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„Kontinental-Verschiebungen: Jüdisch-argentinische Autorinnen in


Diaspora und Exil“
Zweisprachige Lesung (spanisch-deutsch) mit Alicia Kozameh und Reina
Roffé
Mittwoch, 13. Oktober 2010, 20 Uhr
Literaturhaus Graz

Moderation und Übersetzung: Erna Pfeiffer

Einleitung

2010 ist für einige lateinamerikanische Länder – Mexiko, Chile und nicht zuletzt
Argentinien – ein großes „Jubiläumsjahr“: 200 Jahre Unabhängigkeit von
Spanien, 200 Jahre Prozess des nation building, 200 Jahre Versuche, mit Hilfe
von Texten, bildender Kunst und später Kino ein mehr oder weniger kohärentes
Bild des jungen Staates zu schaffen, auf dem individuelle Identitätsentwürfe
aufbauen können. Anlässlich dieses Jahrestags war Argentinien heuer auch
Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, wo mit großem Publicity-Aufwand die
Größen der Literatur gefeiert wurden, von Altmeister Jorge Luis Borges bis zu
jungen Lyrikern wie Fabián Casas. Ich wollte mir ansehen, unter welchem Stern,
unter welchem Vorzeichen das Gros der publikumswirksamen Veranstaltungen
stand, und siehe da – welch ein Wunder! – auf 137 Seiten
Veranstaltungskalender dominiert… (ich könnte jetzt zwar eine Millionenfrage
stellen, aber Sie würden sie bestimmt alle lösen) der Tango: „Argentinien – Im
Spiegel des Tangos, Tango Crash, Tango Porteño, Milonga de Tango, Tango y
Poesía, tango mattiaco, Tapas y Tangoshow, Tangotanzabend, Tangoball,
Orchester trifft Tango“, das ist also der absolute Hit, wenn Deutschsprachige an
Argentinien denken. Platz Nummer 2 nehmen die Krimis ein: „Bücherfrühstück
mit Spannungsliteratur aus Argentinien, Kriminalliteratur ist richtige Literatur“,
im Verein mit typischen KrimiautorInnen wie Raúl Argemí, Guillermo Martínez,
Pablo de Santis, Claudia Piñeiro und anderen. Zur Ehrenrettung der Veranstalter
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kommt dann noch ein gewisser politischer Schwerpunkt, der auf die Schrecken
der Militärdiktatur und ihre Aufarbeitung verweist: „Die drückende Last der
Vergangenheit, Kampf gegen die Straflosigkeit, Argentiniens Militärs vor
Gericht, Geraubte Kinder in Argentinien“ und die Ausstellungen „Tales of
Resistance and Change, Ausencias – Verschwunden“.

Es sieht also ganz danach aus, als würden durch epochale


Massenveranstaltungen nationale Stereotype eher noch verstärkt als hinterfragt
oder gar aufgelöst. Da wir hier in Graz einen starken Forschungsschwerpunkt
sowohl im Bereich Migration als auch in den Bereichen American Studies,
Jüdische Studien und Gender Studies haben, war es für uns eine
Herausforderung, eine Veranstaltung der ganz anderen Art auf die Beine zu
stellen, die bisher nicht so im Zentrum stehende Facetten argentinischer Kultur
zum Leuchten bringt: einerseits die in den Bestsellerlisten meist weiter hinten
rangierenden weiblichen Schriftsteller, andererseits jene, die auch nach
Beendigung der Diktatur 1983 im politischen oder selbst gewählten Exil
geblieben sind, und drittens, Autorinnen jüdischer Herkunft, die besonders
vielfältige Migrationserfahrungen aufweisen. Noch einmal eine Minderheit
innerhalb der „judeo-argentinos“ stellen die Sephardim bzw. Mizrahim dar,
vereinfacht dargestellt also die jüdischen EmigrantInnen aus dem Mittleren
Osten, von Marokko bis zum Irak, mit Ladino, Arabisch oder Haketia als
Muttersprache, im Unterschied zu den Jiddisch sprechenden Ashkenazim aus
Osteuropa: Nur etwa 20% der gesamten jüdischen Bevölkerung in Argentinien
gehören dieser Gruppe an, und auf sie ist unsere heutige Veranstaltung
fokussiert, abgesehen davon, dass unsere beiden Autorinnen, wie übrigens die
meisten intellektuellen Juden in Lateinamerika, den religiösen und
patriarchalischen Tendenzen der Orthodoxen sehr skeptisch gegenüberstehen
und in diesem Sinne wieder zu den DissidentInnen gehören. Eine Minderheit in
der Minderheit in der Minderheit sozusagen, prononciert durch ihr stark
experimentelles Schreiben.
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Es dürfte zwar bekannt sein, dass Argentinien im 19. Jahrhundert Ziel- und
Fluchtpunkt mehrerer Millionen von Einwanderern war und dass gerade
Phänomene wie der Tango aus dieser Schmelztiegelkonstellation entstanden
sind, weniger aber, dass sich in dem Sprachen- und Nationengemisch auch eine
große Gruppe jüdischer ImmigrantInnen befand, allein zwischen 1889 und 1914
waren es ca. 160.000. Diese ließen sich in Buenos Aires, aber auch auf dem
noch weitgehend dünn besiedelten Land nieder – so waren zum Beispiel die
„Gauchos Judíos“ aus der Provinz Entre Ríos legendär, denen im bekannten
Buch von Alberto Gerchunoff (1883-1950) „Jüdische Gauchos“ (1910 1) ein
literarisches Denkmal gesetzt wurde. Es wurde übrigens zum 100. Jahrestag der
sog. „Revolución de Mayo“ geschrieben; 100 Jahre später ist nun die
Übersetzung von Stefan Degenkolbe bei Hentrich und Hentrich in Berlin
erschienen.

Von der Zusammensetzung her stellten – wie gesagt – die aus Osteuropa
stammenden und meist Jiddisch sprechenden Ashkenazim die überwiegende
Mehrheit (ca. vier Fünftel); sie flüchteten meist in der Folge von antisemitischen
Pogromen aus dem russischen Zarenreich, also dem heutigen Russland, der
Ukraine und Weißrussland, aber auch Rumänien, Bessarabien und Moldawien,
Polen und dem späteren Jugoslawien, und sind allein auf Grund ihrer slawischen
oder jiddischen Namen als Juden erkenn- und sichtbar, was ihre
Identitätsfindung aber nicht unproblematischer macht: Cozarinsky, Eichelbaum,
Futoransky, Raznovich, Steimberg, Szwarc, etc.. Daneben gab es eine
zahlenmäßig viel kleinere Gruppe von Sepharden, also Nachfahren der 1492 von
den Katholischen Königen aus Spanien vertriebenen Juden, die in der Türkei, in
Griechenland, Bulgarien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, aber auch in
Nordafrika Zuflucht gefunden hatten, nun aber wieder auf der Flucht vor neu
aufflammenden nationalistischen Bewegungen waren. Last but not least sollen
die Mizrachim erwähnt werden, die erst seit Kurzem als eigene Gruppe ins

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Verfilmt 1974 unter der Regie von Juan José Jusid
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Blickfeld der Aufmerksamkeit rückenden Juden aus arabischen Ländern, die


verschiedene judäo-arabische Dialekte sprachen und ihre literarischen Werke auf
Arabisch in hebräischem Alphabet schrieben.

Im argentinischen Theater der 1920er und 30er Jahre werden die aus dem
europäischen Osten kommenden Juden pauschal als „rusos“ (also Russen)
bezeichnet, die aus dem Mittleren Orient aber als „turcos“ (also Türken); sie
geben damit so genannte stock figures mit ihren karikaturesk übertriebenen
Merkmalen und Ticks ab, über die durchaus auch geschmunzelt werden durfte.

Da jüdische Intellektuelle überproportional in linken Protestbewegungen


vertreten waren, sahen sich während der argentinischen Militärdiktatur von
1976-1983 zahlreiche Nachfahren dieser jüdischen Zuwanderer gezwungen, aus
politischen Gründen das Zufluchtsland ihrer Großeltern wieder zu verlassen. Bei
ca. 1% Anteil an der Gesamtbevölkerung befanden sich unter den so genannten
desaparecidos, also den aus politischen Gründen Ermordeten und
„Verschwundenen“, an die 10% jüdische Opfer. Viele Asylsuchende gingen ins
Exil nach Europa oder in die USA und kehrten aus verschiedensten Gründen
auch nach dem Ende direkter Verfolgungen nicht mehr nach Argentinien zurück.
Dazu kam eine zunehmende Zahl von Wirtschaftsflüchtlingen, die im Zuge der
Wirtschaftskrise des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts
ebenfalls dem Land den Rücken kehrten und ihr Glück anderswo suchten, in den
meisten Fällen allerdings ohne großen Erfolg, da sie auch in Europa oder den
USA vielfach heute noch in prekären Verhältnissen leben.

Interessanter Weise finden sich unter den im Land Zurückgebliebenen meinem


Gefühl nach mehr Autorinnen und Autoren, die sich in den jüdischen
Gemeinden engagieren und deren Werke sich, teils sogar mit humoristischem
Einschlag, mit jüdischer Identität und der Immigrationssituation in Argentinien
beschäftigen. Ich denke hier etwa an Ana María Shua mit ihrem Libro de los
recuerdos (1994), in dem selbst ernste Themen mit jüdischem Humor bewältigt
werden, oder Alicia Steimberg mit ihren beiden Romanen Músicos y relojeros
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(1971) und Su espíritu inocente (1981), in dem die problematische Beziehung


einer zum Katholizismus tendierenden Tochter mit ihrer jiddischen Mame aufs
Korn genommen wird. Den Exilautorinnen mag durch die Konfrontation mit
liberaleren Gesellschaften z.B. in Nordeuropa und der Bekanntschaft mit
feministischen Bewegungen in den Zielländern oft der Zwiespalt zwischen
Gender- und Religionsfragen deutlicher bewusst geworden sein: gerade eine
patriarchalische Kultur wie die orthodox jüdische birgt ja auch für Frauen im
ausgehenden 20. Jahrhundert einiges an Konfliktpotenzial. So ist es manchen
sehr „internationalistischen“ Autorinnen wie Alicia Kozameh erst durch die
Einladung zu diversen Anthologien wie denen von Marjorie Agosín (1997 und
1999) bzw. die Einbeziehung ins Lexikon Jewish Writers of Latin America
(1997) von Darrell B. Lockhart bewusst geworden, dass sie auf Grund ihrer
Herkunft zu diesem Corpus gezählt werden.

Mit Alicia Kozameh und Reina Roffé lesen heute also zwei jüdisch-
argentinische Autorinnen aus ihren Werken, in denen sie versuchen, mit
verschiedenen literarischen Mitteln (Essay, Roman, Erzählung) die komplexe
Wanderungsgeschichte ihrer Familien und ihr eigenes Exil zu reflektieren bzw.
künstlerisch aufzuarbeiten.
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Alicia Kozameh (geboren 1953 in Rosario, Argentinien), Tochter einer jüdisch-


arabischen Einwandererfamilie, war als linke Aktivistin von 1975 bis 1978
politische Gefangene der Militärdiktatur und ging anschließend ins Exil nach
Mexiko und in die USA, wo sie heute noch lebt. In ihrem literarischen Werk
(Romane, Lyrik, Erzählungen) vermengt sie Erfundenes, Historisches und selbst
Erlebtes zu einem höchst innovativen Gemisch. Durch dokumentarische
Zeugnisse, Briefesammlungen und Essays sowie ihre Tätigkeit als Vortragende
für Amnesty International versucht sie auch international, Bewusstsein und
Sensibilität für die Lage der argentinischen Exilierten zu wecken. Ihre
wichtigsten Werke:

Reina Roffé (geboren 1951 in Buenos Aires), Tochter einer jüdischen


Einwandererfamilie aus Marokko, harrte während der Jahre der Diktatur (die
1976 ihren zweiten Roman Monte de Venus als „unmoralisch“ verbot) zunächst
in „innerem Exil“ (insilio) in Argentinien aus, ging dann jedoch 1981 für einige
Jahre in die USA und zog nach einem kurzen Intermezzo der vorläufigen
Rückkehr 1988 aus wirtschaftlichen Gründen nach Spanien, wo sie noch heute
lebt. In ihren höchst komplexen Romanen und Erzählungen bearbeitet sie vor
allem Probleme weiblichen Begehrens in einer machistischen Gesellschaft;
neuerdings geht sie auch vermehrt den Spuren ihrer sephardischen Vorfahren
nach.

Erna Pfeiffer ist literarische Übersetzerin und Außerordentliche Professorin für


Spanische und Lateinamerikanische Literaturwissenschaft an der Karl-Franzens-
Universität in Graz und hat sich schwerpunktmäßig mit dem Schreiben
lateinamerikanischer Autorinnen abseits des Mainstream befasst.

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