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KINDLER KOMPAKT

MÄRCHEN

Ausgewählt von Stefan Neuhaus


KINDLER KOMPAKT
MÄRCHEN
Ausgewählt von Stefan Neuhaus

J. B. Metzler Verlag
Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbei-
teten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz
Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl
verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert.

Stefan Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur


an der Universität Koblenz-Landau.
Inhalt
STEFAN NEUHAUS
Das Märchen als Poesie der Poesie 9

DIE GESCHICHTE VOM BAMBUSSAMMLER


Taketori monogatari 33
TAUSENDUNDEINE NACHT
Alf laila wa-laila 35
GIOVANNI BOCCACCIO
Das Dekameron / Decameron. Prencipe Galeotto 44
GIOVANNI FRANCESCO STRAPARÒLA
Die ergötzlichen Nächte / Le piacevoli notti 51
HEMAVIJAYA
Das Märchenmeer / Kathāratnākara 54
GIAMBATTISTA BASILE
Der Pentamerone / Lo cunto de li cunti o vero lo trattenimiento
de peccerille 55
CHARLES PERRAULT
Märchen aus alter Zeit / Histoires ou contes du temps passé,
avec des moralitez 58
SULCHAN-SABA ORBELIANI
Die Weisheit der Lüge / Sibrjne sic’ruisa 60
CHRISTOPH MARTIN WIELAND
Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder
Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva 62
CARLO GRAF GOZZI
Turandot / Turandot 65
JOHANN KARL AUGUST MUSÄUS
Volksmährchen der Deutschen 68
NOVALIS
Heinrich von Ofterdingen 70
ADAM OEHLENSCHLÄGER
Aladdin oder Die Wunderlampe / Aladdin eller den forunderlige
Lampe. Dramatisk Eventyr 75
E. T. A. HOFFMANN
Fantasiestücke in Callot’s Manier 77
Klein Zaches genannt Zinnober 81
Die Serapions-Brüder 83
Prinzessin Brambilla 88
Meister Floh 90
FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUÉ
Undine 92
JACOB UND WILHELM GRIMM
Kinder- und Hausmärchen 95
PHILIPP OTTO RUNGE
Vom Fischer und seiner Frau / Von dem Fischer un syner Fru 100
LUDWIG TIECK
Phantasus 102
ADELBERT VON CHAMISSO
Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte 113
WILHELM HAUFF
Die Märchen 116
CLEMENS BRENTANO
Gockel Hinkel Gackeleia 120
THEODOR STORM
Die Märchen 122
PETER CHRISTEN ASBJØRNSEN / JØRGEN ENGEBRETSEN MOE
Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus Norwegen /
Norske Folkeeventyr 125
PETER CHRISTEN ASBJØRNSEN
Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus Norwegen /
Norske Huldreeventyr og Folkesagn 127
CHARLES DICKENS
Der Weihnachtsabend / A Christmas Carol 128
ALEKSANDR NIKOLAEVIČ AFANAS’EV
Russische Volksmärchen / Narodnye russkie skazki 131
LEWIS CARROLL
Alice im Wunderland / Alice’s Adventures in Wonderland 134
Alice hinter den Spiegeln / Through the Looking-Glass and What Alice
Found There 136
HANS CHRISTIAN ANDERSEN
Sämtliche Märchen / Eventyr og Historier 139
PAVOL DOBŠINSKÝ
Volkstümliche slowakische Märchen / Prostonárodné slovenské povesti 143
CARLO COLLODI
Die Abenteuer des Pinocchio / Le avventure di Pinocchio 146
OSCAR WILDE
Der glückliche Prinz und andere Märchen / The Happy Prince and Other
Tales 148
Ein Granatapfelhaus / A House of Pomegranates 150
HUGO VON HOFMANNSTHAL
Das Märchen der 672. Nacht 153
L. FRANK BAUM
Der Zauberer von Oz / The Wonderful Wizard of Oz 156
JAMES MATTHEW BARRIE
Peter Pan oder der Junge, der nicht groß werden wollte / Peter Pan.
Or The Boy Who Would Not Grow Up 162
MICHA JOSEF BERDYCZEWSKI
Der Born Judas 165
ANNI SWAN
Kranich und Hirtenmädchen / Anni Swanin sadut 167
PAMELA L. TRAVERS
Mary Poppins / Mary Poppins 170
ABUBAKAR IMAM
Worte sind ein Schatz / Magana Jari Ce 172
ANTOINE-MARIE-ROGER DE SAINT-EXUPÉRY
Der kleine Prinz / Le petit prince 174
TOVE JANSSON
Die Muminbücher 176
ASTRID LINDGREN
Die Pippi-Langstrumpf-Bücher 179
Die Brüder Löwenherz / Bröderna Lejonhjärta 181
KIRSI KUNNAS
Tiitiäinens Geschichten / Tiitiäisen tarinoita 184
OTFRIED PREUßLER
Der Räuber Hotzenplotz 186
MICHAEL ENDE
Die Unendliche Geschichte 188
RAFIK SCHAMI
Erzähler der Nacht 191
YŌKO TAWADA
Der Hundebräutigam / Inu muko iri 194
JOANNE K. ROWLING
Die Harry-Potter-Romane 196
WALTER MOERS
Die Zamonien-Reihe 199
JOHANNA SINISALO
Troll / Ennen päivänlaskua ei voi 204
Das Märchen
als Poesie der Poesie
Stefan Neuhaus

Märchengeschichte(n)

Wenn jemand etwas erzählt, dessen Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist,


kann man erwidern: Erzähl mir keine Märchen! Dabei nehmen wir
nur allzu leicht an, dass wir wissen, was der Begriff Märchen meint.
Die heute weit verbreitete Bedeutung des Begriffs ist selbst ein Mär-
chen oder ein Mythos. Oder, vielleicht besser: eine Erzählung. Um ver-
stehen zu können, wie es dazu kommen konnte, dass wir bei Märchen
gleich an Hänsel und Gretel, Aschenputtel oder Dornröschen denken,
müssen wir in der Literatur- und Kulturgeschichte rund 200 Jahre 9
zurückgehen. An der Entstehung dieser Erzählung vom Märchen
waren die Brüder Grimm alles andere als unschuldig (nicht: Gebrüder

EINLEITUNG
Grimm, auch diese Schreibung ist ein populärer Irrtum).
Als die Brüder Grimm 1812 den ersten und 1815 den zweiten Band
ihrer Kinder- und Hausmärchen veröffentlichten, konnte niemand ahnen,
am wenigsten sie selbst, welchen Erfolg sie damit haben würden. Die
beiden Kasseler Studenten und späteren Bibliothekare waren 1806
von Clemens Brentano zum Sammeln von Märchen angeregt worden.
Brentano, einer der wichtigsten Vertreter der Heidelberger Roman-
tik, hatte 1805 bis 1808 mit Achim von Arnim die für die sogenannte
›Volkspoesie‹ nicht weniger einflussreiche Sammlung Des Knaben
Wunderhorn veröffentlicht, eine Sammlung von Liedtexten, die für alle
populären Anthologien von sogenannten Volksliedern grundlegend
geworden ist. Doch verlor Brentano bald das Interesse an der Heraus-
geberschaft solcher Märchenüberlieferungen und die Grimms waren
klug genug, eine Abschrift anzufertigen, bevor sie dem unzuverläs-
sigen Bekannten das dann für lange Zeit verschollene Ergebnis ihrer
Sammeltätigkeit zuschickten.
Beide Sammlungen, die Lieder und die Märchen, waren eigentlich
Editionsprojekte. Dem Programm der Romantik gemäß gaben sie vor,
grundlegende Texte der deutschsprachigen Kultur und insbesondere
des Mittelalters, die vor allem mündlich überliefert worden waren,
durch schriftliche Tradierung vor dem Vergessen zu bewahren und
einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Bis zu
diesem Zeitpunkt war »Märchen« noch ein offener Gattungsbegriff
im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung ›kleine Erzählung‹, wie
beispielsweise die Sammlung von Johann Karl August Musäus zeigt
(Volksmährchen der Deutschen; 1782–1786), in die auch ganz selbstver-
ständlich Sagen aufgenommen sind, etwa um die populäre Gestalt des
Rübezahl; bei Musäus sind diese Texte sogar als »Legenden« bezeich-
net. Dazu kommen Schauergeschichten, eine Tradition, die bei-
spielsweise Wilhelm Hauff später mit seinen Märchensammlungen
fortsetzen wird (man denke an Die Geschichte von dem Gespensterschiff
aus seinem Märchen-Almanach Die Karawane). In der zweiten Hälfte
der 1820er Jahre, also um die Zeit, in der Hauff seine bekannten Mär-
10 chen veröffentlichte (etwa Der kleine Muck und Das kalte Herz), konnten
die Kinder- und Hausmärchen, die zunächst ein verlegerischer Flop
waren, überhaupt erst ein größeres Publikum für sich gewinnen. 1825
erschien die »Kleine Ausgabe«, eine von Bruder Ludwig Emil Grimm
illustrierte Auswahl von 50 Texten. Sie formte die ›Gattung Grimm‹
und prägte die heutige Auffassung von dem, was in unserem Kultur-
kreis allgemein unter Märchen verstanden wird.
Dabei handelt es sich keineswegs, wie die Grimms im Geist der
Zeit behaupteten, um volkstümliche Erzählungen, die sie älteren
Frauen in ihren bäuerlichen Spinnstuben abgelauscht hatten und die
vorher mündlich tradiert worden waren. Die meisten Märchen gehen
auf bekannte frühere Sammlungen zurück, etwa auf Giambattista
Basiles Pentamerone oder auf Charles Perraults Die ergötzlichen Nächte.
Es handelte sich oft um Erzählungen, die von den gebildeten Frauen,
mit denen die Grimms Kontakt hatten, nacherzählt oder die von den
bibliothekserfahrenen Brüdern selbst zu Rate gezogen wurden. Die
Überlieferungsgeschichte hat vor allem Heinz Rölleke erforscht, dem
wir auch die Historisch-kritische Ausgabe der Märchen verdanken.
Und Lothar Bluhm hat, angesichts der Quellenlage, den Terminus
›Buchmärchen‹ vorgeschlagen. ›Volksmärchen‹ ist der missverständ-
liche, aber (etwa durch Max Lüthi) populär gewordene Begriff, wenn
man Märchen als Gattungsbegriff weiter unterteilt. Ihm zur Seite lässt
sich das ›Kunstmärchen‹ stellen, das sich in einigen wichtigen Punk-
ten vom Volksmärchen unterscheidet.
Auch das Kunstmärchen wird in der Zeit der Romantik so geprägt,
wie wir den Begriff heute verwenden. Entscheidend hierfür ist wieder
eine Sammlung von Texten, deren Erfolg nicht vorherzusehen war.
Der sich im oberfränkischen Bamberg mit Arbeiten am Theater und
als Musiklehrer nur mühsam über Wasser haltende, eigentlich als
Jurist ausgebildete (als solcher wird er später noch Karriere machen)
Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann, der aus Liebe zu Mozart seinen
dritten Vornamen in Amadeus ändert, schließt mit einem Bamberger
Weinhändler und Kleinverleger einen Vertrag über die schließlich
1814/15 in zwei Bänden erschienenen Fantasiestücke in Callot’s Manier.
Der Titel spielt auf Jacques Callot an, einen lothringischen Zeichner
und Kupferstecher. Einer der Texte der Sammlung, Der goldne Topf,
trägt den Untertitel »Ein Märchen aus der neuen Zeit« und erzählt 11
die Geschichte des Studenten Anselmus, der sich im Dresden der
damaligen Gegenwart (das teilweise auch Bamberg nachgebildet ist)

EINLEITUNG
in Serpentina verliebt. Serpentina ist allerdings eine Schlange und die
Tochter des Archivarius Lindhorst, der wiederum, aus der Familie der
Salamander stammend, aus Atlantis verbannt wurde und nun auf der
Erde nach geeigneten Brautwerbern für seine drei Töchter sucht. Die
Bewohner Dresdens sind (mit einem Begriff der Zeit) Philister, also
engstirnige Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, das Wunder-
bare wahrzunehmen, und stattdessen alltägliche Erklärungen dafür
suchen. Erst als Anselmus bereit ist, die Realität der Wunderwelt
anzuerkennen, kann er Serpentina auch ganz lieben, heiraten und
mit ihr nach Atlantis ziehen. Der letzte Satz des nicht nur im romanti-
schen Sinne ironischen Märchens verweist auf seine philosophisch-
allegorische Deutungsebene: »Ist denn überhaupt des Anselmus
Seligkeit etwas Anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige
Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimniß der Natur offenbaret?«
Das »Leben in der Poesie« als Bereicherung des wirklichen Lebens auf-
zufassen, wird Folgen haben, wie wir beispielsweise an Michael Endes
Die unendliche Geschichte aus dem Jahr 1979 sehen können. Dort ist es der
junge Bastian, der nach Phantásien reist, in ein Buch im Buch, um die
Welt der Fantasie zu retten und damit auch sich selbst. Seine Reise, die
nicht nur deutliche Anklänge an Hoffmanns Märchen, sondern auch
an Novalis’ Märchenroman Heinrich von Ofterdingen (1802) aufweist, ist
eine Bildungsreise im besten Sinn, denn sie befähigt den Jungen, sich
seinem alleinerziehenden Vater zuzuwenden, der über den Tod von
Bastians Mutter noch nicht hinweggekommen ist.
Hoffmann wird noch eine Reihe anderer berühmt gewordener
Märchen schreiben, etwa Nußknacker und Mausekönig (1816), das von
Pjotr Iljitsch Tschaikowski für seinen weltberühmtes Ballett Der Nuß-
knacker (1892) adaptiert wurde. Auch wenn es bedeutende Vorläufer für
Hoffmanns Märchenkonzept gibt, etwa Christoph Martin Wielands
Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder Die Abentheuer des Don Sylvio
von Rosalva. Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht von
1764, und auch wenn sich Hoffmann an den Märchen-Erzählungen
Ludwig Tiecks orientiert, kann man ihm eine vergleichbare Bedeu-
12 tung für die Entwicklung der Gattung zuschreiben wie den Brüdern
Grimm. Der goldne Topf ist das erste moderne Kunstmärchen und
zugleich das erste Wirklichkeitsmärchen, denn die Handlung spielt
auf zwei voneinander getrennten, durch Figuren und Übergänge
miteinander in Beziehung gesetzten Ebenen, von denen die eine der
zeitgenössischen Realität nachgebildet ist. Die andere nutzt Vorstel-
lungen von Mythologie und Aberglauben. In dieser zweiten Welt sind
die Naturgesetze außer Kraft, Menschen verwandeln sich in Tiere,
Tiere können sprechen und die Welt ist voller Magie, keineswegs nur
von der ungefährlichen Sorte. Der Dualismus der zwei Welten wird
gattungsbildend, wie man an so berühmten neueren Beispielen wie
den Chronicles of Narnia von Clive Staples Lewis (1950–1956; noch ohne
Artikel im Kindler) oder den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Row-
ling (1997–2005) sehen kann.
Dass Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, gilt auch für
andere Gattungen, die sich erst noch entwickeln, etwa für die literari-
sche Fantastik, an deren Beginn wieder Hoffmann steht. Es war eine
falsche Übersetzung des Titels der Fantasiestücke, durch die der Begriff
der Fantastik oder Fantasy geboren wurde und so seinen Siegeszug
antreten konnte. Zweifellos war Hoffmann ein außergewöhnlich
talentierter Mensch. Er dichtete, komponierte (am bekanntesten
ist noch seine romantische Oper Undine nach dem Märchen von
Friedrich de la Motte Fouqué), zeichnete und wurde zu einem der
führenden Juristen seiner Zeit, dem sein Scharfsinn aber beinahe
zum Verhängnis geworden wäre. Sein romanlanges Märchen Meister
Floh von 1822 karikiert, in Gestalt eines hohen Regierungsvertreters,
die politische Verfolgung Andersdenkender in Preußen. Hoffmanns
Begabungen erklären einen Teil seines Erfolgs, aber nicht den ganzen,
denn Hoffmann war auch ein Vielschreiber, der Verlegern vor allem
des Geldes wegen das Blaue vom Himmel versprach, diese Verspre-
chen oft genug nicht hielt und manchmal die Übersicht verlor, weil er
einzelne Kapitel bereits ohne Abschrift abgeschickt hatte und nicht
mehr so genau wusste, was seine Figuren bereits alles erlebt hatten.
Aus heutiger Sicht könnte man sagen: Hoffmann und die Brüder
Grimm waren die richtigen Autoren zur richtigen Zeit, damit das
Märchen so, wie wir es heute kennen, entstehen und solchen Erfolg
haben konnte. 13
Denn um zu erkennen, ob Naturgesetze gelten oder nicht, muss
es erst welche geben – oder vielmehr ein Bewusstsein dafür. Beides

EINLEITUNG
hat sich mit der Abkehr vom christlichen zum naturwissenschaft-
lichen Weltbild seit dem 18. Jahrhundert entwickelt. Noch im 18. Jahr-
hundert wurden Frauen als Hexen verbrannt, weil man glaubte, dass
sie übernatürliche Fähigkeiten besitzen und zum Schaden ihrer
Mitbürger gebrauchen. Solche Vorstellungen werden im Zeitalter der
Aufklärung unzeitgemäß, zugleich werden sie aber auch produktiv
für die Fantasie, um die es Autoren wie Hoffmann ganz besonders
geht. Am Beginn von Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen (1819)
wird, weil der Fürst eines kleinen deutschen Landes die Aufklärung
einführt, alles wunderbare Personal des Landes verwiesen, auch
die gute Fee Rosabelverde, die allerdings, wie der für die Handlung
nicht weniger wichtige Zauberer Prosper Alpanus, eine bürgerliche
Existenz annimmt, um sich weiterhin im Land aufhalten zu können.
Der Rationalismus der Aufklärung führt, wie Hoffmann auf ebenso
ironische wie humorvolle Weise zeigt, zu Verwerfungen und Einsei-
tigkeiten. Das Pendel schlägt zur anderen Seite aus und dem Licht der
Aufklärung, das zu Bevölkerungswachstum, Bildung und Wohlstand
führt, entspringt ein oftmals in seiner Bedeutung nicht gesehener
Schatten. Ein Schatten, den Adelbert von Chamisso in Peter Schlemihl’s
wundersame Geschichte (1814) seinem Protagonisten von einer Teufels-
figur abhandeln lässt. E. T. A. Hoffmann wird das Motiv in Die Abenteuer
der Sylvester-Nacht (1815) variieren, hier ist es ein Spiegelbild, das abhan-
denkommt. Die Tradition eines solchen Handels mit dem Teufel, der
als Allegorie auf die Verdrängung des Anderen im Eigenen gelesen
werden kann, lässt sich bekanntlich in vielen weiteren Texten und
Variationen finden.
Selbst die Kinder- und Hausmärchen enthalten zunächst noch Texte,
die wir heute eher als Sagen oder Legenden klassifizieren würden. Es
ist der fortdauernden Bearbeitung, Auswahl und Gestaltung durch
Wilhelm Grimm zu verdanken, dass die Märchen die für uns heute
so natürlich scheinenden Merkmale erhalten, die formelhaften Wen-
dungen wie »Es war einmal« oder »Und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie noch heute«, die eindimensionalen, moralisch
14 eindeutig positionierten Figuren (gut oder böse), die typischen Hel-
ferfiguren und magischen Requisiten. Doch auch wenn die Brüder
Grimm und E. T. A. Hoffmann den Gattungsbegriff des Märchens und
die gängigen Unterbegriffe Volks-, Kunst- und Wirklichkeitsmärchen
durch ihre Texte prägen, so ist ihre Arbeit weder voraussetzungslos
noch ist das, was man im Diskurs über die deutschsprachige Literatur
als grundlegend ansieht, bindend für andere Literaturen, auch wenn
sich, wie die vorliegende Sammlung zeigt, viele Tradierungen und
Adaptionen dieser Märchenkonzepte in anderen Ländern (etwa in
den beiden Sammlungen Norske Folkeeventyr / Norske Huldreeventyr og
Folkesagn, dtsch. Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus Norwegen,
von 1843–1848) und Kulturkreisen (etwa in Narodnye russkie skazki, den
Russischen Volksmärchen von 1855–1863, oder in Abubakar Imams Magana
Jari Ce, dtsch. Worte sind ein Schatz, von 1937–1939) finden lassen.
Wie alles, was Menschen gemacht oder erdacht haben, ist auch
das Märchen Ergebnis eines von zahlreichen Faktoren beeinflussten,
Sprach- und Ländergrenzen überschreitenden, kulturellen Entwick-
lungsprozesses. Die neuhochdeutschen Wörter ›Märchen‹ und ›Mär-
lein‹ oder das mittelhochdeutsche ›maerlîn‹ sind Verkleinerungsfor-
men zu ›Mär‹, mittelhochdeutsch ›maere‹, althochdeutsch ›mârî‹. Die
ursprüngliche Bedeutung entspricht den Begriffen ›Kunde‹, ›kurzer
Bericht‹ oder ›kurze Erzählung‹. Im französischen ›contes de fées‹ oder
englischen ›fairy tale‹ ist auch Kunde und Erzählung enthalten, es wird
zusammengebracht und zusammengedacht mit dem Figurentypus
der Fee, der freilich nicht in allen Märchen vorkommt. Die Populari-
sierung der Gattung im 18. Jahrhundert ging vor allem von Frankreich
aus, so dass im Deutschen auch der Begriff der ›Feenmärchen‹ üblich
wurde, bevor die Suche nach der für eine deutsche Kulturnation als
notwendig erachteten, ursprünglichen ›Volkspoesie‹ begann, eine
Suche, die ebenso ein Rekonstruktions- (man denke an Editionen
mittelalterlicher Dichtungen, etwa des Nibelungenliedes) wie Kon-
struktionsprozess war. Und hierfür sind die Kinder- und Hausmärchen
ein gutes Beispiel, weil sie, wie Beat Mazenauer und Severin Perrig an
Beispielen gezeigt haben, Stofftraditionen aufnahmen und einer für
die damalige Zeit typischen Auffassung von tugendhafter Bürgerlich-
keit anpassten.
Die Veränderungen sind gravierend, ein Beispiel ist die Figur des 15
Dornröschen. In dem altfranzösischen Le Roman de Perceforest (um
1330) sticht sich Prinzessin Zellandine beim Spinnen mit einer Flachs-

EINLEITUNG
faser, fällt in einen totenähnlichen Schlaf und wird in einem Turm-
zimmer aufgebahrt. Dort findet sie Prinz Troylus mit Hilfe des Gottes
Amor und der Göttin Venus, die ihn dazu verführen, die Prinzessin
zu küssen und mit ihr zu schlafen. Zellandine wird schwanger und
bekommt einen Sohn, der ihr die Flachsfaser aus dem Finger lutscht
und sie so von dem im Mittelalter gefürchteten Zustand des Schein-
todes befreit. In Sonne, Mond und Talia, einem Text aus Giambattista
Basiles Lo cunto de li cunti o vero lo trattenimiento de peccerille, in Anspie-
lung auf Boccaccios Dekameron auch Pentameron genannt (1634), ist der
ritterliche Regelkodex durch einen höfischen ersetzt worden. Talia
wird durch eine Hanffaser in einen totenähnlichen Schlaf versetzt.
Ein König findet sie und zeugt mit ihr Zwillinge. Die eifersüchtige
Gemahlin, eine Menschenfresserin, befiehlt, die Kinder zu kochen
und ihrem Vater als Speise vorzusetzen, die Nebenbuhlerin Talia soll
verbrannt werden. Der Koch führt den Befehl nicht aus, der König
rettet Talia vor dem Feuer und lässt stattdessen seine hinterhältige
erste Frau verbrennen. In Charles Perraults Die schlafende Schöne im
Walde (La Belle au bois dormant) aus seinen Histoires ou contes du temps
passé, avec des moralitez von 1697 finden sich sieben Feen, die als Patin-
nen geladen werden und der Prinzessin Gaben verleihen sollen. Dabei
ist vergessen worden, eine alte Fee einzuladen, die einen Spindelstich
mit tödlicher Wirkung vorhersagt, der von einer jungen Fee in einen
hundertjährigen Schlaf umgewandelt wird. Das ganze Schloss fällt in
tiefen Schlaf. Nach der Erlösung durch den Prinzen wird geheiratet
und die Ehe vollzogen. Jacob Grimm wurde die Geschichte von Marie
Hassenpflug erzählt, die mit der französischen Märchentradition
vertraut war, also mit Perrault und mit Mme d’Aulnoy, die Motive des
Stoffes in ihrem Märchen Die Hirschkuh im Walde (1698) verarbeitete.
Bei den Grimms sind es nun zwölf bzw. 13 Feen, die Tugendhaftigkeit
der guten Figuren wird betont, die Sprache wird einfach und formel-
haft, die Figurenzeichnung wird eindimensional, Erotik und Sexuali-
tät werden ausgespart.
Die Gattung des Märchens ist, wie wir sehen, wenn wir auf die
16 Anfänge der Entwicklung ihrer Stoffe und Merkmale schauen, ein
Hybrid aus verschiedenen Gattungstraditionen und kulturellen Ein-
flüssen. Man könnte, um nur zwei besonders bekannte Beispiele zu
nennen, bis zu Homer und seiner Odyssee oder bis zu Ovid und seinen
Metamorphosen zurückgehen, um zu zeigen, dass die Verwandlung von
menschenähnlichen Figuren in Tiere, die Ausstattung solcher Figuren
mit magischen Fähigkeiten, das Nichtbeachten von (damals weitge-
hend unbekannten) Naturgesetzen tiefe Wurzeln in der Geschichte
der Weltliteratur hat. Diese hier vorliegende Auswahl beginnt mit der
Geschichte vom Bambussammler (entstanden um 900), um das Aufkom-
men solcher Motivtraditionen in verschiedenen Kulturkreisen zu
zeigen. Wenn es nicht anachronistisch wäre, weil es Nationen im heu-
tigen Sinn nicht gab oder mit den antiken griechischen und römischen
Staaten höchstens Vorläufer davon, dann könnte man sagen, dass Lite-
ratur bis ins zweite Jahrtausend auf ganz selbstverständliche Weise
international war. Das gebildete Publikum war klein und informierte
sich länder- und kulturkreisübergreifend, es bediente sich bei dem,
was es für geeignet für die eigene Arbeit und Vorstellungswelt hielt
und integrierte es, so wie bereits die Römer die griechische Mytholo-
gie übernommen und verändert haben. Von Vorstellungen des geis-
tigen Eigentums oder Copyrights, wie sie sich in westlichen Gesell-
schaften des 19. Jahrhunderts entwickeln, ist dies so weit entfernt wie
nur möglich. Das zeigt sich prägnant in Tausendundeine Nacht (Alf laila
wa-laila), hier sind die Herkünfte der Erzählungen und ihre Verfasser
weitgehend unbekannt. Das Muster einer Rahmenerzählung mit Bin-
nengeschichten findet sich ebenso in Giovanni Boccaccios Decameron.
Prencipe Galeotto (gedruckt 1470). Diese beiden Sammlungen werden
prägend für die späteren Novellen- und Märchenzyklen, auf Basiles
Pentameron wurde bereits hingewiesen. Im 18. und 19. Jahrhundert
beeinflussen sie dann die deutschsprachige Literatur, von Goethes
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) als erstem, berühmt
gewordenem deutschsprachigen Novellenzyklus, der mit Das Mär-
chen schließt, über Tiecks Phantasus (1812–1816) und Hoffmanns Die
Serapions-Brüder (1819–1821) bis zu den Märchenalmanachen Hauffs
(1826–1828) und über sie hinaus.

17
Einflüsse von Glauben und Aberglauben

Das Magische ist Bestandteil der Vorstellungs- und Erlebenswelt der

EINLEITUNG
Menschen, ob es nun religiös bestimmt wird oder im Sinne dessen,
was wir als Aberglauben bezeichnen, tradiert wird. Menschen suchen
nach Sinn und nach Erklärungen, für ihr Leben und für die (Um-)
Welt, in der sie leben. Das, was uns ausmacht, uns umgibt und uns
geschieht, als Produkt einer mehr oder weniger zufälligen Kette von
Entwicklungen zu betrachten, ist erst seit Charles Darwins Lehre von
der Entwicklung der Arten im 19. Jahrhundert ein breiter diskutiertes
Erklärungsmodell geworden, allerdings werden in den Naturwissen-
schaften kausale Zusammenhänge favorisiert. In der Wissenschaft
gibt es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seit diszipli-
nübergreifend diskutierte Theoriemodelle wie Konstruktivismus,
Diskursanalyse oder Dekonstruktion Konjunktur haben, eine breitere
Basis für die Auffassung, dass – mit Michel Foucault gesprochen – alles
auch ganz anders sein könnte und dass sich das, was ist, aus heteroge-
nen, komplexen Gründen so entwickelt hat. Diese »gesteigerte Kon-
tingenzerfahrung« (Hans Joas) prägt unsere (post-)moderne Zeit, aber
nicht die vorhergehenden Zeitalter.
Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto mehr ist das, was wir
als Merkmale von Märchen ansehen, Bestandteil allgemeiner religiö-
ser Vorstellungen oder ihrer allegorischen Gestaltung. Auch die Bibel
ist eine Textsammlung, die mit Motiven arbeitet, die wir als Merkmale
des Märchens wiederfinden. Dazu gehören Eingriffe anderer, höhe-
rer Ordnungen in das Handeln der menschlichen Figuren, magische
Eigenschaften und Requisiten. Wenn wir noch weiter zurückgehen,
stoßen wir auf die antike Götterwelt, auch sie ist zum Stoff- und
Ideenlieferanten des Märchens geworden. Erst im 18. Jahrhundert, in
dem das christliche Weltbild durch ein naturwissenschaftliches abge-
löst wird, wird es möglich, jene fundamentale Unterscheidung von
Religiösem oder Übernatürlichem einerseits und einer durch Natur-
gesetze bestimmten Alltagswelt andererseits zu treffen. Allerdings
ist ein Defizit an Transzendenz entstanden, das auf unterschiedliche
Weise kompensiert wird. Michel Foucault hat in diesem Zusammen-
hang festgestellt (in seiner Studie Folie et déraison, dtsch. Wahnsinn und
18 Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, von 1961):
»Was die [französische Epoche der] Klassik eingeschlossen hatte, war
nicht nur eine abstrakte Unvernunft, in der sich Irre und Freigeister,
Kranke und Verbrecher vermischten, sondern auch eine gewaltige
Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren [...].«
Die Monster bevölkern nun die Literatur, die ihnen ein Gesicht gibt,
man denke an die im 19. Jahrhundert von Mary Shelley und Bram
Stoker erschaffenen Figuren Frankenstein und Dracula. Monster
bevölkern auch das Märchen, einerseits domestiziert durch die und
in der Literatur, andererseits als Allgegenwart des Verdrängten. Kein
Wunder, dass die heutige Zeit von Monstern einerseits (Vampire,
Zombies …) und ganz unterschiedlichen religiösen Vorstellungen
andererseits nur so wimmelt, wobei dadurch neue Unsicherheiten
erzeugt werden, aus denen sich Fanatismus speist.
Wer es schwierig findet, mit Komplexität umzugehen, der ist für
einfache ›Wahrheiten‹ anfällig. Vielleicht kann aber gerade das Mär-
chen mit seiner Vielfalt an Figuren und Traditionen für Toleranz wer-
ben. Was Kinder betrifft, war bereits der Psychologe Bruno Bettelheim
davon überzeugt, dass sie Märchen brauchen (The Uses of Enchantment:
The Meaning and Importance of Fairy Tales, dtsch. Kinder brauchen Märchen,
von 1976), um sich im Medium der – vergleichsweise ungefährlichen –
Literatur ihren Ängsten stellen und so der Realität gestärkt begegnen
zu können.
Von religiösen Vorstellungen ist die Frage nach Leben und Tod
kaum zu trennen. Im Medium der Literatur werden mögliche Erklä-
rungsmodelle für das durchgespielt, was die Menschen unmittelbar
betrifft und ängstigt. Ein frühes, bereits erwähntes Beispiel ist das
Problem des Scheintods im Mittelalter. Menschen wurden, wenn sie
für tot galten, schnell begraben, um Seuchen zu verhüten, doch gab
es nicht die diagnostischen Möglichkeiten, den Tod auch zweifels-
frei festzustellen. Die Grenzen zwischen Leben und Tod, Diesseits
und Jenseits erscheinen fließend und es ist faszinierend, damals wie
heute, über die möglichen Übergänge nachzudenken. Der Tod spielt
im Märchen stets eine große Rolle, von Andersens Das kleine Mädchen
mit den Schwefelhölzern (1945) über Barries Peter Pan (1904), Antoine-
Marie-Roger de Saint-Exupérys Der kleine Prinz (1943) und C. S. Lewis’
Chronicles of Narnia (1950–1956), um einige berühmte Beispiele zu 19
nennen. Die kleine Streichholzverkäuferin bei Andersen erfriert,
sie wird allerdings ihren Platz »bei Gott« finden. In Barries Wun-

EINLEITUNG
derwelt Neverland kämpfen die Lost Boys gegen den Piraten Hook
und gegeneinander, dabei gibt es auch Tote. In deutschsprachigen
Übersetzungen wurden solche Passagen lange Zeit ausgespart, weil
man glaubte, sie Kindern nicht zumuten zu können. Im letzten Band
von Lewis’ Chroniken sterben die kindlichen Protagonisten bei einem
Zugunglück, aber sie leben in der Wunderwelt Narnia weiter – und
natürlich in der Literatur.
Schon E. T. A. Hoffmann hat mit Anselmus in Der goldne Topf
gezeigt, dass das Märchen prädestiniert ist für eine metafiktionale
Lesart: Im Medium der Fiktion wird gezeigt, wie Fiktionen entstehen.
Walter Moers hat dieses Konzept in seinen Zamonien-Romanen
(seit 1999) mit der Figur des schreibenden Lindwurms Hildegunst
von Mythenmetz und seines ›Übersetzers‹ Walter Moers noch ein-
mal radikalisiert, insbesondere in der Trilogie von den »träumenden
Büchern«, in denen die Buchlinge vorkommen, die anagrammatische
Namen großer Dichter tragen und sich lediglich von der Lektüre
›ihres‹ Autors ernähren. Ob diese Selbstbezüglichkeit auch, wie in der
Romantik, die Idee von einem früheren, wiederzuerlangenden Golde-
nen Zeitalter speist, ob sie pantheistische oder religiöse Vorstellungen
auf spezifisch märchenhafte Weise mit einschließt, ob sie das Spiel der
Fantasie zelebriert, ohne eine Ebene der Transzendenz zu evozieren
oder zu benötigen, ist von Text zu Text verschieden.

Entwicklungslinien der Gattung

Die märchentypischen Merkmale können sich, wie beispielhaft


gezeigt, erst im Laufe der Jahrhunderte, in unserem Kulturkreis insbe-
sondere in der Moderne seit dem 18. Jahrhundert, zu dem entwickeln,
was wir heute unter Märchen verstehen. Es handelt sich zunächst um
lange Erzählungen, oft in Versform, die von Königen und Prinzen,
Königinnen und Prinzessinnen, Figuren mit magischen Fähigkeiten,
sprechenden Tieren, Drachen und magischen Gegenständen handeln.
Das Feld solcher Texte ist viel zu groß, um hier mehr als beispielhaft
20 vermessen zu werden, man denke an die Erzählungen von den Nibe-
lungen mit dem Drachentöter Siegfried oder von Artus, Merlin und
dem Heiligen Gral. Wie die Gesellschaft hat sich auch die Literatur
immer weiter ausdifferenziert. Seit dem 19. Jahrhundert werden, in der
dichterischen Praxis wie in der Literaturkritik und in der Literatur-
wissenschaft, Merkmalszuschreibungen erprobt und vorgenommen,
mit denen sich Gattungsbegriffe wie Sage, Legende, Märchen, Erzäh-
lung, Novelle voneinander unterscheiden lassen. Allerdings bleibt das
Märchen keineswegs exklusiv auf Prosa beschränkt, wie beispiels-
weise die einflussreichen Märchendramen zeigen, man denke an
Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater, erstmals 1797 erschienen und in den
Märchen- und Novellenzyklus Phantasus (1812–1816) aufgenommen.
Tiecks Märchenspiel um die kluge, sprechende Katze ist hochmodern:
Zuletzt erscheint sogar der Dichter auf der Bühne und wird, Gipfel der
ironischen Konzeption, nachdem er die Zuschauer beschimpft hat,
von diesen verjagt. (Peter Handkes Publikumsbeschimpfung wird 1966
dieses Konzept radikalisieren.) Die lange und ungebrochene Tradi-
tion des Märchens im Drama zeigen beispielsweise auch die vielen
Märchenbearbeitungen der englischen Tradition der ›Pantomime‹, das
sind in der Vorweihnachtszeit aufgeführte, vor allem durch Slapstick
und Wortwitz wirkende Lustspiele.
Allerdings ist die Hoch-Zeit des Märchens, in seiner engen Be-
griffsbedeutung, in den westlichen Gesellschaften wie der unseren
vor allem auf das späte 18. und das 19. Jahrhundert beschränkt. In rund
einem Jahrhundert entwickeln sich das Volks- oder Buchmärchen
und das Kunstmärchen vor allem in Frankreich, Deutschland und
Großbritannien, um ihren Siegeszug in andere Länder und Kulturen
anzutreten und anschließend wieder Tendenzen der Auflösung ausge-
setzt zu werden. Wichtigster Grund für die erneuten Veränderungen
in der Gattung ist ein Paradigmenwechsel um die Jahrhundertwende.
Unter den führenden Intellektuellen setzt sich die Auffassung durch,
dass es nicht mehr möglich ist, von einer teleologischen Entwicklung
und einem einheitlichen Weltbild auszugehen. Grund sind die neue-
ren Erkenntnisse aus Wissenschaft, Politik und Geschichte. Sigmund
Freud hat 1917, in seiner Abhandlung Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse,
die Veränderung prägnant auf drei ›Kränkungen der Menschheit‹
zurückgeführt und von der »Zerstörung dieser narzißtischen Illusion« 21
des Menschen gesprochen. Mit der ›Kopernikanischen Wende‹ (der
Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt des Universums), Darwins An-

EINLEITUNG
thropologie (der Mensch »ist selbst aus der Tierreihe hervorgegan-
gen«) sowie der Psychoanalyse sei das vormals so mächtige Subjekt
dezentriert worden. Die Psychoanalyse selbst habe gezeigt, »daß das
Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«. Nicht nur für Freud und seine
Psychoanalyse, auch für Autoren stehen schon längst Versuche, All-
macht auszuleben, unter Hybrisverdacht. In einer hierarchisch struk-
turierten und autoritären, immer noch dem Feudalismus verpflich-
teten Gesellschaft, unter dem Eindruck von Kriegen, Genoziden und
sozialen Verwerfungen, muss progressive Literatur Vorstellungen
einer durch den Fortschritt immer besser werdenden Welt, in der alles
seinen richtigen Platz hat oder findet, eine Absage erteilen. Die Reali-
tät sieht bereits ganz anders aus, selbst wenn es viele nicht wahrhaben
wollen. Gerade deshalb wird antimoderne oder ›völkische‹ Literatur
und auch die Trivialliteratur an dem Konzept festhalten, dass es ledig-
lich eine Frage der Zeit ist, die beste aller möglichen Welten zu schaf-
fen, und den Wunschtraum mit klischeehaften Figuren und Happy-
Endings rosarot ausmalen. In diesem Sinne sind triviale Romane wie
Twilight (2005) von Stephenie Meyer und Shades of Grey (2011) von
E. L. James sowie ihre Fortsetzungen (post-)moderne triviale Mär-
chen. Mit der beobachtbaren Realität haben sie nichts zu tun, dafür
bedienen sie die Sehnsucht nach Nähe und dauerhaften menschlichen
Beziehungen. Anders als die in diesem Buch vorgestellten, originellen
Texte dienen solche klischeehaften, leicht austauschbaren Erzählun-
gen lediglich als Placebo. Auch nach der Lektüre, die nicht zu Einsich-
ten in die Probleme der eigenen Welt führt und daher auch nicht für
mögliche Veränderungen aktiviert, bleibt alles so frei von Wundern,
wie es das vorher schon war.
Die Konsequenzen der um 1900 – sich aus der menschlichen
Selbstüberschätzung ergebenden – Desillusionierung sind auch für
die Entwicklung des Märchens gravierend. Allerdings lassen sich vier
Typen unterscheiden, von denen sich zwei bereits im 19. Jahrhundert
so weit entwickeln, dass sie die Veränderungen aufnehmen und inte-
grieren können.
22 Eine Tradition wird sich fortsetzen und schließlich dominieren:
Bereits im 19. Jahrhundert wird das Märchen zunehmend zu einer
Gattung für Kinder. Kindheit, so verstanden, wie wir sie heute kennen,
entsteht als geschützter Raum, der mit Freizeit und auch mit freieren
Formen des (Selber-)Lernens verbunden ist, erst seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts, so dass beides koinzidiert, die Entwick-
lung des Märchens als Gattung und die Abkehr von der Auffassung,
dass Kinder nur kleine, defizitäre Erwachsene sind. Im 20. Jahrhundert
wird Kindern eine immer größere Autonomie zugesprochen, man
denke an J. M. Barries Peter Pan (1904). Neben Erich Kästners und
Astrid Lindgrens märchenhaften Kinderbüchern (etwa Kästners Der
35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee von 1931 oder Lindgrens Mio, mein
Mio von 1954, die beide noch keinen Platz im Kindler gefunden haben)
werten etwa Tove Janssons Die Muminbücher (1945–1970), Otfried
Preußlers Der Räuber Hotzenplotz (1962) oder Roald Dahls Kinderbücher
(1961–1990) die kindliche Perspektive weiter auf.
Die zweite Tradition bilden Märchen, die sich, wenn sie sich auch
an Erwachsene richten, immer stärker von einem Editions- zu einem
Interventionsprojekt wandeln, das gesellschaftliche Verhältnisse kri-
tisch spiegelt. Bereits E. T. A. Hoffmann nutzte, wie wir gesehen haben,
die Gattung des Märchens für Kritik an Verhaltensweisen seiner
Zeit und Gesellschaft. Auch Wilhelm Hauff, Lewis Carroll oder Oscar
Wilde entwickelten ihre jeweils eigenen Konzepte, im Medium des
Märchens auf Defizite der zeitgenössischen gesellschaftlichen Ord-
nungen an- und diese durchzuspielen. Das Ende von Oscar Wildes
The Star-Child, dtsch. Das Sternenkind, aus A House of Pomegranates, dtsch.
Ein Granatapfelhaus, von 1891 hat nur ein scheinbares Happy-End. Nach
erfolgreichem Bestehen aller Prüfungen heißt es über den jungen
König: »Doch er regierte nicht lange, zu groß war sein Leid gewesen
und zu verzehrend das Feuer seiner Prüfung, und nach drei Jahren
starb er. Und der nach ihm kam, herrschte böse.« Damit wird das Hoff-
nung spendende Ende in sein Gegenteil verkehrt – auch im Märchen
geht nicht mehr notwendigerweise alles gut aus, sogar das Gegenteil
kann der Fall sein. Tragisch und bezeichnend ist, dass Wilde diese
Erfahrung am eigenen Leib machen musste. Wegen seiner Homose-
xualität gerichtlich verurteilt, wurde er von der britischen Gesellschaft
geächtet und starb einen frühen Tod als gebrochener Mann. Dass 23
er heute als einer der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur gilt,
gehört zur Ironie der (Literatur-)Geschichte.

EINLEITUNG
Der dritte Typus ist radikal im Sinne der literarischen Avantgarde
um 1900. In Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht (1895)
ist so gut war gar nichts Märchenhaftes mehr zu entdecken. Die Frage
ist, ob man solche Texte noch, wie es beispielsweise Volker Klotz (Das
europäische Kunstmärchen; 1985) auch bei Franz Kafka gesehen hat, als
Fortsetzung der Gattung einstufen sollte. In Kafkas Die Verwandlung
(1915) erwacht Gregor Samsa als Ungeziefer, die Naturgesetze der
beobachtbaren Wirklichkeit der Leser greifen nicht mehr. Ob dies
genügt, um in dem Text ein Märchen zu sehen?
Einen wieder anderen Weg geht der vierte Typus. Ebenso humor-
voll wie ironisch adaptieren beispielsweise Hans Traxler mit Die Wahr-
heit über Hänsel und Gretel (1963) oder Walter Moers mit Ensel und Krete.
Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz (2000) eines
der bekanntesten der Kinder- und Hausmärchen, parodieren die Gattung
und kritisieren dabei die Wissenschaftsgläubigkeit des Lesepubli-
kums (Traxler) oder den Literaturbetrieb (Moers) mit den Mitteln der
Satire.
Märchen und Fantasy

Das Märchen ist in der Wahrnehmung einer breiten Leserschaft


abgelöst worden durch Fantasy-Literatur. So wird, auch wenn sich
die grundlegenden Motive des Wirklichkeitsmärchens finden, die
Harry-Potter-Serie wohl eher als Fantasy denn als Märchen einge-
stuft. Fantasy hat vor allem in der Gegenwart Konjunktur, während
dem Märchen etwas Traditionelles, um nicht zu sagen: Altbackenes
anhaftet. Wie bereits erwähnt, geht der Begriff Fantasy ursprünglich
auf E. T. A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callot’s Manier zurück, man
könnte also argumentieren, dass sich die Gattung aus dem Märchen
entwickelt hat und vielleicht sogar eine – in dieser Zählung wäre es
die fünfte – Sonderform des Märchens ist. Es gibt aber auch deutliche
Unterschiede, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet und Fantasy
als eigene Gattung etabliert haben. J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings
24 (1954/55 in drei Bänden erschienen) gilt als der paradigmatische
Fantasy-Roman (oder als paradigmatische Romantrilogie, die Einzel-
bände sind bekanntlich nicht in sich abgeschlossen). Tolkien bedient
sich beim Figurenpersonal und den Requisiten der mittelalterlichen
Mythen- und Sagenwelt. Zugleich schafft er mit Mittelerde eine archa-
ische Welt, die in ihrer Struktur Ähnlichkeiten mit dem Mittelalter
aufweist: Es regieren Könige oder absolute Herrscher, es gibt Kämp-
fer, die Rittern gleichen, der gesellschaftliche Entwicklungsstand
entspricht der Zeit der großen Epen. Auch bei Tolkien finden sich
mit magischen Fähigkeiten begabte Figuren wie Zauberer oder Elfen
sowie magische Requisiten, allen voran der titelgebende Ring. Die vor
allem seit der Aufklärung bekannten Naturgesetze können in dieser
Welt außer Kraft gesetzt sein oder werden. Andererseits setzt Fantasy
eher auf das, was Tzvetan Todorov in seiner Einführung in die fantastische
Literatur (1972) als das »Unheimliche« bezeichnet und vom »Wun-
derbaren« abgrenzt. Nach Todorov ist Fantastik eigentlich dadurch
charakterisiert, dass sie auf dem schmalen Grat der Unschlüssigkeit
zwischen dem Unheimlichen und dem Wunderbaren wandelt. Sobald
der Leser meint, die Naturgesetze sind im Text modifiziert worden
und es gibt eine Welt, die nach eigenen Regeln funktioniert, ist er im
Bereich des Wunderbaren. Wenn aber etwas in die erzählte Welt ein-
bricht, das sich auch innerhalb dieser Welt nicht erklären lässt und die
geltenden Naturgesetze übersteigt, gehört der Text zum Bereich des
Unheimlichen. Todorovs Definition ist viel zitiert und oft angezwei-
felt worden, doch gibt es kaum schlüssige Erklärungsmodelle und die
Definition von Fantasy soll hier auch nur in Abgrenzung zur Gattung
des Märchens interessieren. Todorovs Unterscheidung kann, wenn
man sie etwas verändert, immer noch nützlich sein.
E. T. A. Hoffmann traf eine Unterscheidung zwischen Märchen
und Nachtstücken, zu denen die berühmte Erzählung Der Sandmann
(1816) gehört. Nach der Lektüre des Sandmann ist es tatsächlich nicht
möglich zu entscheiden, ob innerhalb des Texts die Naturgesetze
außer Kraft gesetzt werden (zentral hierfür ist die Magier-Doppel-
gänger-Figur Coppelius/Coppola) oder ob Protagonist Nathanael
aufgrund eines kindlichen Traumas dem Wahnsinn verfällt. Daher ist
der Sandmann ein Paradebeispiel für Todorovs Definition des Fantasti-
schen, und das, obwohl Sigmund Freuds Abhandlung Das Unheimliche 25
(1919) vor allem auf den Sandmann Bezug nimmt. Bei Tolkien ist es aber
anders, nach Todorovs Definition würde gerade der berühmte Herr

EINLEITUNG
der Ringe nicht zur Fantasy gehören, weil hier innerhalb der erzählten
Welt die Naturgesetze aufgehoben oder modifiziert worden sind – es
würde sich demnach um ein Märchen handeln. Ein Weg aus dem
definitorischen Dilemma könnte sein, sich vielleicht nicht nur, aber
verstärkt an der Praxis zu orientieren. Die meisten Fantasy-Texte
handeln von einer archaischen, mit mittelalterlichen Zügen ausgestat-
teten, eher an Gattungen wie Epos, Sage und Legende anschließenden
Welt, die immer auch grausam und deshalb unheimlich ist, während
das Märchen konsequent auf das Wunderbare setzt. Im Märchen geht
es nicht primär um den Nervenkitzel durch tödliche Gefahren, die es
durchaus auch gibt, sondern um eine Bewältigung von Mangelsitu-
ationen und Lösung von Aufgaben, für die ein Figurenpersonal und
Requisiten zur Verfügung stehen, die märchentypisch geworden sind.
Literatur ist kein Baukastensystem und kann es auch nicht sein,
weil gute Literatur immer innovativ ist, also Regeln nicht bestätigt,
sondern durchbricht und neue etabliert. Deshalb wird es immer eine
Einzelfallentscheidung sein und unterschiedliche Auffassungen
darüber geben, wo die Grenze zwischen Fantasy und Märchen ver-
läuft. Nehmen wir beispielsweise die Zamonien-Romane von Walter
Moers. Nach der hier vorgeschlagenen ›weichen‹ Definition würde die
Grenze mitten durch die Romane verlaufen. Der sprechende Bär in
Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär (1999), die Lösung von Aufgaben und
anderes mehr sprechen für die Einordnung dieses Romans als Mär-
chen. Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythen-
metz (2000) und Der Schrecksenmeister (2007) schließen direkt an die
Gattung Märchen an, im Schrecksenmeister adaptiert Moers Gottfried
Kellers Märchen Spiegel, das Kätzchen (1856). Hingegen variiert Rumo
& Die Wunder im Dunkeln (2003) eher Motive der Fantasy. Der Held
geht auf eine Queste, so wie Ritter der mittelalterlichen Epik auf eine
große Suche gingen, man denke an die Artusritter und den Heiligen
Gral. Hinter jeder Ecke lauern Gefahr und Grausamkeit, Erlösung ist
nur in der – nach vielen, beinahe tödlichen Abenteuern zu erlangen-
den – Liebe zu finden. Rowlings Heptalogie um den Zauberlehrling
26 Harry Potter (1997–2005) mit ihrem Dualismus der zwei Welten, mit
den märchentypischen Figuren und Requisiten, wäre hingegen eher
ein Wirklichkeitsmärchen in der Nachfolge von E. T. A. Hoffmanns Der
goldne Topf (1814), auch wenn sich bei Rowling viele Bezugnahmen auf
die mittelalterliche Epen- und Sagenwelt finden lassen.
Wo immer nun die Grenze zwischen Märchen und Fantasy ver-
läuft – Märchen ist der ältere, traditionsreichere, eingeführte Begriff
und Fantasy eine interessante neuere, sich weiter entwickelnde Gat-
tung, die weniger an typische Merkmale gebunden ist und sich frei bei
der mittelalterlichen »Welt von Monstren« (Foucault) bedienen kann.
Vielleicht ist Fantasy deshalb so populär und zeitgemäß – die Gattung
bietet eine offene Form für die Begegnung mit Ängsten, die in einer
durchrationalisierten Welt oft keinen Platz haben, und für große,
unauslebbare Gefühle; auch wenn es sich oft um triviale Texte handelt,
die wohl eher zur Ablenkung und Beruhigung dienen als dazu, aus der
Modellierung von Problemen der defizitären Wirklichkeit mögliche
Verbesserungs- oder gar Lösungsansätze zu gewinnen.
Geschlechterrollen

An den Märchen lässt sich auch die Entwicklung der Geschlechter-


rollen nachvollziehen. Die Frauenfiguren werden traditionell den
Männerfiguren untergeordnet, doch gibt es bereits erste Heldinnen,
die zumindest durch ihr Verhalten zeigen, dass sie den männlichen
Figuren klar überlegen sind – man denke an den aus Enttäuschung
über einen Ehebruch seiner Frau zum Mörder gewordenen König
Šahriyār, der durch die Erzählungen von Šahrazād (Scheherazade) auf
den Weg des richtigen Verhaltens zurückgeführt wird. Allerdings darf
man auch hier nicht übersehen, dass der Aufwertung der einen, klugen
Frauenfigur die Geringschätzung des Lebens vieler anderer Frau-
enfiguren gegenübersteht. Der von den Brüdern Grimm durch die
Figurengestaltung der Kinder- und Hausmärchen tradierte bürgerliche
Wertekanon setzt eine klare Hierarchie von (passiven) Frauen und
(aktiven) Männern voraus. 27
Erst in der jüngsten Literatur werden Frauenfiguren deutlich
aufgewertet. Die Bedeutung von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf

EINLEITUNG
(1945–1948) dürfte, nicht nur für die Kinder- und Jugendliteratur,
hierbei kaum zu überschätzen sein. Noch heute, so ist anzunehmen,
übertrumpfen die männlichen Märchenfiguren die weiblichen nicht
nur zahlenmäßig. Selbst Joanne K. Rowling macht einen Jungen
zum Helden ihrer Romanserie und stilisiert ihn zu einer Erlöserfigur.
Wie Jesus kehrt er von den Toten zu den Lebenden zurück und darf,
anders als Jesus, auf Erden bleiben, heiraten und Kinder zeugen. Doch
es gibt auch Texte, die solche antiquierten Konzepte durchkreuzen.
In Johanna Sinisalos Ennen päivänlaskua ei voi, dtsch. Troll. Eine Liebesge-
schichte (2000), werden queere, homesexuelle Figuren dargestellt und
bereits durch ihre neu errungene Literaturfähigkeit aufgewertet.

Fremdheitserfahrungen

In Zeiten, in denen (wieder einmal oder immer noch) Menschen,


nur weil sie aus anderen Ländern oder Kulturkreisen kommen, als
›Fremde‹ angesehen werden und in denen ›fremd sein‹ zugleich unhin-
terfragt auch ›minderwertig sein‹ bedeutet, kann das Märchen zeigen,
dass Fremdheit immer das Ergebnis einer durch Menschen geworde-
nen, von Menschen gemachten Praxis kultureller Zuschreibungen ist.
Bereits der Blick auf die Geschichte des Märchens relativiert jede
Grenze zwischen Ländern und Kulturen. Tausendundeine Nacht (Alf laila
wa-laila), eine der wichtigsten Textsammlungen für die Literatur der
Neuzeit, hat Wurzeln in Indien und den arabischen Ländern. Oidheadh
Chloinne Tuireann, dtsch. Der Tod der Kinder Tuireanns (1375), bezieht, wie
viele andere Texte und Sammlungen auch, Ideen unter anderem aus
der antiken Literatur. Es finden sich etwa die für das Märchen typi-
schen drei Brüder oder die mit Hilfe von magischen Gegenständen zu
lösenden Aufgaben. Doch auch im 19. Jahrhundert, in der das Märchen
als eigenständige Gattung, darunter – bereits die Gattungsgrenzen
durch seine kluge Nonsens-Nichtordnung sprengend – Lewis Carroll,
seine vielleicht größte Wirkung zu entfalten beginnt, lässt sich die
Wirkung nicht auf einzelne Sprachen und Literaturen begrenzen.
28 Freilich hat das Märchen, gerade in der jüngeren Geschichte, auch
eine zwiespältige Rolle, soll es doch der jeweils eigenen Kultur und
Literatur eine Grundlage geben und abgrenzend zu anderen Kultu-
ren und Literaturen wirken. Dabei können sogar ›fremde‹ Kolonial-
mächte ihre Hände im Spiel haben, wie das Beispiel Abubakar Imam
mit Magana Jari Ce (1937–1939) zeigt: »In der Kolonie Nigeria forderte
Rupert East, britischer Educational Officer, Imam zum Schreiben auf
und gab ihm als Anregung arabische, indische, persische und europä-
ische Literatur. Imams Talent war East 1933 bei einem Schreibwett-
bewerb aufgefallen. Das über 600 Seiten starke Buch wurde wunsch-
gemäß in lateinischer Schrift verfasst; Ziel war die Ablösung der
arabischen Schrift« (Hannelore Vögele). Das ebenso Produktive wie
Paradoxe dieser Entwicklung gilt es in den Blick zu nehmen, will man
das Bedürfnis nach Identitätsbildung einer Gesellschaft oder Sprach-
gemeinschaft ebenso beachten wie das Hybride, aus vielen ›fremden‹
Einflüssen Gespeiste dieser weniger rekonstruierten als konstruier-
ten ›eigenen‹ Kultur und Literatur.
Medienwechsel

Die Popularität der Gattung Märchen ist ungebrochen, dabei hat


sie auch mehrere Medienwechsel vollzogen. Saint-Exupérys Le petit
prince, dtsch. Der kleine Prinz (1943), wäre ohne die wunderschönen
Bilder gar nicht zu denken. Tove Janssons Muminbücher (1945–1970)
verbinden Text und Bild auf kongeniale Weise, so dass die Zeichnun-
gen noch heute, insbesondere im skandinavischen Raum, ikonischen
Charakter haben. Der Schriftsteller, Zeichner und Karikaturist Walter
Moers spielt in den Zamonien-Romanen (seit 1999) mit allen nur
denkbaren Möglichkeiten der Illustration und grafischen Gestaltung.
Zahlreiche Märchenstoffe sind für Lieder, Ballett und Oper adap-
tiert worden und zu Klassikern avanciert, man denke an Les contes
d’Hoffmann, dtsch. Hoffmanns Erzählungen, von Jacques Offenbach (1851),
das Libretto schrieben Jules Barbier und Michel Carré, oder an Turan-
dot von Giacomo Puccini (1924), das Libretto verfassten Giuseppe 29
Adami und Renato Simoni nach dem gleichnamigen Märchendrama
von Carlo Gozzi (1772). Walt Disneys Märchenfilm Cinderella (1950)

EINLEITUNG
geht auf Perrault zurück, doch auch die Fassungen der Brüder Grimm
sind weiterhin im internationalen Film-Gedächtnis präsent und die
Stoffe entwickeln ein Eigenleben, wie beispielsweise die im New York
der Gegenwart angesiedelte Disney-Komödie Enchanted, dtsch. Ver-
wünscht (2007), zeigt, die von animierten Figuren zu realen Schauspie-
lern wechselt, so wie sich dies etwa auch in der zauberhaften Disney-
Verfilmung von Pamela L. Travers’ Roman Mary Poppins zeigt (Roman
1934, Film 1964). Es gibt viele berühmte Beispiele des Märchenfilms,
etwa die von Schwarzweiß in Farbe – in der ganz frühen Zeit des Farb-
films eine Sensation – wechselnde Verfilmung von L. Frank Baums The
Wizard of Oz, dtsch. Der Zauberer von Oz, von 1939; ein Musical, dessen
Titelmelodie wohl jeder aus dem Gedächtnis heraus summen kann,
der überhaupt einmal Filme geschaut hat. Der Animationsfilm pflegt
eine besondere Beziehung zum Märchen, wie die Serie der Verfilmun-
gen um den Oger Shrek aus dem Hause DreamWorks zeigt (2001 ff.).
Viele populäre Märchenfiguren kommen in diesem parodistischen
Meta-Märchen vor, das sich frei bei der Gattungsgeschichte bedient
und selbst den eigenen Umgang damit humorvoll reflektiert. Origi-
nell, weil die stereotyp gewordene Märchenmotivik durchkreuzend,
ist der unübliche Schluss des ersten Films – nicht der Oger wird zum
Prinzen, sondern die Prinzessin entscheidet sich, ein Oger zu werden.

Das Märchen als Poesie der Poesie

Zahlreiche andere Metamorphosen der Gattung wären zu nennen


und jede Beschäftigung mit ihr kann immer nur eine Expedition
in ein Land sein, das so wandlungsfähig und unerschöpflich ist wie
seine Namen, ob es nun Dschinnistan heißt (C. M. Wieland, E. T. A.
Hoffmann), Atlantis (E. T. A. Hoffmann, Walter Moers), Narnia (C. S.
Lewis), Phantásien (Michael Ende) oder Zamonien (Walter Moers).
Wie Michael Endes Bastian kann jede Leserin und jeder Leser selbst
die wunderbare Welt in ihrer oder seiner Fantasie weiter ausgestalten
und dafür sorgen, dass Phantásien nicht untergeht.
Mit dem vorliegenden Band lässt sich vielleicht nicht auf eine
märchenhafte Reise, aber auf eine Reise durch das Märchen gehen, an
verschiedenste Orte zu verschiedensten Zeiten, mit Hinweisen auf
Textsammlungen und Texte, die aus Platzgründen stellvertretend für
viele andere stehen müssen. Alle diese Orte und Zeiten repräsentieren
dabei auch die Vielfalt und Innovationskraft kultureller Hervorbrin-
gungen der Menschheit. Eine Menschheit, die sich, trotz aller Abhän-
gigkeiten und allen Scheiterns von guten Absichten, durch eine Fähig-
keit auszeichnet, die nicht genug zu schätzen ist – die wunderbare
Gabe zum Wunderbaren, zum freien Spiel der Fantasie, zum Schaffen
von anderen, fremden Welten, die eigenen Gesetzen gehorchen.
Wenn sich auch fiktionale Literatur allgemein durch ein solches freies
Spiel der Fantasie auszeichnet, so ist doch das Märchen ihre Potenzie-
rung, weil es sich an keine naturgesetzlichen Wahrscheinlichkeiten
halten muss und so zu dem wird, was die Dichter der Romantik immer
schon in ihm gesehen haben – zur Poesie der Poesie.
Literatur in Auswahl

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schaftsgeschichte. Hildesheim u. a. 1995.
Bottigheimer, Ruth B.: Fairy Tales. A New History. Albany, New York 2009.
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züge. 2., erw. Aufl. Darmstadt 1988.
Karlinger, Felix (Hg.): Wege der Märchenforschung. Darmstadt 1973.
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Lange, Günter (Hg.): Märchen – Märchenforschung – Märchendidaktik. 3. Aufl.
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Mayer, Mathias/Jens Tismar: Kunstmärchen. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/
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Mazenauer, Beat/Severin Perrig: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann.
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Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen/Basel 2005.

EINLEITUNG
Pöge-Alter, Kathrin: Märchenforschung. Theorien, Methoden, Interpretationen.
3. Aufl. Tübingen/Basel 2016.
Ranke, Kurt/Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Hand-
wörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Unter
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Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart
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Roth, Dieter/Walter Kahn (Hg.): Märchen und Märchenforschung in Europa.
Ein Handbuch. Frankfurt/Main 1993.
Scherf, Walter: Das Märchenlexikon. 2 Bde. München 1995.
Zipes, Jack (Hg.): The Oxford Companion to Fairy Tales. 2. Aufl. Oxford 2015.
Die Geschichte vom Bambus-
sammler / Taketori monogatari
Das um 900 verfasste Märchen ist die älteste überlieferte Prosaerzäh-
lung Japans, die bereits zur Zeit der Entstehung von Genji monogatari
(Geschichte des Prinzen Genji) der Hofdame Murasaki Shikibu (etwa
978–1014) als Vorfahre der Gattung Erzählung galt und zu den soge-
nannten ›fiktiven Erzählungen‹ (›tsukuri monogatari‹) gerechnet wird.
Weder der Verfasser noch die Entstehungszeit ist bekannt; datieren
lässt sich das Werk auf der Grundlage inhaltlicher Kriterien (Namen
historischer Personen, Vulkanausbruch des Berges Fuji und ähnliches)
auf 870 bis etwa 910. Im 8. und 9. Jh. nach Japan eingeführte chinesi-
sche Erzählungen wie Märchen, Fabeln und Humoristisches lieferten
die Vorlage für dieses Märchen über die Mondprinzessin Kaguyahime,
die auf der Erde von einem alten Bambussammler und seiner Frau
großgezogen und aufgrund ihrer Schönheit von Freiern umworben 33
wird, bis sie schließlich – nachdem sie auch den japanischen Kaiser
abgewiesen hat – in ihre Heimat zurückkehrt. Aufgezeichnet ist das

DIE GE SCHICH T E VOM BA MBUS SA MML ER


Märchen in japanischer Sprache mit Hilfe von kursiven Silbenzeichen
(›hiragana‹) und mit wenigen chinesischen Logogrammen.
Das Werk hat einen geschlossenen Erzählrahmen und gliedert
sich in zehn Abschnitte: 1. Kaguyahime wird von einem alten Bambus-
sammler in einem hell leuchtenden Bambus gefunden und von ihm
und seiner Frau als Kind aufgenommen. Sie entwickelt sich innerhalb
von drei Monaten zu einer prächtigen jungen Frau. 2. Ihre Schönheit
lockt fünf junge Adlige an, die um ihre Hand anhalten, sie stellt diese
aber vor unlösbare Aufgaben. Kapitel 3 bis 7 beschreiben die fruchtlo-
sen Versuche der Freier, Geschenke wie die Steinschale des Buddha,
den unbrennbaren Pelz der Feuerratte oder einen mit Edelsteinen
besetzten Zweig vom Berge Hōrai herbeizubringen. Der Aussichtslo-
sigkeit ihres Unterfangens bewusst oder von profitgierigen Händlern
betrogen, versuchen nun die Freier, Kaguyahime zu täuschen, indem
sie ihr Fälschungen vorlegen, die sie aber als solche erkennt. 8. Auch
dem Kaiser kommt ihre Schönheit zu Ohren, und es gelingt ihm, einen
Blick auf sie zu erhaschen. Sie widersetzt sich jedoch seinem Werben
unter Berufung auf ihre Herkunft, obgleich sie eine gewisse Sympa-

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_1, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
thie für ihn empfindet. 9. Nach drei Jahren schließlich, die Kaguya-
hime – wie wir erfahren – als Strafe für ein Vergehen in armseligen
und niederen Verhältnissen verbringen sollte, wird sie nach einem
rührenden Abschied von ihren irdischen Eltern von Himmelsscharen
aus der Hauptstadt des Mondes nach Hause geführt. Die Versuche des
Kaisers, dies mit Hilfe von Soldaten zu verhindern, scheitern. Kagu-
yahime legt ihr Federgewand an, wodurch sich mit einem Schlag alle
irdischen Bindungen und Empfindungen verflüchtigen, und sie ent-
schwindet. 10. Der trauernde Kaiser muss ihr nun endgültig entsagen:
Ein kaiserlicher Bote entzündet den von ihr zurückgelassenen Trank
der Unsterblichkeit und ihren Brief als Zeichen seines Verzichts auf
dem Berg Fuji.
Die Bedeutung des Werks innerhalb der japanischen Literatur-
geschichte liegt in der Erprobung des japanischen Schriftstils, der
jedoch noch in manchem der chinesischen Schriftsprache verpflichtet
34 ist. Der Text ist durchsetzt von fiktiven Etymologien, die in Wort-
spiele gekleidet sind und mit der Homonymie (eigentlich Homo-
graphie) von Wörtern wie ›Schale‹ und ›Scham‹ (›hachi‹/›haji‹; der
Unterschied wurde in der Silbenschrift nicht markiert), ›Edelstein‹
und ›Seele‹ (›tama‹), ›Mut‹ und dem Familiennamen Abe (›ahe‹/›abe‹)
spielen. Der Text zeigt also ein eindeutiges Bewusstsein von den Mög-
lichkeiten der japanischen Silbenschrift (›kana‹) im Gegensatz zu den
chinesischen Logogrammen (›mana‹).
Inhaltlich darf über den märchenhaften Charakter der Erzählung
der Bezug zur aktuellen Geschichte nicht übersehen werden. In der
Zeichnung der fünf abgewiesenen Freier, die anhand historischer
Quellen realen Persönlichkeiten des 7. Jh.s zugeordnet werden konn-
ten, kommt die Unzufriedenheit mit der politischen Vorherrschaft der
Fujiwara-Familie, die im 7. Jh. begonnen und sich um 900 bereits fest
etabliert hatte, eindeutig zum Ausdruck. JUDIT ÁROKAY
Tausendundeine Nacht /
Alf laila wa-laila
Das Werk ist eine orientalische Sammlung von Erzählungen, die in
eine charakteristische Rahmenhandlung eingebunden sind. Sie geht
auf einen vorislamischen iranischen Prototyp zurück, der zum Teil auf
Elementen indischen Ursprungs beruht und in verschiedenen Stufen
in der arabischen Welt seine spätere Prägung erhielt.
Im Westen wurde sie durch die adaptierte französische Überset-
zung von Antoine Galland (1704–1717) bekannt und entwickelte sich
seither zum wirkungsmächstigsten literarischen Beitrag des ›Orients‹
zur Weltliteratur nach der Bibel. Wenngleich oft als ein spezifisches
Buch betrachtet, ist Tausendundeine Nacht eher ein literarisches Phäno-
men, da das Werk über eine lange Zeitspanne durch Mitwirkung zahl-
reicher anonymer Verfasser geprägt wurde.
Die Rahmenerzählung schildert die Geschichte des sasanidischen 35
Königs Šahriyār und seines Bruders Šāhzamān, des Herrschers von
Samarkand. Tief getroffen durch die sexuelle Untreue ihrer Frauen zie-

TAUSENDUNDEINE NACH T
hen beide zusammen in die Welt, um herauszufinden, ob es überhaupt
treue Frauen gäbe. Eines Tages sehen sie aus einem Versteck heraus
einen Dämon, der eine wunderschöne Frau in einer Kiste gefangen
hält. Als der Dämon schläft und die Frau frei ist, zwingt sie die Brüder
zum Sexualakt und eröffnet ihnen danach, dass sie diesen trotz der
strengen Bewachung bereits mit zahlreichen Männern vollzogen
habe. So überzeugt sie die Brüder davon, dass es Männern niemals
möglich sein werde, die sexuelle Lust der Frau zu beherrschen.
Nach Hause zurückgekehrt, entschließt Šāhzamān sich zu einem
Leben in Enthaltsamkeit, während Šahriyār von nun an jeden Abend
eine junge Frau heiratet und sie nach Ablauf der Nacht töten lässt.
Diese Gewohnheit führt bald dazu, dass es in seinem Reich kaum
noch heiratsfähige Frauen gibt. In dieser Situation entschließt sich
Šahrazād, die Tochter des Wesirs, den Herrscher zu heiraten, um das
Morden zu beenden. Nach einem abgesprochenen Plan lässt sie sich
in der Hochzeitsnacht von ihrer jüngeren Schwester (oder Zofe)
Dunyāzād (Dīnāzād, Dīnārzād) fragen, ob sie dieser etwas aus dem rei-
chen Schatz der ihr bekannten Geschichten vortragen dürfe. Der Herr-

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_2, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
scher gestattet dies und hört ebenfalls zu. Als der Morgen anbricht,
wird die Geschichte an einem spannenden Punkt unterbrochen, so
dass er beschließt, Šahrazād zunächst am Leben zu lassen, um in der
folgenden Nacht die Fortsetzung der Geschichte kennen zu lernen.
Dies wiederholt sich über 1001 Nächte lang. Erst dann lässt Šahrazād
den Herrscher ihre List erkennen und zeigt ihm (in manchen Fassun-
gen) die inzwischen geborenen Kinder. Er begnadigt sie und gibt von
nun an sein mörderisches Verhalten auf.
Die Entwicklung der Sammlung fand in verschiedenen Stufen
statt, die relativ klar rekonstruiert werden können. Die wichtigsten
Zeugnisse für die frühe Geschichte sind zwei Erwähnungen des
Werks, eine bei dem arabischen Historiker al- Masʿūdī (gest. etwa 956),
die andere im Bücherkatalog (al-Fihrist) des Bagdader Buchhändlers
Ibn an-Nadīm (verfasst 987). Beide Autoren stimmen darin überein,
dass sich die Sammlung von einem iranischen Buch namens »Hazār
36 afsān[a]« (1000 Geschichten) herleitet. Ibn an-Nadīm weist zudem
darauf hin, dass die Sammlung in Arabisch als »Alf laila« (1000 Nächte)
bekannt sei. Er skizziert darüber hinaus die wesentlichen Elemente
der Rahmenerzählung und erwähnt explizit, dass er das Buch einige
Male in vollständigen Exemplaren gesehen habe sowie die Tatsache,
dass es etwa Geschichten enthalte. Allerdings hielt Ibn an-Nadīm die
Geschichten für langweilig – dies war eine Haltung, die allgemein die
traditionelle Einstellung der Gebildeten in der islamischen Welt zu
profanen Geschichten mit wunderbaren Elementen prägte.
Einige Elemente der Rahmenerzählung lassen sich schon in der
alten indischen Literatur nachweisen. Dazu gehört die List, dem
angedrohten Tod durch das Erzählen von Geschichten zu entgehen,
ebenso wie die Geschichte von der Frau in der Kiste und die über
den Mann, der die Tiersprachen beherrschte. Auf einen iranischen
Ursprung deutet die Erwähnung eines persischsprachigen Vorläufers.
Außerdem sind die Namen der hauptsächlichen Handlungsträger der
Rahmenerzählung persisch: Das arabische Šahrazād entspricht dem
persischen Čehrāzād, das ›von nobler Abstammung und/oder Erschei-
nung‹ bedeutet. Verschiedene historische Nachrichten bringen das
Werk zudem mit einer persischen Prinzessin oder Herrscherin in
Zusammenhang. Einem vermuteten iranischen Ursprung gegenüber
muss allerdings darauf verwiesen werden, dass die arabische fiktionale
Literatur bereits früh dazu neigte, phantastische Geschichten in Iran
anzusiedeln.
Zu arabischen Vorläufern von Tausendundeine Nacht ist zuvorderst
auf die bereits von Ibn an-Nadīm erwähnte monumentale Sammlung
des Abū ʿAbdallāh Muḥammad ibn ʿAbdūs al- Ǧahšiyārī (gest. 942)
zu verweisen. Al-Ǧahšiyārī konnte seinen Plan, ein Buch mit 1000
Geschichten der Araber, Perser und Griechen zu kompilieren, nicht
vollenden, und das Werk ist heute verloren. Eine in Istanbul ver-
wahrte anonyme Handschrift des 14. Jh.s enthält einige Erzählungen,
die in späterer Zeit zum Standardrepertoire gehören.
Indizien zum Inhalt der Sammlung finden sich zuerst auf einem
Papierfragment aus dem 9. Jh. mit dem Titelblatt und der ersten Seite
einer »H. adīt_ Alf laila« (Die Geschichte der 1000 Nächte) genannten
Sammlung: Hier bittet eine gewisse Dīnāzād eine nicht weiter spezifi-
zierte Erzählerin, wenn sie nicht schlafe, ihr eine vorher versprochene 37
Geschichte zu erzählen und zu berichten »von den beispielhaften
Fällen von Vorzügen und Mängeln, von Klugheit und Dummheit, von

TAUSENDUNDEINE NACH T
Freigebigkeit und Geiz, von Mut und Feigheit…«. Der früheste doku-
mentarische Nachweis für den später geläufigen Titel der Sammlung
ist im Notizbuch eines jüdischen Händlers enthalten, der in Kairo
Mitte des 12. Jh.s u. a. Bücher auslieh.
Das Papierfragment von Tausendundeine Nacht legt auch die Vermu-
tung nahe, dass es seit frühester Zeit verschiedene Auswahlausgaben
gegeben hat. Hierdurch wird die Existenz eines kanonischen Reper-
toires an Geschichten, die in Tausendundeine Nacht enthalten waren,
unwahrscheinlich. Stattdessen war die Sammlung wohl um einen
begrenzten konstitutiven Kern gruppiert, der möglicherweise nicht
viel mehr als die Rahmenerzählung und die einleitend angeführten
Geschichten umfasste. In der Folgezeit wuchs die Sammlung durch
Integration von Erzählungen aus unterschiedlichen Überlieferungen,
die jeweils verschiedenen Schichten zugeteilt werden können.
Eine möglicherweise indische Schicht betrifft die Geschichten
über die ›Listen der Frauen‹ sowie einige der Fabeln, insbesondere
diejenigen, die Parallelen zur Fabelsammlung Kalila und Dimna aufwei-
sen. Eine iranische Schicht scheint durch in den Geschichten, die dem
europäischen Verständnis von Zaubermärchen am nächsten kommen.
Ein griechischer Einfluss ist besonders in den Liebesgeschichten
greifbar. Ein jüdisches Element, oft mit Bezug zu Talmud oder Midra-
shim, betrifft moralische Geschichten, die sich häufig mit dem Tod
und ewigem Verdienst im Jenseits befassen. Die in Bagdad geprägte
Schicht umfasst Anekdoten aus der Zeit der Abbasidendynastie, vor-
rangig Erzählungen aus dem Zyklus um den als prototypisch gerecht
dargestellten Herrscher Hārūn ar-Rašīd (786–809). Die Geschichten
der Kairoer Schicht spielen in einer urbanen Atmosphäre und betref-
fen hauptsächlich Geschichten um trickreiche diebische Volkshelden.
Diese Schichten können allerdings nicht sauber voneinander getrennt
werden. Besser als durch ein Schichtenmodell ist Tausendundeine Nacht
in seiner heutigen Gestalt mit dem Modell eines Palastes zu erklären,
der im Laufe der Zeit ständig Erweiterungen erfuhr und auf dessen
verfallenen Ruinen kontinuierlich neue Gebäude erstellt wurden.
38 Den ältesten erhaltenen Text von Tausendundeine Nacht bietet die
von Galland benutzte Handschrift, die durch die Erwähnung einer
zuerst von dem Herrscher al-Ašraf Bārsbāy 1426 herausgegebenen
Münze auf die Mitte des 15. Jh.s datiert wurde. Die unvollständige
Handschrift bricht in der Geschichte von Qamar az-Zamān und Budūr
in der 282. Nacht ab. Außer dieser Handschrift ist etwa ein halbes
Dutzend arabischer Manuskripte bekannt, die vor Galland verfasst
wurden. Keines von ihnen ist vollständig. Darüber hinaus existieren
einige alte türkische Übersetzungen von Tausendundeine Nacht, die teils
bereits von Galland in der Königlichen Bibliothek in Paris benutzt
werden konnten.
In seiner Les mille et une nuit betitelten Übertragung übersetzte
Galland allerdings nicht nur, sondern schuf das Werk zu einem erheb-
lichen Teil selbst. Er hatte lange Perioden im Vorderen Orient gelebt
und war nach seiner Rückkehr nach Paris als Antiquar des Königs
hauptsächlich für die königliche Sammlung an Antiquitäten, Münzen
und Manuskripten verantwortlich. Nach dem Tod des Haupther-
ausgebers Barthélemy d’Herbelot gab er dessen wirkungsmächtige
Bibliothèque orientale heraus, die erste enzyklopädische Behandlung
der islamischen Welt in einer europäischen Sprache. Bereits um das
Jahr 1700 hatte Galland ein Manuskript der Geschichten Sindbads des
Seefahrers erworben, die er in Übersetzung zu veröffentlichen plante.
Dann erfuhr er jedoch von einem ähnlichen, weit umfangreicheren
Werk, verschob seinen Plan und schaffte es, sich ein Manuskript des
Werks – die bis heute älteste bekannte Handschrift von Tausendundeine
Nacht – aus Syrien zu besorgen. Gallands Übertragung erschien in
zwölf Bänden.
Zunächst übertrug Galland in zeittypischem höfischem Stil aus
dem ihm vorliegenden arabischen Manuskript, erweitert durch die
bereits früher übertragenen Sindbad-Geschichten und eine Ergän-
zung der unvollendeten Geschichte von Qamar az-Zamān and Budūr
aus einer weiteren arabischen Handschrift. Als Gallands Material mit
dem siebten Band seiner Übertragung erschöpft war, seine enthusias-
tischen Leser aber eine Fortsetzung bis zum zu erwartenden Ende der
1001 Nächte forderten, brachte Gallands Verleger ohne dessen Wissen
zunächst den achten Band heraus. Dieser enthält sowohl eine von Gal-
land übersetzte Geschichte aus einem nicht mit Tausendundeine Nacht 39
zusammenhängenden Manuskript als auch zwei von Gallands orien-
talistischem Kollegen François Pétis de la Croix aus anderen Quellen

TAUSENDUNDEINE NACH T
übersetzte Geschichten. Das Material für die dann folgenden Bände
bezog Galland weitgehend aus dem Vortrag des talentierten Erzählers
H. annā Diyāb, eines maronitischen Christen aus Syrien, der Galland
vor allem diejenigen Geschichten vortrug, die später in Europa am
beliebtesten wurden. In seinen Tagebüchern erwähnt Galland, dass er
H. annā im Haus ihres gemeinsamen Freundes, des weitgereisten Paul
Lucas, kennengelernt habe. Zwischen dem 6. Mai und dem 2. Juni 1709
. annā Geschichten erzählen, von denen er ausführ-
ließ er sich von H
liche Inhaltsangaben niederschrieb. Auf der Grundlage seiner Mit-
schriften arbeitete er dann später einige der Geschichten sprachlich
aus und veröffentlichte sie in den letzten Bänden seiner Ausgabe von
Tausendundeine Nacht. Hierzu gehören vor allem die vom westlichen
Publikum besonders geschätzten Geschichten von Aladdin und der
Wunderlampe sowie von Ali Baba und den 40 Räubern.
Gallands kreativer erweiterter Adaptation des ihm verfügbaren
arabischen Texts von Tausendundeine Nacht wurde ein überwältigender
Erfolg in Europa zuteil. Noch während die französische Übertragung
erschien, wurden die Geschichten auf der Grundlage des Galland-
schen Texts bereits in andere europäische Sprachen übersetzt und
teils in billigen Auswahlausgaben veröffentlicht. Auf dem Gebiet der
narrativen Literatur trug Tausendundeine Nacht als exotisches Element
der Aufklärung zu einer Welle orientalisierender Werke bei, insbeson-
dere einer in orientalischem Ambiente angesiedelten Unterart der
französischen Feenmärchen. Gallands Kollege Pétis de la Croix ver-
suchte gar, seinen Erfolg mit der 1710 bis 1712 erschienenen Sammlung
Les mille et un jours (1001 Tag) nachzuahmen, angeblich der Übersetzung
einer persischen Handschrift eines ihm bekannten Wanderderwischs
aus Iran, in Wirklichkeit aber die adaptierte Übersetzung einer türki-
schen Geschichtensammlung aus der königlichen Bibliothek. Zudem
initiierte Gallands Übertragung die wissenschaftliche Auseinander-
setzung mit der Sammlung und förderte die Beschäftigung mit der
darin dargestellten Kultur.
Als Ergebnis der verstärkten Nachfrage nach Manuskripten des
40 Werks produzierten arabische Kompilatoren, vor allem in Ägypten,
die verlangten ›vollständigen‹ Handschriften, indem sie die Kopien
ihnen vorliegender, oft fragmentarischer Manuskripte mit narrativem
Material aus unterschiedlichsten arabischen Handschriften ergänz-
ten. Als Resultat entstanden Sammlungen mit teils divergierendem
Geschichtenbestand, die sich in dem Bemühen decken, ›Vollstän-
digkeit‹ in dem Sinn zu erreichen, dass tatsächlich 1001 Nächte mit
Geschichtenerzählen gefüllt wurden. Zur Vervollständigung der Texte
schöpften die Kompilatoren aus unterschiedlichen Quellen. Hierzu
gehören Märchen ebenso wie Liebesgeschichten, Abenteuerromane
ebenso wie religiöse und didaktische Erzählungen, Fabeln ebenso wie
Witze und Schwänke, von denen viele aus dem reichen Fundus der
klassischen arabischen Literatur stammen. Einige Manuskripte schlie-
ßen gar ursprünglich selbständige Erzählwerke mit ein, so etwa den
Ritterroman von ʿUmar ibn an-Nuʿmān oder eine arabische Version des
ursprünglich persischen Fürstenspiegels Sindbād-nāme. Die Geschich-
ten von Sindbad dem Seefahrer, die durch Galland zum integralen
Bestandteil von Tausendundeine Nacht wurden, waren schon in einem
älteren türkischen Manuskript in die Sammlung integriert gewesen.
Fast alle der Textausgaben, die im 19. Jh. von Tausendundeine Nacht
erstellt wurden, basieren auf den ägyptischen Manuskripten. Wäh-
rend bis dahin fast ausschließlich Gallands Text als Vorlage der ande-
ren europäischen Übersetzungen gedient hatte, konnten nun auf
Grundlage der Textausgaben von seiner Übertragung unabhängige
Übersetzungen erscheinen, so die puritanische englische Überset-
zung von Edward William Lane (3 Bde, 1839–1841) oder die ausschwei-
fend wortreiche von Sir Richard Francis Burton (10 Bde, 1885), die
der viktorianischen Prüderie ein ausgesprochenes Delektieren an
Obszönitäten jeglicher Art entgegensetzte. Lane, der selbst lange in
Ägypten gelebt hatte, machte seine Ausgabe zudem mit ausführlichen
Anmerkungen bewusst zu einem Führer durch die ›muslimische‹
Kultur. Burtons Übersetzung ist zwar in heute nur schwer zu genie-
ßender archaisierender Sprache verfasst, ist aber wichtig aufgrund der
zahlreichen Ergänzungen aus unterschiedlichen Handschriften, die
der Übersetzer in den Supplementbänden beisteuerte.
Einen eklatanten Fall der Erweiterung des ursprünglichen
Geschichtenbestands stellt die französische Übersetzung von Joseph 41
Charles Victor Mardrus (16 Bde, 1899–1904) dar, die von allen europäi-
schen Übersetzungen den ursprünglichen Text am freiesten wieder-

TAUSENDUNDEINE NACH T
gibt und zudem zahlreiche Ergänzungen aus anderen Quellen enthält,
so auch Schwänke des türkischen Tricksters Nasreddin Hodscha und
Geschichten aus zeitgenössischen Märchensammlungen aus der ara-
bischen Welt. Nichtsdestotrotz wurde die Übertragung von Mardrus
in Frankreich (und durch die darauf basierende englische Fassung
von Powys Mathers, 1937, auch in England) von solch einflussreichen
Schriftstellern wie André Gide und Marcel Proust hoch geschätzt.
Unter den deutschen Ausgaben genießt die von Enno Littmann
(1921–1928) aufgrund ihrer nüchternen, dem Original nahekommen-
den Sprache großen Respekt. Eine deutsche Übersetzung des von
Galland benutzten ältesten arabischen Manuskripts legte Claudia Ott
2004 vor.
Alle Manuskripte und gedruckten Ausgaben enthalten die cha-
rakteristische Rahmenerzählung und die einleitenden Geschichten,
unterscheiden sich aber teils gravierend im Repertoire der späteren
Geschichten. Šahrazāds Methode, ihre Geschichten an einem span-
nenden Punkt zu unterbrechen, sicherte nicht nur ihr eigenes Überle-
ben und damit das des weiblichen Geschlechts. Sie machte es darüber
hinaus in technischer Hinsicht möglich, die Geschichtensammlung
potenziell ins Unendliche zu erweitern. Je weiter die Rahmen-
erzählung fortschreitet, desto weniger wird dabei die ursprünglich
das Überleben sichernde Methode angewandt. Während viele der
längeren Geschichten sich über mehrere Nächte erstrecken, enthal-
ten zahlreiche spätere Nächte mehrere kurze Geschichten zugleich.
Diejenigen Geschichten, die eng mit Šahrazāds Methode verknüpft
sind, stehen ganz am Anfang: Die Erzählung vom Kaufmann und dem
Dämon, die Geschichte vom Fischer und dem Dämon (den der Fischer
aus seiner Flasche befreite), die Geschichte des Lastträgers und der
drei Damen, die Geschichte von den drei Äpfeln und die Geschichte
des Buckligen.
Diese Geschichten weisen darüber hinaus eine für Tausendundeine
Nacht spezifische Technik der Verschachtelung auf, durch die teils auf
mehreren Ebenen eine Geschichte in der Geschichte erzählt wird. Aus
42 der Perspektive der Leser oder Zuhörer wird Tausendundeine Nacht von
einem anonymen Erzähler vorgetragen, der Šahrazād erzählen lässt,
die ihrerseits die Geschichte eines anderen Protagonisten vorträgt, der
seinerseits die Geschichte eines weiteren präsentiert usw. Die jeweili-
gen Erzähler berichten, wer sie sind, indem sie ihre eigene Geschichte
vortragen. Ähnlich wie im Fall von Šahrazād bedeutet damit das
Erzählen von Geschichten ›Leben‹, und wer keine Geschichte erzäh-
len kann, dessen Leben ist bedroht. Damit werden die Erzähler zu
»Erzähl-Menschen« (Todorov), deren Vortrag den schier unerschöpf-
lichen Reichtum der Geschichten schafft.
Die in Tausendundeine Nacht vertretenen ethischen Werte spiegeln
die Welt der zeitgenössisch erfolgreichen Kaufleute, vor allem die
Ethik des Erfolgs. Dies ist umso eher verständlich, als Kaufleute und
Händler auf den arabischen Basaren wohl den Großteil des Publikums
bei öffentlichen Darbietungen der Geschichten darstellten. Tausend-
undeine Nacht wurde daher prägnant als »Kaufmannsspiegel« (Chraibi)
apostrophiert, als ein Handbuch für junge Kaufleute zum Erlernen der
grundlegenden Werte und Regeln ihres Berufsstandes. Die Geschich-
ten spiegeln durchaus zum Teil das soziale Leben in der vormodernen
arabischen Welt, dürfen jedoch nie als unmittelbare Wiedergabe
gelebter Realität missverstanden werden. Vor allem die spielerische
Atmosphäre mancher Geschichten in Bezug auf Sexualität oder den
Verzehr alkoholischer Getränke ist als Ausdruck eines märchenhaften
Wunschdenkens zu verstehen.
Die Nachwirkung von Tausendundeine Nacht auf die schöpferische
Kreativität in Europa kann schwerlich überschätzt werden. Elemente
der Rahmenerzählung finden sich – wohl durch Handelskontakte mit
der Levante vermittelt – bereits in der italienischen Renaissance in
Giovanni Sercambis (gest. 1424) Novella d’Astolfo und Ludovico Arios-
tos (gest. 1533) Orlando furioso. Dem immensen Erfolg von Gallands
Übertragung konnte sich kaum einer der maßgeblichen europäischen
Schriftsteller entziehen. In Deutschland betrifft dies vor allem Goethe
und Hauff. Durch Lesen und Vorlesen wurde Tausendundeine Nacht bis
in die des Lesens unkundigen Schichten Europas verbreitet, insbe-
sondere die Geschichten von Aladdin, Ali Baba und Sindbad. Darüber
hinaus ließen sich Schauspiel und Film von Tausendundeine Nacht
inspirieren und trugen zur weiteren Verbreitung bei: Sowohl Douglas 43
Fairbanks’ epochaler Stummfilm The Thief of Bagdad (1924) und Lotte
Reinigers Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926), der erste abendfül-

TAUSENDUNDEINE NACH T
lende Trickfilm der Filmgeschichte, basieren auf der Geschichte des
Prinzen Ahmed und der Fee Pari Banu. Auch in den Ursprungsländern
von Tausendundeine Nacht wirkte die Sammlung im 19. und 20. Jh. durch
Schaffung zahlreicher literarischer Werke nach.
Im 20. Jh. waren zahlreiche Geschichten und Bilder aus Tausendund-
eine Nacht längst integraler Bestandteil der ›Weltkultur‹. Der Name der
Sammlung als Ganzes steht – ähnlich wie das europäische Schlaraffen-
land – als stereotyper Ausdruck einer Märchenwelt, in der ultimatives
Wohlergehen und Glück regieren – mit dem zusätzlichen Element
(vermuteter) uneingeschränkt ausgelebter Sexualität. Die interna-
tionale Bilderwelt kennt vor allem die Zahl 1001 als Ausdruck von
Unendlichkeit, das Bild des Flaschengeistes, der – einmal aus seinem
Gefängnis entlassen – nicht mehr beherrschbar ist (aus der Geschichte
vom Fischer und dem Dämon) und das sprichwörtliche »Sesam öffne
dich!« (aus der Geschichte von Ali Baba). ULRICH MARZOLPH
Giovanni Boccaccio
* 1313 in Certaldo bei Florenz oder Florenz (Italien)
† 21. Dezember 1375 in Certaldo bei Florenz (Italien)

Ausbildung zum Kaufmann; ab 1327 mit dem Vater (Bankier) im Um-


feld des königlichen Hofes in Neapel; Jurastudium bei Cino da Pistoia;
in Neapel entstanden italienische Werke der unterschiedlichsten Gat-
tungen (Filostrato, Filocolo); 1341 Rückkehr nach Florenz; weitere Werke
in der Volkssprache (Ameto, Amorosa Visione, Elegia di madonna Fiammetta,
Ninfale fiesolano); um 1350 Begründung der europäischen Novellistik;
Freundschaft mit Petrarca, seither vornehmlich gelehrte, lateinische
Werke; Ausnahme: Corbaccio); öffentliche Ämter und Botschafterpos-
ten; ab 1373 öffentliche Lesung von Dantes Commedia.

Das Dekameron / Decameron. Prencipe Galeotto


44 Die Sammlung von 100 Geschichten, die wohl zwischen 1348 und
1353 geschrieben und 1470 erstmals gedruckt wurde, erhob wie kein
zweites Werk die kurze Erzählprosa im Abendland in den Rang einer
Kunstgattung. Das Decameron gilt zudem noch zu Beginn des 21. Jh.s als
Hauptwerk der italienischen Prosaliteratur. Im Rückgriff auf eine vom
Verfasser im sehr ausführlichen eigentlichen Titel genannte Bezeich-
nung spricht man stets von Novellen, muss sich aber vor Augen
halten, dass der italienische Begriff »novella« zunächst nichts anderes
heißt als »Neuigkeit«. Versammelt sind hier mithin so unterschied-
liche Arten von kurzen Erzähltexten wie Exempel, Legenden- und
Märchenhaftes, Anekdoten, Witze und Schwänke, aber auch schon
solche, die dem heutigen Verständnis einer Novelle gleichkommen.
Da sich die antike Literaturtheorie, aus der die meisten gängigen Gat-
tungsbezeichnungen stammen, weder von kurzer noch von langer
erzählender Prosa einen Begriff gemacht hatte, konnte die »novella«
durch den Einfluss des Decameron im Spanischen (»novela«) und Eng-
lischen (»novel«) schließlich auch zur Bezeichnung der Gattung des
Romans avancieren.
Wie in der Jahrtausende alten Tradition der Erzählsammlungen
bisweilen üblich, etwa in Kalila und Dimna, dem Achikar-Roman oder
den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, bettet auch Boccaccio

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_3, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
seine Novellen in einen Zusammenhalt stiftenden Rahmen. Dies
hatte er im Filocolo und Ameto, deren Geschichten er an zwei Stellen
im Decameron wiederverwertet, bereits erprobt. In seinem Hauptwerk
nun nimmt er die Ereignisse der großen Pest von 1348 zum ›Vor-
wand‹ für die Erzählungen: Diese erste verheerende Pestwelle, die
von Italien aus weite Teile Europas erfasste, stiftete in Florenz, der
mit etwa 100 000 Einwohnern damals bevölkerungsreichsten Stadt
des Kontinents, anarchische Zustände und raffte schließlich mit den
darauf folgenden Hungerepidemien (nach groben Schätzungen) zwei
Drittel der Bevölkerung hinweg. Allein die eindringliche Schilderung
des grausamen Wütens der Seuche, des Umgangs der Überlebenden
mit den Kranken und Toten, der Moral und Sitten zum Verschwinden
bringt, macht das Decameron zu einem einzigartigen Zeugnis seiner
Zeit.
Sieben junge Damen und drei junge Männer vertauschen das
Chaos der verseuchten Stadt mit idyllischen Landgütern und ver- 45
treiben sich dort in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zwei
Wochen lang die Zeit mit Müßiggang, Spiel, Tanz und eben Erzählen:

GIOVA NNI BO CC ACCIO


An zehn Tagen werden je zehn Geschichten zum Besten gegeben, was
auch den nach spätantikem Vorbild aus dem Griechischen gebildeten
Titel erklärt, der soviel wie »Zehntagewerk« bedeutet und in seiner
Zahlensymbolik auch an die 100 Gesänge von Dantes Divina Commedia
anknüpft. Ist am ersten und am neunten Tag die Themenwahl frei-
gegeben, bestimmt an den übrigen Tagen die zum jeweiligen ›König‹
bzw. zur ›Königin‹ bestimmte Person ein allgemein gehaltenes Thema,
zu dem die erzählten Geschichten passen sollen. Das Zugeständnis
der Gruppe an einen der jungen Männer, Dioneo, sich nicht an diese
Vorgabe halten zu müssen, lockert diese ohnehin nur lose Systema-
tik weiter auf. Dioneos Geschichten sind ferner stets die letzten des
jeweiligen Tages. Mit der maßvoll-heiteren Stimmung des Rahmens
kontrastiert an vielen Stellen die Drastik der erzählten Geschichten,
die blutrünstige, tragische, melodramatische, komische und possen-
hafte Stoffe versammeln, von denen gut ein Drittel erotischen Inhalts
ist. Auf diesen Sachverhalt verweist auch der Untertitel des Werks,
»Prencipe Galeotto« (»Fürst Galehaut«): Diese Figur vermittelt im alt-
französischen Lancelotroman (13. Jh.) den ersten Kuss des Titelhelden
und Ginovers, der Frau König Artus’. Sie galt aber bisweilen auch als
titelgebender Autor dieses ungemein erfolgreichen Romans, so etwa
für Francesca da Rimini, die sich in einer der berühmtesten Episoden
der Divina Commedia auf die verführende Lektüre beruft (Inferno V,137:
»Galeotto war das Buch und der’s erdachte«). Den Geschichten folgen
oftmals Kommentare und Diskussionen der Zuhörer, die sich aber
weder durch die Grausamkeit noch durch die Frivolität des Erzählten
aus der Fassung bringen lassen und in vollendeter höfischer Manier
ihren Gewohnheiten nachgehen. Ein vom ›König‹ vorgetragenes Lied
beschließt den jeweiligen Tag.
Der Rahmen dient Boccaccio, der mit Heuchelei und zumal Sexua-
lität des Klerus heikle Themen behandelt, aber auch zur eigenen,
freilich ironischen Rechtfertigung: In der Einleitung zum vierten Tag
und in einem Schlusswort verteidigt sich der Autor nämlich nicht
nur gegen zu erwartende Vorhaltungen (er gebe nur weiter, was er
46 gehört habe; nichts, was man in dezenten Worten erzählen könne,
sei unehrenhaft – und gegen die Schönheit der Frauen sei er ohnehin
machtlos), sondern legt auch noch frech nach: Er habe ausschließlich
Wahres über die Mönche erzählt, mit denen man ja gerne zu tun
haben würde, wenn sie »nicht alle etwas böckig röchen«. Wenngleich
also die Liebe in all ihren Formen das Leitthema ist, entfaltet Boccac-
cio hier doch ein sehr buntes, oft realistisches, zumeist aber überzeich-
netes Panorama der spätmittelalterlichen Welt. Er schildert die Geld-
gier und den Betrug des Klerus, das nach diesem Betrug lechzende
Volk, Ausschweifungen, Nöte sowie Weisheit und Gerechtigkeit des
Feudaladels, die Intelligenz des Handwerks und des aufstrebenden
Bürgertums, die Chancen und Gefahren des Fernhandels, kurz: den
Menschen zwischen Laster und Tugend im ungewissen Lauf der Welt.
Zu diesem Zweck formt er seine Quellen – für gut 90 Novellen sind
Vorbilder bekannt – durch latinisierende Prosa, abgewogene Kompo-
sition, psychologische Charakterisierung der handelnden Personen
und die Einführung zahlreicher realistischer Details und Lokalkolorits
(fast die Hälfte spielt in Florenz, der überwiegende Rest zumindest in
Italien, einige wenige im restlichen, piratenverseuchten Mittelmeer-
raum) zu literarischen Schmuckstücken.
Gleich die erste Geschichte, in der ein skrupelloser Schurke durch
eine falsche Beichte zum Heiligen avanciert, evoziert gleichermaßen
die Macht des Wortes und des Klerus, der sich indes, wie die dritte
Geschichte, das Vorbild für Lessings Nathan der Weise, zu zeigen sucht,
auf dünnem Boden bewegt. Wechselfälle des Schicksals nehmen am
zweiten Tag ein glückliches Ende, während es am dritten Tag das
Geschick der Menschen selbst ist, das ihnen das Erhoffte verschafft:
der ›Gärtner‹ Masetto etwa darf, weil er sich stumm stellt, einen gan-
zen Nonnenkonvent beglücken (III,1). Liebesgeschichten füllen die
beiden folgenden Runden, mit tragischem Ausgang am vierten, mit
glücklichem am fünften Tag: Bruder Alberto gibt sich als Erzengel
Gabriel aus und beschläft so mehrmals eine arglose Frau, deren Brüder
ihn aber eines Tages erkennen und festsetzen (IV,2); Guglielmo Rossi-
glione tischt seiner Frau das Herz ihres von ihm getöteten Liebhabers
auf, worauf sie sich zu Tode stürzt (IV,9). Mit aneinandergereihten
Entführungen und Überfällen werden bisweilen Motive des hellenis-
tischen Liebes- und Abenteuerromans aufgegriffen. Der parzivaleske 47
Tor Cimino raubt seine geliebte Efigenia gleich zweimal (V,1).
Exemplarisch für Goethes »unerhörte Begebenheit« steht die

GIOVA NNI BO CC ACCIO


neunte Novelle des fünften Tages, anhand deren Paul Heyse seine
sogenannte Falkentheorie entwickelte, nach der ein Dingsymbol
entscheidende Wendepunkte einer Novelle verbinden solle: Der
Ritter Federigo degli Alberighi hat im vergeblichen Werben um eine
Dame Hab und Gut durchgebracht. Als diese ihm in der Absicht, sei-
nen gerühmten Jagdfalken für ihren kranken Sohn zu erbitten, einen
Besuch abstattet, setzt er ihr in seiner Not gerade mit diesem Vogel
seinen letzten Besitz zum Mahle vor (freilich erwirbt ihm diese Groß-
mut schließlich ihre Gunst).
Schlagfertige Antworten, die aus Gefahren retten oder einfach nur
der Belustigung dienen, sind das Thema des sechsten Tages, dessen
Auftakt – nicht von ungefähr in der Mitte des Buches – einmal mehr
eine Reflexion über das Erzählen und somit auch über das Decameron
selbst bildet: Ein Ritter bietet Madonna Oretta an, ihr den beschwer-
lichen Reiseweg durch eine Geschichte derart zu verkürzen, dass es
ihr vorkomme, sie säße zu Pferde. Als er sich aber in seiner Erzählung
verheddert und mehrmals neu ansetzt, möchte sie lieber wieder absit-
zen. Die Situierung dieses Selbstbezugs im strukturellen Zentrum
des Werks, vermehrt um einige Bemerkungen in der Falkennovelle,
die, sieht man von Dioneos Geschichte ab, die erste Hälfte beschließt,
kann als Teil einer Strategie gelesen werden, die hinter der zunächst
eher lose anmutenden Anordnung der Geschichten eine absichtsvolle
Gesamtkomposition verbirgt. Der Umfang und die Bedeutung einer
solchen Verknüpfung der einzelnen Novellen zu einem bezugs-
reichen Gesamtgefüge sind in der Forschung aber umstritten. Die
siebte Geschichte des sechsten Tages, in der der Forderung einer
beim Seitensprung ertappten Ehefrau stattgegeben wird, ihrem
Geschlecht das doch eigentlich segensreiche Verschenken sexueller
Wonnen fortan nachzusehen, mutet erstaunlich modern an. Dioneos
Geschichte, der sich hier an die thematische Vorgabe hält, erzählt von
einem wandernden Mönch, der dem Volk mit gefälschten Reliquien
das Geld aus der Tasche zieht. Als er seine angebliche Feder eines Erz-
engels infolge eines Streichs mit Kohlen vertauscht sieht, gibt er diese
48 geistesgegenwärtig für Überreste der Folter des heiligen Laurentius
aus. Mit dem hohen Anteil an Geschichten, in denen wenige Worte
viel bewirken, scheint Boccaccio wiederum auch die eigene schriftstel-
lerische Leistung herausstellen zu wollen.
An den beiden nächsten Tagen werden lustige Streiche erzählt,
deren Urheber am siebten Tag die Frauen, am darauf folgenden Tag
beide Geschlechter sind. Diese Streiche dienen vor allem im Liebes-
spiel als Einsätze: Eine Frau sieht ihrem Mann über den Rand eines
riesigen Fasses zu, wie er es von innen säubert, während sie derweil
ihren Nachbarn von hinten gewähren lässt (VII,2). Ein Scholar, den
seine boshafte Angebetete eine lange Winternacht vergeblich vor
ihrem Haus warten ließ, rächt sich bitter: Durch einen Vorwand auf
einen Turm gelockt, schmort sie buchstäblich einen heißen Sommer-
tag lang in der Sonne (VIII,7). Hinter dieser rachsüchtigen Figur in der
längsten Novelle des Werks wollen viele den Autor selbst sehen, der
hiermit eine erfolgte Abweisung nachträglich vergolten haben soll.
Die derben Streiche der Florentiner Possenreißer Bruno und Buf-
falmaco (VIII,3, 5 und 9) bieten Stoff auch noch für den neunten Tag
(IX,3 und 5), an dem jeder erzählen darf, was ihm beliebt. Auf ein Bild
der zweiten Geschichte, in der eine Äbtissin sich zum Gespött ihres
Konvents macht, vor den sie nach einem Schäferstündchen mit der
Hose des Priesters statt ihrer Haube auf dem Haupt tritt, rekurriert
Boccaccio in seiner Apologetik der Schlussbemerkung: In einer Zeit,
in der die ehrbarsten Menschen Hosen auf dem Kopf getragen hätten,
wenn sie sich dadurch vor der Pest hätten retten können, sei schließ-
lich auch das Erzählen vermeintlich unschicklicher Geschichten nicht
zu verurteilen.
Der abschließende Reigen dreht sich um – zumeist in Liebes-
angelegenheiten – unter Beweis gestellten Edelmut. Hier findet sich
die einzige im antiken Rom situierte Geschichte (X,8) ebenso wie ein
Lob auf den Rückeroberer Jerusalems, Saladin, der sich seinem Feind
gegenüber mehr als ritterlich verhält (X,9). Äußerst befremdlich wirkt
indes auf den modernen Leser die letzte Novelle der Sammlung, in
der Dioneo einmal mehr auf sein Vorrecht verzichtet. Er erzählt von
Griselda, einem Bauernmädchen, das die langjährigen und ungeheuer-
lichen Demütigungen ihres adligen Mannes tapfer erträgt und sich
dadurch schließlich seine Liebe sichert. Von der enormen Faszination 49
dieser Geschichte für die damaligen Leser zeugen die zahlreichen
Bearbeitungen, unter denen Petrarcas lateinische Version hervorragt.

GIOVA NNI BO CC ACCIO


Obwohl sich Boccaccio mit dem Decameron explizit an die Frauen
wandte, die den Grossteil ihrer Zeit in Gemächern zubringen und
somit auf zahlreiche Formen der Unterhaltung, die den Männern zur
Verfügung standen, verzichten mussten, erfreute es sich doch der
Beliebtheit beider Geschlechter gleichermaßen. Dies belegen nicht
nur die über 80 Handschriften, unter denen auch ein Autograph figu-
riert, sondern auch die ersten Reaktionen, die um 1360 fassbar sind
und etwa von den Mühen zeugen, die es kostete, das begehrte Buch
zu besorgen. Freilich stieß das Decameron auch auf teils heftige Ableh-
nung, und das nicht nur der freizügigen Darstellungen oder der Kritik
an der Kirche wegen: Die Humanisten der frühen Renaissancekultur
schätzten das Werk eher gering, da es ihrer Meinung nach zu sehr auf
reine Unterhaltung abzielte, vor allem aber, weil Boccaccio, der in fast
all seinen späteren Werken das Lateinische bevorzugte, hier in der
Volkssprache schrieb. Es waren erst die Philologen des Cinquecento,
allen voran Pietro Bembo mit seinen Prose della volgar lingua (1525), nach
deren Vorbild etwa Ariost seinen Orlando furioso revidierte, die Boccac-
cios wohlgeformte Prosa (neben Petrarcas Lyrik) zum strahlenden
Vorbild für die italienischen Dichter erhoben. Bereits im folgenden
Jahrhundert mehrten sich jedoch Stimmen, die einerseits Boccaccios
komplizierten Satzbau für zu gekünstelt hielten, seine lediglich in der
Verschleierung sexueller Details mit einfallsreichen Bildern aufwar-
tende Sprache für die dem Barock teure Metaphernpracht anderer-
seits aber wieder für zu schlicht. Paolo Berni etwa brachte diese Kritik
1612 in seiner Anticrusca vor, die auch den Titel »Antiboccaccio« hätte
tragen können.
Nicht nur, weil die Reformatoren das Decameron für die antikirch-
liche Propaganda nutzten, indem sie die dort erzählten Verfehlun-
gen der Kleriker für bare Münze nahmen, setzte die Inquisition das
Werk 1559 auf den Index der verbotenen Bücher. Fortan erschienen
über lange Zeit stark ›purgierte‹ Ausgaben, neben die in moderner
Zeit indes Fassungen treten, die ihrerseits nur noch die Erotika und
Schwänke versammeln. Über Jahrhunderte prägte das Vorbild des
50 Decameron die europäische Novellistik. Zu den bekanntesten Nachah-
mungen gehören Franco Sacchettis Trecentonovelle (um 1390), Matteo
Bandellos Novelle (1554–1573) und Giambattista Basiles Pentamerone
(1636, eigentlich Lo cunto de li cunti) in Italien, Geoffrey Chaucers Canter-
bury Tales (1391–1399) in England sowie die anonymen Cent nouvelles
nouvelles (1468) und Marguerite de Navarres Heptameron (1559) in
Frankreich. Unzählige Bearbeitungen einzelner Novellen in der Lite-
ratur, für die Oper, die Theaterbühnen – etwa von Hans Sachs, Lope
de Vega, Shakespeare (All’s well that ends well, Cymbeline) oder dem schon
genannten Lessing – und in der Malerei (etwa Botticellis Zyklus zu
V,8) zeugen ebenso von der stets ungebrochenen Lebendigkeit der
Geschichten wie in neuerer Zeit die Verfilmungen, wobei allerdings
manch billiger Erotikstreifen wenig mehr als den bekannten Titel
übernimmt. Der italienische Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo
Pasolini setzte sich 1971 in der Rolle Giottos – der berühmte Maler ist
Protagonist einer Novelle (VI,5) – selbst als Boccaccios Nachfolger
in Szene, der dessen Literatur in (laufende) Bilder umsetzt. Eine wei-
tere Verfilmung mit internationalen Stars unter der Regie von David
Leland entstand 2007. DIETMAR FRENZ
Giovanni Francesco Straparòla
* um 1480 in Caravaggio/Cremona (Italien)
† um 1557 in Caravaggio/Cremona (Italien)

Verfasser einer zweiteiligen Sammlung von 75 Novellen und Mär-


chen teils orientalischen Ursprungs, die teilweise Boccaccios Decame-
rone imitiert und episodenweise von Perrault und Basile übernommen
wurden; über sein Leben ist fast nichts bekannt.

Die ergötzlichen Nächte / Le piacevoli notti


Wie in der gesamten Novellentradition seit Boccaccio üblich, kon-
struierte auch Straparòla einen Rahmen für seine 1553 erschienene
Sammlung: Nach dem Tode des Herzogs Francesco Sforza von Mai-
land wäre der Bischof von Lodi, Ottaviano Maria Sforza, rechtmäßiger
Nachfolger. Wegen der unruhigen, bürgerkriegsähnlichen Zustände
muss er jedoch aus Mailand fliehen und geht zusammen mit seiner 51
Tochter Lucrezia, der jungen Witwe von Giovan Francesco Gonzaga,
für einige Zeit nach Lodi. Da man ihm auch hier nachstellt, flieht er,

GIOVA NNI FR A NCESCO ST R A PA RÒL A


mit einigen Wertsachen als einzigem Besitz, nach Venedig, wo er von
Ferier Beltramo gastfreundlich aufgenommen wird. Um seinem Gast-
geber nicht zu lange zur Last zu fallen, mietet er auf der Insel Murano
einen leerstehenden Palast.
Der prächtige Ort gefällt auch seiner Tochter Lucrezia. Sie sucht
sich zehn Edelfräulein als Gesellschafterinnen aus, die namentlich
und mit den hervorstechendsten Attributen ihrer Schönheit vorge-
stellt werden. Zwei Edeldamen reiferen Alters sollen über Tugend und
Anstand wachen. Außerdem treten noch einige angesehene Männer
in die Runde: der Bologneser Casal, Bischof und Botschafter des
Königs von England, der Kardinal Pietro Bembo und einige andere.
Ihre Abende verbringt die Gesellschaft mit Musik, Tanz, Gesang und
heiterem Gespräch. Als die Karnevalszeit naht, soll das Vergnügen
noch gesteigert werden und ein festes Programm erhalten: Nachdem
man getanzt hat und fünf der Damen ein Lied gesungen haben, soll
jede in einer durch das Los ermittelten Reihenfolge eine Geschichte
erzählen. Ein von allen gemeinsam zu lösendes Rätsel beschließt den
Abend. So werden an zwölf Abenden jeweils fünf Geschichten erzählt,

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_4, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
am 13. sind es 13, weil jetzt auch Lucrezia, die beiden Ehrendamen und
fünf der Männer Geschichten erzählen, die freilich kürzer sein müs-
sen, da bei der größeren Anzahl für die einzelne Erzählung weniger
Zeit bleibt.
Von den ursprünglich insgesamt 73 Novellen wurde ab der Aus-
gabe des Jahres 1556 die dritte Novelle des achten Tages durch zwei
andere ersetzt, vermutlich aus Angst vor der Zensur: In der getilg-
ten Novelle rettet sich ein mit der Frau eines Holzschnitzers beim
Ehebruch ertappter Geistlicher, indem er nackt die Stellung eines
Gekreuzigten einnimmt. Bis ins 21. Jh. wurden immer wieder Ausga-
ben gekürzt und verstümmelt oder die Kommentare zu den einzelnen
Novellen weggelassen.
Die Rahmenhandlung ist sprachlich elaborierter und knüpft
rhetorisch-kunstvoll an die Gattungstradition an, während die
Novellen selbst scheinbar linear und ohne großen Aufwand erzählt
52 werden. Doch handelt es sich dabei nicht um ein naiv-volkstümliches
Erzählen, sondern um den bewussten Einsatz einer Erzählform mit
weitgehend heteronom bestimmten Protagonisten. Denn neben
den traditionellen Mustern der Gattung, lustigen oder grausamen
Streichen, die in der Regel den Sieg des sozial niedriger Stehenden
über den Höherstehenden auskosten, den Abenteuernovellen und
den zahlreichen Abkömmlingen des Exemplums, sind Le piacevoli notti
vor allem von märchenhaften Elementen geprägt: von Beschützern
mit übernatürlichen Fähigkeiten, von Zauberei, sprechenden Tieren,
die Außerordentliches vollbringen können. In der Rezeption sprach
man hier vom »Verlust des Helden« und von einer Art Weltflucht in
Reaktion auf die bedrückenden politischen Verhältnisse der Zeit. Mit
dem Einbruch des Märchenhaften und Fabelhaften in die im 15. und
16. Jh. dominierende ›realistische‹ Novelle kündigt sich das Zeitalter
des Barock an.
Auch die nicht explizit märchenhaften Novellen der Sammlung
haben Züge des Irrealen. Sie wirken wie phantastische Versuchs-
anordnungen, in denen es einzig darum geht, eine außergewöhnliche
erzählerische Ausgangssituation mit Konsequenz durchzuexperi-
mentieren. So missachtet beispielsweise der Protagonist Salardo
(in I, 1) willentlich und systematisch die drei Ratschläge, die ihm sein
Vater auf dem Totenbett als Vermächtnis gegeben hat, gerät dadurch
in Todesgefahr, hat sich aber bei der Vorbereitung des ›Experiments‹
eine Hintertür offengehalten, die ihm den rettenden Rückzug erlaubt.
Seine Frau und sein Adoptivsohn bleiben dabei allerdings auf der Stre-
cke. Dem Studenten Filenio Sesterna wird dreimal von drei Damen
der Bologneser Gesellschaft ein Streich gespielt, ehe er sich – nach
minutiöser Vorbereitung – an den dreien rächt. Ein weiteres Beispiel
liefert die Geschichte von den drei Taugenichtsen, die auf dem Weg
nach Rom einen Ring finden, der dem faulsten unter ihnen gehören
soll – worauf ein Wettstreit um die Meisterschaft in der Faulenzerei
beginnt, der bis zur Selbstverstümmelung geht und in seiner Radikali-
tät wie eine Parodie auf die (ebenfalls der Novellen-Tradition entstam-
mende) ›Ringparabel‹ wirkt.
Mit der Märchen-Mechanik, die den Erzähler einer in der zeitge-
nössischen Realität wurzelnden Handlungsmotivation enthebt, mit
der Lust an Grausamkeit, an Verstümmelung und Missgestalt, dem 53
narrativen Schematismus, der keine Charaktere, sondern nur noch
›Aktanten‹ kennt, liegt Straparòla im Trend der Zeit. Keine andere

GIOVA NNI FR A NCESCO ST R A PA RÒL A


italienische Novellensammlung nach Boccaccio brachte es zu einem
solchen europäischen Ruhm und zu einer derart weiten Verbreitung.
Viele Themen und Motive finden sich auch in anderen literarischen
Zusammenhängen wieder, z. B. bei Shakespeare. JÁNOS RIESZ
Hemavijaya
* um 1565 in Indien
† vor 1631 in Indien

Mönch der Śvetāmbara-Richtung des Jainismus; angesehener Kunst-


dichter von Epen und Hymnen in Sanskrit.

Das Märchenmeer / Kathāratnākara


Die 258 Erzählungen dieser Märchensammlung entlehnte Hemavi-
jaya zum Großteil aus der mündlichen Tradition und aus älteren Wer-
ken, verfasste aber auch einige selbst. Sein Ziel war es, das Interesse
seiner Leser oder Hörer an verschiedenen Themen und Stimmungen
zu wecken und zu befriedigen sowie mit seinen Geschichten zu beleh-
ren.
Die Lehre der Jainas wird selten benannt, jedoch wird insbeson-
54 dere das Gebot der Gewaltlosigkeit in einigen Geschichten themati-
siert. Andere Erzählungen widmen sich der klugen Lebensführung,
und wieder andere schildern menschliche Schwächen und Stärken.
Manche spielen in der Form von Rätseln mit Witz und Verstand.
Moralisierende Hinweise finden sich lediglich in den jeweiligen kur-
zen Einleitungen zu den Geschichten. Die Erzählungen selbst sind
davon weitgehend unberührt und bieten Spannung, Phantastisches,
Poetisches, Weltklugheit, Erotik, Unterhaltung und Beredsamkeit.
Die unterschiedlichen Arten der Geschichten – wie Märchen, er-
bauliche Erzählungen, Schwänke, Schelmen- und Abenteuer-
geschichten, Erzählungen von Frauenlist und -treue, Allegorien und
Polemiken – sind eine Fundgrube für die Motivforschung. Die Szene-
rien, die Begriffe und die Handlungszusammenhänge sind aus dem
Leben verschiedener Gesellschaftsschichten genommen und reli-
gions- und kulturgeschichtlich sehr aufschlussreich.
Die vielen in die Sanskritprosa eingestreuten Strophen, die
sowohl in Sanskrit, verschiedenen mittelindoarischen als auch älteren
neuindoarischen Sprachen abgefasst wurden, sind für die Überliefe-
rungsgeschichte der indischen Spruchdichtung als Vergleichsmaterial
von Bedeutung. LUITGARD SONI

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_5, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Giambattista Basile
* zwischen 1566 und 1575 in Neapel oder Giugliano di
Campania (Italien)
† 23. Februar 1632 in Giugliano di Campania (Italien)

1604–1607 venezianischer Soldat; 1608 Rückkehr nach Neapel; 1612–


1613 am Hof von Mantua; zum Grafen und zum Gouverneur ernannt;
erster Schöpfer von Kunstmärchen in der europäischen Literatur;
Erzähler in neopolitanischer Mundart mit Einfluss auf Wieland,
Gozzi, C. Brentano, Tieck und die Brüder Grimm.

Der Pentamerone / Lo cunto de li cunti o vero lo


trattenimiento de peccerille
In der Widmung der 1636 erschienenen Erstausgabe der Märchen-
sammlung erscheint bereits die Bezeichnung »Pentamerone«, die von
späteren Editoren der Sammlung als Haupttitel übernommen wurde. 55
Er verweist analog zu Boccaccios Decamerone auf die fiktionale Gliede-
rung des Werks in fünf Tage, an denen jeweils zehn Märchen erzählt

GI A MBAT T IS TA BA SIL E
werden. Jeder Tag wird außerdem von einer Ekloge beschlossen.
Die Rahmenerzählung, selbst ein Märchen, handelt von der
melancholischen Prinzessin Zoza, die nichts auf der Welt zum Lachen
bringen kann. Nach vielen vergeblichen Versuchen, die Tochter zu
erheitern, verfällt der verzweifelte Vater auf die Idee, vor seinem
Palast einen Brunnen errichten zu lassen, aus dem Speiseöl sprudelt,
und der die Untertanen zwingen soll, Verrenkungen und lustige
Sprünge zu machen, um ihre Kleider nicht zu beschmutzen. All dies
lässt die Tochter jedoch ungerührt, bis eines Tages ein frecher Page mit
einem Steinwurf den Ölkrug einer alten Frau zerbricht und sich ein
großes Gezeter zwischen den beiden erhebt. Zozas gellendes Lachen
quittiert die Alte jedoch mit dem Fluch, die Prinzessin werde nur hei-
raten können, wenn sie Tadeo, den Fürsten von Camporotondo, finde.
Dieser liege in einer Gruft begraben und werde erst dann lebendig,
wenn eine Frau innerhalb von drei Tagen einen neben dem Grabstein
stehenden Krug mit ihren Tränen fülle. Mit Hilfe dreier Feen gelangt
das Mädchen dorthin und hat nach zwei Tagen des Klagens den Krug
fast ganz gefüllt. Doch während sie schläft, vollendet eine Sklavin

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_6, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
die Trauerpflicht und wird von dem erlösten Fürsten sofort zur Frau
genommen. Der verzweifelten Zoza gelingt es mit drei Zaubermitteln,
die sie von den Feen erhalten hat, den Fürsten auf sich aufmerksam zu
machen und in seiner Frau eine unbändige Gier nach Geschichten zu
wecken. Diese droht, ihr Kind zu töten, wenn der Ehemann nicht für
ihre Unterhaltung sorge. Daraufhin werden zehn bekannte Märchen-
erzählerinnen eingeladen, die an fünf Tagen jeweils nach dem Mit-
tagsmahl ihre Geschichten zum Besten geben. Als am letzten Tag eine
Frau verhindert ist, wird Zoza auf Wunsch des Fürsten hinzugezogen.
Sie erzählt, nachdem bereits die 49. Geschichte von einem ähnlichen
Fall gehandelt hat, ihre eigene, woraufhin der Fürst die Sklavin leben-
dig begraben lässt und die überglückliche Zoza heiratet.
Die Rahmenerzählung fungiert zu Beginn der einzelnen Märchen
jeweils als einleitendes Bindeglied und stellt jede Erzählung unter
ein moralisierendes Motto, das am Ende der Geschichte mit einem
56 Sprichwort wieder aufgenommen wird. Die Märchenstoffe gehen
sowohl auf orientalische Quellen (Tausendundeine Nacht) als auch auf
die volkstümliche italienische Überlieferung und das zeitgenössische
Straßentheater zurück. In der Folgezeit weitverbreitete Stoffe wie
»Dornröschen« (II,8), »Aschenbrödel« (I,6) oder »Die sieben Raben«
(IV,8) werden hier erstmals in der Form des Kunstmärchens erzählt.
Bei Basile finden sich mit der Hinwendung zu magischen Wesen
und Kräften, der Auflösung von Raum und Zeit ins Phantastische,
der stereotypen Einleitungsfloskel und der moralisierenden Schluss-
wendung bereits viele wesentliche Elemente der Gattung, die das
Pentamerone zugleich deutlich von der italienischen Novellentradition
unterscheiden.
Der Untertitel »Trattenemiento de peccerille« (»Unterhaltung für
die Jugend«) richtet sich ebenfalls an die gattungstypischen Adres-
saten und betont gleichzeitig den Anspruch, nicht nur zu belehren,
sondern vor allem für Kurzweil zu sorgen. Daher spielt die Thematik
des Lachens sowohl im Rahmen als auch in den Erzählungen eine
wichtige Rolle. Auf Abwechslung und Unterhaltung zielt auch der in
barocker rhetorischer Manier gestaltete stilistische Gestus ab, der sich
durch die (ungewöhnliche) Verwendung des Dialekts als Medium der
Schriftsprache volkstümlich-mündlicher Sprachkomik öffnen kann
und sich von der erstarrten literarischen Sprache der neapolitanischen
Hofkultur abhebt.
Für das Verständnis und die Verbreitung des Werks als Ganzes er-
wies sich der Dialekt jedoch als großes Hindernis, so dass es erst im
19. Jh. durch Anregungen von Vittorio Imbriani und ab 1925 durch
Benedetto Croces Übertragung ins Italienische ins Bewusstsein des
italienischen Publikums zurückkehrte. Bedeutenden Einfluss hatte
das Werk in Italien auf Lorenzo Lippi (Malmantile racquistato, 1676) und
Carlo Gozzi (L’amore delle tre melarance, 1761), während in Deutschland
neben Wieland (Pervonte, 1796) vor allem Brentano, Tieck und die Brü-
der Grimm als Bearbeiter hervortraten. Die erste deutsche Gesamt-
übersetzung durch F. Liebrecht (1846) beeinflusste die Rezeption
auch in anderen Sprachen. UWE PETRY

57

GI A MBAT T IS TA BA SIL E
Charles Perrault
* 12. Januar 1628 in Paris (Frankreich)
† 16. Mai 1703 in Paris (Frankreich)

Unter Colbert Oberaufseher der königlichen Bauten; ab 1651 Anwalt;


1671 Mitglied der Académie française; begründete in Frankreich die
ästhetikgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen den ›Alten‹
und ›Neuen‹, vertrat gegen Boileau die Vorrangstellung der zeitgenös-
sischen vor den klassischen Autoren; bedeutendste Sammlung von
Volksmärchen vor J. und W. Grimm.

Märchen aus alter Zeit / Histoires ou contes du temps


passé, avec des moralitez
Die 1697 unter dem Namen P. Perrault Darmancour erschienene klas-
sische französische Märchensammlung wurde als Contes de ma mère
58 l’Oye (Märchen meiner Mutter Gans) berühmt. Darunter versteht man
in Frankreich Erzählungen, die so alt sind wie die sagenhafte germa-
nische Königin »Bertha mit dem Gänsefuß«. Sie schildern das Wirken
der wunderbaren geheimen Mächte des Märchenreichs und riefen in
Frankreich die Mode der ›contes de fées‹ hervor. Die Contes de ma mère
l’Oye waren eines der ersten Volksmärchenbücher, gaben zu späteren
Sammlungen (J. K. A. Musäus, J. und W. Grimm) wertvolle Anregun-
gen und erfuhren quer durch Europa die verschiedensten dramati-
schen, musikdramatischen und filmischen Bearbeitungen.
Perrault wählte acht der bekanntesten und schönsten Märchen-
stoffe aus dem überlieferten Volksgut aus und gab ihnen eine bis
heute verbindliche Form. »Le petit chaperon rouge« (»Rotkäppchen«),
»La belle au bois dormant« (»Schneewittchen«), »Cendrillon ou La
petite pantoufle de vair« (»Aschenputtel«) sind im deutschen Sprach-
bereich aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (1812)
bekannt; »Barbe-bleue« (»Blaubart«) und »Le maistre Chaut ou Le chat
botté« (»Der gestiefelte Kater«) begegnen außerdem bei Tieck und in
den verschiedenen Neufassungen des Blaubartstoffes im 19. Jh. »Frau
Holle« ist eine Variation von »Les fées«, »Le petit poucet« (»Der kleine
Däumling«) kehrt in Ludwig Bechsteins Märchensammlung wieder
und ist gleichzeitig eine Abwandlung des Hänsel-und-Gretel-Motivs.

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_7, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Nur der kluge, aber hässliche Prinz »Riquet à la houppe« (»Riquet mit
dem Schopf«) hat im deutschen Märchen kein unmittelbares Pendant.
Perraults frühere Versmärchen, Grisélidis, 1691, Les souhaits ridicules, 1694
(Die lächerlichen Wünsche), und Peau d’âne, 1694 (Eselshaut), sind in
angeglichener Prosaform in spätere Auflagen aufgenommen worden.
Perraults wichtigste schriftliche Quellen waren zwei ältere italie-
nische Märchensammlungen, Le piacevoli notti, 1550–1554 (Die ergötz-
lichen Nächte, 1980), von Giovanni Francesco Straparòla und Lo cunto
de li cunti, 1634–1636 (Das Märchen der Märchen, 2000), von Giambattista
Basile, der seinerseits auch Anregungen aus orientalischen Märchen,
vor allem aus Tausendundeine Nacht, aufnahm. Damit wurde Basile
zum ersten bedeutenden Erzähler von Kunstmärchen in der europäi-
schen Literatur. Perrault formte die Stoffe im Geist des ausgehenden
französischen 17. Jh.s um und fand einen künstlerisch sehr reizvollen
Mittelweg zwischen der Stilraffinesse des Kunstmärchens und dem
spontan-naiven Volksmärchen. In einer Widmung an die Prinzessin 59
Charlotte von Orleans weist er darauf hin, dass die Märchen alle »eine
sehr sinnvolle Moral enthalten, die sich dem Leser je nach seinem

CH A R L E S PER R AULT
Einfühlungsvermögen mehr oder weniger deutlich erschließt«. In
Versform gehaltene moralische Ausschmückungen am Schluss jeden
Märchens waren der schuldige Tribut an die Hofgesellschaft. Im Übri-
gen wünscht er, dass seine Märchen »ein Bild davon geben, was sich in
den ärmsten Familien abspielt, wo zur Unterweisung der Kinder ein-
fache Geschichten erzählt werden«, die nicht ihren Verstand, sondern
allein ihr Gefühl ansprechen sollen. KLL
Sulchan-Saba Orbeliani
* 3. November 1658 in Tandshia (Georgien)
† 16. Februar 1725 bei Moskau (Russland)

(auch: Sulxan-Saba Orbeliani) – Herkunft aus einer Fürstenfamilie,


Ratgeber des Königs Wachtang VI.; 1712 als Diplomat in Persien,
1713–1716 am Vatikan und am Hof Ludwigs XIV.; 1724 in Moskau; sein
georgisches Wörterbuch, seine Werke und Übersetzungen leisteten
einen großen Beitrag zur Entwicklung der georgischen Literatur und
Sprache.

Die Weisheit der Lüge / Sibrjne sic’ruisa


Das Sammelwerk von Fabeln, Märchen, Gleichnissen, Anekdoten und
einer Rahmenerzählung entstand Ende des 17. oder Anfang des 18. Jh.s.
In der Rahmenhandlung geht es um die Erziehung eines Prinzen. Sei-
60 nem königlichen Vater erscheint im Traum ein schöner junger Mann,
der sich als Erzieher empfiehlt. Beim Erwachen findet der König das
Bild des Fremden auf Pergament vor. Während einer Jagd trifft er eines
Tages auf einen schlafenden jungen Mann, der der Traumgestalt aufs
Haar gleicht. Unter einer Bedingung erklärt dieser sich bereit, den
Prinzen zu erziehen: Er verlangt vom König, »daß du mich nicht auf
die Worte anderer hin töten läßt, ehe du mich gehört hast«.
Dann beginnt er mit ungewöhnlichen Erziehungsmethoden: Er
gibt seinem Zögling tagelang nichts zu essen und zu trinken, bis dieser
vor Schwäche ohnmächtig zu Boden sinkt. Ein anderes Mal reitet er
zur Jagd und lässt den Prinzen zu Fuß mit blutenden Füßen vor sich
herlaufen. Als der König schließlich zornig eine Erklärung fordert, ant-
wortet ihm der Erzieher Leon: »Wenn Dein Sohn nicht gehungert hat,
wie soll er wissen, dass die Armen und Schwachen hungern … Wenn
Dein Sohn nicht erfahren hätte, wie es tut, ohne Pferd und barfuß zu
gehen, wie sollte er die Leiden der Falkner, Boten und aller anderen
Schnelläufer kennen?«
Der König und sein Wesir Sedraq sind von der Weisheit des
Erziehers tief beeindruckt, doch der Eunuch Ruqa, »ein barscher und
hitzköpfiger Mensch«, hält bis zum Ende der Erzählung daran fest,
dass Leons Einfluss verderblich sei, und muss für diese seine Meinung

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_8, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
manche scharfe Rüge hinnehmen. Alle Teilnehmer an dem Streitge-
spräch, der König, sein Sohn, der Wesir, der Eunuch und der Erzieher,
äußern ihre Meinung in Form jener Fabeln, Märchen und Gleichnisse,
die den Hauptteil des Buches ausmachen.
Sulchan Orbeliani, der später als Mönch den Namen Saba annahm,
ein Freund und Mitarbeiter des hochgebildeten Königs Wachtang VI.,
reiht sich mit seinem Werk in die erzählerische Tradition von Tausend-
undeine Nacht, des indischen Pañcatantra, des Kalila wa-Dimna und des
Sindbadbuchs (Sindbād-nāme) ein. In Einzelheiten der Grundnovelle
besteht offenbar eine Abhängigkeit von dem iranisch-neupersischen
Anwa-e Sohaili von Hosain Wa’ez Kašefi. Orbeliani schreibt allerdings
im Gegensatz zu diesem Vorbild einen nüchternen, klaren und
volkstümlichen Stil. Für die einzelnen Erzählungen sind schriftliche
und mündliche Quellen anzunehmen: Äsop für die Tierfabeln, die
Erbauungsliteratur für die moralisierenden Parabeln und Anekdoten.
Unzweifelhaft fanden arabisch-türkische, persische und persisch- 61
indische Stoffe, die in Georgien möglicherweise mündlich überliefert
wurden, Eingang in das Werk, daneben international bekannte Mär-

SUL CH A N- SA BA OR BEL I A NI
chenmotive. Ein weltoffener Geist, der jedes platte Moralisieren ver-
bietet, gibt dem Werk sein besonderes Gepräge. KLL
Christoph Martin Wieland
* 5. September 1733 in Oberholzheim (Deutschland)
† 20. Januar 1813 in Weimar (Deutschland)

1749–1752 Studium (Philosophie und Jura) in Erfurt und Tübingen;


1752–1754 als Privatschüler von J. J. Bodmer in der Schweiz, danach als
Hauslehrer in Zürich und Bern; 1760 Kanzleiverwalter in Biberach;
1769 Professor für Philosophie in Erfurt; 1772 Hauslehrer des Erbprin-
zen Carl August in Weimar; ab 1773 Herausgabe des Teutschen Merkur;
ab 1775 freier Schriftsteller; 1797–1803 auf Gut Oßmannstedt bei Wei-
mar; 1803 Rückkehr nach Weimar; gehörte zum Kreis um Goethe,
Herder und die Herzogin Anna Amalia; schrieb eine Vielzahl Epen,
Romane und Literaturkritiken und übersetzte zahlreiche Dramen
Shakespeares sowie Werke antiker Autoren.

62 Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder Die


Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte
worinn alles Wunderbare natürlich zugeht
Das im Jahr 1764 zunächst anonym veröffentlichte Werk bildet den
Ausgangspunkt des modernen deutschen Romans und beeinflusste
zudem die in der deutschen Literaturgeschichte äußerst wirkmäch-
tige Tradition des Bildungsromans. Wieland schrieb den Don Sylvio
unter großem finanziellem Druck, der durch die langwierige Arbeit
am Agathon entstanden war, und richtete ihn daher bewusst an eine
breite Leserschaft. Sein Buch sei ein satirischer Roman, der »unter dem
Schein der Frivolitat philosophisch genug ist« und deshalb »keiner Art
von Lesern […] Langeweile machen soll« (Brief an Gessner, 1763).
Die Handlung, die Cervantes’ Don Quijote zum Vorbild nimmt,
schildert die Entwicklung des jugendlichen Helden Don Sylvio. In
»Einsamkeit und Einfalt« bei seiner Tante Donna Mencia aufgewach-
sen, begründet die Lektüre trivialer »Feen-Märchen«, die er für authen-
tische Berichte hält, jenen Hang zur Schwärmerei, der ihm die Realität
als zauberhafte Märchenwelt erscheinen lässt. Don Sylvio wird Opfer
seiner überspannten Einbildung und erliegt deshalb einer Reihe von
»Trug-Schlüssen«: In einem Schmetterling, dem er das Leben rettet,
vermutet er eine verzauberte Fee. Deren tatsächliche Existenz sieht

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er durch den zufälligen Fund eines kleinen Porträts sogleich bestä-
tigt. Von der Vorstellung erfüllt, das Porträt zeige seine auserwählte
›Märchenprinzessin‹, zieht er mit Pedrillo, einem abergläubischen
Bauernjungen, in die Welt, um die verzauberte Fee zu befreien. Mit
ihm kämpft er gegen die unsichtbaren Zaubermächte einer imagi-
nierten Märchenwelt, bis er die vermeintliche Fee tatsächlich findet.
Diese präsentiert sich dem Leser als ›Sterbliche‹, als die aristokratische
Witwe Donna Felicia, die sich unmittelbar in den schwärmerischen
Jüngling verliebt.
Die endgültige Vereinigung der Liebenden setzt allerdings die
Heilung des Protagonisten voraus, die der aufgeklärte Personenkreis
um Donna Felicia mittels eines als wahr behaupteten ›Lügenmär-
chens‹, der »Geschichte des Prinzen Biribinker«, bewirken will. Das
Erzählen der grotesken Märchengeschichte verfehlt zunächst sein
Ziel, erst die anschließende Diskussion, in der sich der ›Urheber‹ des
Märchens offenbart, vermag Don Sylvio von seiner Märchengläubig- 63
keit zu befreien und ermöglicht so das abschließende Happy End.
Dieses Erziehungsprogramm, das mit dem titelgebenden ›Sieg der

CHR IS T OPH M A RT IN WIEL A ND


Natur über die Schwärmerei‹ endet und damit eine rationale, für die
Aufklärung charakteristische Weltsicht einfordert, richtet sich über
die Grenze des Textes hinaus unmittelbar an den zeitgenössischen
Leser: Denn wie Don Sylvio mittels des Biribinker-Märchens, so soll
auch der Rezipient durch das Lesen des Romans zu einer reflektierten
Lektürehaltung angeregt werden.
Diese Intention akzentuiert der Roman bereits in seinem Vorwort,
dem fingierten »Nachbericht des Herausgebers«, der eine äußerst
zweifelhafte Überlieferungsgeschichte des Don-Sylvio-Manuskripts
nachzeichnet. Auf diese Weise problematisiert das Vorwort das Ver-
hältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit, indem es den Autor als
diejenige Instanz, die für die Wahrheit des Erzählten verantwortlich
ist, in Frage stellt. Die Problematisierung des Erzählens setzt sich im
Verlauf des Romans konsequent fort: Durch zahlreiche Erzähler- und
Herausgeberkommentare, philosophische »Reflexionen des Autors«
sowie kultur- und literarhistorische Anspielungen wird der Leser
beständig aus der erzählten Geschichte herausgeführt. Insgesamt
entsteht so ein verwirrendes Geflecht textueller und intertextueller
Bezüge, das die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von fiktionalen und
›authentischen‹ Texten aufwirft.
Einen markanten Gegensatz zu dieser ästhetischen Komplexität
bilden die eingängige, teilweise frivol-komödiantische Rokokospra-
che sowie die parodistische Verwendung trivialliterarischer Muster
des Ritterromans oder der ›conte de fées‹. In diesem Spannungsfeld
zwischen didaktischem Anspruch und Trivialität wird insgesamt ein
Schreibprogramm erkennbar, das sich von den starren Vorstellungen
der zeitgenössischen Regelpoetik entfernt: Forderte diese eine am
Gedankengut der Aufklärung ausgerichtete belehrende Literatur, so
präsentiert der Don Sylvio hingegen ein poetisches Konzept, das seine
belehrende Funktion im Medium der Unterhaltungsliteratur ent-
faltet.
Gerade die Betonung des ›Unterhaltsamen‹, die im Verlauf der
Rezeptionsgeschichte immer wieder polemische Attacken gegen
64 den Roman provozierte, verleiht dem Werk seinen literaturge-
schichtlichen Stellenwert: Wielands Roman betont jenseits seines
didaktischen Impetus das Eigenrecht erfundener und unterhaltsamer
Geschichten und ist gerade deshalb richtungweisend für eine Ten-
denz, die sich im 18. Jh. immer stärker durchsetzt – eine Entwicklung,
an deren Ende sich die Literatur als autonome Kunstform etabliert
haben wird. INGO IRSIGLER
Carlo Graf Gozzi
* 13. Dezember 1720 in Venedig (Italien)
† 4. April 1806 in Venedig (Italien)

Aus verarmten venezianischem Adel; 1736–1739 Offizier; Fortsetzung


der Studien in Venedig; 1747 mit seinem Bruder Gasparo Gründung
der konservativen Accademia dei Granelleschi; 1761 dramatische
Entwürfe für Theaterdirektor Sacchi; musste 1775 wegen Satire auf
Rivalen Stadt verlassen; geriet als Autor in Vergessenheit; als klassizis-
tischer Dramatiker Antipode von Goldoni und Chiari.

Turandot / Turandot
Das Märchenspiel wurde 1762 uraufgeführt und erschien 1772 im
Druck. Der ursprünglich orientalische Stoff von der männermorden-
den Prinzessin Turandot (›Tochter des Turan‹) erscheint zum ersten
Mal in dem Epos Haft paikar (Sieben Schönheiten) des persischen 65
Dichters Nizami (um 1140–1209) und gelangte zu Beginn des 18. Jh.s
über Lesages Bearbeitung der Erzählsammlung Tausendundein Tag (Les

C A R L O GR A F G OZ ZI
mille et un jours) nach Europa. Dann schrieb Gozzi sein »szenisches
Märchen«, das in Italien selbst freilich erst nach einem langen Umweg
über Deutschland und dann auf der Opernbühne Heimatrecht ge-
wann. Gozzis Stück war nämlich ursprünglich ein Beitrag zu der zwi-
schen ihm und Goldoni ausgefochtenen Debatte um die Konzeption
der Commedia dell’arte, die Gozzi gegenüber Goldonis Reformen
durch die Einbeziehung der volkstümlichen Elemente des Überna-
türlichen und Geheimnisvollen retten wollte. Der Vorwurf, er habe in
seinem aufgeführten Il re cervo, 1762 (König Hirsch), mit wunderlichem
Zauberspuk zuviel des Guten getan, ließ Gozzi noch im selben Jahr zu
dem wiederum märchenhaften, aber in einer realistischeren Umwelt
angesiedelten Turandot-Stoff greifen.
Die betörend schöne, doch gefühlskalte chinesische Prinzessin
Turandot will nur denjenigen Bewerber erhören, der drei von ihr
gestellte Rätsel lösen kann. Wer sich dieser Prüfung nicht gewachsen
zeigt, wird enthauptet. Calaf, ein Prinz ohne Vaterland, nimmt die
Hürde, erklärt sich jedoch, als ihn Turandots Schmerz über den Ver-
lust ihres Mädchenstolzes bewegt, zu einem Zugeständnis bereit. Er

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will auf sein Anrecht verzichten, wenn sie seinen geheim gehaltenen
Namen errät. Die von Turandot eingesetzten Mittel des Horrors und
der Gewalt schlagen fehl; Calafs Begleiter, sein Vater und sein Erzie-
her, schweigen auch im Kerker und auf der Folter. Und auch das Mittel
der List scheint vorerst keinen Erfolg zu zeitigen: Zelima, Turandots
Sklavin, die ihm das Geheimnis des Namens entlocken soll, gibt Calaf
ihre Liebe zu erkennen und versucht ihn zur gemeinsamen Flucht
zu überreden. Erst als der Jüngling, der auf Turandot nicht verzichten
zu können glaubt, dieses Ansinnen von sich weist, teilt das beleidigte
Mädchen der Herrin den Namen mit, den ihr Calaf freimütig gestan-
den hat, um ihre mitleidende Liebe zu belohnen. Vor versammeltem
Volk kann Turandot nun den Namen des Fremden nennen, dessen
Liebe und Standhaftigkeit sie damit belohnt, dass sie ihm freiwillig ihr
Jawort schenkt.
Gozzis lang verkanntes szenisches Geschick erweist sich wohl in
66 keinem seiner Werke so ausgeprägt. Alles Epische eliminierend, kon-
zentriert er die Handlung auf die beiden Blöcke, die einander gegen-
überstehen: die Rätselprüfung durch die Prinzessin und ihr verzwei-
felter Versuch, den Lauf der Dinge aufzuhalten.
Der Versuch, Goldonis ›Realismus‹ auszustechen und eine Varian-
te der Commedia dell’arte zu schaffen, die nicht zuletzt das schwere-
lose Spiel der an der Peripherie auftretenden venezianischen Stan-
dardfiguren garantieren soll, bedingt allerdings die Ablösung von den
Stereotypen des Stegreiftheaters: Der für das Genre unvermeidliche
glückliche Ausgang erscheint lediglich angefügt. Auch erlebt Turandot
keine psychologische Entwicklung, sondern wandelt sich am Ende
wie durch einen Zauber ganz plötzlich von der stolzen, grausamen
Jungfrau zur fühlenden, hingabebereiten Frau. Das Handlungsge-
wicht verschiebt sich dadurch zugunsten des Prinzen.
Erwähnenswert ist das Schicksal des Stücks vor allem im deutsch-
sprachigen Raum. Schillers kongenialer, die orts- und zeitgebundenen
Elemente der Commedia dell’arte tilgender Bearbeitung für das Wei-
marer Theater (1802) war eine anonyme Übersetzung ins Deutsche
vorausgegangen, die ebenso Lessings Bewunderung für den venezia-
nischen Dichter erregte wie die der Brüder Schlegel, die Gozzi einem
Shakespeare gleichsetzten. Tieck orientierte sich in seinem Ritter Blau-
bart an dem italienischen Märchendrama; E. T. A. Hoffmann begeis-
terte sich in den Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors an Gozzis Stück,
das durch Mme. de Staël in Frankreich eingeführt wurde. Giacosa,
der in Italien zum ersten Mal dem Turandot-Stoff neues Interesse
abgewann, verlegte in seinem Schauspiel Il trionfo d’amore (1876) die
Handlung ins Mittelalter, wobei die starr defensive Haltung der chi-
nesischen Kaisertochter sentimental verflachend aufgegeben wurde.
Busoni (1917) und schließlich Puccini (Text: G. Adami/R. Simoni, 1926)
legten es Musikdramen zugrunde, durch die es bis heute weiterwirkt.
In Deutschland hat Wolfgang Hildesheimer (Die Eroberung der Prin-
zessin Turandot, 1955) den Stoff in einer geistreich-ironischen Komödie
dargestellt. MANFRED STRAUSS

67

C A R L O GR A F G OZ ZI
Johann Karl August Musäus
* 29. März 1735 in Jena (Deutschland)
† 28. Oktober 1787 in Weimar (Deutschland)

Sohn eines Landrichters; 1754–1758 Theologiestudium in Jena, an-


schließend Studium der Philologie; 1763 Pagenhofmeister in Weimar;
1766 Literaturkritiker der von F. Nicolai herausgegebenen Allgemeinen
Deutschen Bibliothek; ab 1769 Gymnasialprofessor in Weimar, u. a. Lehrer
seines Neffen A. von Kotzebue; 1782–1786 Herausgabe der Volksmärchen
der Deutschen (5 Bde), 1787 erster Novellenband Straußfedern (u. a. von
L. Tieck fortgesetzt).

Volksmährchen der Deutschen


Die vom Autor herausgegebene Märchensammlung erschien 1782 bis
1786 in fünf Bänden. – Märchen, so resümiert Musäus, seien eine beim
68 Publikum beliebte Abwechslung zur modischen »Sentimentalsucht«
in der zeitgenössischen Literatur. Auch war der Markt dafür vorberei-
tet; in Italien hatte Gozzi mit Erfolg Volksmärchen dramatisiert, von
Voß war eine Neubearbeitung der Erzählungen aus Tausendundeine
Nacht erschienen, und auch Wielands Oberon (1780) war bereits publi-
ziert.
In seinem »Vorbericht« – ironisch adressiert an »Herrn David
Runkel«, »Denker und Küster an der St. Sebaldskirche in –«, einer Figur
aus einem Kupfer von Daniel Chodowiecki – fehlt der Name Herders,
ohne dessen Veröffentlichungen der Anspruch von Musäus, als erster
in Deutschland einheimische Volksmärchen zu veröffentlichen, nicht
zu denken ist. Musäus gibt an, dass er seine Vorlagen aus der münd-
lichen Tradition nicht modisch verändert habe, lediglich für eine Loka-
lisierung habe er gesorgt, denn ganz in ihrer eigentümlichen Gestalt
ließen sie sich doch nicht veröffentlichen. Volksmärchen, so führt er
ferner aus, sind keine Volksromane, die reale Ereignisse schilderten,
wohl aber lässt sich an Märchen gut der jeweilige Nationalcharakter
studieren. Volksmärchen sind auch nicht einfach Kindermärchen:
Musäus bemüht sich, einen Ton zu treffen, der für Jung und Alt geeig-
net ist. Bezeichnend für den Herausgeber als einen typischen Vertre-
ter der Spätaufklärung ist die im Vorbericht gegebene Rechtfertigung

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des Märchens mit dem Hinweis auf die Bedeutung der »Phantasie«,
des »Wunderbaren« und »Außerordentlichen« neben dem »Verstand«.
Umfang und bisweilen auch Untertitel wie Chronika, Legende
und Anekdote zeigen sofort, dass Musäus’ Märchen nicht als »Volks-
märchen« im Sinn der Brüder Grimm angesprochen werden können.
Eine normative Vorstellung vom Volksmärchen wird seinen Texten
nicht gerecht, weil sie den weiten Gattungsspielraum des Märchens
im 18. Jh. verkennt; die Übergänge zu Sage, Fabel, Legende, Schwank,
Anekdote, Novelle und sogar Roman sind fließend. Musäus, dessen
Erzählleistung in »Melechsala« (weiterverbreitetes Motiv der Bigamie
des Grafen von Gleichen, von Arnim mehrfach wieder aufgenom-
men) einen Höhepunkt erreicht, beschränkt sich nämlich keineswegs
auf die Lokalisierung und historische Kolorierung seiner Quellen,
sondern er hat »die ländliche Melodie« seiner Vorlagen mit dem
»Generalbaß« und der »schicklichen Instrumentalbegleitung« seiner
Fabulierkunst versehen. Diese evoziert bürgerliche Idylle in Motivik 69
und Personengestaltung und wird kontrapunktisch unterstützt durch
witzige Satire gegen alle beunruhigenden literarisch-kulturellen

JOH A NN K A R L AUGUS T MUSÄUS


Moden der Zeit.
Die Befürchtung eines zeitgenössischen Rezensenten, es werde
nach der Veröffentlichung der Volksmährchen »sechs Mesen lang […]
Volksmärchen schneien«, bestätigte sich in einer Flut von Nachah-
mungen. Für Wieland, der 1803 offensichtlich wider besseres Wissen
Spracheigentümlichkeiten von Musäus dem modernen »geläuterten
Geschmack« anpasste, war dessen Volksmärchensammlung eines
der Erfolgsbücher des letzten Viertels des 18. Jh.s, das sich als »Unter-
haltungsschrift« insbesondere für die Jugend empfiehlt. Sowohl das
romantische Kunstmärchen als auch die Volksmärchensammlungen
von Grimm bis Andersen verdanken Musäus bei aller Distanzierung
mannigfache Anregungen. VOLKER HOFFMANN
Novalis
* 2. Mai 1772 in Gut Oberwiederstedt bei Mansfeld (Deutschland)
† 25. März 1801 in Weißenfels/Saale (Deutschland)

(d. i. Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg) – 1790 Jura-


und Philosophiestudium in Jena (Vorlesungen u. a. bei Schiller und
K. L. Reinhold), ab 1791 in Leipzig und ab 1793 in Wittenberg; 1792
Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel; 1794 juristisches Staatsexamen,
anschließend Amtsaktuar in Tennstedt/Thüringen; Bekanntschaft
mit der zwölfjährigen Sophie von Kühn; 1795 inoffizielle Verlobung;
Begegnung mit Fichte und Hölderlin in Jena; 1796 Akzessist bei der
Salinendirektion in Weißenfels; 1797 nach Sophies Tod existenzielle
Krise; ab Dezember Studium der Bergwerkskunde, Chemie und
Mathematik an der Bergakademie Freiberg; Bekanntschaft mit August
Wilhelm Schlegel und Schelling; 1798 Verlobung mit Julie von Char-
70 pentier; 1799 Salinenassessor in Weißenfels; enge Kontakte zu Tieck
und den Brüdern Schlegel, Mitarbeit an deren Zeitschrift Athenaeum;
1800 Erkrankung an Tuberkulose, im Dezember Ernennung zum
Amtshauptmann für den Thüringischen Kreis; wichtiger Philosoph,
Lyriker, Erzähler und Essayist der Jenaer Frühromantik.

Heinrich von Ofterdingen


Der Fragment gebliebene Roman wurde 1802 aus dem Nachlass ver-
öffentlicht. Vollendet sind der erste, im April 1800 abgeschlossene
Teil »Die Erwartung« und das Anfangskapitel des zweiten Teils (»Die
Erfüllung«), dessen geplante Weiterführung handschriftliche Notizen
von Novalis und ein von Tieck aus Gesprächen mit Novalis und aus
dessen Nachlass rekonstruierter Bericht skizzieren.
Im Mittelpunkt steht der Novalis aus Chroniken bekannt gewor-
dene Minnesänger Heinrich von Ofterdingen, dessen Reife zum
Dichter der Roman als träumerischen Weg »nach Innen« erzählt. Doch
Heinrichs exemplarischer ›Bildungsweg‹ ist zugleich Einweihung
ins Weltgeheimnis und somit Entwurf einer universalen Erlösungs-
utopie. Der Roman beginnt mit dem im vorgeschichtlichen Dunkel
liegenden Initiationsereignis: Ein fremder Reisender hat dem gerade
20-jährigen Sohn bürgerlicher Eltern im thüringischen Eisenach

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von geheimnisvollen Fernen und von einer wunderbaren »blauen
Blume« erzählt; Heinrich ist fortan, als wäre er »in eine andere Welt
hinübergeschlummert«. Im Traum verwandelt sich ihm dieses Sehn-
suchtssymbol zu einem »blauen ausgebreiteten Kragen«, in dem ein
Mädchengesicht schwebt; es wird zum lockenden Ziel seines Weges.
Heinrich fühlt, dass dieser Traum in seine Seele »wie ein weites Rad
hineingreift, und sie in mächtigem Schwunge forttreibt«. Seine poeti-
sche Bildungsreise nimmt hier seinen Ausgang; sie folgt dem Muster
des Traums, wenn sich im Nacheinander bildhafter Episoden die
gewöhnliche Wirklichkeit zunehmend potenziert und einen gehei-
men Beziehungsgrund der Dinge hervortreten lässt.
Heinrichs Mutter reist mit ihrem zunehmend in sich gekehrten
Sohn und einigen befreundeten Kaufleuten zunächst nach Augsburg
zu ihrem Vater, um Heinrichs »trübe Laune« zu vertreiben. Doch
die mit Erzählungen verkürzte Reise trägt vor allem zum »leisen
Bilden der inneren Kräfte« bei, die den »Geist der Poesie« entfalten. 71
Ein Aufenthalt auf einer fränkischen Ritterburg macht Heinrich mit
der kriegerischen Welt der Kreuzzüge bekannt, die dort gefangene

NOVA L IS
Morgenländerin Zulima hingegen erzählt ihm von ihrer verlorenen,
friedvoll-glücklichen Vergangenheit in ihrem Vaterland. Am Beispiel
des Bergbaus, jenes »ernsten Sinnbilds des menschlichen Lebens«,
weiht ihn ein alter böhmischer Bergmann später in die Geheimnisse
der Natur und die »Tiefen« der Erde ein. Der unter der Erde lebende
Einsiedler Graf von Hohenzollern schließlich erklärt Heinrich die
»geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen«, das Wesen
der geschichtlichen Welt, deren Entwicklung eine »allmähliche
Beruhigung der Natur« erkennen lasse: »wir können immer besseren
Zeiten entgegensehn«. Um »den geheimnisvollen Geist des Lebens«
zu erfassen, müsse ein Geschichtsschreiber jedoch zugleich Dichter
sein. Beim Einsiedler entdeckt Heinrich auch ein Buch, das in fremder
Sprache seine eigene Lebensgeschichte erzählt. Alle diese einander
spiegelnden Erlebnisse erwecken in ihm eine dunkle, bilderreiche
Sehnsucht. In Augsburg angekommen, lernt er auf einem Fest den
Dichter Klingsohr und dessen anmutige Tochter Mathilde kennen,
in der Heinrich jenes Mädchengesicht erkennt, zu dem der Kelch der
blauen Blume sich zusammengeschlossen hatte. Vater und Tochter
erschließen ihm nun den Weg zur Einheit von Dichtkunst und Liebe,
doch kündigt sich Heinrich traumhaft an, dass er Mathilde verlieren,
später aber erneut und für immer gewinnen werde.
Den ersten Teil beschließt das von Klingsohr erzählte allegorische
Märchen von Eros und Fabel, in dem eine rationalistisch erstarrte
Welt am Ende durch die fröhliche Fabel (die Poesie) erlöst wird.
Zunächst ist das Astralreich Arcturs in Eis erstarrt; seine Tochter Freya
(Friede) liegt in ewigem Schlaf, seit der gewaltige Held Eisen (Krieg)
sein Schwert in die Welt geschleudert hat. In komplexen Verwicklun-
gen reißt schließlich der Schreiber (der nüchterne Verstand, die Auf-
klärung) die Herrschaft an sich; erst durch die kindliche, in die Unter-
welt entkommene Fabel kann am Ende der Bann gebrochen und das
Eis zum Schmelzen gebracht werden. Fabel führt ihren Milchbruder
Eros der erwachenden Freya zu, die, mit ihm vereint, als Königin das
goldene Zeitalter von Liebe und Frieden beherrscht.
72 Der utopischen Vorwegnahme des goldenen Zeitalters folgt im
zweiten Teil Heinrichs einsame Pilgerschaft. Mathilde ist, wie in Hein-
richs Traum angedeutet, inzwischen gestorben. Unterwegs nimmt der
Verzweifelte in einer Vision die tröstende Stimme der Toten wahr, »so
daß ihm der Tod, wie eine höhere Offenbarung des Lebens, erschien«.
Zukunft und Vergangenheit, Leben und Tod erscheinen ihm wechsel-
seitig durchdrungen, ganz so, wie der Prolog der Astralis im zweiten
Teil ankündigt: »Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.« Heinrich
begegnet dem jungen Mädchen Cyane, das ihn zu einem alten Arzt
führt. Dieser deutet ihm Blumen und Pflanzen als die »unmittelbarste
Sprache« der Natur und sagt ihm den Anbruch eines goldenen Zeit-
alters voraus, »wenn die Natur züchtig und sittlich geworden« sei und
als »Geist des Weltgedichts« das Gewissen herrsche, »der eingeborne
Mittler jedes Menschen«. So wird Heinrich die Fabel zum »Gesamt-
werkzeug« seiner gegenwärtigen Welt und ein religiöses Medium der
sich im Dichter regenden »höhere[n] Stimme des Weltalls«.
Die Fortsetzung hat Novalis in teilweise widersprüchlichen
Notizen angedeutet; doch war der Schluss als Ȇbergang aus der
wirklichen Welt in die geheime« geplant: »Überall muß hier schon
das Überirdische durchschimmern – Das Märchenhafte«. Traum und
Wirklichkeit vermischen sich; wenn Heinrich die Welt griechischer
Mythologie und persischer Märchen erleben, am Sängerkrieg auf
der Wartburg teilnehmen, die »blaue Blume« pflücken und Mathilde
wiederfinden sollte, könnte eine »Neue goldene Zeit« anbrechen. »Das
ganze Menschengeschlecht wird […] poetisch.«
Novalis hat seinen in einer idealen Welt situierten Bildungsroman
als »Apotheose der Poesie« und als Gegenstück zu Goethes Wilhelm
Meister konzipiert, zu dessen übermächtigem Vorbild er mit Heinrich
von Ofterdingen auf Distanz geht: Statt Erfahrungen und Erlebnisse
stehen hier Geschichten und Gespräche im Mittelpunkt. Nicht
prosaische »Lehrjahre« durchläuft der Titelheld, sondern poetische
»Übergangs Jahre« (an Caroline Schlegel, 27. Februar 1799). Das Motiv
des geistigen Übergangs findet sich bei Novalis als Einweihung in
die poetische Welt ritualisiert. So symbolisieren Einschlafen und
Erwachen ›Tod‹ und ›Wiedergeburt‹ des Helden – seine Überführung
in eine höhere Wirklichkeit, die sein Bewusstsein nach der lehrhaf-
ten Erkundung der ›Tiefe‹ von Raum (Erde), Zeit (Geschichte) und 73
Seele zugleich erhöht und erweitert. Die poetische Verwandlung der
Welt wird im unendlichen Progress einer traumhaften Potenzierung

NOVA L IS
der Wirklichkeit und als freies Spiel mit Bildern erfahren, das seinen
Ausgang bei der »blauen Blume« nimmt, dem Symbol für Mathilde –
wie diese das Symbol der Poesie ist. Die Liebe erweist sich damit als
Schlüssel zum Weltgeheimnis. Im ruhigen, rhythmischen Wechsel
von Gesprächen, Binnengeschichten und spärlicher Handlung voll-
zieht sich eine stufenweise Verklärung der Poesie im Zeichen religiö-
ser Transzendierung innerweltlicher Realität: Heinrichs symbolischer
Wandel vom Reisenden zum Pilger bezeichnet ein welterlösendes
»Innewerden« von etwas lange Vergessenem, das mittels Phantasie,
Traum und Ahnung allmählich Gestalt annimmt und auf die einheits-
stiftende Totalität von Natur und Mensch, auf den durchscheinenden
Zusammenhang aller Dinge im Kosmos zielt.
Novalis’ Roman stellt ein Schlüsselwerk der Frühromantik dar.
Bereits 1803 galt er Friedrich Schlegel als bedeutendes Beispiel der
»esoterischen Poesie«, die »über den Menschen hinausgeht, und
zugleich die Welt und die Natur zu umfassen strebt«. Tieck sah in
seinem Bericht über die Fortsetzung den Kern des Romans in der aus der
Liebe geborenen Poesie, welche die unsichtbare, wundervolle mit der
sichtbaren, gewöhnlichen Welt auf ewig verknüpfe. Für die Literatur
der Moderne war insbesondere die in den narrativen Binnenspiege-
lungen zum Ausdruck kommende kompositorische Unabschließbar-
keit des Romans richtungsweisend.
HANS-HORST HENSCHEN / ANDREAS BLÖDORN

74
Adam Oehlenschläger
* 14. November 1779 in Frederiksberg bei Kopenhagen (Dänemark)
† 20. Januar 1850 in Kopenhagen (Dänemark)

Überragender, produktivster und vielseitigster Dichter der dänischen


Romantik, die er unter dem Einfluss Henrik Steffens’ (und neben
Schack Staffeldt) begründete; als nationalromantischer ›Dichterfürst‹
auch Verfasser der Nationalhymne; dichtete auf Dänisch und Deutsch;
zunehmende Hinwendung zum Klassizismus und Orientierung an
der Weimarer Klassik.

Aladdin oder Die Wunderlampe / Aladdin eller den


forunderlige Lampe. Dramatisk Eventyr
Das 1805 in dänischer Sprache gedruckte Schauspiel, drei Jahre später
vom Autor selbst ins Deutsche übertragen, ist ein Hauptwerk des
romantischen Dramas in Dänemark. Abgesehen von der Verlegung 75
des Schauplatzes nach Ispahan sowie einigen Genrebildern, die dem
Werk epische Breite verleihen und es als Lesedrama in der Art Ludwig

A DA M OEHL ENSCHL ÄGER


Tiecks kennzeichnen, entwickelt sich die Handlung so, wie sie Sche-
herazade in Tausendundeine Nacht (Alf laila wa-laila) erzählt und wie Oeh-
lenschläger sie aus einer französischen Übersetzung kannte: Noured-
din, ein Magier aus Afrika, will Aladdin als Werkzeug missbrauchen
und dann töten lassen. Aladdin überlebt jedoch und wird Besitzer der
Wunderlampe. Er wirbt um die Sultanstochter und erhält sie. Als der
Magier erfährt, dass Aladdin nicht umkam, erscheint er wieder auf
der Bildfläche. Durch eine List bringt er die Lampe endlich an sich.
Aladdin, mittellos wie zuvor, entgeht der Hinrichtung. Innerhalb von
80 Tagen soll er den verschwundenen Palast samt der Sultanstoch-
ter wieder herschaffen. Dies gelingt ihm mit Hilfe des Zauberrings,
den ihm Noureddin einst gegeben hatte, und der Sultanstochter, die
den Magier vergiftet. Einen Versuch von Noureddins schurkischem
Bruder, die Lampe zu rauben, kann Aladdin abwehren. Nach dessen
Selbstmord erhält er die Botschaft, dass der alte Sultan gestorben ist
und dass er, Aladdin, jetzt an der Spitze des Reiches steht.
Das Stück war als ein helles Gegenbild zu Goethes Faust gedacht
und sollte zeigen, wie eine »frische, natürliche Seele« nach »des Glü-

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


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ckes Lampe« streben kann, ohne sich dem Teufel zu verschreiben.
Gerade dass Aladdin nichts von den Zauberkräften der Lampe weiß,
verschafft sie ihm, während der Magier, der ein Leben lang nach ihr
strebte, sie zwangsläufig verliert. Sultanstochter, Palast und Lampe fal-
len dem ›Glückskind‹ zu. Der beabsichtigte Wettstreit mit Goethe (der
später in Oehlenschlägers deutschsprachigem Künstlerdrama Correg-
gio, 1816, kulminierte) geriet jedoch über die Intention nicht hinaus.
Trotz einzelner großer Szenen erreicht Oehlenschlägers Aladdin die
Größe und poetische Reife des Faust nicht. Dazu drängt sich zu sehr
eine Tendenz zum romantischen Effekt, zum Genrebild vor, hinter der
die Idee, die das Märchen gestalten will, fast verschwindet. Gerade so
glückte dem Dichter jedoch ein buntes, vielgestaltiges Werk, das nicht
zuletzt dank der publikumswirksamen Volksszenen großen Anklang
fand und von anhaltender Wirkung auf die skandinavische Dichtung
war – nicht zuletzt auf H. C. Andersen, der sich lebenslang auf Oehlen-
76 schlägers Märchenhelden berief. ALFONS HÖGER
E. T. A. HoffmannE.T.A. Hoffmann
* 24. Januar 1776 in Königsberg (Kaliningrad, Russland)
† 25. Juni 1822 in Berlin (Deutschland)

(d. i. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann) – 1792–1795 Jura-Studium


in Königsberg, danach juristische Tätigkeit in Glogau, Berlin, Posen,
Plock an der Weichsel und Warschau; 1808–1813 Musikdirektor,
Kapellmeister, Komponist und Theatermaler in Bamberg; 1813/1814
Kapellmeister in Dresden; ab 1814 als preußischer Beamter in Berlin
(1816 Kammergerichtsrat, 1821 Mitglied des Appellationssenats des
Kammergerichts); 1816 Uraufführung der Oper Undine. Seit 1809 mit
ironischen Romanen und Erzählungen erfolgreich, in denen die
romantische Idee einer ›Duplizität‹ von Alltagswelt und Phantasie
erfahrbar wird.

Fantasiestücke in Callot’s Manier. Blätter aus dem Tage- 77


buche eines reisenden Enthusiasten. Mit einer Vorrede
von Jean Paul

E .T. A . HOFFM A NN
Die 1814/15 in vier Teilen unter dem Titel Fantasiestücke in Callot’s
Manier anonym erschienene und 1819 überarbeitet wieder aufgelegte
Sammlung von Erzählungen hat E. T. A. Hoffmanns Ruhm als Dichter
begründet. Die insgesamt 19 Einzeltexte, überwiegend in der Allge-
meinen Musikalischen Zeitung (AMZ) vorveröffentlicht (»Ritter Gluck«,
»Don Juan« sowie die »Kreisleriana« Nr. 1, 3, 4, 5, 7, 9, 10, 11), handeln
fast ausschließlich vom Zentralthema Kunst, speziell von der Musik.
Ihre lockere Verbindung wird durch die fiktive Verfasserschaft eines
exaltierten Kunstfreundes gewährleistet, der wiederholt selbst als
handelnde Figur auftritt und dessen an sich zusammenhanglose Auf-
zeichnungen vom ebenso fiktiven Herausgeber »Theodor Amadäus
Hoffmann« ausgewählt wurden.
Das Stichwort »Manier« signalisiert bereits im Titel die anti-klassi-
zistische Ausrichtung der Fantasiestücke, die nicht auf Objektivität, son-
dern auf die »besondere subjektive Art wie der Verfasser die Gestalten
des gemeinen Lebens anschaut und auffasst« abzielen (Brief Hoff-
manns an den Verleger Kunz vom 8. September 1813). In dieser Absicht
mischen die Fantasiestücke bizarr-phantastische Geschichten mit

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_14, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
grotesken Satiren auf die Kunstbegeisterung des bürgerlich-dilettan-
tischen Publikums. Das poetologische Konzept hierfür wird in der Art
einer Vorrede in der einleitenden Reflexion »Jaques Callot« formuliert,
die den französischen Zeichner und Radierer (1592/93–1635) zum Vor-
bild eines phantastischen Erzählens erklärt. Sind Callots Zeichnungen
»nur Reflexe aller der fantastischen wunderlichen Erscheinungen, die
der Zauber seiner überregen Fantasie hervorrief«, so soll auch poetisch
»etwas fremdartig Bekanntes« geschaffen werden, das den »Schimmer
einer gewissen romantischen Originalität« trägt. Für den Dichter
bedeutet »Callot’s Manier« daher, dass er die »Gestalten des gewöhn-
lichen Lebens«, die ihm »in seinem innern romantischen Geisterreiche
erscheinen«, »nun in dem Schimmer, von dem sie dort umflossen, wie
in einem fremden wunderlichen Putze darstellt«.
Die damit verbundene Wirkungspoetik zielt auf eine Romantisie-
rung des Lesens durch Irritation des Alltagsverstandes, der die skur-
78 rilen Geschichten nicht zu begreifen vermag. Deutlich wird das an
der 1809 in Berlin spielenden Erzählung Ritter Gluck (Erstdruck: AMZ
vom 15. Februar 1809), die die zweimalige Begegnung des reisenden
Enthusiasten mit einem seltsamen Mann schildert, der das philiströse
Opernpublikum verhöhnt, auf dem Klavier aus Partituren von
C. W. Glucks Opern spielt, obwohl die Seiten keine Noten enthalten,
und dabei die Originale »gleichsam in höherer Potenz« interpretiert.
Dass sich der Mann zuletzt mit »Ich bin der Ritter Gluck!« vorstellt,
obwohl der Komponist bereits 1787 verstorben ist, muss die Leser frap-
pieren. Sie haben keine Möglichkeit einer rationalen Auflösung, weil
der Ich-Erzähler offen lässt, ob er es mit einem Geisteskranken, einem
Gespenst oder einer Phantasie zu tun hatte.
Die Kreisleriana Nr. 1–6 umfassen »kleine, größtenteils humoristi-
sche Aufsätze«, in denen sich der in vielen Eigenschaften als Selbst-
porträt Hoffmanns gezeichnete Kapellmeister Johannes Kreisler
als aus dem »Gleichgewicht« geratener Künstler darstellt, der nicht
mehr »mit der Welt zu leben« versteht. Kreisler attackiert in seinen
»musikalischen Leiden« den ästhetischen Unverstand der gebildeten
Gesellschaft, ironisiert deren banausisches Unterhaltungsbedürfnis
in den »Gedanken über den hohen Wert der Musik« und entwirft in
»Beethovens Instrumentalmusik« (aus zwei Beethoven-Rezensio-
nen Hoffmanns montiert) die Grundideen der romantischen Musik-
ästhetik.
Don Juan (1813) erzählt eine »fabelhafte Begebenheit« des Enthu-
siasten, der bei einer Aufführung von Mozarts Don Giovanni von der
Sängerin der Donna Anna in seiner Loge besucht wird, obwohl sie
doch auf der Bühne agiert: »Die Möglichkeit abzuwägen, wie sie auf
dem Theater und in meiner Loge habe zugleich sein können, fiel
mir nicht ein.« Um Mitternacht begibt sich der Erzähler in das leere
Theater, schreibt an »Theodor« eine erotisierte Interpretation des Don
Giovanni und glaubt um zwei Uhr nachts »Annas Stimme zu hören«,
die ihm ein »unbekanntes Geisterreich«, ein »Dschinnistan voller
Herrlichkeit« aufschließen soll, bevor ein »Gespräch des Mittags an
der Wirtstafel, als Nachtrag« den Realitätsschock bringt: »Signora ist
heute morgens Punkt zwei Uhr gestorben.«
Die Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza führt
M. de Cervantes’ gesellschaftssatirische Novelle El coloquio de los perros 79
fort. Als »poetischer Hund«, der durch Zauberei unsterblich geworden
ist und von Zeit zu Zeit sprechen kann, erzählt Berganza seine Schick-

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sale: Nachdem ihm der Kapellmeister Kreisler das »innerste Heilig-
tum« der Musik aufgeschlossen hat, wird er zum Leibhund eines
musikliebenden Mädchens, das er jedoch verlassen muss, als er in der
Hochzeitsnacht den vulgären Gatten angreift. Da Berganza anschlie-
ßend als Theaterhund untergekommen ist, folgt eine lange Auseinan-
dersetzung mit dem zeitgenössischen Theater, in der Berganza eine
romantische Poetik propagiert und zuletzt Novalis als Inbegriff des
Dichters feiert.
»Der Magnetiseur« erzählt in Kurzfassung eine Art Schauerroman:
Eine ganze Familie fällt den unheilvollen Machenschaften des zyni-
schen Magnetiseurs Alban zum Opfer, der den Mesmerismus dazu
benutzt, »die unbedingte Herrschaft über das geistige Prinzip des
Lebens« zu erzwingen. Der skeptische Maler Bickert beobachtet die
Vorfälle und dokumentiert sie, bevor er friedlich stirbt.
Den Höhepunkt und größten Erfolg der Fantasiestücke bildet
Der goldene Topf. Das »Märchen aus der neuen Zeit« erzählt in zwölf
»Vigilien« (Nachtwachen) die Schicksale des ungeschickten Studen-
ten Anselmus, der sich in die goldgrüne Schlange Serpentina ver-
liebt, die eine der drei Töchter des Archivarius Lindhorst ist, bei dem
Anselmus orientalische Manuskripte kopiert. Ein Gegenzauber, den
Konrektor Paulmanns Tochter Veronika mit Hilfe der hexenartigen
Rauerin anwendet, scheitert an Anselmus’ Treue zu Serpentina, mit
der er zuletzt sein Glück als Dichter auf einem »Rittergute in Atlan-
tis« erlangt; Veronika findet als Gattin des Registrators Heerbrand
die Erfüllung als »Frau Hofrätin«. Die Geschichte um Anselmus und
Serpentina, in die als Familiengeschichte des auf die Erde verbann-
ten Salamanders Lindhorst auch noch der triadische Mythos von
der Liebe des Jünglings Phosphorus zur Feuerlilie eingeflochten ist,
hat allerdings gar keine Geltung für sich: Wie vor allem die zwölfte
Vigilie deutlich macht, handelt es sich beim Anselmus-Märchen um
eine Erfindung des Erzählers, der seinen Schreibprozess erzählt, an
der Schilderung von Anselmus’ Glück jedoch zunächst scheitert und
nur durch die Hilfe Lindhorsts, der ihm angezündeten Arrak mit
80 Zucker kredenzt (»das Lieblingsgetränk Ihres Freundes, des Kapell-
meisters Johannes Kreisler«), zum guten Abschluss des Märchens
gelangt. Eigentliches Thema des Goldenen Topfes ist daher das Dichten
selbst, wodurch Hoffmanns Märchen zu einem ironischen Text im
Sinne F. Schlegels wird, bei dem nicht die Geschichte, sondern deren
Schreibbarkeit im Mittelpunkt steht. In »Callot’s Manier« ist das
Märchen insofern geschrieben, als es phantastische Geschehnisse
in der Lebenswelt Dresdens lokalisiert und die Gegenwart dadurch
romantisch verfremdet. Dabei wird vielfach mit doppelten Identitä-
ten gespielt, die sich nicht gegeneinander abgrenzen lassen: Lindhorst
ist als »Königl. Geh. Archivarius« und Salamander sowohl eine Figur
des Anselmus-Märchens als zugleich auch ein Bekannter von dessen
Verfasser; die Rauerin ist ebenso ein gewöhnliches Äpfelweib wie
Frucht der Liebe einer Drachenfeder zu einer Runkelrübe. Auch der
gewöhnliche Alltag kann also romantisch überhöht werden, sofern
man wie Anselmus ein »kindliches poetisches Gemüt« besitzt: »[…] in
diesem Reiche, das uns der Geist so oft, wenigstens im Traume, auf-
schließt, versuche es, geneigter Leser! die bekannten Gestalten, wie
sie täglich […] um dich herwandeln, wiederzuerkennen. Du wirst dann
glauben, daß dir jenes herrliche Reich viel näher liege, als du sonst
wohl meintest.«
Die Abenteuer der Sylvester-Nacht konfrontieren den reisenden
Enthusiasten, der in einer Gesellschaft die geliebte Julie als verheira-
tete Frau wiedergefunden hat und daraufhin in einen Berliner Bier-
keller geflohen ist, sowohl mit Peter Schlemihl, der in A. v. Chamissos
Erzählung seinen Schatten verkaufte, als auch mit Erasmus Spikher,
der keinen Spiegel ertragen kann. Spikher hinterlässt dem Erzähler
am Neujahrsmorgen seine Lebensgeschichte schriftlich: Als verhei-
rateter Mann ist er in Italien der dämonischen Giulietta verfallen, die
ihm sein Spiegelbild abverlangt hat. Wieder zu Hause, soll Spikher
Frau und Sohn töten, was er jedoch nicht vermag. Nachdem Giulietta
und ihr teuflischer Begleiter Signor Dapertutto zur Hölle gefahren
sind, verzeiht Spikhers Frau ihrem Gatten, schickt ihn jedoch auf die
Suche nach dem Spiegelbild, »um wieder ein ordentlicher, vollständi-
ger Familienvater« zu werden – bislang ist jedoch noch nichts daraus
geworden. Das Postskript des Enthusiasten ist an »Theodor Amadäus
Hoffmann« gerichtet und deutet die Möglichkeit an, dass er durch 81
»jenes verführerische Frauenbild von Rembrandt oder Callot, das den
unglücklichen Erasmus Spikher um sein schönes ähnliches Spiegel-

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bild betrog«, zur Julie/Giulietta-Figur inspiriert wurde.
Die abschließenden Kreisleriana Nr. 7–13 informieren zunächst
im Brief eines Baron Wallborn an Kreisler sowie in dessen Antwort
(beide Briefe sind ein Gemeinschaftswerk Hoffmanns mit F. de la
Motte Fouqué) über die Lebensgeschichte des Kapellmeisters, der
offenbar »durch eine ganz fantastische Liebe zu einer Sängerin auf die
höchste Spitze des Wahnsinns getrieben« wurde. Die weiteren klei-
nen Texte führen die kulturkritischen Satiren fort, die bereits für den
ersten Teil der »Kreisleriana« charakteristisch sind: insbesondere die
»Nachricht von einem gebildeten jungen Mann«, in der der ehemalige
Affe Milo seiner »Freundin Pipi in Nordamerika« schildert, wie er sich
in der Gefangenschaft zum »gebildeten Menschen« entwickelt hat, der
»jetzt privatisierender Künstler und Gelehrter« ist. ALBERT MEIER

Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen


Die 1819 erschienene Erzählung präsentiert ihre Geschichte in zehn
Kapiteln vergleichsweise übersichtlich und mischt Motive des fran-
zösischen Kunstmärchens (vor allem aus den Contes de Fées der Gräfin
d’Aulnoy, 1650–1705) mit Gemeinplätzen der Absolutismus- und Auf-
klärungssatire.
Eine arme Bauersfrau hat einen »Wechselbalg« geboren, der »wie
ein gespalteter Rettich« aussieht und ein »kaum zwei Spannen hoher,
mißgestalteter Junge« ist: Klein Zaches. Aus Mitleid stattet ihn die
Fee Rosabelverde, die seit der Einführung der Aufklärung durch Fürst
Paphnutius unter dem Namen Rosenschön in einem Damenstift
lebt, mit drei roten Haaren aus. Sie bewirken, dass man die Missge-
stalt übersieht und »alles, was in seiner Gegenwart irgendein anderer
Vortrefflicher denkt, spricht oder tut«, als Leistung von Klein Zaches
wahrnimmt. Als Klein Zaches unter dem Namen Zinnober in der
Universitätsstadt Kerepes eintrifft, wird er wegen seiner vermeintli-
chen Fähigkeiten binnen kurzer Zeit zum Minister erhoben und soll
Professor Mosch Terpins Tochter Candida heiraten, in die aber der
schwärmerische Student Balthasar verliebt ist. Der poetisch begabte
82 Balthasar gewinnt die Unterstützung des Magus Prosper Alpanus,
der in einem grotesken Duell die Fee Rosabelverde bezwingt und
dabei den Kamm zerstört, mit dem sie Klein Zaches’ magische Haare
immer gekämmt hat. Alpanus klärt Rosabelverde über die Unwürdig-
keit ihres Schützlings auf und Balthasar kann, unterstützt von seinen
Freunden Fabian und Pulcher, Zinnober bei dessen Verlobungsfeier
die Zauberhaare ausreißen. Als Klein Zaches in seiner Jämmerlich-
keit entdeckt ist, kommt es zu einer allgemeinen »Rebellion«, und
Klein Zaches stürzt auf der Flucht in einen vollen Nachttopf, worin
er einen »humoristischen Tod« stirbt (Hoffmann spielt hier mit der
ursprünglichen Bedeutung von ›Humor‹: Feuchtigkeit). Weil Klein
Zaches im Tod wieder in seiner Ministerwürde erscheint und Alpanus,
der »nach dem fernsten Indien« abreist, Balthasar zum Erben einsetzt,
nimmt das Märchen ein »wirklich ganz und gar fröhliches Ende«.
Balthasar führt mit Candida die »glücklichste Ehe in aller Wonne und
Herrlichkeit« und wird als Besitzer des »wunderbaren Landhauses«
von Alpanus »in der Tat ein guter Dichter«; Klein Zaches’ Mutter
wird Hoflieferantin für Zwiebeln und dem borniert rationalistischen
Naturwissenschaftler Mosch Terpin ist der Gedanke aufgegangen, »es
sei wohl mit seinem Naturforschen ganz und gar nichts, und er säße in
einer herrlichen bunten Zauberwelt wie in einem Ei eingeschlossen«.
Im Schlusskapitel wünscht der Erzähler, dass seine Leser sich »mit
recht heitrem unbefangenem Gemüt […] gefallen lassen, die seltsamen
Gestaltungen zu betrachten, ja sich mit ihnen zu befreunden, die der
Dichter der Eingebung des spukhaften Geistes, Phantasus geheißen,
verdankt«. Ziel der Lektüre ist daher die »Stimmung« des Humors, in
der die Leser »hin und wieder über manches recht im Innern«
lächeln. ALBERT MEIER

Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und


Märchen. Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann
Die zwischen 1819 und 1821 in vier Bänden erschienene Sammlung
Die Serapions-Brüder mit Erzählungen, Märchen und Gesprächen ver-
bindet nach dem Vorbild von L. Tiecks Phantasus (1812–1816) zumeist
bereits veröffentlichte Erzählungen durch eine Rahmenhandlung:
Freunde treffen sich regelmäßig, lesen ihre Werke vor und diskutieren
sie anschließend im geistreichen Gespräch. Im lebensweltlichen Hin- 83
tergrund stehen die Abende des Seraphinen-Ordens, in dem sich Hoff-
mann mit Berliner Freunden (u. a. A.v. Chamisso, C. W. Contessa und

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J. E. Hitzig) zwischen Ende 1814 und Sommer 1815 wöchentlich traf,
weshalb die Sammlung zunächst unter dem Titel »Die Seraphinenbrü-
der« angekündigt wurde. Nach der Rückkehr Chamissos von seiner
Weltreise kam es 1818 am Tag des heiligen Serapion (14. 11.) zu einer
Neuauflage der Treffen unter dem Namen »Serapions-Brüder«. Die
zunächst vier Serapions-Brüder (Theodor, Lothar, Ottmar, Cyprian),
zu denen im vierten Abschnitt Vinzenz und Sylvester hinzustoßen,
sind in ihrer Charakterisierung zwar durch die Eigenarten von Hoff-
manns tatsächlichen Dichterfreunden angeregt, weisen jedoch keine
entschlüsselbare Porträt-Ähnlichkeit auf.
Die Sammlung ist systematisch angelegt: Acht Abende sind auf
vier Bände mit je zwei Abschnitten verteilt, wobei jeder Band mit
einem Märchen abgeschlossen werden sollte (die für Band 3 vorge-
sehene »Königsbraut« steht allerdings erst am Ende von Band 4). Sie
umfasst Erzählungen unterschiedlichster Art, deren Motive überwie-
gend den Bereichen Gespenster-Erscheinungen und Magnetismus,
Künstlerleben, Geisteskrankheit und Kriminalität entstammen. Bei
den 28 Erzählungen hat Hoffmann zum Teil auf sehr frühe Werke (ab
1813) zurückgegriffen; eigens für die Serapions-Brüder sind nur »Die
Bergwerke zu Falun« (1819) und »Die Königsbraut« (1821) geschrieben
worden. Allerdings wachsen sich die Rahmen-Gespräche gelegent-
lich zu eigenen Geschichten aus, was die Unterscheidung zwischen
Rahmen und Binnenerzählungen erschwert. Viele Erzählungen sind
durch zeitgenössische Gemälde veranlasst (z. B. geht »Die Fermate«,
wie die Erzählerfigur Theodor selbst bemerkt, auf J. E. Hummels Gesell-
schaft in einer italienischen Lokanda, 1814, zurück) oder durch historisches
Textmaterial motiviert (so liegt etwa der »Brautwahl« das Ende des
16. Jh.s handschriftlich verbreitete Microchronicon Marchicum des Berli-
ner Magisters P. Hafftitz zugrunde).
Die Begleitung der Erzählungen durch Gespräche, mit der Hoff-
mann das auf G. Boccaccios Decamerone (ca. 1349 bis 1353 entstanden)
zurückgehende Modell des Novellenzyklus fortführt, erlaubt die
Kommentierung seiner Werke durch eine zwar unsystematisch
84 formulierte, jedoch schlüssige Poetik. Dies geschieht bereits einlei-
tend anhand der von Cyprian erzählten Geschichte des Einsiedlers
Serapion: Cyprian ist in einem »Wald zwei Stunden von B***« einem
Eremiten begegnet, der sich für den Einsiedler Serapion hält, »der
unter dem Kaiser Dezius in die Thebaische Wüste floh und in Alexan-
drien den Märtyrer-Tod litt«. Cyprians Versuch, den Geisteskranken
dadurch zu heilen, dass er ihm die Widersinnigkeit seiner fixen Idee
aufzeigt, scheitert kläglich, weil Serapion alle Argumente vernünftig
entkräftet. Im weiteren Gespräch erzählt Serapion Novellen, »wie sie
nur der geistreichste, mit der feurigsten Phantasie begabte Dichter
anlegen, durchführen kann«. Die entscheidende Diskussion der Dich-
terfreunde findet erst im Anschluss an »Rat Krespel« statt, als man
bemerkt, dass gerade Serapionstag ist.
An Serapions Beispiel wird das ›serapiontische Prinzip‹ entwickelt,
das als Kern von Hoffmanns Poetik verstanden werden darf. Einerseits
war der Einsiedler Serapion »ein wahrhafter Dichter, er hatte das wirk-
lich geschaut, was er verkündete, und deshalb ergriff seine Rede Herz
und Gemüt«; andererseits war er wahnsinnig, weil ihm »die Erkenntnis
der Duplizität« von Phantasiewelt und Lebenswelt fehlte: »Aber du, o
mein Einsiedler, statuiertest keine Außenwelt, du sahst den versteck-
ten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft; und wenn
du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptetest, daß es nur der Geist
sei, der sehe, höre, fühle, der Tat und Begebenheit fasse, und daß also
auch sich wirklich das begeben, was er dafür anerkenne, so vergaßest
du, daß die Außenwelt den in den Körper gebannten Geist zu jenen
Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkür.« Die Serapions-
Brüder geben sich daraufhin das ›serapiontische Prinzip‹ als Regel:
»Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkün-
den unternommen, ehe er es wagt, laut damit zu werden.« Während
der Wahnsinnige nichts kennt als seine Phantasiewelt, muss es dem
wahren Dichter möglich sein, neben seiner Einbildung auch der Wirk-
lichkeit ihr Recht zu lassen. Am deutlichsten kommt diese ›Duplizität‹
im Bild der »Himmelsleiter« zum Ausdruck, das Theodor im Anschluss
an »Die Brautwahl« erläutert: »Ich glaube, daß die Basis der Himmels-
leiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt
sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag.« Wie fatal
die Folgen sind, wenn statt der Harmonie von Phantasie und Wirklich- 85
keit ein »Mißverhältnis des innern Gemüts mit dem äußern Leben«
herrscht, das zeigen neben »Der Einsiedler Serapion« weitere Erzäh-

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lungen der Serapions-Brüder wie »Rat Krespel« oder »Spieler-Glück«.
Nußknacker und Mausekönig, zuerst 1816 mit weiteren Märchen von
F. Contessa und F. de la Motte Fouqué veröffentlicht, ist ein »Kinder-
märchen«, das »der tolle Spukgeist Droll selbst eingegeben hat«.
Sowohl mit seinem Motiv des lebendig gewordenen Spielzeugs als
auch mit seiner Doppelstrategie, zugleich für Kinder und Erwachsene
interessant zu sein, ist es zum Prototyp populärer Unterhaltungs-
kultur geworden: Fritz und Marie, den Kindern des Medizinalrates
Stahlbaum, wird vom Paten Droßelmeier am Weihnachtsabend
kompliziertes Spielzeug geschenkt, dem sie aber Zinnsoldaten bzw.
einen Nussknacker vorziehen. Um Mitternacht taucht ein Mäuseheer
auf, und die Spielsachen werden lebendig; Marie verletzt sich in ihrer
Angst an Glas, erlebt einen Angriff der Mäuse auf die vom Nusskna-
cker befehligten Zinnsoldaten und Puppen und wird ohnmächtig, als
die Mäuse unter Führung des siebenköpfigen Mäusekönigs die Ober-
hand gewinnen.
Während Maries Krankheit erzählt Droßelmeier die groteske
Geschichte von Prinzessin Pirlipat: Weil die Mäuse vom Hof ver-
trieben wurden, hat Frau Mauserink aus Rache die Königstochter in
ein abscheuliches Monstrum verwandelt; Hilfe bringt nur die Nuss
Krakatuk, die nach 15 Jahren in Nürnberg gefunden und durch einen
jungen Herrn Droßelmeier geknackt wird. Die Prinzessin gewinnt
ihre Schönheit wieder, doch der Jüngling verwandelt sich in einen
hässlichen Nussknacker. Marie, die ihren Nussknacker mit dem jun-
gen Droßelmeier aus dem Märchens von der harten Nuss identifiziert,
will den Mäusekönig mit Marzipan und Zuckererbsen besänftigen,
bis zuletzt der Nussknacker den Mäusekönig besiegt und Marie in ein
Schlaraffenland führt, wo er Prinz ist. Die rationale Erklärung, Marie
habe das alles nur geträumt, wird in dem Augenblick fragwürdig, als
Droßelmeiers Neffe aus Nürnberg ankommt, seiner Retterin Marie
einen Heiratsantrag macht und sie binnen »Jahresfrist« zur Königin
eines Landes erhebt, »in dem man überall funkelnde Weihnachtswäl-
der, durchsichtige Marzipanschlösser, kurz, die allerherrlichsten, wun-
86 derbarsten Dinge erblicken kann, wenn man nur darnach Augen hat«.
Doge und Dogaresse, zuerst erschienen 1818 im Taschenbuch für das
Jahr 1819 der Liebe und Freundschaft gewidmet, schildert in der Rahmen-
handlung den Streit, ob C. W. Kolbes Gemälde Doge und Dogaressa, 1816
in der Berliner Akademie der Künste ausgestellt, die »augenblickliche
Situation eines alten abgelebten Mannes, der mit aller Pracht und
Herrlichkeit nicht die Wünsche eines sehnsuchtsvollen Herzens zu
befriedigen vermag, oder eine wirkliche geschichtliche Begebenheit
habe darstellen wollen«. Ein seltsamer Fremder tritt hinzu, der das
Gemälde als – eventuell unbeabsichtigte – Darstellung des Dogen
Marino Falieri und seiner Gattin Annunziata deutet und »mit Falie-
ris Geschichte die Erklärung des Bildes« gibt. Hoffmann ergänzt die
in J. F. Le Brets Staatsgeschichte der Republik Venedig dokumentierte
Verschwörung um den Dogen Falieri (1354) durch die frei erfundene
Geschichte des jungen Lastträgers Antonio, der in Wahrheit Sohn
eines von der venezianischen Signoria hingerichteten deutschen
Kaufmanns ist und Anton Dalbirger heißt. Unterstützt vom alten
Bettelweib Margareta, die sich als seine Amme zu erkennen gibt,
rettet Antonio den 80-jährigen Dogen Falieri aus Seenot und erkennt
in dessen junger Gattin Annunziata ein kleines Mädchen, das ihn als
Kind vor einer Viper gerettet hat und nach dem er sich seitdem sehnt.
Margareta heilt Annunziata vom Stich eines Skorpions und bringt die
Liebenden zusammen. Antonio wird wider Willen in eine Verschwö-
rung verwickelt, die die Signoria entmachten und Falieri zum Allein-
herrscher machen soll. Als dieser Plan scheitert und die Rädelsführer
hingerichtet werden, fliehen Antonio, Annunziata und Margareta in
einer Barke aufs Meer hinaus, wo sie im Sturm ums Leben kommen.
Das Fräulein von Scuderi. Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vier-
zehnten, erstmals 1819 im Taschenbuch für das Jahr 1820 der Liebe und
Freundschaft gewidmet veröffentlicht, geht auf eine Anekdote in J. C.
Wagenseils Nürnberger Chronik De Sacri Rom. Imperii Libera Civitate
Noribergensi Commentatio (1697) zurück. Magdaleine von Scuderi
(eigentlich: Madeleine de Scudéry), eine am Königshof anerkannte
Dichterin, wird im Herbst 1680 in einen Kriminalfall verwickelt, als
ihr ein junger Mann nachts ein Kästchen mit wertvollem Schmuck
ins Haus bringt. Einige Zeit später drängt er sie dazu, das Geschmeide
dem Goldschmied Cardillac zurückzugeben. Als sie das verspätet tut, 87
findet sie Cardillac ermordet vor. Als Täter gilt Cardillacs Gehilfe Oli-
vier Brusson, der auch für eine Serie von Morden an Cardillacs Kun-

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den verantwortlich gemacht wird. Madelon, die Tochter Cardillacs
und Verlobte Brussons, bittet das Fräulein von Scuderi um Hilfe. Brus-
son, Sohn einer einstigen Bediensteten der Scuderi, darf dem Fräulein
eine geheime Beichte ablegen: Cardillac hat die Käufer seiner Juwelen
ermordet, weil er sich von seinen Werken nicht trennen konnte, und
ist zuletzt von dem königlichen Offizier de Miossens in Notwehr
getötet worden. Brusson verschweigt diese Zusammenhänge vor der
Justiz, um Cardillacs Tochter zu schonen. Mit diesem Wissen kann das
Fräulein von Scuderi den König zur Begnadigung Brussons bewegen,
nachdem Miossens seine Aussage gemacht hat. Hoffmanns historisch
präzis recherchierte Erzählung, die ein durch Verbrecher und Polizei
terrorisiertes Paris schildert, verbindet das Spannungselement der Kri-
minalgeschichte mit dem psychologischen Interesse am krankhaften
Künstlertum Cardillacs, das zu der nur vorübergehend in ihrer Sicher-
heit erschütterten ironischen Souveränität der höfischen Dichterin
Scuderi in einem Kontrast steht.
Signor Formica, erstmals 1819 im Taschenbuch zum geselligen Vergnügen
auf das Jahr 1820 publiziert, versetzt den neapolitanischen Maler und
Dichter Salvator Rosa (1615–1673) in eine frei erfundene Handlung
im grotesken Stil der Commedia dell’arte. Rosa, »in Feuer und Leben
glühend und sprühend, aber dabei mit dem treusten, herrlichsten
Gemüt begabt«, verhilft in Rom dem Wundarzt Antonio Scacciati
dazu, das »verhasste Handwerk« aufzugeben und Maler zu werden.
Zugleich ermöglichen Rosas abstruse Intrigen Antonios Heirat mit
Marianna, der Nichte des ebenso alten wie geizigen Möchtegern-
Komponisten Pasquale Capuzzi. Die entscheidenden Szenen spielen
in einem kleinen Theater vor der Porta del Popolo, wo Signor Formica
als Pasquarello Satiren aufführt. Pasquale Capuzzi wird durch einen
Doppelgänger auf der Bühne so abgelenkt, dass Antonio Marianna
nach Florenz entführen kann. Da Capuzzi die Ehe annulliert und die
kirchliche Genehmigung erhält, selber Marianna zu heiraten, muss
Signor Formica ein weiteres Mal auftreten: Indem er Capuzzi vor-
spielt, wie dessen Ehe aussehen würde und dass Marianna zuletzt
88 sterben müsste, bringt er ihn zur Einsicht und führt eine allgemeine
Versöhnung herbei. Zuletzt erweist sich, dass Signor Formica in Wahr-
heit Salvator Rosa ist. ALBERT MEIER

Prinzessin Brambilla. Ein Capriccio nach Jakob Callot


Die umfangreiche 1821 erschienene (im Tübinger Morgenblatt für
gebildete Stände 1820 vorabgedruckte) Erzählung zieht alle Register
romantischer Poesie. Im Vorwort betont der »Herausgeber«, Prinzessin
Brambilla sei kein Buch »für Leute, die alles gern ernst und wichtig
nehmen«. Die »aus irgendeiner philosophischen Ansicht des Lebens
geschöpfte Hauptidee«, die das Märchen über alle »Ungereimtheiten
und Spukereien« hinaus braucht, um trotzdem »Seele« zu haben, liegt
in Hoffmanns Konzept des ›Humors‹.
Ausgehend von Radierungen aus J. Callots Balli di Sfessania
(ca. 1620), die tanzende Karnevalsfiguren zeigen, entspinnt sich eine
groteske Geschichte, in der es zuallererst um das Erzählen selbst
geht. Der sich immer wieder einschaltende Erzähler nimmt einer-
seits für sich in Anspruch, »für dich, sehr geliebter Leser, das seltsame
Capriccio von der Prinzessin Brambilla aufzustellen«, und behauptet
andererseits, »einem höchst merkwürdigen Originalcapriccio« bloß
nachzuarbeiten. In transzendentalpoetischen Reflexionen zeigen die
Figuren, dass sie sich ihrer bloß poetischen Existenz bewusst sind und
dass »alles, was wir treiben, und was hier getrieben wird, nicht wahr,
sondern ein durchaus erlogenes Capriccio ist«.
Die Geschichte spielt während des Karnevals in Rom. Sie ver-
knüpft die Liebeshandlung um die Putzmacherin Giacinta Soardi und
den Schauspieler Giglio Fava mit einer Literatursatire auf die klassi-
zistische Tragödie. Das Liebespaar wird in rätselhafte Abenteuer im
Stil der Commedia dell’arte verwickelt, über die der Leser jeden Über-
blick verliert: Giglio glaubt sich von der mysteriösen äthiopischen
Prinzessin Brambilla geliebt, während Giacinta scheinbar den assyri-
schen Prinzen Cornelio Chiapperi heiraten will. Nachdem Giglio als
Prinz Cornelio sein Schauspieler-Ich im Duell um die Liebe der Prin-
zessin getötet hat, wird er im Palast des Prinzen Bastianello di Pistoja
zuletzt mit Giacinta vereint. Das achte und letzte Kapitel schließt
ein Jahr nach der Hochzeit damit, dass auch Giacinta Schauspielerin
geworden ist und gemeinsam mit Giglio auf der Bühne des einstigen 89
Schneiders und jetzigen Impresarios Bescapi Stegreif-Komödien
spielt.

E .T. A . HOFFM A NN
Mit dieser Karnevalshandlung ist der vom Scharlatan Celionati,
eigentlich Fürst Bastianello, erzählte Mythos von der Urdarquelle
verknüpft, der die romantische Idee von ursprünglicher Einheit, deren
Zerstörung durch Reflexion und Wiedergewinnung der Harmonie
illustriert: Der durch Nachdenken melancholisch gewordene König
Ophioch und seine beständig lachende Gattin Liris werden zunächst
durch den Blick in den Urdarsee geheilt, der sich dann jedoch trübt,
bis ihn die Vereinigung von Giglio und Giacinta in Bastianellos Palast
wieder reinigt.
Im Gespräch zwischen Celionati/Bastianello und deutschen
Künstlern im Caffè Greco wird die Urdarquelle als Symbol des
Humors deutlich, der »die Faxen des ganzen Seins hienieden« durch-
schauen lässt und die italienische Ironie mit der deutschen verbindet.
Das auf einem intertextuellen Spiel (u. a. stehen Goethes Römisches
Carneval, K. P. Moritz’ Reisen eines Deutschen in Italien und C. Gozzis Mär-
chen-Komödien Pate) beruhende Brambilla-Capriccio würde jedoch
überfordert, wollte man es als poetologische Allegorie entschlüsseln.
Nicht der rationale Gehalt ist entscheidend, sondern dass dem Leser
über allen Verwicklungen das Hören und Sehen vergeht, wodurch er
frei wird für jene Poesie, »wo Ironie gilt und echter Humor«.
ALBERT MEIER

Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier


Freunde
Jedem Leser der 1822 erschienenen Märchen-Erzählung wird es wie
der Hauptfigur Peregrinus Tyß ergehen: dass er die Geschehnisse mit
seinem »schlichten gesunden Menschenverstande gar nicht begrei-
fen« kann und sich gelegentlich vorkommt, »als sei er in ein böses
Hexenwesen verflochten«. Wie oft bei Hoffmann vermischt sich die
bürgerliche Alltagswelt (hier in Frankfurt/M. lokalisiert) mit einer
grotesken Märchenwelt, in der niederländische Naturwissenschaftler
noch leben, obwohl sie längst gestorben sind, und beinahe alle Pro-
tagonisten eine »Vorexistenz« in einem phantastischen Famagusta
90 haben.
Die von einem sich wiederholt mit poetologischen Reflexionen
einmischenden Erzähler präsentierte Handlung um Peregrinus Tyß
ist triadisch organisiert: Der seines »reinen Gemüts« wegen lebensun-
tüchtige Kaufmannssohn wird mit 36 Jahren an einem Weihnachts-
abend aus seiner »kindischen Fabelwelt« herausgerissen und in die
»wunderbarsten, tollsten Ereignisse« verstrickt; er reift daran, bevor
er zuletzt »in das wirkliche rege Leben« eintritt. Als Peregrinus der
bedürftigen Familie des Buchbinders Lämmerhirt Geschenke bringt,
flüchtet sich Dörtje Elverdink, Nichte des Flohbändigers und Magiers
Leuwenhoek und zugleich Blumenprinzessin Gamaheh, zu ihm; sie
spielt ihm ihre Liebe vor, um sich wieder in Besitz von Meister Floh
zu setzen, den Peregrinus unbewusst aus der Gewalt Leuwenhoeks
befreit hat und dessen heilsame Stiche die Prinzessin zum Überleben
braucht. Durch Meister Floh ist Peregrinus jedoch mit einem win-
zigen Augenglas ausgestattet, das ihm das Gedanken-Lesen erlaubt.
Nachdem Peregrinus in den sich überstürzenden Ereignissen den
phantastischen Zusammenhang seines Schicksals begriffen hat, ent-
sagt er Dörtje/Gamaheh zugunsten seines Freundes George Pepusch
(bzw. der Distel Zeherit). Er erkennt sich als Märchenkönig Sekakis, in
dessen Brust ein Karfunkel als Symbol der Liebe erstrahlt, und findet
die wahre Liebe in Röschen Lämmerhirt. Während Pepusch/Zeherit
und Dörtje/Gamaheh als blühender Cactus Grandiflorus bzw. Tulpe
im Liebestod erlöst werden, gelingt Peregrinus und Röschen Glück
ein bürgerliches Familienleben, wobei sich Meister Floh als »guter
Hausgeist« nützlich macht.
Weil der preußische Polizeidirektor v. Kamptz in der nur locker
mit der Märchenhandlung verknüpften Episode um den Geheimen
Hofrat Knarrpanti eine Satire auf sein Verhalten bei der sogenannten
›Demagogenverfolgung‹ sah, konnte die Erzählung ursprünglich nur
gekürzt erscheinen. In der juristischen »Erklärung zu Meister Floh«
hat Hoffmann sein »ganz ins Gebiet des ausgelassensten Humors«
streifendes Märchen verteidigt und dem »humoristischen Dichter«
das Recht zugesprochen, »sich in dem Gebiet seiner phantastischen
Welt frei und frisch zu bewegen«. ALBERT MEIER

91

E .T. A . HOFFM A NN
Friedrich de la Motte Fouqué
* 12. Februar 1777 in Brandenburg a. d. Havel (Deutschland)
† 23. Januar 1843 in Berlin (Deutschland)

Von Hauslehrern unterrichtet; 1794 Eintritt in das preußische Küras-


sierregiment Herzog von Weimar, Leutnant, Teilnahme am Ersten
Koalitionskrieg gegen Frankreich; 1802 Aufenthalt in Weimar und
Zusammentreffen mit Goethe, Schiller und Herder; ab 1804 Kontakt
mit den Berliner Romantikern, 1806 erster Roman; 1810/11 Mitarbeit an
den von Kleist herausgegebenen Berliner Abendblättern; Freundschaft
u. a. mit E. T. A. Hoffmann und A. von Chamisso; 1813 Leutnant im
Krieg gegen Napoleon; Romanautor der Romantik.

Undine. Eine Erzählung


Das Kunstmärchen erschien 1811 unter dem Titel Undine. Eine Erzählung
92 in den Jahreszeiten, einer von Fouqué herausgegebenen Vierteljahrsschrift
für romantische Dichtungen, deren einziger Autor er selbst war. Goethe
nannte die Undine »allerliebst« und »ein anmuthiges Büchlein«. Fou-
qué stand gerade im Zenit seines glänzenden, aber kurzen Ruhms.
Friedrich Schlegel und Jean Paul überschlugen sich vor Lob für Fou-
qué. Grillparzer zufolge setzte »ein großer Teil der Nation ihn dem Alt-
meister Goethe an die Seite«; Kerner schrieb in einem Brief: »Fouqué
ist fast mehr als ein Mensch!!« Wie in seinen frühen Werken traf Fou-
qué mit der Undine den Nerv der gerade grassierenden Begeisterung
fürs Alt-›Deutsche‹. Darin zunächst auch von anti-napoleonischer,
deutsch-nationaler Stimmung getragen, empfand man jedoch bald
allen »mittelalterlichen Trödel« als »lästig«, wie Heine in der Romanti-
schen Schule schreibt.
Undine erzählt von der Dreiecksbeziehung zwischen zwei Frauen
und dem Ritter Huldbrand von Ringstetten, den die »hochmütige,
wunderliche Maid« Bertalda in einen gefürchteten Spukwald schickt.
Ein Unwetter treibt ihn zu einem armen Fischerpaar, bei dem Undine
lebt. Huldbrand verliebt sich in das zärtlich-freche Mädchen. Ein
ebenfalls durch Wetterunbill zu den Fischern verschlagener Pater
traut die beiden. Dabei schaut ein unheimlicher weißer Mann durchs
Fenster: der Elementargeist Kühleborn. Nach der Hochzeitsnacht

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_15, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
erklärt Undine Huldbrand, dass auf Geheiß ihres Vaters ihr Oheim
Kühleborn durch Wetterumtriebe das Zusammentreffen arrangiert
habe, damit sie – ein »zartes«, aber seelenloses »Wasserweib« – durch
die Hochzeit mit einem Menschen eine Seele gewönne.
Huldbrand nimmt Undine – nun ein »demütiges« »Hausmütter-
lein« – mit auf seine Burg, wo sie zu dritt mit Bertalda leben. Doch
seine Liebe ist nicht von Dauer. Er wendet sich wieder Bertalda zu und
lässt Undine leiden. Als er sie auf einer Donaufahrt verstößt, muss sie
ins Wasser zurückkehren. Entgegen ihrer Warnung heiratet Huld-
brand Bertalda. In der gleichen Nacht kommt Undine und tötet ihn
mit einem Kuss.
Auf den ersten Blick wirkt Fouqués Undine schlicht und volks-
tümlich. Stereotype Beiwörter wie »hold« häufen sich. Handlung oder
Empfindung einer Figur sind kaum je psychologisch nachvollziehbar.
Ob Fouqué hierin den von ihm geschätzten ›mythischen‹ Vorbildern
folgt oder, wie Kritiker meinen, der Trivialliteratur seiner Zeit – die 93
Undine ist dennoch ein spezifisch modernes, selbstreflexives Kunst-
märchen. Bertalda etwa wundert sich, dass »sie nun selbst wie mitten

FR IEDR ICH DE L A MO T T E FOUQU É


in einem von den Märchen lebe, die sie sonst nur erzählen gehört«.
Raffiniert ist die Inszenierung der Landschaft. So entstehen immer
wieder Inseln, auf denen Undine und Huldbrand zusammenkommen:
Orte jenseits gesellschaftlicher Zwänge, die M. Foucault »Hetero-
topien« genannt hat. Dabei steht das von Verlangen, aber auch von
Gewalt geprägte Verhältnis der Geschlechter im Mittelpunkt der
Erzählung. Das wird in einem der ersten Sätze klar, der sexualmeta-
phorisch den Ort der Handlung beschreibt: »Der grüne Boden […]
streckte sich weit in einen großen Landsee hinaus, und es schien
ebensowohl, die Erdzunge habe sich aus Liebe zu der bläulich klaren,
wunderhellen Flut in diese hineingedrängt, als auch, das Wasser habe
mit verliebten Armen nach der schönen Aue gegriffen.«
Motivgeschichtlich steht die Figur der Undine in der Tradition
weiblich-verführerischer Naturwesen, die bis zu Homers Sirenen
zurückreicht. Aus Paracelsus’ 1566 erschienenem Liber de nymphis,
sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus bezog Fouqué das
Motiv des Seelenerwerbs, aus dem sich die frühe Deutung der Undine
als Parabel von der Erlösungsbedürftigkeit der Natur ergab. Auf sie
folgte die Interpretation der Geschichte als Versöhnung von Geist
und Natur. In jüngster Zeit gilt das Augenmerk häufig der Geschlech-
ter-Repräsentation. So spiegelt sich in Huldbrands Selbstbezeichnung
als »Pygmalion« die Auffassung, die »wahre Frau« sei »das Ideal des
Naturmenschen«, der »wahre Mann das Ideal des Kunstmenschen«
(Novalis). Fouqué hat diese Auffassung wohl geteilt; in einer zwei-
ten Auflage widmete er die Undine den »lieben, schönen, deutschen
Frauen«. Dennoch lässt sich die Undine zumindest insofern als Kritik
der ihr eingeschriebenen patriarchalischen Wertungen lesen, als sie
das durch sie verursachte Leiden vor Augen stellt: »Und ach, ich war
so leicht, so lustig sonst!«, sagt Undine noch am Abend ihrer Hochzeit.
Ganz anders ist die Lesart P. von Matts, der Undines Liebe als »deut-
sche Gegenreligion« deutet, die »auf die Beseitigung des Vatergottes
aus« sei und schließlich mit ihrem – auch politischen – »deutschen
Traum« vom »senkrecht hereinbrechenden Paradies« scheitere.
94 Zu den Werken, die an Fouqués Undine anknüpfen, zählen
E. T. A. Hoffmanns Oper Undine, die – mit einem Libretto Fouqués
und mit Bühnenbildern von Karl Friedrich Schinkel – 1816 in Berlin
uraufgeführt wurde. J. Giraudoux’ Drama Ondine wurde erstmals
1939 gezeigt; I. Bachmanns Erzählung Undine geht erschien 1961.
STEFAN BÖRNCHEN
Jacob und Wilhelm Grimm
Jacob Ludwig Karl Grimm
* 24. Februar 1786 in Hanau (Deutschland)
† 16. Dezember 1859 in Berlin (Deutschland)

Bruder von Wilhelm Grimm; 1802 Jurastudium in Marburg (u. a. bei


F. C. von Savigny), ab 1803 im Kreis der ›Heidelberger Romantiker‹
um C. Brentano und A. von Arnim; 1806–1807 Sekretär am ›Kriegskol-
legium‹ in Kassel; 1808–1813 Privatbibliothekar; 1813–1816 hessischer
Legationssekretär; 1830 Bibliothekar und Professor in Göttingen, 1837
Amtsenthebung aufgrund der Teilnahme am Protest der ›Göttinger
Sieben‹; Märchen-, Mythen-, Rechts- und Sagenforscher; Mitbegrün-
der der deutschen Sprachwissenschaft.

Wilhelm Karl Grimm 95


* 1. April 1795 in Hanau (Deutschland)
† 20. September 1863 in Berlin (Deutschland)

JACOB UND WIL HEL M GR IMM


Bruder von Jacob Grimm; 1803–1806 Jurastudium in Marburg (u. a. bei
F. C. von Savigny); Kontakt zu den Romantikern C. Brentano und
A. von Arnim, Bekanntschaft mit Goethe; 1814–1829 Sekretär an der
kurfürstlichen Bibliothek zu Kassel; 1830 Bibliothekar an der Univer-
sität Göttingen, dort ab 1831 Professor; 1837 Entlassung der Brüder
Grimm wegen Beteiligung am Protest der ›Göttinger Sieben‹; Sprach-
und Literaturwissenschaftler, Sagenforscher, Hauptredakteur der
Kinder- und Hausmärchen.

Kinder- und Hausmärchen


Die von den jugendlichen Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm gesam-
melten, ausgewählten und redigierten Märchen wurden jeweils mit
einem Kommentar im Anhang erstmals in zwei Bänden 1812 (86 Num-
mern) und 1815 (72 Nummern) veröffentlicht; zur Zweitauflage der
Märchen 1819 (170 nunmehr durchnummerierte Texte) erschienen
die Grimm’schen Anmerkungen 1822 in einem selbständigen dritten
Band (Neuauflage 1856). Die Texte wurden von Auflage zu Auflage

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_16, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
überarbeitet, ihr Bestand bis hin zur Ausgabe letzter Hand (1857) fort-
während verändert, dezimiert und ergänzt: Diese umfasste schließ-
lich 201 Märchen und zehn Kinderlegenden (seit der Zweitauflage
1819 in einen Anhang ausgegliedert) zumeist in hoch-, aber auch in
niederdeutscher und pseudodialektaler Sprachform. Etwa 30 Texte
wurden im Lauf der Editionsgeschichte ausgeschieden, viele andere
durch neuerlich bekannt gewordene Varianten ersetzt oder mit diesen
kontaminiert. Textbestand und -gestalt der erstmals 1825 erschiene-
nen Kleinen Ausgabe (50 ausgewählte Texte) divergieren hingegen
nur geringfügig (die Ausgabe letzter Hand ist die zehnte Auflage von
1858).
Die Brüder Grimm wurden 1806 durch Clemens Brentano zur
Sammlung und 1812 durch Achim von Arnim zur Veröffentlichung der
Märchen angeregt und standen mit den Heidelberger Romantikern
und ihren literarischen Ideen im engsten Kontakt. Nicht nur in ihren
96 mediävistischen Arbeiten, sondern auch bei der Sammlung und Kom-
mentierung volksläufiger Literatur verfuhren sie nach dem Vorbild
J. G. Herders und vor allem in Anwendung der rechtshistorischen
Methodik ihres Marburger akademischen Lehrers F. C. von Savigny.
1810 konnten sie etwa 50 Märchentexte an Brentano senden, der sich
seinerzeit noch deren Bearbeitung und Veröffentlichung vorbehalten
hatte. Es handelt sich um Niederschriften nach gedruckten (vornehm-
lich älteren Büchern) und mündlichen Quellen (Beiträger der ersten
Stunde waren ausnahmslos junge Damen aus dem gehobenen Kasse-
ler Stadtbürgertum, in der Regel mit hugenottischen Vorfahren, was
den starken Einfluss der französischen Märchentradition erklärt).
Diese handschriftlichen ›Urfassungen‹ wurden bei Drucklegung
fast allenthalben stilistisch stark überarbeitet, wie in der 1814 datierten
Vorrede indirekt öffentlich zugegeben wurde (von den Beiträgen der
später gewonnenen Ausnahmeerzählerin Dorothea Viehmann, die
als Einzige Märchentexte diktieren konnte, sei »manches wörtlich
beibehalten«). Nach dem Muster der Erstdrucke (1812/1815) konnten
sich spätere Einsender richten: In der Ausgabe letzter Hand sind ca.
30 verschiedene Beiträger mit etwa 150 Texten vertreten (der Löwen-
anteil geht auf die evangelische hessische Dorfbewohnerin Dorothea
Viehmann, geborene Pierson, geb. 1755, und die katholische westfäli-
sche Adelsfamilie von Haxthausen/Droste-Hülshoff zurück); etwa
60 Märchen stammen aus 30 verschiedenen, meist älteren gedruckten
Quellen, in denen die Grimms Niederschlag früher einmal mündlich
verbreiteter Geschichten vermuteten.
Über Gattungsgesetze und -grenzen hatte man sich zunächst
keine Gedanken gemacht, und ein direktes Vorbild hatte man, außer
in einigen sporadischen Märchenveröffentlichungen Brentanos
sowie in P. O. Runges pseudomundartlichen Niederschriften der Mär-
chen vom »Fischer« und vom »Machandelbaum« nicht; man wollte
unter dem etwas vagen Begriff »Sage« alles, was an volksliterarischer
Tradition mündlich überliefert ist, sammeln, kommentieren und in
lesbarer Form präsentieren. Unter strengeren gattungsspezifischen
Gesichtspunkten, nach denen ein Volksmärchen neben anderem vor
allem durch Alter, anonyme Herkunft, durch Spuren der mündlichen
Tradition, durch Prosaform und Kürze sowie besonders durch unspek-
takuläre Vorstellung von Wundern charakterisiert ist, sind höchstens 97
ein Drittel der Grimm’schen »Märchen« als solche zu klassifizieren.
Daneben finden sich Sagen, Legenden, Rätsel, Schwänke und Misch-

JACOB UND WIL HEL M GR IMM


formen aller Art.
Die auch durch den nicht glücklich gewählten Doppeltitel Kinder-
und Hausmärchen gelenkte Rezeption war so von den Brüdern Grimm
nicht gewollt; ihnen ging es bei ihrer Vorstellung und Erläuterung
von Märchentexten für Erwachsene um Bewahrung alter volkslite-
rarischer Traditionen, womöglich, um damit zur Rekonstruktion des
insgesamt verlorenen »urdeutschen Mythos« (Vorrede) beizutragen
(»[…] warum wir durch unsere Sammlung […] der Geschichte der Poe-
sie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten«). Kriterien für
die Aufnahme in die Sammlung waren daneben zunächst vermutete
mythische Wurzeln, Relevanz für Themen und Motive eines voraus-
gesetzten älteren Tier(ur)epos sowie wirkliche oder hypothetische
mündliche Überlieferung. Diesem wissenschaftlichen Charakter
fühlte sich insbesondere Jacob Grimm verbunden, der die Mitarbeit
(aber nicht die grundsätzliche Unterstützung und Gutheißung der
späteren Auflagen) ab 1815 einstellte, während Wilhelm Grimm
(damit auch der zeitgenössischen Kritik entsprechend) versuchte, die
Sammlung in Textauswahl und -darbietung immer poetischer und
kindgerechter zu gestalten (so wandelte er z. B. alle die weiblichen
Märchenhelden bezeichnenden »sie« in »es« um, bemühte sich um
einfachen Satzbau, Umsetzung in wörtliche Rede, Diminutivhäufun-
gen usw.). Dennoch trat er mit der neuerlichen Charakterisierung der
Sammlung als »Erziehungsbuch« erkennbar leise und etwas unsicher
auf (in den Vorreden heißt es wechselnd, das Buch solle ein solches
»werden« bzw. als solches »dienen«). Weniger spezifisch im Blick auf
Zielgruppen waren andere Tendenzen der Textentwicklung, unter
denen die sukzessive Einfügung von über 300 Sprichwörtern hervor-
zuheben ist, die den Texten einen scheinbar festen ›Sitz im Leben‹,
dem Leser aber jeweils ein willkommenes Déjà-vu-Erlebnis beschert
haben.
Nicht allein das Aufspüren so vieler und für die Gattung Märchen
weltweit wesentlicher Texte sowie die geradezu genial gelungene
Auswahl (»Die anerkannt beste echte Märchensammlung bilden die
98 ›Kinder- und Hausmärchen‹ […], man könnte fast sagen sie machten
jede andere überflüssig«, so Ludwig Bechstein), sondern auch deren
fortwährend verbesserte Überarbeitungen sind für den nationalen
und internationalen Erfolg auf dem Buchmarkt seit etwa 1840, der
sich bis heute noch immer steigert, verantwortlich. Indem Wilhelm
Grimm den hypostasierten alten Märchenton zu rekonstruieren
suchte, schuf er unversehens einen neuen genuinen, unverwechsel-
baren und für unabsehbar viele folgende Sammlungen vorbildlichen
Märchenstil (»Diese sprachliche Behandlung aber entscheidet über
den Beruf oder Nicht-Beruf des Sagensammlers und ist […] beinah
wichtiger als das Sammeln selbst. Der Stoff findet sich schon; was
ihm erst Wert leiht, ist der Vortrag«, T. Fontane). Grimms Kinder- und
Hausmärchen sind das meistaufgelegte, bestbekannte und am häufigs-
ten übersetzte deutschsprachige Buch aller Zeiten und bilden seit
Längerem in deutschsprachigen Ländern den letzten Rest einer lite-
rarischen Allgemeinbildung. Wie kein zweites Buch bilden Grimms
Märchen weltweit ein Anspielungsreservoir für Werbung, Film und
Bebilderung, aber auch für Parodien sowie für andere Medien aller Art,
besonders für die (moderne) Literatur.
An den Schnittstellen zwischen populärer und wissenschaftlicher
Rezeption steht die Wirkung der Grimm’schen Märchen auf andere
Sprachgemeinschaften, für die sie allgemein Vorbildcharakter gewan-
nen, aber auch die psychologische, psychoanalytische, pädagogische
sowie therapeutische Märchenbetrachtung und Indienstnahme, die
sich allerdings häufig erheblich von den Textgrundlagen und -inten-
tionen entfernen. Eine gewisse Einmaligkeit ist der Grimm’schen
Sammlung in vieler Hinsicht zu attestieren; darüber darf indes nicht
vergessen werden, wie stark auch dieses Werk in seine Entstehungs-
zeit eingebunden ist, wie prägend die Textquellen, deren Beiträger
und die Brüder Grimm selbst für die berühmten Texte sind und blei-
ben. HEINZ RÖLLEKE

99

JACOB UND WIL HEL M GR IMM


Philipp Otto Runge
* 23. Juli 1777 in Wolgast (Deutschland)
† 2. Dezember 1810 in Hamburg (Deutschland)

1793 Kaufmannslehre; 1795 Eintritt in das Geschäft seines Bruders


Johann Daniel; 1799–1801 Kunststudium an der Akademie in Kopen-
hagen, ab 1801 in Dresden selbständig; 1804 Heirat und Rückkehr nach
Hamburg, ab 1807 Teilhaber in der Firma des Bruders; bekannt u. a. mit
Fichte, Goethe, A. W. Schlegel, weit verzweigte Korrespondenz; Maler
und Zeichner, vorzugsweise Landschaften und Porträts; Illustrator;
Verfasser einer Farbenlehre; schrieb Lyrik und zwei Märchen.

Vom Fischer und seiner Frau / Von dem Fischer un syner


Fru
Runge hat die niederdeutsche Geschichte im Januar 1806 in zwei
100 leicht voneinander abweichenden Fassungen aufgeschrieben, eine
sandte er an Friedrich Heinrich von der Hagen, die andere an Johann
Georg Zimmer. Daraus ergibt sich eine zweigleisige Überlieferungsge-
schichte. 1812 erschien das Märchen sowohl in Johann Gustav Gottlieb
Büschings Volks-Sagen, Märchen und Legenden als auch in einer durch
Georg Andreas Reimer überarbeiteten Fassung in den Kinder- und
Hausmärchen der Brüder Grimm. Der Stoff findet sich in Varianten in
vielen Nationalliteraturen überliefert.
Ein armer Fischer fängt einen großen sprechenden Fisch, der
den Mann um sein Leben bittet. Er erzählt seiner Frau davon, die
ihn zum Fisch zurückschickt: Er solle sich von ihm eine kleine Hütte
wünschen. Der Mann ruft den Fisch mit Versen, die zum Kernbestand
deutscher Dichtung gehören: »Manntje! Manntje! Timpe Te! / Buttje!
Buttje in der See! / Myne Fru de Ilsebill / Will nich so as ik wol will.«
Der Fisch gewährt den Wunsch. Die Hütte ist der Frau aber bald zu
klein, sie schickt ihren Mann, ein Schloss zu wünschen. Auch dieser
Wunsch wird erfüllt; das Schloss ist umgeben von einem Garten mit
Tieren »un allens wat man sik jümmer wünschen mag«. Trotzdem ist
die Frau nicht zufrieden, ihre Ansprüche steigern sich. Sie will nach-
einander König, Kaiser und Papst werden. Jedes Mal macht der Mann
Einwände, jedes Mal geht er zurück zum Meer, das immer aufgewühl-

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_17, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
ter und dessen Farbe immer dunkler wird. Der Schluss der Geschichte
ist zwingend: »Na, wat will se denn? säd de butt. – Ach! säd he –– se will
warden as de lewe gott. – Ga man hen, se sitt all wedder in’n pißputt.
Door sitten se noch bet up hüüt un düssen dag.«
Der Rat zur Bescheidenheit wird als Geschichte eines ungleichen
Paares erzählt. Die Lehre des Märchens ist kaum verhüllt, die »girig-
hait« der Frau wird explizit angesprochen, die Genügsamkeit des Man-
nes mehrmals herausgestellt. Runge bemühte sich, dem mündlichen
Erzählduktus zu folgen. Der Dialekt, die Häufung der Hauptsätze, die
formelhaften Wiederholungen und bedeutungsvollen Variationen
der Motive sind der volkstümlichen Tradition geschuldet. Die auffäl-
lige Farbsymbolik und die genauen Angaben zur zeitlichen Gliede-
rung der Handlung dürften Runges Verdienst sein.
1814 erschien das Märchen als anonyme Flugschrift mit dem
Untertitel Eine moralische Erzählung, was als Kommentar zum Schicksal
Napoleons gemeint war. Es existieren verschiedene Bühnenfassun- 101
gen. Die von Marcus Behmer gestaltete Ausgabe des Märchens in der
Insel-Bücherei (1920) gehört zu den Buchkunstwerken der Moderne.

PHIL IPP O T T O RUNGE


Das Märchen wurde mehrfach auf Hochdeutsch nacherzählt, 1976 von
Uwe Johnson. Theodor Storm verarbeitete es in Die Söhne des Senators,
Arnold Zweig in Das Beil von Wandsbek. Günter Grass nutzte für seinen
Roman Der Butt (1977) zentrale Motive und den Namen der weiblichen
Hauptfigur. HOLGER HELBIG
Ludwig Tieck
* 31. Mai 1773 in Berlin (Deutschland)
† 28. April 1853 in Berlin (Deutschland)

(Pseudo. Peter Lebrecht, Gottlieb Färber) – Gymnasium in Berlin,


Freundschaft zu W. H. Wackenroder, erste literarische Versuche;
1792–1794 Studium der Literatur, Altertumswissenschaften und Philo-
sophie in Halle, Göttingen und Erlangen; ab 1794 freier Schriftsteller
in Berlin; 1799–1800 in Jena, Freundschaft u. a. zu Friedrich von Schle-
gel und A. W. Schlegel, Novalis, Brentano und Fichte; 1803–1819 auf
Landgut in Ziebingen, zeitweise in Berlin, 1805 Italienreise; 1819–1841
in Dresden, 1825 Dramaturg des Hoftheaters, zahlreiche Novellen; ab
1841 wieder in Berlin; bedeutender romantischer Erzähler, Dramatiker,
Lyriker, Kritiker, Übersetzer, Philologe.

102 Phantasus
Die in den Jahren 1812 bis 1816 in drei Bänden erschienene Sammlung
Phantasus beinhaltet sieben Kunstmärchen und Märchennovellen im
ersten, sechs Schauspiele mit teils märchenhaften Stoffen im zweiten
und das ›dramatische Märchen‹ Fortunat im dritten Band. Der Ent-
stehungskontext der Einzelwerke ist heterogen. 1797 veröffentlichte
Tieck unter dem Pseudonym Peter Leberecht die vor allem im Jenaer
Kreis der Frühromantiker viel beachteten Volksmährchen, die bereits
viele der in den Phantasus mit allerdings teils erheblichen Überarbei-
tungen aufgenommenen Texte beinhalten. Dazu gehören Der blonde
Eckbert, Ritter Blaubart, Der gestiefelte Kater und die »Wundersame Lie-
besgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der
Provence«. Darüber hinaus enthalten die drei Bände der Volksmährchen
die Umarbeitung des Karl von Berneck, Die Geschichte von den Heymons
Kindern und Die denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger, die in der
nie erschienenen Fortsetzung der drei Bände des Phantasus vertreten
sein sollte.
Sowohl in den Volksmährchen als auch im Phantasus stellt Tieck
Übernahmen aus den Volksbüchern (z. B. der Magelone-Stoff oder
der Fortunat) und Umarbeitungen der Märchen Charles Perraults
(z. B. der Ritter Blaubart) neben eigene Schöpfungen (Der blonde Eckbert,

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_18, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
»Der Runenberg«). So sind die Texte des Phantasus in hohem Grade
intertextuell motiviert und setzen sich in meist ironischer Brechung
mit ihren Vorgängern auseinander. Die einleitenden Worte »Anstatt
einer Vorrede« adressiert Tieck an A. W. Schlegel und signalisiert damit
einen der maßgeblichen Einflüsse für die Entstehung des Werks und
für die Komposition der Rahmenhandlung. Der Jenaer Freundeskreis
um die Brüder Schlegel, Fichte, Schelling, auch Novalis, Brentano und
Schleiermacher regten Tieck zur Konzeption der dialogisch struktu-
rierten Rahmennovelle nach dem Vorbild des Decamerone (Boccaccio)
an.
Vier Damen und sieben Herren treffen sich in dieser idealisier-
ten ästhetischen Gemeinschaft, um in angeregten Gesprächen die
romantische Ästhetik, die Literatur, die Gartenbaukunst und das
Theater genauso wie Fragen der Freundschaft und der Erziehung zu
diskutieren. Tieck zeigt sich in der Konfrontation der Meinungen als
genauer und kritischer Kenner der Debatten seiner Zeit; besonders 103
mit Bezug auf Themen wie Literatur oder Theater kommt es zu zahl-
reichen poetologischen Aussagen. Die Verbindung von Gesellschaft

LU DW IG T IECK
und Poesie stellt eine Art Realisierung der Schlegel’schen »Sym-
poesie« dar. Im Kontext dieser Gespräche tragen die sieben Herren
die Einzelwerke des Phantasus (sieben Märchen in der ersten Abtei-
lung, fünf Dramen und der zweigeteilte Fortunat in der zweiten Abtei-
lung) vor; im Anschluss an diese Vorträge kommt es zu intensiven
Gesprächen über Gattungsfragen oder die Wirkung einzelner Texte.
In programmatischer Absicht werden Grundzüge romantischer
Ästhetik formuliert.
So führt in dem die erste Abteilung einleitenden Gedicht »Phanta-
sus« der Knabe Phantasus das lyrische Ich in ein Märchenland, in dem
es dem Schreck, der Albernheit, dem Scherz, der Liebe und zuletzt Pan,
»von allem der Erhalter«, in personifizierter und allegorischer Gestalt
begegnet. Über die Märchen der ersten Abteilung heißt es: »In diesen
Natur-Märchen mischt sich das Liebliche mit dem Schrecklichen,
das Seltsame mit dem Kindischen, und verwirrt unsre Phantasie bis
zum poetischen Wahnsinn, um diesen selbst nur in unserm Innern zu
lösen und frei zu machen.« Dieser Definition folgen die Märchen der
ersten Abteilung, die mit Der blonde Eckbert eröffnet wird.
Der Ritter Eckbert ist mit Bertha verheiratet; beide leben zurück-
gezogen und kinderlos. Bertha erzählt dem Freund Eckberts, Philipp
Walther, wie sie als Kind von zu Hause wegläuft und die »Waldein-
samkeit« findet, ein romantisches Märchenland, in dem eine Alte mit
einem Hund und einem sprechenden Vogel lebt. Der Vogel singt in
leitmotivischer Art immer wieder das Lied von der »Waldeinsamkeit«.
Bertha bleibt bei der Alten, die sie an Kindes statt annimmt. Mit 14 Jah-
ren wird das Lesen ihre einzige Verbindung zur Außenwelt und weckt
ihre Sehnsüchte. Als die Alte wieder einmal abwesend ist, bindet Ber-
tha den Hund an, nimmt den Vogel und die Edelsteine der Alten an
sich und flieht. Sie erfährt vom Tod ihrer Eltern. Auf ihrer Wanderung
erwürgt sie den Vogel, der sie mit dem Lied von der »Waldeinsamkeit«
ängstigt. Walther erwähnt im Anschluss an Berthas Erzählung den
Namen des Hundes Strohmian, den Bertha vergessen hatte; darauf-
hin erkrankt Bertha und stirbt im Fieber. Eckbert tötet den in seinen
104 Augen schuldigen Walther, der Berthas Erkrankung ausgelöst hat, und
schließt Freundschaft mit dem jungen Ritter Hugo. Langsam verfällt
Eckbert in einen Traum und Wahnsinn ähnelnden Zustand; er sieht
in Hugo den ermordeten Walther. Er flieht im Wahn und gelangt in
verwunschene Gegenden. Noch einmal erkennt er Walther in einem
Bauern, den er nach dem Weg fragt. Dann, als es schon »um die Sinne
Eckberts geschehn« ist, trifft er die Alte mit ihrem Vogel, die ihm
eröffnet, sie sei Walther gewesen und Bertha Eckberts Schwester. Im
Wahnsinn stirbt Eckbert.
Der häufig als ›Märchennovelle‹ etikettierte Blonde Eckbert belässt
das erzählte Geschehen in der unauflösbaren Schwebe zwischen
Traum, Wahnsinn und Realität. Die drei Erzählebenen der Gegenwart,
der Vergangenheit Berthas und des traumähnlichen Erlebens Eck-
berts am Ende des Textes sind in fließenden Übergängen so verfloch-
ten, dass sie sich durchdringen und dass besonders das Märchenhafte
und Schreckliche seine Geltung für die Gegenwart der Erzählung
behauptet. Die Verrätselung des Textes, die sich beispielsweise
am Spiel mit den Namen (Bertha – Eckbert) oder dem Anagramm
»Strohmian« (»romantisch«) zeigt, intensiviert den Charakter des
Märchenhaften und multipliziert die Deutungsmöglichkeiten. Im
nie eindeutigen Oszillieren zwischen der Idylle und der Dämonie der
Natur, das zu Krankheit und Wahnsinn Berthas und Eckberts ange-
sichts der furchtbaren Wahrheit des Inzests führt, liegt das formal und
ästhetisch Besondere des Blonden Eckbert.
Die jüngere Forschung akzentuiert die exakte Komposition des
Textes und vor allem die Selbstbezüglichkeit, die nicht nur durch
die kommentierende Rahmenhandlung, sondern auch durch zahl-
reiche Anspielungen auf das Literarische und das Erzählen im Text
selbst offenbar wird. So lösen das Lesen und das Erzählen Berthas
die bestimmenden Handlungen aus; im Zentrum des Textes steht
das Anagramm »Strohmian«, dessen Erwähnung Berthas Tod sowie
Eckberts Mord und Wahnsinn verursacht. Der singende Vogel kann
auch in Anlehnung an die Theorie des dichterischen Sprechens in den
Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders als Allegorie des
romantischen Sängers verstanden werden. Der blonde Eckbert gilt als
exemplarisch für die Gattung des romantischen Kunstmärchens und
wurde meist aus dem Kontext des Phantasus herausgelöst rezipiert. 105
Auch in der kommentierenden Rahmenhandlung zum Blonden Eckbert
wird dementsprechend betont, dass man »auf die ursprüngliche Erfin-

LU DW IG T IECK
dung einer Dichtung sehr viel halte«.
Die Wertschätzung der Originalität bezieht sich auch auf die bei-
den folgenden Märchen, Der getreue Eckart und der Tannenhäuser sowie
Der Runenberg. Mit dem Wahnsinn und dem Schrecklichen, das verstö-
rend in die reale Welt einbricht, behandeln die ersten drei Kunstmär-
chen ähnliche Motive. So hält Eckart dem Herzog die Treue, auch als
dieser Eckarts Söhne töten lässt. Eckart beschützt die Söhne des Her-
zogs, als diese von den teuflischen Mächten des Venusbergs gefangen
werden; er stirbt im Kampf gegen die Fabelwesen, die aus dem Berg
drängen. 400 Jahre später hält sich die Sage vom getreuen Eckart noch
immer, der den Wanderer am Eingang des Berges vor der Verlockung
warnt. Der Tannenhäuser jedoch ignoriert auf seinem Abstieg in die
Urgründe auch der eigenen Seele die Warnung des gespenstischen
Eckart und genießt im Venusberg alle irdischen Freuden im andauern-
den Rausch der Lüste. Auch nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr
aus dem Berg kann er den Lockungen nicht widerstehen: Nach einem
Mord kehrt er zurück in den Berg. Wahnsinn, Grauen und Schrecken
sind im Doppelmärchen Der getreue Eckart mehr als im Blonden Eckbert
an das Subjekt gebunden und klarer als Gegenwelt des Triebhaften
und der fleischlichen Sünde gekennzeichnet.
Das Motiv der Gegenwelt, in der wie in der Waldeinsamkeit und
im Venusberg die Gesetzmäßigkeiten der Realität außer Kraft gesetzt
sind, kehrt auch im 1804 erstmals veröffentlichten Runenberg wieder.
Der Jüngling Christian befindet sich nach der Trennung vom Eltern-
haus auf Wanderschaft in einem Gebirge und findet eine Alraune. Die-
ser Fund setzt ein magisch-märchenhaftes Geschehen in Gang, denn
plötzlich steht ein Fremder vor ihm, der vom sagenhaften Runenberg
erzählt. Christian erwartet auf diesem Berg seine ungestillte Sehn-
sucht befriedigen zu können; ihn spornen »irre Vorstellungen und
unverständliche Wünsche« an, so dass ihn auch die dämonische und
abweisende Landschaft nicht aufhält. Er wird schließlich der unbeklei-
deten Bergkönigin ansichtig und verfällt ihrer überirdischen Schön-
heit. Sie überreicht ihm eine kostbare Tafel voll unverständlicher
106 Zeichen, bevor Christian im Wahn den Berg hinabstürzt. Als er am
nächsten Morgen erwacht, ist die Tafel verschwunden und das nächt-
liche Geschehen in die Ferne traumähnlicher Verwirrung entrückt.
Im zweiten Teil der Erzählung wird geschildert, wie der Protago-
nist mit der blonden Elisabeth in einem fernen Dorf ein neues Leben
beginnt. Seine Ehe ist glücklich, seine Geschäfte sind erfolgreich,
dennoch ist die Bergkönigin in seinen Träumen nach wie vor präsent.
Der Wunsch, seine Eltern zu besuchen, führt ihn bald wieder in das
bedrohliche Gebirge. Die Natur erscheint nun ebenso anthropomor-
phisiert wie sexualisiert, sie wird zum Spiegel seiner Triebe. Das plötz-
liche Erscheinen seines Vaters verhindert jedoch noch einmal, dass
Christian den Lockungen nachgibt. Nach vielen Jahren erscheint ein
Fremder im Dorf, der ihm Geld zur Verwahrung überlässt. Nun wird
die Versuchung stärker, denn in dem Fremden erkennt Christian die
Bergkönigin; auch hört er wieder die Alraune stöhnen. Er nimmt das
Geld an sich, und als er dann das alte Waldweib trifft, in dem er den
Fremden und die Bergkönigin zu erkennen glaubt, und auch die Tafel
wiederfindet, geht er zurück in die Berge, um Schätze zu heben und
die Bergkönigin zu suchen. Über sein Haus und seine Familie kommt
das Elend. Eines Tages kehrt Christian alt und zerrissen zurück; offen-
sichtlich dem Wahnsinn verfallen, bezeichnet er einen Sack voller
Steine als wertvollen Schatz und das Waldweib als die Bergkönigin.
Danach verschwindet er für immer. Für die Komposition und den
Stil des Runenberg gilt Ähnliches wie für den Blonden Eckbert. Auch in
diesem Fall hat man es mit einer bildlich komplexen und kunstvoll
verwobenen Handlung zu tun, die die Vermengung von Wahnsinn,
Grauen und Alltäglichkeit zum Thema hat. Wie der Blonde Eckbert gilt
auch Der Runenberg als exemplarisch für die Gattung des Kunstmär-
chens.
In der folgenden Erzählung Liebeszauber nimmt die Schilderung
des Grauens zu und gipfelt in blutigen Szenen voller albtraumhafter
Schrecknisse. Eine groteske Alte, die Jungfrauen die Kehle durch-
schneidet und einen scheußlichen Drachen mit dem Blut tränkt,
stellt das personifizierte Grauen dar. Ein höllisches Maskenfest endet
schließlich in einer Blutorgie. Die kommentierende Rahmenhandlung
bezieht sich kritisch auf das in den ersten Erzählungen geschilderte
Grauen; die Damen und Herren diskutieren an diesen Beispielen das 107
Recht der Kunst auf die Freiheit und Möglichkeit der Darstellung. Das
Verstörende der ersten Märchen liegt vor allem auch in der Tatsache,

LU DW IG T IECK
dass es weniger um die Verurteilung des amoralischen Handelns geht,
als vielmehr um die eindrucksvolle Darstellung des Numinosen und
des magischen Grauens, das ohne Veranlassung nur auf das unbegreif-
liche Streben und Wollen der Protagonisten hin seine Macht aus-
zuüben beginnt. Anders als im Volksmärchen erscheint das Grauen
somit als Teil des Innersten des Menschen.
Die die erste Abteilung abschließende Gruppe beinhaltet drei
Texte: die »Liebesgeschichte der schönen Magelone«, eine bereits in
den Volksmährchen 1797 veröffentlichte romantisierte Adaption des
Volksbuchstoffs, »Die Elfen« und »Der Pokal«, eine Liebesgeschichte
um ein verwunschenes Gefäß und eine Verfehlung des Liebhabers im
Reich des Magischen, die dieser zeitlebens büßt, um seine Geliebte
erst am Ende seines Lebens wiederzusehen. In den »Elfen« geht es
um das Mädchen Marie, das sich in die gefährliche Nähe des verwun-
schenen Tannengrunds begibt. Im Spiel versunken, betritt sie ein
romantisches Märchenland und begegnet »glänzenden Kindern« und
der Elfe Zerina, die sie mit dem magischen Palast und dem Leben der
Elfen, Zwerge und des sagenhaften Vogel Phönix vertraut macht. Als
Marie das Zauberland verlässt und zum Elternhaus zurückkehrt, sind
sieben Jahre vergangen. Sie heiratet und bringt die mit besonderen
Fähigkeiten ausgestattete Elfriede zur Welt. Das Kind nimmt bald
Kontakt zur Elfe Zerina auf. Marie und ihr Mann jedoch beobachten
das Spiel der Kinder heimlich und vergehen sich so am Magischen.
Die Elfen verlassen den Tannengrund, das Land wird von Dürre und
Elend heimgesucht und Marie und Elfriede sterben bald. Anders als
in den einleitenden Kunstmärchen geht es am Ende der ersten Abtei-
lung um die magisch-versöhnliche Dimension der märchenhaften
Gegenwelt, die tabuisiert wird und den Kindern vorbehalten ist; das
Grauen findet hier keinen Platz. Im abschließenden Gespräch der
Rahmenhandlung werden »Der blonde Eckbert« als beste Erzählung
hervorgehoben, »Die Elfen«, die »Magelone« und »Der Pokal« gelobt,
»Der Runenberg« und »Liebeszauber« aus den genannten Gründen
herabgewürdigt.
108 Die Dramen der zweiten Abteilung modifizieren bestehende
Stoffe in satirischer Absicht. Volksmärchenstoffe (Leben und Tod des
kleinen Rotkäppchens, Erstveröffentlichung 1800; »Leben und Taten des
kleinen Thomas, genannt Däumchen«), Adaptionen der Märchen
Charles Perraults (Der Blaubart, 1797; Der gestiefelte Kater, 1797) und der
Volksbuchstoffe (Fortunat) geraten in anti-illusionistischer und teils
grotesker Manier zur Abrechnung mit dem Literatur- und Theaterbe-
trieb. Im Rotkäppchen kommt es zur Travestie des Märchens, indem der
Wolf als Sieger aus dem Drama hervorgeht. Er frisst das als Allegorie
romantischer Poesie konzeptualisierte Rotkäppchen, um sich an der
Menschheit zu rächen, die statt seiner den Hund domestiziert und
den Wolf trotz seiner lauteren Absichten immer nur gedemütigt hat.
Der als Revolutionär und Freigeist beschriebene Wolf wird dann vom
Jäger als Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft erschossen.
Im Blaubart verbindet Tieck eine ironisierende Parodie des Ritter-
stücks mit zeitkritischen Anspielungen vor dem Hintergrund eines
düsteren Geschehens. Der Ritter Hugo hält Agnes gefangen, die gleich
ihren sechs Vorgängerinnen in der verborgenen Kammer des Schlos-
ses geschlachtet und ausgestellt werden soll. Sie wird jedoch von ihren
Geschwistern gerettet; Hugo fällt im Kampf. Die kommentierende
Rahmenhandlung wird zu einer Apologie des Fünfakters, bevor sich
dort eine ausgedehnte Parallelhandlung mit Reflexionen und Erzäh-
lungen um die »theatralische Liebhaberei« herum entspinnt.
Der gestiefelte Kater stellt ein Stück im Stück dar: Eine Theater-
gruppe bemüht sich, den Märchenstoff auf die Bühne zu bringen,
scheitert dabei aber in grotesken Verkehrungen und satirisch darge-
stellten Auseinandersetzungen mit dem Publikum. Bereits der Prolog
zeigt das Publikum, das vorurteilsbehaftet das Stück als »Kinderposse«
auf dem »National-Theater« verunglimpft und die beginnende Auf-
führung stört. Der Dichter erscheint und das Publikum begehrt ein
Stück über »Sittlichkeit und deutsche Gesinnung« und »religiös erhe-
bende, wohltuende geheime Gesellschaften«. Die nun einsetzende,
bekannte Märchenhandlung wird laufend vom ignoranten Publikum
durch Kommentare gestört, die sich auf äußere Erscheinungsbilder
wie Kostüm, Maske und Bühnenbild beziehen. Nur die »schöne
menschliche Gesinnung«, wie »die Alten« sie darstellten, wird goutiert.
Die Schauspieler fallen aus den Rollen, und der Dichter erscheint wie- 109
der, um das Publikum mit einer bunten Zirkusdarbietung zu besänf-
tigen. Auch soll der Theater-Maschinist bei weiteren Unmutsbekun-

LU DW IG T IECK
dungen alle Maschinen des Theaters zur Attraktion betätigen.
Das Spiel mit den Ebenen wird extrem, als innerhalb des auf-
geführten Märchens selbstreflexiv auf das in diesem Augenblick
dargebotene Stück Bezug genommen wird; so prüft der Hanswurst
eine Disputation zum Thema, ob Der gestiefelte Kater ein gutes Stück
sei. Das Publikum reagiert mit Verwirrung. Am Ende applaudiert
man der Dekoration der Zauberflöte und der Dichter schließt mit den
Worten: »O du undankbares Jahrhundert!« Tieck nutzt in besonderer
Weise das Spiel auf mehreren Ebenen und weitet die Möglichkeiten
des Stücks im Stück in satirischer Absicht aus. Angesichts dieser Inno-
vationen war die Wirkung des Gestiefelten Katers beispielsweise bei
E. T. A. Hoffmann oder Grabbe groß; die maximalisierte Dimension
der Selbstreflexivität ließ das Werk auch im 20. Jh. zu einem geschätz-
ten Stück werden.
Tieck radikalisiert die im Gestiefelten Kater begonnenen Experi-
mente mit dem Mehrebenenspiel und der Selbstbezüglichkeit vor
allem in dem 1800 erschienenen »historischen Schauspiel« Die verkehrte
Welt. Bereits der Beginn des Stücks signalisiert diese Ausrichtung: Die
Musik selbst kommentiert das Stück, dann tritt der »Epilogus« auf
(der Prolog wird am Schluss gesprochen), der das Stück mit einem
ironischen Angriff auf das Publikum für beendet erklärt: »Ihr müßt
Euch übrigens darüber nicht verwundern, daß Ihr das Stück noch gar
nicht gesehn habt, denn hoffentlich seid Ihr doch in so weit gebildet,
daß das bei Euch nichts zur Sache tut, um darüber zu urteilen.« Die
Bühne stellt ein Theater dar, auf dem Skaramuz und der Dichter über
die Rolle des Skaramuz streiten, der statt eines komischen einen edlen
Charakter, nämlich den Apoll darstellen möchte. Es kommt zur Ver-
tauschung der Rollen, wobei der Dichter dem Publikum die Verant-
wortung überträgt. Fortan herrscht das Publikum beispielsweise über
die Maschinen; so kommt es zu komischen Szenen, wenn Skaramuz
überraschend in ein vom Publikum angeordnetes Gewitter gerät.
Skaramuz, Repräsentant utilitaristischer Zweckrationalität,
besetzt den Parnass mit der Frage: »Wie viel trägt mir aber der Berg
110 ein?« Daraufhin veranlasst er die landwirtschaftliche Nutzung des
Parnass. Ein fremder Arzt tritt auf, der die Muse Melpomene, die
aus ihrem bürgerlichen Leben in den Parnass geflüchtet ist, wieder
heimholen will. Als Skaramuz ihre Freigabe verweigert, wird ein Thea-
terstück über diese verhinderte Liebe aufgeführt, um ihn umzustim-
men. Innerhalb dieses Stücks kommt es auf einer vierten Ebene zur
Aufführung eines weiteren Stücks, bis Skaramuz schließlich nachgibt.
Die Zuschauer allerdings rebellieren gegen diese Konfusion. Apoll,
der derweil Schafe hütete, entschließt sich nun zur Wiedereroberung
seines Throns. Obwohl er siegt, beschließt das Publikum, den sympa-
thischen Skaramuz auch weiterhin regieren zu lassen.
Im Vergleich zum Gestiefelten Kater treten in Die verkehrte Welt
Handlungselemente und Figurenzeichnung noch mehr in den Hinter-
grund; dominant werden die satirisch-polemische Absicht, die Ver-
mengung der Ebenen durch ein potenziertes Spiel im Spiel sowie die
zeitkritische Anspielung und die Parodie. Neben die Angriffe auf das
an Oberflächenreizen interessierte Publikum tritt vermehrt auch die
Abrechnung mit den Idealen der Aufklärung mit den Mitteln einer ins
Extreme getriebenen, theatralen Form romantischer Ironie. So reflek-
tieren beispielsweise die Darsteller beständig über den Zuschnitt
ihrer Rolle oder probieren die technischen Möglichkeiten der Theater-
Maschinen aus. Der Fortgang der Handlung wird immer wieder durch
den Einbruch anderer Ebenen oder durch eingestreute, teils idyllische,
komödiantische oder groteske Szenen gestört. Das Stück gilt als nahe-
zu unaufführbar; wegen seiner Selbstreflexivität und der Verwirrung
der Ebenen erfährt es dennoch viel Beachtung.
Die Rahmenhandlung kommentiert den Humor dieses Schau-
spiels und gibt mit Weises Zittauischem Theatrum (1683) auch die Quelle
Tiecks an. Die Parallelhandlung um einen Theaterbesuch im nahen
Städtchen wird fortgeführt. Man geht auf den »traurigsten Anblick der
deutschen Theater-Welt« und die im Sinken begriffene Schauspiel-
kunst ein (mit Ausnahme von Iffland, Schröder, Garrick und Fleck).
Tieck gibt zahlreiche illustrative Beschreibungen vom Zustand der
(Wander-)Theater um 1800 und von der Attraktionslust und Sen-
sationsgier des deutschen Publikums, die »unsre Theater in wahre
kindische Kuckkasten verwandeln, und bald die letzte Spur von Kunst
auslöschen werden«. Der zweite Band schließt mit dem dreiaktigen 111
Märchen »Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen«,
in dem Tieck den bekannten Märchenstoff mit der Artussage verbindet.

LU DW IG T IECK
Der dritte Band ist ganz dem Fortunat gewidmet, der in zwei Teilen
mit jeweils fünf Aufzügen von zwei Sprechern gelesen und durch den
eingestreuten »Prolog« getrennt wird. Auch in inhaltlicher Hinsicht ist
der Fortunat antagonistisch angelegt. Wird im komödiantischen ersten
Teil noch das glückliche Leben des verarmten Edelmannes Fortunat
geschildert, der einen sich nie leerenden Beutel Gold vom personifi-
zierten Glück überreicht bekommt und mit dessen Hilfe eine Reihe
von Gefahren besteht, heiratet und durch seinen Großmut bekannt
wird, stellt der tragödische zweite Teil das gegensätzliche Schicksal
seiner Söhne Ampedo und Andalosia dar. Nach Fortunats Tod verführt
sie das magische Erbe, der Beutel und ein Zauberhut, zu Leichtsinn,
Eigennutz, Ehrsucht und Schwäche bis in den frühen Tod. Darin zeigt
sich der Fortunat als Illustration eines Epochenumbruchs, als dessen
Folge die gestiegene Bedeutung des Handels Großmannssucht und
Geldfetisch befördert. Der »Prolog« kommentiert dieses Geschehen,
indem hier die personifizierte Fortuna vor einem Gericht angeklagt
wird, für einen unglücklichen Lebenslauf verantwortlich zu sein; das
Urteil lautet auf Freispruch, denn der Mensch ist für sein Schicksal
selbst verantwortlich. Insofern sind der Fortunat und das gegensätz-
liche Los des Vaters und der Söhne auch als eine Absage an das klassi-
sche Schicksalsdrama zu lesen.
Die Dramen des Phantasus wenden sich gegen die dramaturgi-
schen Konventionen und die normative Poetik. Sie prägen mit ihrer
Offenheit, ihrer Fragmentarizität, ihrer uneinheitlichen Handlung,
der aufgelösten Zeit- und Raumstruktur und der Ironie das romanti-
sche Drama, das auf eine Grenzverwischung von Theater und Wirk-
lichkeit hin abzielt und das Leben und die Kunst zum Spiel werden
lässt. Die stilistische und inhaltliche Heterogenität des Phantasus
als Gesamtwerk und der unterschiedliche Entstehungskontext der
14 Einzelwerke bewirkten eine meist vom Gesamtwerk abgelöste
Rezeptionsgeschichte der Märchen und Dramen. Diese gelten als pro-
grammatisch und exemplarisch für die Gattung des Kunstmärchens
und das romantische Drama. CHRISTIAN DAWIDOWSKI
112
Adelbert von Chamisso
* vermutlich zwischen 27. und 30. Januar 1781 auf Schloss Boncourt/
Champagne (Frankreich)
† 21. August 1838 in Berlin (Deutschland)

(d. i. Louis Charles Adélaïde de Chamisso de Boncourt) – Aus alt-


lothringischem Adel; 1792 Flucht vor den Revolutionswirren, ab 1796
in Berlin; Page am preußischen Königshof, französisches Gymnasium;
1798–1806 Militärdienst (1801 Leutnant); Beschäftigung mit Philoso-
phie und Literatur, 1803 Mitglied des Dichterkreises Nordsternbund,
1811 Mitgründer der Christlich-deutschen Tischgesellschaft (um
Brentano und Kleist); ab 1812 Botanikstudium in Berlin; 1815–1818
Weltumseglung als Naturforscher; 1832–1838 Redaktion des Deutschen
Musenalmanachs; Erzähler, Lyriker, Botaniker.

Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte 113


In der 1814 erschienenen Erzählung berichtet Schlemihl dem fik-
tiven Herausgeber Chamisso in elf Briefen seine »wundersame

A DEL BERT VON CH A MIS SO


Geschichte«: Auf einer Gartengesellschaft des unermesslich reichen
Herrn John begegnete er einem Mann, der alle Dinge, die von den
Gästen gewünscht werden, angefangen von einer Brieftasche bis hin
zu drei Reitpferden, aus der Tasche seines grauen Rockes zieht. Beim
Fortgehen wird Schlemihl von dem sonderbaren Mann im grauen
Rock zu einem Tauschgeschäft verführt: Für einen Glücksbeutel, der
stets mit Dukaten gefüllt ist, verkauft Schlemihl ihm seinen Schatten.
Die Schattenlosigkeit offenbart sich nun aber als schreckliches Unheil,
denn sie schließt Schlemihl gänzlich aus der menschlichen Gesell-
schaft aus; überall, wo sie bemerkt wird, wird er trotz seines unge-
heuren Reichtums von seinen Mitmenschen geächtet, ja, er verliert
schließlich sogar das Mädchen, das er liebt, die Försterstochter Mina.
Nur sein Diener Bendel bleibt ihm aufrichtig ergeben. Als der Mann
mit dem grauen Rock nach einem Jahr wieder auftaucht, ist er bereit,
Schlemihl den Schatten zurückzugeben – doch nur, wenn dieser ihm
dafür mit Blut seine Seele verschreibt. Bei einer späteren Begegnung
zieht der graue Mann gar die Gestalt eines Verdammten aus seiner
Rocktasche. Entschlossen wirft Schlemihl jetzt den Glücksbeutel in

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_19, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
einen Abgrund und beschwört den Unheimlichen, sich hinwegzuhe-
ben. Ein Paar alter Schuhe, die er auf einer Kirmes kauft, entpuppen
sich – wie in Tiecks Phantasus – als Siebenmeilenstiefel. Mit ihnen zieht
er kreuz und quer durch die Welt und widmet sich ganz der Erfor-
schung der Natur, die ihm für immer die menschliche Gesellschaft ent-
behrlich macht. Zum Nutzen der gesamten Menschheit legt er seine
einzigartigen Erfahrungen und Beobachtungen schriftlich nieder.
Chamisso verwendet in seiner im 19. Jh. weltberühmt gewordenen
Erzählung eine Fülle alter Sagen- und Märchenmotive. Der Name der
Hauptperson ist hebräischen Ursprungs und bedeutet nach der eige-
nen Erklärung des Dichters »Theophil« bzw. »Gottlieb«: »Dies ist in der
gewöhnlichen Sprache der Juden die Benennung von ungeschickten
oder unglücklichen Leuten.« An den Namen Theophilus knüpft sich
auch die alte Sage vom Pakt mit dem Teufel, die Chamisso in seiner
Erzählung abwandelt. Das Motiv des Mannes, der alles aus seiner
114 Rocktasche zieht, ist von La Fontaine übernommen; die Idee, ein
Märchen über einen verlorenen Schatten zu schreiben, kam Chamisso
anlässlich einer scherzhaften Frage Fouqués, ob er, dem auf einer
Reise zahlreiche Kleidungsstücke abhanden gekommen waren, nicht
auch seinen Schatten verloren habe. Schon die Zeitgenossen haben
immer wieder versucht, hinter das Geheimnis der Schattenlosigkeit
zu kommen, und eine Reihe spitzfindiger allegorischer Deutungen
ersonnen; die bekannteste beruft sich auf Chamissos Biographie: Der
Mann ohne Schatten, so deutete man also, sei der Mensch ohne Vater-
land; denn Chamisso, der gebürtige Franzose, habe sein Leben lang
zwischen deutscher und französischer Nationalität geschwankt. Cha-
misso hat sich über derartige »kuriose Hypothesen« und über Leute,
die nur zu ihrer Belehrung lesen und sich darum über die Bedeutung
des Schattens den Kopf zerbrechen, lustig gemacht; er wollte, so
scheint es, seine »wundersame Geschichte« nur als ein Märchen
verstanden wissen. Gleichwohl verbirgt sich hinter der scheinbaren
Naivität der aus einer Laune geborenen und durch zufällige Lebens-
umstände veranlassten Erzählung eine tiefere Bedeutung, die freilich
nicht in allegorischer Eindeutigkeit zu fassen ist.
Es gibt einige Stellen in der Erzählung, die den Sinn der Schat-
tenlosigkeit andeuten, so eine Bemerkung Schlemihls hinsichtlich
seiner Nachforschungen: »Durch frühe Schuld von der menschlichen
Gesellschaft ausgeschlossen, ward ich zum Ersatz an die Natur, die ich
stets geliebt, gewiesen, die Erde mir zu einem reichen Garten gegeben,
das Studium zur Richtung und Kraft meines Lebens, zu ihrem Ziel
die Wissenschaft.« Eine gnädige Fügung lässt ihn also den Verlust
des Schattens, der Gesellschaft und des bürgerlichen Glücks ver-
schmerzen.
Die Schilderung der Leiden des Gezeichneten und Ausgestoße-
nen erreicht ihren poetischen Höhepunkt in der Liebesepisode
(Kap. 4–6), in der ein Grundmotiv romantischer Poesie anklingt: die
Liebe des wie durch einen Fluch aus der Gesellschaft Ausgeschlos-
senen, dem alle ›normalen‹ menschlichen Bindungen versagt sind,
zu einem ahnungslosen, in selbstverständlicher Einheit mit seiner
Umwelt lebenden Mädchen – eine Liebe, die mit der Entdeckung des
Kainszeichens der Schattenlosigkeit scheitern muss und Schlemihl in
sein Paria-Dasein zurückstößt. 115
Als echtes Märchen ist die Erzählung schwerlich anzusehen. Was
sie aber vor allen Dingen auszeichnet und zu einem Unikum in der

A DEL BERT VON CH A MIS SO


Weltliteratur macht, ist die Darstellung des Phantastischen, als ob es
das Natürlichste der Welt wäre, jener bürgerlich-realistische Erzählstil,
der sich z. B. in dem Einfall kundgibt, den Teufel nicht mit Pferdefuß,
sondern als höflich-verlegenen Herrn darzustellen. So kann Chamis-
sos Erzählung mit dem Begriff der ›phantastischen Novelle‹ charakte-
risiert werden, den Thomas Mann ihr zugedacht hat.
DIETER BORCHMEYER / KLL
Wilhelm Hauff
* 29. November 1802 in Stuttgart (Deutschland)
† 18. November 1827 in Stuttgart (Deutschland)

Ab 1817 in der Klosterschule Blaubeuren; 1820–1824 Theologie- und


Philosophiestudium in Tübingen, Promotion; zeitweilig Hauslehrer;
Reisen nach Frankreich und Norddeutschland; 1826 Erfolg mit dem
historischen Roman Lichtenstein, bekannt durch Kunstmärchen (Mähr-
chen-Alamanche, 3 Bde, 1826–1828); 1827 Redakteur des Morgenblatts für
gebildete Stände; starb infolge eines Nervenfiebers.

Die Märchen
Hauffs Märchen erschienen 1826 bis 1828 in drei Mährchen-Almanachen.
Beeinflusst von der Märchensammlung Tausendundeine Nacht, von den
Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) der Brüder Grimm und den roman-
116 tischen Kunstmärchen L. Tiecks und E. T. A. Hoffmanns, gewinnen
die Hauff ’schen Märchen doch ihr eigenes Gepräge. Jeder Almanach
enthält eine Rahmengeschichte (»Die Carawane«, »Der Scheikh von
Alessandria und seine Sclaven«, »Das Wirtshaus im Spessart«), die als
Bindeglied zwischen den einzelnen Märchen fungiert.
Hauff wählte die Almanachform in der Absicht, den Märchen wie-
der eine größere Publizität und ideelle Verbindlichkeit zu verschaf-
fen. Dies macht die allegorische, zeitkritische Einleitung zum ersten
Almanach, »Märchen als Almanach«, deutlich: »Märchen«, die älteste
Tochter der »Königin Phantasie«, klagt der Mutter ihr Leid. Seit sich
die Menschen »kluger Wächter« – gemeint sind offenbar einige beson-
ders unduldsame Literaturkritiker – bedienten, sei sie nicht mehr so
willkommen wie früher. Der »Mode« und ihren »windigen Gesellen«
gebe man nun auf Erden den Vorzug. Die Mutter rät »Märchen«, sich
an die Kinder zu wenden und deren Aufmerksamkeit mit Hilfe eines
neuen, farbenfrohen Kleides zu erobern: dem »Gewand eines Alma-
nachs«. Die Wächter verspotten das malerisch aufgeputzte Phantasie-
geschöpf, schlafen aber ein, als es bunte Bilder in die Luft steigen lässt.
Ein freundlicher Mann gewährt »Märchen« Einlass und weist ihm
einen Platz bei den Kindern an. Auf diese Weise evoziert Hauff den
für seine Erzählhaltung und die Wirkungsintensität des Erzählten

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_20, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
bedeutsamen Eindruck, als würden die Almanachmärchen sich gleich-
sam selbst erzählen, als seien sie jene bunten Bilder, die »Märchen« in
die Luft steigen lässt.
Die Märchen des ersten Almanachs wurzeln im orientalischen
Milieu: Kaufleute ziehen durch die Wüste und verbringen die Abende
in geselliger Runde mit Geschichtenerzählen. In »Kalif Storch« lassen
sich Chasid, der Kalif von Bagdad, und sein Großwesir Mansur auf ein
riskantes Abenteuer ein: Sie schnupfen ein Zauberpulver, sagen die
Zauberformel »Mutabor« – und verwandeln sich in Störche. Um ihre
menschliche Gestalt wiederzuerlangen, dürfen sie auf keinen
Fall lachen und müssen sich, indem sie das Zauberwort murmeln,
dreimal gegen Osten verneigen. Ihr Gelächter über die plumpen
Tanzschritte einer Störchin hat jedoch zur Folge, dass sie das Zauber-
wort vergessen und fortan als Störche umherirren. Erlöst werden sie
erst durch die Hilfe einer zur Nachteule verzauberten indischen Prin-
zessin, die ihnen unter der Bedingung, dass der Kalif sie heiratet, den 117
Weg zum bösen Zauberer Kaschnur zeigt, dem sie das Zauberwort
ablauschen.

WIL H EL M H AU F F
Als grausiger Kontrast schließt sich die Geschichte vom »Gespens-
terschiff« an, und auch »Die Geschichte vom kleinen Muck« trägt eher
groteske als heitere Züge. Die Rahmenerzählung nimmt eine über-
raschende Wendung: Der geheimnisvolle Fremde, der die Anregung
zum Erzählen gab, entpuppt sich als der berüchtigte Räuber Orbasan,
der in einigen Märchen eine Rolle spielte, also Märchenfigur und Mär-
chenerzähler zugleich ist. Damit gewinnt auch die Rahmenerzählung
Märchencharakter.
Eine ähnlich überraschende Pointe weist die Rahmenerzählung
des zweiten Almanachs auf. Vor vielen Jahren ist Kairam, der Sohn
des Scheiks von Alessandria, von den Franken entführt worden. Ein
Derwisch prophezeite dem Vater, sein Sohn werde einst am Jahrestag
seiner Entführung heimkehren. Jahr für Jahr veranstaltet der Scheik
aus diesem Grund ein großes Fest und gibt, weil er seinen Sohn in
der Sklaverei wähnt, zwölf Sklaven die Freiheit. Diese bedanken
sich mit Geschichtenerzählen. Als das Fest zum 15. Mal stattfindet,
erzählt einer der Sklaven, ein schöner junger Mann, »Die Geschichte
Almansors«, die Geschichte einer Entführung. Am Schluss wird deut-
lich, dass Almansor mit dem Erzähler identisch ist und dass sich hinter
beiden der verlorene Sohn des Scheiks verbirgt.
Außer vier von Hauff selbst stammenden Märchen (»Zwerg Nase«,
»Abner, der Jude«, »Der Affe als Mensch«, »Geschichte Almansors«)
enthält der zweite Almanach auch Märchen anderer Autoren: »Der
arme Stephan« von G. A. Schöll, »Der gebackene Kopf« von J. Morier
sowie »Das Fest der Unterirdischen« und »Schneeweißchen und
Rosenrot« von W. Grimm. »Zwerg Nase« und »Der Affe als Mensch«
spielen in Deutschland und bezeugen die allmähliche Abkehr Hauffs
von der orientalischen Märchenwelt und den Übergang zur Welt der
Grimm’schen Märchen, der im »Wirtshaus im Spessart« (mit einer
Ausnahme) vollzogen wird. »Zwerg Nase« ist die Geschichte des klei-
nen Jakob, dessen Mutter auf dem Markt Gemüse und Kräuter ver-
kauft. Eines Tages schilt ein hässliches, boshaftes altes Weib mit langer
Nase und Spinnenfingern die Ware »schlechtes Zeug«. Jakob belustigt
118 vor allem die lange Nase. Zur Strafe versetzt ihn die Alte, als er sie in
ihr wunderliches Haus begleitet, mit Hilfe eines seltenen Kräutleins
in tiefen Schlaf. Als er wieder erwacht, läuft er nach Hause, wo man
ihm mit Abscheu begegnet: Er hat sich in einen hässlichen Zwerg mit
einer langen Nase verwandelt. Nun verdingt er sich als Küchenmeis-
ter bei einem Herzog, für den er eines Tages die »Pastete Souzeraine«
zubereiten soll. Erst nach langem Suchen findet er das seltene Kräut-
lein »NiesmitLust«, eine der Hauptzutaten. Er riecht daran und erhält
seine natürliche Gestalt zurück.
Von düsterer Spannung ist die Rahmenerzählung des dritten
Almanachs, »Das Wirtshaus im Spessart«, erfüllt. Eine Gruppe von
Reisenden verbringt die Nacht in einem Wirtshaus mitten im sagen-
umwobenen, von Räubern durchstreiften Spessart. Um die Angst vor
den Räubern zu bannen – die Wirtsleute scheinen deren Komplizen
zu sein –, erzählt man sich Geschichten (»Sage vom Hirschgulden«,
»Das kalte Herz«, »Saids Schicksal«, »Die Höhle von Steenfoll«).
»Das kalte Herz« ist ein Märchen aus dem Schwarzwald. Der arme
Kohlenbrenner Peter Munk sehnt sich nach Reichtum und Ansehen.
Das »Glasmännlein«, genannt Schatzhauser, gewährt ihm drei Wün-
sche. Statt Verstand und Klugheit wünscht sich der törichte Peter,
ein flotter Tänzer zu sein, stets genauso viel Geld zu besitzen wie der
»dicke Ezechiel«, den der mächtige Waldgeist »Holländer-Michel«
reich gemacht hat, und Eigentümer der ertragreichsten Glashütte im
ganzen Schwarzwald zu sein. Weil er jedoch Stammgast im Wirtshaus
wird, geht es mit der Glashütte rasch bergab, und als der dicke Ezechiel
sein ganzes Geld verspielt, ist auch Peter bettelarm. In seiner Verzweif-
lung fleht er den Holländer-Michel um Hilfe an. Dieser verspricht ihm
Reichtum unter der Bedingung, dass er sein Herz hergibt und sich
dafür ein steinernes einsetzen lässt. Mit dem Herz aus Stein ist Peter
unempfindlich für menschliche Regungen geworden, führt ein Leben
in Saus und Braus, verstößt seine alte Mutter und tötet im Zorn seine
junge Frau, weil sie einen armen alten Mann mit Essen versorgt hat.
Dieser, niemand anders als das Glasmännlein, zeigt ihm, wie er den
Holländer-Michel überlisten und sein lebendiges Herz wiedererlan-
gen kann. Obendrein gibt er dem Bußfertigen seine Frau und seine
Mutter zurück. Auch in der Rahmenerzählung wendet sich alles zum
Guten: Dank der Unerschrockenheit des jungen Felix werden die Rei- 119
senden, die inzwischen Räubern in die Hände gefallen sind, befreit.
Hauffs Märchen entziehen sich der präzisen Zuordnung zu einer

WIL H EL M H AU F F
literarischen Stilrichtung. Wie für E. T. A. Hoffmann, dessen Theorie er
sinngemäß in das Rahmengespräch zu der Märchensammlung »Der
Scheikh von Alessandria« übernahm, liegt auch für Hauff der eigen-
tümliche Reiz des Märchens in der »Einmischung eines fabelhaften
Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben«. Von Hoffmann lernte
er die genaue und greifbare Beschreibung des ›Wunderbaren‹. Dies
zeigt sich im »Kalten Herz« beispielsweise in dem sinnverwirrenden
Gestaltwechsel des Schatzhausers zwischen Eichhörnchen und
Mensch, in den anderen Metamorphosen der beiden Geister, in den
aufgereihten pochenden Herzen von Michels Opfern und in Peters
wirklichkeitsnahen Träumen. DIETER BAAKE / KLL
Clemens Brentano
* 9. September 1778 in Ehrenbreitstein/Koblenz (Deutschland)
† 28. Juli 1842 in Aschaffenburg (Deutschland)

(auch: Clemens Wenzeslaus Brentano de la Roche; Pseudo. Maria) –


Sohn eines reichen Frankfurter Kaufmanns, Enkel von Sophie von
La Roche; Vollwaise vor dem 20. Lebensjahr; ab 1797 Studium der
Bergwissenschaft in Halle, ab 1798 der Medizin in Jena; Kontakt zum
Kreis um Goethe, Herder und Wieland, Anschluss an die frühroman-
tische Gruppe um F. Schlegel und L. Tieck; 1801 Roman Godwi; 1803
Heirat mit der Schriftstellerin Sophie Mereau (gest. 1806); 1806–1808
gemeinsam mit Achim von Arnim Herausgabe der Liedersammlung
Des Knaben Wunderhorn; tätig in Berlin, Wien und Prag: Produktion von
Gedichten, Erzählungen und Dramen; Kontakte u. a. mit Schinkel
und Savigny; 1807 zweite Ehe (mit Auguste Bußmann, bis 1814), 1816
120 Werbung um die junge Pfarrerstochter Luise Hensel, 1817 im Sog einer
Erweckungsbewegung »Generalbeichte«, Verzicht auf ein »weltliches
Dichtertum«, Versteigerung des größten Teils der umfangreichen
Bibliothek; 1818–1824 Aufenthalt in Dülmen/Westf., Aufzeichnung der
Visionen der Nonne A. K. Emmerick, Arbeit an einer Trilogie (Marien-
leben, Leben Jesu und Bitteres Leiden); ab 1834 im Münchner Görres-Kreis.

Gockel Hinkel Gackeleia. Märchen wieder erzählt von


Clemens Brentano
Das sogenannte ›Gockel-Märchen‹ gehörte nach Brentanos ursprüng-
licher Planung zu den »italienischen Märchen«, die mit den »Märchen
vom Rhein« in einem Kindermärchenkomplex verbunden werden
sollten; in Brentanos Vorlage, dem Pentamerone (Lo cunto de li cunti) von
Giambattista Basile (ca. 1575–1632) trägt es den Titel »La preta de lo
gallo« (Der Hahnenstein) und umfasst etwa zehn Seiten; in der ers-
ten überlieferten Fassung Brentanos, dem sogenannten ›Ur-Gockel‹,
ist der Text mehr als zehnmal so lang und in der Spätfassung, die der
Autor in seiner Münchener Zeit im Jahr 1838 als einzigen Text aus
seiner Kindermärchen-Planung veröffentlichte, sind es fast 350 Seiten.
Illustrationen, von denen mindestens eine auf eine Zeichnung Schin-
kels zurückgeht, bereichern den Band.

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_21, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Die an das »Großmütterchen« Marianne von Willemer gerich-
tete »Zueignung« und der Anhang »Aus dem Tagebuch der Ahnfrau«
enthalten neben biographischen Anspielungen auch die Essenz der
Kunstauffassungen des späten Brentano. Das ausführlich geschilderte
Kinderreich im Frankfurter »Haus zum goldenen Kopf« wird zum
Ländchen Vadutz, dieses wird zum Symbol des »verlorenen Paradie-
ses«, nach dem sich auch die Erwachsenen zurücksehnen. Dichtung
hat die Aufgabe, diese kindlichen Wünsche im Erwachsenen wieder-
zuerwecken. Das Märchen berichtet von dem verarmten Rauhgra-
fen Gockel von Hanau, der mit Frau Hinkel und Kind Gackeleia im
Hühnerstall des zerfallenen Stammschlosses haust. Sein Stammhahn
Alektryo trägt den Ring Salomos in seinem Kropf und opfert seinen
Kopf, um der verarmten Familie zu diesem Zauberring zu verhelfen.
Mit dem Wunschring gelangt die Familie in das prunkvolle Schloss
ihrer Ahnen in Gelnhausen zurück und ist zugleich verjüngt. Drei
Betrügern gelingt es jedoch, dem Kind Gackeleia mit dem Geschenk 121
einer mechanischen Laufpuppe und dem Spruch »Keine Puppe nur /
Eine schöne Kunstfigur« den Ring abzuschwätzen und die Familie

CL EMENS BR EN TA NO
Gockel erneut ins Unglück zu stürzen. Eine Maus, die als »Motor« in
der Puppe gefangen ist, verhilft der Familie dann wieder zu dem Zau-
berring. Die letzten Wünsche bringen Gackeleia den Bräutigam Prinz
Kronovus und verwandeln die ganze Hochzeitsgesellschaft in eine
Kindergesellschaft, der Alektryo gerade das Märchen erzählt.
In der Spätfassung ist die Hochzeit Gackeleias ausgeschmückt,
wobei der Blumensarg der Ahnfrau (Gräfin Amey) und (im Anhang)
deren Tagebuchblätter (u. a. zur Gründung des »Ordens der freudig-
frommen Kinder« und des Klosters Lilienthal in Vadutz) ins Zentrum
rücken. Der frühromantische Kult der Kindlichkeit erscheint hier
verwandelt zu einem frommen ›Kinderorden‹. Die Wirkung des
Märchens, das sich unversehens in eine Art Privat-Mythologie mit
Bezügen auf Brentanos Freundinnen Luise Hensel und Emilie Linder
verwandelt, wird damit weitgehend zerstört. Die von Germanisten
eingeführte Bezeichnung ›Arabesken-Roman‹ versucht – wenig
überzeugend – die Verknüpfung von Zueignung, Märchentext und
Tagebuch der Ahnfrau zum romantischen Kompositionsprinzip des
Werkes zu erheben. HARTWIG SCHULTZ
Theodor Storm
* 14. September 1817 in Husum (Deutschland)
† 4. Juli 1888 in Hademarschen (Deutschland)

1837–1842 Jura-Studium; 1843–1852 Rechtsanwalt in Husum; 1853–1864


Gerichtsassessor und Kreisrichter in Potsdam und Heiligenstadt;
1864–1880 Landvogt, Amtsrichter und Amtsgerichtsrat in Husum;
1880–1888 Alterssitz in Hademarschen in Holstein; dem eigenen
Selbstverständnis nach vor allem Lyriker; einer der ästhetisch bedeu-
tendsten und marktstrategisch erfolgreichsten Novellisten des ›Poeti-
schen Realismus‹.

Die Märchen
Die Märchenproduktion des Autors begann in der frühen Studienzeit
mit Hans Bär, setzte sich mit Der kleine Häwelmann (1849) und Hinzel-
122 meier (1850/55) fort, die zu Storms ersten ernsthaften poetischen Ver-
suchen zu zählen sind, und endete mit den drei novellistisch durchge-
feilten Märchen der 1860er Jahre: Die Regentrude (1864), Bulemanns Haus
(1864) und Der Spiegel des Cyprianus (1865), 1866 gemeinsam veröffent-
licht in der Buchausgabe Drei Märchen. Storms Märchen bündeln die
wichtigsten Traditionslinien der Gattung seit der Romantik, indem
sie auf Vorgaben vor allem Tiecks, der Brüder Grimm, Hoffmanns,
Hauffs und Andersens rekurrieren.
Hans Bär steht ganz in der Tradition der Grimm’schen Volkmär-
chen: Ein von einer Bärin aufgezogener, ebenso starker wie guther-
ziger Köhlersohn (Typus ›Jung-Siegfried‹) zieht hinaus in die Welt,
tötet einen Riesen, erobert sich so die schöne Königstochter, wird
wenig später König und kehrt im Triumph zu Eltern und ›Pflegemut-
ter‹ zurück. Während der 1930 erstmals gedruckte Text weitgehend
unbekannt blieb, gehört das »Kindermärchen« (so der Untertitel) Der
kleine Häwelmann zu Storms meistgelesenen Dichtungen: Es erzählt
die Geschichte eines kleinen Jungen im »Rollenbett«, der den »guten
alten Mond« zu einer halsbrecherischen nächtlichen Fahrt durch Stadt
und Wald bis in ikarisch himmlische Höhen nötigt. Textgrundlage
ist dabei meist die überarbeitete, um die kindlich verniedlichende
Darstellungsweise der Erstausgabe bereinigte Fassung von 1860.

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_22, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Wie die Novellen (etwa »Pole Poppenspäler«) arbeiten auch Storms
Märchen am Ideal einer Erzählung für die Jugend, das zudem jedoch
jedes Alter interessieren sollte. Dagegen veränderte er das ›Märchen‹
»Stein und Rose« (1850) zu Hinzelmeier. Eine nachdenkliche Geschichte
(1855), weil der darin versinnbildlichte Kampf zwischen ›Gut‹ (Liebe,
ewige Jugend) und ›Böse‹ (Erkenntnisstreben, Altern, Tod) eine naiv-
identifizierende Rezeptionshaltung und damit das zentrale Prinzip
seines Märchenkonzepts unterläuft. Um den poetischen Eindruck zu
stärken, eliminierte Storm weitgehend jene Passagen der Erstfassung,
die den existenziellen Ernst der Weisheitssuche Hinzelmeiers ins
Grotesk-Komische des romantischen Kunstmärchens (vornehmlich
E. T. A. Hoffmanns) verzerrten.
Mit den Märchen der 1860er Jahre meinte Storm »einen ganz
besondern Treffer gezogen« zu haben, und zwar sowohl in ökonomi-
scher als in auch poetischer Hinsicht: Der Band hätte sich insbeson-
dere im Weihnachtsgeschäft 1865 gut verkaufen sollen; außerdem 123
enthielten die drei Texte »kein einziges verbrauchtes Motiv«. Zwar
erfüllte der Absatz Storms Erwartungen nicht annähernd, dennoch

T HEOD OR ST OR M
entstand mit dieser Sammlung der in Erzählweise, Komposition und
thematischer Gestaltung gänzlich unterschiedlichen Märchen eine
seiner bemerkenswertesten Dichtungen.
Während Der Spiegel des Cyprianus eher dem Genre ›Sage‹ zuzurech-
nen ist und Bulemanns Haus der ›Historie‹, kann Die Regentrude als Mär-
chen im eigentlichen Sinn gelten. Der Text stellte schon die zeitgenös-
sische Rezeption vor Deutungsschwierigkeiten: Handelt es sich dabei
um zweckfreie, ›reine Poesie‹ oder um eine ›Allegorie‹ des Kampfs zwi-
schen den Elementen Feuer und Wasser? Beide Perspektiven ignorie-
ren die poetologische Ausrichtung eines Textes, der die Möglichkei-
ten märchenhaften Erzählens unter den Bedingungen realistischer
Novellistik auslotet. Die Geschichte vom Weg des Liebespaars Maren
und Andrees aus der dörflichen Realität in die wunderbare Welt der
schlafenden Regentrude ruft zentrale Gattungsmerkmale auf: Im
Mittelpunkt steht eine schwierige Aufgabe, nach deren listenreicher
Bewältigung die äußerst typenhaft gezeichneten Figuren neu konstel-
liert werden. Der Feuermann ist besiegt, und der reiche (ursprünglich
›böse‹) Wiesenbauer stimmt der Heirat seiner Tochter mit dem Sohn
der armen (›guten‹) Mutter Stine zu. Dabei vollzieht diese finale Ver-
bindung der Kinder die Versöhnung von Realitätsprinzip (verkörpert
durch den Wiesenbauer) und naturmagischer Welt (Mutter Stine).
Wie der Regen, der in den Brautkranz tropft, ›Glück‹ bedeutet, weil
er auf den Schutz durch die Regentrude verweist, so dominiert das
Ende des Märchens ein realpragmatisch-utilitaristischer Blick auf die
Zukunft des Paares: Das im Bild des tropfenden Regens verheißene
Glück bezieht sich in erster Linie auf den Erhalt und die Sicherung
ihres materiellen Wohlstands.
Storms dichterischem Selbstverständnis zufolge gehört die Gat-
tung ›Märchen‹ zu den wichtigsten poetischen Formen. Die Drei Mär-
chen von 1866 hielt er selbst nicht nur für »das Beste, was ich geschrie-
ben habe«, sondern zudem für »ungefähr das Beste, was in dieser Art
in deutscher Zunge existirt«. Zwar boten ihm auch die in Am Kamin
(1862) versammelten Spuk- und Schauergeschichten Gelegenheit, sein
124 Konzept von ›wahrer Poesie‹ zu erproben. Eine auf den »Naturlaut
in künstlerischer Form« abonnierte Poetologie aber lässt sich nach
Storm insbesondere in volksliedartiger Lyrik sowie im Märchen ver-
wirklichen. Wie auch seine Sammel- und Bearbeitungstätigkeit in den
1840er Jahren zeigt (Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig,
Holstein und Lauenburg, 1845), wertete Storm das Märchen gegen zeitge-
nössische Vorbehalte auf, die die Gattung als ›unrealistische Kinderei‹
verwarfen oder für bloßen »Dilettantismus« hielten, »der seine Pfu-
scherarbeit mit bunten Bildern überkleistert« (Vorrede zu Geschichten
aus der Tonne, 1873). Dagegen setzte Storm seine Märchen explizit als
eine »poetische Kunstform« ein. Deren Bedeutung ergibt sich aus
einer spezifischen Produktionshaltung, die seinen Forderungen an
eine angemessene Rezeption korrespondiert: Wie die Märchen »aus
unmittelbarster naiver und hingebendster Anschauung« entstanden
sind, so solle der Leser bereit sein, »alles Suchen nach Bezügen außen
vor zu lassen, und rein in und mit den gegebenen Dingen zu leben«.
Die Märchen der 1860er Jahre bezeichnete Storm in Anlehnung
an die ästhetische Editorik der romantischen Märchenproduktion
als »ernst gemeintes Werk der Poesie«, das nicht als erfunden und
demnach inszeniert zu gelten habe, sondern als gefunden und damit
›wahr‹. CLAUDIA STOCKINGER
Peter Christen Asbjørnsen /
Jørgen Engebretsen Moe
Peter Christen Asbjørnsen Asbjørnsen / Moe
siehe Seite 127

Jørgen Engebretsen Moe


* 22. April 1813 in Hole (Norwegen)
† 27. März 1882 in Kristiansand (Norwegen)

Ab 1845 Professor der Theologie an der norwegischen Militärakade-


mie, 1875 Bischof von Kristiansand; verfasste neben Gedichten auch
eine Sammlung mit Erzählungen für Kinder; gilt als bedeutender
Vertreter des poetischen Realismus in der norwegischen Lyrik. Seine
literatur- wie kulturgeschichtlich wichtigste Leistung stellen die
125
zusammen mit P. C. Asbjørnsen herausgegebenen Sammlungen nor-
wegischer Volksmärchen dar.

A SBJØR NSEN / MOE


Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus
Norwegen / Norske Folkeeventyr
Die 1843/44 in einer ersten, unvollendet gebliebenen und 1852 in einer
zweiten Ausgabe herausgegebene Volksmärchensammlung steht in
der durch die Brüder Grimm maßgeblich geprägten Tradition europäi-
scher Volksmärchensammlungen, die Märchen einen eigenständigen
ästhetischen und kulturellen Wert zuschreibt. Die Texte sollen daher
möglichst unverfälscht in ihrer ›Originalform‹ wiedergegeben wer-
den, was jedoch eine teilweise recht weitgehende Bearbeitung durch
die Herausgeber im Sinne einer ›Rekonstruktion‹ des Originals nicht
ausschließt, die sich häufig deutlich von den mündlichen Quellen
entfernt.
Auf der Suche nach solchen ›Originalformen‹, die sie bei den Mär-
chenerzählern auf dem Lande anzutreffen hofften, unternahmen
Asbjørnsen und Moe, finanziert durch staatliche Stipendien, weite,
teilweise mehrjährige Reisen innerhalb Norwegens. Deren Ergebnis
ist in der ersten Ausgabe der Sammlung (1843/44) der Versuch

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_23, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
einer bloßen Verschriftlichung der ihnen mündlich vorgetragenen,
›unverfälschten‹ Rohfassungen. In der zweiten Auflage hingegen
kommen vorsichtige Literarisierungen hinzu: Ausgehend von einer
Haupterzählung werden Motive verschiedener Varianten verwendet,
Sprichwörter und Redensarten eingeflochten, Personenschilderun-
gen eingefügt. Vermutlich war es nicht zuletzt diese Bearbeitung, die
der Ausgabe auch bei der kulturellen Elite Norwegens Anerkennung
verschaffte und damit das Werk zu einem entscheidenden Beitrag zur
Entwicklung einer norwegischen kulturellen Identität werden ließ.
Die zweite Ausgabe enthält auch Moes umfangreiche Einleitung (die
erste norwegische volkskundliche Abhandlung überhaupt), ausführ-
liche Anmerkungen zu den Märchen und ihren jeweiligen Varianten
sowie eine vergleichende Analyse auf der Grundlage des damals
bekannten internationalen Variantenapparates. Die Mitteilungen
über die Erzähler sind hingegen eher spärlich gehalten. Die Ausgabe
126 enthält 58 und damit etwa ein Viertel der in Norwegen bekannten
Märchentypen, wobei die ostnorwegische Märchentradition domi-
niert.
1879 stellte Asbjørnsen eine Auswahl der Märchen sowie der von
ihm gesammelten Volkssagen zusammen (Norske Folke- og Huldreeven-
tyr i Udvalg) und legte damit den Grundstein für die spätere Stan-
dardausgabe mit dem nicht ganz zutreffenden Titel Samlede Eventyr
(Gesammelte Märchen). Auf dieser und einer dreibändigen Ausgabe
für Kinder beruht die enorme Popularität der Märchen und Sagen,
denen innerhalb der norwegischen Literatur- und Kulturgeschichte
ein ähnlicher Stellenwert zukommt wie in der deutschen den Kin-
der- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Sie besitzen eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung für die Ausbildung der norwegischen
Schriftsprache.
Im Gefolge der Ausgaben von Asbjørnsen und Moe erschienen
viele regionale und nationale Märchen- und Sagensammlungen, die
allerdings in ihrem literarischen und wissenschaftlichen Wert sehr
unterschiedlich zu beurteilen sind. REIMUND KVIDELAND
Peter Christen Asbjørnsen
* 15. Januar 1812 in Christiania (Oslo, Norwegen)
† 6. Januar 1885 in Kristiania (Oslo, Norwegen)

Studium der Zoologie, 1858–1876 Forstmeister, Verfasser mehrerer


naturwissenschaftlicher Aufsätze, u. a. zur Meeresbiologie; ab 1826
lebenslange Freundschaft mit J. E. Moe, gemeinsame Kompilation der
historisch wichtigsten und bis heute maßgeblichen Sammlung nor-
wegischer Volksmärchen und -sagen; gilt als Begründer der wissen-
schaftlichen Volksmärchenforschung in Norwegen.

Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus


Norwegen / Norske Huldreeventyr og Folkesagn
Die 1845 bis 1848 erschienene Sammlung stellt eine Fortsetzung der
zusammen mit J. E. Moe herausgegebenen Norske Folkeeventyr aus dem
Jahr 1843/44 dar, enthält jedoch ihrem Titel zum Trotz ausschließlich 127
norwegische Volkssagen. Ihr Vorbild ist Thomas Crofton Crokers Fairy
Legends and Traditions of the South of Ireland (1825–1828), ein Werk, das

PET ER CHR IS T EN A SBJØR NSEN


Asbjørnsen in der Grimm’schen Übersetzung (Irische Elfenmärchen) von
1826 kannte. Die in einem die mündliche Erzähltradition fingierenden
Ton erzählten Sagen sind in teilweise von Asbjørnsen verfasste Rah-
menerzählungen eingebettet, die meist Erzählern aus dem einfachen
Volk in den Mund gelegt sind. Viele dieser Figuren gehen auf reale Per-
sonen zurück, die Asbjørnsen selbst kannte und die er hier nicht selten
in karikierender Weise darstellt. Stilistisch und von ihren Erzählver-
fahren her stehen die Texte auf der Grenze zwischen Romantik und
poetischem Realismus und können somit zu den frühesten Beispielen
realistischen Schreibens in der norwegischen Literatur gezählt werden.
1879 hat Asbjørnsen die Volkssagen zusammen mit den von ihm
und J. Moe gesammelten Märchen in einer Ausgabe mit dem irre-
führenden Titel Norske Folke- og Huldreeventyr i Udvalg (Norwegische
Volks- und Elfenmärchen) vereint und damit die Verwischung der
Gattungsgrenzen zwischen Sage und Märchen festgeschrieben.
Im norwegischen kulturellen Bewusstsein gelten die Volkssagen
bis heute als Teil der von Asbjørnsen und Moe gesammelten Mär-
chen. REIMUND KVIDELAND

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


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Charles Dickens
* 7. Februar 1812 in Landport (Großbritannien)
† 9. Juni 1870 in Rochester (Großbritannien)

(Pseudo. Boz) – 1824 während der Schuldhaft des Vaters Arbeit in


einer Schuhwichsfabrik; 1825–1827 Schulbesuch, nach Lehrzeit in
einer Anwaltskanzlei Prozess-Stenograph und Journalist; erste Erzäh-
lungen ab 1833, außergewöhnlicher Erfolg ab 1836; Herausgeber von
Bentley’s Miscellany und den Wochenzeitschriften Household Words und
All the Year Round; zwei historische und 13 weitere Romane, fünf Christ-
mas Books und zahlreiche Erzählungen, die ein realistisches Bild der
Erfahrungswelt seiner Zeitgenossen, insbesondere der Mittel- und
Unterschicht zeichneten; ausgedehnte Reisen durch Europa und die
USA (1842 und 1867/68). Während die Zeitgenossen die humorvollen
Romane des Frühwerks bevorzugten, konzentriert sich die Kritik seit
128 der Mitte des 20. Jh.s auf die düsteren Romane des Spätwerks und ihre
Symbolstruktur; dauerhafte Popularität des Werks.

Der Weihnachtsabend. Ein Weihnachtslied in Prosa oder


Eine Gespenstergeschichte zum Christfest / A Christmas
Carol. Being a Ghost Story of Christmas in Prose
Die 1843 erschienene Erzählung ist das erste der fünf Christmas
Books, die der Autor bis 1848 veröffentlichte. Sie ist in fünf ›Strophen‹
gegliedert: In der ersten wird der geizige Geschäftsmann Scrooge
eingeführt, der am Weihnachtsabend in seinem Kontor bei einem
spärlichen Feuer sitzt. Die Einladung seines Neffen zum Weihnachts-
essen schlägt er aus, weil Weihnachten »dummes Zeug« sei; Bitten
um eine Spende für die Armen lehnt er mit dem Hinweis auf den
Bevölkerungsüberschuss ab. Nur widerwillig gewährt er seinem Buch-
halter Bob Cratchit einen freien Tag. In seiner Wohnung erscheint
ihm wenig später der Geist seines vor sieben Jahren gestorbenen
Geschäftspartners Jacob Marley, mit einer Kette gefesselt, an der
Geldkassetten, Rechnungsbücher und Schlösser hängen und die, wie
Marley erläutert, er sich selbst geschmiedet hat. Er kündigt Scrooge
den Besuch von drei Geistern an.
In der zweiten ›Strophe‹ erwacht Scrooge und sieht ein überna-

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


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türliches Wesen, Kind und alter Mann zugleich, das als Geist der
vergangenen Weihnachten zu seiner Besserung gesandt ist. Der Geist
versetzt ihn an die Orte seiner Kindheit: Er sieht sich als einsames
Kind in der Schule, später im Haus seines Lehrherrn bei einem hei-
teren Weihnachtsfest, und nach einem weiteren Szenenwechsel mit
seiner Verlobten, die sich von ihm trennte, weil er sich nur für Geld
und Gewinne interessierte. In einer letzten Szene zeigt der Geist ihm
ihre fröhliche Familie, bevor er ihn in sein Bett zurückversetzt.
In der dritten ›Strophe‹ erwacht Scrooge und findet den Geist der
gegenwärtigen Weihnacht, eine freundlich wirkende, mächtige Figur,
in seinem Zimmer, das mit Weihnachtsdekoration geschmückt und
von allen erdenklichen Weihnachtsspeisen übervoll ist. Der Geist
führt Scrooge durch die Straßen der Stadt an reich geschmückten
Schaufenstern vorbei und zeigt ihm die Familie von Bob Cratchit, der
mit seinen sechs Kindern, darunter auch dem körperbehinderten Tim,
beim Weihnachtsessen sitzt. Auch im Hause von Scrooges Neffen 129
wird fröhlich gefeiert und gespielt; beide Familien bringen sogar einen
Toast auf Scrooge aus. Zuletzt sieht Scrooge zwei zerlumpte verwahr-

CH A R L E S DICK ENS
loste Kinder, die unter dem Mantel des Geistes hervorkommen und
ihm als die Kinder der Menschheit, nämlich ›Unwissenheit‹ und ›Man-
gel‹, vorgestellt werden.
In der vierten ›Strophe‹ lässt ihn der Geist der zukünftigen Weih-
nacht, eine schwarz bemantelte Erscheinung, auf der Straße Gesprä-
che von Passanten über einen verstorbenen Geschäftsmann mit
anhören. Bei einem Altwarenhändler wird Scrooge Zeuge, wie Gegen-
stände aus dem Besitz eines Toten, einschließlich des Totenhemdes,
verhökert werden. Er sieht auch den Leichnam, der ausgeplündert und
unbeweint auf seinem Bett liegt. Freude über den Tod zeigt ein junges
Ehepaar, Schuldner des Toten, denen nun Zahlungsaufschub gewährt
wird. Mitgefühl sieht Scrooge dagegen bei der Familie Cratchit, die um
den kleinen Tim trauert. Erst als er ein Grab und den Grabstein mit der
Inschrift ›Ebenezer Scrooge‹ sieht, versteht er, dass ihm sein eigenes
Ende vorgeführt wurde. Er gelobt, die Lehre, die er aus den Erschei-
nungen gezogen hat, zu beherzigen und den ›Geist der Weihnacht‹
sein weiteres Leben bestimmen zu lassen.
In der letzten ›Strophe‹ erwacht Scrooge am Weihnachtsmorgen
und schickt als erstes den größten Truthahn, den er beschaffen kann,
zur Familie Cratchit. Er verspricht, den Armen eine umfangreiche
Spende zukommen zu lassen und nimmt im Hause seines Neffen am
Weihnachtsessen teil. Schließlich erhöht er das Gehalt seines Buch-
halters und kümmert sich um dessen Familie, damit Tim nicht stirbt.
Aus dem Egoisten und Materialisten Scrooge ist ein guter Mensch
geworden.
Die Rückschau und der Zukunftsentwurf erlauben es Dickens,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in einer Simultanschau
nebeneinander zu stellen. Wie in den anderen Weihnachtserzählun-
gen geht es ihm darum, Situationen aus dem Leben der Armen in einer
Geschichte zu zeigen, deren moralische Botschaft die Glorifizierung
der Familie, gegenseitige Verantwortung und Liebe der Menschen
untereinander ist. Dickens’ Plädoyer für Nächstenliebe und die soziale
Zusammengehörigkeit aller Menschen wurde häufig als ›Weihnachts-
130 philosophie‹ kritisiert. Dagegen belegen zahlreiche Adaptationen und
Dramatisierungen, die zur Weihnachtszeit aufgeführt werden, die
anhaltende Popularität seines Werks. Mit A Christmas Carol begründete
Dickens die Gattung der ›Weihnachtsgeschichte‹ und trug maßgeb-
lich zur Re-Etablierung des Weihnachtsfestes bei, das zu Beginn des
19. Jh.s in England völlig aus der Mode gekommen war.
ANNEGRET MAACK
Aleksandr Nikolaevič Afanas’ev
* 23. Juli 1826 in Bogučar bei Voronež (Russland)
† 5. Oktober 1871 in Moskau (Russland)

1837–1844 Besuch des Gymnasiums in Voronež; 1844–1848 Jurastu-


dium in Moskau; ab 1849 Archivar des russischen Außenministeriums;
Tätigkeiten im Rahmen historischer Kulturforschung; Sammler und
Herausgeber von etwa 200 russischen Volksmärchen.

Russische Volksmärchen / Narodnye russkie skazki


Das zunächst in acht einzelnen Lieferungen zwischen 1855 und 1863
erschienene Werk ist die erste umfassende und zugleich die klassisch
gewordene Sammlung russischer Volksmärchen.
Afanas’evs Märchensammlung orientiert sich am Beispiel der
Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) der Brüder Grimm, deren Umfang
von Narodnye russkie skazki mit über 600 Texten jedoch weit übertrof- 131
fen wird. Im Unterschied zu den deutschen Märchensammlern trug
›der russische Grimm‹ die wenigsten Märchen selbst zusammen. Das

A L EK SA NDR NIKOL A EV IČ A FA NA S’EV


Material für seine Sammlung entnahm er größtenteils dem Archiv der
Russischen Geographischen Gesellschaft und Aufzeichnungen ande-
rer Märchen- und Volksgutsammler wie V. Dal’. Afanas’ev griff nur
zurückhaltend in die Texte ein, am häufigsten da, wo ihm die Aufzeich-
nungen zu stark literarisiert erschienen. Anstatt Varianten eines Mär-
chens auf eine repräsentative Version zu reduzieren, nahm er oftmals
mehrere Varianten ein und desselben Märchens in seine Sammlung
auf, so dass sich in Narodnye russkie skazki viele motivgleiche und motiv-
verwandte Texte finden, die Vergleiche zeitbedingter und regionaler
Eigenarten erlauben. Spätere Auflagen enthalten sogar Märchen in
ukrainischer (z. B. »Vorona i krak« – »Die Krähe und der Krebs«) und
weißrussischer Sprache (z. B. »Moroz, solnce i veter« – »Der Frost, die
Sonne und der Wind«).
Für die zweite Auflage, die 1873 erschien, nahm Afanas’ev eine
Einteilung der Märchen in verschiedene Märchentypen vor, die in den
Texten allerdings häufig nicht in reiner Form auftreten. Er unterschied
Zauber-, Abenteuer-, Tier-, Novellen- sowie Lügen- und Scherzmär-
chen. Neben Anklängen an Motive der griechischen Mythologie (z. B.

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_26, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Verwandlung in Stein: »Pojuščee derevo i ptica-govorun’ja« – »Der
sprechende Vogel«; Ariadnefaden: »Mudraja žena« – »Die weise Ehe-
frau«) sowie an altindische und orientalische Märchensammlungen
(fliegender Teppich: »Zakoldovannaja korolevna« – »Die verzauberte
Königstochter«), sind vor allem die Parallelen zu den Grimm’schen
Märchen sinnfällig. Motive so bekannter Märchen wie »Schneewitt-
chen«, »Aschenputtel« und »Der Fischer und seine Frau« haben eine
oder mehrere Entsprechungen in Afanas’evs Sammlung (»Schneewitt-
chen«: »Volšebnoe zerkal’ce« – »Der Zauberspiegel«; »Aschenputtel«:
»Zolotoj bašmačok« – »Das goldene Schühchen«, »Černyška« – »Das
schwarze Mägdlein«; »Der Fischer und seine Frau«: »Zolotaja rybka« –
»Das goldene Fischchen«).
Insbesondere die Zaubermärchen, die den größten Teil der Samm-
lung ausmachen, besitzen aber auch ein gerade dem russischen Mär-
chen eigenes Figurenrepertoire. Eine zentrale Gestalt ist die hexen-
132 gleiche Baba Jaga, die sowohl Glück als auch Unglück bringen kann,
in einem Häuschen auf Hühnerbeinen wohnt und einen Mörser als
fliegenden Untersatz verwendet. Zum festen Bestand gehören zudem
der böse unsterbliche Koščej sowie der Drache als gefährlicher Gegner
und das Zauberpferd als hilfreich-treuer Freund des Helden.
Abweichend von der deutschen Märchentradition finden sich
in Afanas’evs Märchensammlung zahlreiche Tiermärchen, die meist
ohne den belehrenden Charakter der Tierfabel auskommen, und
Abenteuermärchen. Letztere sind mit den altrussischen Formen des
Heldenlieds (Starina, Byline) verwandt und spiegeln oftmals reale
historische Verhältnisse und Ereignisse.
Der Erzählfluss der russischen Volksmärchen, die nicht zwangs-
läufig einen glücklichen Ausgang nehmen, ist bedächtig. Wiederho-
lungen, lyrische Einlagen sowie feste Redeformeln rhythmisieren die
Texte, die insgesamt stark dialogisch aufgebaut sind. Führen die Rede-
formeln zu Beginn des Märchens in eine wundersam-phantastische
Welt ein und bringen sie zum Schluss nicht selten den Märchen-
erzähler selbst ins Bild, so dienen sie im Innern der Handlung dazu,
bestimmte Vorgänge wie z. B. Kämpfe einzuleiten oder zeitlich weit
gespannte Vorgänge zusammenzuziehen.
Vor allem in den Zaubermärchen mit ihren zahlreichen Schilde-
rungen von Zauberfluchten und Verwandlungsvorgängen entfaltet
sich eine dem Alltäglichen und Gegenständlichen entspringende
zauberhaft-poetische Bildwelt. Die nach hinten geworfene Bürste
wird zum schützenden Schilfdickicht (»Knjaz’ Danila-Govorila« –
»Fürst Danila-Govorila«), der Held verwandelt sich in einen prächtig
gekleideten Jüngling, indem er zum einen Ohr eines Pferdes hinein-
und zum anderen wieder herausklettert (»Sivko-burko« – »Grauchen-
Braunchen«). Neben poetischen Kleinoden wie »Skazka ob Ivane-
Careviče, žar-ptice i o serom volke« (»Das Märchen von Ivan Carevič,
dem Feuervogel und dem grauen Wolf«) liebt das russische Märchen
aber auch eine deftige Sprache und bisweilen ins Groteske reichende
Übertreibungen, wie sie sich insbesondere in den Lügen- und Scherz-
märchen finden.
Der den Märchen von Afanas’ev beigefügte wissenschaftliche
Kommentar weist Afanas’ev als einen Vertreter der von Jakob Grimm
begründeten ›Mythologischen Schule‹ aus. Diese versuchte anhand 133
von Märchen, die als Überreste alter Naturmythen verstanden wur-
den, Aufschluss über frühe religiös-mythologische Vorstellungen

A L EK SA NDR NIKOL A EV IČ A FA NA S’EV


der entsprechenden Völker zu gewinnen. Aus heutiger Sicht liegt die
Bedeutung von Afanas’evs Märchensammlung darin, dass sie ein
bedeutendes Stück russischer Volkskultur bewahrt und russische
Lebenswelten und Wertvorstellungen der Zeit spiegelt. Darüber hin-
aus hatten die Märchen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die
russische Sprache und Literatur. Dies zeigt sich unter anderem in ihrer
breiten Aufnahme bei Autoren wie L. Tolstoj, V. Nekrasov, N. Leskov,
M. Gor’kij, V. Korolenko, E. Švarc und M. Cvetaeva sowie in musika-
lischen Umsetzungen von P. Čajkovskij, N. Rimskij-Korsakov und
I. Stravinskij.
Eine Reihe satirischer Märchen und Volkslegenden über die Geist-
lichkeit fiel in Russland der Zensur zum Opfer, ebenso eine Anzahl
erotischer Schwänke. Diese ließ Afanas’ev anonym im Ausland veröf-
fentlichen (Russkie zavetnye skazki, 1872, Heimliche russische Märchen).
KAROLINE THAIDIGSMANN
Lewis Carroll
* 27. Januar 1832 in Daresbury/Cheshire (Großbritannien)
† 14. Januar 1898 in Guildford/Surrey (Großbritannien)

(d. i. Charles Lutwidge Dodgson) – 1855–1881 Mathematik-Dozent am


Christ Church-College in Oxford; ab 1856 passionierter Fotograph;
1861 Weihe zum Diakon; verfasste mathematische Schriften; Parodien
und satirische Pamphlete unter Pseudonym; exzentrischer Kinder-
narr, als Autor von kindgerechten Nonsens- und Traummärchen,
Gedichten und längeren Erzählungen ein richtungweisender Reprä-
sentant des ›goldenen Zeitalters‹ der englischen Kinderliteratur.

Alice im Wunderland / Alice’s Adventures in Wonderland


Das aus einer mündlichen Stegreiferzählung hervorgegangene, 1865
erschienene Kinderbuch wurde zusammen mit der Fortsetzung
134 Through the Looking-Glass (1871) in der motivischen Verbindung von
Traum, Märchen und Nonsens zum Klassiker der englischen Kinder-
literatur. Beide Bücher fanden zudem in mehr als 50 Übersetzungen
weltweite Verbreitung. Sie haben als bizarr-subversive Modelle
moderne Autoren von James Joyce bis Raymond Queneau und Künst-
ler vor allem des Surrealismus wie Salvador Dalí oder Max Ernst ani-
miert. Sie wurden von den populären Medien (Film, Funk und Fern-
sehen) immer wieder bearbeitet und lieferten einen Zitatenschatz
geflügelter Worte. Zur Publikumswirksamkeit beider Bücher, die bei
Jung und Alt gleichermaßen Anklang fanden, trugen maßgeblich auch
die Illustrationen von John Tenniel bei.
Das Geschehen betrifft die siebenjährige Alice, die zum Zeitver-
treib einem aufgeregten Kaninchen in sein Loch folgt und so in eine
untergründige ›Anderwelt‹ fällt, wo sie eine Reihe von Abenteuern
erlebt: Sie verändert mehrfach durch Zauberspeisen ihre Größe,
begegnet diversen eigensinnigen Tieren, kommt in das Tollhaus der
garstigen Herzogin mit der ewig grinsenden Cheshire-Katze und dem
sich zum Ferkel wandelnden Baby, lässt sich in die verrückte Teege-
sellschaft von Märzhase, Hutmacher und Schlafmaus verwickeln und
erreicht den ersehnten Garten des Königs, in dem sich ein Hof leben-
diger Spielkarten und Fabelmonster tummelt. Den Schluss bildet eine

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_27, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Gerichtsverhandlung um den Kuchendiebstahl des Herzbuben im
Palast, die sich von der Farce prinzipieller Vorverurteilung zur grotes-
ken Turbulenz steigert, bis Alice dem Unfug ein Ende bereitet und auf
der heimischen Wiese aus dem Traum erwacht.
In der Konfrontation der Protagonistin mit der Reihe egozentri-
scher Kreaturen inszeniert Carroll die Unterlegenheitsgefühle und
Entgrenzungsbedürfnisse, die Selbsterprobung und das Rollenspiel
des heranwachsenden Kindes, das sich gegenüber einem die Erwach-
senenwelt ›über Tag‹ verzerrt karikierenden Umfeld trotz fortwähren-
der Verunsicherungen beherzt bewährt. Mit gesundem Menschenver-
stand begegnet sie dem dort auftrumpfenden Unverstand, einer durch
Inkongruenzen und Inversionen auf Schritt und Tritt verrätselten
Welt, in der man gegen Empirie und Logik verstößt und wo Mensch,
Tier und Materie metamorph durcheinandergeraten.
Ein Gutteil der Situationskomik ergibt sich aus der Konstellation
des fasziniert-wissbegierigen Eindringlings und der befremdlichen 135
Sonderlinge des phantastischen Reiselands, die sich in humorloser
Zwanghaftigkeit und im dialogischen Schlagabtausch gegenüber-

L EW IS C A R ROL L
stehen. Dabei werden gerade die vertrautesten Erfahrungsbereiche
des Kindes grotesk verfremdet: Freizeit und Spiel, Heim und Herd,
Unterricht und Geselligkeit. Ein besonderer Reiz geht von der spiele-
rischen Sprachkomik des Nonsens aus. Die unsinnige Verwirrung der
Kommunikation erfährt Alice vor allem in ihren Versuchen, zu einer
Verständigung mit den Wunderlandwesen zu kommen, die sie quasi-
rituell in abstruse Dispute verwickeln und sie so unter Druck setzen,
dass ihr selbst bald sprachliche Fehlleistungen unterlaufen: Die spie-
lerische Manipulation der Sprache auf allen Ebenen lässt sie letztlich
als höchst unzuverlässiges Verständigungs- und Ausdrucksmedium
erscheinen.
Die Struktur der Erzählung ist episodenhaft. Alice schwankt in der
Folge der Abenteuer zwischen kindlicher Spontaneität und frührei-
fer Vernunft und verhält sich paradoxerweise meist erwachsener als
die sich kindisch gebärdenden Autoritätsfiguren, die ihr mit repres-
siven Ritualen zusetzen. Sie macht keine Entwicklung durch und
zieht, als sie den Traum im abschließenden Rahmen der Schwester
erzählt, keine Bilanz im Sinne eines Lernprozesses. Dies unterstreicht
zugleich den Unterhaltungscharakter der Erzählung, die im Unter-
schied zur Tradition der (hier mehrfach auch parodierten) erbaulichen
Kinderliteratur auf Spannung und Witz setzt, nicht zuletzt den schon
von den ursprünglichen Zuhörern der Geschichte eingeforderten
Nonsens. Die Erwartungshaltung ist zugleich im Kontext des vikto-
rianischen Geschmackswandels zu sehen, der durch das verstärkte
Aufkommen und die formale Auffächerung jeglicher Art von ›inno-
cent mirth‹ (unschuldiger Heiterkeit) gekennzeichnet war.
Beide Alice-Bücher wurden nicht nur nach literarischen Kriterien
auf vielfältige Weise gedeutet, wobei manche Interpreten aus den
Texten verschlüsselte Botschaften herauslesen, die Carroll auch in
seinen kühnsten Träumen kaum hineingelegt hätte. Überzeugender
ist die Forschungsrichtung, die die Texte als das betrachtet, was sie
von Anfang an waren: Kinderbücher. Als solche sind sie prototypisch
für viele spätere Klassiker der Kinderliteratur in der angelsächsischen
136 Welt: von L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz, 1900 (Der Zauberer
von Oz), und Kenneth Grahames The Wind in the Willows, 1908 (Der Wind
in den Weiden), bis zu J. K. Rowlings Reihe der Harry Potter-Bücher (ab
1997). EBERHARD KREUTZER

Alice hinter den Spiegeln / Through the Looking-Glass


and What Alice Found There
Das 1871 erschienene Folgebuch zu Alice in Wonderland versetzt die
Hauptfigur in ein ähnliches Traumland und legt bis zur Austausch-
barkeit einzelner Episoden das gleiche literarische Rezept zugrunde.
Doch wie Alice sich hier im zielstrebigen Rollenspiel in die Wunder-
welt hinter dem Wohnzimmerspiegel manövriert, so geht auch der
Autor planvoller zu Werke. Das Traumgeschehen ist wieder voll ver-
rückter Überraschungen, und zumal das endlose Spiel mit ›Umkehr-
Gags‹ macht das Spiegelland gründlicher als das Wunderland zu einer
verkehrten Welt: Die räumlichen Verhältnisse von oben und unten,
rechts und links, nah und fern werden ebenso gegeneinander ausge-
spielt wie die zeitliche Folge von vorher und nachher, Ursache und
Wirkung. Das Inversionsprinzip bekommt den Charakter denksport-
licher Demonstration, und die Verwirrung um so elementare Katego-
rien zielt in letzter Konsequenz noch radikaler als der vorangegangene
Roman auf eine Verunsicherung des Vertrauens in das System der
Sprache.
Das Geschehen ist hier insofern stärker durchstrukturiert, als das
unterlegte Schachspielschema eine Partie suggeriert, in der lebendig
gewordene weiße und rote Schachfiguren sich über eine schachbrett-
artig gemusterte Landschaft bewegen; doch das Ganze läuft ohne den
Seitenwechsel eines echten Spiels ab. Alice nimmt als weißer Bauer
am Spiel teil und bringt ihre Seite zum Sieg, indem sie Königin wird
und die rote Königin zu Fall bringt. Weiß ist die schwächere, aber gut-
mütigere Seite der White Queen, die mit Alice zu den Traumbinsen
rudert und sich in ein Schaf verwandelt, und des White Knight, eines
Ritters von trauriger Gestalt, der ihr als Einziger sichtlich zugetan ist
und auch weiterhilft. Rot ist die energische, vereinnahmende Partei
der Red Queen, die die ›kühle Leidenschaft‹ einer herrschsüchtigen
Gouvernante verkörpert, und des Red King, der Alice insofern am
ärgsten zusetzt, als er sie vielleicht längst zu einem Teil seines Traums 137
gemacht hat. Bezeichnenderweise beschäftigt die existenzielle Frage,
wer nun eigentlich wen geträumt hat, Alice über den Traum hinaus im

L EW IS C A R ROL L
Wachzustand. Die Dialektik von Träumer und Geträumtem berührt
sich mit der von Spieler und Gespieltem: Die Topoi von der Welt als
Traum und der Welt als (Schau-)Spiel klingen verschiedentlich an.
Während die hier implizierten philosophischen Ideen sich eher an
erwachsene Leser als an Kinder richten, kommen diese in jenen Epi-
soden voll auf ihre Kosten, die bekannte Kinderreim-Geschichten in
Szene setzen: den Streit der Zwillinge Tweedledee und Tweedledum
um ihre Rassel, den Fall des eiförmigen Humpty Dumpty von der
Mauer und den Kampf von Löwe und Einhorn um die Krone – vor-
gezeichnete Rituale im Sinne der das gesamte Geschehen charakte-
risierenden Spiegelbildlichkeit. Aus Humpty Dumpty macht Carroll
allerdings mehr, als in der lustigen Kinderreim-Figur angelegt ist: den
Querulanten, der alle Sprachregeln und Denkgesetze um des Non-
sensprinzips willen unterläuft. Mit deutlichen Anzeichen kindischen
Eigensinns spielt er das ›enfant terrible‹ aller Philologien, das sämt-
liche linguistische und literarische Konventionen auf den Kopf stellt:
Namen haben um jeden Preis etwas zu bedeuten; Wörter nehmen
die Bedeutungen an, die ihnen der Sprecher gibt; Gedichte lassen sich
interpretieren, bevor sie auch nur verfasst sind; und das Verhältnis
von Sprecher und Sprache bemisst sich schließlich nach der Frage,
wer wen beherrscht. Humpty Dumpty liefert selbst den praktischen
Beweis seiner abstrusen Ideen, wenn er Alice so mit Kalauern und
Paradoxien überschüttet, dass sie sich weniger in ein Gespräch als in
ein undurchschaubares Frage-und-Antwort-Spiel verwickelt findet,
und seine Explikation der von Mischwortprägungen strotzenden
Balladenparodie »Jabberwocky« zeigen den assoziationsfreudigen
Sprachtüftler und dechiffrierenden Interpreten des eigenen Produkts
vollends in seinem Element. EBERHARD KREUTZER

138
Hans Christian Andersen
* 2. April 1805 in Odense (Dänemark)
† 4. August 1875 in Kopenhagen (Dänemark)

Aufgewachsen unter ärmlichsten Verhältnissen; Ausbildung durch


Förderung des Königs; unstetes Leben als Außenseiter; Reisen in
30 Länder; vielseitigster und weltweit bekanntester dänischer Dichter,
auch Bildkünstler.

Sämtliche Märchen / Eventyr og Historier


Der Weltruhm des Autors gründet sich vor allem auf seine zwischen
1835 und 1872 erschienenen »Märchen« – ein Begriff, der hier aller-
dings eine Vielzahl unterschiedlichster narrativer Genres einschließt.
Unter dem Eindruck der Kunstmärchendichtung und Volksmärchen-
Sammlungen der dänischen und deutschen Romantik veröffentlichte
der schon als Lyriker, Dramatiker und Reiseschriftsteller etablierte 139
Andersen 1835 in zwei unscheinbaren Heften Eventyr, fortalte for Børn
(Märchen, für Kinder erzählt). Die überraschend große Wirkung der

H A NS CHR IS T I A N A NDER SEN


zunächst eher als Nebenwerke behandelten Texte ermutigte ihn bald
zu Fortsetzungen (bis 1842). Ab 1843/44 veränderte sich mit der nun
anspruchsvolleren Aufmachung auch die Genrebezeichnung: Nun
firmierten die Texte nur noch als »Eventyr« (Märchen), 1852 bis 1855
dann als »Historier« (Geschichten); ab 1858 etablierte sich die Doppel-
formel »Eventyr og Historier«.
Dieser Wandel entspricht jener Doppelperspektive, die Ander-
sens selbst für die Texte geltend gemacht hat: Sie seien für Kinder
geschrieben, denen Erwachsene über die Schulter blickten. Tatsäch-
lich erschließen sich, bei allem kindlichen und kindgemäßen Zauber,
manche Züge der oft anspielungsreichen »Märchen« erst geschulten
Lesern, viele der späteren Texte sind erkennbar überhaupt nur für
Erwachsene geschrieben. 156 Märchen und Geschichten umfasst die
Ausgabe letzter Hand, die seit 1990 in der philologisch vorbildlichen
Edition von Erik Dal u. a. vorliegt. Hinzu kommen einige nur im Aus-
land oder postum publizierte Texte, Märchenballaden, aber auch das
Schauspiel Agnete og Havmanden, 1833 (Agnete und der Meermann).
Die Basis dieses umfangreichen Corpus bilden freie Adaptionen

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_28, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
von Volksmärchen, deren Drastik Andersen (im Gegensatz etwa zu
den Brüdern Grimm) oft zu satirischen Angriffen auf die bürgerliche
Bildungskultur nutzt. So endet »Fyrtøiet«, 1835 (»Das Feuerzeug«),
mit einem komisch geschilderten Volksaufstand gegen den König in
einem wiedererkennbaren Kopenhagen. Im Schwankmärchen »Lille
Claus og Store Claus«, 1835 (»Der kleine Claus und der große Claus«),
setzt sich der »Kleine« mit amoralischer Schläue gegen den mörde-
rischen »Großen« durch; noch der anarchische »Klods-Hans«, 1855
(»Hans Tolpatsch«), zerstört das aristokratische Ritual und befreit so
die Prinzessin. Dabei erzeugt die zuerst im »Feuerzeug« erprobte artis-
tische Verbindung ironisch verspielter Stil-Manierismen mit einer
fiktiven Mündlichkeit (in Leseranreden, Interjektionen, umgangs-
sprachlichem Vokabular, syntaktischen Inkongruenzen) eine Grund-
spannung zwischen oraler Volks- und avancierter Schriftkultur, die als
strukturelle Ironie das gesamte Werk mitbestimmt. Die thematischen
140 wie strukturellen Bezüge zum Volksmärchen treten bald zurück, dafür
werden nun auch Balladen- und Sagenstoffe einbezogen.
Daneben stehen von Beginn an romantische Märchendichtungen,
von denen viele ins kollektive Bewusstsein der Moderne eingegangen
sind, Texte von unerschöpflicher Phantasie und in unterschiedlichs-
ten Akzentuierungen und Tonfällen – von den autobiographisch
getönten Künstler-Parabeln »Prindsessen paa Ærten«, 1835 (»Die
Prinzessin auf der Erbse«), und »Den grimme Ælling«, 1844 (»Das
hässliche Entenküken«), über die Gesellschaftssatire »Keiserens nye
Klæder«, 1837 (»Des Kaisers neue Kleider«), bis zu symbolisch-vieldeu-
tigen Kunstmärchen im engeren Sinne wie »Den lille Havfrue«, 1835
(»Die kleine Meerfrau«), »Den standhaftige Tindsoldat«, 1838 (»Der
standhafte Zinnsoldat«), oder »Nattergalen«, 1844 (»Die Nachtigall«).
Zunehmend treten dabei einerseits satirisch-sozialkritische Züge in
den Vordergrund (vor allem in den der Fabel nahen Dingmärchen, in
denen alltägliche Gebrauchsgegenstände kleinbürgerliche Verhaltens-
normen der Lächerlichkeit preisgeben); andererseits macht Andersen
das Märchen zum Experimentierfeld für religiöse und philosophische
Grundthemen, die ihn nicht nur als Nachfolger der deutschen und
dänischen Romantik zeigen, sondern auch als Zeitgenossen Kierke-
gaards. Fragen nach richtiger und verfehlter Existenz, Identität und
Selbstverlust, Vertauschung oder Aufhebung von Geschlechterrol-
len, nach Zeitlichkeit und Ewigkeit, Gottvertrauen und Unglauben
bestimmen außer den genannten auch Erzählungen wie »Grantræet«,
1845 (»Der Tannenbaum«), »Den lille Pige med Svovlstikkerne«, 1846
(»Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern«), »Historien om en
Moder«, 1848 (»Die Geschichte einer Mutter«), oder »Hjertesorg«, 1853
(»Herzeleid«). In komplexen Adoleszenzdarstellungen wie »Sneed-
ronningen«, 1845 (»Die Schneekönigin«), und »Dyndkongens Datter«,
1858 (»Des Schlammkönigs Tochter«), werden zunehmend auch psy-
choanalytische Kategorien entfaltet und mit erkenntnistheoretischen,
theologischen und kulturphilosophischen Fragen verknüpft. Dabei
erproben die Texte durchaus unterschiedliche Positionen, vom spät-
romantischen Entwurf utopischer Gemeinschaft in einer versöhnten
Allnatur in »Klokken«, 1845 (»Die Glocke«), bis zum abgründigen
Pessimismus in der – zuweilen mit den Erzählungen Kafkas vergliche-
nen – Meistererzählung »Skyggen«, 1847 (»Der Schatten«). 141
Im Spätwerk werden zentrale Sujets früherer Texte ausweitend
revidiert (so die »Meerfrau« in »Iisjomfruen«, 1862, »Die Eisjung-

H A NS CHR IS T I A N A NDER SEN


frau«), aber auch ganz neue Themenbereiche erschlossen. Das gilt
vor allem für die epochalen technisch-industriellen Umbrüche und
ihre ökologischen und kulturellen Konsequenzen. So versetzt das als
einziges Märchen separat publizierte Dryaden, 1868 (»Die Dryade«),
die mythisch-märchenhafte Titelheldin ins Paris der Weltausstellung
von 1867; »Den store Søslange«, 1871 (»Die große Seeschlange«), erzählt
vom Telegraphenkabel zwischen Europa und Amerika und so fort. Zu
diesem Komplex gehören auch die poetologischen Programmschrif-
ten, die Andersen ausgerechnet in seine Märchen-Sammlungen auf-
nahm und unter denen das zwischen Spätromantik und Frühmoderne
halsbrecherisch balancierende Pamphlet »Det nye Aarhundredes
Musa«, 1861 (»Die Muse des neuen Jahrhunderts«), die bedeutendste
ist.
Der Vielfalt der Genres entspricht die stilistische Variationsbreite.
In Satiren wie »Loppen og Professoren«, 1873 (»Der Floh und der Pro-
fessor«), und dem von Andersen selbst ans Ende seiner Sammlung
gestellten poetologischen Epilog »Tante Tandpine«, 1872 (»Tante
Zahnweh«), erreichen die Texte noch einmal eine neue sprachliche
Qualität, deren an Montageverfahren erinnernde Schroffheit nicht
mehr auf die Romantik zurück-, sondern entschieden auf die Moderne
vorausweist. Die weltliterarischen Wirkungen dieser Texte sind unab-
sehbar; sie reichen von Oscar Wilde und Joyce bis zu den Romanen
Fontanes, Kafkas, Grass’ und namentlich Thomas Manns, der »Ander-
sens Märchen« den »frühesten, tiefsten und nachhaltigsten« Leseein-
druck seines Lebens genannt hat. HEINRICH DETERING

142
Pavol Dobšinský
* 16. März 1828 in Slavošovce (Slowakei)
† 22. Oktober 1885 in Drienčany (Slowakei)

In den letzten Gymnasialjahren bis 1848 am Lyceum von Levoča akti-


ves Mitglied im nationalbewegten Studentenbund ›Jednota mládeže
slovenskej‹ (Einheit der slowakischen Jugend); schrieb Gedichte und
übersetzte aus der Weltliteratur; nahm an der Revolution von 1848
kämpfend teil; 1852 Redakteur der Kulturzeitschrift Slovenské pohľady;
1858–1861 Lehrer am Gymnasium von Banská Štiavnica; ab 1861 evan-
gelischer Pfarrer; einer der bedeutendsten Sammler und Interpreten
des nationalen mündlichen Erzählguts.

Volkstümliche slowakische Märchen / Prostonárodné


slovenské povesti
Die von 1880 bis 1883 in acht Bänden erschienene romantische 143
Märchensammlung knüpft an die erste Ausgabe von Ján Francisci-
Rimavskýs (1845) an, vor allem aber an die Auswahl von Zaubermär-

PAVOL D OB ŠINSK Ý
chen, die Pavol Dobšinský gemeinsam mit August Horislav Škultéty
zwischen 1858 und 1861 unter dem Titel Slovenské povesti (Slowakische
Sagen) vorbereitet hatte. In die achtbändige Ausgabe übernahm
Dobšinský auch einige Märchen aus Božena Němcovás Sammlung
slowakischer Märchen und Sagen von 1857.
Die Märchen sind das am meisten gelesene Werk der slowaki-
schen Literatur. Traditionell dem Bereich der Folklore zugeordnet,
zeigten erst jüngste Forschungen (Pácalová), dass literarische Mär-
chen, etwa von so bedeutenden romantischen Dichtern und Prosa-
autoren wie Ján Botto, Samo Chalupka, Janko Kráľ und Ján Kalinčiak,
ein Schlüsselelement der slowakischen literarischen Romantik bilden.
Dobšinskýs Sammlung slowakischer Märchen geht implizit
von Novalis’ frühromantischer Konzeption des Märchens als der
»eigentümlichsten Form der Poesie« und »des Kanons aller Poesie«
aus. Wie in der deutschen Frühromantik galten die Märchen auch in
der slowakischen Romantik als ein Abbild universeller menschlicher
Situationen, dargestellt beispielsweise in den Geschichten von der
Suche nach der individuellen Identität (»Martinko Klingáčik«), von

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_29, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
der Unsterblichkeit (»Slncový kôň«, Das Sonnenpferd), vom Paradies
(»O dvanástich mesiačikoch«, Von den zwölf Monaten) und von der
Gerechtigkeit (»Popoluška«, Aschenbrödel). Andere Märchen thema-
tisieren das Verbot des Grenzübertritts in tabuisierte Bereiche (das
Motiv des verzauberten dreizehnten Zimmers), die Unsicherheit des
menschlichen Schicksals, die in der Formel »Geh dahin, weiß nicht
wohin, bring mir das, weiß nicht was« anklingt, sowie den Fall und die
Erlösung des Menschen mit dem Motiv vom Wasser des Lebens oder
des Todes.
Die spezifische Funktion des Märchens bestand in der Romantik
darin, dass es zum Bild der sich formierenden kollektiven Identität der
modernen slowakischen Nation wurde. Dobšinský verknüpfte escha-
tologische Mythen mit Utopien. Die Erlösung im Märchen »Zakliata
hora« (Der verwunschene Wald) am Beginn der ersten Sammlung
von 1858 bis 1861 bedeutete für den Herausgeber die Erfüllung des
144 Sinns der slowakischen Geschichte und damit gleichzeitig deren
Ende. Für die slowakischen Romantiker stand die Verwünschung
für Auszehrung, Unfreiheit und Strafe für eine Schuld. Erlösung war
möglich, aber nur nach Reue und Buße. Im Unterschied zur messia-
nischen Utopie des Wartens auf einen Erlöser wird die Erlösung in
diesen Märchen aktiv erlangt. In »Der verwunschene Wald« kann der
jüngere Bruder, der im Kampf seine Unschuld bewahrt hat, schließlich
den älteren Bruder und die Ritter befreien, die sich schuldig gemacht
hatten.
Das slowakische romantische Märchen enthält die Träume von
einem freien und gerechten Land (»Der verwunschene Wald«) oder
den Traum von der slowakischen Nation, die wie der jüngere Bruder in
»Popolvár, najväčší na svete« (Der größte Faulpelz auf der Welt) einem
Phoenix gleich aus der Asche aufersteht, um unter den anderen Völ-
kern als gleichwertig zu gelten. Die Märchen waren die ersten Texte,
die in der neuen, 1843 kodifizierten slowakischen Schriftsprache publi-
ziert wurden. Damit entsprachen sie auch dem ethymologisierenden
Traum der Romantiker vom unschuldigen, natürlichen Wort, das den
Weg für eine moderne Entwicklung der slowakischen Sprache und
Literatur bereitete.
Eine deutsche Ausgabe slowakischer Märchen, die ausdrücklich
auf die Sammlung Pavol Dobšinskýs Bezug nahm, erschien erstmals
1963; 1975 wurde in der Übertragung von Elisabeth Borchardt-Hilgert
das erste Buch aus Dobšinskýs Sammlung, Das Sonnenpferd, und 1976
das zweite Buch unter dem Titel Der verwunschene Wald verlegt.
PETER ZAJAC

145

PAVOL D OB ŠINSK Ý
Carlo Collodi
* 24. November 1826 in Florenz (Italien)
† 26. Oktober 1890 in Florenz (Italien)

(d. i. Carlo Lorenzini) – Teilnahme an den Kriegen 1848 und 1859;


Gründer der satirisch-politischen Zeitung Il lampione; Angestellter bei
der Theaterzensur, später bei der Präfektur; Verfasser des berühmtes-
ten italienischen Kinderbuchs Pinocchio, in dem er, wie auch in übrigen
Werken, abweichend von der üblichen Figur des Musterknaben einen
neuen Typ des ›wirklichen Jungen‹ schuf.

Die Abenteuer des Pinocchio / Le avventure di Pinocchio.


Storia di un burattino
Der Roman, eines der erfolgreichsten Kinderbücher Italiens, erschien
1883. Aus einem geschenkten Holzscheit schnitzt Geppetto einen
146 Hampelmann, den er Pinocchio nennt. Der Kleine beginnt sofort
zu leben und entläuft. Er wird von Menschen und Tieren ständig
gewarnt – vergeblich: Er fasst gute Vorsätze, um sie sogleich zu bre-
chen. Im Kasperletheater verursacht er Aufruhr. Der Theaterbesitzer
will ihn verbrennen, entlässt ihn aber schließlich mit einem Geschenk
von fünf Goldstücken. Dieser Schatz wird Pinocchio von dem angeb-
lich lahmen Fuchs und der vorgeblich blinden Katze abgejagt. Allein
die schöne Fee mit den himmelblauen Haaren bewahrt ihn vor einem
elenden Tod.
Als Pinocchio Trauben stehlen will, gerät er in ein Fangeisen und
muss als Wachhund einen Hühnerstall vor Mardern beschützen. Von
einem Täuberich an die Küste geflogen, entdeckt er auf der stürmi-
schen See seinen Vater in höchster Gefahr. Als er ihm schwimmend zu
Hilfe eilt, wird er selber auf die »Insel der fleißigen Bienen« verschla-
gen. Er geht eine Weile artig zur Schule, pflegt jedoch Gesellschaft
mit faulen Burschen. Er rauft sich mit ihnen und wird festgenommen.
Zwar entkommt er, fällt aber einem struppigen, grünen Fischer in
die Hände und entgeht nur um ein Haar dem Los, in Öl gebraten zu
werden. Nachdem er kurze Zeit folgsam gewesen ist, lässt er sich dazu
verleiten, ins Spielzeugland zu fahren. Endlich braucht er nichts zu ler-
nen! Die Strafe: Nach fünf Monaten verwandelt er sich in einen Esel,

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_30, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
wird verkauft und muss in einem Zirkus auftreten. Weiterverkauft,
soll er ertränkt werden. Kaum hat er im Wasser seine alte Gestalt
zurückerhalten, wird er schon von einem Riesenhai verschlungen.
Wen findet er im Bauch des Fisches? Geppetto. Pinocchio rettet sich
und seinen alten Vater, beginnt regelmäßig zu arbeiten und zu lernen
und wird von der Fee belohnt: Er wird ein richtiger Junge.
Collodi hat hier vielfältige Traditionen und Motive zu einer
Einheit verschmolzen, die sich faszinierend zwischen Vision und
Wirklichkeit bewegt. Pinocchio enthält Elemente des Märchens
(Feen, wundersame Länder, Verwandlungen, letztere mit Apuleius-
Reminiszenzen), der Fabel (Tiere mit menschlichem Gehabe), des
Erziehungsromans (pädagogische Deduktionen), der Morallehre und
der Sozialsatire (Karikaturen von Ärzten und Richtern). Besonders
deutlich ist der Einfluss des Puppentheaters: Pinocchio ist selber ein
Kasperl, und zwar nicht nur wegen seiner Nase. Der Dialog domi-
niert, und der Protagonist fasst seine Gewissensbisse und Überle- 147
gungen meist selbst in Worte, wohingegen der karge Autorenbericht
oft Regieanweisungen gleicht. Von Anfang an spürt man aber auch

C A R L O COL L ODI
die Opposition gegen das Volksmärchen (»Es war einmal […] ein
König! […] Nein, […] ein Stück Holz«): Die Sprache ist die des täglichen
Umgangs, mit kindgerechten Elementen wie Lautmalerei und ›spre-
chenden Namen‹. Das Märchenhafte entbehrt aller dunklen Mystik,
es ist bestimmt von Klarheit und Präzision und wirkt oft surrealis-
tisch. Man mag an Pinocchio Wiederholungen, innere Widersprüche
und das Moralisieren tadeln, es bleibt ein Meisterwerk der Kinder-
Weltliteratur. Auch für Erwachsene sind Collodis Ironie, sein Sinn
für Paradoxie, die Lebensweisheit und der Humor reizvoll, und der
unbeschwerte Stil, in dem mit voltairischer Behendigkeit eine immer
wieder überraschende Handlung skizziert wird.
Viele Illustratoren versuchten sich an Pinocchio, in Italien u. a.
Chiostri, Mussino, Bernardino und Maraja, in Deutschland u. a.
W. Felten, R. Bicher, A. Zacharias, M. und R. Koser-Michaelis und
J. M. Szancer. Schon 1911 drehte E. Pasquali einen Pinocchio-Film. Die
bekannteste und am meisten diskutierte Verfilmung des Stoffs ist die
von Walt Disney (1939). Seit 1956 bestehen in Pescia ein Park und ein
Museum, die Pinocchio gewidmet sind. REINHARD KLESCEWSKI
Oscar Wilde
* 16. Oktober 1854 in Dublin (Irland)
† 30. November 1900 in Paris (Frankreich)

(d. i. Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde) – Studium in Dublin und


Oxford; 1881 erster Gedichtband; eine Vortragsreise in die USA (1882)
festigte seinen Ruf als geistreicher, provokanter Redner; 1892–1895
gefeierter Bühnenautor; Dandy und Epigrammatiker, Verfechter des
Ästhetizismus, herausragender Vertreter des Fin de Siècle; verfasste
Kunstmärchen, einen Roman, Kurzgeschichten und kulturkritische
Essays; kunstvolle Selbstinszenierung und paradoxe Aphorismen
maskierten ein radikales Eintreten für die Freiheit des Individuums
und für die Autonomie der Kunst; wegen homosexueller Neigungen
zu zwei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit verurteilt; lebte ab 1897
unter dem Namen Sebastian Melmoth in Frankreich.
148
Der glückliche Prinz und andere Märchen / The Happy
Prince and Other Tales
Bei diesem 1888 publizierten Werk handelt es sich um fünf Kunst-
märchen, die zum Teil auf eine Anregung des Kunstkritikers Walter
Pater zurückzuführen sind. Das Titelmärchen erzählt von einer mit
Blattgold und Edelsteinen kostbar verzierten Denkmalfigur, die,
gerührt vom Elend der Stadt, ihre Verzierungen nach und nach durch
eine Schwalbe unter den Armen verteilen lässt. Als das unansehnlich
gewordene Standbild durch ein Denkmal des Bürgermeisters ersetzt
wird, holt ein Engel das bleierne Herz des Prinzen und die treu erge-
bene tote Schwalbe in Gottes Paradiesgarten. In »The Nightingale
and the Rose« (»Die Nachtigall und die Rose«) opfert eine Nachtigall
ihr Herzblut, um für einen verliebten Studenten eine Rose für seine
Angebetete erblühen zu lassen. Als seine Liebe enttäuscht wird, wirft
er die Rose achtlos in den Staub. Um den Gegensatz von Mitgefühl
und Selbstsucht geht es in allen fünf Märchen; allein in »The Selfish
Giant« (»Der selbstsüchtige Riese«) zeigt sich die Titelfigur wand-
lungsfähig. Der Riese hat allen Kindern verboten, seinen Garten zu
betreten. Dafür straft Gott ihn mit immerwährendem Winter. Doch
als eines Tages Kinder in den Garten eindringen und mit ihnen der

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_31, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Frühling wieder einkehrt, erweicht das Herz des Riesen. Ein Kind,
dem er hilft, gibt sich später mit Wundmalen an Händen und Füßen
als Christus zu erkennen und führt ihn ins Paradies. Selbstsucht unter
dem Deckmantel der Freundschaft ist das Thema von »The Devoted
Friend« (»Der ergebene Freund«): Ein Müller nutzt die Güte seines
Freundes so lange aus, bis dieser umkommt. Im letzten Märchen wer-
den am Beispiel einer »bemerkenswerten Rakete« (»The Remarkable
Rocket«), die im entscheidenden Augenblick nicht losgeht, die Folgen
des Hochmuts geschildert. Was Schönheit, Kunst, Macht und Wohl-
stand an menschlichem Leiden einfordern, und die Erlösung von
diesem Leiden durch selbstlose Liebe sind zentrale Themen dieser
Märchen.
Nicht der Tradition der keltischen Märchen, die im späten 19. Jh.
im Kontext des ›Irish Literary Revival‹ gerade eine Renaissance
erfuhren, sondern vielmehr der der europäischen Kunstmärchen
sind diejenigen Wildes zuzuordnen; die zahlreichen Anspielungen 149
auf Märchen von Hans Christian Andersen sind unübersehbar. Und
wie viele von Andersens sind auch die Märchen von Wilde doppelt

O SC A R WIL DE
adressiert: Laut Verfasser sind sie »teilweise für Kinder bestimmt und
teilweise für diejenigen, die die kindliche Fähigkeit bewahren konn-
ten, sich zu wundern und zu freuen«. Bestimmte inhaltliche (z. B. die
sozialistischen Sympathien im »Glücklichen Prinzen«) und stilistische
Elemente wie die ironische Titelgebung (weder ist der Prinz glücklich
noch der Freund wirklich ergeben) sind nur für erwachsene Leser
realisierbar. Die Erschaffung einer phantastischen Welt erlaubte es
Wilde, tabuisierte Thematiken wie etwa Homoerotik zu erkunden.
Gemeinsam ist den Märchen eine bildhafte, kunstvolle Erzähl-
weise mit hochgradig artifiziellem, schmückendem und sinnlichem
Stil bei scheinbar einfachem Inhalt. Die religiöse Motivik ist teilweise
den Präraffaeliten entlehnt, wiederholt kommt das Motiv des Märty-
rers vor. Wilde strebte eine offensichtliche Kongruenz von Märtyrer
und Künstler an.
Die Märchen hatten sofort Erfolg und machten den Autor neben
Charles Algernon Swinburne und James Whistler zu einem der pro-
minentesten Vertreter des Ästhetizismus. Eine weitere Kunstmär-
chensammlung, A House of Pomegranates (Das Granatapfelhaus, 1904),
folgte 1891. Einzelne Märchen wurden dramatisiert, vertont und
verfilmt. Die Märchen Wildes wurden vielfach in Anthologien aufge-
nommen und erschienen in Bilderbuch- und illustrierten Ausgaben.
Sie zählen zu den schönsten Kunstmärchen der Weltliteratur.
RENATE BROSCH

Ein Granatapfelhaus / A House of Pomegranates


Die Sammlung von Kunstmärchen erschien 1891, von renommierten
Künstlern illustriert. Mit den zarten Erzählungen stellte Wilde seine
Vielseitigkeit unter Beweis und zeigte die mühelose Beherrschung
eines weiteren Genres, das in England nicht in derselben Weise wie
in Deutschland etabliert war. Die anti-mimetische Schreibweise mit
Figuren, die kaum individualisiert werden, sowie die formelhafte
Poetik kam seiner Ästhetik entgegen. Hier bot das Zauberhafte und
Wunderbare der Gattung einen geeigneten Nährboden für die Fabu-
150 lierkunst des Autors, der das Erzählen von unwahren Dingen zur
Aufgabe des Künstlers erklärt hatte. Aber auch diese kleine Prosaform
ist wegen der gleichnishaften Bezüge zur Lebenswelt, die in Handlung
und Thematik gestiftet werden, mit der Erfahrungswirklichkeit von
Autor und Leserschaft verknüpft.
Die Sammlung enthält die Märchen »The Young King«, »The Birth-
day of the Infanta«, »The Fisherman and his Soul« und »The Star
Child«. Ein wiederkehrendes Grundmotiv ist ein Makel der Figuren
wie Selbstsucht, Illusionsbefangenheit oder fehlende Nächstenliebe.
So ist der Narzissmus des schönen Sternenkindes die Kehrseite seiner
Grausamkeit und Gefühlskälte, und der hinter hohen Mauern vom
Volk abgeschirmte König lebt in Isolation und Selbstbezogenheit.
Entsprechend der Märchenstruktur folgt auf eine Störung der mora-
lischen und sozialen Ordnung unweigerlich ihre Wiederherstellung.
Wie im Volksmärchen kommen bei der moralischen Läuterung Hel-
ferfiguren, Bewährungsproben und Prophezeiungen zum Einsatz,
was am Ende eine völlige Verkehrung der Ausgangssituation bewirkt.
Bei Wilde hängt die Konfliktlösung davon ab, ob und wie sich der
anfängliche Mangel beheben lässt und ob die Figuren ihre Unzuläng-
lichkeit korrigieren können: Außerhalb der Palastmauern erkennt der
junge König das Elend der Bevölkerung und verzichtet seinerseits
auf Pracht und Geschmeide. Die Verwandlung des schönen in ein
hässliches Sternenkind bewirkt sein Mitgefühl und die Bitte um Ver-
gebung. Doch nicht alle Figuren kommen zur Einsicht, und nicht jede
Selbsterkenntnis führt zur Besserung.
Durch Länge und Komplexität des Textes nimmt »The Fisher-
man and his Soul« eine Sonderstellung in der Sammlung ein. Diese
Erzählung handelt von der Liebe eines Fischers zu einer schönen
Meerjungfrau, für die er sich von seiner Seele trennt. Während sich
der seelenlose Fischer mit der Meerjungfrau vereint, zieht die herz-
lose Schattenseele auf der Suche nach lasterhaften Abenteuern um
die Welt. Erst nach drei Jahren gelingt es der Seele, den Verliebten
aus dem Meer zu locken. Im selben Augenblick, als sich der Fischer
wieder mit seiner Seele vereint, stirbt die Nixe. Ihr Tod bricht dem
Fischer gleichfalls das Herz, die Seele findet zurück in den Körper und
der Fischer versinkt in den Fluten des Meeres. Die wiederhergestellte
Harmonie gewinnt eine allgemeine Dimension, als ein Priester ans 151
Meer geht und alle Geschöpfe darin segnet.
Mit dieser Geschichte bezog sich Wilde auf die Motivtradition

O SC A R WIL DE
der Romantik mit ihren todbringenden Undinen. Er kehrt Hans
Christian Andersens »Die kleine Seejungfrau« in der Erzählrichtung
um, denn der Handlungsantrieb geht nicht von der magischen Welt
aus, sondern vom Menschen, der das Besondere und Schöne in den
Zweckalltag hineinholen will. Das Verlangen des Fischers nach einem
unnatürlichen Zwitterwesen führt ihn aber in eine sterile, seelenlose
Lust am Anderssein, die nur im sozial unsemantisierten Wunderraum
des Meeres realisiert werden kann. Die dualistischen Symbole ent-
werfen eine gespaltene Welt zwischen der Schönheit und Verlockung
des Meeres und der Ruchlosigkeit und Hässlichkeit der menschlichen
Welt. Die Vereinigung von Herz und Seele am Ende ist kein Kompro-
miss, sondern ein Sieg über das Laster, der sich entsprechend der Fin
de Siècle-Ästhetik im Liebestod realisiert.
Die Welt, die Wilde in diesen Märchen entwarf, ist alles andere
als märchenhaft. Überall begegnet man Bedürftigen und Gequälten
am Rande der Gesellschaft. Die Geschichte »The Young King« enthält
eine mühelos auf das zeitgenössische England übertragbare Beschrei-
bung der Lage der Arbeiter und Armen. Dass die Märchen überdies
mit sentimentalen Mitteln an die Gefühle appellieren, entwertet ihre
scharfe Schilderung nicht. Dennoch leidet ihre Beliebtheit bei solchen
Lesern, die sich besonders an der Ironie und dem Skeptizismus von
Wildes Essays erfreuen, unter der Privilegierung eines Nexus von
Schönheit und Altruismus zugunsten einer christlich humanistischen
Moral. JÖRG DREWS / EMER O’SULLIVAN

152
Hugo von Hofmannsthal
* 1. Februar 1874 in Wien (Österreich)
† 15. Juli 1929 in Rodaun bei Wien (Österreich)

(Pseudo. Loris; Theophil Morren) – 1884–1892 Akademisches Gymna-


sium Wien; 1890 erste Gedichtveröffentlichungen, ab 1890 Bekannt-
schaft mit A. Schnitzler, R. Beer-Hofmann, H. Bahr und F. Salten (Kreis
›Jung-Wien‹ im Café Griensteidl); 1891 Freundschaft mit S. George
(Bruch 1906); 1882–1894 Jurastudium in Wien; 1893 lyrisches Drama
Der Tor und der Tod; 1894 Juraexamen, Freiwilligenjahr im Dragonerregi-
ment 6; 1885 Beginn des Romanistik-Studiums, 1897 Dissertation, 1900
Habilitation über Victor Hugo; 1906 Beginn der Zusammenarbeit mit
R. Strauss; 1909 Uraufführung der Elektra, 1911 Rosenkavalier; 1912 Ariadne
auf Naxos; 1916/17 Vortragsreisen in Europa; 1920 Eröffnung der Salz-
burger Festspiele mit Jedermann; 1927 Münchner Universitätsrede; 1929
Tod zwei Tage nach dem Selbstmord des Sohnes Franz; Dramatiker, 153
Erzähler, Essayist, Librettist und Übersetzer.

HUG O VON HOFM A NNS T H A L


Das Märchen der 672. Nacht
Die Novelle, entstanden im Frühjahr 1895, erschien im selben Jahr in
der Wiener Zeitschrift Die Zeit mit dem Untertitel »Geschichte des
jungen Kaufmannssohnes und seiner vier Diener«. Die auf die arabi-
sche Märchen- und Erzählungssammlung Tausendundeine Nacht (Alf
laila wa-laila) anspielende Erzählung trägt letztlich keine märchenhaf-
ten Züge, obgleich ihr Thema, so der Autor, die »Märchenhaftigkeit des
Alltäglichen, das Absichtlich-Unabsichtliche, das Traumhafte« sei.
Ein schöner, elternloser Kaufmannssohn, der »bald nach seinem
fünfundzwanzigsten Jahre der Geselligkeit und des gastlichen Lebens
überdrüssig« wurde, hat sich auf ein »ziemlich einsames Leben«
zurückgezogen, das »anscheinend seiner Gemütsart am meisten ent-
sprach«. Genuss gibt ihm die Betrachtung der schönen Gegenstände
seiner Wohnung, der Teppiche, Leuchter und Statuen, in denen »alle
Formen und Farben der Welt« leben; im Linienspiel ihrer Ornamente
erkennt er »ein verzaubertes Bild der verschlungenen Wunder der
Welt«. Was faktisch verloren ist, die Unmittelbarkeit des Lebens,
ersetzt ihm die genießende Betrachtung verdinglichter Schönheit. In

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_32, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
seiner Umgebung leben nur drei Dienerinnen – eine alte Haushälte-
rin, ein 18- und ein 15-jähriges Mädchen – sowie ein Diener, die er im
Sommer mit in sein Landhaus nimmt; sie werden zu Symbolgestalten
des geknechteten Lebens. Als der Diener durch einen anonymen Brief
eines »abscheulichen« Verbrechens beschuldigt wird, bricht der Kauf-
mann allein in die Stadt auf, um die Angelegenheit zu regeln. Aber er
verfolgt dort nicht sein Vorhaben, sondern irrt ziellos, »wie ein Frem-
der«, durch die Straßen. Angst packt ihn beim Gedanken, die Diener-
schaft zu verlieren, seine letzte Verbindung zum wirklichen Leben.
Unmerklich verwandelt sich die Außenwelt in die Szenerie seines
Albtraums. In einem armseligen Juwelierladen kauft er Schmuck für
die beiden älteren Dienerinnen, hinter den Scheiben eines Treibhau-
ses erscheint ihm plötzlich seine jüngste Dienerin in Gestalt eines
aggressiven vierjährigen Mädchens. Er eilt auf sie zu und will ihr
Goldmünzen zustecken, doch sie wehrt ihn leidenschaftlich ab und
154 sperrt ihn ein. Der Kaufmannssohn quält sich durch ein Gestrüpp
widerspenstiger Pflanzen, deren Blüten »etwas von Masken hatten,
heimtückischen Masken mit zugewachsenen Augenlidern«. Schließ-
lich findet er einen Ausweg durch einen »gemauerten Gang«, der ihn
über ein hängendes Brett in die vergitterten Hinterhöfe eines Elends-
viertels, in verdreckte Gassen und zuletzt in einen großen, traurigen
Kasernenhof führt, in dem verwahrloste Soldaten hässlichen, boshaft
wirkenden Pferden die Hufe waschen. Wieder ist sein erster Gedanke,
die »Elenden durch ein Geschenk für den Augenblick aufzuheitern«.
Er sucht nach einer Geldmünze, wobei das Geschmeide aus dem
Juwelierladen einem Pferd unter die Hufe fällt und er beim Versuch,
es aufzuheben, zertrampelt wird. Die Soldaten bringen ihn in ein muf-
figes Zimmer, wo er allein, des Schmucks und seines Geldes beraubt,
stirbt, seine Diener verfluchend, »die ihn in den Tod getrieben hatten«,
sein Leben hassend, weil es ihn in den frühen Tod geführt hat. Er
stirbt mit »verzerrten Zügen, die Lippen so verrissen, daß Zähne und
Zahnfleisch entblößt waren und ihm einen fremden, bösen Ausdruck
gaben«.
Der Text wurde oft als Allegorie auf die Scheinhaftigkeit des schö-
nen Lebens oder die zwangsläufige Rache des selbstentfremdeten
Lebens gedeutet. Neuere Arbeiten haben vor allem die psychologi-
schen Dimensionen der Figur des Kaufmannssohnes hervorgehoben,
dessen gestörte Identität vor allem durch das Gegenbild der Diener-
schaft provoziert wird, deren Leben ihm »stärker, eindringlicher«
scheint, »als er sich selbst leben fühlte« – Leben in dem Sinne, in dem
der junge Hofmannsthal am 9. August 1893 an A. Schnitzler schreibt:
»Um es zu essen, muß man es rupfen und sieden und schälen und
schneiden und kauen, und dann ist es gar nicht mehr schön! Und doch
gehört’s zum Essen und nicht zum Anschauen. Es – ich meine das
Leben.« DIETER BARBER / KLL

155

HUG O VON HOFM A NNS T H A L


L. Frank Baum
* 15. Mai 1856 in Chittenango/N. Y. (USA)
† 5. Mai 1919 in Hollywood/Calif. (USA)

(d. i. Lyman Frank Baum) – Nach dem Tod des Vaters finanzielle Pro-
bleme, arbeitete u. a. als Schauspieler, Journalist und Verleger (zeitweise
im Dakota-Territorium); ab 1897 Kinderbuchautor (mit dem Illustrator
W. W. Denslow), 1900 Durchbruch mit The Wonderful Wizard of Oz, zahl-
reiche Fortsetzungen, Theaterbearbeitungen und Verfilmungen; ab
1910 in Hollywood, dort Gründung einer eigenen Filmgesellschaft.

Der Zauberer von Oz / The Wonderful Wizard of Oz


Der 1900 erschienene Roman begründete eine eigenständige US-ame-
rikanische Kinderliteratur und ist bis heute eines der erfolgreichsten
und wirkmächtigsten Bücher in dieser Tradition. Wie Baum im Vor-
156 wort zur Erstauflage erläutert, wollte er ein modernes amerikanisches
Märchen schaffen: ein Märchen, das ohne Didaktik und Grausamkeit
auskommt und dabei von Figuren handelt, mit denen kindliche Leser
sich tatsächlich identifizieren können. Baums Ablehnung einer beleh-
renden Kinderliteratur steht in engem Zusammenhang mit der Phi-
losophie des amerikanischen Pragmatismus (vor allem John Deweys
Erziehungslehre), die nach dem Bürgerkrieg einflussreich wurde. Als
wichtigster nicht-amerikanischer Einfluss auf The Wonderful Wizard
of Oz sind die Romane von Lewis Carroll zu nennen. Allerdings über-
schritt Baum aus Rücksicht auf seine Leser und trotz aller Freude am
Fabulieren nie die Grenzen zum Nonsens. Stilistisch zeichnet sich The
Wonderful Wizard of Oz durch eine für seine Zeit erstaunlich schlichte,
direkte und unsentimentale Sprache aus.
Passenderweise beginnt und endet die Erzählung dann auch in
der am wenigsten phantastischen Gegend der USA: im Herzland des
Mittleren Westen, im grauen und flachen Kansas. Dort lebt die Waise
Dorothy, ein bodenständiges, aber gewitztes Mädchen, mit Tante Em
und Onkel Henry auf einer Farm. Ein Wirbelsturm verwüstet den
Hof der Familie (zeitgenössische Leser werden hier an den Tornado
1893 gedacht haben, der weite Teile der Landwirtschaft in Kansas zer-
störte). Mitsamt ihrem Hund Toto wird Dorothy in ein wunderbares,

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_33, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
farbenfrohes Land geweht, das in allem das genaue Gegenteil von
Kansas ist. Dort findet sie drei Gefährten: eine Vogelscheuche (»the
Scarecrow«), die darunter leidet, dass sie im Kopf nur Stroh und kein
Gehirn hat, einen Holzfäller aus Blech (»the Tin Woodman«), der kein
Herz besitzt und deshalb glaubt, keine echten Gefühle empfinden zu
können, und einen Löwen ohne Mut (»the Cowardly Lion«). Die vier
machen sich auf nach Emerald City (Smaragd-Stadt), wo sie den Zau-
berer von Oz um das bitten möchten, was ihnen fehlt: Verstand für die
Vogelscheuche, Empfindungen für den Blechmann, Selbstvertrauen
für den Löwen – und für Dorothy das verlorene Zuhause.
Außer einem Zauberer gibt es in Oz aber auch gute und böse
Hexen, die sich ihre Einflussgebiete nach Himmelsrichtungen auftei-
len: »the wicked Witch of the East«, »the wicked Witch of the West«,
»the good Witch of the North« und »Glinda the Good« im Süden.
Wahlweise behindern oder befördern diese mächtigen Frauen das
Fortkommen Dorothys und ihrer drei Gefährten – nur die böse Hexe 157
des Ostens wird gleich zu Beginn von Dorothys Haus erschlagen, als
dieses vom Himmel fällt. Gemeinsam erleben Dorothy, die Vogel-

L . FR A NK BAUM
scheuche, der Blechmann und der Löwe eine Reihe von oft bizarren
Abenteuern (u. a. in einem betäubenden Mohnfeld), aus denen sie
dank ihres Teamgeistes und Dorothys Entschlossenheit immer wie-
der heil herauskommen. Schließlich gelingt es ihnen sogar – wie vom
Zauberer als Gegenleistung für die Erfüllung ihrer Wünsche gefor-
dert –, die böse Hexe des Westens zu vernichten. Der Zauberer wiede-
rum begegnet ihnen als »Oz, the Great and Terrible« (»Oz, der Große
und Schreckliche«) in einer Reihe einschüchternder Inkarnationen,
die an den Gott des Alten Testaments erinnern: Oz tritt als Feuerball,
als wildes Ungeheuer, als schöne Dame und als gewaltiger schweben-
der Kopf auf, bevor er als entkörperte Stimme von überall her seine
Präsenz verkündet.
Die eigentliche Überraschung steht Dorothy und ihren Freunden
aber noch bevor: Der gottgleiche und furchtbare Zauberer stellt sich
als ein Jahrmarktsgaukler und Trickbetrüger aus Omaha/Nebraska
heraus, der vor einiger Zeit mit seinem Heißluftballon zufällig nach
Oz getragen wurde. Dort hat er sich zum Schutz vor den – tatsäch-
lich übernatürlich begabten – Hexen ein Reich der Illusionen und
Simulationen errichtet (auch Emerald City erscheint nur deshalb im
wunderbaren Smaragd-Glanz, weil alle dort grüne Brillen tragen).
Letztlich aber erfüllt dieser durchaus sympathische Scharlatan die
Lebenswünsche der vier Gefährten ganz ohne Magie, indem er ihnen
begreiflich macht, dass sie das, wonach sie suchen, schon längst in
sich tragen. Diese sehr amerikanische Einsicht – man kann jede
gewünschte Identität annehmen, wenn man nur fest daran glaubt –
hat den Mann aus Omaha einst zum Zauberer von Oz werden lassen
und sorgt nun dafür, dass sich die Vogelscheuche zum Intellektuellen,
der Blechmann zu einem empfindsamen Wesen und der Löwe zum
Herrscher der Tiere wandelt. Dorothy und Toto wiederum sollen mit
dem flott gemachten Ballon des Zauberers nach Kansas zurückkehren.
Der Ballon hebt aber versehentlich ohne die beiden ab, so dass es letzt-
lich doch eines Zaubers (der guten Hexe Glinda) bedarf, um Dorothy
wieder nach Kansas zu bringen.
158 Mit seinen defizitären, aber gutmütigen Männern, seinen mal
furchterregenden, mal Achtung gebietenden Frauen und nicht zuletzt
mit seiner Protagonistin – einem Prototyp des US-amerikanischen
Mädchens in zahlreichen späteren Romanen und Filmen des frühen
20. Jh.s – spiegelt The Wonderful Wizard of Oz den Einfluss des Feminis-
mus wider, der um die Wende zum 20. Jh. zu einem beherrschenden
Thema in der amerikanischen Öffentlichkeit wurde. (Baum widmete
das Buch seiner Frau Maud Gage, Tochter einer führenden Frauen-
rechtlerin.) Zum Verkaufserfolg trugen auch die mehr als 100, oft far-
bigen Jugendstil-Illustrationen von William Wallace Denslow bei. Ein
1902 uraufgeführtes Musical machte den Zauberer von Oz endgültig
zu einer festen Größe in der US-amerikanischen Populärkultur.
Baum ließ auf seinen Bestseller eine Reihe von Fortsetzungen
folgen, die in ihrer Gesamtheit eine relativ kohärente Vision alternati-
ver Gesellschaftsorganisation gegen die ökonomischen und sozialen
Entwicklungen der Zeit zeichnen. Die insgesamt 14 Oz-Romane des
Autors nehmen damit eine herausragende Stellung im Genre ame-
rikanischer utopischer Literatur ein, das eine beeindruckende Blüte
zwischen dem Bürgerkrieg und dem Ersten Weltkrieg erlebte. Die
erste Fortsetzung, The Marvelous Land of Oz, 1904 (Im Reich des Zauberers
Oz, 1981, C. Hettinger), formuliert eine moderate Kritik an der Suffra-
gettenbewegung und macht sich über akademischen Jargon lustig
(in der äußerst populären Figur des Woggle-Bog). Im Kern handelt die
Geschichte aber von einem Jungen namens Tip, der sich in das Mäd-
chen Ozma (zurück)verwandeln muss, um zur Herrscherin über Oz
zu werden. Es folgten die Romane Ozma of Oz, 1907 (Prinzessin Ozma von
Oz, 1981, C. Hettinger), Dorothy and the Wizard in Oz, 1908 (Dorothy und
der Zauberer in Oz, 1999, E. Berlt), The Road to Oz, 1909 (Dorothy auf Zau-
ber wegen, 2000, E. Berlt), und The Emerald City of Oz, 1910 (Dorothy in der
Smaragdenstadt, 2001, E. Berlt).
Mit The Emerald City wollte Baum die Serie eigentlich beenden.
Dorothy, Tante Em und Onkle Henry siedeln hier auf der Flucht vor
einer ökonomischen Depression endgültig nach Oz um. Drei Jahre
später aber sah sich Baum aufgrund finanzieller Schwierigkeiten
gezwungen, weitere Oz-Romane zu verfassen. Diese Werke gehören
zu den phantasievollsten und politisch suggestivsten der Serie: The
Patchwork Girl of Oz, 1913 (Dorothy und das Patchwork-Mädchen, 2003, 159
E. Berlt), Tik-Tok of Oz (1914), The Scarecrow of Oz (1915), Rinkitink of Oz
(1916), The Lost Princess of Oz, 1917 (Die verlorene Prinzessin von Oz), The

L . FR A NK BAUM
Tin Woodman of Oz (1918), The Magic of Oz, 1919 (Der Zauber von Oz), und
Glinda of Oz (1920). Vorherrschendes Thema dieser zweiten Serie ist die
Frage nach dem verantwortungsvollen Umgang mit Zauberkraft und
politischer Macht.
Trotz der Bemühungen späterer Kritiker, Baums Werke als sozia-
listische Utopien – oder zumindest als progressive Parabeln in der Tra-
dition Edward Bellamys – zu lesen, scheinen die politischen Verhält-
nisse in Oz eher feudal und matriarchalisch geprägt. In der Handlungs-
führung ist ein deutlicher, für Kinderliteratur typischer Hang zu Deus
ex machina-Lösungen zu erkennen. Beachtlich an der Genese der
Romanserie sind zwei Merkmale, die die US-amerikanische Populär-
kultur im Kern auszeichnen: die enge Interaktion zwischen Autor und
Publikum im Produktionsprozess (Baum erhielt zahlreiche Briefe mit
Anfragen und Bitten zur Plot-Gestaltung, die er zum Teil umsetzte)
und die ausgeprägte Transmedialität eines in sich geschlossenen fik-
tionalen Universums (nach dem Erfolg des ersten Musicals versuchte
sich Baum an zahlreichen weiteren Theatralisierungen, Shows und
Verfilmungen). Sogar der ursprüngliche Illustrator Denslow, der sich
mit Baum wegen Tantiemen-Fragen überwarf, publizierte eigene Oz-
Geschichten; sämtliche Romane nach The Wonderful Wizard of Oz wur-
den deshalb von John R. Neill illustriert (der später seinerseits eigene
Bände verfasste). Nach Baums Tod (1919) führte Ruth Plumy Thomp-
son die Serie mit 21 Bänden bis 1939 fort. Weitere Autoren waren Jack
Snow, Rachel Cosgrove Payes, Eloise Jarvis McGraw und Lauren Lynn
McGraw. Insgesamt existieren bis heute ca. 40 offizielle und weit über
100 inoffizielle Fortsetzungen sowie zahllose bearbeitete Übersetzun-
gen und Nachdichtungen (vor allem im Russischen, durch Aleksander
Volkov), Radioshows und Verfilmungen, Theater- und Fernsehadap-
tionen, Animationen, Vertonungen und Spiele.
Von all diesen Transpositionen war keine so erfolgreich wie Vic-
tor Flemings MGM-Verfilmung aus dem Jahr 1939, The Wizard of Oz
(Das wunderbare Land), mit Judy Garland als Dorothy. Im Anschluss an
diesen Film erschien 1940 in der Schweiz die erste deutschsprachige
160 Übersetzung (U. v. Wiese) von Baums Roman. Zunächst nur mäßig
populär, wurde die MGM-Verfilmung 1956 und dann erneut 1959 zur
Weihnachtszeit im US-amerikanischen Fernsehen vor einem Mil-
lionenpublikum ausgestrahlt. Seitdem war sie fast jährlich im Weih-
nachtsprogramm amerikanischer Kinos und Fernsehsender zu sehen
und hat sich auf diese Weise nachhaltig in die populäre Imagination
(nicht nur der amerikanischen Kultur) eingebrannt. Der Einfluss der
MGM-Verfilmung auf die Literatur des 20. Jh.s ist gewaltig und über-
trifft möglicherweise noch den Einfluss der Romanvorlage. Salman
Rushdie gab an, dass dieser Film (über den er auch ein Sachbuch ver-
fasste) ihn zum Schriftsteller gemacht habe. James Thurber, Ray Brad-
bury, Gore Vidal, John Updike, Stephen King u. a. schrieben enthusias-
tische Essays über Film und Roman bzw. lehnten eigene Werke hieran
an. Judy Garlands erstaunter Ausruf bei ihrer Ankunft in Oz – »Toto, I
have a feeling we’re not in Kansas anymore« (»Toto, es scheint mir, als
ob wir nicht mehr in Kansas wären«) – ist zu einem geflügelten Wort
in der amerikanischen Literatur geworden und dient u. a. als Epigraph
zum dritten Teil von Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, 1973 (Die
Enden der Parabel, 1981). Ähnlich oft zitiert und parodiert wurden wei-
tere Aussprüche und Songs aus der Verfilmung: »Somewhere Over the
Rainbow« (»Irgendwo über dem Regenbogen«), »Follow the yellow
brick road!« (»Folge dem gelben Steinweg«) und »There’s no place like
home« (»’s ist nirgends besser als daheim«).
Unter den vielen jüngeren Adaptionen, die sich meist ebenso
stark auf Baums Roman wie auf den Film mit Judy Garland beziehen,
sind zwei hervorzuheben: das afroamerikanische Musical The Wiz,
1975 (drei Jahre später von Sidney Lumet mit Diana Ross, Richard
Pryor und Michael Jackson in den Hauptrollen verfilmt), und Gregory
Maguires Roman Wicked. The Life and Times of the Wicked Witch of the West,
1995 (Wicked. Die Hexen von Oz, 2008), der die Geschichte aus der Sicht
der bösen Hexe des Westens erzählt und 2003 ebenfalls erfolgreich
als Musical adaptiert wurde. (Maguire verfasste daraufhin noch zwei
Romanfortsetzungen.)
Weitere Anverwandlungen und Hommagen zeugen von der an-
haltenden kulturellen Produktivität der Oz-Romane im 20. und
frühen 21. Jh.: Eines der ersten astronomischen Projekte zur Auffin-
dung fremden Lebens im All trug den Namen ›Project Ozma‹ (1960, 161
1973–1976); John Boormans dystopischer Film Zardoz (1974) mit Sean
Connery imaginiert eine totalitäre Gesellschaft, die sich aus einer eso-

L . FR A NK BAUM
terischen Lektüre von Baums The Wonderful Wizard of Oz ableitet; David
Lynchs Film Wild at Heart, 1990 (Wild at Heart – Die Geschichte von Sailor
und Lula), lässt Glinda als übernatürliche Retterin in höchster Not auf-
treten und vereint zahlreiche visuelle Anspielungen auf die MGM–
Verfilmung; in den 1990er Jahren kursierte im Internet der Ratschlag,
The Wizard of Oz zusammen mit dem Pink Floyd-Album The Dark Side of
the Moon (1973) abzuspielen, da beide Werke merkwürdig miteinander
synchronisiert seien (wie sich dann 2000 bei einer entsprechenden
Aufführung auf Turner Classic Movies unter dem Titel The Dark Side
of the Rainbow überprüfen ließ); das kontroverse Comicbook Lost Girls,
1991–2006, von Alan Moore und Melinda Gebbie widmet sich dem
Liebes- und Sexualleben von Dorothy; die Fernsehserie Oz (1997–2003)
des Senders HBO zeigte die brutalen Verhältnisse in einem amerika-
nischen Hochsicherheitsgefängnis unter ständigem Verweis auf das
Vokabular der Oz-Romane und Verfilmungen. Zahlreiche weitere Bei-
spiele für die Omnipräsenz des Universums Oz ließen sich anführen.
Es gibt wenige Romane, die derart tief in das kulturelle Bewusstsein
ihrer Zeit eingedrungen sind. FRANK KELLETER
James Matthew Barrie
* 9. Mai 1860 in Kirriemuir/Schottland (Großbritannien)
† 19. Juni 1937 in London (Großbritannien)

1883–1884 Journalist in Nottingham; 1885 erste humoristische »Auld


Licht«-Skizzen; Romane und Kurzgeschichten; 1904–1936 Hauptwir-
kungsstätte Theater; 1913 Verleihung des Titels ›Baronet‹; galt in seiner
Zeit als bedeutender Dramatiker.

Peter Pan oder der Junge, der nicht groß werden wollte /
Peter Pan. Or The Boy Who Would Not Grow Up
Das Kinderschauspiel in fünf Akten wurde am 27. 12. 1904 in London
uraufgeführt. Zum ersten Mal war die Figur des Peter Pan 1902 in The
Little White Bird (Der kleine weiße Vogel) aufgetreten, einem Roman
für Erwachsene, und zwar in einer Binnengeschichte um einen Säug-
162 ling, der seinen Eltern entkommen ist und der, halb Vogel, halb Kind,
in den Londoner Kensington Gardens lebt. Diese Geschichte erschien
1906 als eigenständiges Buch unter dem Titel Peter Pan in Kensington
Gardens. Im Theaterstück ist Pan älter, und aus Kensington Gardens ist
»Neverland« (»Nimmerland«) geworden. Die Romanfassung des Thea-
terstücks, Peter and Wendy (inzwischen meistens Peter Pan), erschien
1911. Das Stück selbst wurde in stark adaptierter Form erst 1928 ver-
öffentlicht.
Peter Pan fliegt eines Nachts auf der Suche nach seinem verlo-
ren gegangenen Schatten in das Haus der Darlings in London. Dort
begegnet er Wendy und ihren beiden Brüdern und nimmt sie mit
auf die Insel Neverland, in ein Traumland, in dem Kinder nicht älter
werden und das von keinem Erwachsenen betreten werden kann.
Hier übernimmt Wendy die Mutterrolle für Peter und die »verlore-
nen Jungen«, die aus ihrem Kinderwagen gefallen und nicht »binnen
einer Woche zurückverlangt« worden waren. In Nimmerland sind
die Gesetze der Zeit, des Wachstums und der Autorität der Eltern
außer Kraft, hier gibt es Palmen, Lagunen, Feen, Piraten, Indianer
und Meerjungfrauen – lauter kinderliterarische Abenteuer- und
Märchenmotive. Nimmerland ist eine Metapher der kindlichen Ein-
bildungskraft, ein intertextuell konstruiertes Paradies. Das einzige

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


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Gesetz ist das der Phantasie: Man muss nur an etwas glauben, damit
es passiert.
Mit Peter als Anführer erleben die Kinder eine Reihe von Aben-
teuern. Ihr größter Feind ist der einarmige Pirat Kapitän Hook, dessen
verlorener Arm durch einen Haken (›hook‹) ersetzt wurde. Er wird von
einem Krokodil verfolgt, dem Peter den abgeschlagenen Arm zum
Fraß vorgeworfen hat und in dessen Körper noch die Armbanduhr
tickt. Schließlich vermissen die Darling-Kinder ihre Eltern, und Peter
bringt sie zurück. Die »verlorenen Jungen« werden von den Darlings
adoptiert. Peter, der das Adoptionsangebot für sich ablehnt, trennt sich
unbekümmert von Wendy und den Jungen und nimmt Mrs. Darling
das Versprechen ab, Wendy jedes Jahr zum Frühjahrsputz nach Nim-
merland kommen zu lassen. Am Ende bleibt er allein und schaut durch
das Fenster der glücklichen Familie zu, für ewig ausgesperrt, eine
tragische Figur. Der Preis für die ewige Kindheit, für den Aufenthalt in
einem zeitlosen Reich zwischen Kindsein und Erwachsenensein, ist 163
der Verzicht auf die Teilhabe am normalen menschlichen Leben. Von
Barrie »der tragische Junge« genannt, ist Peter Pan egoistisch, herzlos,

JA ME S M AT T HEW BA R R IE
phantasiereich, eingebildet und verführerisch; er verkörpert eine
Kindheit, die sich an sich selbst klammert, eine Absage an das Erwach-
senensein.
Die geheimnisumwitterte Uraufführung wurde durch technische
Herausforderungen (Flugmaschinen u.ä.) verzögert. Das Stück war
sofort erfolgreich und wurde seither mit nur einer kriegsbedingten
Unterbrechung 1940 jedes Jahr zu Weihnachten in London aufge-
führt, wobei die Rolle von Peter bis zu einer Neuinszenierung durch
die Royal Shakespeare Company 1982 von einer Schauspielerin
verkörpert wurde. Diese dramatische Collage aus klassischen kinder-
literarischen und originellen Elementen (das tickende Krokodil ist
besonders publikumswirksam) gilt als eines der ›Gründungsstücke‹
des modernen Kindertheaters.
Die Figur des Peter Pan, die als universelles Symbol der ewigen
Kindheit gilt, führt schon lange ein Eigenleben jenseits der
Ursprungstexte. Für Jacqueline Rose sind Entstehung und Rezeption
der Peter-Pan-Texte ein Sinnbild für die Schwierigkeiten der Bezie-
hung zwischen Erwachsenen und Kindern und für die sexuelle und
politische Mystifizierung des Kindes. In der Psychoanalyse wird das
Verhaltensmuster von Männern, die ihr Erwachsensein nicht akzep-
tieren wollen, als ›Peter-Pan-Syndrom‹ bezeichnet.
Die Rechte an Peter Pan trat Barrie 1929 an das Londoner Kinder-
krankenhaus ›Great Ormond Street Hospital‹ ab. Mit Ablauf des
Copyrights zu seinem 70. Todestag wurde Geraldine McCaughrean in
einem Wettbewerb als Verfasserin einer offiziellen Fortsetzung aus-
gewählt, deren Erlöse weiterhin dem Krankenhaus zugute kommen
sollten. Ihr Peter Pan in Scarlet wurde am 5. Oktober 2006 in 31 Ländern
gleichzeitig veröffentlicht, in Deutschland unter dem Titel Peter Pan
und der rote Pirat.
Die erste Filmadaption erschien bereits 1924, der bekannteste
Zeichentrickfilm stammt von Walt Disney (1953). In Hook (1991)
agiert ein erwachsener Peter Pan, und die Entstehungsgeschichte des
Stücks ist Gegenstand von Finding Neverland (Wenn Träume fliegen lernen,
164 2004). JERÔME VON GEBSATTEL / EMER O’SULLIVAN
Micha Josef Berdyczewski
* 19. August 1865 in Miedzyborz/Podolien (Ukraine)
† 18. November 1921 in Berlin (Deutschland)

(auch: Micha Josef bin Gorion) – Sohn eines Rabbiners, Studium am


Rabbinerseminar in Breslau; 1892 in Berlin; 1896 Promotion in Bern;
danach überwiegend in Berlin; Erzähler und Publizist; unter seinem
Pseudonym und späteren bürgerlichen Namen bin Gorion Sammler
und Herausgeber jüdischer Märchen und Legenden (Born Judas, Sagen
der Juden).

Der Born Judas


Die Sammlung jüdischer Märchen, Legenden und Volkserzählungen
wurde von Micha Josef Berdyczewski aus Hunderten von hebräischen
Quellenwerken der rabbinischen Literatur (9. bis 18. Jh.) erschlossen,
zusammengetragen und nach Zyklen geordnet und von Rahel bin 165
Gorion (geb. Ramberg, 1879–1955) aus dem Manuskript ins Deutsche
übersetzt; sie erschien 1916 bis 1923 in sechs Bänden unter dem Namen

MICH A JOSEF BER DYCZEWSK I


Micha Josef bin Gorion. Der Born Judas ist das jüdische Gegenstück zu
Sammlungen wie Der Weise und der Tor, Tausendundeine Nacht, Gesta
Romanorum und wurde, in der Übersetzung, zu einem bleibenden
Literaturwerk der deutschen Sprache.
Der Born Judas reflektiert, soweit seine Erzählungen in einem histo-
rischen Rahmen stehen, die mehr als 3000 Jahre umfassende jüdische
Geschichte als Gesamtheit. Die 330 Lese- und Lehrstücke sind nach
der Zeitfolge der erzählten Ereignisse in neun Bücher eingeteilt. Den
Anfang bilden die »Biblischen Mären«, die späteren Ursprungs sind:
mittelalterliche und nachmittelalterliche Geschichten mit biblischen
Figuren als Helden. Es folgen die nachbiblischen »Historien«, die in
der Hauptsache die Epoche des zweiten Tempels begleiten; zu ihnen
gehört auch Außerjüdisches, aber im Judentum legitim Fortlebendes,
wie der Geschichtenkreis um Alexander den Großen. Die Bücher
»Aus dem Reiche der mündlichen Lehre« und »Legenden« spiegeln
die Zeit der nur geistig-religiösen Souveränität wider, welche die Zeit
der nationalen Souveränität des ersten und zweiten Tempels am
Ausgang des Altertums abgelöst hat. In diesen Geschichten hat die

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nachbiblische jüdische Fabulierkunst ihre spezifischste Form erreicht;
mit ihrer herben Ethik und dem Verzicht auf epische Breite sind sie
im eigentlichen Sinn original. Die Bücher »Märchen« und »Weisheit
und Torheit« enthalten Geschichten aus allen Epochen. »In den Län-
dern der Zerstreuung« schildert die ersten Etappen der Diaspora und
die Meister der Exegese, Philosophie und Mystik und ist mit seinen
sagenhaften – und nicht nur sagenhaften – Berichten über Märtyrer
und Marterorte das Spiegelbild einer unendlichen Leidensgeschichte,
die der Geistes- und Glaubensgeschichte parallel geht. Unter diesem
Zeichen stehen auch die späteren »Volksgeschichten«, die bis an die
Schwelle des 19. Jh.s führen. Einen besonderen Kreis bildet das letzte
Buch, »Im heiligen Lande«, Ausdruck der nationalen Sehnsucht der
vom »Tische des Vaters« verbannten Söhne. KLL

166
Anni Swan
* 4. Januar 1875 in Helsinki (Finnland)
† 24. März 1958 in Helsinki (Finnland)

(auch: Anni Emilia Manninen; Pseudo. A. S.) – Lehramtsstudium;


1901–1916 Lehrerin in Helsinki; enge Beziehung zur intellektuellen
und künstlerischen Elite des Landes; Ehe mit dem Lyriker Otto Man-
ninen; 1907–1918 journalistische Tätigkeit für die Kinderzeitschrift
Pääskynen (Die Schwalbe); 1919 Gründerin und Herausgeberin einer
eigenen Zeitschrift, die zunächst unter dem Namen Nuorten Toveri
(Gefährte der Jugend) und von 1926 bis 1945 unter dem Namen Sirkka
(Grille) erschien; verfasste beliebte, noch immer gelesene Märchen
und Jugendromane mit einer Gesamtauflage von über einer Million;
übersetzte zahlreiche bekannte Jugendbücher, vor allem aus dem
Englischen und Deutschen.
167
Kranich und Hirtenmädchen / Anni Swanin sadut
Die 1933 erschienene Sammlung enthält die besten und beliebtesten

A NNI SWA N
Märchen, die die Autorin seit 1901 veröffentlicht hatte. Die darauf
basierende deutsche Auswahl wurde nach einem der darin enthalte-
nen Märchen benannt. Einige der Gedichte in den Märchen stammen
von ihrem Mann Otto Manninen.
Anni Swan begann ihre schriftstellerische Laufbahn mit sym-
bolistischen Märchennovellen für Erwachsene und legte damit den
Grundstein der finnischsprachigen Märchenliteratur. Für ihre Popu-
larität zeugen die zeitgenössischen Bezeichnungen ›Märchenkönigin‹
und ›Tante Swan‹. Neben Zacharias Topelius ist sie auch die einfluss-
reichste finnische Jugendbuchautorin, die die Gattung des Jugend-
romans in Finnland überhaupt erst etablierte.
Sie verfasste Kunstmärchen, die anfangs in Struktur, Plot und
Details vom Volksmärchen beeinflusst waren. Ihre frühen Märchen
bevorzugen Wunder und Zaubermittel, später dominiert der realisti-
sche Ansatz. Alltagswirklichkeit und übernatürliche Welt erscheinen
neben- und ineinander. Es überwiegt eine pantheistisch-idealistische
Weltanschauung. Mitunter begegnen Elemente des Christentums,
wenn z. B. Taufe und Gebet die Mächte der Finsternis überwinden

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oder – wie im Märchen »Seidenfein« – die Versöhnung zwischen Men-
schen und Trollen geschildert wird. »Das Zauberschloss« zeigt Anni
Swans Vorstellung von der Entstehung des Märchens: Inspirations-
quelle ist die Natur. Die Menschen »glauben nicht an Zauberkraft,
an die Welt der Zauber und an Wunder«. Einem Kind aber kann es
gelingen, zu den Zwergenkönigen zu gelangen und von ihnen das
Geheimnis der Märchenaugen zu erfahren. Es ist ein sehr persönlicher
Text, der das Wunder in der Phantasie des Kindes zeigt. Gerade diese
Phantasie wollte Anni Swan anregen, sie wollte unterhalten, nicht als
Moralistin auftreten. Sie vermied die Darstellung des Kampfes zwi-
schen Gegensätzen wie Gut und Böse, thematisierte häufiger aber den
Kontrast zwischen Arm und Reich.
Vom Glück des Märchenerzählers und Märchenerzählens han-
delt ein Märchen, in dem es das Märchenränzel des jüngsten Sohnes
mit der Weisheit des gelehrten und den Reichtümern des könig-
168 lichen Bruders aufnehmen kann, sie vielleicht sogar übertrifft, wie es
das Märchen andeutet, obwohl es keinen der Brüder benachteiligen
will. Anni Swans Märchengestalten leben im finnischen Milieu auf
dem Land, vor allem im Wald, der dämonische Zauberkraft ausübt.
Ein typischer Märchenanfang zeigt Kinder auf dem Weg in den Wald,
wo sie (Preisel-)Beeren pflücken wollen (vgl. »Das Zauberschloss«).
Besonders beliebte Märchenwesen sind Zwerge, doch treten auch
Bergtrolle, Waldgeister, der Wassergeist, Nixen und Hexen auf. Eine
wichtige Rolle spielen Tiere, vor allem Haustiere, ganz besonders
die Katze. Auch die Freundschaft zwischen Kindern und Tieren wird
geschildert. Anni Swan verfasste jedoch keine Fabeln. Das sonst in
Märchen so zentrale Königsschloss begegnet nur in zwei Texten. An
der Topographie dieser Märchen erstaunt, dass kaum Seen erwähnt
werden, wohl aber das Meer, z. B. das Eismeer in der vom Nordwind
erzählten Geschichte, die auch über das Leben der Eskimo berichtet.
Dieses Märchen (»Eisblume«) gilt als eine Art arktisches Gegenstück
zu Hans Christian Andersens »Die kleine Meerjungfrau«. Hier rettet
Eisblume, die Lieblingsschwester der Eisjungfern, einen jungen
Seemann, verliebt sich in ihn und trägt nun statt eines Eisklumpens
ein warmes Menschenherz in der Brust. Doch gibt es kein ›happy
ending‹.
Die Märchen sind relativ kurz, einfach und übersichtlich struk-
turiert, dynamisch und handlungsreich. Besonders charakteristisch
ist die vorherrschende poetische Stimmung. Die symbolistischen
Kunstmärchen enthalten Anfänge emanzipatorischer Bestrebungen.
In ihnen spiegelt sich der Umbruch in der sozialen Stellung der Frau,
wenn es um das Recht des Mädchens geht, den Ehepartner selbst zu
wählen und eine Liebesehe einzugehen. Thematisiert wird auch die
Macht der Mutter im Mutter-Tochter-Verhältnis, in positiver oder
negativer Hinsicht. Das geschieht z. B. in »Die Wunderblume« oder –
auf dramatische Weise – in »Das Mädchen und der Tod«, wo die kranke
Mutter durch ihr Schweigen Schuldgefühle in der Tochter hervorruft.
Die Tochter ordnet sich nicht mehr unter, verlässt das Haus mit der
kranken Mutter und geht zum Tanzen, kehrt aber doch wieder und
rettet die Mutter schließlich vom Tod. Während die geschilderten
Kinder eher Typen als Individuen sind, werden die Frauentypen per-
sönlicher, aber durchaus widersprüchlich dargestellt. 169
Die Blumensymbolik, die synästhetischen Eindrücke von Farben,
Gerüchen und Melodien sowie die Todessymbolik und die Todes-

A NNI SWA N
visionen lassen eine Beeinflussung durch Jugendstil und Symbo-
lismus erkennen. Auch die Werke der finnischen Maler Axel Gallén
(Akseli Gallen-Kallela) und Hugo Simberg hinterließen ihre Spuren.
Darüber hinaus weisen die Märchen Einflüsse von Hans Christian
Andersen, den Brüdern Grimm sowie – in geringem Umfang – von
Zacharias Topelius auf. Auch die Übernahme von Motiven aus dem
finnischen Nationalepos Kalevala (E. Lönnrot) ist erkennbar.
INGRID SCHELLBACH-KOPRA
Pamela L. Travers
* 9. August 1899 in Maryborough (Australien)
† 23. April 1996 in London (Großbritannien)

(auch: Lyndon Travers; d. i. Helen Lyndon Goff) – 1920 Schauspielkar-


riere in Sydney; Journalistin; 1924 Emigration nach England; Gedichte
und Theaterkritiken in New Age; in den 1920er Jahren Bekanntschaft
mit W. B. Yeats und A. R. Orage; verfasste Kinderbücher und Romane,
aber auch nichtfiktionale Werke.

Mary Poppins / Mary Poppins


Der 1934 erschienene Roman ist der erste Band einer Serie von Kinder-
büchern in der Tradition von Lewis Carrolls Alice in Wonderland und Sir
James Barries Peter Pan, die der irischstämmigen, in Australien gebo-
renen Wahlengländerin Welterfolg brachten. Alle acht Bücher, deren
170 letztes 1989 erschien, erzählen von den Erlebnissen der vier Kinder
Jane, Michael, John und Barbara Banks mit einem geheimnisvollen
Kindermädchen, das Travers erstmals 1926 in der Kurzgeschichte
»Mary Poppins und der Streichholzmann« vorstellte.
Als der Familie Banks eines Tages die Nanny kündigt, wird Mary
Poppins buchstäblich vom Wind in ihr Haus im Londoner Kirsch-
baumweg hineingeweht. Der Alltag wird dank ihrer übernatürlichen
Fähigkeiten zum Abenteuer: Mary verteilt Medizin, die für jeden
den jeweiligen Lieblingsgeschmack annimmt, versteht die Sprache
der Tiere, der Babys und des Sonnenlichts, und sie lädt die Kinder zu
ihrem Onkel ein, wo alle, mit Lachgas abgefüllt, ihren Nachmittagstee
an der Decke schwebend zu sich nehmen. Mary Poppins öffnet Türen
zwischen Wirklichkeit und Phantasie, wenn sie an ihrem Ausgehtag in
ein Straßengemälde spaziert oder den Nachthimmel mit Papierster-
nen beklebt, die zu echten Sternen werden. Es kommt zu Begegnun-
gen mit Gestalten aus Kinderreimen und personifizierten Sternbil-
dern. Höhepunkt der Abenteuer ist ein nächtlicher Besuch im Zoo an
Marys Geburtstag, wo die Tiere frei umherlaufen, während Menschen
in den Käfigen stecken. In zwei der zwölf Episoden steht die Phantasie
der Kinder selbst im Mittelpunkt. Jane und Michael erfinden eine
wundersame Lebensgeschichte für eine alte Straßenverkäuferin,

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die »Vogelfrau«. Barbara und John ihrerseits kritisieren in ihren Wie-
gen den Umgang der Erwachsenen mit Babys, vergessen aber ihre
geheime Kindersprache in dem Moment, da ihre Milchzähne durch-
brechen. Die Abenteuer schließen auch bedrohliche Episoden ein: In
»Böser Dienstag« nimmt Mary die Kinder mit auf eine Blitzreise um
den Globus. Als Michael später eigenmächtig den dazu verwendeten
Zauberkompass zur Hand nimmt, gerät er in Gefangenschaft, aus der
er erst nach Anrufung Marys befreit wird.
Im Unterschied zu dem Mary-Poppins-Bild, das durch die Disney-
Verfilmung von 1964 populär wurde, ist Mary in Travers’ Büchern
eine zwiespältige Figur. Sie hat eine liebevoll-träumerische Seite, aber
andererseits ist sie eitel, schroff, »erklärt nie etwas« und ist immer nur
auf willkürlich begrenzte Zeit bei den Kindern. Nicht nur für jugend-
liche Leser steht Mary Poppins dennoch bis heute sprichwörtlich für
die Wiederentdeckung der Phantasie in einer nüchternen Alltagswirk-
lichkeit. Eine umfassende literaturwissenschaftliche Diskussion zu 171
Travers’ Gesamtwerk steht auf Grund seiner Zuordnung zur Kinder-
literatur bisher noch aus. GERHILD BJORNSON / VERA ALEXANDER

PA MEL A L . T R AV ER S
Abubakar Imam
* 1911 in Kagara/Kontagora (Nigeria)
† 19. Juni 1981 in Zaria/Kaduna (Nigeria)

1932 Englischlehrer in Katsina; 1934 Publikation der Novelle Ruwan


Bagaja; 1936 Übersetzer am Hof des Emirs von Kano; 1939–1951 erster
Herausgeber der Wochenzeitung Gaskiya Ta Fi Kwabo (Wahrheit ist
mehr wert als ein Penny); 1950–1953 in der Politik; ab 1955 in öffent-
lichen Ämtern; publizierte 20 Bücher, u. a. über islamische Geschichte;
gilt als wichtigster Mitbegründer der modernen Hausa-Literatur.

Worte sind ein Schatz / Magana Jari Ce


Die in eine Rahmenerzählung gestellte Sammlung von Märchen,
Fabeln und Legenden entstand 1936 in nur sechs Monaten und
erschien 1937 bis 1939 in drei Bänden. In der Kolonie Nigeria forderte
172 Rupert East, britischer Educational Officer, Imam zum Schreiben
auf und gab ihm als Anregung arabische, indische, persische und
europäische Literatur. Imams Talent war East 1933 bei einem Schreib-
wettbewerb aufgefallen. Das über 600 Seiten starke Buch wurde
wunschgemäß in lateinischer Schrift verfasst; Ziel war die Ablösung
der arabischen Schrift.
Die drei Bände dieses Klassikers haben je eine Rahmenhandlung
und insgesamt 81 Geschichten. Tuti-Nameh. Das Papageienbuch von
Z. Nahšabi kann als Vorbild für die Konstruktion gelten. Im ersten
Band preist ein Papagei auf dem Markt seine Fähigkeiten an und ver-
spricht, dass er die Wünsche seines Besitzers erfüllen werde, was den
König eines namenlosen östlichen Landes zum Kauf bewegt. Dem
Papagei gelingt es mit fesselnden Geschichten, den Prinzen davon
abzuhalten, in den Krieg zu ziehen. Dankbar ernennt ihn der König
zum Wesir. Im zweiten Band liefert er sich mit dem Papagei eines
anderen Königs einen Erzählwettstreit. Im dritten Band lehrt der
Papagei seinen Sohn die Kunst des Geschichtenerzählens. Die Rah-
menhandlungen stehen unter dem Titel Magana Jari Ce – ein Hausa-
Sprichwort.
Die meisten Geschichten sind Adaptionen fremdkultureller
Texte. Bei zwei Dritteln wurden die literarischen Quellen nachge-

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wiesen. Grimms Kinder- und Hausmärchen sind mit 16 Geschichten am
stärksten vertreten; 14 % basieren auf Tausendundeine Nacht; es folgt Boc-
caccios Decamerone; aus der mündlichen Tradition der Hausa stammen
nur 11 %; weitere Quellen sind u. a. das Tuti-Nahmeh, Pañcatantra, Ander-
sen und Hauff.
Etwa die Hälfte der Titel sind Hausa-Sprichwörter. Imam folgt
mit solchen Erzählelementen, wie auch den Preisepitheta, der literari-
schen Tradition; Ideophone und idiomatische Wendungen charakte-
risieren seinen Stil. Die Titel verweisen oft auf die Quelle, so »Labarin
kyanwa da ›bera‹« (Geschichte von der Katze und der Maus) auf die
Märchen der Grimms. Durch die Übertragung der Geschichten taucht
der Leser in die Alltagswelt der Hausa ein: Die Personen bekommen
muslimische Namen wie ›Muhammadu‹ oder traditionelle wie
›Tanko‹; die Handlungen sind häufig in Hausa-Städte verlegt oder spie-
len in der natürlichen Umwelt mit Affenbrotbäumen und Elefanten.
Aus der mündlichen Erzähltradition stammen die Geschichten 173
über Diebe, die klassischen Bilder vom Dörfler und Städter und das
Ethnostereotyp des Fulbe. Zum Fabelinventar zählen die gierige und

A BUBA K A R IM A M
feige Hyäne, der listige Schakal und der Löwe. Imam hat Hausa-Mär-
chen und -Fabeln, die in Anthologien oft nur als Zusammenfassungen
vorlagen, neu und lebendig erzählt.
In Magana Jari Ce wurde die fremde Märchenwelt so stark in den
eigenen Kontext eingepasst und die moralisch-religiöse Wertordnung
der muslimischen Hausa so weit gewahrt, dass die Lektüre zur Erfah-
rung des Eigenen wurde. Dieser Weg findet seit den 1990er Jahren im
Umgang mit Videofilmen seine Fortsetzung. Imams Sprache und Stil
sind mit der Prägung ›Imamanci‹ in die Hausa-Literaturkritik einge-
gangen.
Nur drei Geschichten sind ins Englische übersetzt worden.
Magana Jari Ce ist Schullektüre und wurde 1989 bis 1990 in einer 52-tei-
ligen TV-Serie dramatisiert. Die Abubakar Imam Foundation bewahrt
Imams Vermächtnis und hält seine Texte im Internet bereit.
HANNELORE VÖGELE
Antoine-Marie-Roger de
Saint-Exupéry
* 29. Juni 1900 in Lyon (Frankreich)
† 31. Juli 1944 vor Nizza (Frankreich)

Aus adliger Familie des Limousin; seit 1904 vaterlos auf Schloss de La
Mole erzogen; 1909–1914 Jesuitenkolleg Le Mans; 1917–1919 Architek-
turstudium in Paris; 1921 Dienst bei der Luftwaffe; Handelsvertreter;
Pilot einer französischen Luftfahrtgesellschaft, seit 1927 Direktor des
Flugplatzes Cap Juby in Rio de Oro, dann der Aeroposta Argentina in
Buenos Aires, seit 1934 bei der Air France; Flugzeugunfall in Guate-
mala; im Zweiten Weltkrieg Pilot einer Aufklärungsstaffel; 1940 nach
New York, 1943 in Nordafrika; seit 31. Juli 1944 nach Flug von Korsika
vermisst; verbindet in seinen Romanen Humanismus mit neuzeit-
174 lichem Abenteuergeist.

Der kleine Prinz / Le petit prince


Das 1943 erschienene Märchen ist einer der größten Bucherfolge der
Nachkriegszeit.
Der leidenschaftliche Flieger Saint-Exupéry macht nach einer
Flugzeugpanne in der Einsamkeit der Wüste die Bekanntschaft des
kleinen Prinzen. Der Prinz (»ein kleiner, ganz außergewöhnlicher
Herr«) hat seinen winzigen Heimatplaneten mit den drei Kratern
vor Jahresfrist verlassen, weil er mit der stolzen und eitlen Rose in
»Schwierigkeiten« geraten war und an ihrem Wert zu zweifeln begon-
nen hatte.
Die einzelnen Stationen seiner Reise zu anderen Planeten, von
denen er dem Flieger erzählt, sind als eine Folge von Parabeln zu ver-
stehen, die Verhaltensweisen bestimmter negativer Menschentypen
umreißen: Der kleine Prinz trifft den einsamen, Autorität heischenden
König, den Bewunderung fordernden Eitlen, den dumpfen Trinker,
den Geschäftsmann, den Laternenanzünder und den Geographen.
Er sieht in ihnen Wesen, die allein mit der eigenen Person beschäftigt
sind und sich nur an die Äußerlichkeit der Dinge halten. Auf Emp-
fehlung des Geographen reist er zur Erde. Hier trifft er zuerst die

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


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Schlange, die ihm erzählt, dass man unter den Menschen einsam sei.
Doch der Fuchs lehrt ihn das Geheimnis der Freundschaft und Liebe,
das darin besteht, dass ein Mensch für den anderen Verantwortung
trägt (»man kennt nur die Dinge, die man gezähmt hat«, d. h. zu denen
man Bindungen geschaffen hat).
Der kleine Prinz, der einen Garten voller Rosen gesehen und den
Verlust der Einzigartigkeit seiner Rose beweint hat, erkennt nun
seinen Irrtum. Da er sie pflegte, mit Wasser versorgte und vor dem
scharfen Wind schützte, wurde sie einzig für ihn. Damit sie nicht ver-
durstet, muss er nun auf seinen Planeten zurückkehren. Die Schlange
beißt ihn in den Knöchel, und er fällt lautlos auf den Wüstensand; am
nächsten Morgen ist sein Körper verschwunden. Saint-Exupéry, der
inzwischen das Flugzeug repariert hat, wird in seine Welt zurückkeh-
ren. Auch er hat einen Freund gewonnen, den er nun irgendwo in den
Sternen weiß.
Das zentrale Thema dieses Märchens ist die Aufhebung der Ein- 175
samkeit in der Freundschaft. Der kleine Prinz ist nichts anderes als
jener Teil von Saint-Exupéry selbst, der der rationalen Sehweise der

A N T OIN E-M A R IE-RO GER DE SA IN T -EXUPÉRY


Erwachsenen, ihrer Art der Beweisführung und ihrer Logik in den
Parabeln von der Rose und vom Fuchs das Gebot der Mitmenschlich-
keit entgegenhält. »Man sieht nur mit den Augen des Herzens in der
richtigen Weise. Das Wesentliche ist unsichtbar für die Augen.«
Die gedankentiefe und zart empfundene Geschichte vom kleinen
Prinzen, die Saint-Exupéry selbst illustriert hat, ist die von unmit-
telbarer Lebenserfahrung geprägte dichterische Darstellung einer
moralischen Erkenntnis. Die einfache Diktion dient der Absicht des
Autors, die Sprache und Sichtweise des Kindes wiederzugeben, das
mit dem Herzen das Innere der Dinge ergreift, ohne sich von der
äußeren Erscheinung beirren zu lassen, und ist nicht zuletzt aus Saint-
Exupérys Achtung vor der Wahrheit und dem Ernst des Wortes zu
verstehen. RENATE LUSCHER
Tove Jansson
* 9. August 1914 in Helsinki (Finnland)
† 27. Juni 2001 in Helsinki (Finnland)

(Pseudo. Vera Haij) – Studium der Bildenden Künste in Helsinki, Paris


und Florenz; Tätigkeit als politische Karikaturistin und Kinderbuch-
illustratorin, u. a. von Lewis Carrolls Alice in Wonderland; 1933 Erschei-
nen des ersten Bilderbuchs (Sara och Pelle) unter Pseudonym.

Die Muminbücher
In insgesamt neun Büchern, die zwischen 1945 und 1970 erschienen,
werden das Leben und die Abenteuer des Mumintrolls, seiner Eltern
und Freunde erzählt. Dabei handelt es sich um Phantasiewesen, die
Tove Jansson bereits in den 1930er Jahren entworfen hatte. Die von ihr
in schwarzer Tusche gezeichneten kleinen nilpferdähnlichen Figuren,
176 die sich durch ihre Gastfreundlichkeit, Offenheit und Liebenswür-
digkeit auszeichnen und deren Gemeinschaft ständig durch neue
Freunde – ebenfalls Phantasiegestalten – erweitert wird, weisen men-
schenartige Züge auf.
Die Bücher, die nicht als Fortsetzungsreihe konzipiert wurden,
sondern als eigenständige Romane und Erzählungen – nicht nur
für Kinder – gelesen werden können, handeln jeweils von Mumins
Erlebnissen innerhalb und außerhalb des paradiesischen Mumintals.
Die Muminwelt erweist sich als ein Ort der Gemeinschaft; einzig die
Sorge, sich zu langweilen, treibt den Mumintroll und seine Freunde
an, den Ort zu verlassen und auf Abenteuersuche zu gehen. Sie keh-
ren jedoch immer wieder zurück in die heimische Familienidylle, die
zugleich eine offene Gesellschaft repräsentiert, in die auch Fremde
integriert werden.
Abenteuer und Verunsicherungen erleben die Figuren immer
dann, wenn sie die gewohnte Umgebung verlassen. Bedroht fühlen
sie sich aber auch, wenn sie ungewöhnlichen Naturerlebnissen ausge-
setzt sind, wie etwa einer Sturmflut in Farlig midsommar, 1954 (Sturm im
Mumintal, 2002, B. Kicherer), die die Familie mitreißt. Auf ihrer Odys-
see entdeckt sie schließlich ein verlassenes Theater, das eine völlig
neue Erlebniswelt eröffnet. Einer ungleich größeren Gefahr begegnen

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die Mumins in Kometjakten, 1946 (Komet im Mumintal, 2001, B. Kicherer),
in dem ein Komet die gesamte Natur zu zerstören droht. Über die
allgemeine Vision einer endgültigen Vernichtung der Welt von außen
verweist dieser Komet konkret auf das unberechenbare Ausmaß der
Bedrohung der Menschheit durch die Atombombe und unterstreicht
damit den gesellschaftskritischen Unterton, der die Romane ungeach-
tet ihrer ironisch-humoristischen Erzählweise durchzieht.
In Trollkarlens hatt, 1948 (Die Mumins – Eine drollige Gesellschaft, 2001,
B. Kicherer), geht es um die Komplikationen, die der zufällige Fund
eines ›Zauberhutes‹ auslöst. Die komischen Verwicklungen werden
u. a. kombiniert mit der Begegnung mit Fremden, die eine andere
Sprache sprechen: Die beiden Freunde Tofsla und Vifsla werden
von Mumin und seinem Freund, dem musikalischen Snusmumrik
(Schnupferich) nur schwer verstanden, da sie an jedes Wort das Suffix
›la‹ hängen, wie etwa beim Gruß »Gutsla Morgsla«. Hier geht es nicht
allein um die Imitation eines beliebten Kinderspiels, einer Geheim- 177
sprache, sondern auch um die Erfahrung, dass eine ›Fremdsprache‹
erlernt werden kann und damit die Kommunikation, die zur Auflö-

TOV E JA NS SON
sung des Rätsels um den verschwundenen Zauberhut führt, möglich
wird.
Auf ironische Weise werden auch Geschlechterstereotypen vorge-
führt und zur Disposition gestellt: So unterstreicht die Handtasche als
ständige Begleiterin der Muminmutter einerseits ihre Weiblichkeit,
andererseits wird dieses Rollenklischee durch ihre Tatkraft und ihren
Mut unterlaufen. Der Vater, dessen Selbstgefälligkeit und Eitelkeit
immer wieder thematisiert werden, wird zugleich in seiner Rolle als
Haupt der Familie in Frage gestellt, wenn man zwar seinen Vorgaben
folgt, er aber schließlich von seiner Familie zum Umdenken angeleitet
wird. In Muminspappas memoarer, 1968 (Muminvaters wildbewegte Jugend,
2002, B. Kicherer), erzählt er seine Lebensgeschichte und bestätigt
damit als scheinbarer Patriarch die Genealogie seines Geschlechts.
Auch Mumins Freunde weisen jeweils typische Eigenarten auf, die sie
unverwechselbar machen und alle Ansprüche an Normalität außer
Kraft setzen: Sowohl der Schnupferich als auch die kleine, freche My
oder die geheimnisvolle, bedrohliche Mårra (Morra) zeichnen sich
durch Individualität, Eigensinn und Charakterstärke aus.
Als durchgängiges Prinzip der Romane erweist sich die Konfron-
tation der von Pazifismus geprägten Muminwelt mit Chaos und
Schrecken, die von außen an sie herangetragen wird, und nach diesen
Prüfungen die Rückkehr ins Mumintal. KARIN HOFF

178
Astrid Lindgren
* 14. November 1907 in Vimmerby (Schweden)
† 28. Januar 2002 in Stockholm (Schweden)

Realschulabschluss; Zeitungsvolontariat; ab 1926 Sekretärin in Stock-


holm; 1940 bei der Briefzensur des schwedischen Nachrichtendiens-
tes; 1946–1970 als Lektorin beim Verlag Rabén & Sjögren Fürspreche-
rin moderner Kinderliteratur; debütierte in den 1930er Jahren mit
Erzählungen für Kinder; 1945 Durchbruch mit Pippi Långstrump; zahl-
reiche Auszeichnungen; ihre Kritik an der Massentierhaltung führte
zu einem geänderten Tierschutzgesetz in Schweden (›Lex Lindgren‹).

Die Pippi-Langstrumpf-Bücher
Auf den ersten Band der Kinderbuch-Trilogie, Pippi Långstrump, 1945
(Pippi Langstrumpf, 1949, C. Heinig), folgten die Fortsetzungsbände
Pippi Långstrump går ombord, 1946 (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1950, 179
C. Heinig) und im Jahr 1948 Pippi Långstrump i Söderhavet (Pippi in Taka-
Tuka-Land, 1951, C. Heinig). Ihre Entstehung geht auf Geschichten

A S T R ID L IND GR EN
zurück, die die Autorin über Jahre hinweg ihrer Tochter Karin erzählt
hatte. Aufgrund der außergewöhnlichen körperlichen Kraft und der
Unabhängigkeit der Hauptfigur wurden sie als ›moderne Märchen‹
bezeichnet. Pippi kann jedoch als Figur, die kindliche Wunschvorstel-
lungen und Phantasien personifiziert, eine Wirklichkeit ganz anderer
Art beanspruchen: Sie lebt in einem realistisch geschilderten schwe-
dischen Kleinstadtmilieu, gestaltet dort ihr Alltagsleben als Spiel und
Abenteuer, setzt sich gegen die Erwachsenen durch, hilft Schwachen
und Benachteiligten und feiert Feste. In den beiden Folgebänden setzt
sie ihre Abenteuer in der Umgebung und schließlich in der ›weiten
Welt‹ fort.
In ihrer selbstbewussten, tatkräftigen Art hat die neunjährige
Pippi Ähnlichkeiten mit den Protagonisten der ›Lausbubengeschich-
ten‹. Bei der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit helfen ihr auch
Schlagfertigkeit und Mutterwitz. Sie hat das Talent, die Erwachse-
nenlogik auf den Kopf zu stellen und phantasievoll übertreibende
Geschichten zu erfinden. Ohne Eltern, nur mit ihrem Affen (genannt
›Herr Nilsson‹) und einem Pferd wohnt sie inmitten eines verwilder-

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ten Gartens in der Villa Villekulla (Villa Kunterbunt), die ihr Vater,
Kapitän Langstrumpf, für sie gekauft hat. Sie ist so stark, dass sie einen
erwachsenen Ringkämpfer besiegen kann. Sie verfügt über einen
Koffer mit Goldstücken, und niemand kann ihr Vorschriften machen:
Sie isst, was sie will, sie schläft, wann sie will, und sieht aus, wie es ihr
gefällt, mit feuerroten, abstehenden Zöpfen, verschiedenfarbigen
Strümpfen und riesengroßen, schwarzen Schuhen. Die Vertreter der
öffentlichen Ordnung geben ihre Versuche bald auf, sie in die Gemein-
schaft einzugliedern. Pippi führt Polizisten an der Nase herum, und
nachdem sie der Schule einen kurzen Besuch abgestattet hat, ist die
Lehrerin froh, sie nicht unterrichten zu müssen. Annika und Thomas,
die beiden wohlerzogenen Nachbarskinder, die in ihrer Angepasstheit
ganz ihr Gegenteil sind, erliegen vom ersten Kennenlernen an – wie
die Leser – der Faszination, die die gesellschaftliche Außenseiterin
ausübt, und schließen Freundschaft mit ihr. Pippi animiert die beiden,
180 Mut zu zeigen, ihren Einfällen zu folgen und ihre Umwelt zu erkun-
den. So macht sie sie darauf aufmerksam, was für schöne und nütz-
liche Dinge man als ›Sachensucher‹ finden kann. Schließlich rettet sie
in einer waghalsig scheinenden, aber von ihr souverän beherrschten
Situation zwei Kinder aus einem brennenden Haus.
Im zweiten Band setzt Pippi ihre Unternehmungen zunächst in
ähnlicher Weise fort. Sie nimmt an einem Schulausflug teil, bei dem
sie natürlich die Regie ergreift, und fängt sogar einen ausgebrochenen
Tiger ein. Sie ist großzügig und immer bereit, gegen ein Unrecht auf-
zubegehren. Engagiert greift sie sogar in eine Theatervorstellung ein,
um dem vermeintlichen Schurken ihre Meinung zu sagen. Mit Tho-
mas und Annika erlebt sie ein paar abenteuerliche Tage auf einer klei-
nen Insel im See. Als Pippis Vater, inzwischen König von ›Taka-Tuka-
Land‹, sie in sein Reich mitnehmen möchte, beschließt sie, zunächst
noch in der Villa Kunterbunt und bei ihren Freunden zu bleiben. Aus
der anfänglich argwöhnisch betrachteten Außenseiterin ist sie durch
ihre Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft zu einer kleinen, akzeptier-
ten Berühmtheit geworden.
Im dritten Band bietet sich Pippi und ihren beiden Freunden dann
die Gelegenheit, auf die Südseeinsel zu reisen, auf der Pippis Vater
regiert. In der exotischen Umgebung findet Pippi abermals genug
Gelegenheit, ihre Unerschrockenheit und Stärke zu demonstrieren:
Im Kampf gegen Haie und gegen Piraten behält sie immer die Ober-
hand. Die Kinder in »Taka-Tuka-Land« sind genauso fasziniert von
ihr und ihren Geschichten wie die Kinder zu Hause. Dorthin kehren
die drei zu Weihnachten zurück. Feierlich beschließen sie, nicht
erwachsen zu werden, da sie ihre Kindheit souverän in einem Paradies
nahezu unbegrenzter Möglichkeiten verbringen können.
Die Pippi Langstrumpf-Bücher lösten bei ihrem Erscheinen in
Schweden heftige Kritik und kontroverse pädagogische Debatten
aus. Obwohl ihrer Konzeption keine explizite pädagogische Intention
zugrunde lag, wurden sie mit negativem oder positivem Vorzeichen
als Fürsprecher einer neuen Pädagogik rezipiert, die Eigenschaften
wie Neugierde, Phantasie und Unternehmungslust statt Anpassung
und Gehorsam förderte. Die jüngste Forschung (L. Kåreland) betont
zudem das ›modernistische‹ Potenzial in den Pippi-Büchern, auf das
die Überschreitungen der Geschlechter- und Autoritätsgrenzen wie 181
auch die Sprachskepsis und der lustvolle Umgang mit der Sprache
verweisen.

A S T R ID L IND GR EN
Die Geschichten von Pippi wurden mehrfach verfilmt; die wohl
bekannteste Fassung stammt von Olle Hellbom und wurde in vier
Teilen 1969/70 und 1973 gedreht. KIRSTEN HÖLTERHOFF

Die Brüder Löwenherz / Bröderna Lejonhjärta


Die phantastische Erzählung ist eines der erfolgreichsten, aber auch
umstrittensten Werke der Autorin, das 1973 bei seinem Erscheinen
eine kontroverse Debatte über den Umgang mit dem Tod und dem
Bösen im Kinderbuch auslöste. In der Hochphase des kinderliterari-
schen Sozialrealismus in Schweden übertrug Lindgren wie schon in
Mio, min Mio, 1954 (Mio, mein Mio, 1955), das Psychogramm eines Kindes
in eine poetische Struktur, die die Alltagsrealität um eine märchen-
haft-mythische Dimension erweitert.
Der neunjährige Ich-Erzähler Krümel (eigentlich Karl Löwe) ist
eines der einsamen, unglücklichen Kinder Lindgrens, die den tris-
ten Alltag mit Hilfe der Phantasie bewältigen. In Form eines langen
Monologs, aus dem sich der unmittelbar-naive Ton des Werks ergibt,
bearbeitet er den Tod des geliebten Bruders Jonathan sowie sein eige-
nes Sterben. Ausgangspunkt der Erzählung ist eine ärmliche Küchen-
bank im Schweden des frühen 20. Jh.s, auf der der todkranke Krümel
liegt. Um ihm die Angst vor dem Tod zu nehmen, erzählt Jonathan
vom paradiesischen Nangijala, »irgendwo hinter den Sternen«, wo
Krümel von seinen Leiden befreit auf den großen Bruder warten wird.
Die tröstliche Perspektive verkehrt sich auf tragische Weise, als Jona-
than bei einer Feuersbrunst mit einem Sprung aus dem Fenster Krü-
mel das Leben rettet, selbst aber stirbt. Mit ihm verliert der kindliche
Erzähler seine Verankerung in der Realität, denn die alleinstehende
Mutter ist nur als Stimme aus dem Nebenraum präsent.
Allein auf der Küchenbank zurückgelassen, führt Krümel die
Geschichte Nangijalas mit Jonathan Löwenherz als Helden weiter. In
Gestalt einer weißen Taube ruft dieser Krümel zu sich in die mittel-
alterliche Ritterwelt, in die »Zeit der Lagerfeuer und der Sagen« mit
altnordischen Anklängen. Im idyllischen Kirschtal sind die Brüder
182 glücklich vereint, doch auch das Paradies ist vom Bösen bedroht:
Das benachbarte Heckenrosental wird vom Despoten Tengil und
dem Feuer speienden Drachen Katla tyrannisiert. Jonathan schließt
sich dem Freiheitskampf im besetzten Tal an, und Krümel folgt ihm
in einem Akt der Selbstüberwindung. Die Dramatik der Erzählung
basiert auf dem Grundschema von Trennung und Wiedervereini-
gung, wobei die Bruderliebe die treibende Kraft der Handlung ist. Die
Überwindung Tengils und der Urkraft Katlas entwickelt sich über den
Dualismus von Gut/Böse, Mut/Feigheit, Verantwortung/Verrat und
beschreibt zugleich die innere Emanzipation des Erzählers, die sich im
Namenswechsel von Krümel zu Karl Löwenherz spiegelt. Während
sich Krümel zunächst hinter der Stärke des großen Bruders versteckt,
gewinnt er im Laufe der Erzählung so an Selbstsicherheit, dass sich die
Rollen am Ende verkehren: In Analogie zu der Szene, in der Jonathan
ihm das Leben rettete, springt er mit dem von Katla tödlich verwun-
deten Bruder auf dem Rücken über eine Klippe in die neue Welt Nan-
gilima.
Die phantastische Struktur eröffnet mehrere Lesarten, die jeweils
die Fragen, wo der Ich-Erzähler sich befindet und ob oder wann er
stirbt, unterschiedlich beantworten. Von Seiten der Literaturkritik
wurde die offene Darstellung des Todes diskutiert, und von Seiten
der kindlichen Leser wurde Astrid Lindgren so oft nach Nangilima
befragt, dass sie 1974 in der Zeitung Expressen einen Ausblick auf das
Weiterleben der Brüder publizierte. Das Werk wurde in über 35 Spra-
chen übersetzt, vielfach inszeniert, vertont und 1977 von O. Hellbom
verfilmt. ANGELIKA NIX

183

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Kirsi Kunnas
* 14. Dezember 1924 in Helsinki (Finnland)

(d. i. Kirsi Kunnas-Syrjä) – 1945–1947 Studium der Kunstgeschichte


an der Universität Helsinki; 1947–1952 Verlagsangestellte; seither
freie Schriftstellerin und Übersetzerin (u. a. T. Jansson, García Lorca,
L. Carroll); 1977 Mitarbeit an der neuen finnischen Bibelübersetzung;
umfangreiches Werk: Lyriksammlungen, Dramen und Kinderbücher.

Tiitiäinens Geschichten / Tiitiäisen tarinoita


Der 1957 erschienene Band versammelt 15 Geschichten unterschied-
lichster Länge, Form und Thematik und knüpft nicht nur im Titel an
die Gedichtsammlung Tiitiäisen satupuu (Tiitiäinens Märchenbaum)
an. Ging es Kunnas dort um eine Erneuerung der Kinderlyrik, so
strebte sie hier eine grundlegende Neugestaltung des Kunstmärchens
184 an, radikaler als dies zur gleichen Zeit M. Haavio (siehe P. Mustapää)
und O. Paloheimo unternahmen.
Vier der Geschichten beginnen mit der klassischen Märchenfor-
mel »Es war einmal«, und eine greift zudem altbekannte Motive auf,
nur um sie spielerisch zu verfremden: In »Pallo Pyöriäinen« (Kugel-
rund) hat ein König gleich 40 Töchter, die er verheiraten will. Diese
verspüren jedoch nicht die geringste Lust dazu; außerdem sind sie
so schön, dass kein Prinz es wagt, um ihre Hand anzuhalten. Da wird
eine der Prinzessinnen kugelrund und eben deshalb überaus beliebt.
»Sie funkelte wie ein Edelstein oder eine Perle oder wie die Sonne, und
wenn sie über die Gartenwege rollte, denn sie war tatsächlich rund wie
eine Kugel, dann flammte ihr rotes Haar und glühte wie Feuer, und die
Menschen sagten, heute versinkt die Sonne rot im Meer.« Sie überre-
det den König, sein Reich demjenigen zu versprechen, der sie heiratet.
Doch wann immer ein Freier vorspricht, verbandelt sie ihn mit einer
ihrer Schwestern. So sind bald 39 Prinzessinnen verheiratet.
Nun besinnt sich der König auf die Rolle, die ihm laut Märchen-
tradition zusteht, und stellt denjenigen, die um »Kugelrund« anhalten,
unmögliche Aufgaben. So sieht man bald zahllose Prinzen Mäuse
jagen oder bockspringend um die Erde hüpfen. »Kugelrund« aber sinkt
aus freien Stücken in einen »mindestens hundertjährigen Schlaf« und

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_42, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
zwingt ihren Vater damit, ihre Hand demjenigen zu versprechen, der
sie aufwecken kann. Doch der Prinz, der endlich auf den rettenden
Einfall kommt, die Schlafende wachzuküssen, küsst sie nur auf ein
Auge, worauf das andere geschlossen bleibt und er zwar die Prinzessin,
aber nur das halbe Reich bekommt. »Kugelrund« rollt wieder durch
den Garten, doch niemand nimmt mehr davon Notiz, denn alle Welt
ist damit beschäftigt, das Treiben der jagenden, kämpfenden und
bockspringenden Prinzen zu beobachten. Der Schlusssatz des Mär-
chens – »Denn so hatten sich die Zeiten geändert« – charakterisiert die
Nachkriegssituation, von der Kunnas einmal sagte: »Die Verbindung
mit der Vergangenheit wurde damals noch gewaltsamer zerrissen als
heute. […] Wir verstanden das Märchen als eine Kunstform, die das
Gebäude der Zeit sichtbar machte. Es hatte Fenster in alle Himmels-
richtungen, auch in die sich abzeichnende und vielleicht beängsti-
gende Zukunft.«
Kunnas’ Märchen und Geschichten handeln von Identität, 185
Freundschaft, vom Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, von
den Quellen des Glücks. Sie sind für Kinder geschrieben, zugleich

K IR SI KUNNA S
aber auch für Erwachsene, genauer gesagt, für das Kind, das nach
Überzeugung der Autorin in jedem Erwachsenen steckt.
GABRIELE SCHREY-VASARA
Otfried Preußler
* 20. Oktober 1923 in Reichenberg (Liberec, Tschechien)
† 18. Februar 2013 in Prien am Chiemsee (Deutschland)

Sohn eines böhmischen Lehrerehepaars; 1942 Soldat an der Ostfront,


1944–1949 russische Kriegsgefangenschaft; ab 1949 in Oberbayern,
1953–1970 Volksschullehrer in Rosenheim; 1956 erste Kinderbuchver-
öffentlichung; seit 1970 freier Schriftsteller; erfolgreicher Jugend- und
Kinderbuchautor.

Der Räuber Hotzenplotz


Die 1962, 1969 und 1973 erschienenen Kasperlgeschichten brachten
ihrem Autor nach ersten Erfolgen mit Der kleine Wassermann (1956) und
Die kleine Hexe (1957) den internationalen Durchbruch; seine Hotzen-
plotz-Bücher wurden in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt.
186 Die Figuren Kasperl, Seppel, Räuber, Polizist, Zauberer, Fee und
Krokodil entstammen dem klassischen Kasperltheater in der Tradi-
tion des Grafen Franz von Pocci, dessen Stücke Preußler als Kind auf
einer Puppenbühne nachspielte. Der Räuber Hotzenplotz, ein Mann
»mit struppigem schwarzen Bart und einer schrecklichen Hakennase«,
mit Schlapphut, Pistole, Säbel und sieben Messern, stiehlt Kasperls
Großmutter die Kaffeemühle. Kasperl und sein Freund Seppel wollen
Wachtmeister Dimpfelmoser bei der Jagd nach dem Dieb helfen. Mit
vertauschten Mützen stellen sie dem Räuber eine Falle, doch dieser
durchschaut ihren Plan und überrumpelt die beiden. Seppel, den er
für (den klügeren) Kasperl hält, behält er als Diener in seiner Höhle
bei sich, und Kasperl verkauft er als Küchenhilfe an den »großen und
bösen Zauberer Petrosilius Zwackelmann«. Eines Tages, als Zwackel-
mann das Schloss verlassen hat, entdeckt Kasperl im Keller eine einge-
sperrte Unke, die verzauberte Fee Amaryllis. Sie bittet ihn, das Feen-
kraut von der Hohen Heide zu holen, durch das sie erlöst werden kann,
und berichtet ihm auch, wie er den Bannkreis des Schlosses verlassen
kann: Kasperl muss etwas von seiner Kleidung hinterlassen. Er legt
den schlechtsitzenden Seppelhut ab und bricht auf. Als Zwackelmann
ins Schloss zurückkommt, zaubert er mit dem zurückgelassenen
Hut den Besitzer herbei, nämlich Seppel. Wütend stellt er die Ver-

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_43, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
wechslung fest und verwandelt Hotzenplotz, der die Kasperlmütze
inzwischen verbrannt hat, zur Strafe in einen Gimpel. Es gelingt ihm
nicht mehr, Kasperl mit dem gepflückten Feenkraut aufzuhalten. Die
erlöste Fee lässt den Zauberer im Unkenpfuhl verschwinden und zer-
stört das Schloss. Kasperl und Seppel machen sich auf den Heimweg.
Gerade als der Wachtmeister ihren Steckbrief fertig geschrieben hat,
treffen die beiden zur Freude der Großmutter auf der Wache ein. Mit
einem Wunschring, den die Fee Kasperl zum Dank schenkte, zaubert
Kasperl sich nicht nur eine neue Zipfelmütze und seiner Großmutter
die gestohlene Kaffeemühle herbei; auch aus dem mitgebrachten
Vogel wird wieder der Räuber Hotzenplotz, den Dimpfelmoser im
Spritzenhaus einsperrt.
Preußler schrieb den ersten Band während der zehnjährigen
Arbeit an seinem Jugendroman Krabat. Erst die begeisterten Reaktio-
nen der Kinder veranlassten ihn, einen zweiten Band folgen zu lassen,
in dem die Hellseherin Frau Schlotterbeck und ihr Krokodilhund 187
Wasti den allzu früh beseitigten Zauberer ersetzen mussten. Auch
in den anderen Handlungselementen gestaltete Preußler die zweite

O T FR IED PR EUS SL ER
Geschichte fast analog zur ersten. Im dritten Buch, der »endgültig letz-
ten Kasperlgeschichte«, hängt Hotzenplotz schließlich mit Kasperls
und Seppels Hilfe den Räuberhut an den Nagel und will das »Gasthaus
zur Räuberhöhle« eröffnen.
Theaterleute konnten bei ihren kindlichen Zuschauern beob-
achten, dass diese sich besonders gerne mit dem Störer und Außen-
seiter Hotzenplotz solidarisieren. Mit Namensverdrehungen wie
»Oberschmachtmeister Plotzenhotz« und »Zauberer Zeprodilius
Wackelzahn« machen sich auch die Kinderfiguren des Stückes über
Autoritäten lustig. Kasperl und Seppel sind es, die die Probleme der
Erwachsenen lösen. KERSTIN DÖTSCH
Michael Ende
* 12. November 1929 in Garmisch-Partenkirchen (Deutschland)
† 28. August 1995 in Stuttgart (Deutschland)

Sohn eines Malers; ab 1931 in München; 1936 Volksschule; 1940–1943


Gymnasium; 1945 Einzug zur Wehrmacht, Desertion, Kontakt mit
der ›Freiheitsaktion Bayern‹; ab 1947 Freie Waldorfschule Stuttgart;
1948–1950 Schauspielausbildung in München; 1951–1953 Schauspieler
an verschiedenen Bühnen; Rückkehr nach München; Sketche und
Chansons für Kabaretts; 1954–1962 Filmkritiker; ab 1957 Kinderbücher;
ab 1970 freier Schriftsteller in Italien; 1985 Rückkehr nach Deutschland.

Die Unendliche Geschichte. Von A bis Z


Der 1979 erschienene Jugendroman hat weltweit eine ungewöhnliche
Verbreitung gefunden. Aufgrund seiner Lesbarkeit auf mehreren
188 Ebenen (vom Abenteuerbuch über Kulturkritik bis hin zur Reflexion
über Literatur und Kunst) und seiner vielen geisteswissenschaft-
lichen Zitate ist das Werk auch für erwachsene Leser reizvoll.
Der elfjährige Bastian Balthasar Bux, ein Versager in Schule und
Sport mit lebhafter Einbildungskraft, stiehlt in einem Antiquariat ein
Buch und flieht damit auf den Speicher der Schule. Das Land Phan-
tásien – so liest der Junge – ist in Gefahr: Ein unsichtbares »Nichts«
greift um sich, die »Kindliche Kaiserin« des Landes ist tödlich erkrankt.
Von ihr mit der Suche nach einem Ausweg beauftragt, findet der
zehnjährige Atréju auf einer abenteuerlichen Reise die Erklärung für
die drohende Gefahr: Phantásien ist eine fiktive Welt, erzeugt von
der Einbildungskraft der Menschen. Deren zunehmende Phantasie-
losigkeit jedoch bedeutet für das Land den Untergang. Rettung ist
nur durch ein Menschenkind möglich, das der »Kindlichen Kaiserin«
einen neuen Namen gibt. Im Verlauf der Lektüre wird Bastian klar,
dass er zu diesem Retter bestimmt ist. Er greift ein, als Phantásien
nur noch ein Sandkorn ist. Mit seinen Wünschen und mit Hilfe von
»Auryn«, dem Zeichen der Kaiserin, das die Inschrift trägt »Tu was Du
willst«, erschafft er Phantásien neu. Für jeden erfüllten Wunsch aber
verliert er ein Stück seiner Erinnerung an die Menschenwelt. Als er
schließlich Kaiser von Phantásien werden will, kommt es zum Bruch

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_44, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
mit Atréju. Nach einer letzten großen Schlacht gerät Bastian in eine
Stadt voll Wahnsinniger, die ebenfalls alle einmal Phantásiens Herr-
schaft angestrebt haben. Bastian erkennt, auf welchem Weg er sich
befindet, und nutzt seine letzten Wünsche, um zu sich selbst und in
seine Welt zurückzufinden. Nachdem er seinen »Wahren Willen«, die
Liebe zu seinem Vater, gefunden hat, gelingt ihm die Rückkehr in die
Menschenwelt.
Der Text weist einige formale Besonderheiten auf: Er ist in roter
und grüner Schrift gedruckt; die (grüne) Binnenerzählung besteht aus
26 Kapiteln, die jeweils mit ganzseitigen Initialen beginnen – durch-
laufend von A bis Z. Die Geschichte entsteht somit buchstäblich aus
dem Alphabet heraus. Die Bedeutung von Sprache zeigt sich auch
in der wirklichkeitsschaffenden Funktion des ›Benennens‹: Bastian
erschafft die phantásische Welt neu durch Namengebung. Sprache
kann ›Realität‹ erzeugen, so lautet ein wesentliches Postulat des
Autors. Die Frage nach dem Realitätsstatus fiktiver Welten wird 189
nochmals durch die Verschachtelung von Rahmen- und Binnen-
erzählung aufgeworfen: Der Rahmen bricht in die Binnengeschichte

MICH A EL ENDE
ein: Der Leser eines Buches (Bastian) betritt handelnd in die dort
dargestellte Welt, indem er sie durch eigene (innere) Vorstellungen
erweitert; dieses Ereignis manifestiert sich wieder in einem Buch, der
Unendlichen Geschichte; ihr Leser könnte seinerseits phantasiehandelnd
die Geschichte weiterspinnen; es könnte ein Buch daraus entstehen
etc., ad infinitum. Die rote Schrift steht für Bastians äußere, die grüne
für seine innere Realität, also für das lesend und ›phantasiehandelnd‹
Erlebte. Am Ende kann Bastian das gestohlene Buch nicht wiederfin-
den, und im Antiquariat wird kein solches Buch vermisst. Das para-
doxe Verhältnis von Realität und Fiktion, von dargestellter Wirklich-
keit innerhalb imaginärer Texte wird hier deutlich.
Zentrales Thema ist die Rolle der Phantasie: Durch sie werden
fiktive Welten erst erzeugt; ohne sie fehlt ein Teilbereich der realen,
›kranken‹ Welt. Phantasie macht beide Welten gesund. Sie bereichert
die reale Welt, wenn den Phantasiewelten als solchen Existenz-
berechtigung zugestanden wird. Phantasie kann aber auch zur Gefahr
werden, wenn Vorstellungswelten auf dieselbe Realitätsebene geho-
ben werden wie die reale Welt, wenn also Phantasie und Wirklichkeit
verwechselt werden: Bastian verliert sich in seiner Wunschwelt und
möchte nicht mehr in die Realität zurück. Wohin das führt, zeigt die
Bevölkerung der Alten-Kaiser-Stadt: Sinnlosigkeit, Isolation, Kom-
munikationslosigkeit. Bastian wird vor dieser Gefahr durch einen
Selbstfindungsprozess bewahrt, der deutlich von psychoanalytischen
Verfahren inspiriert ist: Er findet Gemeinschaft bei den Yskálnari, die
nicht zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheiden. Er regrediert in die
Kindheit und findet mütterliche Liebe bei Dame Aiuóla. Er schürft
in Yors Bergwerk nach seinen Träumen und findet die Sehnsucht
nach seinem Vater, die ihn in die Realität zurückbringt. Bastian kann
das Eis durchbrechen, das seinen um die Mutter trauernden Vater
umgibt, und erlangt durch die Erlebnisse in Phantásien eine neue
Auseinandersetzungs- und Kommunikationsfähigkeit mit seiner
Welt. KATHARINA HOLZINGER

190
Rafik Schami
* 23. Juni 1946 in Damaskus (Syrien)

(d. i. Suheil Fadél) – Sohn eines Bäckers; Studium der Chemie, Mathe-
matik und Physik in Damaskus; 1966–1970 Redakteur einer kritisch-
literarischen Wandzeitung; seit 1971 in Deutschland im Exil; Aus-
hilfsjobs; Fortsetzung des Studiums, 1979 Promotion in Chemie; 1980
Gründung der Literaturgruppe Südwind; 1981 Gründung des Polyna-
tionalen Literatur- und Kunstvereins; seit 1982 als freier Schriftsteller
in der Pfalz; bis 1985 Mitherausgeber und Autor der Reihe »Südwind-
Literatur«; Erzähler.

Erzähler der Nacht


Der populäre Roman erschien 1989. Der Syrer Schami, der seit 1977
Märchen, Fabeln und phantastische Geschichten in deutscher Spra-
che schreibt, erprobt verschiedene Versionen seiner Geschichten 191
wiederholt im mündlichen Erzählen, bevor er die wirkungsvollste Fas-
sung schriftlich festhält. In seiner Dankrede für den Thaddäus-Troll-

R A FIK SCH A MI
Preis (1986) erzählte Schami bereits in Kurzform die Handlung seines
zweiten Romans Erzähler der Nacht (vgl. Die sieben Siegel der Zunge, in Vom
Zauber der Zunge, 1991), und die Hauptfigur, der Kutscher Salim Bussard
aus Damaskus, taucht schon in dem Erzählungsband Der Fliegenmelker
und andere Erzählungen (1985) und in dem Tagebuchroman Eine Hand
voller Sterne (1987) auf. Thema der Rahmenhandlung und der sieben
Binnengeschichten sind das Erzählen und Zuhören. Onkel Salim, der
großväterliche Freund des jugendlichen Erzählers, ist im Damaskus
des Jahres 1959 für sein großes Erzähltalent bekannt. Doch eines Tages
lässt ihn seine inspirierende Fee verstummen. Nur sieben Geschenke
innerhalb von drei Monaten könnten ihm die Stimme zurückbringen.
Seine sieben alten Freunde jedoch, die sich jeden Tag etwas von ihm
erzählen ließen, bringen ihn weder mit Speisen, Getränken, Düften
noch mit Reisen zum Reden. Erst als die Männer in den verbleiben-
den Nächten ihre eigenen Lebensgeschichten und Märchen preisge-
ben, wird auch Salims Stimme wieder lebendig. Die Freunde erinnern
sich an Erfundenes und Erlebtes über die Macht des Erzählens und
des Zuhörens, über die Umkehrungen von Wahrheit und Lüge.

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_45, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Mehdi, ein ehemaliger Lehrer, beginnt den Zyklus mit dem
geschlossensten Märchen der Runde. Im Stil von Tausendundeine Nacht
gibt er eine Dämonengeschichte weiter, die ihm als Kind über den
tödlichen Verlust der Stimme erzählt wurde. – Dem Verstummen
stellt Junis, ein Kaffeehausbesitzer, geschult durch die Hakawatis, die
Märchenerzähler in den arabischen Cafés, die Gefahr der hemmungs-
losen Redseligkeit, des Geschwätzes entgegen. – Der Emigrant Tuma
hat die Probleme des Fremdseins und der Sprachlosigkeit kennenge-
lernt: »Ich wußte nicht, wie wertvoll das Wort ist, bis ich in der Fremde
stumm wurde. Worte sind unsichtbare Juwelen, die nur die sehen,
denen sie entzogen wurden. Salim weiß es heute besser denn je.« Er
erheitert seine Freunde mit dem Unglauben der Amerikaner gegen-
über der orientalischen Kultur, von der er ihnen erfolglos zu berichten
versuchte. Da auch seine syrischen Zuhörer ihm umgekehrt »nicht
glauben, daß die Amerikaner im Geschäft nicht handeln«, belügt er
192 sie mit einem Märchen von einem Manager, der statt mit Worten
alles mit Geld regeln wollte, selbst seine Unsterblichkeit. – Musa,
ein Friseur, führt vor, wie man die Mächtigen mit wahrheitshaltigen
Lügen besiegen kann. – In der Geschichte Isams, der im Gefängnis als
unschuldiger Häftling die sprachlose Einsamkeit fürchten gelernt hat,
redet sich dagegen ein vorschneller Wortführer des Königs um Kopf
und Kragen.
Je weiter die Erzählrunde vorankommt, desto häufiger und
zügelloser unterbrechen die Zuhörenden den Erzähler der Nacht mit
Kommentaren und Witzen bis hin zu Anekdoten und eigenen kleinen
Geschichten. Faris, ein ehemaliger Minister, besitzt ein so geringes
Redetalent, dass die Zuhörer bei seiner Geschichte über den König,
der nicht mehr hören konnte, einschlafen. Seine ermüdende Erzäh-
lung inspiriert Salim zu einer verbesserten Fassung, die er den ande-
ren aber wegen seiner Stummheit nicht mitteilen kann. Erst als in der
letzten Nacht Fatmeh, die Frau des siebten Freundes, die Geschichte
ihrer Mutter Leila darbietet, findet Salim seine Stimme wieder. Auch
Leila, die wie Salim »weit und breit die bekannteste Märchenerzäh-
lerin« war, erlöste einen verwunschenen Prinzen durch ihr Erzählen
und Zuhören aus dem Schweigen.
Rahmenhandlung und Binnengeschichten des Romans sind
ineinander verwoben und kommentieren sich gegenseitig, so wie
Erzähler und Zuhörer aufeinander angewiesen sind. In der Erzähler-
runde lernt Salim das Zuhören, und die Freunde reden sich erstmals
ihr Lebensschicksal von der Seele. Die in Form eines orientalischen
Teppichs verflochtenen Geschichten enthalten wie Schamis frühere
Texte sozialkritische Spitzen gegen die Machthabenden.
KERSTIN DÖTSCH

193

R A FIK SCH A MI
Yōko Tawada
* 23. März 1960 in Tokio (Japan)

Studium der russischen Literatur an der Waseda-Universität in Tokio;


1979 erste Reise nach Europa mit der transsibirischen Eisenbahn;
1982 Studium der neueren deutschen Literatur an der Universität
Hamburg; 1982–2006 in Hamburg; seit 1991 freie Schriftstellerin; 1998
Promotion in Germanistik bei Sigrid Weigel an der Universität Zürich;
ab 2006 in Berlin; Autorin literarischer Texte diverser Gattungen auf
Deutsch und Japanisch; Poetik-Dozenturen an mehreren Universitä-
ten; Zusammenarbeit mit Künstlern, Musikern und Theatergruppen.

Der Hundebräutigam / Inu muko iri


Die 1993 erschienene Erzählung skizziert die skurrile Beziehung
zwischen Kitamura Mitsuko, die in ihrem Haus in einem Vorort von
194 Tokio eine Nachhilfeschule betreibt, und dem »Hundebräutigam«
Tarō, der zwar der äußeren Form nach ein Mensch ist, von seinem
Verhalten und Gewohnheiten jedoch an einen Hund erinnert. Tarō
kommt wie ein Hund in Mitsukos Wohnung angelaufen und verlässt
sie am Ende genau so streunend, wie er gekommen ist. Die animali-
schen Teile seiner Persönlichkeit harmonieren gut mit der unkonven-
tionellen Lehrerin Mitsuko, von der es heißt, sie sei vor zwei Jahren im
weißen Kleid auf einem Mountainbike aus dem Nichts aufgetaucht.
Zu Beginn der Geschichte erzählt Mitsuko ihren Zöglingen das
Märchen vom Hundebräutigam: Der Hund hat einer Prinzessin als
Kleinkind den Hintern sauber geleckt und erhielt dafür ihre Hand.
Als die Mütter der Kinder davon hören, sind sie zunächst verstört,
bis ein Spezialist aus dem Erwachsenenbildungszentrum sie darüber
aufklärt, die Geschichte gäbe es in der japanischen Tradition tatsäch-
lich. (Sie weckt auch Assoziationen mit Nansō Satomi hakkenden, Die
Erzählung von den acht Hunden des Satomi in Nansō, des Takizawa
Kyokutei Bakin, 1767–1848.) Kurz darauf – es sind Sommerferien und
die Nachhilfeschule ist geschlossen – erscheint ein kräftiger junger
Mann bei Mitsuko im Garten. Nach einem knappen Gruß (»Ist das
Telegramm angekommen?«) pellt er sie aus ihren Shorts und leckt
sie am Hintern. Danach zieht er wie selbstverständlich in ihr Haus

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_46, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
ein. Tagsüber schläft er, abends wird er munter, hat mit Mitsuko
Geschlechtsverkehr und macht die Wohnung sauber, nachts streunt
er herum. Seine Haare sitzen immer akkurat und er schwitzt nie.
Als die neugierigen Mütter zu Besuch kommen, meint eine ihn
zu erkennen. Er heiße Iinuma Tarō, habe früher in der Firma ihres
Mannes gearbeitet und eine Kollegin geheiratet. Seit drei Jahren sei er
verschwunden. Durch Gespräche mit dieser Mutter, Frau Orita, sowie
mit ihrem Mann erfährt Mitsuko etwas über Tarōs Vorgeschichte;
schließlich kommt es zur Begegnung mit Tarōs Ehefrau. Sie schildert,
wie ihr Mann bei einem Spaziergang von wilden Hunden angefallen
wurde und sich seitdem merkwürdig verhalten habe. Sie wolle ihn
nicht wiederhaben, sie betreibe vielmehr Kampfkunst, um ähnlich
sportlich zu werden wie er. In der Zwischenzeit hat Tarō ein homo-
sexuelles Verhältnis mit einem alleinerziehenden Vater begonnen,
dessen Tochter Fukiko in die Kitamura-Nachhilfeschule geht. Am
Ende der Geschichte sieht das Ehepaar Orita, wie Tarō und der Mann 195
vom Bahnhof Ueno aus eine unbestimmte Reise antreten; sie fahren
sofort zu Mitsuko und stellen fest, dass auch sie weg ist. Die Schule

YŌKO TAWA DA
ist geschlossen. Zwei Tage später erhalten die Oritas ein Telegramm,
Mitsuko habe Fukiko mitgenommen und sei weitergezogen.
Die Erzählung stellt in spielerischer Manier die blutleere Ordnung
des ›Nordbezirks‹ der ›Mütter‹ dem ›Südbezirk‹ Mitsukos und Tarōs
gegenüber, in dem noch archäologische Befunde aus der Urgeschichte
zu finden sind. Die Kitamura-Nachhilfeschule ist eine Freizone kind-
licher Körperlichkeit, wo offen über Nasenpopel und Rotz geredet
wird. So erzählt Mitsuko den Kindern, sie verwende jedes Papier-
taschentuch mindestens zweimal zum Schneuzen und dann erst,
um sich den Hintern abzuwischen (weil das Papier dann angenehm
durchgeweicht sei). Hier ist die Erzählung differenziert genug, die
Ambivalenz der Mütter zu zeigen, die zwar angewidert sind, denen
jedoch plötzlich unangenehm bewusst wird, wie trocken normales
Toilettenpapier ist. Die Erzählung thematisiert somit weniger den
Durchbruch der primitiven Welt und kindlicher sexueller Triebe in die
geordnete Welt der Erwachsenen als die Durchmischung beider Sphä-
ren im modernen postindustriellen Japan. MATTHEW KÖNIGSBERG
Joanne K. Rowling
* 31. Juli 1965 in Chipping Sodbury/South Gloucestershire
(Großbritannien)

1983–1987 Französisch- und Lateinstudium in Exeter; danach diverse


Tätigkeiten in London und Manchester; 1991–1992 Englischlehrerin
in Porto (Portugal), Beginn der Arbeit am Harry-Potter-Projekt; 1993
Umzug nach Edinburgh, dort Leben in relativer Armut; 1995 Pädago-
gik-Aufbaustudium; 1996 Lehrtätigkeit; 1997 Publikation des ersten
Harry-Potter-Romans, dessen beispielloser Erfolg ihr internationalen
Ruhm und großen Reichtum einbrachte.

Die Harry-Potter-Romane
Ab 1997 erschien eine Reihe von phantastischen Kinderbüchern, die
in kürzester Zeit eine phänomenale weltweite Popularität erlangten:
196 Harry Potter and the Philosopher’s Stone, 1997 (Harry Potter und der Stein
der Weisen); Harry Potter and the Chamber of Secrets, 1998 (Harry Potter und
die Kammer des Schreckens); Harry Potter and the Prisoner of Azkaban, 1999
(Harry Potter und der Gefangene von Askaban); Harry Potter and the Goblet of
Fire, 2000 (Harry Potter und der Feuerkelch); Harry Potter and the Order of the
Phoenix, 2003 (Harry Potter und der Orden des Phönix); Harry Potter and the
Half-Blood Prince, 2005 (Harry Potter und der Halbblutprinz), und schließ-
lich Harry Potter and the Deathly Hallows, 2007 (Harry Potter und die Heilig-
tümer des Todes).
Obgleich alle Bände ähnliche Titel und Handlungsschemata
aufweisen, handelt es sich streng genommen nicht um eine Serie,
sondern um eine Heptalogie, denn das Werk wurde von Anfang an
auf sieben Bände angelegt, die eine fortlaufende Geschichte erzählen,
wobei jeder Band ein Jahr erzählter Zeit umfasst. Die Grundidee der
im zeitgenössischen Großbritannien spielenden, aber gleichwohl
phantastischen Romane ist, dass es zauberkundige Menschen gibt, die
weitestgehend unerkannt unter den normalen Bürgern (den »Mug-
gels«) leben, dabei aber eine eigene Gemeinschaft bilden, mit einem
eigenen, auf Magie statt auf Technologie basierenden Lebensstil und
einer kompletten kommunalen Infrastruktur – einschließlich Verwal-
tung, Währung, Presse, Geschäften und Schulen.

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_47, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Im ersten Band erfährt der Protagonist, der bislang als Waise in
der Familie seiner Tante gelebt hat und dort wie ein ›Aschenputtel‹
behandelt wurde, an seinem elften Geburtstag, dass er zu den mit
magischen Fähigkeiten begabten Menschen gehört und von nun an
Hogwarts, die Internatsschule der Zauberer, besuchen darf. Aber auch
in der magischen Welt nimmt er eine Sonderstellung ein: Seine Eltern
wurden von einem mächtigen Zauberer, der sich der schwarzen Magie
verschrieben hatte, ermordet. Er selbst überlebte die Gewalttat als
Baby auf wundersame Weise und trägt seither eine Narbe in Form
eines Blitzes auf der Stirn.
In der folgenden, knapp ein Jahr umfassenden Handlung lernt
Harry nicht nur das Internatsleben kennen, gewinnt Freunde und
Feinde unter Schülern und Lehrern und studiert diverse Disziplinen
der Magie, sondern wird auch mit rätselhaften und bedrohlichen
Ereignissen konfrontiert, die darauf hindeuten, dass Voldemort, der
Mörder seiner Eltern, ihm nach dem Leben trachtet. Seit seinem 197
gescheiterten Versuch, sich die absolute Macht zu sichern, führt
Voldemort ein schattenhaftes, entkörperlichtes Dasein. Im ersten

JOA NNE K . ROW L ING


Band versucht er, sich mit Hilfe eines Lehrers des Steins der Weisen zu
bemächtigen, der ihm ewiges Leben schenken würde, was Harry aber
verhindern kann. Dass es sich dabei nur um einen Teilsieg handelt,
zeigen die folgenden Bände, in denen das im ersten Band etablierte
Handlungsschema (Ferien außerhalb des Internats – Reise nach Hog-
warts – Schulalltag – Kämpfe gegen Voldemort und seine Helfershel-
fer – Rückkehr in die Welt der Muggel) in seinen Grundzügen wieder-
holt, dabei aber immer komplexer ausgestaltet wird.
Der Reiz der Harry-Potter-Romane liegt wohl in der Verbindung
von archetypischen Handlungsmustern mit einer ungemein viel-
fältigen, detailliert geschilderten Phantasiewelt, die gleichwohl in
satirischer Verfremdung auch die alltägliche Erfahrungswirklichkeit
widerspiegelt. In dem über 3500 Seiten umfassenden Werk tritt eine
Vielzahl von Figuren auf, von denen nicht wenige über ihre zunächst
typenhafte oder skurrile Zeichnung hinauswachsen und Individuali-
tät erlangen. Zugleich webt Rowling mit spielerischer Leichtigkeit das
gesamte Erbe der kollektiven phantastischen Imagination des Abend-
landes ein – von Alraune bis Zentaur, von Aberglaube bis Zauberei –
und ergänzt es durch eigene skurrile Erfindungen. Die Darstellung
der Schulwelt folgt dem Muster des Schulromans, einer spezifisch
englischen Gattung mit 150-jähriger Tradition. Die dort üblichen
pädagogischen Einrichtungen und Gepflogenheiten sind durch den
magischen Kontext parodistisch verfremdet (besonders beliebt bei
jungen Lesern ist das auf fliegenden Besen in der Luft ausgetragene
»Quidditch«-Spiel); doch werden im Schulalltag zugleich alterstypi-
sche zwischenmenschliche Probleme und Konflikte ausgetragen, die
jugendlichen Lesern vertraut sein dürften.
Von christlich-fundamentalistischer Seite warf man den Harry-
Potter-Büchern Verherrlichung der Magie vor; andere Kritiker
deuteten ihren beispiellosen Erfolg als Indiz für ihre Trivialität.
Übersehen wird bei solchen Vorwürfen zum einen Rowlings spiele-
risch-ironischer Umgang mit Motiven, die seit Jahrhunderten ihren
festen Platz in der abendländischen Kultur haben; zum anderen, dass
198 die Harry-Potter-Bücher durchaus komplexe moralische Themen
behandeln. Gewiss bedienen die magischen Fähigkeiten der Figuren
Wunschphantasien der Leser, doch wird auch deutlich, dass das Zau-
bern schwer zu erlernen ist und sein Gebrauch Verantwortungsbe-
wusstsein erfordert. Selbst in den Anfangsbänden ist die Hauptfigur
Harry Potter niemals ein ungebrochen strahlender Held, sondern ein
eher mittelmäßiger Schüler, und für die Lösung seiner Aufgaben ist
er auf die Zusammenarbeit mit seinen Freunden und die Hilfe wohl-
gesonnener Lehrer angewiesen. Sein Überlebenskampf zwingt ihm
zunehmend schwierigere moralische Entscheidungen auf, konfron-
tiert ihn mit Gewalt, Tod und seiner eigenen Fehlbarkeit und stellt
ihn vor die Aufgabe, die Vergangenheit seiner Eltern zu erforschen
und damit seine eigene Identität zu suchen. Nur auf den ersten
Blick herrscht in den Anfangsbänden ein simples Gut-Böse-Schema,
und nachfolgend wird ein solches nachdrücklich infrage gestellt.
Die Harry-Potter-Bücher wurden inzwischen in über 60 Spra-
chen übersetzt; die Gesamtauflage wird auf weit über 300 Millionen
geschätzt. Nicht minder erfolgreich waren die Filmversionen. Im
Internet entwickelte sich eine reiche Fankultur, in der die Harry-
Potter-Welt eifrig diskutiert und durch eigenes Fortspinnen als ›fan
fiction‹ in alle Richtungen erweitert wird. DIETER PETZOLD
Walter Moers
* 24. Mai 1957 in Mönchengladbach (Deutschland)

Nach dem Schulabschluss und Gelegenheitsarbeiten kaufmännische


Lehre; erste Veröffentlichung 1985; Comic-Zeichner, Illustrator, Dreh-
buchautor, Schriftsteller; lebt in Hamburg.

Die Zamonien-Reihe
Im Jahr 1999 erschien mit Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär das erste
Buch der Zamonien-Reihe von Walter Moers, der die Bücher als Zeich-
ner auch mit zahlreichen Illustrationen ausstattet. In dem Roman
wird nicht nur der fiktionale Raum »Zamonien« erkundet und kartiert,
in dem ein buntes Bestiarium eigenen Gesetzen folgt, es werden auch
sonst programmatisch entscheidende, für die folgenden Romane
konstitutive Elemente gesetzt.
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass der Roman Homers 199
Odyssee zitiert und zugleich Attribute eines barocken Abenteuer-
romans aufweist. Zu Beginn hilflos im Ozean treibend, durchlebt

WA LT ER MOER S
der Protagonist, ein kleiner Bär, vom Zufall geleitet 13 Abenteuer,
die er mit eigener List und oft mit Hilfe unerwartet erscheinender
Wendungen und Figuren – etwa einem Flugsaurier namens Deus
X. Machina – jeweils glücklich bewältigen kann. Gleichfalls eingewo-
ben in diese Erzählung ist der biblische Mythos des Moses. Wie das
alttestamentarische Vorbild wurde der Blaubär angesichts von Ver-
folgung ausgesetzt und wird zum Retter seines Volkes, das er aus der
Gefangenschaft ins ›gelobte Land‹ führt. Zu erkennen sind aber auch
Motive des Entwicklungsromans, denn im Lauf der Irrfahrt bildet
sich der Protagonist in mehrerer Hinsicht aus, er wächst heran, lernt
seine Fähigkeiten kennen und verfeinert sie. So bestehen die Ziele
der Reise schließlich in der Vervollkommnung seines Selbst in Bezug
auf Bildung und Charakter und im Erkennen seiner Identität als
Blaubär, der Aufklärung seiner Herkunft sowie der Erfüllung seiner
Sehnsucht nach Liebe.
Eines der zentralen Kapitel des Romans ist das große Lügenduell
im »Megather« von Atlantis. Das kann der aus dem realen Fernsehen
bekannte »Lügenbär« für sich entscheiden, indem er Teile seiner wah-

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_48, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
ren Lebensgeschichte als Lügengeschichten zu präsentieren weiß,
wodurch es Moers gelingt, in so unterhaltsamer wie sublimer Weise
die Frage über das Verhältnis von Wahrheit, Kunst und Fiktion in den
Roman einzuschieben.
In weiten Teilen seiner Anlage präsentiert sich Die 13 1/2 Leben des
Käpt’n Blaubär zwar als barocker Abenteuerroman, doch Moers nutzt,
neben Elementen des Bildungs- und Entwicklungsromans, gezielt
auch Autobiographie, Künstlerroman, Schelmenroman, Schauer-
roman, Science Fiction-Roman, Fantasy-Roman und Mythen als
Folien.
Der zweite Zamonien-Roman Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamo-
nien von Hildegunst von Mythenmetz (2000) ist das Buch mit dem größten
Wiedererkennungswert der Vorlage, bezieht sich doch schon der Titel
unverwechselbar auf die Märchen der Brüder Grimm. Diese Referenz
ist jedoch vor dem Hintergrund der phantastischen Ausstattung kaum
200 wiederzuerkennen und dient lediglich als unterlegte Struktur.
Formal auffällig sind häufige durch die ›Abschweifungen‹ des
fiktiven Autors, des dichtenden Lindwurmes Hildegunst von Mythen-
metz, bedingte Perspektivenwechsel. Sie unterbrechen den Fortgang
der Erzählung; in ihnen wird unter anderem ein weitschweifiger satiri-
scher und selbstreferenzieller Diskurs über verschiedene Aspekte der
Literatur und des literarischen Schaffens geführt. Auf der Erzählebene
wird dieser literarischen Reflexion kunstvoll das Spiel mit Sein und
Schein gegenübergestellt, wenn sich mehrfach Handlungssequenzen
als Halluzinationen erweisen. Zuletzt wird noch eine Biographie Hil-
degunst von Mythenmetz’ geboten, geschrieben vom hier als fiktiver
Übersetzer und Herausgeber implementierten Walter Moers, in der
wiederum in satirischer Manier Formen des Schreibens diskutiert
werden, die sich auf den realen Autor Moers beziehen lassen. In viel-
facher Brechung also werden die Fiktionalität des Textes und Fragen
der Autorschaft und des Kunstschaffens im Text thematisiert, der sich
so in die Tradition des romantischen Kunstmärchens einordnet. Die
auf diese Weise verschachtelten Ebenen der Fiktionen erweitern sich
um eine weitere Dimension in die Realität, wenn Walter Moers auf
Plagiatsvorwürfe des Hildegunst von Mythenmetz in der Wochenzei-
tung Die Zeit eine Replik verfasst.
Ebenfalls auf ein Märchen, wenn auch nicht so komplex wie Ensel
und Krete, verweist der bisher jüngste Zamonien-Roman Der Schreck-
senmeister (2007). Hier überschreibt Moers Gottfried Kellers Märchen
»Spiegel das Kätzchen«, im Anagramm »Gofid Letterkerl« erscheint
der Hinweis auf den Autor der Vorlage.
2003 erschien der Roman Rumo & Die Wunder im Dunkeln, in dem
Moers erstmals einen ausgesprochenen Helden schafft, der mit
Attributen ausgestattet ist, die Siegfried, Parzival oder den Rittern
der Tafelrunde entlehnt werden. In klassisch auktorialer Erzählweise
berichtet der Roman im ersten Teil über das Aufwachsen Rumos
und das Absolvieren erster Abenteuer sowie vom Suchen und Fin-
den seiner Liebe, der Wolpertingerin Rala. Im zweiten Teil steigt
Rumo – Orpheus gleich – in die labyrinthische »Untenwelt« mit der
Hauptstadt »Hel«, um seine Geliebte und sein Volk daraus zu erretten.
Erneut lassen sich zahlreiche literarische Bezüge finden, die sich ver-
stärkt aus griechischen, biblischen und nordischen Mythen und Epen 201
speisen. Der Ton und die Handlung sind ernster und durchaus auch
gewalttätiger. Insofern kommt Rumo dem Genre klassischer Fantasy-

WA LT ER MOER S
Literatur näher, ohne jedoch wirklich darin aufzugehen, denn auch
hier treibt Moers das Genre über sich selbst hinaus zur kunst- und
liebevollen Parodie.
In der Rezeption hatte Die Stadt der Träumenden Bücher (2005)
den nachhaltigsten Erfolg. Hildegunst von Mythenmetz selbst ist
der Protagonist des Romans und berichtet als Ich-Erzähler von den
Erlebnissen, die ihm auf der Suche nach dem Verfasser einer perfek-
ten Dichtung widerfahren. Die Welt, in die er eintaucht, ist über- wie
unterirdisch eine Welt der Bücher, die Moers im wahrsten Sinne des
Wortes zum Leben erwachen lässt. Es ist ein in sich geschlossener
Buchkosmos aus ›echten‹ Labyrinthen und solchen des Wissens. Auf
interessante Weise spielt Moers hier mit dem Topos des Bösen, das
scheinbar im Schattenkönig verkörpert ist, dem Attribute aus den
Klassikern der Horrorliteratur eigen sind. Er erweist sich aber als der
von Hildegunst von Mythenmetz gesuchte geniale Verfasser, der
durch die als satirischen Hieb auf den Literaturbetrieb zu verstehende
Personifikation des Gierigen, den Verleger Phistomefel Smeik, zu
einem aus Büchern zusammengesetzten Monster zugerichtet worden
ist. Der Schattenkönig opfert sich schließlich, um Smeik zu vernich-
ten, sich und die Bücherwelt zu erlösen und gleichzeitig das Orm, die
geniale schriftstellerische Inspiration, wieder in die Welt zu bringen.
Dieses Orm befähigt Hildegunst von Mythenmetz schließlich, seinen
Bericht über das Erlebte als Dichtung zu verfassen, so dass sich der
Kreis schließt und das Buch von vorne beginnt. Motivisch ist Die Stadt
der Träumenden Bücher der dichteste Roman der Zamonien-Reihe, eine
Allegorie der Literatur in allen ihren Facetten, ein Buch über Bücher,
eine phantastische Feier des geschriebenen Wortes, ein Plädoyer für
das Lesen und die Phantasie.
Die Klassifizierung der Romane Moers’ unter dem Aspekt einer
eindeutigen Genrezuordnung birgt die Gefahr eines voreiligen
Schlusses. ›Fantasy-Literatur‹ ist der in der Rezeption meistgenannte
Begriff, doch er trifft den Kern nur zum Teil. Das Spiel mit den Tradi-
tionen und der universelle Gebrauch von Literatur als frei zur Verfü-
202 gung stehendes Material legen vielmehr den Gedanken an eine post-
moderne Schreibweise nahe. Moers’ literarische Methode erweist sich
nicht erst auf den zweiten Blick als intertextuell, selbstreferenziell und
ironisch und bewegt sich ohne Angst vor Widersprüchen schwankend
zwischen Parodie und Hommage. Die immer wieder auffallenden
Anleihen, Bezüge oder Parallelen zu Autoren wie Melville, Poe, Verne,
Dante, Grimmelshausen, Cervantes, Lovecraft und D. Adams – um
nur einige wenige zu nennen – sind Programm. Lässt man sich nicht
zu sehr vom ungewohnten Personal und den Geschehnissen ablen-
ken, so offenbart sich zudem eine große strukturelle Nähe zu post-
modernen Autoren wie Umberto Eco und Italo Calvino. Im Vergleich
zu Autoren der klassischen Fantasy-Literatur wie J. R. R. Tolkien,
J. K. Rowling oder Michael Ende verzichtet Moers bezeichnender-
weise auf die zentrale Inszenierung der großen Meta-Erzählung vom
alles umfassenden und alle einbeziehenden Kampf zwischen Gut und
Böse. Zwar ist diese Dichotomie immer deutlich präsent, doch erlangt
sie nie jenes schnell ideologisierende Übergewicht.
Moers entzieht sich somit einer stringenten literarischen Zuord-
nung und bewegt sich bewusst in einem breit angelegten, fluktuie-
renden literarischen Feld. Durch die Vielzahl der Zitate geraten die
Romane zu einem im romantischen Sinne ironisch-literarischen
Vexierspiel, wobei sich die Bezüge und Zitate geschickt auf alle Ebe-
nen des Schreibens verteilen, sei es in Form von Anagrammen, Wort-
spielen, personellen, motivischen und strukturellen Bezügen.
Die Figur des Hildegunst von Mythenmetz darf sicher als Alter
ego von Walter Moers gelesen werden, denn sie trägt einen für den
Autor und seine schriftstellerische Methode programmatischen
Namen. Versteht man nämlich ›Mythos‹ dem puren Wortsinn nach
als Erzählung, Rede, Geschichte, so steht im übertragenen Sinne alles
Erzählte als Rohmaterial seinem Schaffen zur Verfügung wie dem
Steinmetz der Stein. Das Vorgefundene wird von ihm umgeschrieben,
überschrieben und virtuos in parodistisch-dekonstruktiver Manier
zu neuen Geschichten geformt. Dass Moers sich auch anderer Gen-
res bedient – vom Comic bis zum Lexikonartikel –, kann dabei nicht
überraschen. Der Leser wird eingeladen, zu suchen, zu probieren, den
vielen versteckten Rätseln auf den Grund zu gehen und vielfältigen
Sinn zu entdecken. Dabei stört keineswegs, dass mitunter Vorbilder 203
in die Texte hineingelesen werden, die Moers nach eigener Aussage
nicht kennt oder nie gelesen hat, denn Intertextualität überschreitet

WA LT ER MOER S
bekanntlich die Autorschaft. Die postmoderne Schreibweise beweist
das Funktionieren der von Wolfgang Iser entworfenen Rezeptions-
theorie der Erweiterung von Literatur im Akt des Lesens – eine Erwei-
terung, die, am Rande bemerkt, auf der Website www.nachtschule.de
von den Lesern ganz konkret durchgeführt wird.
DIRK ENGELHARDT
Johanna Sinisalo
* 22. Juni 1958 in Sodankylä (Finnland)

Studium der Literatur- und Theaterwissenschaften an der Universität


Tampere, anschließend Tätigkeit in der Werbebranche; ab 1997 freie
Schriftstellerin; 2000 Debütroman; Autorin von Texten für Radio,
Fernsehen und Film, darunter auch die finnisch-deutsch-australische
Koproduktion Iron Sky, sowie von Romanen mit den Schwerpunkten
Science Fiction und Fantasy.

Troll. Eine Liebesgeschichte / Ennen päivänlaskua ei voi


Vor dem Hintergrund einer subtil verzerrten Wirklichkeit setzt sich
die Autorin in ihrem 2000 erschienenen Debütroman kritisch mit
sozialen Konstrukten auseinander, allen voran mit Heteronormati-
vität. Anders als in der spekulativ fantastischen Kurzprosa, mit der
204 sich Sinisalo vor Veröffentlichung ihres Debütromans einen Namen
gemacht hat, zeichnet die Autorin in Ennen päivänlaskua ei voi ein
scheinbar realistisches Abbild der Welt. Teil dieser Welt ist jedoch
auch ein Wesen aus der nordischen Mythologie: der Troll, finnisch
»peikko«.
Der Roman spielt in der Schwulenszene der westfinnischen
Großstadt Tampere und erzählt von dem homosexuellen Werbefoto-
grafen Mikael Hartikainen, der wegen seiner engelhaften Gestalt auch
Angel genannt wird. Eines Nachts verlässt er stark alkoholisiert seine
Stammkneipe und findet auf dem Heimweg einen geschwächten
Jungtroll, den er gegen das Gesetz mit in seine Wohnung nimmt. Er
ist dem seltenen Raubtier vom ersten Moment an verfallen, was nicht
zuletzt an den aphrodisierenden Duftstoffen liegt, die es in Angels
Wohnung verströmt. Die nächsten Tage verbringt Angel damit, sich
im Internet und in Bibliotheken über die Lebensgewohnheiten von
Trollen kundig zu machen. Seine Recherche führt ihn durch Mythen-
kunde, Volksdichtung und Biologie. Während der Troll zu Kräften
kommt, gerät Angels Leben allmählich außer Kontrolle. In den Duft
des Trolls gehüllt, wirkt Angel auf sein Umfeld wie ein Magnet, doch
sein Begehren nach dem Tier ist mittlerweile zur alleinigen Triebfeder
seines Handelns geworden. Schließlich scheitert der Versuch, den

S. Neuhaus, Kindler Kompakt: Märchen,


DOI 10.1007/978-3-476-04359-7_49, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017
Troll vor der Außenwelt zu verstecken. Angels Geliebter bezahlt dafür
mit dem Leben. Am Ende flüchtet Angel mit dem Troll in ein Natur-
schutzgebiet, wo die beiden auf einen ausgewachsenen Troll treffen,
der sie zu einer Höhle bringt.
Neben den Schilderungen des Protagonisten wird die Handlung
von Personen getragen, die in einem engen Verhältnis zu Angel ste-
hen, unter ihnen Angels Exfreund »Spiderman«, sein Geliebter Ecke
und sein heterosexueller Kompagnon Martes, der als gerissener
Karrierist dargestellt wird. Als einzige Frau kommt Angels Nachbarin
Palomita zu Wort, eine junge ›Katalogbraut‹ von den Philippinen, die
von ihrem finnischen Mann wie eine Sklavin behandelt wird und sich
im Umgang mit Angel von ihren Fesseln löst.
Der narrativen Ebene sind Fragmente aus unterschiedlichen
Quellen gegenübergestellt, die von der Autorin zum Teil verändert
oder gar frei erfunden wurden. Auf diese Weise erfahren die Leser
auch, dass sich Schriftsteller und Kulturwissenschaftler in ihren 205
Werken schon vor mehr als 100 Jahren mit der Existenz von Trollen
beschäftigt haben.

JOH A NNA SINISA L O


Die intertextuellen Bezüge reichen von Standardwerken der fin-
nischen Literatur, wie Elias Lönnrots Kalevala-Epos oder Aleksis Kivis
Roman Seitsemän veljestä über wissenschaftliche Publikationen hin zu
populären Liedern. So besteht der Roman aus fünf Teilen, deren Über-
schriften dem Lied Päivänsade ja menninkäinen (Der Sonnenstrahl und
der Troll) von Reino Helismaa entnommen sind und die Handlung
der folgenden Kapitel heraufbeschwören. In Anlehnung an Yrjö Kok-
kos Märchen Pessi ja Illusia nennt Angel seinen Troll »Pessi«. Die glaub-
würdig gestaltete Verflechtung von Fakten und Fiktion nutzt Sinisalo,
um dem Leser fast beiläufig eine Welt zu präsentieren, in der herr-
schende soziale Normen auf den Kopf gestellt sind. Heterosexuelle
Männer sind hier nur Statisten, vermeintliche Randfiguren hingegen
selbstbewusste Akteure. Dreh- und Angelpunkt dieser Inversion ist
der Troll, dessen Präsenz das menschliche Beziehungsgeflecht aus den
Fugen geraten lässt. MAXIMILIAN MURMANN
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungs-
beständigemPapier

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


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ISBN 978-3-476-04358-0
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J.B. Metzler, Stuttgart


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