kaum überraschen. Dies gilt auch deshalb,
weil erst gar nicht publik wurde, was sich Nietzsche schon 1882 als sein Gegenwort no-
60 Allgemeiner Teil
tiert hatte: „Wo der Baum der Erkenntniß steht, ist immer noch das Paradies.“ (KSA 10,
S. 69).
Zwar ist in der Pädagogik auch eine in die Richtung dieses Zitats weisende, in die
Tradition der Aufklärung gehörende Rezeptionslinie zu beobachten. So gewannen bei-
spielsweise aus reformpädagogischer Perspektive vor dem Ersten Weltkrieg (vgl. Nie-
meyer, 2002, S. 75ff.) Sätze an Prominenz wie etwa: „Frei wovon? Was schiert das
Zarathustra! Hell soll mir dein Auge künden: frei wozu?“ (KSA 4, S. 81). Oder: „Man
vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.“ (S. 101). So-
wie, und dieses Zitat wurde vor allem populär, weil es Ellen Key als Motto für ihre re-
formpädagogische Programmschrift Das Jahrhundert des Kindes (1900) nutzte: „Fast
in der Wiege giebt man uns schon schwere Worte und Werthe mit: ‚gut‘ und ‚böse‘ – so
heisst sich diese Mitgift. Um derentwillen vergiebt man uns, dass wir leben./Und dazu
lässt man die Kindlein zu sich kommen, dass man ihnen bei Zeiten wehre, sich selber zu
lieben: also schafft es der Geist der Schwere.“ (KSA 4, S. 242). Aber zu einem tieferen
Verständnis des Gemeinten ist es zu keinem Zeitpunkt gekommen. Ganz zu schweigen
ist von einer systematischen Erörterung des von Nietzsche im Zarathustra vertretenen
Erziehungsverständnisses.
2. Methodologische Konsequenzen
Die zentrale methodologische Forderung aus den bisher gegebenen Beispielen lautet,
jedem (in pädagogischer Absicht erfolgenden) Reden über Nietzsche und den Zarathus-
tra die in der Nietzscheforschung längst gängige Forderung voranzustellen, jedes je-
weils bemühte Zitat oder Schlagwort einer strengen kontextanalytischen Methode zu
unterziehen.7 Dies mag mühsam sein, nur: unterhalb dessen ist das Mitspracherecht in
Sache Nietzsche nicht zu erwerben. Was dies erfordert, lässt sich exemplarisch am Satz:
„[N]ur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen“ (KSA 4, S. 145) erläutern, der in der
(pädagogischen) Rezeptionsgeschichte der bereits mehrfach erwähnten fragwürdigen8
Lesart Nietzsches als Kriegsphilosoph zugehört. Denn tatsächlich hat der Satz mit Krieg
oder Tod in wortwörtlicher Bedeutung nicht das Geringste zu tun. Eher schon geht es
um eine eigentherapeutische Selbstermutigung am Ende einer bitteren Abrechnung, die
Nietzsche seiner Mutter wie Schwester in verschlüsselter Form wegen ihres Verhaltens
in der Lou-Affäre präsentiert (vgl. Niemeyer, 1998, S. 40ff.; 2007, S. 24). Ähnliches gilt
für den Abschnitt Das Nachtlied – auch aus Zarathustra II –, dem wohl ergreifendsten
7 Das erfordert auch Klarheit über Nietzsches Begriffsgebrauch, insbesondere die Begriffe „Er-
ziehung“ (Niemeyer, 2009a) sowie „Psychologie“ (Niemeyer, 2009b) betreffend.
8 Empirisch gesehen ist allenfalls der Fakt gesichert, dass sich am Ende des Ersten Weltkrie-
ges mehr als eine Viertelmillion Exemplare des Zarathustra in Umlauf befanden, wohingegen
Zeugnisse über eine tatsächlich stattgehabte Lektüre durch deutsche Weltkriegssoldaten eher
spärlich sind, im Gegensatz zu Belegen für eine Zurichtung Nietzsches als ‚Kriegsphilosoph‘
durch seine Schwester (vgl. Niemeyer, 2002, S. 85ff.).
Niemeyer: Nietzsche – nur Narr? 61
Text, den Nietzsche, auch seinem eigenen Urteil zufolge,9 verfasst hat. Schon der An-
fang, der verrät, dass dieses Lied in Rom geschrieben wurde,10 ist anrührend: „Nacht
ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein sprin-
gender Brunnen./Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch
meine Seele ist das Lied eines Liebenden.“ (KSA 4, S. 136). Wenn man der Selbstausle-
gung des Autors trauen will, geht es hier um die „Klage, durch die Überfülle von Licht
und Macht, durch seine [Zarathustras; d. Verf.] Sonnen-Natur, verurtheilt zu sein, nicht
zu lieben.“ (KSA 6, S. 345). Freilich: Wenn man die Druckvorlage heranzieht, stellt
man fest, dass die erste Intention des Autors offenbar dahin ging, zu enden mit: „[…]
nicht geliebt zu werden“ (vgl. Kjaer, 1995, S. 132). Dieser Sachverhalt setzt den Ver-
dacht frei, hier sei gar nicht von Zarathustra, sondern von Nietzsche die Rede und von
einer Ideologie, die ihm half, das Ausbleiben der Gegenliebe seitens seiner vormaligen
(1882) Rom-Geliebten Lou v. Salomé rational zu erklären. Eine weitere Ebene der Inter-
pretation eröffnet sich im Blick auf Zeilen wie: „Viel Sonnen kreisen im öden Raume:
zu Allem, was dunkel ist, reden sie mit ihrem Lichte, – mir schweigen sie.“ (KSA 4,
S. 137). Denn dies scheint fast schon nach einer psychoanalytischen Lesart zu verlan-
gen. Aus ihr heraus könnte man diesen Text – in Kenntnis der Krankengeschichte Nietz-
sches – als Zeugnis nehmen für eine (frühe) psychotische Episode des Autors mit Zügen
von Depersonalisation und Objektbeziehungsstörung (vgl. Klaf, 1959).
Dieses letzte Beispiel lehrt also, dass die Sprache des Zarathustra – sei sie nun äs-
thetisch gelungen oder nicht – mitunter auch deshalb so dichterisch ist, weil sie etwas
verbergen soll. Nietzsche selbst hat darüber keinen Zweifel gelassen. In einem unmit-
telbar nach Abschluss der Fahnenkorrektur von Zarathustra II verfassten Brief an Hein-
rich Köselitz schrieb er: „Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und
Erlittene darin, das nur mir verständlich ist – manche Seiten kamen mir fast blutrüns-
tig vor.“ (KSB 6, S. 443). Über ein Jahr später – inzwischen liegt auch Zarathustra III
vor – erfährt der nämliche Briefempfänger: „Zarathustra hat einstweilen nur den ganz
persönlichen Sinn, daß es mein ‚Erbauungs- und Ermuthigungsbuch‘ ist – im Übrigen
dunkel und verborgen und lächerlich für Jedermann.“ (KSB 6, S. 525). Viele Passagen
des Zarathustra sind also in einer Art Privatsprache verfasst, die man zu entschlüsseln
hat. Man kann sie nicht einfach aus diesem ihrem primären Kontext entbinden, um sie
beispielsweise – wie im Fall des Satzes „[N]ur wo Gräber sind, giebt es Auferstehun-
gen“ nachweisbar – für kriegsphilosophische oder -pädagogische Zwecke zu instrumen-
talisieren.
Daraus folgt zugleich, dass auch andere, primär privatsprachlich zu entschlüsselnde
Passagen des Zarathustra zwar aufschlussreich sind für biographieorientierte Nietz-
scheforschung. Sie sind aber nicht eigentlich wichtig für die Rekonstruktion von Nietz-
sches Erziehungsverständnis. Ich nenne als ein Beispiel Das andere Tanzlied aus Zara-
9 „Dergleichen ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Diony-
sos“ (KSA 6, S. 348).
10 Konkret: „Auf einer loggia hoch über der […] piazza [Barberini; d. Verf.], von der aus man
Rom übersieht und tief unten die fontana rauschen hört“ (KSA 6, S. 341).
62 Allgemeiner Teil
thustra III, in welchem der Leser erneut – so wie schon in Das Tanzlied aus Zarathus-
tra II – in verschlüsselter Form mit Nietzsches Liebesleid in Sachen Lou v. Salomé
behelligt wird (vgl. Niemeyer, 2007, S. 84ff.). Denken könnte man auch an Zarathus-
tra I, Von den Fliegen des Marktes, wo eine Art Ressentimentanalyse offeriert wird, die
am Ende zuungunsten von Nietzsches Mutter wie Schwester ausschlägt.11 Etwas anders
verhält es sich mit Zarathustra I, Vom Wege des Schaffen. Dieser Abschnitt kann als ein
durchaus zweischneidiges Loblied auf die Einsamkeit (unter den Vorzeichen der „Ver-
einsamung“) gelesen werden. Insoweit geht es um eine Variante auf die briefliche Klage
Nietzsches (gegenüber Erwin Rohde): „Himmel! Was bin ich einsam!“ (KSB 6, S. 292).
Hinweisen könnte man auch auf Zarathustra II, Von der unbefleckten Erkenntnis sowie
die gleich nachfolgende Rede Von den Gelehrten. Beide Abschnitte haben eine kaum
verklausulierte Abrechnung mit Nietzsches ‚Doktorvater‘ Ritschl zum Inhalt, auch mit
Nietzsches Basler Jahren (als Professor), etwa in Gestalt der Zeilen: „Und als ich bei ih-
nen wohnte, da wohnte ich über ihnen. Darüber wurden sie mir gram.“ (KSA 4, S. 162).
Indes gilt hier: Strittige oder fremdartige Details werden bei einem biographieorien-
tierten Zugang vielleicht etwas schärfer sichtbar, nicht aber die Hauptsache. Gemeint
ist damit die von Nietzsche im Zarathustra vertretene Botschaft, von der ja wohl aus-
zugehen ist, wenn man Nietzsches Hinweis bedenkt, seine „ganze Philosophie“ ver-
berge sich hinter „all den schlichten und seltsamen Worten“ dieses „Büchleins [gemeint
war Zarathustra I; d. Verf.]“ (KSB 6, S. 386). Damit war zugleich der Auftrag an seine
(nachgeborenen) Interpreten verbunden, dieses Werk wieder für den Theoriediskurs über
Nietzsches Philosophie zugänglich zu machen. Nietzsche selbst hat hierfür zahlreiche
Hinweise gegeben, angefangen von seinem letztlich auch ihn überraschenden Eindruck
„[b]eim Durchlesen von ‚Morgenröthe‘ und ‚fröhlicher Wissenschaft‘ […], daß darin
fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genann-
tem Zarathustra dienen kann“ (S. 496); weitergeführt in seiner Hoffnung, Jenseits von
Gut und Böse werde „ein paar erhellende Lichter auf meinen Zarathustra […] werfen“
(KSB 7, S. 223); und endend in seiner analogen, diesmal auf Ecce homo bezogenen Er-
wartung (KSB 8, S. 492) sowie der Maßgabe, sein Antichrist wende sich an Leser, „wel-
che meinen Zarathustra verstehn.“ (KSA 6, S. 167). Mehr noch: Mit Seitenblick auf den
1886 vorgelegten Versuch einer Selbstkritik (zur Geburt der Tragödie) und der im näm-
lichen Jahr abgeschlossenen Vorrede zur Neuausgabe von Menschliches, Allzumensch-
liches bestimmte Nietzsche ausdrücklich: „Das Wesentliche ist, dass, um die Voraus-
setzungen zum Verständniß des Zarathustra zu haben […] alle meine früheren Schrif-
ten ernstlich und tief verstanden werden müssen; insgleichen die Nothwendigkeit der
Aufeinanderfolge dieser Schriften und der in ihnen sich ausdrückenden Entwicklung.“
(KSB 7, S. 237). Insoweit besteht hinreichend Anlass, den Zarathustra im Kontext der
Werke des mittleren, des späten, aber auch des frühen Nietzsche zu lesen und in die dort
11 Beredt sind in dieser Hinsicht vor allem die Zeilen: „Ja, mein Freund, das böse Gewissen bist
du deinen Nächsten: denn sie sind deiner unwerth. Also hassen sie dich und möchten gerne
an deinem Blute saugen.“ (KSA 4, S. 68).
Niemeyer: Nietzsche – nur Narr? 63
entwickelte Theoriesprache zu übersetzen. Was dies für die Pädagogik bedeuten könnte,
möchte ich in den zwei nachfolgenden Abschnitten andeuten.
Es liegt nahe, dabei an der in der pädagogischen Rezeption gängigen Lesart Zarathus-
tras als Erzieher anzusetzen. Sie scheint gute Gründe zu finden in dem in Zarathustra’s
Vorrede herausgestellten Satz: „Ich lehre euch den Übermenschen.“ (KSA 4, S. 14).
Denn auffällig ist ja, dass Zarathustra schon in der ersten Szene als Erzieher scheitert,
sprich: dem fehlgehenden Begriffsverständnis des Seiltänzers sowie der sich an seinen
Kunststücken erquickenden ‚letzten Menschen‘ (also der Anti-Übermenschen) unter-
worfen bleibt (vgl. Niemeyer, 2007, S. 11ff.). Und zu fragen bleibt, warum Nietzsche
Zarathustra überhaupt als Erzieher eingeführt hat, eingedenk etwa des frühen (1874)
Slogan: „[D]eine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier“ (KSA 1, S. 341)
sowie des nachfolgenden (1880), unter der Überschrift Es giebt keine Erzieher dargebo-
tenen Beschlusses: „Nur von Selbst-Erziehung sollte man als Denker reden.“ (KSA 2,
S. 667). Im Übrigen: Eine Gebrauchsanweisung in Sachen Selbst-Erziehung findet sich
schon 1874 unter dem Motiv der Gegenwehr gegen die „bereits anerzogne Natur“ (KSA
1, S. 328). Zu denken ist auch an das Motiv der Häutung in der Morgenröthe (KSA
3, S. 275), das in Zarathustra I unter dem Motto der (Selbst-)Verwandlung (KSA 4,
S. 29ff.) fortgeführt wird. Und schließlich ist hinzuweisen auf den Schlussabschnitt von
Zarathustra IV, der gelesen werden kann als Dokument der gelungenen Selbst-Erzie-
hung Zarathustras hin zum Übermenschen (vgl. Niemeyer, 2007, S. 125ff.). Erzieher
sind weder hier noch dort erforderlich, besser gesagt: erwünscht. Für die letztgenannte
Vokabel spricht jedenfalls Nietzsches – von Stendhal (KSA 14, S. 198) entlehnter –
Bannspruch auf Eltern und Lehrer als „nos ennemis naturels“ (KSA 2, S. 668). Er sorgte
für große Empörung im pädagogischen Mainstream (vgl. etwa Schnitzler, 1926, S. 81),
Zustimmung allerdings kam aus anti-autoritär gesonnenen Kreisen der Reformpädago-
gik (vgl. Niemeyer, 2002, S. 143ff.).
Wichtig dabei ist, dies zumal im Blick auf das Stichwort ‚biographieorientierte
Nietzscheforschung‘: Was hier nachklingt, ist ein Stück weit auch ein Resümee Nietz-
sches bezogen auf seine eigene Erziehung, die im Wesentlichen von der Mutter getra-
gen und verantwortet wurde. Deren Leistung erscheint in einem fahlen Licht, wenn man
bedenkt, dass schon der gerade Zweieinvierteljährige zum 21. Geburtstag seiner Mutter
auf Vorgabe seiner Tante Rosalie die Verse aufsagen sollte: „‚Liebe Mutter ich wünsche
Dir Glück, und mir einen freundlichen Blick.‘“ (zit. n. Schmidt, 1995, S. 45). Die un-
verheiratete, im Hause Nietzsche lebende Tante hatte sie also offenbar sensibel regis-
triert: die innere Not schon des Kleinkindes, auf die Nietzsche Jahrzehnte später (1882)
mit den Worten anzuspielen scheint: „Ein kalter Blick, ein verzogener Mund von Seiten
Derer, unter denen und für die man erzogen ist, wird auch vom Stärksten noch gefürch-
tet. Was wird da eigentlich gefürchtet? Die Vereinsamung! als das Argument, welches
auch die besten Argumente für eine Person oder Sache niederschlägt! – So redet der
64 Allgemeiner Teil
Zarathustras Auslegung als Psychologe beginnt mit der – in der neueren pädagogischen
Rezeption viel beachteten12 – Setzung aus der berühmten vierten Rede „Leib bin ich
ganz und gar und Nichts ausserdem“ sowie der nachfolgenden Erläuterung: „,Ich‘ sagst
du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, –
dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.“ (KSA 4, S. 39).
Als Weiterführung ist zu denken an die Bestimmung aus dem Antichrist: „Wir haben
umgelernt. […] Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist‘,, von der ‚Gottheit‘
ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.“ (KSA 6, S. 180) Und als Vorberei-
tung ist zu denken an Nietzsches Überlegung aus der Morgenröthe, wonach im „soge-
nannten ‚Ich‘“ nicht eigentlich eine Tatsache zu sehen sei (KSA 3, S. 107), sondern eher
ein Indiz für die dem Menschen eigene Neigung, das „Activum und das Passivum [zu]
verwechseln“ (S. 115). Die Konsequenz für die Selbstauslegung Zarathustras als ‚Leh-
rer des Übermenschen‘ ist erheblich. Denn wessen es nun und als Ersatz für seine über-
eilte volkserzieherische Tätigkeit bedarf, ist eine Psychologie des Lernens sowie des
Unbewussten. Sie hätte wiederum einer Pädagogik des Übermenschen, zumindest aber
einer subtilen Menschenkunde zuzuarbeiten, etwa nach Maßgabe der Auslegung Zara-
thustras als „Räthselrather und Erlöser des Zufalls“ angesichts dessen, „was Bruchstück
ist am Menschen und Räthsel und grauser Zufall“ (KSA 4, S. 248). Hiermit sowie mit
der 1888 nachgereichten Titulierung Zarathustras als „der erste Psychologe der Gu-
ten“ und folglich „Freund der Bösen“ (KSA 6, S. 369) sind die entscheidenden Stich-
worte genannt. Denn tatsächlich erweist sich Zarathustra zumindest in einigen der Re-
den, die noch folgen, als beides, und dies in durchaus raffinierter Konstruktion, denn:
Als ‚Psychologe der Guten‘ auftretend, ist er zugleich der vermeintlich Guten hartnä-
ckigster ‚Feind‘; und als ‚Freund der Bösen‘ agierend, ist er zugleich der vermeintlich
Bösen hartnäckigster Psychologe, der im Sinne der Leitidee von Menschliches, Allzu-
menschliches dartun will, dass „die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten
Stoffen gewonnen sind“ (KSA 2, S. 24), oder, so Zarathustra in einer seiner Reden an
einen potentiellen Jünger: dass „deine Tugenden […] aus deinen Leidenschaften [wuch-
sen].“ (KSA 4, S. 43). Beispielhaft für diese neue Lehre und Lehrstrategie sind – was
Zarathustra I angeht – die Reden Vom bleichen Verbrecher sowie Vom Baum am Berge,
was hier nicht mehr erläutert werden kann (vgl. Niemeyer, 2007, S. 18ff.).
Wichtiger ist der Hinweis, dass Zarathustra auch in Zarathustra II weniger als Erzie-
her denn als Psychologe agiert. Als solcher pflegt er fürwahr eine „neue Rede“ (KSA 4,
S. 106), etwa, wenn er von der „Unterwelt“ und den „Schatten des Ehemals“ (S. 154)
spricht oder davon, dass sich „die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten [hebt].“
(S. 159). Metaphern wie diese – ob nun gelungen oder nicht – sind zu lesen als Vor-
schein auf eine zu entwickelnde psychologische Fachsprache. Sie bringt zugleich einen
Paradigmenwechsel im Blick auf Nietzsches Kulturbegriff zur Anzeige (vgl. hierzu Nie-
meyer, 2008). Zarathustra bedarf ihr, weil er sich das Studium des Menschen unter Kon-
zentration auf das ‚Tierhafte‘ zur Aufgabe macht, sprich: als „der Erkennende [...] unter
Menschen als unter Thieren“ (KSA 4, S. 113) wandelt. Das Ergebnis ist niederschmet-
ternd und möglicherweise biographisch aufschlussreich: „Fremd sind mir und ein Spott
die Gegenwärtigen […]; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern.“ (S. 155).
Entsprechend demaskiert Zarathustra nacheinander die ‚Mitleidigen‘, die ‚Priester‘, die
‚Tugendhaften‘, das ‚Gesindel‘ und schließlich die „Prediger der Gleichheit“, denen er
Rachsucht anlastet und die Vermummung der „heimlichsten Tyrannen-Gelüste […] in
Tugend-Worte“ (S. 129). Vor allem aber hält er ihnen vor, dass der Übermensch unter
dem Regiment der von ihnen verfochtenen (christlichen) Idee der Gleichheit gar nicht
real werden kann, nach dem selbstgewiss vorgetragenen Refrain des Pöbels: „wir sind
Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!“, auf den es nur eine
Antwort gäbe: „Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott!“ (S. 356).
So gesehen kann dann nicht überraschen, dass Zarathustra auch im dritten Teil des
Zarathustra als Psychologe auftritt. Dies gilt schon für die erste Rede, insofern er das
„andere Meer“ vor sich ausgebreitet sieht und spricht: „Die Nacht aber war kalt in die-
ser Höhe und klar und hellgestirnt.“ (KSA 4, S. 195). Denn die Vokabel ‚hellgestirnt‘
66 Allgemeiner Teil
erinnert ebenso an Kant13 wie die wenig später folgende (ironische) Anrufung des
„Himmel[s] über mir“ (S. 206; vgl. hierzu Klass & Kokemohr, 1998, S. 319-320), mit
fatalem Ergebnis. Denn was Zarathustra ausgebreitet findet, ist nicht jenes von Kant un-
terstellte moralische Gesetz in der eigenen Brust, sondern die „schwarze traurige See
unter mir“, die „schwangere nächtliche Verdrossenheit“ (KSA 4, S. 195) des Meeres,
also – so darf man übersetzen (vgl. Niemeyer, 2007, S. 64ff.) – die Notwendigkeit der
psychologischen Erforschung der Nacht- und Schattenseite des Menschen anstelle ei-
ner (so bei Kant) bloßen Setzung des diesem verfügbaren moralischen Vermögens. Von
diesem Forschungsprogramm – so darf man weiter übersetzen – erwartete Zarathustra
offenbar eine belehrende, beispielgebende Wirkung auch für jene, die er als seine ‚Ge-
fährten‘ und ‚Mitschaffenden‘ in Aussicht nimmt, insofern er ihnen in der übernächs-
ten Rede abverlangt, dass am „Meer […] ein Jeder einmal seine Tag- und Nachtwachen
haben [soll], zu seiner Prüfung und Erkenntniss.“ (KSA 4, S. 204). Diesen Vorschlag
unterbreitet Zarathustra – und damit tritt er nun deutlich in seine zweite Rolle als (psy-
chologisch belehrter) Erzieher ein –, nachdem er die in der Pädagogik beliebte Wachs-
tums- und Gärtnermetaphorik bemüht hat und seiner „Kinder in ihrem ersten Frühlinge“
gedenkt, „nahe bei einander stehend und gemeinsam von Winden geschüttelt“ (S. 204).
Auch hier fällt – unter Rückbesinnung auf Vom Baum am Berge aus Zarathustra I (vgl.
Niemeyer, 2007, S. 22ff.) die Übersetzung nicht schwer: Der ‚erste Frühling‘ repräsen-
tiert die Pubertät, und die Fortführung ‚gemeinsam von Winden geschüttelt‘ symboli-
siert die triebhafte Unruhe und Beunruhigung, die für sie kennzeichnend ist.
Zusammenfassend darf man Nietzsches Zarathustra als Zeugnis lesen für zumal des
späten Nietzsches Einsicht in die Schwäche von Erziehung, dann und sofern sie nicht
vom Wissen um die Psychologie des Menschen getragen ist. Und: Wenn sie allein darin
gründet, „den Einzelnen“ – wie es in Die fröhliche Wissenschaft kritisch heißt – „durch
eine Reihe von Reizen und Vortheilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestim-
men, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen
letzten Vortheil, aber ‚zum allgemeinen Besten‘ in ihm und über ihn herrscht.“ Kurz:
Die im Fall gelingender Erziehung resultierende Tugend des Einzelnen ist nach Nietz-
sche eine „öffentliche Nützlichkeit“, aber ein „privater Nachtheil“ (KSA 3, S. 392). Die-
sen Preis zu zahlen war Nietzsche nicht bereit. Seine Alternative lautet denn auch et-
was anders und ist um Vokabeln gruppiert wie Psychologie und Selbst-Erziehung sowie
Wiederherstellung der „Unschuld“ des Geschehens durch Entfernung des „Begriffs der
Strafe“ aus der Welt (S. 26).14 Vielleicht – so meine Vermutung – waren dies insgesamt
13 Gemeint ist die berühmte Gleichsetzung des „bestirnte[n] Himmel[s] über mir“ mit dem
„moralische[n] Gesetz in mir“ aus Kants Kritik der praktischen Vernunft, die, so Wolfram
Groddeck (1989, S. 490), Nietzsche seit 1868 zumindest über die Quelle Kuno Fischer be-
kannt gewesen sein dürfte.
14 Speziell für Erzieher, die weniger unter der Tyrannei der Kinder als vielmehr unter jener der
neueren Erziehungsratgeber leiden (vgl. Göppel, 2009), ist dabei vielleicht der – auch in Za-
rathustra III (KSA 4, S. 222ff.) wieder aufgegriffene – Ratschlag von Interesse: „Ringen wir
nicht im directen Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Son-
dern erheben wir uns selber umso höher! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere
Niemeyer: Nietzsche – nur Narr? 67
Literatur
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Farben! Verdunkeln wir den Andern durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um seinetwil-
len selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei
Seite! Sehen wir weg!“ (KSA 3, S. 552).
68 Allgemeiner Teil
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Niemeyer: Nietzsche – nur Narr? 69
Abstract: From the very beginning, Nietzsche’s philosophical novel Thus Spoke Zarathus-
tra with its central theory of the Übermensch (superman) met with incomprehension and
great skepticism due to both the language and the literary form chosen by Nietzsche for
this work. This may well explain why, in the course of 125 years of reception history in the
German-speaking realm, the emphasis has predominantly been on individual pedagogi-
cally relevant slogans and on criticism regarding suggestions such as “Nothing is true,
everything is permissible!” In fact, the work’s promotion – pushed above all by Nietzsche’s
sister – as a book of edification to be found in the pack of every (German) soldier in the
First World War is to be regarded with skepticism. In contrast to these sometimes mis-
taken, sometimes selective readings, the author tries to open up a new approach to the
work based on Nietzsche’s suggestion that in this book he had told an, in parts, rather
personal story which could be translated into the language of a theory on the basis of suf-
ficient knowledge of his biography and his other writings. The author aims at showing that,
why and how Nietzsche undertakes a paradigm shift in Thus Spoke Zarathustra, – a shift
away from a pedagogical and towards a psychological discussion of the issue.
1. Einleitung
Der sozioökonomische Hintergrund von Schülern ist spätestens seit den Ergebnissen
der PISA-Studie 2000 (Baumert & Schümer, 2001) ein wichtiges Thema in der (soziolo-
gischen) Bildungsforschung (Baumert, Stanat & Watermann, 2006; Ditton & Krüsken,
2006a). Als zentrale Resultate können der deutliche Unterschied zwischen 15-jährigen
Schülern unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft in den erreichten Kompetenz-
niveaus der Domänen Lesen und Mathematik sowie die unterschiedliche Bildungsbetei-
ligung in Abhängigkeit der sozioökonomischen Herkunft gesehen werden (Baumert &
Schümer, 2001; Ehmke, Hohensee, Heidemeier & Prenzel, 2004). Während die Ana-
lyse sozialer Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung in der soziologischen Bildungs-
forschung eine lange Tradition hat, ist die differenzierte Analyse sozialer Disparitäten
im Kompetenzerwerb vergleichsweise jung. In neueren Studien wird zwar bei der Be-
trachtung längerer Zeiträume eine gewisse Abnahme sozialer Ungleichheitsmuster do-
kumentiert (Breen & Luijkx, 2007; Mayer, Müller & Pollak, 2007). Insgesamt muss
man aber in der Bundesrepublik von einer hohen Stabilität der Grundmuster sozialer
Disparitäten der Bildungsbeteiligung (insbesondere im internationalen Vergleich) spre-
chen. Dieser Befund hat immer wieder das Bildungssystem selbst in den Blickpunkt des
Interesses gerückt und die Frage aufgeworfen, ob das Bildungssystem als Institution
selbst die Disparitäten mit verursacht. Konkret richtet sich dabei der Fokus auf den Un-
terricht und die Rolle des Lehrers.
Viele Arbeiten zum Thema Ungleichheiten im Bildungssystem beziehen sich auf Pierre
Bourdieu, der in seinen Arbeiten zur Kulturtheorie die Schule explizit als Institution der
Mittel- und Oberschicht bezeichnete, die kulturelle Werte der gebildeten Klassen ver-
körpere. Es handele sich somit bei der Schule um ein System für die gebildeten Klas-
sen, das durch eine Gleichbehandlung von Ungleichheiten systematisch jene Schüler
benachteilige, die aufgrund ihres kulturellen Erbes den kulturellen Anforderungen der
Schule nicht gewachsen seien (Bourdieu, 2001, S. 39).
Die bourdieusche These, wonach die Schule gerade durch ihre institutionalisierte
Werteordnung, den verlangten Sprachcode und die Verkehrsformen – Merkmale, die an
den Normen der Mittelschicht orientiert seien – sozial diskriminierend wirke, hat viele
Anhänger gefunden, obwohl die empirischen Belege ausgesprochen schwach sind. Die
Befunde von Längsschnittuntersuchungen, die überhaupt erst eine Überprüfung der the-
oretischen Annahmen zulassen, liefern wenig Unterstützung. So konnte zum Beispiel
nachgewiesen werden, dass Merkmale der sozioökonomischen Herkunft nach Kontrolle
des Vorwissens und der kognitiven Grundfähigkeiten praktisch keinen Einfluss auf die
Leistungsentwicklung von der 7. bis zur 10. Jahrgangsstufe hatten (Baumert & Köller,
1998; Baumert, Köller & Schnabel, 2000). Diesen Befund bestätigt auch die an PISA-
2003 gekoppelte Längsschnittstudie von der 9. zur 10. Klassenstufe (Ehmke et al.,
2006).
Speziell die Annahme, dass die sozioökonomische Herkunft der Lehrkräfte selbst
ihre Berufsausübung beeinflusst und somit zu den eben beschriebenen Ungleichhei-
ten beiträgt, ist bisher so gut wie nicht empirisch geprüft worden. Ziel der vorliegen-
den Studie ist es, die zuvor beschriebenen Zusammenhänge für das deutsche Bildungs-
system erstmals systematisch zu analysieren. Die Untersuchung liefert zunächst einen
Überblick über die sozioökonomische Herkunft von Lehrkräften in der Sekundarstufe
I in allgemeinbildenden Schulen in Deutschland. Die Beschränkung auf die Sekundar-
stufe I liegt in der Möglichkeit begründet, den Effekt auf Berufswahlentscheidungen bei
gleichen Leistungsvoraussetzungen im Sinne einer Wahl unterschiedlicher Laufbahnen
zu untersuchen. Weiterhin soll untersucht werden, wie deutlich ein herkunftsbezogenes
Mismatch zwischen Schülern und deren Lehrkräften (als Vertreter der Institution) auf-
tritt, welches zudem unterschiedliche Auffassungen bezüglich der zu vermittelnden In-
halte nach sich zieht.
Grundlage für die Untersuchung sind Daten, die im Rahmen von PISA 2003 erho-
ben wurden und Informationen von Lehrern liefern, die Mathematik an den an PISA be-
teiligten Schulen unterrichten. Da die Kulturtheorie von Bourdieu den Ausgangspunkt
für die vorliegende Untersuchung darstellt, werden zunächst die wichtigsten Annahmen
und Ausführungen zu möglichen Effekten seitens der Lehrer innerhalb seiner Theorie
kurz umrissen.
72 Allgemeiner Teil
1 Dabei unterscheidet Bourdieu drei Klassen, die Arbeiterklasse, die des Kleinbürgertums und
die der Bourgeoisie.
2 Die Begriffe Klasse und Schicht werden in der vorliegenden Studie synonym verwendet (vgl.
Geißler, 2006). Im Folgenden sprechen wir im Wesentlichen von verschiedenen Herkunfts-
gruppen.
Kampa/Kunter/Maaz/Baumert: Die soziale Herkunft von Mathematik-Lehrkräften in Deutschland 73
Nach Bourdieu ist auch die Kultur der Schule schichtspezifisch, sodass sie Schüler der
Mittel- und Oberklasse begünstigt und sich aversiv gegenüber den Werten und Nor-
men der unteren Schicht verhält. Das Aufeinandertreffen der beiden Kulturen zeigt sich
in vielfältigen Verflechtungen, die z.B. in unterschiedlichen Sprachcodes, Regeln oder
Werten manifest werden. Die Interaktion zwischen Lehrkräften und Schülern stellt hier-
bei einen zentralen Aspekt dar. In dem vorliegenden Artikel werden daher die Lehrer
als Vermittler zwischen der Schulkultur und der Kultur der Schüler näher untersucht.
Heutige Lehrkräfte haben ihre Schullaufbahn mit dem Abitur abgeschlossen und
somit die Schule erfolgreich durchlaufen. Nach der Ausbildung führte der Berufsein-
stieg in der Regel zu einer gesicherten Erwerbsbiografie (Beamtenstatus) innerhalb ei-
nes kulturell anregenden Umfeldes. Lehrkräfte können aufgrund ihrer Ausbildung und
den Einkommenschancen und -sicherheiten generell den begünstigten Herkunftsgrup-
pen zugeschrieben werden (vgl. spätere Einteilung über die EGP-Klassifizierung). Es
ist anzunehmen, dass Lehrkräfte auch „Produkte des Systems“ (vgl. Bourdieu, 2001,
S. 40) werden, also die Werte des institutionellen Systems Schule annehmen, die Bour-
dieu als „privilegierte(n) Werte der Bourgeoisie“ (S. 40) bzw. als „aristokratische Kul-
74 Allgemeiner Teil
tur“ (S. 41) beschreibt. Die so stattfindende Sozialisation – so die These Bourdieus –
führe somit zu einer Werte-Vereinheitlichung im System Schule, die besonders dann zu
ungünstigen Interaktionen führt, wenn Lehrkräfte auf Schüler treffen, die aufgrund ihrer
sozioökonomischen Herkunft diesem Wertesystem nicht entsprechen.
Dennoch stammen nicht alle Lehrkräfte ursprünglich aus begünstigten Herkunfts-
gruppen. So wird häufig argumentiert, dass gerade der Lehrerberuf mit seinen relativen
finanziellen Sicherheiten zu den Aufsteigerberufen zu zählen ist (Kühne, 2006; Trep-
tow, 2006; Willer, 1993). Die Befundlage hierzu ist allerdings inkonsistent (siehe Ab-
schnitt 2.5).
Nun bleibt die Frage zu klären, wie sich die heterogene Herkunft der Lehrkräfte
in ihrem Berufsleben auswirken kann. So ist es einerseits möglich, dass Lehrer un-
terschiedliche Berufslaufbahnentscheidungen innerhalb der Profession treffen, ande-
rerseits aber auch herkunftseigene Überzeugungen in ihre Berufsausübung einbringen.
Auch wenn Lehrkräfte im Vergleich zu anderen akademischen Berufen insgesamt zu
ungefähr 50% aus den oberen sozioökonomischen Herkunftsgruppen stammen (Kühne,
2006), sind doch innerhalb des Lehrerberufs unterschiedliche Status in den verschiede-
nen gewählten Lehramtszugängen zu beobachten. Sie sind mit unterschiedlichem Pres-
tige und Schülerklientel, unterschiedlicher statusbezogener Besoldung sowie verschie-
denen Studienzeiten verbunden (vgl. Terhart, 2003).
Möglich ist also, dass die soziale Herkunft einen Einfluss darauf hat, welche Berufs-
laufbahnen – innerhalb des Lehrerberufs – eingeschlagen werden. Zum einen müssten
Personen aus den begünstigten Herkunftsgruppen über mehr Möglichkeiten und Unter-
stützungssysteme verfügen, um eine höhere Berufslaufbahn anzustreben und ein län-
geres Studium zu absolvieren. Zum anderen ist es möglich, dass Personen aus weniger
begünstigten Herkunftsgruppen nicht so hohe Karrierelaufbahnen anstreben, da ihr Er-
wartungshorizont geringer ist als bei Personen aus sozioökonomisch begünstigten Her-
kunftsgruppen. So kann die Unsicherheit sowohl durch ein Abwehrverhalten des sozi-
alen Umfelds in den Herkunftsgruppen als auch durch eigene Ängste bezogen auf den
Statuswechsel forciert werden. Es ist weiterhin vorstellbar, dass dieser Berufsweg, z.B.
wegen eines relativ sicheren Status nach Übernahme in den staatlichen Dienst, von Per-
sonen aus weniger begünstigten Herkunftsgruppen als Aufstiegschance genutzt wird, da
die Unsicherheiten der Investition von Zeit und geringem Kapitalvolumen in ein Stu-
dium durch eine hohe Sicherheit des Berufsstandes ausgeglichen werden könnte.
Dieses Mismatch dürfte jedoch nur Auswirkung auf die Interaktion im Klassenzimmer
haben, wenn das professionelle Denken und Handeln der Lehrkräfte deutlich von ihrer
Herkunft bestimmt wird. Die bourdieusche Theorie postuliert, dass sich die sozioöko-
nomische Herkunft der Lehrkräfte vor allem in ihren Wertvorstellungen und Überzeu-
gungen äußert (vgl. Bourdieu, 2001, S. 40). Demnach seien diese ein Aspekt des her-
kunftsspezifischen Habitus, der sich auch bei Lehrpersonen aufgrund der Schichtzu-
gehörigkeit ausprägt hat. Im Rahmen der bourdieuschen Theorie wird zwischen eher
traditionellen, konservativen und progressiven Überzeugungen unterschieden und ar-
gumentiert, dass Personen begünstigter und mittlerer Herkunftsgruppen zu konserva-
tiven – auf Aufrechterhaltung des eigenen Status abzielenden – und Personen weniger
begünstigter Herkunftsgruppen zu progressiven – Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs
eröffnenden – Haltungen tendieren sollten.
Bezogen auf die Situation von Lehrkräften lassen sich hieraus zwei Schlussfolge-
rungen ableiten. Erstens sollte die Mittelschichtsinstitution Schule insgesamt von eher
konservativen Haltungen geprägt sein (vgl. Lortie, 1975). Zweitens ist vorstellbar, dass
Lehrer entweder ihre schichtspezifischen Wertvorstellungen beibehalten oder sich an
den Habitus dieser neuen Umgebung anpassen und somit auch dessen Wertvorstellun-
gen internalisieren (vgl. Terhart, 2001). So ist es möglich, dass Lehrkräfte aus begüns-
tigten Herkunftsgruppen tendenziell aus Statuserhaltungserwägungen stärker zu kon-
servativen Haltungen tendieren als Vertreter mittlerer Herkunftsgruppen. So beschreibt
Terhart (2004) in Bezug auf Lehrer die „Abgrenzungsbemühungen nach unten“ (S. 557)
von Gymnasiallehrkräften. Für Lehrkräfte aus ursprünglich weniger begünstigten Her-
kunftsgruppen könnte dagegen angenommen werden, dass auch sie – um in der neuen
Herkunftsgruppe anerkannt zu werden – zu den eher konservativen Haltungen der Mit-
telschichtinstitution Schule tendieren, die ihnen zu ihrem Aufstieg zum Lehrerberuf ver-
holfen haben (Bourdieu, 2001). So könnten auch sie durch „Beflissenheit „nach oben“
zu den Autoritäten“ (vgl. Terhart, 2004, S. 557) ihren Status im neuen Umfeld behaup-
ten wollen.
Wertvorstellungen bilden ein weites Spektrum von Überzeugungen, Einstellungen,
Haltungen und Zielen einer Person ab. Im Hinblick auf mögliche Effekte der sozialen
Herkunft von Lehrkräften auf die Interaktion mit ihren Schülern sind vor allem solche
Überzeugungen von Bedeutung, die sich spezifisch auf professionelle Inhalte beziehen
und somit für das professionelle Handeln relevant sind. Die Forschung zu Lehrerüber-
zeugungen macht somit häufig die Gegenüberstellung von konservativen und progres-
siven Haltungen anhand von normativen Vorstellungen über schulische Erziehungsziele
fest (Pajares, 1992). So werden eher konservative Zielvorstellungen z.B. die Vermittlung
von soliden Fachkenntnissen und Förderung von arbeitsrelevanten Tugenden als wich-
tige Ziele schulischer Erziehung, oder eher progressive Zielvorstellungen z.B. die Erzie-
hung zum mündigen Bürger, Vermittlung fächerübergreifender Fertigkeiten oder sozialer
Kompetenzen betont. Da Lehrkräfte bei der Beantwortung von Fragen zu Erziehungs-
zielen globale Einschätzungen zur Wichtigkeit bestimmter Ziele bei der Erziehung eines
Kindes und somit bei der Heranbildung von Menschen geben, können diese als Indikator
für allgemeine Wertorientierungen herangezogen werden (vgl. Tarnai, 2006).
76 Allgemeiner Teil
Normative Vorstellungen über schulische Ziele wirken auf das Handeln von Lehrkräf-
ten und somit auch auf Lernerfolge der Schüler (Pajares, 1992) und könnten somit eine
wichtige Vermittlungsvariable des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft der
Lehrkräfte und dem Umgang mit ihrer Schülerschaft darstellen. Aus diesem Grund wer-
den in der vorliegenden Untersuchung berufsbezogene Überzeugungen in Form von Er-
ziehungszielen bei den Lehrern näher beleuchtet und der Frage nach herkunftsspezifi-
schen Mustern nachgegangen.
differenziert werden muss, kann aufgrund der vorliegenden Daten jedoch nicht ent-
schieden werden.
Bezogen auf die Frage des Einflusses der sozioökonomischen Herkunft auf die
Überzeugungen der Lehrkräfte sind die empirischen Befunde inkonsistent. Für einen
Zusammenhang sprechen Ergebnisse aus einer Reanalyse einer schwedischen Bevölke-
rungsbefragung (Lindblad, 1986), bei der Personen befragt wurden, die in einem päda-
gogischen Beruf halbautonom im öffentlichen Sektor arbeiteten (N = 55). Die Wertvor-
stellungen bezogen auf soziale Themen, ökologische Konflikte und politische Referen-
zen dieser Personen lagen unabhängig von der sozioökonomischen Herkunft nahe an
denen der Arbeitgeber und dem Kleinbürgertum and am weitesten entfernt von denen
der Arbeiter, entsprechen also eher den Vorstellungen sozioökonomisch begünstigter
Herkunftsgruppen. Gegen einen Zusammenhang zwischen Herkunft und Lehrereinstel-
lungen sprechen Befunde aus der Studie von Lauglo (1975), die belegt, dass Aspekte
wie das Rollenverständnis und der Reformwille unabhängig von der Herkunft der un-
tersuchten Lehrkräfte bzw. Kandidaten waren.
Zusammenfassend zeigen diese vereinzelten Befunde empirischen Klärungsbedarf
für die bourdieusche These zur Auswirkung der sozialen Herkunft von Lehrkräften auf
deren Berufsausübung und somit den Umgang mit den Schülern.
Die vorliegende Studie soll erste Ergebnisse zur sozioökonomischen Herkunft der Leh-
rer in Deutschland liefern und Zusammenhänge in Bezug auf ihre Berufsausübung auf-
zeigen. Ausgehend von den eingangs geschilderten theoretischen Annahmen sollen fol-
gende Fragestellungen beantwortet werden.
3 Die hier erwarteten Ergebnisse müssen mit Vorsicht interpretiert werden. Da ausschließlich
Lehrkräfte des Sekundarschulwesens untersucht werden, können Unterschiede in der Berufs-
laufbahn u.a. zwischen Primar- und Sekundarstufe mit den vorliegenden Daten nicht analy-
siert werden.
78 Allgemeiner Teil
Angesichts der defizitären Datenlage zum Thema versteht sich der vorliegende Beitrag
als eine erste Sondierung des Terrains. Als Datenbasis werden Informationen aus einer
großen repräsentativen Schulbefragung genutzt, die es erlaubten, erste Befunde zu ei-
nem in der pädagogischen Forschung – zumal im deutschen Sprachraum – kaum behan-
delten Fragenkomplex vorzulegen.
4. Methoden
4.2 Instrumente
Auch der für die Gegenüberstellung der Lehrkräfte mit ihren Schülern verwendete In-
ternational Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI) beruht auf der ISCO-
88-Kodierung. Weitere Angaben zur Berufstätigkeit und zum Bildungsniveau der Eltern
fließen in die Index-Bildung ein (Ganzeboom, de Graf, Treiman & de Leeuw, 1992). Für
die Analysen wurde der höchste ISEI in der Familie gebildet.
Das (institutionalisierte) kulturelle Kapital der Familie wurde durch die berufli-
che Qualifikation der Eltern mit den Ausprägungen 1 = „kein Elternteil hat studiert“,
2 = „ein Elternteil hat studiert“ und 3 = „beide Eltern haben studiert“ erfasst. Des Wei-
teren wurde für die deskriptive Beschreibung der Stichprobe auf den Schulabschluss der
Eltern zurückgegriffen (Ausprägungen: 4 = Abitur, 3 = Fachhochschule, 2 = Realschule
und 1 = Haupt-/Volksschule).
Erziehungsziele
Die berufbezogenen Überzeugungen der Lehrkräfte wurden mit zwei Skalen zur rela-
tiven Bedeutsamkeit von allgemeinen schulischen Erziehungszielen erfasst. Hierzu be-
werteten die Lehrer unter der Frage „Für wie wichtig halten Sie es, dass in der Schule
Folgendes vermittelt wird?“ eine Reihe an Zielen auf einer vier-stufigen Skala (1 = we-
niger wichtig bis 4 = äußerst wichtig). Es wurden zwei Skalen gebildet (Basis: Haupt-
komponentenanalyse, Varimax-Rotation). Die Skala „Enges Verständnis von schuli-
schen Zielen“ umfasst die vier Ziele Ordnung und Disziplin, solide Kenntnisse in den
Hauptfächern, Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft sowie Bereitschaft zum Ler-
nen (Cronbachs α = .68), sie kann als Indikator für eine traditionelle Wertvorstellung
gesehen werden. Die Skala „Weites Verständnis von schulischen Zielen“ umfasst sie-
ben Items (z.B. rücksichtsvolles und hilfsbereites Verhalten, moralische Urteilsfähigkeit
und soziale Verantwortungsbereitschaft, Cronbachs α = .83), sie kann als Indikator für
eine progressive Wertvorstellung gesehen werden. Beide Skalen korrelieren mit r = .50
miteinander.
82 Allgemeiner Teil
Wie oben ausgeführt, resultiert die verwendete Analysestichprobe aus dem fallweisen
Ausschluss von Personen, die keine Angaben zum Studium der Eltern lieferten. In der
dann vorliegenden Stichprobe weisen die Variablen 0-16,9% fehlende Werte auf, wobei
besonders die wichtigen Variablen der sozioökonomischen Herkunft durch hohe Aus-
fallquoten gekennzeichnet sind (vgl. Tabelle 1). Um eine gravierende Stichprobenredu-
zierung zu vermeiden, wurden fehlende Werte mit einem multiplen Imputationsverfah-
ren mit Hilfe der Software NORM 2.01 ersetzt (Lüdtke, Robitzsch, Trautwein & Köller,
2007). In den vorliegenden Analysen wurden fünf Datensätze erzeugt, wobei alle Ana-
lysevariablen sowie neun Hilfsvariablen (Geschlecht, Alter, Anzahl unterrichteter Jahre,
Voll-/Teilzeitstelle, Anzahl unterrichteter Schulen, Nominelles Unterrichtsdeputat, Un-
terrichtsfach Mathematik, SIOPS des Vaters, ISEI der Familie sowie zwei Variablen
zum Berufswunsch) zur Schätzung einflossen. Deskriptive Statistiken wurden dann mit
jedem der vollständigen Datensätze berechnet und mithilfe der von Rubin vorgelegten
Formel (Schafer & Olsen, 1998) kombiniert, um so erwartungstreue4 Statistiken unter
Nutzung der vollen Stichprobeninformation zu erhalten.
5. Ergebnisse
Tabelle 1 liefert eine deskriptive Übersicht über die Verteilung der Analysevariablen in
der Stichprobe; je nach Skalenniveau der Variablen werden als Maße für die zentrale
Tendenz das arithmetische Mittel, der Medianwert oder der Modalwert dargestellt, ent-
sprechend sind als Maße für die Dispersion Standardabweichung oder Range angege-
ben.
4 Dieses Verfahren wird bei den zentralen Regressionsanalysen der Arbeit angewandt. Für die
Analysen, bei denen Verteilungsunterschiede sowie Varianzanalysen berechnet wurden, bo-
ten die aktuellen gängigen Softwareangebote bisher keine Lösungen an. Die Berechnungen
wurden daher in diesem Analyseteil für jeden imputierten Datensatz getrennt vorgenommen.
Da hierbei der Schätzfehler nicht angemessen berücksichtigt werden kann, wurde bei den ent-
sprechenden Analysen das Signifikanzniveau auf .01 festgesetzt. Aufgrund der Stabilität der
Ergebnisse über die imputierten Datensätze hinweg werden die Ergebnisse zu Verteilungsun-
terschieden aus dem ersten imputierten Datensatz berichtet.
Kampa/Kunter/Maaz/Baumert: Die soziale Herkunft von Mathematik-Lehrkräften in Deutschland 83
Tab. 1: Übersicht über fehlende Werte in der Ausgangsstichprobe sowie der Maße der zentralen
Tendenz und Dispersionsmaße nach der Imputation (N = 1126)
Zunächst wird die Verteilung der Eltern der Lehrkräfte auf die EGP-Klassen darge-
stellt: 53,4% der Eltern kommen aus den beiden Dienstklassen (22,6% obere Dienst-
klasse, 30,8% untere Dienstklasse); aus den mittleren EGP-Klassen stammen 20,0%
(Routinedienstleistungen in Handel und Verwaltung 16,4%, Selbstständige 3,6%) und
aus den beiden Arbeiterklassen 26,6% der Lehrkräfte (15,2% Facharbeiter und Arbeiter
mit Leistungsfunktion, Meister, 11,5% un- und angelernte Arbeiter, Landwirte).
Abbildung 1 zeigt den höchsten Schulabschluss in der Familie der Lehrkräfte. Das
Abitur oder die Fachhochschulreife wurde von 36,7% der Familien erreicht, der Haupt-
schulabschluss von 42,5%. Dass es sich hier um eine sozial positiv selegierte Personen-
gruppe handelt, wird deutlich, wenn diese Daten mit Informationen des Statistischen
Bundesamtes verglichen werden (Statistisches Bundesamt, 2006). Als Referenz wurde
die Schulausbildung der 40-49-Jährigen in der Bundesrepublik im Jahr 1980 herange-
zogen, welche in etwa der Elternkohorte der hier untersuchten Lehrkräfte (ausgehend
84 Allgemeiner Teil
100% 8.3
26.9 12.3
80%
9.8
60%
20.8
40% 79.3
20% 42.5
0%
Höchster Abschluss der Eltern in der Deutschlandvergleich (Statistisches
Analysestichprobe Bundesamt)
Anmerkungen: fett gedruckte Werte sind signifikant auf dem Niveau p = .05
Da Mplus nicht die Möglichkeit der Berechnung von Pseudo-r² bietet, wurde das
Nagelkerke r² in analogen Analysen in SPSS getrennt für die fünf imputierten Datensätze
ermittelt. Berichtet werden die Ergebnisse des ersten Datensatzes. Diese konnten in den
anderen Datensätzen reproduziert werden (Modell 1 keine Schwankungen, Modell 2:
Schwankungen zwischen 18-21)
Ausprägungen Kriteriumsvariable:
1 = 2. Staatsexamen für Grund- und Hauptschule/Primarstufe
2 = 2. Staatsexamen für Realschule und Sekundarstufe I
3 = 2. Staatsexamen für Gymnasium und Sekundarstufe II (Referenzkategorie)
Ausprägungen EGP-Klasse:
1 = Obere Dienstklasse
2 = Untere Dienstklasse
3 = Routinedienstleistungen in Handel und Verwaltung
4 = Selbstständige
5 = Facharbeiter und Arbeiter mit Leistungsfunktion, Meister
6 = Un- und angelernte Arbeiter, Landwirte (Referenzkategorie)
Tab. 2: Relative Chancen der Wahl des Lehramtszugangs unter Berücksichtigung der Prädik-
toren EGP-Klasse der Eltern und Abiturnote der Lehrkräfte (Referenzkategorie Kriterium
Lehramtszugang: Gymnasium, Prädiktor EGP-Klasse: EGP-Klasse 6)
86 Allgemeiner Teil
ten. Hierfür wurden die EGP-Klassen als dummy-kodierte Variablen in die Modelle
aufgenommen.
Bei der Betrachtung von Modell 1 wird sichtbar, dass die Wahl des Lehramtszugangs
nicht durch die EGP-Klassenzugehörigkeit der Eltern erklärt wird. Zum einen zeigt keine
Kategorie der EGP-Klassen einen statistisch signifikanten Zusammenhang zur Wahl des
Lehramtszugangs, zum anderen spricht das Nagelkerke-R² dafür, dass die Variable nur
einen geringen Einfluss auf das Berufswahlverhalten der Lehrer hatte. Theoretisch würde
ein odds ratio von z.B. –.60 für die Kategorie zwei der Variable EGP-Klasse der Eltern
bedeuten, dass für eine Person, deren Eltern aus dieser statt aus der EGP-Klasse 6 (an-
und ungelernte Arbeiter) stammen, eine um .60 erhöhte Chance besteht, den Lehramts-
zugang für das Gymnasium zu wählen anstatt des genannten Lehramtszugangs Für keine
der EGP-Kategorien lässt sich jedoch ein deutlicher Effekt nachweisen.
Da die Wahl des Lehramtszugangs positiv mit der Abiturnote der Lehrkräfte korre-
liert war, wurde in Modell 2 zusätzlich die Abiturnote der Lehrkräfte als Prädiktor in
das Modell aufgenommen. Somit lassen sich potentielle spezifische Effekte der sozialen
Herkunft von Effekten der Leistungsvoraussetzungen trennen.
Es wird deutlich, dass die Note einen stärkeren Anteil am Berufswahlverhalten der
Lehrkräfte hat. Lehrer, die eine geringere Ausprägung der Variable Abiturnote aufwei-
sen (also eine gute Note erhalten haben), haben eine sehr viel höhere Chance (.91), den
Lehramtszugang Gymnasium zu wählen anstatt den Lehramtszugang Grund-/Haupt-
schule. Somit wählten Lehrer mit einer höheren Abiturnote signifikant häufiger den
Lehramtszugang für das Gymnasium als für die Haupt- und Grundschule bzw. die Re-
alschule (p = .05).
Die Ergebnisse sprechen also dafür, dass ein systematischer und statistisch signi-
fikanter Zusammenhang zwischen der Abiturnote und der Entscheidung für einen be-
stimmten Lehramtszugang unabhängig von der sozioökonomischen Herkunft vorliegt.
Beide Modelle wurden in analogen Analysen mit dem Lehramtzugang „Grund-/
Hauptschule, Primarstufe“ als Referenzkategorie in der Kriteriumsvariable gerechnet.
Diese Berechnungen sowie Modelle, in denen das Studium der Eltern anstatt der EGP-
Klasse der Eltern als Prädiktorvariable einging, reproduzierten die Ergebnisse und wer-
den daher nicht berichtet.
M SD M SD M SD M SD M SD
ISEI
Schüler 50,03 8,91 40,96 4,63 49,39 4,05 47,06 5,44 60,31 5,45
Lehrer 52,56 19,78 51,41 18,76 50,64 19,60 59,37 18,96 53,60 21,32
Mittl. 2,37 10,71 10,45a 17,90 1,26b 13,77 12,3a 19,08 –6,71b 29,73
Diffe-
renz1
Bildung
Schüler 0,34 0,34 0,09 0,10 0,21 0,15 0,25 0,24 0,75 0,29
Lehrer 0,39 0,60 0,41 0,65 0,36 0,58 0,42 0,51 0,38 0,59
Mittl. 0,04 0,66 0,32a 0,65 0,14a 0,60 0,17a 0,55 –0,38b 0,57
Diffe-
renz1
N 235 68 76 19 72
Tab. 3: Passung von sozialer Herkunft der Lehrkräfte und ihrer Schülerschaft
Im Mittel weisen Lehrkräfte und Schüler sowohl im ISEI als auch bzgl. der Bildung ih-
rer Eltern relativ ähnliche Werte auf. Veranschaulicht wird dies durch die Differenzwerte,
die über die gesamte Stichprobe hinweg für den ISEI 2,37 Punkte und den Bildungs-Dif-
ferenzwert 0,04 betragen. Die These, dass die Schule generell eine Institution bestimm-
ter sozialer Gruppen ist, die nur wenig mit der sozialen Welt der Schüler übereinstimmt,
findet in diesen Daten somit keine Bestätigung. Betrachtet man die Diskrepanz zwischen
sozioökonomischer Herkunft auf Schüler- und Lehrkraftseite allerdings schulformspezi-
fisch, so lassen sich unterschiedliche Muster betrachten: Während Lehrkräfte an Haupt-,
und Gesamtschulen typischerweise Schüler unterrichten, die aus weniger begünstigten
Herkunftsgruppen als sie selbst stammen, stehen Gymnasiallehrkräfte typischerweise
Schülern gegenüber, die aus privilegierteren Verhältnissen als sie selbst stammen.
Die vierte Fragestellung – Vorhersage der Erziehungsziele durch die Herkunft – wurde
durch varianzanalytische Verfahren mit den beiden Skalen „Enges Verständnis der schu-
88 Allgemeiner Teil
lischen Ziele“ (eher traditionelle Werthaltung) und „Weites Verständnis“ (eher progres-
sive Werthaltung) als abhängige und den EGP-Klassen als unabhängige Variablen ge-
testet. Der Mittelwertvergleich für die EGP-Klasse der Eltern zeigte keine Unterschiede
(„Enges Verständnis“: p = .57, „Weites Verständnis der schulischen Ziele“: p = .22). Die
Lehrer von Eltern unterschiedlicher EGP-Klassen stimmen dem engen (M = 3,1-3,2;
SD = 0,5) als auch dem weiten Verständnis (M = 3,0-3,1; SD = 0,5-0,6) gleichermaßen
zu. Bezogen auf die EGP-Klassenzugehörigkeit der Eltern lassen sich also keine Unter-
schiede bezüglich der Wichtigkeit von schulischen Zielen feststellen.
Analoge Mittelwertvergleiche bezogen auf das Studium der Eltern ergaben einen sta-
tistisch signifikanten Unterschied bezogen auf die Skala „Weites Verständnis“ (p = .01,
Eta² = .01): Hier zeigten Lehrkräfte, deren Eltern beide ein Studium absolviert hatten,
einen etwas niedrigeren Wert (M = 2,9 vs. M = 3,1, bei keinem oder einem Elternteil mit
Studium; df = 2; F = 4,5). Kein Unterschied ergab sich beim Studium der Eltern und der
Skala „Enges Verständnis“ (M = 3,1-3,2; SD = 0,5; p = .24) Diese Ergebnisse blieben
konstant, wenn die Schulform als zusätzlicher Faktor berücksichtigt wurde; zusätzlich
wiesen Lehrkräfte an Gymnasien im Vergleich zu Lehrkräften an Hauptschulen eine ge-
ringere Zustimmung zur Skala „Weites Verständnis der Lehrertätigkeit“ auf.
6. Diskussion
Theoretischer Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung waren die aus der Kul-
turtheorie Bourdieus abgeleiteten Thesen, dass a) Lehrkräfte tendenziell eher aus sozial
begünstigten Herkunftsgruppen stammen und meistens auf Schüler stoßen, die aus un-
günstigeren Verhältnissen stammen, b) sich Unterschiede in der ursprünglichen Her-
kunftsgruppe auch in der Art der Berufsausübung äußern, und c) die herkunftsbezo-
genen Unterschiede sich vor allem durch unterschiedliche Überzeugungen äußern, die
dann auf den Umgang mit den Schülern wirken.
Die Ergebnisse liefern wenig Belege zur Stützung der Thesen. Zwar stammten die
untersuchten Lehrkräfte tatsächlich aus relativ günstigen Verhältnissen, doch ist die
Diskrepanz zwischen den Lehrkräften und der Schülerschaft nicht in allen Schulformen
gleich groß. Die sozioökonomische Herkunft der untersuchten Lehrkräfte scheint darü-
ber hinaus keine direkte Auswirkung auf ihre Berufswahlentscheidung und ihre berufs-
bezogenen Überzeugungen zu haben.
Unsere Befunde ergänzen somit die bisher bestehende Befundlage zur sozioöko-
nomischen Herkunft von Lehrkräften und ihrem Beitrag zur Verstärkung sozialer
Unterschiede in wichtigen Punkten. Unsere Ergebnisse bestätigen Befunde vom Lehrer-
beruf als Aufsteigerberuf (Willer, 1993) nicht, sondern weisen tendenziell eher auf eine
positive Selektion in den Lehrerberuf hin. Sie liefern darüber hinaus aber auch Infor-
mationen über mögliche Selektionsprozesse innerhalb der Profession. Da bei gleichem
Bildungsabschluss kein Unterschied mehr bezüglich der Berufslaufbahnentscheidung
vorliegt, die Noten sich jedoch je nach Herkunft unterscheiden, scheint bei der Wahl
Kampa/Kunter/Maaz/Baumert: Die soziale Herkunft von Mathematik-Lehrkräften in Deutschland 89
einer bestimmten Laufbahn innerhalb des Lehrerberufs eher eine Evidenz für primäre
als für sekundäre Ungleichheiten zu bestehen.
In Bezug auf Effekte der sozioökonomischen Herkunft auf Überzeugungen der
Lehrkräfte differenzieren unsere Befunde den bisher inkonsistenten Forschungsstand.
Es ließ sich im Gesamtbild nicht die – von Bourdieu postulierte – Tendenz nachweisen,
dass vor allem Lehrkräfte aus begünstigten und aus weniger begünstigten Verhältnis-
sen zu eher konservativen Überzeugungen tendieren, stattdessen zeigten sich kaum Un-
terschiede in den Überzeugungen je nach sozioökonomischer Herkunft. Die Tatsache,
dass aber bei Kontrolle der Herkunft noch Schulformunterschiede in der Zustimmung
zu bestimmten Zielen sichtbar wurden, weist auf die Bedeutsamkeit beruflicher Profes-
sionalisierung – im Vergleich zu familiären Sozialisationsprozessen – hin. Lehrkräfte
scheinen im Verlauf ihrer professionellen Ausbildung und Entwicklung berufs- und
kontextspezifische Werte und Überzeugungen im Sinne einer Wertevereinheitlichung
zu bilden, die stärker ins Gewicht fallen als mögliche Einflüsse der sozialen Herkunft.
Dennoch ist zu fragen, wie die eingangs beschriebenen Ungleichheiten bezogen auf
Kompetenzerwerb und Bildungsbeteiligung seitens der Schüler zustande kommen. In
diesem Zusammenhang sind vermutlich Mechanismen in Übergangssituationen beson-
ders bedeutsam. Es ist gut dokumentiert, dass die soziale Herkunft eines Schülers Ein-
fluss auf Bildungsentscheidungen nehmen kann (Becker, 2003; Paulus & Blossfeld,
2007). Effekte der sozialen Herkunft von Schülern werden speziell auch bei Übergangs-
empfehlungen am Ende der Grundschulzeit beobachtet (Ditton & Krüsken, 2006b) – in-
wieweit bei diesen Übergangsempfehlungen möglicherweise auch die soziale Herkunft
der Lehrkräfte selbst einen Einfluss ausübt, wäre eine interessante neue Forschungs-
frage.
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Kampa/Kunter/Maaz/Baumert: Die soziale Herkunft von Mathematik-Lehrkräften in Deutschland 91
Abstract: The present article analyzes the socio-economic background of maths teachers
in Germany and its relation to career-related decisions and job-related convictions. These
analyzes is based on data collected through questionnaires answered by 1126 maths
teachers working at a sample of secondary schools representative of Germany. Following
Bourdieu’s theory, the authors examine whether the economic and cultural conditions pre-
vailing in the teachers’ families of origin are related to their decision to pursue this specific
professional career or to their job-related convictions. Furthermore, it is analyzed in how
far teachers, in their everyday work in the classroom, meet students from groups of origin
foreign to the teachers themselves. The results show that the teachers socio-economic
background has no systematic relation to either their career-related decisions or their job-
related convictions.
Silke Traub
Vor allem die Ergebnisse der PISA-Studie haben die Diskussionen um die Gestaltung
von Unterricht stark angeregt. Gefordert werden Lernsituationen, „in denen selbst ge-
steuertes und kooperatives Lernen zunächst schrittweise eingeübt und dann ausgeübt
werden kann.“ (Terhart, 2002, S. 82). Forschungen belegen, dass ein schülerorientier-
ter Unterricht, ein erkennbarer Lebensweltbezug der Inhalte und aktive, selbstgesteu-
erte Lernarrangements Lernen optimieren können (z.B. Beck, Guldimann & Zutavern,
1995; Konrad & Traub, 2009; Konrad, 2005a, b; Beck & Klieme, 2007). Im Projekt-
unterricht wird eine solche Umsetzung gesehen. Deshalb wird in diesem Kapitel zu-
nächst geklärt, was unter selbstgesteuertem Lernen zu verstehen ist und dann auf die
Ursprünge des Projektgedankens eingegangen, um zu sehen, ob bereits die „Urväter“
der Projektarbeit selbstgesteuertes Lernen in dieser als immanent vorhanden angesehen
haben.
Selbstgesteuertes Lernen wird hier verstanden als „eine Form des Lernens, bei der die
Person in Abhängigkeit von der Art ihrer Lernmotivation selbstbestimmt eine oder meh-
rere Selbststeuerungsmaßnahmen (kognitiver, volitionaler oder verhaltensmäßiger Art)
ergreift und den Fortgang des Lernprozesses selbst (metakognitiv) überwacht, reguliert
und bewertet.“ (Konrad & Traub, 2009, S. 8).
Boekaerts (1997, 2003) Sechskomponentenmodell des selbstgesteuerten Lernens
kann als ein Rahmenmodell gesehen werden, welches sowohl die kognitive als auch die
motivationale Selbststeuerung auf der Ebene der Ziele, des Strategiegebrauchs und des
Lernende müssen nicht nur wissen, welches die richtigen Schritte sind, um das Lernge-
schehen erfolgreich zu gestalten; sie müssen nicht nur strategisch geschickt vorgehen
können; sie müssen auch dazu motiviert sein ein erfolgreicher Lerner zu sein (Boeka-
erts, 1997, 2003).
Entscheidend scheint zu sein, dass es sich „beim selbst regulierten Lernen um keine
Fähigkeit bzw. Disposition handelt, die – einmal erworben – in verschiedenen Situati-
onen und bezogen auf verschiedene Inhaltsbereiche zur Anwendung kommt“ (Boeka-
erts, 1997, S. 161). In aktiver Auseinandersetzung mit einer konkreten Aufgabe kann
die Selbstregulation des Lernens daher mehr oder weniger gelingen. Weiterhin ist da-
von auszugehen, dass ein gewisser Spielraum für autonome Entscheidungen vorhanden
sein muss, damit Elaborations- und Kontrollstrategien überhaupt eingesetzt werden. Im
Rahmen von hochstrukturierten Lernumgebungen kann dies nicht unbedingt angenom-
men werden.
Selbstgesteuertes Lernen zeichnet sich – die verschiedenen Ansätze und Überlegun-
gen zusammenfassend betrachtet – durch folgende Merkmale aus:
Traub: Selbstgesteuert lernen im Projekt? 95
Selbstregulation
Betont werden die Innensicht des Lernenden und seine Kontrolle des Lernprozesses, der
Lerninhalte oder der Lernsituationen. Prozesse bezeichnen in diesem Zusammenhang
„aktuelle offene oder verdeckte Verhaltensweisen in konkreten Lernsituationen“ (Kon-
rad & Traub, 2009, S. 6). Lernende werden selbst aktiv mit und ohne Hilfe anderer. Die
Lernenden steuern ihr Verhalten volitional. Dazu gehört insbesondere die Fähigkeit des
Individuums über Mechanismen der Motivations- und/oder Emotionskontrolle seine
Lernabsichten vor konkurrierenden Einflüssen zu schützen und für das jeweilige Ler-
nen eigene Lernstrategien auszuwählen und sich einen Plan für den eigenen Lernablauf
zu konstruieren. Das Individuum ist in der Lage, sein eigenes Lernen vorzubereiten, die
erforderlichen Lernschritte durchzuführen, für Rückmeldung und Bewertung der Ergeb-
nisse zu sorgen und die eigene Motivation und Konzentration aufrechtzuerhalten (vgl.
Schunk & Zimmerman, 1994; Schiefele & Pekrun, 1996; Konrad, 2005a, 2005b).
Motivation
Dieses motivationale Element betrifft die Frage, warum und mit welcher Intensität eine
Person eine bestimmte selbststeuernde Maßnahme ergreift (vgl. Schunk & Zimmerman,
1994; Schiefele & Pekrun, 1996).
Entsprechend unterscheiden Deci und Ryan (1991, 1993) in ihrer Theorie des selbst-
bestimmten Handelns intrinsische (d.h. tätigkeits- und gegenstandszentrierte Motiva-
tion; Pekrun & Schiefele, 1996, S. 153) und extrinsische (d.h. auf Handlungsergebnisse
96 Allgemeiner Teil
bzw. -folgen zielende) Motivation voneinander. Manche Intentionen erscheinen frei von
äußeren Einflüssen, Erwartungen, Anordnungen. Sie sind autonom, selbstbestimmt. Die
Person empfindet keinen Druck oder äußeren Zwang, sondern hat den Eindruck, frei
wählen oder tun zu können, was sie möchte (vgl. Deci & Ryan, 1991). Die Theorie
spricht daher von selbstintentionalen Aktivitäten. Voraussetzung dafür sind aber Um-
feldbedingungen, unter denen sich die Person als autonom, kompetent und sozial ein-
gebunden erlebt. Intrinsische Motivation reicht im Alltag oft nicht aus. Deshalb kon-
zipieren Deci und Ryan (1993) extrinsische Motivation auf vier Ebenen: extrinsische
Regulation, introjizierte Regulation, Identifikation und Integration. Diese vier Ebenen
repräsentieren ein Kontinuum, das von einer fremdbestimmten Regulation durch äußere
Kontrolle bis zu einer vollen Selbstbestimmung durch Integration in das Wert- und Ziel-
system der Person reicht. Selbststeuerung findet im Bereich der Motivation dann statt,
wenn eine Person sich mit Lernerfordernissen identifiziert oder diese in ihr Zielsystem
integriert hat (vgl. Konrad & Traub, 2009).
Studien belegen, dass sich intrinsische Lernmotivation auf Kenntnisse und Prozedu-
ren, die besonders mit einer gründlichen und tiefergehenden Aneignung des Lerngegen-
standes zu tun haben, beziehen. Extrinsische Motivation orientiert sich eher auf ober-
flächliche Strategien, um schnell bestimmte Ziele zu erreichen (vgl. Schiefele & Pek-
run, 1996; Konrad, 2005a, 2005b).
Kooperation
Die Personen sind in die Umgebung involviert und unterstützen sich wechselseitig. Es
besteht eine persönliche Beziehung zwischen den Lernenden. Gedanken und Erkennt-
nisse werden miteinander geteilt, die Viabilität der Ideen diskutiert. Es wird aufeinan-
der eingegangen und gemeinsam gearbeitet. Zentrale Merkmale kooperativen Lernens
sind:
● Die Lernenden arbeiten in einer Gruppe zusammen, die klein genug ist, dass alle
sich an einer klar und verständlich erteilten Aufgabe beteiligen können.
● Die Lernenden führen ihre Arbeit ohne direkte und sofortige Supervision der Lehr-
person durch.
● Die Gruppenaufgaben laden zu wechselseitiger Unterstützung und kooperativem
Problemlösen ein.
● Die Gruppenmitglieder erhalten Entscheidungsspielräume im Lernprozess (Planen,
Wahl von Methoden).
● Der Lehrende wird zum Organisator des Unterrichts und Förderer des Lernens, ist
aber nicht mehr primär Darbietender.
● Die aktive Rolle der Lernenden wird gefördert (vgl. Traub, 2000; Konrad & Traub,
2008; Konrad & Traub, 2009).
Sie verfügen über geeignete Lernstrategien und nutzen die eigenen methodischen Kom-
petenzen und arbeiten zielorientiert. Hierzu zählen vor allem kognitive Strategien, mit
deren Hilfe neue Informationen verarbeitet werden, wodurch an Vorwissen angeknüpft
werden kann. Lernstrategien sind zielorientierte, aktive, konstruktive, situative und so-
ziale Prozesse (können also schlecht „passiv“ erworben werden). Lernstrategien sind
flexibel und situationsangemessen. Strategien sind essenziell für effektives Lernen, weil
sie Lernende in die Lage versetzen, ihre kognitiven Ressourcen effektiv anzuwenden,
Probleme systematisch zu bearbeiten und positive emotionale Überzeugungen – wie
etwa Selbstwirksamkeit – zu aktivieren.
Welche Strategien sind für das selbstgesteuerte Lernen zentral?
Die angelsächsische Literatur zum Projektlernen stellt dessen Entwicklung dar und be-
nennt grundlegende Gedanken für Projektunterricht. Deshalb werden hier kurz die Mo-
delle von Calvin M. Woodward, Charles R. Richards, William H. Kilpatrick und John
Dewey – wie sie bereits bei Apel und Knoll (2001) rezipiert wurden – vorgestellt und in
Zusammenhang mit selbstgesteuertem Lernen diskutiert.
Woodward geht von zwei Phasen der Projektarbeit aus: Instruktion und Konstruk-
tion: zuerst müssen den Lernenden Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, da-
nach können sie sich einen Plan machen und diesen eigenständig ausführen bzw. um-
setzen (Lehrgang, Übung und Projekt). Im Projekt selbst wird der Lehrer zum Helfer
und Berater. Woodward sieht die Konstruktions- oder Projektphase zweifelsfrei als eine
Phase der freien Selbsttätigkeit an. Er hebt aber hervor, dass auch bei der Projektarbeit
die Freiheit der Schüler nicht unbeschränkt ist. Er legt zwei Rahmenbedingungen fest,
damit Aufwand und Ertrag im rechten Verhältnis stehen: Die Projekte dürfen nicht zu
98 Allgemeiner Teil
lange dauern (ca. 10% des Unterrichts) und müssen dem Schülerniveau angepasst und
deshalb vom Lehrer abgesegnet werden. Die Arbeit am Projekt ist für Woodward zent-
ral, aber er stellt sie nicht in den Mittelpunkt des Unterrichts. Ihm ist die Instruktion
wichtiger als die Konstruktion (Woodward, 1890; vgl. Apel & Knoll, 2001).
Richards erweitert den Ansatz Woodwards, in dem er die Interessen des Kindes mit
einbringt. Er betont die natürliche Erziehung. Darunter versteht er eine Methode, die
den höchsten Grad absichtsvoller Selbsttätigkeit erlangt, indem sie direkt an das Le-
ben und die Interessen der Kinder appelliert. Das Element Projekt bleibt. Es wird in den
Mittelpunkt gerückt und der Selbstausdruck des Lernenden wird betont. Sie müssen
Verständnis für die ganze Aufgabe entwickeln, dann können sie Probleme und Schwie-
rigkeiten erkennen und genügend Kraft und Phantasie entfalten, um die Notwendigkeit
für Informationen und Fertigkeiten zu erfassen, die erlernt und eingeübt werden müs-
sen, damit sie das Projekt effektiv und erfolgreich zu Ende führen können. Die Schüler
sind an der Planung und Gestaltung des gesamten Unterrichts beteiligt. Außerdem wer-
den die notwendigen Lehrgänge und Übungen nicht dem Projekt vorgeschaltet, sondern
in das Projekt integriert. Er setzt damit die Konstruktion vor die Instruktion. Richards
stellt klar, dass es sich in der Schule nur um Mitbestimmung und Mitgestaltung, nicht
um Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung handeln kann. Der Lehrer erhält im
Projektunterricht die Aufgabe, die Schüler zu lenken, zu leiten und zu führen (Richards,
1891; vgl. Apel & Knoll, 2001, S. 26ff.).
Kilpatrick begründet sein Projektkonzept mit Deweys Theorie der Erfahrung. Die
Kinder sammeln Erfahrungen und bearbeiten Probleme der sozialen Umwelt, indem sie
zunächst dem Problem begegnen, einen Plan entwerfen, diesen umsetzen und damit das
Problem lösen mit dem Ziel Kenntnisse und Fertigkeiten für den Alltag zu erwerben.
Dabei stellt er das Kind in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Was auch immer das
Kind unternimmt, solange es absichtsvoll geschieht, handelt es sich um ein Projekt. Kil-
patrick definiert das Projekt daher als absichtsvolles Handeln aus ganzem Herzen, das in
einer sozialen Umgebung stattfindet. Die Einstellung des Lernenden ist ihm besonders
wichtig. Kilpatrick unterscheidet vier Typen von Projekten: Produktions-, Problem-,
Lern- und Konsumtionsprojekt. Vier Phasen werden jeweils unterschieden: Beabsichti-
gen, Planen, Durchführen und Beurteilen. Dabei soll alles in der Hand des Schülers lie-
gen, damit sie Selbstsicherheit, Entscheidungskraft und Lebensfreude entwickeln. Dies
ist ein universelles Modellverständnis eines Projektes. Jedes Tun des Kindes kann an
jedem Ort, zu jeder Zeit, auf jede Art und Weise zum Projekt werden. Entscheidendes
Kriterium ist die Absicht des Schülers. Absicht setzt Freiheit und Selbstbestimmung
voraus, sie kann nicht zugewiesen werden. Damit werden diese Überlegungen zu ei-
nem didaktischen Prinzip und nicht zu einem Projektverständnis im engeren Sinn (Kil-
patrick, 1935; vgl. Apel & Knoll, 2001, S. 29ff.).
John Dewey gilt in Deutschland als der eigentliche große Vertreter des Projektunter-
richts. Dies ist aber so nicht eindeutig zu bestimmen. Dewey hat sich zwar zur Projekt-
methode geäußert, aber nie eine eigenständige Theorie des Projektunterrichts hervorge-
bracht. John Dewey ist viel eher ein Vertreter der Problemmethode.
Traub: Selbstgesteuert lernen im Projekt? 99
Der Mensch gewinnt nach Dewey Erkenntnis, indem er sich tätig mit der Welt auseinan-
dersetzt, kurz: indem er Erfahrungen macht. Diese Vorstellung geht davon aus, dass der
Mensch nicht nur auf seine Umgebung reagiert und sich dieser anpasst, sondern diese
aktiv und bewusst gestaltet, sich also handelnd mit ihr auseinandersetzt. Der Mensch
wirkt aktiv auf seine Umgebung ein und erfährt die Folgen seiner Handlungen, indem
die Umgebung auf ihn zurückwirkt und gewinnt dadurch Erkenntnis. Demnach gewinnt
der Mensch Erkenntnis, indem er sich tätig mit der Welt auseinandersetzt und, aufbau-
end auf alten Erfahrungen, neue Erfahrungen macht. Denken und Erfahrung stehen da-
bei für Dewey in einem engen Zusammenhang.
Mit der Zunahme des Anteils des Denkens wird Denken zu einer besonderen Form
der Erfahrung, der denkenden Erfahrung, die er auch als die bildende (educative)
Methode der Erfahrung bezeichnet. Erfahrung ist für Dewey das Mittel und Ziel der
Erziehung, die er in seinem erziehungsphilosophischen Hauptwerk „Demokratie und
Erziehung“ (Dewey, 1964, S. 108) definiert als „diejenige Rekonstruktion und Reorga-
nisation der Erfahrung, die die Bedeutung der Erfahrung erhöht und die Fähigkeit, den
Lauf der folgenden Erfahrung zu leiten, vermehrt“.
Die wesentlichen Merkmale der Methode sind darum identisch mit den wesentlichen
Merkmalen des Denkens. Es sind folgende:
● dass der Schüler eine wirkliche, für den Erwerb von Erfahrung geeignete Sachlage
vor sich hat – dass eine zusammenhängende Tätigkeit vorhanden ist, an der er um
ihrer selbst willen interessiert ist;
● dass in dieser Sachlage ein echtes Problem erwächst und damit eine Anregung zum
Denken;
● dass er das nötige Wissen besitzt und die notwendigen Beobachtungen anstellt, um
das Problem zu behandeln;
● dass er auf mögliche Lösungen verfällt und verpflichtet ist, sie in geordneter Weise
zu entwickeln;
● dass er die Möglichkeit und die Gelegenheit hat, seine Gedanken durch praktische
Anwendung zu erproben, ihren Sinn zu klären und ihren Wert selbständig zu entde-
cken (Dewey, 1964, S. 218).
Ein Projekt bedeutet für Dewey die tätige Auseinandersetzung mit einem Gegenstand
über einen längeren Zeitraum hinweg, einem Gegenstand der von bleibendem Inter-
esse für den Schüler und die Gesellschaft ist, der über sich hinausweist und weiterge-
hende Probleme aufzeigt, mit dem Ziel, Erfahrungsprozesse bei den Schülern zu initi-
ieren. Projekte müssen geplant werden, aber nicht alles ist planbar. Diesen Dualismus
sieht Dewey als wichtig an und er gilt auch für den Projektunterricht (vgl. Dewey, 1964,
1993; vgl. Apel & Knoll, 2001).
In diesen Modellen, vor allem von Kilpatrick und Dewey ausgehend spiegeln sich
die Merkmale selbstgesteuerten Lernens durchaus als immanente Kriterien einer Pro-
jektarbeit wider.
100 Allgemeiner Teil
2. Forschungsdesign
Diese Fragestellung soll durch drei Zugänge beantwortet werden: Zum einen, indem die
gängige Projektliteratur daraufhin befragt wird, ob in den dort beschriebenen Projekt-
modellen die Merkmale selbstgesteuerten Lernens berücksichtigt werden. Zum ande-
ren, indem die Selbsteinschätzung der Lernenden zum selbstgesteuerten Lernen im Pro-
jekt erfragt wird und Beobachtungen der Lehrenden bezüglich der Verwirklichung von
Merkmalen selbstgesteuerten Lernens festgehalten werden.
Es wird hier bewusst auf Selbsteinschätzungsforschung (Befindlichkeitsforschung)
zurückgegriffen, da es ja bereits ein Indiz für selbstgesteuertes Lernen ist, die Merkmale
bei sich selbst zu beobachten und diese entsprechend reflektieren und einschätzen zu
können. Aus diesen Überlegungen lassen sich folgende Hypothesen entwickeln:
Hypothese 1:
Wenn in der Literatur Projektunterricht beschrieben wird, dann werden Merkmale
selbstgesteuerten Lernens benannt.
Hypothese 2:
Wenn Projektunterricht durchgeführt wird, dann können Lehrende beobachten, dass
Lernende selbstgesteuert lernen.
Hypothese 3:
Wenn Lernende in Projektform lernen, dann bewerten sie dieses Lernen als selbst-
gesteuert.
Traub: Selbstgesteuert lernen im Projekt? 101
Hypothese 1
Um diese Hypothese zu prüfen, musste geeignete Projektliteratur herangezogen wer-
den. Dazu wurden Universitäts- und Lehrerbibliotheken dahingehend geprüft, welche
Literatur dort vorrätig ist und häufiger ausgeliehen wird und es wurden Lehrerinnen
und Lehrer befragt, auf welche Literatur sie zurückgreifen. Es handelt sich dabei um die
Projektliteratur von Karl Frey, Dagmar Hänsel, Herbert Gudjons, Wolfgang Emer und
Klaus-Dieter Lenzen (ausführliche Literaturangabe im Literaturverzeichnis). Die von
diesen Autoren beschriebenen Projektmodelle wurden nach den Merkmalen selbstge-
steuerten Lernens durchforscht. Hierzu wurden einzelne Aussagen der jeweiligen Pro-
jektmodelle den Merkmalen selbstgesteuerten Lernens zugewiesen und danach ent-
schieden, ob dieses Merkmal im Projektmodell als Bestandteil signifikant beschrieben
wird. Dies geschah durch vier unabhängig agierende Forscher mit einer Interkoder-Re-
liabilität von fast 100% in allen Fällen. Alle Forscher haben die Projektliteratur gele-
sen und sich die Stellen markiert, bei denen sie ein Merkmal selbstgesteuerten Lernens
angesprochen sahen. Dies wurde zunächst von jedem einzeln vorgenommen. Danach
wurden die Textpassagen und ihre Merkmale miteinander verglichen und versucht eine
Einigung herzustellen, was meist ohne Probleme gelang.
Hypothese 2
Um diese Hypothese zu prüfen wurden mit 36 Lehrerinnen und Lehrern verschiedener
Schularten halbstandardisierte Interviews durchgeführt. Den Lehrerinnen und Lehrern
wurde ein Interviewleitfaden vorgelegt, der die Merkmale selbstgesteuerten Lernens be-
nennt und sie wurden danach gefragt, inwiefern sie diese Merkmale bei ihren Schüle-
rinnen und Schülern beobachten können. Dabei wurde über das Verständnis der einzel-
nen Merkmale gesprochen. Die Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und von
vier „Forschern“ mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Merkmale
dienten dabei als Matrix und Hauptkriterien, denen dann die einzelnen Aussagen der
Lehrenden zugewiesen wurden. Die Interkoder-Reliabilität war bei dieser Art der Aus-
wertung sehr hoch (in 96% der Fälle wurde eine völlige Übereinstimmung erzielt). Da-
bei wurde zunächst eine Probekodierung vorgenommen, nochmals nachgebessert durch
Finden weiterer gemeinsamer Kategorien durch induktives Vorgehen. Alle Interviews
wurden einzeln durchgegangen und die einzelnen Aussagen den entsprechenden Kate-
gorien zugeordnet. Anschließend wurden die Zuordnungen verglichen und bei Unter-
schieden diese diskutiert und eine Einigung herbeigeführt.
102 Allgemeiner Teil
Hypothese 3
Bei der Erhebung der Schülersicht wurde auf den bewährten und gut ausgearbeiteten
CLES-Fragebogen (Constructivistic learning Environement Survey) zur Erfassung der
individuellen Einschätzung selbstgesteuerten Lernens in Unterrichtssituationen zurück-
gegriffen. Dieses international anerkannte und gut fundierte Instrument wird auf pä-
dagogisch-psychologische relevante Anwendungsfelder übertragen und kann deshalb
auch auf Projektunterricht und herkömmlichen Unterricht bezogen werden. Der Frage-
bogen wurde von Peter Taylor und Barry Fraser von der Curtin University of Techno-
logy in Perth, Australien entwickelt. Der Fragebogen wurde mit dem Statistikprogramm
Almo von Prof. Holm (Linz) ausgewertet. Hypothese 3 wurde mit Mittelwerts- bzw.
Varianzanalysen geprüft. Dabei wurde der t-Test für Mittelwertsdifferenzen berechnet.
Bei den angegebenen Mittelwerten handelt es sich um künstlich in ALMO hergestellte
Summenwerte. Im Falle der Berechnung von Signifikanztests in Form der t-Tests für
Mittelwertsdifferenzen bzw. des Welch-Tests wurde eine Irrtumswahrscheinlichkeit von
p < 5% zugrunde gelegt. Es wurden letztendlich nur diejenigen Unterschiede als sig-
nifikant akzeptiert, die sowohl bei normalem t-Test oder Welch-Test auch nach dem
Scheffe-Test signifikant waren. Damit erfolgte eine Alpha-Adjutisierung, die notwendig
wird, wenn mehrere Mittelwertsvergleiche an der gleichen Stichprobe erfolgen.
Als weiteres Gütemerkmal des verwendeten CLES-Fragebogens kann die diskrimi-
nante Validität gelten. Offenbar erfasst jede Dimension unterschiedliche, wenngleich
auch partiell überlappende Elemente des Lernens bzw. der Lernumwelt. Die Cronbach
alpha Reliabilität der Skalen des veränderten Fragebogens variieren zwischen 0.726 und
0.886 und können als sehr homogen und deshalb als hoch angesehen werden.
Die Stichprobe umfasste 2068 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 5 bis 10,
die eine Hauptschule, Realschule oder ein Gymnasium in Baden-Württemberg besuch-
ten. Von diesen 2068 Befragten bekamen 1414 (68,4%) einen Fragebogen zur Einschät-
zung von Projektunterricht vorgelegt, dabei sollten die Lernenden zunächst so genau
wie möglich das Projekt beschreiben, auf dessen Hintergrund sie den Fragebogen bear-
beiteten. Diese Projektbeschreibungen wurden wiederum von vier unabhängigen For-
schern dahingehend überprüft, ob es sich überhaupt um ein Projekt im Sinne der Krite-
rien eines Projektunterrichts handelt. Als Kriterien wurden die Schülerorientierung, die
Handlungsorientierung, die Prozess- bzw. Produktorientierung sowie die Öffnung der
unterrichtlichen Rahmenbedingungen und die Phasenstruktur der Arbeitsorganisation
zu Grunde gelegt. Es handelt sich hierbei um Kriterien, die von den analysierten Pro-
jektmodellen als Kriterien benannt und im Rahmen eines Projektunterrichts gefordert
werden. Es lagen 160 Beschreibungen vor. Es besteht eine vollständige (hundertprozen-
tige) Interkoder-Reliabilität bei 87,5% der verschiedenen Beschreibungen (Fälle) von
durchgeführten Projekten (140). Nur ca. ein Drittel aller Beschreibungen konnten dem
Projektunterricht im Sinne der Kriterien zugeordnet werden (29%). Diese wurden in die
weitere Untersuchung einbezogen.
Als Kontrollgruppe dienten Schülerinnen und Schüler, die den Fragebogen auf
dem Hintergrund ihres erlebten „normalen“ Unterrichts ausfüllten (654 Fragebö-
gen = 31,6%). Als „normaler“ bzw. „herkömmlicher Unterricht“ wurde ein Unterricht
Traub: Selbstgesteuert lernen im Projekt? 103
definiert, der gekennzeichnet ist durch einen Einstieg in das Thema, eine Erarbeitungs-
phase, in der in einem Lehrer-Schüler-Gespräch, durch einen Lehrervortrag oder über
ein anderes Medium Wissen vermittelt wird oder in Partner- bzw. Gruppenarbeit Wissen
angeeignet wird und in dem bei der anschließenden Übungsphase das Wissen eingeübt
und eventuell auch angewandt wird. Eine Reflexion beendet die Stunde. Von der Unter-
richtsform her überwiegt die direkte Vermittlung durch Vortragen oder Vorführen eines
Inhalts, und das Unterrichtsgespräch, das mehr oder weniger gelenkt sein kann. Eben-
falls ist ein Methodenwechsel vorhanden, so dass sich Einzelarbeit (Stillarbeit), Partner-
bzw. Gruppenarbeit abwechseln. Nicht als herkömmlicher Unterricht wird die Statio-
nenarbeit, die Freiarbeit oder der Wochenplan bezeichnet. Mit den Lernenden wurden
diese Kriterien besprochen.
Hypothese 1
Wenn in der Literatur Projektunterricht beschrieben wird, dann werden Merkmale
selbstgesteuerten Lernens benannt.
Selbstregulation:
In der Projektmethode nach Frey (1998) setzen sich die Lernenden aktiv mit einem
selbst gewählten Betätigungsfeld auseinander, verwenden Lernstrategien oder eig-
nen sich diese eigenständig an, und beschaffen sich selbstständig Informationen. Die
einzelnen Phasen des Projekts werden von den Lernenden organisiert und durch-
geführt. Gudjons (2001) sieht den gemeinsame Kern handlungsorientierten Unter-
richts in der eigentätigen, viele Sinne umfassenden Auseinandersetzung und akti-
ven Aneignung eines Lerngegenstandes. Handlungsorientierter Unterricht legt auf
die Selbststeuerung der Schüler in der Planung, Durchführung und Auswertung von
Handlungsprozessen großen Wert. Apel und Knoll (2002) weisen dem selbstgesteu-
erten Lernen eine besondere Bedeutung zu und sehen es als wichtiges Ziel des Pro-
jektunterrichts an. Allerdings müssen die dafür notwendigen Voraussetzungen beim
Lerner geschaffen werden. Emer und Lenzen (2002) und Hänsel (1999) stehen die-
sem Merkmal skeptischer gegenüber. Emer und Lenzen sehen selbstbestimmtes Ler-
nen als eine zentrale Kategorie an. Trotzdem werden die Lernenden von Lehrenden
unterstützt und immer wieder angeleitet. Bei Hänsel liegt die Hauptverantwortung
für das Projekt bei den Lehrenden; sie bereiten auch schon einen groben Plan vor,
sodass die Lernenden sich nur teilweise in das Projektgeschehen einbringen können.
Lernen und Vorgehen machen und sich darüber austauschen, in welche Richtung das
Projekt weitergeführt werden soll. Hänsels Ansatz geht auf Dewey zurück und da-
mit auch auf dessen Überlegungen zur Erkenntnisgewinnung. Apel und Knoll sehen
es als zentral an, dass Lernende mit Hilfe von Zwischenschritten über ihr Vorgehen
nachdenken, sich ihre Ziele bewusst setzen und sich aktiv bei der Durchführung be-
teiligen. Bei Emer und Lenzen müssen Lernende reflexiv sein, um das Projekt zu
Ende zu führen, sie müssen sich bewusst machen, warum sie ein Thema wählen und
dieses rechtfertigen. Aber viele Aspekte werden von einem Projektausschuss ent-
schieden, so dass den Lernenden ein Teil der Reflexivität abgenommen wird und
auch nicht sichergestellt ist, ob den Lernenden das Vorgehen in allen Einzelheiten
bewusst ist.
Motivation:
Alle gehen davon aus, dass das Thema aus dem Interessengebiet der Lernenden
kommt. dass sie sich damit auseinandersetzen wollen oder zumindest die Bedeut-
samkeit des Inhalts für sich und die Gemeinschaft erkennen. Nur so kann ein ech-
tes Problem erwachsen und nur dadurch kann Freude an der Bearbeitung geweckt
werden. Interessen sind nicht immer von vornherein vorhanden, sondern müssen
auch geweckt werden. Aus einem bestehenden oder geweckten Interesse kann dann
die Motivation aufgebaut und somit eine eigenständige Weiterentwicklung erreicht
werden. Durch die Lösung des Problems und die Bearbeitung entsteht ein höheres
Selbstwirksamkeitskonzept und die Persönlichkeit des Einzelnen wird gestärkt.
Kooperation:
Auch hier ist eine große Übereinstimmung vorhanden. Die Lernenden unterstützen
sich gegenseitig und Lernen findet wechselseitig statt. Nur gemeinsam und in Ar-
beitsteilung kann das Produkt erreicht werden. Die Arbeit in einem Projekt vollzieht
sich in selbstgewählten Gruppen, die dann gemeinsam an einem Plan arbeiten und
zu einem Ergebnis kommen wollen. Nur bei Hänsel kann aus dem Modell nicht er-
schlossen werden, ob hier an Kooperation gedacht wird.
erlernt werden muss. Auch Hänsel sieht es als notwendig an, dass Lernende, um eine
inhaltliche Auseinandersetzung zu ermöglichen, Lernstrategien erwerben müssen.
Da die Verantwortung bei den Lehrenden liegt, ist die Ergebnisorientierung nur bis
zu einem gewissen Grade in die Hände der Lernenden gelegt.
Es werden sehr hohe Erwartungen mit Projektunterricht verbunden und es wird pau-
schal davon ausgegangen, dass Lehrende diese Modelle so umsetzen und damit die an-
genommenen Ergebnisse erreicht werden können. Hypothese 1 kann damit bestätigt
werden.
Hypothese 2
Wenn Projektunterricht durchgeführt wird, dann können Lehrende beobachten, dass
Lernende dabei selbstgesteuert lernen.
Selbstregulation:
Die Lehrenden verstehen dieses Merkmal als selbsttätiges, aktives Erledigen von
Aufgaben, die aber durchaus vorgegeben sind. Weniger angesprochen wird in die-
sem Zusammenhang, dass Lernende sich selbst Pläne machen, die sie dann ausfüh-
ren können, dass sie ihren Lernablauf strukturieren müssen oder dass Lernende ihr
Verhalten selbst steuern. Lehrende gehen eher davon aus, dass Lernende nur dann
selbstreguliert arbeiten, wenn ihnen die Aufgaben kleinschrittig vorgegeben werden,
nicht aber, wenn es um das eigentliche Verständnis der Selbstregulation geht.
Motivation:
Das Projektthema muss die Lernenden interessieren und sie müssen Freude bei der
Bewältigung des Themas haben. Es wird betont, dass die Lernenden viel Engage-
ment für Projekte mitbringen, gerne die Verantwortung übernehmen und sich inten-
siv mit dem Thema und der Aufgabe beschäftigen. Projektunterricht hebt sich durch
die hohe Motivation von „herkömmlichen“ Unterrichtsformen ab. Dieses Merkmal
wird von den Lehrenden eindeutig beobachtet.
Kooperation:
Die Interviewten benennen, dass die Lernenden Meinungen austauschen, sich ge-
genseitig helfen, dadurch miteinander kommunizieren und sich so gegenseitig unter-
stützen. Die Zusammenarbeit als wichtiger Faktor zur erfolgreichen Projektbewäl-
tigung wird betont und diese Zusammenarbeit auch beobachtet. Allerdings räumen
106 Allgemeiner Teil
die Lehrenden ein, dass häufig auch beobachtet werden kann, dass einer die Arbeit
für alle erledigt und kaum kooperativer Austausch stattfindet.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Lehrenden sich selbst noch eher wenig
Gedanken über diese Merkmale im Zusammenhang mit Projektunterricht gemacht ha-
ben. Beobachtet wurden diese Merkmale kaum bei Lernenden, nur die Motivation und
die Kooperation sind aus der Sicht der Lehrenden eindeutig im Projektunterricht zu
beobachten, die anderen Merkmale sind Zielvorstellungen, die durch Projektunterricht
vielleicht mal erreicht werden könnten. Insgesamt kann also Hypothese 2 nicht bestä-
tigt werden.
Hypothese 3
Wenn Lernende in Projektform lernen, dann bewerten sie dieses Lernen als selbstge-
steuert.
Selbstregulation:
Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich insgesamt bei beiden Unterrichtsformen
nur teilweise selbstgesteuert, allerdings im „normalen“ Unterricht signifikant stärker
als im Projektunterricht.
MW 15.1826 18.3650
Reflexivität 10,02*
S 6.5896 4.5435
MW 17.1661 22.5806
Bewusstheit 15,74*
S 7.4917 4.3999
MW 14.7336 12.1680
Motivation 10,31*
S 4.4123 4.3976
MW 27.4662 32.1495
Kooperation 9,20*
S
11.2979 6.0207
MW 12.0576 14.1636
Infoaneignung 7,86*
S 5.3100 4.1026
MW 48.7199 52.0639
Bearbeitung des
11.0515 10.0886 5,58*
Themas
S
MW 17.9194 19.9105
Eigentätigkeit 6,13*
S 7.1583 3.9757
MW 18.5634 19.1843
Ergebnis-
7.0416 3.9103 1,94
orientierung
S
Tab. 1
Motivation:
Die Werte bewegen sich im mittleren Bereich (2,9 = Projekt 2,4 = “normaler“ Un-
terricht), was durchaus die Schlussfolgerung zulässt, dass bei beiden Unterrichtsfor-
men die Motivation nicht zu stark ausgeprägt ist, wenngleich sie im Projektunter-
richt signifikant höher zu bewerten ist.
108 Allgemeiner Teil
Kooperation:
Die Befragten schätzen ihre Kooperationsfähigkeit in Gruppenarbeitsformen des
„normalen“ Unterrichts signifikant höher ein als im Projektunterricht. Betrachtet
man sich die Durchschnittswerte, dann zeigt sich, dass sich die Werte auf einem
mittleren Niveau bewegen.
Für den Bereich „Bearbeitung des Themas“ ist die Streuung bei beiden Unterrichtsfor-
men derart hoch, dass sich eigentlich keine verallgemeinerbaren Aussagen machen las-
sen.
Die Eigentätigkeit im „normalen“ Unterricht wird höher eingeschätzt als im Projekt-
unterricht, wobei bei beiden Formen eher geringe Werte angekreuzt wurden.
In der Dimension „Ergebnisorientierung“ gibt es keine signifikanten Unterschiede
in der Bewertung zwischen Projektunterricht (3,0) und „normalem“ Unterricht (3,1).
Schülerinnen und Schüler betrachten sich eher wenig als selbstgesteuert lernend im
Projektunterricht. Dafür spricht, dass insgesamt nicht nur der „normale“ Unterricht als
selbstgesteuerter bewertet wird, sondern auch, dass sich die angekreuzten Werte im un-
teren Bereich (auf einer 5-reihigen Werteskala zwischen 1 und 3) bewegen. Berücksich-
tigt werden muss bei diesem Ergebnis aber durchaus, dass eine hohe Streuung bei allen
Dimensionen vorliegt, das heißt, es gibt durchaus Lernende, die sich sehr selbstgesteu-
ert im Projektunterricht einschätzen. Daraus kann geschlossen werden, dass im Projekt-
unterricht durchaus selbstgesteuert gelernt werden kann, dass dies aber stark von der
Organisation und der Durchführung eines Projektes abhängig ist, ebenso von den Vo-
raussetzungen der Lernenden und Lehrenden.
Insgesamt trifft Hypothese 3 nur eindeutig auf die Motivation zu und eingeschränkt
auf die Kooperation und kann somit nicht bestätigt werden.
Merkmale Literatur L S
E&L F G H A&K
Selbstregulation ~ + + ~ + – –
Reflexivität und ~ + + + + – –
Bewusstheit
Motivation + + + + + + +
Kooperation + + + ? + + ~
Nutzung von ~ + + ~ + ~ ~
Lernstrategien
Tab. 2: E & L = Emer und Lenzen (2002); F = Frey (1998); G = Gudjons (2001); H = Hänsel
(1999); A & P = Apel und Knoll (2001): genaue Literaturangaben im Literaturverzeichnis:
Schlussfolgerung aus Hypothese 1
L = Lehrende; Schlussfolgerung aus Hypothese 2
S = Schülerinnen und Schüler; Schlussfolgerung aus Hypothese 2
Bei der Kooperation sind sich die Lernenden selbst gar nicht so sicher, ob dieses im
Projektunterricht verwirklicht wird oder nicht. Während die anderen Gruppierungen auf
dieses Prinzip ein Hauptaugenmerk richten und dadurch vor allem auch soziale Kompe-
tenzen verwirklicht sehen, stellen dies die Lernenden gerade in Frage. Sie gehen zwar
davon aus, dass sie öfter Gelegenheit haben im Projektunterricht kooperativ zu arbeiten,
sind aber unsicher, wie eine sinnvolle Zusammenarbeit aussieht.
Bei allen anderen Merkmalen sind die Unterschiede deutlich zu erkennen. Bei der
Selbstregulation sind sich auch die Autoren eher uneinig, aber alle sehen einige Aspekte
davon verwirklicht, manche halten genau dieses Merkmal im Projektunterricht für be-
sonders wichtig, während die Lehrenden und Lernenden hier keine Umsetzung für sich
erkennen können. Noch ausgeprägter sind die Unterschiede bei den Merkmalen Refle-
xivität und Bewusstheit. Während diese von der Literatur als wichtige Aspekte benannt
werden, werden sie von den Praktikern als nicht vorhanden wahrgenommen. Das Merk-
mal der Nutzung von Lernstrategien ist schwer auszuwerten, da es wohl zu viele Fa-
cetten enthält. Einig sind sich aber alle Gruppierungen darin, dass es der methodischen
Kompetenz bedarf, um Projektunterricht gewinnbringend umsetzen zu können, ebenso
wie in der Forderung, dass diese Kompetenzen erworben werden müssen. Allerdings
gibt es auch hier unterschiedliche Auffassungen, was denn nun eigentlich methodische
Kompetenz ist und ob sie als Voraussetzung, als Ziel oder als Ergebnis eines Projektun-
terrichts zu betrachten ist.
Projektunterricht kann die gestellten Ansprüche nicht erfüllen. Die in der Theorie für
die Praxis entwickelten Modelle bleiben eher unberücksichtigt. Die Merkmale selbstge-
steuerten Lernens werden nur ansatzweise oder gar nicht eingelöst, so dass in der Pro-
jektwirklichkeit nicht von selbstgesteuertem Lernen gesprochen werden kann.
110 Allgemeiner Teil
Dies ist umso problematischer, wenn man sich die Schulwirklichkeit vor Augen führt.
Dort wurde in den letzten Jahren die Bewertung von Projektarbeit in vielen Bundeslän-
dern in das schulische Beurteilungs- und Prüfungssystem integriert, allerdings in un-
terschiedlichen Ansätzen: In Baden-Württemberg und in Hessen als Projektprüfung, in
Thüringen als „Einschätzung der Kompetenzentwicklung“ oder in Sachsen in den ver-
balen Kopfnoten. Dies lässt eine hohe Bedeutsamkeit der Projektarbeit an Schulen er-
kennen. Allerdings wird diese immer noch eher rudimentär betrieben: überwiegend am
Ende des Schuljahres in Form von Projekttagen, die dann wenig mit der definierten Pro-
jektmethode zu tun haben und eher Erlebnistage darstellen (ca. 50% des Projektunter-
richts). Gute Ansätze stellen die themenorientierte Projekte dar, die verpflichtend in ei-
nem Schuljahr (zum Beispiel im Bildungsplan Baden-Württemberg 2004 so festgelegt)
durchgeführt werden müssen (ca. zwei bis drei Projekte in einem Schuljahr), allerdings
werden auch hier die Lernenden wenig systematisch auf Projektarbeit und selbstgesteu-
ertes Lernen vorbereitet., obwohl am Ende der Schulzeit eine Abschlussprüfung in Pro-
jektarbeit erwartet wird (vgl. Bohl, 2000; vgl. Schleske, 2005).
Die Tendenz in der Unterrichtsentwicklung nach mehr Projektarbeit nimmt weiter
zu, weshalb es immer wichtiger wird, sich mit der Frage zu befassen, wie denn ein Pro-
jektunterricht gestaltet werden kann, damit sich Lernende als selbstgesteuert wahrneh-
men und Lehrende diese in der Umsetzung beobachten können. Zwei Ansatzpunkte sol-
len hier skizziert werden:
Die Lernumgebung muss sich langsam öffnen, Lernende mit entsprechenden Kom-
petenzen versehen werden, um darin erfolgreich lernen zu können. Projektunter-
richt stellt ein sehr anspruchsvolles Unterrichtskonzept dar. Damit dieses Konzept
erfolgreich sein kann, müssen die Lernenden über bestimmte Kompetenzen verfü-
gen, sich diese aneignen, um sie dann selbständig anwenden zu können. Dazu muss
Projektunterricht auch als Lernprozess aufgefasst werden. Im Projektunterricht ver-
schiebt sich die Rolle des Lehrenden vom aktiven Lenker hin zum Berater, die Rolle
des Lernenden vom passiven Zuhörer zum aktiv Handelnden. In diese neuen Rollen
müssen Lehrende und Lernende hineinwachsen. In der Literatur zum Projektunter-
richt werden bisher nur Phasen und Schritte eines Projektablaufs genannt oder Bei-
spiele gelungener Projektarbeit vorgestellt; ein Konzept zur Umsetzung von Projektar-
beit auf unterschiedlichem Prozessniveau der Lehrenden und Lernenden gibt es noch
nicht.
Traub: Selbstgesteuert lernen im Projekt? 111
Wenn sich diese Überlegungen für Projektunterricht als erfolgreich erweisen, müssen
sie einen Zugang in die Schule erhalten. Dies scheint ein schwieriges Unterfangen zu
sein, da sich in der bisherigen Analyse gezeigt hat, dass die Lehrenden, die ja das Kon-
zept letztlich umsetzen sollen, sehr lernresistent sind. Das zeigt sich zum Beispiel da-
rin, dass Lehrende kaum Projektliteratur kennen und noch weniger auf diese zurück-
greifen. Es muss davon ausgegangen werden, dass Lehrende starke subjektive Theorien
über Projektunterricht gebildet haben und sie diese bei der Umsetzung auch anwenden.
Wenn nun ein neues Projektkonzept umgesetzt werden soll, dann reichen einfache Fort-
bildungen nicht aus. Wie bereits mehrfach nachgewiesen (Haas, 1998; Traub, 1999;
Wahl, 2006), greifen Lernende bei der Umsetzung auf ihre stark verhafteten subjekti-
ven Theorien zurück und richten danach ihren Projektunterricht aus. Damit bleibt es bei
den dargestellten nur wenig projektartigen Aktivitäten. Damit ein neu zu entwickelndes
Projektkonzept auch umgesetzt werden kann, müssen Lehrende das Konzept aufneh-
men und es verinnerlichen, so dass sie auf dieses dann auch zurückgreifen. Dies ist ein
langwieriger Prozess, der einer besonderen Art der Fortbildung und Betreuung bedarf.
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Traub: Selbstgesteuert lernen im Projekt? 113
1. Einleitung
Die Einrichtungen der öffentlichen Weiterbildung1 sehen sich seit den 1990er Jahren,
vermittelt durch ordnungs-, finanzierungs- und bildungspolitische Entwicklungskon-
zeptionen neoliberalen Zuschnitts, mit veränderten Rahmenbedingungen ihrer Arbeit
konfrontiert. Stagnierende oder gar zurückgehende institutionelle Fördermittel, eine
gestiegene Abhängigkeit von Mechanismen des Marktes, neue Rechenschaftspflichten
und Anforderungen an die Einführung eines Qualitätsmanagements – all dies drängt
in Weiterbildungseinrichtungen auf die Umsetzung eines organisatorischen Selbstver-
ständnisses, das mehr oder weniger eng an der Modellvorstellung des modernen Dienst-
leistungsbetriebs orientiert ist (vgl. Merk, 2006). Gleichzeitig wird von Weiterbildungs-
einrichtungen aber auch gefordert, dass sie die gestiegene gesellschaftliche und politi-
sche Aufmerksamkeit für Bildung und Lernen sowie damit einhergehende Erwartungen
an die Verbesserung der pädagogisch-didaktischen Qualität und Effektivität der Wei-
terbildung beachten. So sollen in der Planung von Weiterbildungsangeboten und -pro-
grammen angemessene Antworten auf das öffentliche Bewusstsein für die (erwerbs-)
biografische Relevanz des Lernens, auf zunehmend differenzierte Weiterbildungsinte-
ressen (vgl. Tippelt, 1997; Barz & Tippelt, 2004) sowie auf die bildungspolitische For-
derung der Unterstützung des lebenslangen Lernens aller Bürgerinnen und Bürger (vgl.
EU-Kommission, 2000; BLK, 2004) gefunden werden.
1 Mit dem Begriff der öffentlichen Weiterbildung ist der Ausschnitt des Weiterbildungsgesche-
hens gemeint, der auch mit Mitteln der öffentlichen Hand realisiert wird, wobei dies nicht al-
lein durch öffentlich-rechtliche Träger und Einrichtungen der Weiterbildung geschehen muss.
Zunehmend werden öffentlich geförderte Weiterbildungsprojekte und -maßnahmen auch von
privaten Träger und Einrichtungen akquiriert und realisiert.
Bis in die neunziger Jahre hinein wurde die Organisation in der Erwachsenenpädago-
gik – wie in der Pädagogik insgesamt (vgl. kritisch: Böttcher & Terhart, 2004) – als
„äußere“ Rahmenbedingung professionellen pädagogischen Handelns oder als Ver-
fahren berücksichtigt, das gewährleistet, dass Weiterbildungsveranstaltungen tatsäch-
lich durchgeführt werden können. Zwar wusste man, dass „das Organisatorische“ prak-
tisch schon immer Bestandteile der pädagogischen Leitungs- und Planungstätigkeit in
Weiterbildungseinrichtungen waren. Doch wurde dies allenfalls vereinzelt als Anlass
des Nachdenkens etwa über ein spezifisches „Management der Erwachsenenbildung“
(Senzky, 1974) aufgegriffen. Überwiegend wurden die Organisationstätigkeiten von
Leitungskräften und pädagogischem Personal in kritisch-defensiver Haltung als Belege
für die Einschränkung von Entfaltungschancen des professionellen pädagogischen Han-
delns betrachtet (vgl. etwa: Ufermann, 1987).
Die Unterscheidung von Organisation und Pädagogik ist für das Verstehen von Ent-
wicklungen auf der Ebene der Träger und Einrichtungen der Weiterbildung auch heute
von zentraler Bedeutung. Doch werden unterschiedliche Relationierungsmöglichkei-
ten von organisatorischer und pädagogischer Handlungslogik zugestanden (vgl. Nittel,
1996, S. 741-742). So wird auch gesehen, dass eine stärkere Berücksichtigung des pro-
fessionellen pädagogischen Gestaltungswissens die Entwicklungs- und Leistungsfähig-
keit organisatorischen Handelns zu verbessern hilft (vgl. Fuhr, 1994; Geißler, 2009) und
dass der organisatorische Kontext im Sinne der Unterstützung pädagogischen Handelns
gestaltbar und entwickelbar ist (vgl. Dietrich, 2007).
Den empirischen Hintergrund für solche Perspektivenerweiterungen bilden insbe-
sondere Deregulierungsprozesse der öffentlichen Weiterbildung (vgl. Nuissl, 1996;
Dröll, 1999, S. 39ff.). Weiterbildungseinrichtungen sind vor diesem Hintergrund gefor-
dert, sich wesentlich intensiver als zuvor mit ihrer betrieblichen Verfasstheit und ihrem
strategischen Marktbezug zu befassen und ihre Entwicklung mit Hilfe von modernen
Management- und Marketingkonzepten und neuen Finanzierungsstrategien ihres jewei-
ligen Leistungsangebots selbst voranzutreiben (vgl. exemplarisch: Nuissl & Schuldt,
1993; Burggraf, 1999). Gleichzeitig geraten die Einrichtungen als Adressen für ver-
schiedenste Gestaltungsansprüche in den Blick (vgl. Harney, 1997). Weiterbildungsein-
richtungen sehen sich so zunehmend in neuartige Beobachtungsverhältnisse eingestellt,
in denen sie zur Offenlegung und vor allem auch offensiven Darlegung ihrer päda-
gogischen Leistungs- und Innovationsfähigkeit herausgefordert werden (vgl. exemp-
larisch Grotlüschen & Beier, 2008). Weiterbildungseinrichtungen können daher nicht
mehr, wie es in den erwachsenenpädagogischen Entwicklungsdiskursen der 1970er-
Jahre noch der Fall war, als institutionalisierte und legitimierte Strukturen zur „Ope-
rationalisierung öffentlich zugewiesener Weiterbildungsfunktionen“ (Harney, 2002,
S. 128) begriffen werden. Stattdessen gewinnen die Einrichtungen als Organisationen
bzw. als eigenverantwortliche Entscheidungszusammenhänge an Gewicht, die als sol-
che eine eigenständige Steuerungsebene pädagogischer Leistungserbringung innerhalb
Nuissl von Rein/Dollhausen: Kulturen der Programmplanung 117
2 Wir legen hier ein Verständnis der Unterscheidung von Institution und Organisation im An-
schluss an Baecker (1999, S. 316ff.) zugrunde. Demnach sind Institutionen als „Form gewor-
dene Idee“ zu begreifen, die als Leistungslieferanten für Andere fungieren. Organisationen
hingegen entwickeln aus der Differenz zur Umwelt heraus eine interne Organisationsidenti-
tät, eine Eigenwelt, die mitbestimmt was in einer Organisation als relevante Umwelt wie be-
obachtet und behandelt wird.
118 Allgemeiner Teil
Harney (1997) rückt gar von Vorstellungen eines gegebenen pädagogischen Funktions-
primats und der prinzipiellen Gebundenheit der Weiterbildung an bildungssystemspe-
zifische Vorgaben ab. Er kommt zu dem Schluss, dass sich Weiterbildung kaum als ein
eigenständiges Funktionssystem innerhalb des Bildungssystems begreifen lässt. Viel-
mehr siedelt sich Weiterbildung als Sinnform in den verschiedensten gesellschaftlichen
Funktionssystemen an und ermöglicht hier den Aufbau von strukturellen Kopplungen
zwischen Systemen und ihrer Personenumwelt sowie die strukturelle Kopplung zwi-
schen dem Selbst-Bewusstsein von Personen und ihrem Lebenslauf. Man mag dies am
Beispiel der betrieblichen Weiterbildung verdeutlichen, die in den Organisationen des
Wirtschaftssystems gleichermaßen als Faktor der Produktivitätssicherung und als Un-
terstützung individueller beruflicher Karriereperspektiven relevant wird.
Zusammengenommen verdeutlichen diese Theoretisierungsansätze Weiterbildungs-
organisationen als mehrdeutige und vielschichtige Zusammenhänge, die in der Gesell-
schaft die strukturellen Bedingungen der Möglichkeit weiterbildungsspezifischen päd-
agogischen Handelns sicherstellen, die sich dabei jedoch mit limitierten Möglichkeits-
spielräumen zur Ausgestaltung des pädagogischen Handelns konfrontiert sehen. Dieses
Verständnis weist eine deutliche Nähe zu solchen organisationstheoretischen Arbeiten
auf, die die Konstitution und den Wandel von Organisationen im Zusammenhang mit
der Entwicklung der funktional differenzierten Gesellschaft interpretieren (vgl. Tacke,
2001). Demnach werden Organisationen in der funktional differenzierten Gesellschaft
stets als Adressaten für unterschiedliche Funktionserwartungen relevant. Umgekehrt si-
chern Organisationen ihre Reproduktion dadurch, dass sie ihre gesellschaftliche An-
schlussfähigkeit kenntlich machen, indem sie in sich Bearbeitungsstrukturen für ver-
schiedene Umweltanforderungen und -erwartungen ausprägen, sich also als „Multire-
ferenten“ etablieren (vgl. Tacke, 2004; Lieckweg, 2001). Die funktionale Bedeutung
von Organisationen liegt in dieser Sicht vor allem darin, dass sie als „Multireferenten“
strukturelle Kopplungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssys-
temen ermöglichen und in diesem Sinne eine systemintegrative Bedeutung haben (vgl.
Schimank, 2001).
In dieser Perspektive wird es möglich, die in der Erwachsenenpädagogik diagnos-
tizierte Differenziertheit und funktionale Offenheit von Weiterbildungsorganisationen
auch als Resultat und Bedingung ihrer gesellschaftlichen Anerkennung zu begreifen.
Demnach sind Weiterbildungsorganisationen gehalten, Veränderungen in ihrer Umwelt
auch als Veränderung ihrer gesellschaftlichen Anerkennungsbedingungen wahrzuneh-
men und darauf zu reagieren. Damit wird es zu einer empirisch zu klärenden Frage, wie
Weiterbildungsorganisationen mit den eingangs skizzierten Änderungen in den Rah-
menbedingungen umgehen, wie sie auf veränderte wirtschaftliche und pädagogische
Anforderungen reagieren und welche Bedeutungsveränderungen dabei pädagogische
Handlungsorientierungen und -logiken erfahren. Hinweise darauf, dass sich das päda-
gogische Handeln in Weiterbildungsorganisationen heute auf neue Bedeutungszuschrei-
bungen und neue praktische Anforderungen einstellen muss, liefert die erwachsenenpä-
dagogische Programmforschung.
Nuissl von Rein/Dollhausen: Kulturen der Programmplanung 119
Im Projekt haben wir entschieden, die Programmplanung vom Standpunkt der Weiterbil-
dungsorganisation aus und hier speziell in einer system- und kulturtheoretisch orientier-
ten Sicht (vgl. Bardmann, 1994; Baecker, 1999) zu begreifen. Analytisch kann die Pro-
grammplanung dann als ein wissensbasierter kommunikativer Prozess der Vorbereitung
von angebots- und programmbezogenen Entscheidungen aufgefasst werden. In Pro-
grammen spiegeln sich somit einrichtungsspezifisch erwirkte Entscheidungen sowohl
über zu verfolgende pädagogische Ziele als auch über die wirtschaftlichen Bedingungen
und Erwartungen hinsichtlich der Durchführung von Angeboten wider. Programme sind
in diesem Verständnis Bezugspunkte makrodidaktischer Vermittlungs- und zugleich be-
trieblicher Marketingstrategien; sie implizieren intendierte Bildungsziele ebenso wie
marktbezogene Annahmen über Bildungsnachfrage- und -bedarfe (vgl. Schlutz, 2006).
Nuissl von Rein/Dollhausen: Kulturen der Programmplanung 121
3 Soziale Praktiken begreifen wir als raumzeitlich situierte, kognitiv und kommunikativ wie
auch emotional und körperlich anspruchsvolle Prozesse, in denen Planende ihr Tun reflektie-
ren, artikulieren, kommentieren und visualisieren. In diesem Sinne können soziale Praktiken
als kontextspezifische „ways of worldmaking“ (Goodman, 1978) begriffen werden.
122 Allgemeiner Teil
Der erste Typ von Programmplanungskultur ist durch ein in der Organisation ge-
meinsam geteiltes Organisationsverständnis sowie pädagogisches Selbst- und Auf-
gabenverständnis geprägt. Im vorliegenden Fall beinhaltet dies eine deutliche Ori-
Nuissl von Rein/Dollhausen: Kulturen der Programmplanung 123
Der zweite Typ von Programmplanungskultur ist durch die Konfrontation von einem
tradierten, institutionell geprägten und einem modernen betrieblichen, dienstleistungs-
orientierten Selbst- und Aufgabenverständnis geprägt. Zwar ist die „Sinngebung“ der
Einrichtung und der in ihr geleisteten Arbeiten unstrittig – und im vorliegenden Fall
durch einen öffentlichen Bildungsauftrag bestimmt. Doch bestehen in dieser Kultur zum
Teil erhebliche Differenzen über die angemessene Erfüllung des Bildungsauftrages. Die
zum Teil sehr unterschiedlich ausgeprägten Relevanzsetzungen im Kontext der Planung
sind auch durch eine eher „unscharfe“ Operationalisierung des Bildungsauftrages be-
dingt. Es gibt kein gemeinsam geteiltes Relevanzsystem, an dem sich die verschiedenen
Ausdeutungen der Planungstätigkeit orientieren und vergleichen ließen. Während die
Vertreter der „Tradition“ vor allem an der Beibehaltung eingelebter Routinen der Pla-
nung interessiert sind, werden von den Vertretern der „Modernität“ die wirtschaftlichen
Verluste und die in vergangenen Zeiten wirtschaftlicher Prosperität ermöglichte man-
gelnde Fachlichkeit und Strukturierung der erwachsenenpädagogischen Planungsarbeit
moniert. Praktisch entwickelt sich so eine teils disparate Planungswirklichkeit: Im Be-
streben, das tradierte planerische Handlungswissen gegen die anbrandenden modernen
Orientierungen zu retten, werden eingespielte Routinen der Planung und soziale Bezie-
hungen mit freiberuflichen Kursleitern in eine, Modernität suggerierende Semantik der
„Kompetenzentwicklung“, „Teilnehmerorientierung“ oder „Bedarfsanalyse“ gepackt.
Insofern entwickelt sich diese Kultur vor allem auf der sprachlich-symbolischen Ebene.
Der dritte Kulturtyp ist durch die Konfrontation zweier Anforderungen an Weiterbil-
dungsorganisationen geprägt, die auf der praktischen Ebene der Planung als wider-
sprüchlich erfahren werden. Auf der einen Seite ist man bestrebt, das pädagogisch-pro-
grammatische Profil der Organisation zu entwickeln, dabei auch zu schärfen. Auf der
anderen Seite ist man aus wirtschaftlichen Gründen gehalten, eine besondere program-
matische Offenheit zu pflegen, um auf sich bietende Gelegenheiten der Akquisition von
Fördermitteln schnell reagieren zu können. Charakteristisch für diesen Kulturtyp ist die
Ausrichtung des eigenen Tuns auf die in der Umwelt auffindbaren aktuellen und poten-
ziellen Bildungsinteressen. Ein relevanter Teil der Planungstätigkeit besteht in der Eru-
ierung und aktiven Erschließung von Bildungsbedarfen (vgl. Schlutz, 2006). Ebenso ist
diese Programmplanungskultur durch einen hohen Grad an Vernetztheit der Planenden
mit relevanten Akteuren im Umfeld der Einrichtung gekennzeichnet, die den Zugang
zu weiteren Kooperations- und Vernetzungsmöglichkeiten zu eröffnen helfen. Im Pla-
nungsprozess werden dementsprechend die Partizipationsinteressen der relevanten Um-
feldakteuren beachtet und berücksichtigt. Planung bedeutet hier also immer auch: Ko-
Nuissl von Rein/Dollhausen: Kulturen der Programmplanung 125
operation und Abstimmung eigener mit fremden Vorstellungen von attraktiven, adressa-
ten- und teilnehmerorientiert konzipierten Angeboten.
Typisch wird in dieser kulturellen Ausprägung eine besondere Dynamik der päda-
gogischen Erschließung und Umsetzung von Bildungsinhalten in Angebote freigesetzt.
Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Dynamik für den Organisations- und Stellenerhalt
ist unbestritten. In Kauf zu nehmen ist dabei jedoch eine eher symbolische als struktu-
rell wirksame Programmentwicklung.
Aus dem hier skizzierten Beispiel einer empirischen Analyse der Programmplanung
in Weiterbildungsorganisationen lassen sich für die weiterführende wissenschaftliche
Diskussion und Forschung einige Anregungen gewinnen. Zunächst wird deutlich, dass
Weiterbildungseinrichtungen den Bedeutungsschub betriebswirtschaftlicher Konzepte,
Verfahren und Instrumente erkannt haben und lebhaft dabei sind, ihre je eigenen Zu-
gänge und Bearbeitungsweisen „des Betriebswirtschaftlichen“ zu entwickeln. Gleich-
zeitig zeigt die Analyse, dass die Akzeptanz der wirtschaftlichen Dimension der Wei-
terbildung in der Praxis noch keineswegs mit einer „Verbetriebswirtschaftlichung“
der Weiterbildung gleichzusetzen ist. Die Probleme der Organisationen und ihrer Pro-
grammplanung scheinen anders zu liegen: Nicht die Unvereinbarkeit von wirtschaftli-
chen und pädagogischen Anforderungen steht im Vordergrund, sondern das Problem ei-
ner tragfähigen, d.h. Programmstrukturen erhaltenden Balancierung von pädagogischer
und wirtschaftlicher Denk- und Handlungslogik. Dabei zeigen die skizzieren Kultur-
typen auch, dass aufscheinende Entwicklungsprobleme der Einrichtungen heute nicht
mehr vornehmlich auf ein mangelndes Bewusstsein für betriebswirtschaftliche Erfor-
dernisse zurückzuführen ist. Vielmehr deutet sich in den untersuchten Kulturen der Pro-
grammplanung eine Verunsicherung tradierter Sinnbestimmungen pädagogischer Pla-
nungsarbeit an.
Damit sollte der Weiterbildungsforschung auch die Anregung gegeben sein, die Er-
kundung des weiteren Organisationswandels der Weiterbildung weniger aus einer im-
pliziten oder expliziten pädagogischen Verteidigungshaltung heraus anzugehen, als
vielmehr mit dem offensiven Interesse der genaueren Bestimmung des pädagogischen
Anspruchs von Weiterbildungsorganisationen als Leitorientierung auch und gerade im
Umgang mit wirtschaftlichen Bedingungen und Erfordernissen.
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Abstract: Today, the institutions of public further education are faced with new challen-
ges with regard to organization, economics, and pedagogics. So far, hardly any research
has been carried out on how institutions adapt to these changed conditions and demands
and what the consequences may be for the planning of educational programs and cour-
ses. The present contribution takes up this “lack”. In addition to the research approaches
applied so far, the authors present a system-theoretically cultural-analytically oriented re-
search design for the empirical analysis of program planning in organizations of further
education and give an outline of the insights into different “cultures of program planning”
gained through this approach.
Prof. Dr. Karin Dollhausen, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für
Lebenslanges Lernen e.V., Friedrich-Ebert-Allee 38, 53113 Bonn, Deutschland und Philipps-
Universität Marburg, Institut für Erziehungswissenschaft, Wilhelm-Röpke-Straße 6b,
35032 Marburg, Deutschland
E-Mail: dollhausen@die-bonn.de
Besprechungen
Ariane Baggermann/Rudolf Dekker. Child halb die Ausgangsfrage der Autoren. Die Ant-
of Enlightment. Revolutionary Europe re- wort findet sich auf 500 Seiten, auf denen un-
flected in a Boyhood Diary. Leiden: Brill ter Hinzuziehung einer Fülle weiterer zeit-
Verlag, 2009, 568 S. genössischer Quellen Ottos Sicht der Welt
Elisabeth Badinter. Der Infant von Parma ausgelegt wird. Das Familienarchiv, vor allem
oder die Ohnmacht der Erziehung. Mün- die persönlichen Aufzeichnungen des Vaters,
chen: Beck Verlag, 2010, 143 S. Protokolle politischer Versammlungen, Be-
T. C. Boyle. Das Wilde Kind. München: Han- richte von Gelehrten und literarischen Gesell-
ser Verlag, 2010, 106 S. schaften, Landkarten, Inventarverzeichnisse,
Zeitungen, Reisejournale, Briefe, Autobiogra-
„Unaufhörlich erneuert Erziehung den für phien, Romane, Gedichte und Kinderbücher,
alle so wohltätigen Wahn, man könne im- sowie pädagogische, medizinische, theologi-
mer wieder von vorne anfangen.“ schrieb Ka- sche und politische Literatur des ausgehenden
tharina Rutschky 1976 in ihrer Einleitung zu 18. Jahrhunderts, alle diese Quellen dienen
den Quellen zur Naturgeschichte der bürgerli- ausgehend von Otto van Eycks Aufzeichnun-
chen Erziehung, besser bekannt unter dem Ti- gen dazu, den Weltkreis der damaligen Ober-
tel „Schwarze Pädagogik“. Eine Möglichkeit, schicht des Landes minutiös zu rekonstruie-
diesen Wahn auszusetzen, – seinerzeit auch ren. Das geschieht in zwölf Kapiteln, deren
von Rutschky ins Auge gefasst, – liegt in den Themen von der Aufklärungspädagogik, den
vielfältigen Versuchen, die Geschichte der Er- sozialen Beziehungen, neuen Zeit-, Körper-
ziehung aus der Perspektive von Kindern zu und Generationskonzepten bis zur politischen
rekonstruieren. Im Zentrum von Rutschkys Geschichte der Niederlande in revolutionären
Quellensammlung standen Texte der Pädago- Zeitaltern reichen.
gen des aufgeklärten 18. Jahrhunderts, prime Die Erzählung beginnt mit einer Reise, die
time der Pädagogikgeschichte. Auch die drei den Vater und den Onkel van Eycks im Jahre
hier vorzustellenden Bücher handeln von Er- 1788 als Vertreter der patriotischen Fraktion
ziehung unter dem Stern der Aufklärung. Die über Brüssel nach Paris führte, wo sie mögli-
drei Kinder, die jeweils im Mittelpunkt des che Interessenübereinstimmungen mit Vertre-
Buches stehen, sind Kinder des 18. Jahrhun- tern des französischen Staates sondieren woll-
derts. Zwei der Autoren wollen ausdrücklich ten. Sie endet mit Ottos frühem Tod, den sein
die Perspektive des jeweiligen Kindes als Er- Vater, Lambert van Eyck, als Gefangener der
ziehungszeugen einnehmen, die dritte Autorin Restauration im Gefolge der Fraktionskämpfe
kommentiert den wohltätigen Wahn der Mög- nach der Errichtung der Batavischen Repub-
lichkeit einer erfolgreichen Erziehung aus der lik von 1795 erleben musste. Otto reflektiert
Sicht vieler unterschiedlicher beteiligter Per- seine Umgebung besonders in den ersten Jah-
sonen. ren der späten Kindheit im Medium des je-
Das von 1791 bis 1797 zwischen seinem weiligen Aufenthaltsortes der Familie, die
11. und 17. Lebensjahr geführte Tagebuch des ihr Leben zwischen einer Stadtwohnung im
Niederländers Otto van Eycks bildet für Ari- Haag und einem Landgut teilte. Die pastorale
ane Baggerman und Rudolf Dekker eine reich- Idylle, die der Junge in seinem Tagebuch ent-
haltige Quelle, um einen Erziehungszeugen zu wirft, von den Autoren breit unterfüttert durch
befragen und seine Weltsicht zu dokumentie- eine detaillierte Darstellung der Gartenkunst
ren. Wie sah das revolutionäre Zeitalter aus im 18. Jahrhundert am Beispiel holländischer
der Perspektive eines Kindes aus? lautet des- Parkanlagen, hätte Jean-Jacques Rousseau
Besprechungen 131
zweifellos gefallen, dessen Grab in Ermon- alter sind vertraut: dass die Familien der Ober-
ville zu besuchen Ottos Vater und Onkel auf und Mittelschichten das Kind entdeckten, dass
der Rückreise von Paris nicht versäumten. Ob durch dauernde pädagogische Kontrolle, der
Ottos Begeisterung für das Landleben dem pä- wir die Entstehung von Ottos Tagebuch über-
dagogischen Programm seiner Eltern geschul- haupt nur verdanken, die erwünschte Trieb-
det war oder eher eine individuelle Empfäng- kontrolle befördert werden sollte, dass der ge-
lichkeit des Kindes für die körperlichen und staltete Garten die ideale Beziehung zwischen
sensorischen Anregungen des Landlebens Natur und Kultur vermittelte, dass die republi-
zum Ausdruck bringt, muss dahingestellt blei- kanische Politik in neuer Weise auch die indi-
ben. Neben diesen erfreulichen Aspekten des viduelle Erziehung des heranwachsenden Bür-
Kinderlebens wird das rigide Leseprogramm, gers geprägt hat, der nun auch einen Teil des
Ausdruck der Erwartungen einer zukunftsori- Kanons der Prinzenerziehung, beispielsweise
entierten Elite der niederländischen Standes- Weltgeschichte, studieren muss. Die Steige-
gesellschaft an den eigenen Nachwuchs, von rung der Produktion von Kinderliteratur in den
Otto mit deutlich weniger Leichtigkeit pro- letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts
tokolliert. Denn ökonomischer Umgang mit wird ebenso wie die öffentliche Aufmerksam-
Zeit, Kontrolle der Gefühle gegenüber den keit für die kindliche Gesundheitsvorsorge –
Geschwistern und anderen Menschen wurden die Pockenimpfung ist das herausragende Bei-
als Erziehungsziele nicht nur durch Unterricht spiel – eindrucksvoll belegt. Informativ ist die
und elterliche Ermahnungen vermittelt, son- Studie von Baggermann und Dekker vor allem
dern sollten vor allem durch Selbststudium in europäischer Perspektive. In den Niederlan-
zunächst der neu entstehenden moralisch und den wurde nämlich nicht nur eine breite ein-
wissenschaftlich belehrenden Kinderliteratur, heimische pädagogische Aufklärungsliteratur
mit zunehmendem Alter durch Lektüre wis- produziert, sondern auch die Werke deutsch-
senschaftlicher, i.e. sowohl theologischer wie sprachiger, französischer und englischer pä-
politischer und naturwissenschaftlicher Werke dagogischer Schriftsteller und Kinderbuch-
erreicht werden. Es waren jetzt nicht mehr nur autoren wurden übersetzt und rezipiert. Ent-
die Söhne und Töchter des regierenden Adels, sprechende Studien für das deutsch- und
die in dieser Weise gebildet werden muss- französischsprachige Europa und England gibt
ten, sondern auch die Kinder der bürgerlichen es bisher kaum.
Oberschichten sollten als Hoffnungsträger für Kinder, so könnte das Fazit aus erzie-
eine bessere Zukunft auf politische Aufga- hungshistorischer Perspektive lauten, wurden
ben vorbereitet werden. Dazu gehörte auch in bestimmten bürgerlichen Kreisen also tat-
ein aufgeklärter Deismus, der Ottos religiöse sächlich so erzogen, wie es Rousseau und der
Lektüre bestimmte und seine Erfahrungen von offensichtlich in den Niederlanden von aufge-
Tod und Endlichkeit der menschlichen Exis- klärten Eltern in den neunziger Jahren viel ge-
tenz und schließlich auch sein frühes Lebens- lesene Campe und andere Philanthropen vor-
ende prägte. geschlagen haben. Wenn Ottos Vater Lambert
Völlig überraschend ist es nicht, was über van Eyck 1795 in seiner revolutionären Pro-
Kindheit und Aufwachsen im Revolutionszeit- klamation vor der Nationalversammlung im
alter durch Ottos Perspektive dem bisherigen Haag erklärte: „It is the time that we seek to
Kenntnisstand hinzugefügt wird. Ob Ottos Ta- turn this world into a heaven“ (S. 398), gab er
gebuch einen neuen Blick auf die Niederlande der Erziehung seines Sohnes allerdings eine
zwischen 1788, – mit diesem Datum beginnt emphatische Bedeutung, die über die Visionen
das Buch – und 1797, einer Zeit politischer der deutschen Spätaufklärer hinausgingen. Ob
Unruhe, bedeutender Umbrüche und langfris- Otto sich als erfolgreicher Jurist und Bürger-
tig wirksamer Umorientierungen, bietet, ver- meister oder einflussreicher Theologe in der
mag die Rezensentin mangels Kenntnisse der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewährt
niederländischen Revolutionsgeschichte nicht hätte wie viele seiner gleichaltrigen Freunde,
zu beurteilen. Allgemeine Kennzeichen der von denen Baggermann und Dekker berich-
europäischen Geschichte im Revolutionszeit- ten, wissen wir wegen des frühen Todes des
132 Besprechungen
Kindes nicht. Der Geschichte der Erziehung huldigte? Das von der Autorin herangezogene
fügt Ottos Zeugnis deshalb keine Erfolgsge- Quellenmaterial ist dem der niederländischen
schichte hinzu. Stattdessen wird zum wieder- Kollegen nicht unähnlich: es handelt sich um
holten Mal belegt, dass das Ziel „to turn this Autobiografien, Briefe, Berichte, Protokolle,
world into a heaven“ und das daraus abgelei- Porträts des Zöglings, seiner Familie, seiner
tete pädagogische Programm für ein Kind sehr Erzieher und Berater, Reiseberichte von Besu-
anstrengend war. Das Tagebuch wurde von chern am Hof zu Parma und vor allem Briefe,
den Eltern kontrolliert und kommentiert und Protokolle und programmatische Schriften
diente dazu, das Kind zur Rechenschaft über seiner beiden französischen Erzieher, dem
den eigenen Fortschritt in Wissen, Erkenntnis ehemaligen Militäringenieur und Berufsoffi-
und Moral zu zwingen. Es handelte sich um zier Keralio und dem Aufklärungsphilosophen
eine beachtliche Drangsal, die die Eltern – of- Condillac. Beide waren der festen Überzeu-
fenkundig unter dem Eindruck der zeitgenös- gung, dass es nur der richtigen Erziehung be-
sischen pädagogischen Expertise – ihrem Kind dürfe, um einen aufgeklärten Fürsten für das
mit dem anspruchsvollen Lektüreprogramm norditalienische Herzogtum Parma zu erzie-
und dem Zwang des Tagebuchführens aufer- hen, in dem sich Interessen der europäischen
legten. Großmächte trafen, denn den Höfen von Spa-
Den Autoren ist es gelungen, ein breit ge- nien, Frankreich und Österreich war der Bour-
fächertes Tableau des Zeitalters auszubreiten. bonenprinz Ferdinand, sei es durch Abstam-
Trotz des Buchtitels „Kind der Aufklärung“ mung, sei es durch Verheiratung eng verbun-
wird allerdings nicht immer deutlich, nach den. Besonders Condillac, der in Anlehnung
welchen Kriterien die Grenzen dieses Tab- an John Locke eine sensualistische Theorie
leaus sowohl in Bezug auf die Perspektive der der Entwicklung der menschlichen Seele zu-
historischen Betrachtung wie auch in Bezug grunde legte, müssen die Ergebnisse seiner pä-
auf die Rekonstruktion der historischen Zu- dagogischen Bemühungen um Ferdinand nie-
sammenhänge abgesteckt wurden. Wenn bei- dergeschmettert haben, gelang es doch nicht,
spielsweise die gesamte Geschichte der euro- den Einfluss frömmelnder Beichtvätern und
päischen Gartenkunst im 18. Jahrhundert Kleriker auf den Jungen einzudämmen. Als
dargelegt oder wenn das Kapitel über die Ba- adoleszenter Regent überließ Ferdinand sein
tavische Revolution von 1795 ausschließlich Herzogtum nahezu vollständig deren Einfluss,
aus der Sicht des Vaters geschrieben wird, da ließ die vertriebenen Jesuiten wieder zu und
Otto dazu offenbar nichts vermerkt hat, kann erging sich fortan, statt sein Herzogtum ver-
von Ottos Weltsicht, die die Autoren einneh- nünftig und entsprechend wohltätig zu regie-
men wollen, kaum mehr die Rede sein. Das re- ren, auf einem abgeschiedenen Landsitz in re-
volutionäre Europa wird streckenweise weit ligiös obskuren und sexuell libertinistischen
über das Tagebuch eines Knaben ausufernd re- Praktiken.
flektiert. Das Urteil der Zeitgenossen schwankte je
Ausufernd ist das schmale Bändchen, das nach Parteizugehörigkeit mit der einen oder
Elisabeth Badinter über die Erziehung eines anderen Seite in diesem Kampf zwischen Kir-
Prinzen in den 1760er Jahren vorgelegt hat, si- che und Aufklärung, und so fiel auch das Ur-
cher nicht. Auch die Frage der Autorin ist klar teil über die Fähigkeiten der Erzieher sehr un-
gestellt und wird zügig bearbeitet: wie konnte terschiedlich aus. Eine endgültige Antwort
es passieren, dass ehrgeizige und als fähig gel- darauf, wie es zu diesem pädagogischen Miss-
tende Erzieher ihr Erziehungsziel nicht er- erfolg kam, will auch die Autorin, ausgewie-
reichten und Ferdinand von Parma (1751- sene Kennerin der Erziehungsphilosophie
1802), Enkel des spanischen und des französi- und der Erziehungspraxis des 18. Jahrhun-
schen Königs, statt als aufgeklärter Fürst sein derts, nicht geben. Stattdessen zeigt sie ein-
Herzogtum umsichtig zu regieren, dieses der drucksvoll, dass der aufgeklärte Glaube an die
Kirche und Inquisition auslieferte und selbst Macht der Erziehung, den Rousseau nur un-
nicht nur religiösem Obskurantismus sondern ter der Annahme der universellen Gleichar-
auch überwiegend den eigenen Bedürfnissen tigkeit der Zöglinge auf Kosten von deren in-
Besprechungen 133
dividuellen Anlagen behaupten konnte, durch Einklang mit dem Zeitgeist der 60er und 70er
„Erziehungserfolge“ wie den von Condillac in Jahre auf das Leid, das Kindern durch Erzie-
Parma auf eine harte Probe gestellt wurde. Die hung widerfährt, aufmerksam machen. Boyle
Koinzidenz der offenen Rebellion des 18jähri- hingegen interessiert sich nach Selbstaussage
gen gegen die Bevormundung durch die auf- für „unser Verhältnis zur Natur“. In seinem pa-
geklärten Hofleute mit seiner Eheschließung ckend geschriebenen Erkundungsversuch in
böte erhebliche Spielräume für Spekulatio- die Welt Victors geht er mit den historischen
nen über mögliche Gründe des pädagogischen Fakten freier um als Truffaut, und die Leser
Misserfolgs. Dass die Tochter der österreichi- erfahren eher etwas über die Phantasien vom
schen Kaiserin Maria Theresia Maria Amalia wilden „natürlichen“ Leben, so wie es sich
nicht nur fünf Jahre älter als Ferdinand war, der zivilisierte Amerikaner im 21. Jahrhundert
sondern auch als sehr intelligent galt, wird von vorstellt, als etwas darüber, was die mühselig
Elisabeth Badinter klugerweise nicht zur Be- mit den Qualen der Erziehung gewebte dünne
gründung für Ferdinands Orientierungen her- Decke der Zivilisation verhüllt.
angezogen. Vielmehr verwendet die Autorin Warum drei historische Studien über Erzie-
besondere Sorgfalt darauf, die widersprüch- hung im 18. Jahrhundert gemeinsam für eine
lichen Berichte der beiden Erzieher zu doku- erziehungswissenschaftliche Zeitschrift rezen-
mentieren, aus denen zwar auch nicht hervor- sieren, liegen doch nicht nur die Geburtsjahre
geht, woran das Projekt gescheitert ist, aus de- der erzogenen Kinder sondern auch die Orte
nen jedoch klar wird, dass die beiden Erzieher und ihre Position im gesellschaftlichen Gefüge
während der Prinzenerziehung eine dauernde der Zeit auseinander? Ottos Vater besuchte
Spannung zwischen Erfolg und Rückschlägen, 1788 in Paris die 1771 gegründete Taubstum-
moralischer Festigung und Zügellosigkeit, ra- menanstalt des Abbé l’Eppée, an der Itard
tionalem Verhalten, beispielsweise gegenüber lebte, als er Victor von Aveyron um 1800 zu
der Pockenimpfung, und frömmelnden An- sich nahm. Es waren Condillacs Vorstellungen
wandlungen des Zöglings aushalten mussten. von den Möglichkeiten pädagogischer Ein-
Badinters Untertitel „Die Ohnmacht der flussnahme, die dieser bereits in Parma in den
Erziehung“ dramatisiert der amerikansiche 1760er Jahren zu verwirklichen gesucht hatte,
Bestsellerautor T.C. Boyle in seiner Novelle die die pädagogischen Pläne prägten, denen
„Das Wilde Kind“. Nach Franç´ois Truffauts Otto van Eyck ebenso wie Victor von Avey-
berühmtem Film „Wolfsjunge“ (1970) fin- ron ausgeliefert wurden. Die pädagogischen
det das Leben Victors von Aveyron, von dem Wunschvorstellungen, Programme und Erfah-
Arzt Jean Itard 1801 und 1806 in zwei Be- rungen des 18. Jahrhunderts haben auch im
richten dokumentiert, eine neue fiktive Bear- 21. Jahrhundert, das zeigen diese drei Werke,
beitung. Ebenso wie Truffaut, dem es, aller- ihre Faszination nicht verloren. Selbst ihr
dings in enger Anlehnung an Itards Berichte, Scheitern ändert nichts an der Tatsache, dass
darum gegangen war, die Reaktionen des Jun- die Erziehung von der Vorstellung lebt, auch
gen durch die von Condillac beeinflusste Päd- das Gegenteil könne möglich sein. Oder, um es
agogik Itards zu zeigen, will Boyle sich in die noch einmal mit Katharina Rutschky zusam-
Gefühls- und Erfahrungswelt des Wolfskin- menzufassen: „Unaufhörlich erneuert Erzie-
des hinein versetzen. Aber Truffaut, der be- hung den für alle so wohltätigen Wahn, man
reits mit „Sie küssten und sie schlugen ihn“ könne immer wieder von vorne anfangen.“
(1959) die modernen Erziehungsinstitutio-
nen, Familie und staatliche Fürsorge angeklagt Juliane Jacobi, Lützelsteiner Weg 45,
hatte, verstand sich als pädagogischer Regis- 14195 Berlin, Deutschland
seur. Er spielte Itard selbst und wollte ganz im E-Mail: jacobi@uni-potsdam.de
134 Besprechungen
Frank Surall. Ethik des Kindes. Kinderrechte gen stieß Kate Douglas Wiggin in den USA
und ihre theologisch-ethische Rezeption. mit der Weiterführung der Gedanken Fröbels
Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2009, 390 S., zunächst auf weitaus fruchtbareren Boden.
EUR 34,80 (ISBN 978-3-17-020516-1). Wie Surall erläutert, waren der Grund für den
Rückgang der noch bis zum Ende des 19. Jahr-
Die Rechte von Kindern sind auch in der Päd- hunderts weit verbreiteten Kinderarbeit nicht
agogik ein wichtiges Thema, wenngleich sie – etwa der Ideenreichtum der großen Denker
im Vergleich zu anderen Bereichen – nach oder gesetzliche Regelungen (z.B. die Begren-
wie vor eine eher untergeordnete Rolle spie- zung der Arbeit von Jugendlichen auf täglich
len. Insbesondere die fundamentale Frage, wie 16 (!) Stunden), sondern die aufgrund der ex-
Kinderrechte eigentlich begründet werden sol- zessiven Kinderarbeit beeinträchtigte Militär-
len, wird selten thematisiert. tauglichkeit sowie das Aufkommen von Ma-
Menschenrechte sind keine starren Ge- schinen in der Industrie und Landwirtschaft.
bilde, keine unveränderbaren Naturrechte, Informativ sind ebenfalls die Ausführungen
sondern bedürfen als Bestandteil staatlicher und kritischen Anmerkungen zu den Positio-
Ordnung immer wieder der Begründung. Dies nen der schwedischen Sozialreformerin Ellen
gilt auch für Kinderrechte, die als sehr „junge“ Key, des Pädagogen Oswald Passkönig, des
Rechte einen besonderen Stellenwert in den in- Arztes Janusz Korczak und der Kinderrechtle-
ternationalen Konventionen gefunden haben. rin Eglantyne Jebb.
Nun könnte eine solche Begründung philoso- Detailliert und aufschlussreich ist auch Su-
phischer Natur sein oder aber – wie im vor- ralls Überblick zur Entwicklung der normati-
liegenden Buch „Ethik des Kindes“ von Frank ven Grundlagen der Kinderrechte, angefangen
Surall – religiöser Natur. Bemerkenswert ist, mit der Genfer Erklärung 1924 und fortgeführt
dass der Autor nicht versucht, Kinderrechte u.a. mit der Allgemeinen Erklärung der Men-
aus der theologischen Tradition zu rekonstru- schenrechte 1948, der Erklärung der Rechte
ieren, sondern untersucht, wie gegenwärtige des Kindes 1959, dem Zivil- und Sozialpakt
Kinderrechtsnormen in die theologische Ethik 1966, der Kinderrechtskonvention 1989 und
aufgenommen werden können. Dieses metho- dem Übereinkommen über das Verbot und un-
dische Vorgehen spiegelt sich im Aufbau der verzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der
Arbeit wider: Surall betrachtet zunächst die schlimmsten Formen der Kinderarbeit 1999.
historische Entwicklung und die „modernen“ Außerdem wird die Entwicklung der gesetz-
kinderrechtlichen Konzeptionen und beginnt lichen Lage im Nachkriegsdeutschland bis in
erst dann mit der theologischen Abhandlung. die heutige Zeit dargestellt. Im Anschluss wer-
Die Entwicklung der Kinderrechte wird den Strömungen der „Kinderrechtsbewegung
vor dem Hintergrund geistesgeschichtlicher von unten“ beschrieben, einer Bewegung, wel-
und politischer Strömungen als Entwick- che eine stärkere Selbst- und Mitbestimmung
lung von der Objekt- zur Subjektstellung des des Kindes fordert. Eine Diskussion darüber,
Kindes gut leserlich und spannend beschrie- wie relevant diese Ansätze tatsächlich waren
ben. Dabei geht der Autor nicht nur auf be- bzw. sind und ob sie sich in pädagogischer
kannte „pädagogische Größen“ wie Rousseau Hinsicht bewährt haben, erfolgt jedoch nicht.
ein, sondern z.B. auch auf Fröbel oder Wig- Dann stellt der Autor die – im Vergleich zu
gin – für die Kinderrechtsbewegung wichtige, anderen völkerrechtlichen Dokumenten be-
aber doch weniger bekannte Pädagogen. Su- merkenswerte – Zusammenarbeit der „Kin-
rall lässt den Leser/die Leserin immer wieder derrechtsbewegung von unten“ und „der Kin-
durch interessante Details „aufhorchen“. So derrechtsbewegung von oben“ (staatliche Ex-
erwähnt er den starken Widerstand der Kir- ekutive/Legislative) bei der Umsetzung der
che und des preußischen Staates gegen die Kinderrechtskonvention (UN-KRK) dar. Die
von Fröbel initiierte Kindergartenbewegung UN-KRK wird sodann als wichtigstes Kinder-
in Deutschland, der 1851 sogar in dem Verbot rechtsdokument inhaltlich beschrieben. Der
des „Allgemeinen deutschen Kindergartens“ Autor nimmt dabei Bezug auf die Zentralnorm
wegen Atheismusverdachts mündete. Hinge- „Kindeswohl“ und die Basisnormen „Beteili-
Besprechungen 135
gung“, „Schutz“ und „Förderung“, in denen tung des Kinderschutzes führen“, denn die
sich das Kindeswohl als „normativer Leitbe- Achtung eines (kinderliebenden) Gottes, wie
griff der Kinderrechte“ realisiert. Außerdem ihn Surall anhand der evangelischen Theolo-
befasst sich Surall mit dem Verhältnis von gie skizziert, impliziere die Anerkennung von
Kinderrechten zu Menschenrechten und – re- Kinderrechten. Mit der Berufung auf einen
lativ kurzgefasst – mit der moralischen und derartigen Gott sei auch die Anerkennung ver-
rechtlichen Dimension der Kinderrechte so- bunden, dass Kinder ein Recht auf eine solche
wie ihrer Wirkung auf Dritte (d.h. auf private kinderfreundliche Religion haben.
Rechtssubjekte). Das Recht des Kindes auf Religion bein-
Die drei Basisnormen bilden den Aus- halte den Schutz von Kindern, deren Beteili-
gangspunkt des zweiten Teils des Buches, der gung und Förderung. Im Zusammenhang mit
sich der Rezeption der Kinderrechte durch die den Ausführungen zur Schutznorm beschreibt
Theologie widmet. Der Autor geht den folgen- der Autor das Recht auf Religion auch als
den drei Fragen nach: Recht auf Religionsfreiheit. Hervorzuheben
1. Welche Anknüpfungspunkte und Berüh- ist, dass Surall keineswegs eine religiöse Ver-
rungen mit den kinderrechtlichen Basis- einnahmung der Kinderrechte anstrebt, son-
normen finden sich in der theologischen dern die theologische Interpretation der Kin-
Tradition? derrechte als zusätzlichen Impuls zu deren
2. Welche Inhalte der theologischen Tradi- Implementierung und Förderung versteht. Da-
tion stehen einer theologisch-ethischen bei wirft er durchaus einen kritischen Blick
Würdigung des kinderrechtlichen Ansat- auf die theologischen Ansätze und betont die
zes entgegen und wie sind diese zu bewer- Wichtigkeit eines bestimmten, Kinder wert-
ten? schätzenden Gottesbildes, welches die reli-
3. Welche theologischen Impulse können be- giöse Instrumentalisierung von Kindern aus-
reichernd oder kritisch in den kinderrecht- schließe und welches nicht zwangsläufig von
lichen Diskurs eingebracht werden, um allen evangelischen Theologen geteilt werde
dessen Legitimationsbasis zu verbreitern (als Beispiel wird u.a. Dietrich Bonhoeffer ge-
oder bestimmte Engführungen zu vermei- nannt, welcher laut Surall Kinder eher als im
den? Dienste des Glaubens formbare Objekte denn
Ein besonderer Schwerpunkt wird auf die Ba- als handelnde Subjekte betrachtete). Die Mög-
sisnorm der Förderung gelegt, die oft gegen- lichkeit der Stärkung der Kinderrechte durch
über Schutz und Beteiligung in den Hinter- die Religion spricht der Autor auch anderen
grund trete. Nach Suralls Auffassung vermit- Religionen zu.
tele Förderung zwischen den beiden anderen Besonders lesenswert ist die (material-
Normen, da sie einerseits einen geschützten ethische) Konkretion hinsichtlich des Kinder-
Rahmen für das Kind vorausetze, andererseits rechts auf Gesundheit. Surall unterstreicht mit
die Beteiligung der Kinder erst ermögliche. diesem Beispiel den anhand der theologisch-
Zur Beantwortung der ersten beiden seiner ethischen Reflexion als bedeutsam heraus-
Forschungsfragen richtet der Autor zunächst gestellten Zusammenhang zwischen den drei
einen Blick in die Bibel, wendet sich dann re- Basisnormen, der die übliche Zuordnung der
formatorischen Theorien zu und schließt mit Kinderrechte zu je einer Basisnorm überwin-
der Diskussion neuerer lutherischer Positionen. det. So kann eine Beteiligung von Kindern,
Der starke Fokus auf die evangelische Theolo- ohne gleichzeitig Schutz und Förderung zu ge-
gie lässt erkennen, dass das Buch in ähnlicher währleisten, zu einer Überforderung der Kin-
Fassung als Habilitationsschrift an einer Evan- der führen. Ebenso könnte eine einseitige Ori-
gelisch-Theologischen Fakultät eingereicht entierung am Schutz des Kindes, ohne dessen
wurde. Zur Beantwortung der dritten Frage Beteiligung zu gewährleisten, das Kindes-
werden die Ergebnisse der vorangehenden Ab- wohl gefährden. Sehr interessant ist Suralls
schnitte theologisch-ethisch reflektiert. Bemühen, die Verbindung von theoretischen
Die Bindung an Gott kann dem Autor zu- Ausführungen mit praxisnahen Fragestel-
folge „zu einer Intensivierung und Auswei- lungen herzustellen. So wird etwa die Frage
136 Besprechungen
nach einer Beteiligung von Kindern an medi- reichern könnte. Gerade nach dem 11. Sep-
zinischen Entscheidungen diskutiert oder das tember 2001, nach dem Debatten um Sicher-
Recht des Kindes auf Aufklärung über den ei- heit und Gefahrenabwehr stark zugenommen
genen Gesundheitszustand. haben, werden immer wieder Versuche unter-
Auch der/die theologisch weniger interes- nommen, Menschenrechte zu relativieren oder
sierte Leser(in) erhält durch Suralls Buch ei- zu negieren – auch Kinderrechte. Umso wich-
nen umfassenden und fundierten Einblick in tiger erscheinen daher Ansätze, Menschen-
das Kinderrechtsthema. Die gute Einführung rechte im Zuge moderner Gesellschaftsent-
erleichtert dem/der Unkundigen den Einstieg wicklung erneut zu begründen. Eine Möglich-
in das Thema sehr. Wenn auch nach Überar- keit hierzu bietet Frank Surall. Das Buch ist
beitung, so bleibt die Handschrift der Habili- jedem/jeder an Menschen- und Kinderrech-
tationsschrift doch kenntlich und das hat sei- ten Interessierten zu empfehlen, da die darge-
nen Preis. Provokative Fragestellungen oder legten Thesen mit beeindruckender Tiefe und
andere, die Aufmerksamkeit fesselnde rhetori- Komplexität reflektiert werden.
sche Elemente werden vermieden. Offen bleibt
außerdem die Frage, welchen Zugewinn eine Berit Ötsch, Forschungs- und Studienzentrum
theologische Rezeption von Kinderrechten für für Pädagogik, Universität Basel/
den Kinderrechtsdiskurs bringt. Die Begrün- Pädagogische Hochschule FHNW, Riehen-
dung der Interdependenz der drei Basisnor- strasse 154, CH-4058 Basel, Schweiz
men ist nicht an die Theologie gebunden, wie E-Mail: berit.oetsch@unibas.ch
der Autor auch selber bemerkt, sondern kann
allenfalls durch die theologisch-ethische Re-
zeption bestärkt werden. In der Pluralität der
Kulturen und Religionen und der Notwendig- Hattie, John. Visible Learning. A Synthesis
keit einer kultur- und religionsübergreifenden of over 800 Meta-Analyses relating to Achie-
Begründung der Menschen- und Kinderrechte, vement. London: Routledge, 2008. 378 S.
die allen Menschen (und nicht nur Christen) (gebundene Ausgabe 97,99 EUR; Paperback
gleichermaßen verständlich ist, erscheint eine 35,30 EUR)
evangelisch-theologische Begründung nicht
ausreichend, zumal wichtige Begriffe wie je- Der neuseeländische Bildungsforscher John
ner der Menschenwürde, der für die Begrün- Hattie hat mit Visible learning eine bemer-
dung der Menschenrechte eine wesentli- kenswerte Monographie zu den Voraussetzun-
che Rolle spielt, in dem vorliegenden Buch gen erfolgreichen Lernens in der Schule vor-
nicht reflektiert werden. Dennoch gibt das gelegt. Auf der Basis von mehr als 800 Meta-
Buch wichtige Impulse, gerade im Hinblick analysen, in die insgesamt mehr als 52.637
auf aktuelle Diskussionen zum Stellenwert Einzelstudien eingegangen sind, geht es auf
von Menschenrechten in anderen religiös ge- 378 sehr eng bedruckten Seiten um die Frage,
prägten Kulturen. Falls eine Begründung von welche Faktoren schulisches Lernen wie stark
Menschenrechten auch mithilfe anderer Reli- beeinflussen. Das Literaturverzeichnis um-
gionen möglich wäre: Könnte eine solche zu fasst ca. 1.700 Titel. Hatties Meta-Metaana-
einer Stärkung dieser Rechte in den betreffen- lyse fasst die Ergebnisse der Forschungs-
den Kulturräumen führen? übersichten nicht in ‚literarischer‘ Weise zu-
Der geschichtliche Abriss zeigt, dass Kin- sammen, sondern berechnet auf der Basis der
derrechte in der christlichen Tradition nicht Untersuchungen die Effektstärke (effect size).
von jeher selbstverständlich waren, sogar von Hat etwa ein bestimmter Einflussfaktor auf die
Kirchenvertretern lange bekämpft wurden und Schülerleistung eine Effektstärke von d = 1.0,
erst durch die Aufklärung und Säkularisie- so bedeutet dies, dass aufgrund dieses Faktors
rung zur Entfaltung kamen. Dennoch legt Su- die durchschnittliche Leistung der erfassten
rall überzeugend dar, wie eine Begründung der Gruppe um eine Standardabweichung steigt.
Rechte anhand der christlichen Theologie er- Führt man diesen Faktor mit d = 1.0 neu in den
folgen kann und den Kinderrechtsdiskurs be- Unterricht ein, so bedeutet dies, dass diejeni-
Besprechungen 137
gen Schüler, die an diesem Programm teilneh- herangezogen. Etwas ungewöhnlich ist, dass
men, im Durchschnitt oberhalb von 84% der- Hattie keine genaue Auskunft zu der Frage
jenigen Schüler liegen, die an dem Programm seiner Qualitätsstandards gibt, die er anlegt,
nicht teilnehmen. Beispiel Hausaufgaben: wenn er eine Einzelstudie bzw. eine Metaana-
Hattie errechnet eine Effektstärke d = 0.29 aus lyse in seine Meta-Metaanalyse aufnimmt, wie
161 ausgewerteten Studien. Der Durchschnitt sonst bei Metaanalysen üblich. Entsprechend
der Klassen mit Hausaufgaben liegt demnach weit reicht das Spektrum von experimentellen
oberhalb von 62% der Leistungen von Schü- Studien bis hin zu sehr unspezifischen Survey-
lern aus Klassen, die keine Hausaufgaben be- Studien reichen.
kommen. Hattie destilliert die Effektstärke In dem Kapitel mit der Überschrift „Vi-
von 138 Einzelfaktoren heraus, die er einer- sible teaching and visible learning“, das dem
seits in sechs thematische Gruppen ordnet Bericht über die Ergebnisse der Metaanalyse
(Schüler, Familie, Schule, Lehrer, Lehrpläne, vorangestellt ist, fasst Hattie die Konsequen-
Unterricht), andererseits aber auch – unab- zen seiner Analyse für Unterricht und Lehrer-
hängig von dieser Gruppierung – nach der handeln zusammen und entwirft darin indi-
Stärke ihres Effekts in eine Rangreihe bringt. rekt seine Unterrichtstheorie. Insgesamt gilt:
Die ermittelten Effektstärken schwanken zwi- Unterricht ist dann erfolgreich, wenn Lehrer
schen –0.61 (ein sehr starker negativer Effekt) das Lernen mit den Augen der Schüler sehen
und +2.0 und größer (ein extrem starker posi- und Schüler sich selbst als ihre eigenen Leh-
tiver Effekt). rer betrachten. Für Lehrer wie Schüler komme
Um der Neugierde des Lesers gleich hier es darauf an, eine selbstzentrierte Perspektive
entgegenzukommen: Von den sechs genann- zu überwinden. Auf der Basis der analysier-
ten Faktorengruppen ist „Lehrer“ die effekt- ten Studien zeichnet Hattie das Idealbild des
stärkste. Die drei effektstärksten Einzelfakto- aktiven, verantwortlichen, sowohl direktiven
ren sind: a) Selbsteinschätzung des Leistungs- als auch sich – bei entsprechender Situation –
standes durch Schüler, b) die Fundierung des zurückhaltenden Lehrers, der in sehr genauer
Unterrichts auf dem Piagetschen Ansatz der Kenntnis der Lernvoraussetzungen und Lern-
Kompetenzstufen, c) die ständige Erhebung prozesse seine Schüler immer wieder für die
und Bereitstellung von Informationen zum in- Aufgabe zu interessieren vermag. Das Hinein-
dividuellen Lernfortschritt der Schüler an den bringen von Schülern in inhaltbezogenes Ler-
Lehrer und an die Schüler. Die schwächsten nen, Probieren, Denken und Urteilen ist für
und somit vermutlich wirkungslos sind a) jahr- ihn der entscheidende Punkt, was nicht gerade
gangsübergreifender Unterricht, b) die Verfü- eine grundstürzende Neuentdeckung darstellt.
gung der Schüler über ihr eigenes Lernen so- Fakt ist aber auch, dass genau dies in allzu vie-
wie c) die Gegenüberstellung von offenem/ len Unterrichtsstunden bei einem allzu großen
traditionellen Unterricht. Die negativsten, d.h. Teil der anwesenden Schüler nicht gelingt.
am stärksten den Lernerfolg behindernde Fak- Hatties idealer Lehrer kann sich in seine
toren sind a) Sitzenbleiben, b) Fernsehen und Schüler hineinversetzen und die Lernaufga-
c) familiale Mobilität (Umzug). ben und Lernschwierigkeiten ‚mit den Augen
Auf gravierende, vom Autor selbst ge- der Schüler‘ wahrnehmen. Dieser Lehrer ist
nannte Einschränkungen ist ebenfalls vorab vor allem daran interessiert, Rückmeldungen
hinzuweisen: In dem Buch geht es nicht um über die Folgen seines didaktischen Handelns
eine unmittelbare Beschreibung und Explora- einzuholen und umgekehrt Rückmeldungen an
tion von Vorgängen im Klassenzimmer sowie Schüler über ihr Lernen zu geben. Die konti-
ebenfalls nicht um diejenigen gesellschaftli- nuierliche Kontrolle der Wirksamkeit des ei-
chen etc. Faktoren, die durch der Schule nicht genen Tuns ist demnach die Schlüsselbedin-
beeinflusst werden können. Qualitative Stu- gung für erfolgreiche, d.h. sich selbst ständig
dien werden nicht berücksichtigt, und ebenso nachsteuernde didaktische Arbeit.
wird keine methodologische bzw. methoden- Aber nicht nur die Rückmeldung an sich
kritische Debatte geführt. Als Erfolgskriterium selbst ist wichtig. Ebenso ist es von entschei-
wird ausschließlich messbare Schülerleistung dender Bedeutung, dass ein Lehrer Rückmel-
138 Besprechungen
dungen an seine Schüler gibt und auf diese In dieser kompilatorischen und syntheti-
Weise deren Lernen begleitet. Insgesamt sind sierenden Leistung des Buches liegt zugleich
nach Hattie diejenigen Lehrer wirksam, die seine größte Schwäche. Denn die Konzentra-
aktivierende Unterrichtsmethoden anwenden, tion auf diejenigen Faktoren, die sich in quan-
die hohe Erwartungen an alle ihre Schüler ha- titativ-empirischer Forschung als wirksam für
ben und denen es gelingt, eine positive Lehrer- die messbare Steigerung der Lernleistung der
Schüler-Beziehung aufzubauen. Komplemen- Schüler erweisen, führt zum Ausschluss derje-
tär wird das Ideal eines Schülers sichtbar, der nigen Faktoren, die andere Effekte von Schule
sein eigenes Lernen beobachtet, bewertet und und Unterricht bewirken sowie zum Aus-
zu verbessern versteht. Übrigens ist es für Kin- schluss dieser Effekte selbst. Hattie propagiert
der in Schulen in einem schwierigen sozialen im Kern einen lehrerzentrierten, direktiven
Umfeld deutlich entscheidender, ob sie eine Unterrichtsstil, der offen ist für kontinuierli-
guten oder einen schlechten Lehrer haben, als che Leistungskontrolle mit intensiver Rück-
für Kinder in Schulen in einem besser situier- meldung an Lehrer und Schüler.
ten Umfeld. Die Dauer der Berufserfahrung ei- Entsprechend seiner Anlage beinhaltet das
nes Lehrers sowie die Art seiner Ausbildung Buch einerseits recht trockene, gleichsam me-
wirken sich übrigens nicht erkennbar aus. Die- chanisch präsentierte, weit verzweigte For-
ser Befund überrascht; aktuelle Erkenntnisse schungsergebnisse; diese insgesamt dominie-
zur Wirksamkeit der Ausbildung von Mathe- renden Passagen vermag man nur mit Mühe
matiklehrern sprechen eine andere Sprache. sukzessive durchzulesen. Als Rahmen fun-
Die Ergebnisse zeigen, dass aktiver, ge- gieren andererseits eher literarisch gehalte-
lenkter Unterricht effektiver ist als ungelei- nen Passagen über guten Unterricht und gute
teter, erleichternder Unterricht. Konstruk- Lehrerarbeit, die Hattie aus den Befunden
tivismus ist nach Hattie eine Form des Wis- ableitet, und in denen er gewissermaßen pä-
sens, nicht aber eine Form des Unterrichtens. dagogische und didaktische Konsequenzen
Ebenso formuliert er ein klares Urteil über das zieht. Hier gibt sich der Autor ansteckend op-
Verhältnis von Faktoren auf der Ebene unmit- timistisch, denn seiner Meinung nach können
telbaren Unterrichtshandelns einerseits und substantielle Verbesserungen aus der empi-
Arbeitsplatzstrukturen bzw. Schulstruktur an- rischen Forschung abgeleitet und implemen-
dererseits. Erstere weisen ein d von 0.77, die tiert werden. Natürlich ist in Pädagogen- und
Arbeitsplatzbedingungen eines von 0.08 auf, Lehrerkreisen das Gegenstück zum bekann-
was seiner Meinung nach unterstreicht, dass ten pädagogischen Kleinmut – die pädagogi-
Lernergebnisse der Schüler sehr viel stärker sche Euphorie – immer mal wieder anzutref-
von Unterrichtsfaktoren als von Schulfaktoren fen. Bei Hattie kommt sie in Gestalt eines psy-
beeinflusst werden. chologisch fundierten Glaubens an die schier
Hatties Buch basiert auf einer monumenta- unendliche Steigerbarkeit des Lernens durch
len Leistung. Eine solche zusammenfassende, gutes Lehrerhandeln daher. Seine Betonung
synthetisierende Sicht auf die empirische des aktiven, sich verantwortlich fühlenden,
Schul-, Lehrer- und Unterrichtsforschung im die Wirkung seines Tuns genau beobachten-
Rahmen des Prozess-Produkt-Paradigmas hat den und den Schüler ständig Rückmeldung ge-
es meines Wissens bisher nicht gegeben. Die benden Lehrers bringt die modernisierte, „evi-
sehr breite Perspektive, die Hattie zugrunde denzbasierte“ Variante des idealistischen Leh-
legt, seine entschlossene Art der Bündelung rerbildes auf den Punkt, die von dem Glauben
von bereits mehrfach Gebündeltem, seine an die Wirksamkeit einer Mischung aus strik-
die Flut der Effektstärken sprachlich synthe- ter Wissenschaftlichkeit und interpersonaler
tisierenden Erläuterungen, seine prägnanten Emphatie lebt.
Quintessenzen – dies alles macht das Buch zu Hatties Position beinhaltet auch eine
einem wahren Fundgrube für interessierte For- klare Absage an eine primär konstruktivisti-
schung und vermittelt Theoretikern wie Prak- sche Ausrichtung des Lehrerbewusstseins, das
tikern des Unterrichts wichtige empirische Re- sich eher in der Rolle des Beobachters gefällt.
sultate und weiterführende Anregungen. Durch die Betonung des aktiven, herausfor-
Besprechungen 139
dernden Lehrers rehabilitiert er den dominan- ration auf das Sehen, auf die Perspektive des
ten, redenden Lehrer – der aber ebenso auch Lehrers und des Schülers sowie vor allem:
genau weiß, wann er zurücktreten und schwei- die These von der vom Lehrer wie vom Schü-
gen muss. Pointiert gesagt steht nach Hattie im ler zu leistende Perspektivenübernahme auf
idealen Unterricht der Lehrer im Zentrum. Für den jeweils anderen beinhaltet fast schon ein
diesen Lehrer wiederum stehen seine Schüler bildungstheoretisches Argument. Man mag
im Zentrum. Er muss ihr Lernen sehen kön- zur quantitativ-empirischen Schul- und Unter-
nen, um sein Lehren daran orientieren zu kön- richtsforschung stehen wie man will, Hatties
nen. Schüler wiederum müssen ihr Lernen er- Buch ist in jedem Fall ein nützliches Kom-
leben können und es mental begleiten; dabei pendium weit jenseits der Frage, welchen Ef-
werden sie vom Lehrer unterstützt und heraus- fekt einzelne Variablen auf die Schulleistung
gefordert. haben.
Zwischen dem trockenen, insgesamt m.E.
doch eher skeptisch stimmenden Passagen zu
den kumulierten Forschungsergebnissen ei-
nerseits und den fast euphorischen Passage Prof. Dr. Ewald Terhart
über den guten Lehrer, der allen Schülern Westfälische Wilhelms-Universität Münster,
zum Lernerfolg verhilft, nimmt in Ansätzen Institut für Erziehungswissenschaft,
so etwas wie eine empirisch fundierte Theo- Bispinghof 5/6,
rie von gelungenem Unterricht Gestalt an, die 48147 Münster, Deutschland
durchaus bemerkenswert ist. Die Konzent- E-Mail: ewald.terhart@uni-muenster.de
Pädagogische Neuerscheinungen
Achilles, Ilse: „Was macht Ihr Sohn denn da?“ Geistige Behinderung und Sexualität. München:
Reinhardt, 2010. 138 S., EUR 14,90.
Aeppli, Jürg/Gasser, Luciano/Gutzwiller, Eveline/Tettenborn, Annette: Empirisches wissen-
schaftliches Arbeiten. Ein Studienbuch für die Bildungswissenschaften. Bad Heilbrunn:
Klinkhart, 2010. 389 S., EUR 19,90.
Baar, Robert: Allein unter Frauen. Der berufliche Habitus männlicher Grundschullehrer. Wein-
heim: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010. 419 S., EUR 39,95.
Bauer, Katrin: Jugendkulturelle Szenen als Trendphänomene. Geocachin/Crossgolf, Parkour und
Flashmobs in der entgrenzten Gesellschaft. Münster: Waxmann, 2010. 232 S., EUR 29,90.
Bereswill, Mechthild/Stecklina, Gerd (Hrsg.): Geschlechterperspektiven für die Soziale Ar-
beit. Zum Spannungsverhältnis von Frauenbewegungen und Professionalisierungsprozessen.
Weinheim/München: Juventa, 2010, 160 S., EUR 17,00.
Bittner, Günther/Dörr, Margret/Fröhlich, Volker/Göppel, Rolf (Hrsg.): Allgemeine Pädagogik
und Psychoanalytische Pädagogik im Dialog. Opladen: Budrich, 2010. 300 S., EUR 36,00.
Blank, Thomas/Adamek, Karl: Singen in der Kindheit. Eine empirische Studie zur Gesundheit
und Schulfähigkeit von Kindergartenkindern und das Canto elementar-Konzept zum Pra-
xistransfer. Münster: Waxmann, 2010. 330 S., EUR 49,90.
Boller, Sebastian/Lau, Ramona (Hrsg.): Innere Differenzierung in der Sekundarstufe II. Ein Pra-
xishandbuch für Lehrer/innen. Weinheim: Beltz, 2010. 208 S., EUR 29,95.
Böss-Ostendorf, Andreas/Senft, Holger: Einführung in die Hochschul-Lehre. Ein Didaktik-
Coach. Opladen: Budrich, 2010. 293 S., EUR 19,90.
Böttcher, Wolfgang/Dicke, Jan Nikolas/Hogrebe, Nina (Hrsg.): Evaluation, Bildung und Gesell-
schaft. Steuerungsinstrumente zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Münster: Waxmann,
2010. 400 S., EUR 34,90.
Böttger, Heiner: Englisch lernen in der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhart, 2010. 200 S.,
EUR 17,00.
Bubolz-Lutz, Elisabeth/Gösken, Eva/Kricheldorff, Cornelia/Schramek, Renate: Geragogik.
Bildung und Lernen im Prozess des Alterns. Das Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer, 2010.
280 S., EUR 39,80.
Busse, Susann: Bildungsorientierungen Jugendlicher in Familie und Schule. Die Bedeutung
der Sekundarschule als Bildungsort. Weinheim: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010.
261 S., EUR 29,95.
Chilla, Solveig/Rothweiler, Monika/Babur, Ezel: Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen –
Störungen – Diagnostik. München: Reinhardt, 2010. 138 S., EUR 19,90.
Dietrich, Cornelie: Zur Sprache kommen. Sprechgestik in jugendlichen Bildungsprozessen in
und außerhalb der Schule. Weinheim: Juventa, 2010. 232 S., EUR 26,00.
Dollhausen, Karin/Feld, Timm C./Seitter, Wolfgang (Hrsg.): Erwachsenenpädagogische Organi-
sationsforschung. Weinheim: VS Verlag, 2010. 360 S., EUR 39,95.
Dorrance, Carmen: Barrierefrei vom Kindergarten in die Schule? Eine Untersuchung zur Kon-
tinuität von Integration aus der Sicht betroffener Eltern. Bad Heilbrunn: Klinkhart, 2010.
398 S., EUR 29,90.
Pädagogische Neuerscheinungen 141
Ehlers, Swantje (Hrsg.): Empirie und Schulbuch. Vorträge des Giessener Symposiums zur Lese-
forschung. Frankfurt/M.: Peter Lang, 2010. 294 S., EUR 47,00.
Ensberg, Claus/Wittkowske, Steffen (Hrsg.): Fachdidaktiken als praktische Wissenschaften.
Grundlagen – Positionen – Perspektiven. Bad Heilbrunn: Klinkhart, 2010. 271 S., EUR 19,90.
Eß, Oliver (Hrsg.): Das Andere lehren. Handbuch zur Lehre Interkultureller Handlungskompe-
tenz. Münster: Waxmann, 2010. 192 S., EUR 19,90.
Esslinger-Hinz, Ilona: Schlüsselkonzepte von Schulen. Eine triangulierte Untersuchung zur
Bedeutung der Schulkultur an Grundschulen. Bad Heilbrunn: Klinkhart, 2010. 354 S.,
EUR 36,00.
Faulstich, Peter/Zeuner, Christine: Bachelor | Master: Erwachsenenbildung. Weinheim: Beltz,
2010. 192 S., EUR 19,95.
Fink, Franz/Hinz, Thorsten (Hrsg.): Inklusion in Behindertenhilfe und Psychiatrie. Vom Traum
zur Wirklichkeit. Freiburg: Lambertus, 2010. 220 S., EUR 20,00.
Frank, Heike: Lehrer am Limit. Gegensteuern und durchstarten. Weinheim: Beltz, 2010. 192 S.,
EUR 17,95.
Frey, Hanno: Lesekompetenz verbessern? Lesestrategien und Bewusstmachungsverfahren nut-
zen! Münster: Waxmann, 2010. 288 S., EUR 29,90.
Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, Annedore (Hrsg.): Handbuch Qualitative For-
schungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Juventa, 2010. Ca. 1000 S.,
EUR 84,00.
Fuchs-Rechlin, Kirsten: „Und es bewegt sich doch …!“Eine Untersuchung zum professionel-
len Selbstverständnis von Pädagoginnen und Pädagogen. Münster: Waxmann, 2010. 224 S.,
EUR 24,90.
Galm, Beate/Hees, Katja/Kindler, Heinz: Kindesvernachlässigung – verstehen, erkennen, helfen.
München: Reinhardt, 2010. 171 S., EUR 16,90.
Ganguin, Sonja: Computerspiele und lebenslanges Lernen. Eine Synthese von Gegensätzen.
Weinheim: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010. 442 S., EUR 39,95.
Gasteiger, Hedwig: Elementare mathematische Bildung im Alltag der Kindertagesstätte. Grund-
legung und Evaluation eines kompetenzorientierten Förderansatzes. Münster: Waxmann,
2010. 305 S., EUR 34,90.
Gronold, Daniela: Identity Matters. Different Conceptualisations of Belonging from the Perspec-
tive of Young Slovenes. Münster: Waxmann, 2010. 342 S., EUR 34,90.
Grotlüschen, Anke: Erneuerung der Interessetheorie. Die Genese von Interesse an Erwachsenen-
und Weiterbildung. Weinheim: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010. 300 S., EUR 34,95.
Hahn, Renate/Hahn, Otto (Hrsg.): Sonneberger Spielzeug – Made in Judenbach 300 Jahre Spiel-
zeugherstellung an der alten Handelsstraße. Münster: Waxmann, 2010. 304 S., EUR 34,90.
Hartl, Michaela: Emotionen und affektives Erleben bei Menschen mit Autismus. Eine Untersu-
chung unter analytischer Betrachtung autobiographischer Texte. Weinheim: VS Verlag für
Sozialwissenschaften, 2010. 247 S., EUR 34,95.
Heidinger, Isabella: Das Prinzip Mütterlichkeit – geschlechterübergreifende soziale Ressource.
Gegenstandstheoretische und handlungsorientierte Perspektiven. Weinheim: VS Verlag für
Sozialwissenschaften, 2010. 279 S., EUR 29,95.
Hellmich, Frank: Einführung in den Anfangsunterricht. Stuttgart: Kohlhammer, 2010. 304 S.,
EUR 19,80.
Herrmann, Ulrich/Müller, Rolf-Dieter (Hrsg.): Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegser-
fahrungen als Lebenserfahrungen. Weinheim: Juventa, 2010. 400 S., EUR 32,00.
Herwartz-Emden, Leonie/Schurt, Verena/Waburg, Wiebke: Aufwachsen in heterogenen Sozi-
alisationskontexten. Zur Bedeutung einer geschlechtergerechten interkulturellen Pädagogik.
Weinheim: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010. 279 S., EUR 24,95.
142 Pädagogische Neuerscheinungen
Ricken, Judith: Universitäre Lernkultur. Fallstudien aus Deutschland und Schweden. Wiesbaden:
VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011. 428 S., EUR 39,85.
Rieß, Werner: Bildung für nachhaltige Entwicklung. Theoretische Analysen und empirische Stu-
dien. Münster: Waxmann, 2010. 464 S., EUR 44,90.
Rost, Detlef H. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz, 2010.
1020 S., EUR 49,95.
Rost, Detlef H. (Hrsg.): Intelligenz, Hochbegabung, Vorschulerziehung, Bildungsbenachteili-
gung. Münster: Waxmann, 2010. 208 S., EUR 29,90.
Schlömerkemper, Jörg: Konzepte pädagogischer Forschung. Eine Einführung in Hermeneutik
und Empirie. Bad Heilbrunn: Klinkhart, 2010. 176 S., EUR 17,90.
Schratz, Michael/Hartmann, Martin/Schley, Wilfried: Schule wirksam leiten, Analyse innovati-
ver Führung in der Praxis. Münster: Waxmann, 2010. 208 S., EUR 34,90.
Sohns, Armin: Frühförderung. Ein Hilfesystem im Wandel. Stuttgart: Kohlhammer, 2010. 303 S.,
EUR 26,80.
Staude-Müller, Frithjof: Gewalthaltige Computerspiele und Aggressionsneigung. Längsschnittli-
che und experimentelle Betrachtung konkurrierender Zusammenhangsannahmen. Hamburg:
Verlag Dr. Kovac, 2010. 414 S., Preis noch offen.
Tremp, Peter (Hrsg.): „Ausgezeichnete Lehre!“ Lehrpreise an Universitäten. Erörterungen –
Konzepte – Vergabepraxis. Münster: Waxmann, 2010. 256 S., EUR 29,90.
Trumpa, Silke: Elternperspektiven - Rekonstruktionen an einer Freien Schule. Opladen: Budrich,
2010. 270 S., EUR 29,90.
von Felden, Heide/Schiener, Jürgen (Hrsg): Transitionen – Übergänge vom Studium in den
Beruf. Zur Verbindung von qualitativer und quantitativer Forschung. Weinheim: VS Verlag,
2010. 253 S. EUR 29,95.
Wissenschaftlicher Kooperationsverbund (Hrsg.): Lernen und Fördern in der offenen Ganztags-
schule Vertiefungsstudie zum Primarbereich in Nordrhein-Westfalen. Weinheim: Juventa,
2010. 320 S., EUR 22,00.
Wulf Hopf: Freiheit – Leistung – Ungleichheit. Bildung und soziale Herkunft in Deutschland.
Weinheim: Juventa, 2010. 268 S., EUR 19,00.
SvendyWittmann,Thomas Rauschenbach, Vera Bamler, Jillian Werner,
Hans Rudolf Leu (Hrsg.) Cornelia Wustmann
Kinder in Deutschland Lehrbuch
Eine Bilanz empirischer Studien Kindheitsforschung
2010, 308 S., br. Grundlagen, Zugänge und Methoden
€ 26,00 2240-7)
Studium
Auf der Basis empirischer Elementarpä-
Studien wird eine Bilanz dagogik, hrsg.
zum aktuellen Diskurs von V. Bamler
über Kinder in Deutschland und C. Wust-
gezogen. Dafür werden die mann. 2010,
Befunde zu ausgewähl- 196 S., br.
ten, für das Aufwachsen € 14,00
von Kindern relevanten (2326-8)
Themenbereichen – wie
Das Lehrbuch
Bildung/Kompetenzen,
führt in die
Gesundheit, Betreuung,Armut, Multikultu-
Grundlagen
ralität, Faktoren gelingendenAufwachsens,
der Kindheits-
private und zweckfreie Kindheit – vorge-
forschung ein,
stellt und diskutiert.
stellt Datenerhebungs- und Auswertungs-
methoden vor und zeigt Forschungszu-
Karsten Speck, Thomas Olk (Hrsg.) gänge zu den Perspektiven der Kinder
Forschung zur auf. Die jeweiligen Kapitel werden durch
Übungsfragen und Anregungen zum
Schulsozialarbeit Selbststudium ergänzt, um zu einer ver-
Stand und Perspektiven tiefenden Auseinandersetzung einzuladen
und Anregungen für eigene empirische
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Forschungsarbeiten zu geben.
Dieser Band enthält in einer systemati-
sierenden Form relevante ergebnis- und Dennis Shirley
wirkungsbezogene Forschungen und Er-
gebnisse zur Schulsozialarbeit der letzten Reformpädagogik im
fünf bis zehn Jahre, um diesen Erkennt-
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sowie für interessierte Studierende und 2010, 272 S., br. € 28,00 (2235-3)
PraktikerInnen transparent und nutzbar Die detaillierte Fallstudie beschreibt die
zu machen. Für die Publikation konnten Leitung der Odenwaldschule nach der
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sozialarbeit aus unterschiedlichen Ländern Konflikt zwischen Paul Geheeb und den
und Fachdisziplinen gewonnen werden. Nationalsozialisten.
JUVENTA
Zeitschrift für Pädagogik
Begründet durch:
Fritz Blättner, Otto Friedrich Bollnow, Josef Dolch, Wilhelm Flitner, Erich Weniger
Fortgeführt von:
Dietrich Benner, Herwig Blankertz, Hans Bohnenkamp, Wolfgang Brezinka,
Josef Derbolav, Andreas Flitner, Carl-Ludwig Furck, Georg Geissler,
Oskar Hammelsbeck, Ulrich Herrmann, Walter Hornstein, Wolfgang Klafki,
August Klein, Doris Knab, Martinus J. Langeveld, Ernst Lichtenstein,
Peter-Martin Roeder, Wolfgang Scheibe, Hans Scheuerl, Hans Schiefele,
Franz Vilsmeier
Herausgeber:
Cristina Allemann-Ghionda (Köln), Marcelo Alberto Caruso (Münster), Kai S. Cortina
(Michigan), Reinhard Fatke (Zürich), Werner Helsper (Halle), Diether Hopf (Potsdam),
Eckhard Klieme (Frankfurt), Andreas Krapp (München), Roland Merten (Jena),
Jürgen Oelkers (Zürich), Roland Reichenbach (Basel), Petra Stanat (Berlin),
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin), Ewald Terhart (Münster), Rudolf Tippelt (München)
Geschäftsführende Herausgeber:
Roland Reichenbach (verantwortlich), Kai S. Cortina (Besprechungen), Ewald Terhart,
Rudolf Tippelt
Zeitschrift für Pädagogik · Beltz Verlag · Weinheim und Basel
Redaktion: Prof. Dr. Roland Reichenbach (verantwortlich), Berit Ötsch, Forschungs- und Studien-
zentrum für Pädagogik, Universität Basel/Pädagogische Hochschule FHNW, Riehenstrasse 154,
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kripthinweise finden sich auf www.beltz.de. Die Hinweise können auch bei der Redaktion ange-
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Die „Zeitschrift für Pädagogik“ erscheint zweimonatlich (zusätzlich jährlich 1 bis 2 Beihefte) im
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ISSN 0044–3247