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Einleitung
2010 ist für einige lateinamerikanische Länder – Mexiko, Chile und nicht zuletzt
Argentinien – ein großes „Jubiläumsjahr“: 200 Jahre Unabhängigkeit von
Spanien, 200 Jahre Prozess des nation building, 200 Jahre Versuche, mit Hilfe
von Texten, bildender Kunst und später Kino ein mehr oder weniger kohärentes
Bild des jungen Staates zu schaffen, auf dem individuelle Identitätsentwürfe
aufbauen können. Anlässlich dieses Jahrestags war Argentinien heuer auch
Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, wo mit großem Publicity-Aufwand die
Größen der Literatur gefeiert wurden, von Altmeister Jorge Luis Borges bis zu
jungen Lyrikern wie Fabián Casas. Ich wollte mir ansehen, unter welchem Stern,
unter welchem Vorzeichen das Gros der publikumswirksamen Veranstaltungen
stand, und siehe da – welch ein Wunder! – auf 137 Seiten
Veranstaltungskalender dominiert… (ich könnte jetzt zwar eine Millionenfrage
stellen, aber Sie würden sie bestimmt alle lösen) der Tango: „Argentinien – Im
Spiegel des Tangos, Tango Crash, Tango Porteño, Milonga de Tango, Tango y
Poesía, tango mattiaco, Tapas y Tangoshow, Tangotanzabend, Tangoball,
Orchester trifft Tango“, das ist also der absolute Hit, wenn Deutschsprachige an
Argentinien denken. Platz Nummer 2 nehmen die Krimis ein: „Bücherfrühstück
mit Spannungsliteratur aus Argentinien, Kriminalliteratur ist richtige Literatur“,
im Verein mit typischen KrimiautorInnen wie Raúl Argemí, Guillermo Martínez,
Pablo de Santis, Claudia Piñeiro und anderen. Zur Ehrenrettung der Veranstalter
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kommt dann noch ein gewisser politischer Schwerpunkt, der auf die Schrecken
der Militärdiktatur und ihre Aufarbeitung verweist: „Die drückende Last der
Vergangenheit, Kampf gegen die Straflosigkeit, Argentiniens Militärs vor
Gericht, Geraubte Kinder in Argentinien“ und die Ausstellungen „Tales of
Resistance and Change, Ausencias – Verschwunden“.
Es dürfte zwar bekannt sein, dass Argentinien im 19. Jahrhundert Ziel- und
Fluchtpunkt mehrerer Millionen von Einwanderern war und dass gerade
Phänomene wie der Tango aus dieser Schmelztiegelkonstellation entstanden
sind, weniger aber, dass sich in dem Sprachen- und Nationengemisch auch eine
große Gruppe jüdischer ImmigrantInnen befand, allein zwischen 1889 und 1914
waren es ca. 160.000. Diese ließen sich in Buenos Aires, aber auch auf dem
noch weitgehend dünn besiedelten Land nieder – so waren zum Beispiel die
„Gauchos Judíos“ aus der Provinz Entre Ríos legendär, denen im bekannten
Buch von Alberto Gerchunoff (1883-1950) „Jüdische Gauchos“ (1910 1) ein
literarisches Denkmal gesetzt wurde. Es wurde übrigens zum 100. Jahrestag der
sog. „Revolución de Mayo“ geschrieben; 100 Jahre später ist nun die
Übersetzung von Stefan Degenkolbe bei Hentrich und Hentrich in Berlin
erschienen.
Von der Zusammensetzung her stellten – wie gesagt – die aus Osteuropa
stammenden und meist Jiddisch sprechenden Ashkenazim die überwiegende
Mehrheit (ca. vier Fünftel); sie flüchteten meist in der Folge von antisemitischen
Pogromen aus dem russischen Zarenreich, also dem heutigen Russland, der
Ukraine und Weißrussland, aber auch Rumänien, Bessarabien und Moldawien,
Polen und dem späteren Jugoslawien, und sind allein auf Grund ihrer slawischen
oder jiddischen Namen als Juden erkenn- und sichtbar, was ihre
Identitätsfindung aber nicht unproblematischer macht: Cozarinsky, Eichelbaum,
Futoransky, Raznovich, Steimberg, Szwarc, etc.. Daneben gab es eine
zahlenmäßig viel kleinere Gruppe von Sepharden, also Nachfahren der 1492 von
den Katholischen Königen aus Spanien vertriebenen Juden, die in der Türkei, in
Griechenland, Bulgarien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, aber auch in
Nordafrika Zuflucht gefunden hatten, nun aber wieder auf der Flucht vor neu
aufflammenden nationalistischen Bewegungen waren. Last but not least sollen
die Mizrachim erwähnt werden, die erst seit Kurzem als eigene Gruppe ins
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Verfilmt 1974 unter der Regie von Juan José Jusid
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Im argentinischen Theater der 1920er und 30er Jahre werden die aus dem
europäischen Osten kommenden Juden pauschal als „rusos“ (also Russen)
bezeichnet, die aus dem Mittleren Orient aber als „turcos“ (also Türken); sie
geben damit so genannte stock figures mit ihren karikaturesk übertriebenen
Merkmalen und Ticks ab, über die durchaus auch geschmunzelt werden durfte.
Mit Alicia Kozameh und Reina Roffé lesen heute also zwei jüdisch-
argentinische Autorinnen aus ihren Werken, in denen sie versuchen, mit
verschiedenen literarischen Mitteln (Essay, Roman, Erzählung) die komplexe
Wanderungsgeschichte ihrer Familien und ihr eigenes Exil zu reflektieren bzw.
künstlerisch aufzuarbeiten.
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