MÄRCHEN
J. B. Metzler Verlag
Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbei-
teten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz
Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl
verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert.
Märchengeschichte(n)
EINLEITUNG
Grimm, auch diese Schreibung ist ein populärer Irrtum).
Als die Brüder Grimm 1812 den ersten und 1815 den zweiten Band
ihrer Kinder- und Hausmärchen veröffentlichten, konnte niemand ahnen,
am wenigsten sie selbst, welchen Erfolg sie damit haben würden. Die
beiden Kasseler Studenten und späteren Bibliothekare waren 1806
von Clemens Brentano zum Sammeln von Märchen angeregt worden.
Brentano, einer der wichtigsten Vertreter der Heidelberger Roman-
tik, hatte 1805 bis 1808 mit Achim von Arnim die für die sogenannte
›Volkspoesie‹ nicht weniger einflussreiche Sammlung Des Knaben
Wunderhorn veröffentlicht, eine Sammlung von Liedtexten, die für alle
populären Anthologien von sogenannten Volksliedern grundlegend
geworden ist. Doch verlor Brentano bald das Interesse an der Heraus-
geberschaft solcher Märchenüberlieferungen und die Grimms waren
klug genug, eine Abschrift anzufertigen, bevor sie dem unzuverläs-
sigen Bekannten das dann für lange Zeit verschollene Ergebnis ihrer
Sammeltätigkeit zuschickten.
Beide Sammlungen, die Lieder und die Märchen, waren eigentlich
Editionsprojekte. Dem Programm der Romantik gemäß gaben sie vor,
grundlegende Texte der deutschsprachigen Kultur und insbesondere
des Mittelalters, die vor allem mündlich überliefert worden waren,
durch schriftliche Tradierung vor dem Vergessen zu bewahren und
einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Bis zu
diesem Zeitpunkt war »Märchen« noch ein offener Gattungsbegriff
im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung ›kleine Erzählung‹, wie
beispielsweise die Sammlung von Johann Karl August Musäus zeigt
(Volksmährchen der Deutschen; 1782–1786), in die auch ganz selbstver-
ständlich Sagen aufgenommen sind, etwa um die populäre Gestalt des
Rübezahl; bei Musäus sind diese Texte sogar als »Legenden« bezeich-
net. Dazu kommen Schauergeschichten, eine Tradition, die bei-
spielsweise Wilhelm Hauff später mit seinen Märchensammlungen
fortsetzen wird (man denke an Die Geschichte von dem Gespensterschiff
aus seinem Märchen-Almanach Die Karawane). In der zweiten Hälfte
der 1820er Jahre, also um die Zeit, in der Hauff seine bekannten Mär-
10 chen veröffentlichte (etwa Der kleine Muck und Das kalte Herz), konnten
die Kinder- und Hausmärchen, die zunächst ein verlegerischer Flop
waren, überhaupt erst ein größeres Publikum für sich gewinnen. 1825
erschien die »Kleine Ausgabe«, eine von Bruder Ludwig Emil Grimm
illustrierte Auswahl von 50 Texten. Sie formte die ›Gattung Grimm‹
und prägte die heutige Auffassung von dem, was in unserem Kultur-
kreis allgemein unter Märchen verstanden wird.
Dabei handelt es sich keineswegs, wie die Grimms im Geist der
Zeit behaupteten, um volkstümliche Erzählungen, die sie älteren
Frauen in ihren bäuerlichen Spinnstuben abgelauscht hatten und die
vorher mündlich tradiert worden waren. Die meisten Märchen gehen
auf bekannte frühere Sammlungen zurück, etwa auf Giambattista
Basiles Pentamerone oder auf Charles Perraults Die ergötzlichen Nächte.
Es handelte sich oft um Erzählungen, die von den gebildeten Frauen,
mit denen die Grimms Kontakt hatten, nacherzählt oder die von den
bibliothekserfahrenen Brüdern selbst zu Rate gezogen wurden. Die
Überlieferungsgeschichte hat vor allem Heinz Rölleke erforscht, dem
wir auch die Historisch-kritische Ausgabe der Märchen verdanken.
Und Lothar Bluhm hat, angesichts der Quellenlage, den Terminus
›Buchmärchen‹ vorgeschlagen. ›Volksmärchen‹ ist der missverständ-
liche, aber (etwa durch Max Lüthi) populär gewordene Begriff, wenn
man Märchen als Gattungsbegriff weiter unterteilt. Ihm zur Seite lässt
sich das ›Kunstmärchen‹ stellen, das sich in einigen wichtigen Punk-
ten vom Volksmärchen unterscheidet.
Auch das Kunstmärchen wird in der Zeit der Romantik so geprägt,
wie wir den Begriff heute verwenden. Entscheidend hierfür ist wieder
eine Sammlung von Texten, deren Erfolg nicht vorherzusehen war.
Der sich im oberfränkischen Bamberg mit Arbeiten am Theater und
als Musiklehrer nur mühsam über Wasser haltende, eigentlich als
Jurist ausgebildete (als solcher wird er später noch Karriere machen)
Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann, der aus Liebe zu Mozart seinen
dritten Vornamen in Amadeus ändert, schließt mit einem Bamberger
Weinhändler und Kleinverleger einen Vertrag über die schließlich
1814/15 in zwei Bänden erschienenen Fantasiestücke in Callot’s Manier.
Der Titel spielt auf Jacques Callot an, einen lothringischen Zeichner
und Kupferstecher. Einer der Texte der Sammlung, Der goldne Topf,
trägt den Untertitel »Ein Märchen aus der neuen Zeit« und erzählt 11
die Geschichte des Studenten Anselmus, der sich im Dresden der
damaligen Gegenwart (das teilweise auch Bamberg nachgebildet ist)
EINLEITUNG
in Serpentina verliebt. Serpentina ist allerdings eine Schlange und die
Tochter des Archivarius Lindhorst, der wiederum, aus der Familie der
Salamander stammend, aus Atlantis verbannt wurde und nun auf der
Erde nach geeigneten Brautwerbern für seine drei Töchter sucht. Die
Bewohner Dresdens sind (mit einem Begriff der Zeit) Philister, also
engstirnige Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, das Wunder-
bare wahrzunehmen, und stattdessen alltägliche Erklärungen dafür
suchen. Erst als Anselmus bereit ist, die Realität der Wunderwelt
anzuerkennen, kann er Serpentina auch ganz lieben, heiraten und
mit ihr nach Atlantis ziehen. Der letzte Satz des nicht nur im romanti-
schen Sinne ironischen Märchens verweist auf seine philosophisch-
allegorische Deutungsebene: »Ist denn überhaupt des Anselmus
Seligkeit etwas Anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige
Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimniß der Natur offenbaret?«
Das »Leben in der Poesie« als Bereicherung des wirklichen Lebens auf-
zufassen, wird Folgen haben, wie wir beispielsweise an Michael Endes
Die unendliche Geschichte aus dem Jahr 1979 sehen können. Dort ist es der
junge Bastian, der nach Phantásien reist, in ein Buch im Buch, um die
Welt der Fantasie zu retten und damit auch sich selbst. Seine Reise, die
nicht nur deutliche Anklänge an Hoffmanns Märchen, sondern auch
an Novalis’ Märchenroman Heinrich von Ofterdingen (1802) aufweist, ist
eine Bildungsreise im besten Sinn, denn sie befähigt den Jungen, sich
seinem alleinerziehenden Vater zuzuwenden, der über den Tod von
Bastians Mutter noch nicht hinweggekommen ist.
Hoffmann wird noch eine Reihe anderer berühmt gewordener
Märchen schreiben, etwa Nußknacker und Mausekönig (1816), das von
Pjotr Iljitsch Tschaikowski für seinen weltberühmtes Ballett Der Nuß-
knacker (1892) adaptiert wurde. Auch wenn es bedeutende Vorläufer für
Hoffmanns Märchenkonzept gibt, etwa Christoph Martin Wielands
Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder Die Abentheuer des Don Sylvio
von Rosalva. Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht von
1764, und auch wenn sich Hoffmann an den Märchen-Erzählungen
Ludwig Tiecks orientiert, kann man ihm eine vergleichbare Bedeu-
12 tung für die Entwicklung der Gattung zuschreiben wie den Brüdern
Grimm. Der goldne Topf ist das erste moderne Kunstmärchen und
zugleich das erste Wirklichkeitsmärchen, denn die Handlung spielt
auf zwei voneinander getrennten, durch Figuren und Übergänge
miteinander in Beziehung gesetzten Ebenen, von denen die eine der
zeitgenössischen Realität nachgebildet ist. Die andere nutzt Vorstel-
lungen von Mythologie und Aberglauben. In dieser zweiten Welt sind
die Naturgesetze außer Kraft, Menschen verwandeln sich in Tiere,
Tiere können sprechen und die Welt ist voller Magie, keineswegs nur
von der ungefährlichen Sorte. Der Dualismus der zwei Welten wird
gattungsbildend, wie man an so berühmten neueren Beispielen wie
den Chronicles of Narnia von Clive Staples Lewis (1950–1956; noch ohne
Artikel im Kindler) oder den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Row-
ling (1997–2005) sehen kann.
Dass Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, gilt auch für
andere Gattungen, die sich erst noch entwickeln, etwa für die literari-
sche Fantastik, an deren Beginn wieder Hoffmann steht. Es war eine
falsche Übersetzung des Titels der Fantasiestücke, durch die der Begriff
der Fantastik oder Fantasy geboren wurde und so seinen Siegeszug
antreten konnte. Zweifellos war Hoffmann ein außergewöhnlich
talentierter Mensch. Er dichtete, komponierte (am bekanntesten
ist noch seine romantische Oper Undine nach dem Märchen von
Friedrich de la Motte Fouqué), zeichnete und wurde zu einem der
führenden Juristen seiner Zeit, dem sein Scharfsinn aber beinahe
zum Verhängnis geworden wäre. Sein romanlanges Märchen Meister
Floh von 1822 karikiert, in Gestalt eines hohen Regierungsvertreters,
die politische Verfolgung Andersdenkender in Preußen. Hoffmanns
Begabungen erklären einen Teil seines Erfolgs, aber nicht den ganzen,
denn Hoffmann war auch ein Vielschreiber, der Verlegern vor allem
des Geldes wegen das Blaue vom Himmel versprach, diese Verspre-
chen oft genug nicht hielt und manchmal die Übersicht verlor, weil er
einzelne Kapitel bereits ohne Abschrift abgeschickt hatte und nicht
mehr so genau wusste, was seine Figuren bereits alles erlebt hatten.
Aus heutiger Sicht könnte man sagen: Hoffmann und die Brüder
Grimm waren die richtigen Autoren zur richtigen Zeit, damit das
Märchen so, wie wir es heute kennen, entstehen und solchen Erfolg
haben konnte. 13
Denn um zu erkennen, ob Naturgesetze gelten oder nicht, muss
es erst welche geben – oder vielmehr ein Bewusstsein dafür. Beides
EINLEITUNG
hat sich mit der Abkehr vom christlichen zum naturwissenschaft-
lichen Weltbild seit dem 18. Jahrhundert entwickelt. Noch im 18. Jahr-
hundert wurden Frauen als Hexen verbrannt, weil man glaubte, dass
sie übernatürliche Fähigkeiten besitzen und zum Schaden ihrer
Mitbürger gebrauchen. Solche Vorstellungen werden im Zeitalter der
Aufklärung unzeitgemäß, zugleich werden sie aber auch produktiv
für die Fantasie, um die es Autoren wie Hoffmann ganz besonders
geht. Am Beginn von Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen (1819)
wird, weil der Fürst eines kleinen deutschen Landes die Aufklärung
einführt, alles wunderbare Personal des Landes verwiesen, auch
die gute Fee Rosabelverde, die allerdings, wie der für die Handlung
nicht weniger wichtige Zauberer Prosper Alpanus, eine bürgerliche
Existenz annimmt, um sich weiterhin im Land aufhalten zu können.
Der Rationalismus der Aufklärung führt, wie Hoffmann auf ebenso
ironische wie humorvolle Weise zeigt, zu Verwerfungen und Einsei-
tigkeiten. Das Pendel schlägt zur anderen Seite aus und dem Licht der
Aufklärung, das zu Bevölkerungswachstum, Bildung und Wohlstand
führt, entspringt ein oftmals in seiner Bedeutung nicht gesehener
Schatten. Ein Schatten, den Adelbert von Chamisso in Peter Schlemihl’s
wundersame Geschichte (1814) seinem Protagonisten von einer Teufels-
figur abhandeln lässt. E. T. A. Hoffmann wird das Motiv in Die Abenteuer
der Sylvester-Nacht (1815) variieren, hier ist es ein Spiegelbild, das abhan-
denkommt. Die Tradition eines solchen Handels mit dem Teufel, der
als Allegorie auf die Verdrängung des Anderen im Eigenen gelesen
werden kann, lässt sich bekanntlich in vielen weiteren Texten und
Variationen finden.
Selbst die Kinder- und Hausmärchen enthalten zunächst noch Texte,
die wir heute eher als Sagen oder Legenden klassifizieren würden. Es
ist der fortdauernden Bearbeitung, Auswahl und Gestaltung durch
Wilhelm Grimm zu verdanken, dass die Märchen die für uns heute
so natürlich scheinenden Merkmale erhalten, die formelhaften Wen-
dungen wie »Es war einmal« oder »Und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie noch heute«, die eindimensionalen, moralisch
14 eindeutig positionierten Figuren (gut oder böse), die typischen Hel-
ferfiguren und magischen Requisiten. Doch auch wenn die Brüder
Grimm und E. T. A. Hoffmann den Gattungsbegriff des Märchens und
die gängigen Unterbegriffe Volks-, Kunst- und Wirklichkeitsmärchen
durch ihre Texte prägen, so ist ihre Arbeit weder voraussetzungslos
noch ist das, was man im Diskurs über die deutschsprachige Literatur
als grundlegend ansieht, bindend für andere Literaturen, auch wenn
sich, wie die vorliegende Sammlung zeigt, viele Tradierungen und
Adaptionen dieser Märchenkonzepte in anderen Ländern (etwa in
den beiden Sammlungen Norske Folkeeventyr / Norske Huldreeventyr og
Folkesagn, dtsch. Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus Norwegen,
von 1843–1848) und Kulturkreisen (etwa in Narodnye russkie skazki, den
Russischen Volksmärchen von 1855–1863, oder in Abubakar Imams Magana
Jari Ce, dtsch. Worte sind ein Schatz, von 1937–1939) finden lassen.
Wie alles, was Menschen gemacht oder erdacht haben, ist auch
das Märchen Ergebnis eines von zahlreichen Faktoren beeinflussten,
Sprach- und Ländergrenzen überschreitenden, kulturellen Entwick-
lungsprozesses. Die neuhochdeutschen Wörter ›Märchen‹ und ›Mär-
lein‹ oder das mittelhochdeutsche ›maerlîn‹ sind Verkleinerungsfor-
men zu ›Mär‹, mittelhochdeutsch ›maere‹, althochdeutsch ›mârî‹. Die
ursprüngliche Bedeutung entspricht den Begriffen ›Kunde‹, ›kurzer
Bericht‹ oder ›kurze Erzählung‹. Im französischen ›contes de fées‹ oder
englischen ›fairy tale‹ ist auch Kunde und Erzählung enthalten, es wird
zusammengebracht und zusammengedacht mit dem Figurentypus
der Fee, der freilich nicht in allen Märchen vorkommt. Die Populari-
sierung der Gattung im 18. Jahrhundert ging vor allem von Frankreich
aus, so dass im Deutschen auch der Begriff der ›Feenmärchen‹ üblich
wurde, bevor die Suche nach der für eine deutsche Kulturnation als
notwendig erachteten, ursprünglichen ›Volkspoesie‹ begann, eine
Suche, die ebenso ein Rekonstruktions- (man denke an Editionen
mittelalterlicher Dichtungen, etwa des Nibelungenliedes) wie Kon-
struktionsprozess war. Und hierfür sind die Kinder- und Hausmärchen
ein gutes Beispiel, weil sie, wie Beat Mazenauer und Severin Perrig an
Beispielen gezeigt haben, Stofftraditionen aufnahmen und einer für
die damalige Zeit typischen Auffassung von tugendhafter Bürgerlich-
keit anpassten.
Die Veränderungen sind gravierend, ein Beispiel ist die Figur des 15
Dornröschen. In dem altfranzösischen Le Roman de Perceforest (um
1330) sticht sich Prinzessin Zellandine beim Spinnen mit einer Flachs-
EINLEITUNG
faser, fällt in einen totenähnlichen Schlaf und wird in einem Turm-
zimmer aufgebahrt. Dort findet sie Prinz Troylus mit Hilfe des Gottes
Amor und der Göttin Venus, die ihn dazu verführen, die Prinzessin
zu küssen und mit ihr zu schlafen. Zellandine wird schwanger und
bekommt einen Sohn, der ihr die Flachsfaser aus dem Finger lutscht
und sie so von dem im Mittelalter gefürchteten Zustand des Schein-
todes befreit. In Sonne, Mond und Talia, einem Text aus Giambattista
Basiles Lo cunto de li cunti o vero lo trattenimiento de peccerille, in Anspie-
lung auf Boccaccios Dekameron auch Pentameron genannt (1634), ist der
ritterliche Regelkodex durch einen höfischen ersetzt worden. Talia
wird durch eine Hanffaser in einen totenähnlichen Schlaf versetzt.
Ein König findet sie und zeugt mit ihr Zwillinge. Die eifersüchtige
Gemahlin, eine Menschenfresserin, befiehlt, die Kinder zu kochen
und ihrem Vater als Speise vorzusetzen, die Nebenbuhlerin Talia soll
verbrannt werden. Der Koch führt den Befehl nicht aus, der König
rettet Talia vor dem Feuer und lässt stattdessen seine hinterhältige
erste Frau verbrennen. In Charles Perraults Die schlafende Schöne im
Walde (La Belle au bois dormant) aus seinen Histoires ou contes du temps
passé, avec des moralitez von 1697 finden sich sieben Feen, die als Patin-
nen geladen werden und der Prinzessin Gaben verleihen sollen. Dabei
ist vergessen worden, eine alte Fee einzuladen, die einen Spindelstich
mit tödlicher Wirkung vorhersagt, der von einer jungen Fee in einen
hundertjährigen Schlaf umgewandelt wird. Das ganze Schloss fällt in
tiefen Schlaf. Nach der Erlösung durch den Prinzen wird geheiratet
und die Ehe vollzogen. Jacob Grimm wurde die Geschichte von Marie
Hassenpflug erzählt, die mit der französischen Märchentradition
vertraut war, also mit Perrault und mit Mme d’Aulnoy, die Motive des
Stoffes in ihrem Märchen Die Hirschkuh im Walde (1698) verarbeitete.
Bei den Grimms sind es nun zwölf bzw. 13 Feen, die Tugendhaftigkeit
der guten Figuren wird betont, die Sprache wird einfach und formel-
haft, die Figurenzeichnung wird eindimensional, Erotik und Sexuali-
tät werden ausgespart.
Die Gattung des Märchens ist, wie wir sehen, wenn wir auf die
16 Anfänge der Entwicklung ihrer Stoffe und Merkmale schauen, ein
Hybrid aus verschiedenen Gattungstraditionen und kulturellen Ein-
flüssen. Man könnte, um nur zwei besonders bekannte Beispiele zu
nennen, bis zu Homer und seiner Odyssee oder bis zu Ovid und seinen
Metamorphosen zurückgehen, um zu zeigen, dass die Verwandlung von
menschenähnlichen Figuren in Tiere, die Ausstattung solcher Figuren
mit magischen Fähigkeiten, das Nichtbeachten von (damals weitge-
hend unbekannten) Naturgesetzen tiefe Wurzeln in der Geschichte
der Weltliteratur hat. Diese hier vorliegende Auswahl beginnt mit der
Geschichte vom Bambussammler (entstanden um 900), um das Aufkom-
men solcher Motivtraditionen in verschiedenen Kulturkreisen zu
zeigen. Wenn es nicht anachronistisch wäre, weil es Nationen im heu-
tigen Sinn nicht gab oder mit den antiken griechischen und römischen
Staaten höchstens Vorläufer davon, dann könnte man sagen, dass Lite-
ratur bis ins zweite Jahrtausend auf ganz selbstverständliche Weise
international war. Das gebildete Publikum war klein und informierte
sich länder- und kulturkreisübergreifend, es bediente sich bei dem,
was es für geeignet für die eigene Arbeit und Vorstellungswelt hielt
und integrierte es, so wie bereits die Römer die griechische Mytholo-
gie übernommen und verändert haben. Von Vorstellungen des geis-
tigen Eigentums oder Copyrights, wie sie sich in westlichen Gesell-
schaften des 19. Jahrhunderts entwickeln, ist dies so weit entfernt wie
nur möglich. Das zeigt sich prägnant in Tausendundeine Nacht (Alf laila
wa-laila), hier sind die Herkünfte der Erzählungen und ihre Verfasser
weitgehend unbekannt. Das Muster einer Rahmenerzählung mit Bin-
nengeschichten findet sich ebenso in Giovanni Boccaccios Decameron.
Prencipe Galeotto (gedruckt 1470). Diese beiden Sammlungen werden
prägend für die späteren Novellen- und Märchenzyklen, auf Basiles
Pentameron wurde bereits hingewiesen. Im 18. und 19. Jahrhundert
beeinflussen sie dann die deutschsprachige Literatur, von Goethes
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) als erstem, berühmt
gewordenem deutschsprachigen Novellenzyklus, der mit Das Mär-
chen schließt, über Tiecks Phantasus (1812–1816) und Hoffmanns Die
Serapions-Brüder (1819–1821) bis zu den Märchenalmanachen Hauffs
(1826–1828) und über sie hinaus.
17
Einflüsse von Glauben und Aberglauben
EINLEITUNG
Menschen, ob es nun religiös bestimmt wird oder im Sinne dessen,
was wir als Aberglauben bezeichnen, tradiert wird. Menschen suchen
nach Sinn und nach Erklärungen, für ihr Leben und für die (Um-)
Welt, in der sie leben. Das, was uns ausmacht, uns umgibt und uns
geschieht, als Produkt einer mehr oder weniger zufälligen Kette von
Entwicklungen zu betrachten, ist erst seit Charles Darwins Lehre von
der Entwicklung der Arten im 19. Jahrhundert ein breiter diskutiertes
Erklärungsmodell geworden, allerdings werden in den Naturwissen-
schaften kausale Zusammenhänge favorisiert. In der Wissenschaft
gibt es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seit diszipli-
nübergreifend diskutierte Theoriemodelle wie Konstruktivismus,
Diskursanalyse oder Dekonstruktion Konjunktur haben, eine breitere
Basis für die Auffassung, dass – mit Michel Foucault gesprochen – alles
auch ganz anders sein könnte und dass sich das, was ist, aus heteroge-
nen, komplexen Gründen so entwickelt hat. Diese »gesteigerte Kon-
tingenzerfahrung« (Hans Joas) prägt unsere (post-)moderne Zeit, aber
nicht die vorhergehenden Zeitalter.
Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto mehr ist das, was wir
als Merkmale von Märchen ansehen, Bestandteil allgemeiner religiö-
ser Vorstellungen oder ihrer allegorischen Gestaltung. Auch die Bibel
ist eine Textsammlung, die mit Motiven arbeitet, die wir als Merkmale
des Märchens wiederfinden. Dazu gehören Eingriffe anderer, höhe-
rer Ordnungen in das Handeln der menschlichen Figuren, magische
Eigenschaften und Requisiten. Wenn wir noch weiter zurückgehen,
stoßen wir auf die antike Götterwelt, auch sie ist zum Stoff- und
Ideenlieferanten des Märchens geworden. Erst im 18. Jahrhundert, in
dem das christliche Weltbild durch ein naturwissenschaftliches abge-
löst wird, wird es möglich, jene fundamentale Unterscheidung von
Religiösem oder Übernatürlichem einerseits und einer durch Natur-
gesetze bestimmten Alltagswelt andererseits zu treffen. Allerdings
ist ein Defizit an Transzendenz entstanden, das auf unterschiedliche
Weise kompensiert wird. Michel Foucault hat in diesem Zusammen-
hang festgestellt (in seiner Studie Folie et déraison, dtsch. Wahnsinn und
18 Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, von 1961):
»Was die [französische Epoche der] Klassik eingeschlossen hatte, war
nicht nur eine abstrakte Unvernunft, in der sich Irre und Freigeister,
Kranke und Verbrecher vermischten, sondern auch eine gewaltige
Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren [...].«
Die Monster bevölkern nun die Literatur, die ihnen ein Gesicht gibt,
man denke an die im 19. Jahrhundert von Mary Shelley und Bram
Stoker erschaffenen Figuren Frankenstein und Dracula. Monster
bevölkern auch das Märchen, einerseits domestiziert durch die und
in der Literatur, andererseits als Allgegenwart des Verdrängten. Kein
Wunder, dass die heutige Zeit von Monstern einerseits (Vampire,
Zombies …) und ganz unterschiedlichen religiösen Vorstellungen
andererseits nur so wimmelt, wobei dadurch neue Unsicherheiten
erzeugt werden, aus denen sich Fanatismus speist.
Wer es schwierig findet, mit Komplexität umzugehen, der ist für
einfache ›Wahrheiten‹ anfällig. Vielleicht kann aber gerade das Mär-
chen mit seiner Vielfalt an Figuren und Traditionen für Toleranz wer-
ben. Was Kinder betrifft, war bereits der Psychologe Bruno Bettelheim
davon überzeugt, dass sie Märchen brauchen (The Uses of Enchantment:
The Meaning and Importance of Fairy Tales, dtsch. Kinder brauchen Märchen,
von 1976), um sich im Medium der – vergleichsweise ungefährlichen –
Literatur ihren Ängsten stellen und so der Realität gestärkt begegnen
zu können.
Von religiösen Vorstellungen ist die Frage nach Leben und Tod
kaum zu trennen. Im Medium der Literatur werden mögliche Erklä-
rungsmodelle für das durchgespielt, was die Menschen unmittelbar
betrifft und ängstigt. Ein frühes, bereits erwähntes Beispiel ist das
Problem des Scheintods im Mittelalter. Menschen wurden, wenn sie
für tot galten, schnell begraben, um Seuchen zu verhüten, doch gab
es nicht die diagnostischen Möglichkeiten, den Tod auch zweifels-
frei festzustellen. Die Grenzen zwischen Leben und Tod, Diesseits
und Jenseits erscheinen fließend und es ist faszinierend, damals wie
heute, über die möglichen Übergänge nachzudenken. Der Tod spielt
im Märchen stets eine große Rolle, von Andersens Das kleine Mädchen
mit den Schwefelhölzern (1945) über Barries Peter Pan (1904), Antoine-
Marie-Roger de Saint-Exupérys Der kleine Prinz (1943) und C. S. Lewis’
Chronicles of Narnia (1950–1956), um einige berühmte Beispiele zu 19
nennen. Die kleine Streichholzverkäuferin bei Andersen erfriert,
sie wird allerdings ihren Platz »bei Gott« finden. In Barries Wun-
EINLEITUNG
derwelt Neverland kämpfen die Lost Boys gegen den Piraten Hook
und gegeneinander, dabei gibt es auch Tote. In deutschsprachigen
Übersetzungen wurden solche Passagen lange Zeit ausgespart, weil
man glaubte, sie Kindern nicht zumuten zu können. Im letzten Band
von Lewis’ Chroniken sterben die kindlichen Protagonisten bei einem
Zugunglück, aber sie leben in der Wunderwelt Narnia weiter – und
natürlich in der Literatur.
Schon E. T. A. Hoffmann hat mit Anselmus in Der goldne Topf
gezeigt, dass das Märchen prädestiniert ist für eine metafiktionale
Lesart: Im Medium der Fiktion wird gezeigt, wie Fiktionen entstehen.
Walter Moers hat dieses Konzept in seinen Zamonien-Romanen
(seit 1999) mit der Figur des schreibenden Lindwurms Hildegunst
von Mythenmetz und seines ›Übersetzers‹ Walter Moers noch ein-
mal radikalisiert, insbesondere in der Trilogie von den »träumenden
Büchern«, in denen die Buchlinge vorkommen, die anagrammatische
Namen großer Dichter tragen und sich lediglich von der Lektüre
›ihres‹ Autors ernähren. Ob diese Selbstbezüglichkeit auch, wie in der
Romantik, die Idee von einem früheren, wiederzuerlangenden Golde-
nen Zeitalter speist, ob sie pantheistische oder religiöse Vorstellungen
auf spezifisch märchenhafte Weise mit einschließt, ob sie das Spiel der
Fantasie zelebriert, ohne eine Ebene der Transzendenz zu evozieren
oder zu benötigen, ist von Text zu Text verschieden.
EINLEITUNG
thropologie (der Mensch »ist selbst aus der Tierreihe hervorgegan-
gen«) sowie der Psychoanalyse sei das vormals so mächtige Subjekt
dezentriert worden. Die Psychoanalyse selbst habe gezeigt, »daß das
Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«. Nicht nur für Freud und seine
Psychoanalyse, auch für Autoren stehen schon längst Versuche, All-
macht auszuleben, unter Hybrisverdacht. In einer hierarchisch struk-
turierten und autoritären, immer noch dem Feudalismus verpflich-
teten Gesellschaft, unter dem Eindruck von Kriegen, Genoziden und
sozialen Verwerfungen, muss progressive Literatur Vorstellungen
einer durch den Fortschritt immer besser werdenden Welt, in der alles
seinen richtigen Platz hat oder findet, eine Absage erteilen. Die Reali-
tät sieht bereits ganz anders aus, selbst wenn es viele nicht wahrhaben
wollen. Gerade deshalb wird antimoderne oder ›völkische‹ Literatur
und auch die Trivialliteratur an dem Konzept festhalten, dass es ledig-
lich eine Frage der Zeit ist, die beste aller möglichen Welten zu schaf-
fen, und den Wunschtraum mit klischeehaften Figuren und Happy-
Endings rosarot ausmalen. In diesem Sinne sind triviale Romane wie
Twilight (2005) von Stephenie Meyer und Shades of Grey (2011) von
E. L. James sowie ihre Fortsetzungen (post-)moderne triviale Mär-
chen. Mit der beobachtbaren Realität haben sie nichts zu tun, dafür
bedienen sie die Sehnsucht nach Nähe und dauerhaften menschlichen
Beziehungen. Anders als die in diesem Buch vorgestellten, originellen
Texte dienen solche klischeehaften, leicht austauschbaren Erzählun-
gen lediglich als Placebo. Auch nach der Lektüre, die nicht zu Einsich-
ten in die Probleme der eigenen Welt führt und daher auch nicht für
mögliche Veränderungen aktiviert, bleibt alles so frei von Wundern,
wie es das vorher schon war.
Die Konsequenzen der um 1900 – sich aus der menschlichen
Selbstüberschätzung ergebenden – Desillusionierung sind auch für
die Entwicklung des Märchens gravierend. Allerdings lassen sich vier
Typen unterscheiden, von denen sich zwei bereits im 19. Jahrhundert
so weit entwickeln, dass sie die Veränderungen aufnehmen und inte-
grieren können.
22 Eine Tradition wird sich fortsetzen und schließlich dominieren:
Bereits im 19. Jahrhundert wird das Märchen zunehmend zu einer
Gattung für Kinder. Kindheit, so verstanden, wie wir sie heute kennen,
entsteht als geschützter Raum, der mit Freizeit und auch mit freieren
Formen des (Selber-)Lernens verbunden ist, erst seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts, so dass beides koinzidiert, die Entwick-
lung des Märchens als Gattung und die Abkehr von der Auffassung,
dass Kinder nur kleine, defizitäre Erwachsene sind. Im 20. Jahrhundert
wird Kindern eine immer größere Autonomie zugesprochen, man
denke an J. M. Barries Peter Pan (1904). Neben Erich Kästners und
Astrid Lindgrens märchenhaften Kinderbüchern (etwa Kästners Der
35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee von 1931 oder Lindgrens Mio, mein
Mio von 1954, die beide noch keinen Platz im Kindler gefunden haben)
werten etwa Tove Janssons Die Muminbücher (1945–1970), Otfried
Preußlers Der Räuber Hotzenplotz (1962) oder Roald Dahls Kinderbücher
(1961–1990) die kindliche Perspektive weiter auf.
Die zweite Tradition bilden Märchen, die sich, wenn sie sich auch
an Erwachsene richten, immer stärker von einem Editions- zu einem
Interventionsprojekt wandeln, das gesellschaftliche Verhältnisse kri-
tisch spiegelt. Bereits E. T. A. Hoffmann nutzte, wie wir gesehen haben,
die Gattung des Märchens für Kritik an Verhaltensweisen seiner
Zeit und Gesellschaft. Auch Wilhelm Hauff, Lewis Carroll oder Oscar
Wilde entwickelten ihre jeweils eigenen Konzepte, im Medium des
Märchens auf Defizite der zeitgenössischen gesellschaftlichen Ord-
nungen an- und diese durchzuspielen. Das Ende von Oscar Wildes
The Star-Child, dtsch. Das Sternenkind, aus A House of Pomegranates, dtsch.
Ein Granatapfelhaus, von 1891 hat nur ein scheinbares Happy-End. Nach
erfolgreichem Bestehen aller Prüfungen heißt es über den jungen
König: »Doch er regierte nicht lange, zu groß war sein Leid gewesen
und zu verzehrend das Feuer seiner Prüfung, und nach drei Jahren
starb er. Und der nach ihm kam, herrschte böse.« Damit wird das Hoff-
nung spendende Ende in sein Gegenteil verkehrt – auch im Märchen
geht nicht mehr notwendigerweise alles gut aus, sogar das Gegenteil
kann der Fall sein. Tragisch und bezeichnend ist, dass Wilde diese
Erfahrung am eigenen Leib machen musste. Wegen seiner Homose-
xualität gerichtlich verurteilt, wurde er von der britischen Gesellschaft
geächtet und starb einen frühen Tod als gebrochener Mann. Dass 23
er heute als einer der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur gilt,
gehört zur Ironie der (Literatur-)Geschichte.
EINLEITUNG
Der dritte Typus ist radikal im Sinne der literarischen Avantgarde
um 1900. In Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht (1895)
ist so gut war gar nichts Märchenhaftes mehr zu entdecken. Die Frage
ist, ob man solche Texte noch, wie es beispielsweise Volker Klotz (Das
europäische Kunstmärchen; 1985) auch bei Franz Kafka gesehen hat, als
Fortsetzung der Gattung einstufen sollte. In Kafkas Die Verwandlung
(1915) erwacht Gregor Samsa als Ungeziefer, die Naturgesetze der
beobachtbaren Wirklichkeit der Leser greifen nicht mehr. Ob dies
genügt, um in dem Text ein Märchen zu sehen?
Einen wieder anderen Weg geht der vierte Typus. Ebenso humor-
voll wie ironisch adaptieren beispielsweise Hans Traxler mit Die Wahr-
heit über Hänsel und Gretel (1963) oder Walter Moers mit Ensel und Krete.
Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz (2000) eines
der bekanntesten der Kinder- und Hausmärchen, parodieren die Gattung
und kritisieren dabei die Wissenschaftsgläubigkeit des Lesepubli-
kums (Traxler) oder den Literaturbetrieb (Moers) mit den Mitteln der
Satire.
Märchen und Fantasy
EINLEITUNG
der Ringe nicht zur Fantasy gehören, weil hier innerhalb der erzählten
Welt die Naturgesetze aufgehoben oder modifiziert worden sind – es
würde sich demnach um ein Märchen handeln. Ein Weg aus dem
definitorischen Dilemma könnte sein, sich vielleicht nicht nur, aber
verstärkt an der Praxis zu orientieren. Die meisten Fantasy-Texte
handeln von einer archaischen, mit mittelalterlichen Zügen ausgestat-
teten, eher an Gattungen wie Epos, Sage und Legende anschließenden
Welt, die immer auch grausam und deshalb unheimlich ist, während
das Märchen konsequent auf das Wunderbare setzt. Im Märchen geht
es nicht primär um den Nervenkitzel durch tödliche Gefahren, die es
durchaus auch gibt, sondern um eine Bewältigung von Mangelsitu-
ationen und Lösung von Aufgaben, für die ein Figurenpersonal und
Requisiten zur Verfügung stehen, die märchentypisch geworden sind.
Literatur ist kein Baukastensystem und kann es auch nicht sein,
weil gute Literatur immer innovativ ist, also Regeln nicht bestätigt,
sondern durchbricht und neue etabliert. Deshalb wird es immer eine
Einzelfallentscheidung sein und unterschiedliche Auffassungen
darüber geben, wo die Grenze zwischen Fantasy und Märchen ver-
läuft. Nehmen wir beispielsweise die Zamonien-Romane von Walter
Moers. Nach der hier vorgeschlagenen ›weichen‹ Definition würde die
Grenze mitten durch die Romane verlaufen. Der sprechende Bär in
Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär (1999), die Lösung von Aufgaben und
anderes mehr sprechen für die Einordnung dieses Romans als Mär-
chen. Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythen-
metz (2000) und Der Schrecksenmeister (2007) schließen direkt an die
Gattung Märchen an, im Schrecksenmeister adaptiert Moers Gottfried
Kellers Märchen Spiegel, das Kätzchen (1856). Hingegen variiert Rumo
& Die Wunder im Dunkeln (2003) eher Motive der Fantasy. Der Held
geht auf eine Queste, so wie Ritter der mittelalterlichen Epik auf eine
große Suche gingen, man denke an die Artusritter und den Heiligen
Gral. Hinter jeder Ecke lauern Gefahr und Grausamkeit, Erlösung ist
nur in der – nach vielen, beinahe tödlichen Abenteuern zu erlangen-
den – Liebe zu finden. Rowlings Heptalogie um den Zauberlehrling
26 Harry Potter (1997–2005) mit ihrem Dualismus der zwei Welten, mit
den märchentypischen Figuren und Requisiten, wäre hingegen eher
ein Wirklichkeitsmärchen in der Nachfolge von E. T. A. Hoffmanns Der
goldne Topf (1814), auch wenn sich bei Rowling viele Bezugnahmen auf
die mittelalterliche Epen- und Sagenwelt finden lassen.
Wo immer nun die Grenze zwischen Märchen und Fantasy ver-
läuft – Märchen ist der ältere, traditionsreichere, eingeführte Begriff
und Fantasy eine interessante neuere, sich weiter entwickelnde Gat-
tung, die weniger an typische Merkmale gebunden ist und sich frei bei
der mittelalterlichen »Welt von Monstren« (Foucault) bedienen kann.
Vielleicht ist Fantasy deshalb so populär und zeitgemäß – die Gattung
bietet eine offene Form für die Begegnung mit Ängsten, die in einer
durchrationalisierten Welt oft keinen Platz haben, und für große,
unauslebbare Gefühle; auch wenn es sich oft um triviale Texte handelt,
die wohl eher zur Ablenkung und Beruhigung dienen als dazu, aus der
Modellierung von Problemen der defizitären Wirklichkeit mögliche
Verbesserungs- oder gar Lösungsansätze zu gewinnen.
Geschlechterrollen
EINLEITUNG
(1945–1948) dürfte, nicht nur für die Kinder- und Jugendliteratur,
hierbei kaum zu überschätzen sein. Noch heute, so ist anzunehmen,
übertrumpfen die männlichen Märchenfiguren die weiblichen nicht
nur zahlenmäßig. Selbst Joanne K. Rowling macht einen Jungen
zum Helden ihrer Romanserie und stilisiert ihn zu einer Erlöserfigur.
Wie Jesus kehrt er von den Toten zu den Lebenden zurück und darf,
anders als Jesus, auf Erden bleiben, heiraten und Kinder zeugen. Doch
es gibt auch Texte, die solche antiquierten Konzepte durchkreuzen.
In Johanna Sinisalos Ennen päivänlaskua ei voi, dtsch. Troll. Eine Liebesge-
schichte (2000), werden queere, homesexuelle Figuren dargestellt und
bereits durch ihre neu errungene Literaturfähigkeit aufgewertet.
Fremdheitserfahrungen
EINLEITUNG
geht auf Perrault zurück, doch auch die Fassungen der Brüder Grimm
sind weiterhin im internationalen Film-Gedächtnis präsent und die
Stoffe entwickeln ein Eigenleben, wie beispielsweise die im New York
der Gegenwart angesiedelte Disney-Komödie Enchanted, dtsch. Ver-
wünscht (2007), zeigt, die von animierten Figuren zu realen Schauspie-
lern wechselt, so wie sich dies etwa auch in der zauberhaften Disney-
Verfilmung von Pamela L. Travers’ Roman Mary Poppins zeigt (Roman
1934, Film 1964). Es gibt viele berühmte Beispiele des Märchenfilms,
etwa die von Schwarzweiß in Farbe – in der ganz frühen Zeit des Farb-
films eine Sensation – wechselnde Verfilmung von L. Frank Baums The
Wizard of Oz, dtsch. Der Zauberer von Oz, von 1939; ein Musical, dessen
Titelmelodie wohl jeder aus dem Gedächtnis heraus summen kann,
der überhaupt einmal Filme geschaut hat. Der Animationsfilm pflegt
eine besondere Beziehung zum Märchen, wie die Serie der Verfilmun-
gen um den Oger Shrek aus dem Hause DreamWorks zeigt (2001 ff.).
Viele populäre Märchenfiguren kommen in diesem parodistischen
Meta-Märchen vor, das sich frei bei der Gattungsgeschichte bedient
und selbst den eigenen Umgang damit humorvoll reflektiert. Origi-
nell, weil die stereotyp gewordene Märchenmotivik durchkreuzend,
ist der unübliche Schluss des ersten Films – nicht der Oger wird zum
Prinzen, sondern die Prinzessin entscheidet sich, ein Oger zu werden.
EINLEITUNG
Pöge-Alter, Kathrin: Märchenforschung. Theorien, Methoden, Interpretationen.
3. Aufl. Tübingen/Basel 2016.
Ranke, Kurt/Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Hand-
wörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Unter
Mitarb. zahlr. Fachwiss. Berlin u. a. 1977 ff.
Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart
2004.
Roth, Dieter/Walter Kahn (Hg.): Märchen und Märchenforschung in Europa.
Ein Handbuch. Frankfurt/Main 1993.
Scherf, Walter: Das Märchenlexikon. 2 Bde. München 1995.
Zipes, Jack (Hg.): The Oxford Companion to Fairy Tales. 2. Aufl. Oxford 2015.
Die Geschichte vom Bambus-
sammler / Taketori monogatari
Das um 900 verfasste Märchen ist die älteste überlieferte Prosaerzäh-
lung Japans, die bereits zur Zeit der Entstehung von Genji monogatari
(Geschichte des Prinzen Genji) der Hofdame Murasaki Shikibu (etwa
978–1014) als Vorfahre der Gattung Erzählung galt und zu den soge-
nannten ›fiktiven Erzählungen‹ (›tsukuri monogatari‹) gerechnet wird.
Weder der Verfasser noch die Entstehungszeit ist bekannt; datieren
lässt sich das Werk auf der Grundlage inhaltlicher Kriterien (Namen
historischer Personen, Vulkanausbruch des Berges Fuji und ähnliches)
auf 870 bis etwa 910. Im 8. und 9. Jh. nach Japan eingeführte chinesi-
sche Erzählungen wie Märchen, Fabeln und Humoristisches lieferten
die Vorlage für dieses Märchen über die Mondprinzessin Kaguyahime,
die auf der Erde von einem alten Bambussammler und seiner Frau
großgezogen und aufgrund ihrer Schönheit von Freiern umworben 33
wird, bis sie schließlich – nachdem sie auch den japanischen Kaiser
abgewiesen hat – in ihre Heimat zurückkehrt. Aufgezeichnet ist das
TAUSENDUNDEINE NACH T
hen beide zusammen in die Welt, um herauszufinden, ob es überhaupt
treue Frauen gäbe. Eines Tages sehen sie aus einem Versteck heraus
einen Dämon, der eine wunderschöne Frau in einer Kiste gefangen
hält. Als der Dämon schläft und die Frau frei ist, zwingt sie die Brüder
zum Sexualakt und eröffnet ihnen danach, dass sie diesen trotz der
strengen Bewachung bereits mit zahlreichen Männern vollzogen
habe. So überzeugt sie die Brüder davon, dass es Männern niemals
möglich sein werde, die sexuelle Lust der Frau zu beherrschen.
Nach Hause zurückgekehrt, entschließt Šāhzamān sich zu einem
Leben in Enthaltsamkeit, während Šahriyār von nun an jeden Abend
eine junge Frau heiratet und sie nach Ablauf der Nacht töten lässt.
Diese Gewohnheit führt bald dazu, dass es in seinem Reich kaum
noch heiratsfähige Frauen gibt. In dieser Situation entschließt sich
Šahrazād, die Tochter des Wesirs, den Herrscher zu heiraten, um das
Morden zu beenden. Nach einem abgesprochenen Plan lässt sie sich
in der Hochzeitsnacht von ihrer jüngeren Schwester (oder Zofe)
Dunyāzād (Dīnāzād, Dīnārzād) fragen, ob sie dieser etwas aus dem rei-
chen Schatz der ihr bekannten Geschichten vortragen dürfe. Der Herr-
TAUSENDUNDEINE NACH T
Freigebigkeit und Geiz, von Mut und Feigheit…«. Der früheste doku-
mentarische Nachweis für den später geläufigen Titel der Sammlung
ist im Notizbuch eines jüdischen Händlers enthalten, der in Kairo
Mitte des 12. Jh.s u. a. Bücher auslieh.
Das Papierfragment von Tausendundeine Nacht legt auch die Vermu-
tung nahe, dass es seit frühester Zeit verschiedene Auswahlausgaben
gegeben hat. Hierdurch wird die Existenz eines kanonischen Reper-
toires an Geschichten, die in Tausendundeine Nacht enthalten waren,
unwahrscheinlich. Stattdessen war die Sammlung wohl um einen
begrenzten konstitutiven Kern gruppiert, der möglicherweise nicht
viel mehr als die Rahmenerzählung und die einleitend angeführten
Geschichten umfasste. In der Folgezeit wuchs die Sammlung durch
Integration von Erzählungen aus unterschiedlichen Überlieferungen,
die jeweils verschiedenen Schichten zugeteilt werden können.
Eine möglicherweise indische Schicht betrifft die Geschichten
über die ›Listen der Frauen‹ sowie einige der Fabeln, insbesondere
diejenigen, die Parallelen zur Fabelsammlung Kalila und Dimna aufwei-
sen. Eine iranische Schicht scheint durch in den Geschichten, die dem
europäischen Verständnis von Zaubermärchen am nächsten kommen.
Ein griechischer Einfluss ist besonders in den Liebesgeschichten
greifbar. Ein jüdisches Element, oft mit Bezug zu Talmud oder Midra-
shim, betrifft moralische Geschichten, die sich häufig mit dem Tod
und ewigem Verdienst im Jenseits befassen. Die in Bagdad geprägte
Schicht umfasst Anekdoten aus der Zeit der Abbasidendynastie, vor-
rangig Erzählungen aus dem Zyklus um den als prototypisch gerecht
dargestellten Herrscher Hārūn ar-Rašīd (786–809). Die Geschichten
der Kairoer Schicht spielen in einer urbanen Atmosphäre und betref-
fen hauptsächlich Geschichten um trickreiche diebische Volkshelden.
Diese Schichten können allerdings nicht sauber voneinander getrennt
werden. Besser als durch ein Schichtenmodell ist Tausendundeine Nacht
in seiner heutigen Gestalt mit dem Modell eines Palastes zu erklären,
der im Laufe der Zeit ständig Erweiterungen erfuhr und auf dessen
verfallenen Ruinen kontinuierlich neue Gebäude erstellt wurden.
38 Den ältesten erhaltenen Text von Tausendundeine Nacht bietet die
von Galland benutzte Handschrift, die durch die Erwähnung einer
zuerst von dem Herrscher al-Ašraf Bārsbāy 1426 herausgegebenen
Münze auf die Mitte des 15. Jh.s datiert wurde. Die unvollständige
Handschrift bricht in der Geschichte von Qamar az-Zamān und Budūr
in der 282. Nacht ab. Außer dieser Handschrift ist etwa ein halbes
Dutzend arabischer Manuskripte bekannt, die vor Galland verfasst
wurden. Keines von ihnen ist vollständig. Darüber hinaus existieren
einige alte türkische Übersetzungen von Tausendundeine Nacht, die teils
bereits von Galland in der Königlichen Bibliothek in Paris benutzt
werden konnten.
In seiner Les mille et une nuit betitelten Übertragung übersetzte
Galland allerdings nicht nur, sondern schuf das Werk zu einem erheb-
lichen Teil selbst. Er hatte lange Perioden im Vorderen Orient gelebt
und war nach seiner Rückkehr nach Paris als Antiquar des Königs
hauptsächlich für die königliche Sammlung an Antiquitäten, Münzen
und Manuskripten verantwortlich. Nach dem Tod des Haupther-
ausgebers Barthélemy d’Herbelot gab er dessen wirkungsmächtige
Bibliothèque orientale heraus, die erste enzyklopädische Behandlung
der islamischen Welt in einer europäischen Sprache. Bereits um das
Jahr 1700 hatte Galland ein Manuskript der Geschichten Sindbads des
Seefahrers erworben, die er in Übersetzung zu veröffentlichen plante.
Dann erfuhr er jedoch von einem ähnlichen, weit umfangreicheren
Werk, verschob seinen Plan und schaffte es, sich ein Manuskript des
Werks – die bis heute älteste bekannte Handschrift von Tausendundeine
Nacht – aus Syrien zu besorgen. Gallands Übertragung erschien in
zwölf Bänden.
Zunächst übertrug Galland in zeittypischem höfischem Stil aus
dem ihm vorliegenden arabischen Manuskript, erweitert durch die
bereits früher übertragenen Sindbad-Geschichten und eine Ergän-
zung der unvollendeten Geschichte von Qamar az-Zamān and Budūr
aus einer weiteren arabischen Handschrift. Als Gallands Material mit
dem siebten Band seiner Übertragung erschöpft war, seine enthusias-
tischen Leser aber eine Fortsetzung bis zum zu erwartenden Ende der
1001 Nächte forderten, brachte Gallands Verleger ohne dessen Wissen
zunächst den achten Band heraus. Dieser enthält sowohl eine von Gal-
land übersetzte Geschichte aus einem nicht mit Tausendundeine Nacht 39
zusammenhängenden Manuskript als auch zwei von Gallands orien-
talistischem Kollegen François Pétis de la Croix aus anderen Quellen
TAUSENDUNDEINE NACH T
übersetzte Geschichten. Das Material für die dann folgenden Bände
bezog Galland weitgehend aus dem Vortrag des talentierten Erzählers
H. annā Diyāb, eines maronitischen Christen aus Syrien, der Galland
vor allem diejenigen Geschichten vortrug, die später in Europa am
beliebtesten wurden. In seinen Tagebüchern erwähnt Galland, dass er
H. annā im Haus ihres gemeinsamen Freundes, des weitgereisten Paul
Lucas, kennengelernt habe. Zwischen dem 6. Mai und dem 2. Juni 1709
. annā Geschichten erzählen, von denen er ausführ-
ließ er sich von H
liche Inhaltsangaben niederschrieb. Auf der Grundlage seiner Mit-
schriften arbeitete er dann später einige der Geschichten sprachlich
aus und veröffentlichte sie in den letzten Bänden seiner Ausgabe von
Tausendundeine Nacht. Hierzu gehören vor allem die vom westlichen
Publikum besonders geschätzten Geschichten von Aladdin und der
Wunderlampe sowie von Ali Baba und den 40 Räubern.
Gallands kreativer erweiterter Adaptation des ihm verfügbaren
arabischen Texts von Tausendundeine Nacht wurde ein überwältigender
Erfolg in Europa zuteil. Noch während die französische Übertragung
erschien, wurden die Geschichten auf der Grundlage des Galland-
schen Texts bereits in andere europäische Sprachen übersetzt und
teils in billigen Auswahlausgaben veröffentlicht. Auf dem Gebiet der
narrativen Literatur trug Tausendundeine Nacht als exotisches Element
der Aufklärung zu einer Welle orientalisierender Werke bei, insbeson-
dere einer in orientalischem Ambiente angesiedelten Unterart der
französischen Feenmärchen. Gallands Kollege Pétis de la Croix ver-
suchte gar, seinen Erfolg mit der 1710 bis 1712 erschienenen Sammlung
Les mille et un jours (1001 Tag) nachzuahmen, angeblich der Übersetzung
einer persischen Handschrift eines ihm bekannten Wanderderwischs
aus Iran, in Wirklichkeit aber die adaptierte Übersetzung einer türki-
schen Geschichtensammlung aus der königlichen Bibliothek. Zudem
initiierte Gallands Übertragung die wissenschaftliche Auseinander-
setzung mit der Sammlung und förderte die Beschäftigung mit der
darin dargestellten Kultur.
Als Ergebnis der verstärkten Nachfrage nach Manuskripten des
40 Werks produzierten arabische Kompilatoren, vor allem in Ägypten,
die verlangten ›vollständigen‹ Handschriften, indem sie die Kopien
ihnen vorliegender, oft fragmentarischer Manuskripte mit narrativem
Material aus unterschiedlichsten arabischen Handschriften ergänz-
ten. Als Resultat entstanden Sammlungen mit teils divergierendem
Geschichtenbestand, die sich in dem Bemühen decken, ›Vollstän-
digkeit‹ in dem Sinn zu erreichen, dass tatsächlich 1001 Nächte mit
Geschichtenerzählen gefüllt wurden. Zur Vervollständigung der Texte
schöpften die Kompilatoren aus unterschiedlichen Quellen. Hierzu
gehören Märchen ebenso wie Liebesgeschichten, Abenteuerromane
ebenso wie religiöse und didaktische Erzählungen, Fabeln ebenso wie
Witze und Schwänke, von denen viele aus dem reichen Fundus der
klassischen arabischen Literatur stammen. Einige Manuskripte schlie-
ßen gar ursprünglich selbständige Erzählwerke mit ein, so etwa den
Ritterroman von ʿUmar ibn an-Nuʿmān oder eine arabische Version des
ursprünglich persischen Fürstenspiegels Sindbād-nāme. Die Geschich-
ten von Sindbad dem Seefahrer, die durch Galland zum integralen
Bestandteil von Tausendundeine Nacht wurden, waren schon in einem
älteren türkischen Manuskript in die Sammlung integriert gewesen.
Fast alle der Textausgaben, die im 19. Jh. von Tausendundeine Nacht
erstellt wurden, basieren auf den ägyptischen Manuskripten. Wäh-
rend bis dahin fast ausschließlich Gallands Text als Vorlage der ande-
ren europäischen Übersetzungen gedient hatte, konnten nun auf
Grundlage der Textausgaben von seiner Übertragung unabhängige
Übersetzungen erscheinen, so die puritanische englische Überset-
zung von Edward William Lane (3 Bde, 1839–1841) oder die ausschwei-
fend wortreiche von Sir Richard Francis Burton (10 Bde, 1885), die
der viktorianischen Prüderie ein ausgesprochenes Delektieren an
Obszönitäten jeglicher Art entgegensetzte. Lane, der selbst lange in
Ägypten gelebt hatte, machte seine Ausgabe zudem mit ausführlichen
Anmerkungen bewusst zu einem Führer durch die ›muslimische‹
Kultur. Burtons Übersetzung ist zwar in heute nur schwer zu genie-
ßender archaisierender Sprache verfasst, ist aber wichtig aufgrund der
zahlreichen Ergänzungen aus unterschiedlichen Handschriften, die
der Übersetzer in den Supplementbänden beisteuerte.
Einen eklatanten Fall der Erweiterung des ursprünglichen
Geschichtenbestands stellt die französische Übersetzung von Joseph 41
Charles Victor Mardrus (16 Bde, 1899–1904) dar, die von allen europäi-
schen Übersetzungen den ursprünglichen Text am freiesten wieder-
TAUSENDUNDEINE NACH T
gibt und zudem zahlreiche Ergänzungen aus anderen Quellen enthält,
so auch Schwänke des türkischen Tricksters Nasreddin Hodscha und
Geschichten aus zeitgenössischen Märchensammlungen aus der ara-
bischen Welt. Nichtsdestotrotz wurde die Übertragung von Mardrus
in Frankreich (und durch die darauf basierende englische Fassung
von Powys Mathers, 1937, auch in England) von solch einflussreichen
Schriftstellern wie André Gide und Marcel Proust hoch geschätzt.
Unter den deutschen Ausgaben genießt die von Enno Littmann
(1921–1928) aufgrund ihrer nüchternen, dem Original nahekommen-
den Sprache großen Respekt. Eine deutsche Übersetzung des von
Galland benutzten ältesten arabischen Manuskripts legte Claudia Ott
2004 vor.
Alle Manuskripte und gedruckten Ausgaben enthalten die cha-
rakteristische Rahmenerzählung und die einleitenden Geschichten,
unterscheiden sich aber teils gravierend im Repertoire der späteren
Geschichten. Šahrazāds Methode, ihre Geschichten an einem span-
nenden Punkt zu unterbrechen, sicherte nicht nur ihr eigenes Überle-
ben und damit das des weiblichen Geschlechts. Sie machte es darüber
hinaus in technischer Hinsicht möglich, die Geschichtensammlung
potenziell ins Unendliche zu erweitern. Je weiter die Rahmen-
erzählung fortschreitet, desto weniger wird dabei die ursprünglich
das Überleben sichernde Methode angewandt. Während viele der
längeren Geschichten sich über mehrere Nächte erstrecken, enthal-
ten zahlreiche spätere Nächte mehrere kurze Geschichten zugleich.
Diejenigen Geschichten, die eng mit Šahrazāds Methode verknüpft
sind, stehen ganz am Anfang: Die Erzählung vom Kaufmann und dem
Dämon, die Geschichte vom Fischer und dem Dämon (den der Fischer
aus seiner Flasche befreite), die Geschichte des Lastträgers und der
drei Damen, die Geschichte von den drei Äpfeln und die Geschichte
des Buckligen.
Diese Geschichten weisen darüber hinaus eine für Tausendundeine
Nacht spezifische Technik der Verschachtelung auf, durch die teils auf
mehreren Ebenen eine Geschichte in der Geschichte erzählt wird. Aus
42 der Perspektive der Leser oder Zuhörer wird Tausendundeine Nacht von
einem anonymen Erzähler vorgetragen, der Šahrazād erzählen lässt,
die ihrerseits die Geschichte eines anderen Protagonisten vorträgt, der
seinerseits die Geschichte eines weiteren präsentiert usw. Die jeweili-
gen Erzähler berichten, wer sie sind, indem sie ihre eigene Geschichte
vortragen. Ähnlich wie im Fall von Šahrazād bedeutet damit das
Erzählen von Geschichten ›Leben‹, und wer keine Geschichte erzäh-
len kann, dessen Leben ist bedroht. Damit werden die Erzähler zu
»Erzähl-Menschen« (Todorov), deren Vortrag den schier unerschöpf-
lichen Reichtum der Geschichten schafft.
Die in Tausendundeine Nacht vertretenen ethischen Werte spiegeln
die Welt der zeitgenössisch erfolgreichen Kaufleute, vor allem die
Ethik des Erfolgs. Dies ist umso eher verständlich, als Kaufleute und
Händler auf den arabischen Basaren wohl den Großteil des Publikums
bei öffentlichen Darbietungen der Geschichten darstellten. Tausend-
undeine Nacht wurde daher prägnant als »Kaufmannsspiegel« (Chraibi)
apostrophiert, als ein Handbuch für junge Kaufleute zum Erlernen der
grundlegenden Werte und Regeln ihres Berufsstandes. Die Geschich-
ten spiegeln durchaus zum Teil das soziale Leben in der vormodernen
arabischen Welt, dürfen jedoch nie als unmittelbare Wiedergabe
gelebter Realität missverstanden werden. Vor allem die spielerische
Atmosphäre mancher Geschichten in Bezug auf Sexualität oder den
Verzehr alkoholischer Getränke ist als Ausdruck eines märchenhaften
Wunschdenkens zu verstehen.
Die Nachwirkung von Tausendundeine Nacht auf die schöpferische
Kreativität in Europa kann schwerlich überschätzt werden. Elemente
der Rahmenerzählung finden sich – wohl durch Handelskontakte mit
der Levante vermittelt – bereits in der italienischen Renaissance in
Giovanni Sercambis (gest. 1424) Novella d’Astolfo und Ludovico Arios-
tos (gest. 1533) Orlando furioso. Dem immensen Erfolg von Gallands
Übertragung konnte sich kaum einer der maßgeblichen europäischen
Schriftsteller entziehen. In Deutschland betrifft dies vor allem Goethe
und Hauff. Durch Lesen und Vorlesen wurde Tausendundeine Nacht bis
in die des Lesens unkundigen Schichten Europas verbreitet, insbe-
sondere die Geschichten von Aladdin, Ali Baba und Sindbad. Darüber
hinaus ließen sich Schauspiel und Film von Tausendundeine Nacht
inspirieren und trugen zur weiteren Verbreitung bei: Sowohl Douglas 43
Fairbanks’ epochaler Stummfilm The Thief of Bagdad (1924) und Lotte
Reinigers Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926), der erste abendfül-
TAUSENDUNDEINE NACH T
lende Trickfilm der Filmgeschichte, basieren auf der Geschichte des
Prinzen Ahmed und der Fee Pari Banu. Auch in den Ursprungsländern
von Tausendundeine Nacht wirkte die Sammlung im 19. und 20. Jh. durch
Schaffung zahlreicher literarischer Werke nach.
Im 20. Jh. waren zahlreiche Geschichten und Bilder aus Tausendund-
eine Nacht längst integraler Bestandteil der ›Weltkultur‹. Der Name der
Sammlung als Ganzes steht – ähnlich wie das europäische Schlaraffen-
land – als stereotyper Ausdruck einer Märchenwelt, in der ultimatives
Wohlergehen und Glück regieren – mit dem zusätzlichen Element
(vermuteter) uneingeschränkt ausgelebter Sexualität. Die interna-
tionale Bilderwelt kennt vor allem die Zahl 1001 als Ausdruck von
Unendlichkeit, das Bild des Flaschengeistes, der – einmal aus seinem
Gefängnis entlassen – nicht mehr beherrschbar ist (aus der Geschichte
vom Fischer und dem Dämon) und das sprichwörtliche »Sesam öffne
dich!« (aus der Geschichte von Ali Baba). ULRICH MARZOLPH
Giovanni Boccaccio
* 1313 in Certaldo bei Florenz oder Florenz (Italien)
† 21. Dezember 1375 in Certaldo bei Florenz (Italien)
GI A MBAT T IS TA BA SIL E
werden. Jeder Tag wird außerdem von einer Ekloge beschlossen.
Die Rahmenerzählung, selbst ein Märchen, handelt von der
melancholischen Prinzessin Zoza, die nichts auf der Welt zum Lachen
bringen kann. Nach vielen vergeblichen Versuchen, die Tochter zu
erheitern, verfällt der verzweifelte Vater auf die Idee, vor seinem
Palast einen Brunnen errichten zu lassen, aus dem Speiseöl sprudelt,
und der die Untertanen zwingen soll, Verrenkungen und lustige
Sprünge zu machen, um ihre Kleider nicht zu beschmutzen. All dies
lässt die Tochter jedoch ungerührt, bis eines Tages ein frecher Page mit
einem Steinwurf den Ölkrug einer alten Frau zerbricht und sich ein
großes Gezeter zwischen den beiden erhebt. Zozas gellendes Lachen
quittiert die Alte jedoch mit dem Fluch, die Prinzessin werde nur hei-
raten können, wenn sie Tadeo, den Fürsten von Camporotondo, finde.
Dieser liege in einer Gruft begraben und werde erst dann lebendig,
wenn eine Frau innerhalb von drei Tagen einen neben dem Grabstein
stehenden Krug mit ihren Tränen fülle. Mit Hilfe dreier Feen gelangt
das Mädchen dorthin und hat nach zwei Tagen des Klagens den Krug
fast ganz gefüllt. Doch während sie schläft, vollendet eine Sklavin
57
GI A MBAT T IS TA BA SIL E
Charles Perrault
* 12. Januar 1628 in Paris (Frankreich)
† 16. Mai 1703 in Paris (Frankreich)
CH A R L E S PER R AULT
Einfühlungsvermögen mehr oder weniger deutlich erschließt«. In
Versform gehaltene moralische Ausschmückungen am Schluss jeden
Märchens waren der schuldige Tribut an die Hofgesellschaft. Im Übri-
gen wünscht er, dass seine Märchen »ein Bild davon geben, was sich in
den ärmsten Familien abspielt, wo zur Unterweisung der Kinder ein-
fache Geschichten erzählt werden«, die nicht ihren Verstand, sondern
allein ihr Gefühl ansprechen sollen. KLL
Sulchan-Saba Orbeliani
* 3. November 1658 in Tandshia (Georgien)
† 16. Februar 1725 bei Moskau (Russland)
SUL CH A N- SA BA OR BEL I A NI
chenmotive. Ein weltoffener Geist, der jedes platte Moralisieren ver-
bietet, gibt dem Werk sein besonderes Gepräge. KLL
Christoph Martin Wieland
* 5. September 1733 in Oberholzheim (Deutschland)
† 20. Januar 1813 in Weimar (Deutschland)
Turandot / Turandot
Das Märchenspiel wurde 1762 uraufgeführt und erschien 1772 im
Druck. Der ursprünglich orientalische Stoff von der männermorden-
den Prinzessin Turandot (›Tochter des Turan‹) erscheint zum ersten
Mal in dem Epos Haft paikar (Sieben Schönheiten) des persischen 65
Dichters Nizami (um 1140–1209) und gelangte zu Beginn des 18. Jh.s
über Lesages Bearbeitung der Erzählsammlung Tausendundein Tag (Les
C A R L O GR A F G OZ ZI
mille et un jours) nach Europa. Dann schrieb Gozzi sein »szenisches
Märchen«, das in Italien selbst freilich erst nach einem langen Umweg
über Deutschland und dann auf der Opernbühne Heimatrecht ge-
wann. Gozzis Stück war nämlich ursprünglich ein Beitrag zu der zwi-
schen ihm und Goldoni ausgefochtenen Debatte um die Konzeption
der Commedia dell’arte, die Gozzi gegenüber Goldonis Reformen
durch die Einbeziehung der volkstümlichen Elemente des Überna-
türlichen und Geheimnisvollen retten wollte. Der Vorwurf, er habe in
seinem aufgeführten Il re cervo, 1762 (König Hirsch), mit wunderlichem
Zauberspuk zuviel des Guten getan, ließ Gozzi noch im selben Jahr zu
dem wiederum märchenhaften, aber in einer realistischeren Umwelt
angesiedelten Turandot-Stoff greifen.
Die betörend schöne, doch gefühlskalte chinesische Prinzessin
Turandot will nur denjenigen Bewerber erhören, der drei von ihr
gestellte Rätsel lösen kann. Wer sich dieser Prüfung nicht gewachsen
zeigt, wird enthauptet. Calaf, ein Prinz ohne Vaterland, nimmt die
Hürde, erklärt sich jedoch, als ihn Turandots Schmerz über den Ver-
lust ihres Mädchenstolzes bewegt, zu einem Zugeständnis bereit. Er
67
C A R L O GR A F G OZ ZI
Johann Karl August Musäus
* 29. März 1735 in Jena (Deutschland)
† 28. Oktober 1787 in Weimar (Deutschland)
NOVA L IS
Morgenländerin Zulima hingegen erzählt ihm von ihrer verlorenen,
friedvoll-glücklichen Vergangenheit in ihrem Vaterland. Am Beispiel
des Bergbaus, jenes »ernsten Sinnbilds des menschlichen Lebens«,
weiht ihn ein alter böhmischer Bergmann später in die Geheimnisse
der Natur und die »Tiefen« der Erde ein. Der unter der Erde lebende
Einsiedler Graf von Hohenzollern schließlich erklärt Heinrich die
»geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen«, das Wesen
der geschichtlichen Welt, deren Entwicklung eine »allmähliche
Beruhigung der Natur« erkennen lasse: »wir können immer besseren
Zeiten entgegensehn«. Um »den geheimnisvollen Geist des Lebens«
zu erfassen, müsse ein Geschichtsschreiber jedoch zugleich Dichter
sein. Beim Einsiedler entdeckt Heinrich auch ein Buch, das in fremder
Sprache seine eigene Lebensgeschichte erzählt. Alle diese einander
spiegelnden Erlebnisse erwecken in ihm eine dunkle, bilderreiche
Sehnsucht. In Augsburg angekommen, lernt er auf einem Fest den
Dichter Klingsohr und dessen anmutige Tochter Mathilde kennen,
in der Heinrich jenes Mädchengesicht erkennt, zu dem der Kelch der
blauen Blume sich zusammengeschlossen hatte. Vater und Tochter
erschließen ihm nun den Weg zur Einheit von Dichtkunst und Liebe,
doch kündigt sich Heinrich traumhaft an, dass er Mathilde verlieren,
später aber erneut und für immer gewinnen werde.
Den ersten Teil beschließt das von Klingsohr erzählte allegorische
Märchen von Eros und Fabel, in dem eine rationalistisch erstarrte
Welt am Ende durch die fröhliche Fabel (die Poesie) erlöst wird.
Zunächst ist das Astralreich Arcturs in Eis erstarrt; seine Tochter Freya
(Friede) liegt in ewigem Schlaf, seit der gewaltige Held Eisen (Krieg)
sein Schwert in die Welt geschleudert hat. In komplexen Verwicklun-
gen reißt schließlich der Schreiber (der nüchterne Verstand, die Auf-
klärung) die Herrschaft an sich; erst durch die kindliche, in die Unter-
welt entkommene Fabel kann am Ende der Bann gebrochen und das
Eis zum Schmelzen gebracht werden. Fabel führt ihren Milchbruder
Eros der erwachenden Freya zu, die, mit ihm vereint, als Königin das
goldene Zeitalter von Liebe und Frieden beherrscht.
72 Der utopischen Vorwegnahme des goldenen Zeitalters folgt im
zweiten Teil Heinrichs einsame Pilgerschaft. Mathilde ist, wie in Hein-
richs Traum angedeutet, inzwischen gestorben. Unterwegs nimmt der
Verzweifelte in einer Vision die tröstende Stimme der Toten wahr, »so
daß ihm der Tod, wie eine höhere Offenbarung des Lebens, erschien«.
Zukunft und Vergangenheit, Leben und Tod erscheinen ihm wechsel-
seitig durchdrungen, ganz so, wie der Prolog der Astralis im zweiten
Teil ankündigt: »Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.« Heinrich
begegnet dem jungen Mädchen Cyane, das ihn zu einem alten Arzt
führt. Dieser deutet ihm Blumen und Pflanzen als die »unmittelbarste
Sprache« der Natur und sagt ihm den Anbruch eines goldenen Zeit-
alters voraus, »wenn die Natur züchtig und sittlich geworden« sei und
als »Geist des Weltgedichts« das Gewissen herrsche, »der eingeborne
Mittler jedes Menschen«. So wird Heinrich die Fabel zum »Gesamt-
werkzeug« seiner gegenwärtigen Welt und ein religiöses Medium der
sich im Dichter regenden »höhere[n] Stimme des Weltalls«.
Die Fortsetzung hat Novalis in teilweise widersprüchlichen
Notizen angedeutet; doch war der Schluss als Ȇbergang aus der
wirklichen Welt in die geheime« geplant: »Überall muß hier schon
das Überirdische durchschimmern – Das Märchenhafte«. Traum und
Wirklichkeit vermischen sich; wenn Heinrich die Welt griechischer
Mythologie und persischer Märchen erleben, am Sängerkrieg auf
der Wartburg teilnehmen, die »blaue Blume« pflücken und Mathilde
wiederfinden sollte, könnte eine »Neue goldene Zeit« anbrechen. »Das
ganze Menschengeschlecht wird […] poetisch.«
Novalis hat seinen in einer idealen Welt situierten Bildungsroman
als »Apotheose der Poesie« und als Gegenstück zu Goethes Wilhelm
Meister konzipiert, zu dessen übermächtigem Vorbild er mit Heinrich
von Ofterdingen auf Distanz geht: Statt Erfahrungen und Erlebnisse
stehen hier Geschichten und Gespräche im Mittelpunkt. Nicht
prosaische »Lehrjahre« durchläuft der Titelheld, sondern poetische
»Übergangs Jahre« (an Caroline Schlegel, 27. Februar 1799). Das Motiv
des geistigen Übergangs findet sich bei Novalis als Einweihung in
die poetische Welt ritualisiert. So symbolisieren Einschlafen und
Erwachen ›Tod‹ und ›Wiedergeburt‹ des Helden – seine Überführung
in eine höhere Wirklichkeit, die sein Bewusstsein nach der lehrhaf-
ten Erkundung der ›Tiefe‹ von Raum (Erde), Zeit (Geschichte) und 73
Seele zugleich erhöht und erweitert. Die poetische Verwandlung der
Welt wird im unendlichen Progress einer traumhaften Potenzierung
NOVA L IS
der Wirklichkeit und als freies Spiel mit Bildern erfahren, das seinen
Ausgang bei der »blauen Blume« nimmt, dem Symbol für Mathilde –
wie diese das Symbol der Poesie ist. Die Liebe erweist sich damit als
Schlüssel zum Weltgeheimnis. Im ruhigen, rhythmischen Wechsel
von Gesprächen, Binnengeschichten und spärlicher Handlung voll-
zieht sich eine stufenweise Verklärung der Poesie im Zeichen religiö-
ser Transzendierung innerweltlicher Realität: Heinrichs symbolischer
Wandel vom Reisenden zum Pilger bezeichnet ein welterlösendes
»Innewerden« von etwas lange Vergessenem, das mittels Phantasie,
Traum und Ahnung allmählich Gestalt annimmt und auf die einheits-
stiftende Totalität von Natur und Mensch, auf den durchscheinenden
Zusammenhang aller Dinge im Kosmos zielt.
Novalis’ Roman stellt ein Schlüsselwerk der Frühromantik dar.
Bereits 1803 galt er Friedrich Schlegel als bedeutendes Beispiel der
»esoterischen Poesie«, die »über den Menschen hinausgeht, und
zugleich die Welt und die Natur zu umfassen strebt«. Tieck sah in
seinem Bericht über die Fortsetzung den Kern des Romans in der aus der
Liebe geborenen Poesie, welche die unsichtbare, wundervolle mit der
sichtbaren, gewöhnlichen Welt auf ewig verknüpfe. Für die Literatur
der Moderne war insbesondere die in den narrativen Binnenspiege-
lungen zum Ausdruck kommende kompositorische Unabschließbar-
keit des Romans richtungsweisend.
HANS-HORST HENSCHEN / ANDREAS BLÖDORN
74
Adam Oehlenschläger
* 14. November 1779 in Frederiksberg bei Kopenhagen (Dänemark)
† 20. Januar 1850 in Kopenhagen (Dänemark)
E .T. A . HOFFM A NN
Die 1814/15 in vier Teilen unter dem Titel Fantasiestücke in Callot’s
Manier anonym erschienene und 1819 überarbeitet wieder aufgelegte
Sammlung von Erzählungen hat E. T. A. Hoffmanns Ruhm als Dichter
begründet. Die insgesamt 19 Einzeltexte, überwiegend in der Allge-
meinen Musikalischen Zeitung (AMZ) vorveröffentlicht (»Ritter Gluck«,
»Don Juan« sowie die »Kreisleriana« Nr. 1, 3, 4, 5, 7, 9, 10, 11), handeln
fast ausschließlich vom Zentralthema Kunst, speziell von der Musik.
Ihre lockere Verbindung wird durch die fiktive Verfasserschaft eines
exaltierten Kunstfreundes gewährleistet, der wiederholt selbst als
handelnde Figur auftritt und dessen an sich zusammenhanglose Auf-
zeichnungen vom ebenso fiktiven Herausgeber »Theodor Amadäus
Hoffmann« ausgewählt wurden.
Das Stichwort »Manier« signalisiert bereits im Titel die anti-klassi-
zistische Ausrichtung der Fantasiestücke, die nicht auf Objektivität, son-
dern auf die »besondere subjektive Art wie der Verfasser die Gestalten
des gemeinen Lebens anschaut und auffasst« abzielen (Brief Hoff-
manns an den Verleger Kunz vom 8. September 1813). In dieser Absicht
mischen die Fantasiestücke bizarr-phantastische Geschichten mit
E .T. A . HOFFM A NN
sale: Nachdem ihm der Kapellmeister Kreisler das »innerste Heilig-
tum« der Musik aufgeschlossen hat, wird er zum Leibhund eines
musikliebenden Mädchens, das er jedoch verlassen muss, als er in der
Hochzeitsnacht den vulgären Gatten angreift. Da Berganza anschlie-
ßend als Theaterhund untergekommen ist, folgt eine lange Auseinan-
dersetzung mit dem zeitgenössischen Theater, in der Berganza eine
romantische Poetik propagiert und zuletzt Novalis als Inbegriff des
Dichters feiert.
»Der Magnetiseur« erzählt in Kurzfassung eine Art Schauerroman:
Eine ganze Familie fällt den unheilvollen Machenschaften des zyni-
schen Magnetiseurs Alban zum Opfer, der den Mesmerismus dazu
benutzt, »die unbedingte Herrschaft über das geistige Prinzip des
Lebens« zu erzwingen. Der skeptische Maler Bickert beobachtet die
Vorfälle und dokumentiert sie, bevor er friedlich stirbt.
Den Höhepunkt und größten Erfolg der Fantasiestücke bildet
Der goldene Topf. Das »Märchen aus der neuen Zeit« erzählt in zwölf
»Vigilien« (Nachtwachen) die Schicksale des ungeschickten Studen-
ten Anselmus, der sich in die goldgrüne Schlange Serpentina ver-
liebt, die eine der drei Töchter des Archivarius Lindhorst ist, bei dem
Anselmus orientalische Manuskripte kopiert. Ein Gegenzauber, den
Konrektor Paulmanns Tochter Veronika mit Hilfe der hexenartigen
Rauerin anwendet, scheitert an Anselmus’ Treue zu Serpentina, mit
der er zuletzt sein Glück als Dichter auf einem »Rittergute in Atlan-
tis« erlangt; Veronika findet als Gattin des Registrators Heerbrand
die Erfüllung als »Frau Hofrätin«. Die Geschichte um Anselmus und
Serpentina, in die als Familiengeschichte des auf die Erde verbann-
ten Salamanders Lindhorst auch noch der triadische Mythos von
der Liebe des Jünglings Phosphorus zur Feuerlilie eingeflochten ist,
hat allerdings gar keine Geltung für sich: Wie vor allem die zwölfte
Vigilie deutlich macht, handelt es sich beim Anselmus-Märchen um
eine Erfindung des Erzählers, der seinen Schreibprozess erzählt, an
der Schilderung von Anselmus’ Glück jedoch zunächst scheitert und
nur durch die Hilfe Lindhorsts, der ihm angezündeten Arrak mit
80 Zucker kredenzt (»das Lieblingsgetränk Ihres Freundes, des Kapell-
meisters Johannes Kreisler«), zum guten Abschluss des Märchens
gelangt. Eigentliches Thema des Goldenen Topfes ist daher das Dichten
selbst, wodurch Hoffmanns Märchen zu einem ironischen Text im
Sinne F. Schlegels wird, bei dem nicht die Geschichte, sondern deren
Schreibbarkeit im Mittelpunkt steht. In »Callot’s Manier« ist das
Märchen insofern geschrieben, als es phantastische Geschehnisse
in der Lebenswelt Dresdens lokalisiert und die Gegenwart dadurch
romantisch verfremdet. Dabei wird vielfach mit doppelten Identitä-
ten gespielt, die sich nicht gegeneinander abgrenzen lassen: Lindhorst
ist als »Königl. Geh. Archivarius« und Salamander sowohl eine Figur
des Anselmus-Märchens als zugleich auch ein Bekannter von dessen
Verfasser; die Rauerin ist ebenso ein gewöhnliches Äpfelweib wie
Frucht der Liebe einer Drachenfeder zu einer Runkelrübe. Auch der
gewöhnliche Alltag kann also romantisch überhöht werden, sofern
man wie Anselmus ein »kindliches poetisches Gemüt« besitzt: »[…] in
diesem Reiche, das uns der Geist so oft, wenigstens im Traume, auf-
schließt, versuche es, geneigter Leser! die bekannten Gestalten, wie
sie täglich […] um dich herwandeln, wiederzuerkennen. Du wirst dann
glauben, daß dir jenes herrliche Reich viel näher liege, als du sonst
wohl meintest.«
Die Abenteuer der Sylvester-Nacht konfrontieren den reisenden
Enthusiasten, der in einer Gesellschaft die geliebte Julie als verheira-
tete Frau wiedergefunden hat und daraufhin in einen Berliner Bier-
keller geflohen ist, sowohl mit Peter Schlemihl, der in A. v. Chamissos
Erzählung seinen Schatten verkaufte, als auch mit Erasmus Spikher,
der keinen Spiegel ertragen kann. Spikher hinterlässt dem Erzähler
am Neujahrsmorgen seine Lebensgeschichte schriftlich: Als verhei-
rateter Mann ist er in Italien der dämonischen Giulietta verfallen, die
ihm sein Spiegelbild abverlangt hat. Wieder zu Hause, soll Spikher
Frau und Sohn töten, was er jedoch nicht vermag. Nachdem Giulietta
und ihr teuflischer Begleiter Signor Dapertutto zur Hölle gefahren
sind, verzeiht Spikhers Frau ihrem Gatten, schickt ihn jedoch auf die
Suche nach dem Spiegelbild, »um wieder ein ordentlicher, vollständi-
ger Familienvater« zu werden – bislang ist jedoch noch nichts daraus
geworden. Das Postskript des Enthusiasten ist an »Theodor Amadäus
Hoffmann« gerichtet und deutet die Möglichkeit an, dass er durch 81
»jenes verführerische Frauenbild von Rembrandt oder Callot, das den
unglücklichen Erasmus Spikher um sein schönes ähnliches Spiegel-
E .T. A . HOFFM A NN
bild betrog«, zur Julie/Giulietta-Figur inspiriert wurde.
Die abschließenden Kreisleriana Nr. 7–13 informieren zunächst
im Brief eines Baron Wallborn an Kreisler sowie in dessen Antwort
(beide Briefe sind ein Gemeinschaftswerk Hoffmanns mit F. de la
Motte Fouqué) über die Lebensgeschichte des Kapellmeisters, der
offenbar »durch eine ganz fantastische Liebe zu einer Sängerin auf die
höchste Spitze des Wahnsinns getrieben« wurde. Die weiteren klei-
nen Texte führen die kulturkritischen Satiren fort, die bereits für den
ersten Teil der »Kreisleriana« charakteristisch sind: insbesondere die
»Nachricht von einem gebildeten jungen Mann«, in der der ehemalige
Affe Milo seiner »Freundin Pipi in Nordamerika« schildert, wie er sich
in der Gefangenschaft zum »gebildeten Menschen« entwickelt hat, der
»jetzt privatisierender Künstler und Gelehrter« ist. ALBERT MEIER
E .T. A . HOFFM A NN
J. E. Hitzig) zwischen Ende 1814 und Sommer 1815 wöchentlich traf,
weshalb die Sammlung zunächst unter dem Titel »Die Seraphinenbrü-
der« angekündigt wurde. Nach der Rückkehr Chamissos von seiner
Weltreise kam es 1818 am Tag des heiligen Serapion (14. 11.) zu einer
Neuauflage der Treffen unter dem Namen »Serapions-Brüder«. Die
zunächst vier Serapions-Brüder (Theodor, Lothar, Ottmar, Cyprian),
zu denen im vierten Abschnitt Vinzenz und Sylvester hinzustoßen,
sind in ihrer Charakterisierung zwar durch die Eigenarten von Hoff-
manns tatsächlichen Dichterfreunden angeregt, weisen jedoch keine
entschlüsselbare Porträt-Ähnlichkeit auf.
Die Sammlung ist systematisch angelegt: Acht Abende sind auf
vier Bände mit je zwei Abschnitten verteilt, wobei jeder Band mit
einem Märchen abgeschlossen werden sollte (die für Band 3 vorge-
sehene »Königsbraut« steht allerdings erst am Ende von Band 4). Sie
umfasst Erzählungen unterschiedlichster Art, deren Motive überwie-
gend den Bereichen Gespenster-Erscheinungen und Magnetismus,
Künstlerleben, Geisteskrankheit und Kriminalität entstammen. Bei
den 28 Erzählungen hat Hoffmann zum Teil auf sehr frühe Werke (ab
1813) zurückgegriffen; eigens für die Serapions-Brüder sind nur »Die
Bergwerke zu Falun« (1819) und »Die Königsbraut« (1821) geschrieben
worden. Allerdings wachsen sich die Rahmen-Gespräche gelegent-
lich zu eigenen Geschichten aus, was die Unterscheidung zwischen
Rahmen und Binnenerzählungen erschwert. Viele Erzählungen sind
durch zeitgenössische Gemälde veranlasst (z. B. geht »Die Fermate«,
wie die Erzählerfigur Theodor selbst bemerkt, auf J. E. Hummels Gesell-
schaft in einer italienischen Lokanda, 1814, zurück) oder durch historisches
Textmaterial motiviert (so liegt etwa der »Brautwahl« das Ende des
16. Jh.s handschriftlich verbreitete Microchronicon Marchicum des Berli-
ner Magisters P. Hafftitz zugrunde).
Die Begleitung der Erzählungen durch Gespräche, mit der Hoff-
mann das auf G. Boccaccios Decamerone (ca. 1349 bis 1353 entstanden)
zurückgehende Modell des Novellenzyklus fortführt, erlaubt die
Kommentierung seiner Werke durch eine zwar unsystematisch
84 formulierte, jedoch schlüssige Poetik. Dies geschieht bereits einlei-
tend anhand der von Cyprian erzählten Geschichte des Einsiedlers
Serapion: Cyprian ist in einem »Wald zwei Stunden von B***« einem
Eremiten begegnet, der sich für den Einsiedler Serapion hält, »der
unter dem Kaiser Dezius in die Thebaische Wüste floh und in Alexan-
drien den Märtyrer-Tod litt«. Cyprians Versuch, den Geisteskranken
dadurch zu heilen, dass er ihm die Widersinnigkeit seiner fixen Idee
aufzeigt, scheitert kläglich, weil Serapion alle Argumente vernünftig
entkräftet. Im weiteren Gespräch erzählt Serapion Novellen, »wie sie
nur der geistreichste, mit der feurigsten Phantasie begabte Dichter
anlegen, durchführen kann«. Die entscheidende Diskussion der Dich-
terfreunde findet erst im Anschluss an »Rat Krespel« statt, als man
bemerkt, dass gerade Serapionstag ist.
An Serapions Beispiel wird das ›serapiontische Prinzip‹ entwickelt,
das als Kern von Hoffmanns Poetik verstanden werden darf. Einerseits
war der Einsiedler Serapion »ein wahrhafter Dichter, er hatte das wirk-
lich geschaut, was er verkündete, und deshalb ergriff seine Rede Herz
und Gemüt«; andererseits war er wahnsinnig, weil ihm »die Erkenntnis
der Duplizität« von Phantasiewelt und Lebenswelt fehlte: »Aber du, o
mein Einsiedler, statuiertest keine Außenwelt, du sahst den versteck-
ten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft; und wenn
du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptetest, daß es nur der Geist
sei, der sehe, höre, fühle, der Tat und Begebenheit fasse, und daß also
auch sich wirklich das begeben, was er dafür anerkenne, so vergaßest
du, daß die Außenwelt den in den Körper gebannten Geist zu jenen
Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkür.« Die Serapions-
Brüder geben sich daraufhin das ›serapiontische Prinzip‹ als Regel:
»Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkün-
den unternommen, ehe er es wagt, laut damit zu werden.« Während
der Wahnsinnige nichts kennt als seine Phantasiewelt, muss es dem
wahren Dichter möglich sein, neben seiner Einbildung auch der Wirk-
lichkeit ihr Recht zu lassen. Am deutlichsten kommt diese ›Duplizität‹
im Bild der »Himmelsleiter« zum Ausdruck, das Theodor im Anschluss
an »Die Brautwahl« erläutert: »Ich glaube, daß die Basis der Himmels-
leiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt
sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag.« Wie fatal
die Folgen sind, wenn statt der Harmonie von Phantasie und Wirklich- 85
keit ein »Mißverhältnis des innern Gemüts mit dem äußern Leben«
herrscht, das zeigen neben »Der Einsiedler Serapion« weitere Erzäh-
E .T. A . HOFFM A NN
lungen der Serapions-Brüder wie »Rat Krespel« oder »Spieler-Glück«.
Nußknacker und Mausekönig, zuerst 1816 mit weiteren Märchen von
F. Contessa und F. de la Motte Fouqué veröffentlicht, ist ein »Kinder-
märchen«, das »der tolle Spukgeist Droll selbst eingegeben hat«.
Sowohl mit seinem Motiv des lebendig gewordenen Spielzeugs als
auch mit seiner Doppelstrategie, zugleich für Kinder und Erwachsene
interessant zu sein, ist es zum Prototyp populärer Unterhaltungs-
kultur geworden: Fritz und Marie, den Kindern des Medizinalrates
Stahlbaum, wird vom Paten Droßelmeier am Weihnachtsabend
kompliziertes Spielzeug geschenkt, dem sie aber Zinnsoldaten bzw.
einen Nussknacker vorziehen. Um Mitternacht taucht ein Mäuseheer
auf, und die Spielsachen werden lebendig; Marie verletzt sich in ihrer
Angst an Glas, erlebt einen Angriff der Mäuse auf die vom Nusskna-
cker befehligten Zinnsoldaten und Puppen und wird ohnmächtig, als
die Mäuse unter Führung des siebenköpfigen Mäusekönigs die Ober-
hand gewinnen.
Während Maries Krankheit erzählt Droßelmeier die groteske
Geschichte von Prinzessin Pirlipat: Weil die Mäuse vom Hof ver-
trieben wurden, hat Frau Mauserink aus Rache die Königstochter in
ein abscheuliches Monstrum verwandelt; Hilfe bringt nur die Nuss
Krakatuk, die nach 15 Jahren in Nürnberg gefunden und durch einen
jungen Herrn Droßelmeier geknackt wird. Die Prinzessin gewinnt
ihre Schönheit wieder, doch der Jüngling verwandelt sich in einen
hässlichen Nussknacker. Marie, die ihren Nussknacker mit dem jun-
gen Droßelmeier aus dem Märchens von der harten Nuss identifiziert,
will den Mäusekönig mit Marzipan und Zuckererbsen besänftigen,
bis zuletzt der Nussknacker den Mäusekönig besiegt und Marie in ein
Schlaraffenland führt, wo er Prinz ist. Die rationale Erklärung, Marie
habe das alles nur geträumt, wird in dem Augenblick fragwürdig, als
Droßelmeiers Neffe aus Nürnberg ankommt, seiner Retterin Marie
einen Heiratsantrag macht und sie binnen »Jahresfrist« zur Königin
eines Landes erhebt, »in dem man überall funkelnde Weihnachtswäl-
der, durchsichtige Marzipanschlösser, kurz, die allerherrlichsten, wun-
86 derbarsten Dinge erblicken kann, wenn man nur darnach Augen hat«.
Doge und Dogaresse, zuerst erschienen 1818 im Taschenbuch für das
Jahr 1819 der Liebe und Freundschaft gewidmet, schildert in der Rahmen-
handlung den Streit, ob C. W. Kolbes Gemälde Doge und Dogaressa, 1816
in der Berliner Akademie der Künste ausgestellt, die »augenblickliche
Situation eines alten abgelebten Mannes, der mit aller Pracht und
Herrlichkeit nicht die Wünsche eines sehnsuchtsvollen Herzens zu
befriedigen vermag, oder eine wirkliche geschichtliche Begebenheit
habe darstellen wollen«. Ein seltsamer Fremder tritt hinzu, der das
Gemälde als – eventuell unbeabsichtigte – Darstellung des Dogen
Marino Falieri und seiner Gattin Annunziata deutet und »mit Falie-
ris Geschichte die Erklärung des Bildes« gibt. Hoffmann ergänzt die
in J. F. Le Brets Staatsgeschichte der Republik Venedig dokumentierte
Verschwörung um den Dogen Falieri (1354) durch die frei erfundene
Geschichte des jungen Lastträgers Antonio, der in Wahrheit Sohn
eines von der venezianischen Signoria hingerichteten deutschen
Kaufmanns ist und Anton Dalbirger heißt. Unterstützt vom alten
Bettelweib Margareta, die sich als seine Amme zu erkennen gibt,
rettet Antonio den 80-jährigen Dogen Falieri aus Seenot und erkennt
in dessen junger Gattin Annunziata ein kleines Mädchen, das ihn als
Kind vor einer Viper gerettet hat und nach dem er sich seitdem sehnt.
Margareta heilt Annunziata vom Stich eines Skorpions und bringt die
Liebenden zusammen. Antonio wird wider Willen in eine Verschwö-
rung verwickelt, die die Signoria entmachten und Falieri zum Allein-
herrscher machen soll. Als dieser Plan scheitert und die Rädelsführer
hingerichtet werden, fliehen Antonio, Annunziata und Margareta in
einer Barke aufs Meer hinaus, wo sie im Sturm ums Leben kommen.
Das Fräulein von Scuderi. Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vier-
zehnten, erstmals 1819 im Taschenbuch für das Jahr 1820 der Liebe und
Freundschaft gewidmet veröffentlicht, geht auf eine Anekdote in J. C.
Wagenseils Nürnberger Chronik De Sacri Rom. Imperii Libera Civitate
Noribergensi Commentatio (1697) zurück. Magdaleine von Scuderi
(eigentlich: Madeleine de Scudéry), eine am Königshof anerkannte
Dichterin, wird im Herbst 1680 in einen Kriminalfall verwickelt, als
ihr ein junger Mann nachts ein Kästchen mit wertvollem Schmuck
ins Haus bringt. Einige Zeit später drängt er sie dazu, das Geschmeide
dem Goldschmied Cardillac zurückzugeben. Als sie das verspätet tut, 87
findet sie Cardillac ermordet vor. Als Täter gilt Cardillacs Gehilfe Oli-
vier Brusson, der auch für eine Serie von Morden an Cardillacs Kun-
E .T. A . HOFFM A NN
den verantwortlich gemacht wird. Madelon, die Tochter Cardillacs
und Verlobte Brussons, bittet das Fräulein von Scuderi um Hilfe. Brus-
son, Sohn einer einstigen Bediensteten der Scuderi, darf dem Fräulein
eine geheime Beichte ablegen: Cardillac hat die Käufer seiner Juwelen
ermordet, weil er sich von seinen Werken nicht trennen konnte, und
ist zuletzt von dem königlichen Offizier de Miossens in Notwehr
getötet worden. Brusson verschweigt diese Zusammenhänge vor der
Justiz, um Cardillacs Tochter zu schonen. Mit diesem Wissen kann das
Fräulein von Scuderi den König zur Begnadigung Brussons bewegen,
nachdem Miossens seine Aussage gemacht hat. Hoffmanns historisch
präzis recherchierte Erzählung, die ein durch Verbrecher und Polizei
terrorisiertes Paris schildert, verbindet das Spannungselement der Kri-
minalgeschichte mit dem psychologischen Interesse am krankhaften
Künstlertum Cardillacs, das zu der nur vorübergehend in ihrer Sicher-
heit erschütterten ironischen Souveränität der höfischen Dichterin
Scuderi in einem Kontrast steht.
Signor Formica, erstmals 1819 im Taschenbuch zum geselligen Vergnügen
auf das Jahr 1820 publiziert, versetzt den neapolitanischen Maler und
Dichter Salvator Rosa (1615–1673) in eine frei erfundene Handlung
im grotesken Stil der Commedia dell’arte. Rosa, »in Feuer und Leben
glühend und sprühend, aber dabei mit dem treusten, herrlichsten
Gemüt begabt«, verhilft in Rom dem Wundarzt Antonio Scacciati
dazu, das »verhasste Handwerk« aufzugeben und Maler zu werden.
Zugleich ermöglichen Rosas abstruse Intrigen Antonios Heirat mit
Marianna, der Nichte des ebenso alten wie geizigen Möchtegern-
Komponisten Pasquale Capuzzi. Die entscheidenden Szenen spielen
in einem kleinen Theater vor der Porta del Popolo, wo Signor Formica
als Pasquarello Satiren aufführt. Pasquale Capuzzi wird durch einen
Doppelgänger auf der Bühne so abgelenkt, dass Antonio Marianna
nach Florenz entführen kann. Da Capuzzi die Ehe annulliert und die
kirchliche Genehmigung erhält, selber Marianna zu heiraten, muss
Signor Formica ein weiteres Mal auftreten: Indem er Capuzzi vor-
spielt, wie dessen Ehe aussehen würde und dass Marianna zuletzt
88 sterben müsste, bringt er ihn zur Einsicht und führt eine allgemeine
Versöhnung herbei. Zuletzt erweist sich, dass Signor Formica in Wahr-
heit Salvator Rosa ist. ALBERT MEIER
E .T. A . HOFFM A NN
Mit dieser Karnevalshandlung ist der vom Scharlatan Celionati,
eigentlich Fürst Bastianello, erzählte Mythos von der Urdarquelle
verknüpft, der die romantische Idee von ursprünglicher Einheit, deren
Zerstörung durch Reflexion und Wiedergewinnung der Harmonie
illustriert: Der durch Nachdenken melancholisch gewordene König
Ophioch und seine beständig lachende Gattin Liris werden zunächst
durch den Blick in den Urdarsee geheilt, der sich dann jedoch trübt,
bis ihn die Vereinigung von Giglio und Giacinta in Bastianellos Palast
wieder reinigt.
Im Gespräch zwischen Celionati/Bastianello und deutschen
Künstlern im Caffè Greco wird die Urdarquelle als Symbol des
Humors deutlich, der »die Faxen des ganzen Seins hienieden« durch-
schauen lässt und die italienische Ironie mit der deutschen verbindet.
Das auf einem intertextuellen Spiel (u. a. stehen Goethes Römisches
Carneval, K. P. Moritz’ Reisen eines Deutschen in Italien und C. Gozzis Mär-
chen-Komödien Pate) beruhende Brambilla-Capriccio würde jedoch
überfordert, wollte man es als poetologische Allegorie entschlüsseln.
Nicht der rationale Gehalt ist entscheidend, sondern dass dem Leser
über allen Verwicklungen das Hören und Sehen vergeht, wodurch er
frei wird für jene Poesie, »wo Ironie gilt und echter Humor«.
ALBERT MEIER
91
E .T. A . HOFFM A NN
Friedrich de la Motte Fouqué
* 12. Februar 1777 in Brandenburg a. d. Havel (Deutschland)
† 23. Januar 1843 in Berlin (Deutschland)
99
102 Phantasus
Die in den Jahren 1812 bis 1816 in drei Bänden erschienene Sammlung
Phantasus beinhaltet sieben Kunstmärchen und Märchennovellen im
ersten, sechs Schauspiele mit teils märchenhaften Stoffen im zweiten
und das ›dramatische Märchen‹ Fortunat im dritten Band. Der Ent-
stehungskontext der Einzelwerke ist heterogen. 1797 veröffentlichte
Tieck unter dem Pseudonym Peter Leberecht die vor allem im Jenaer
Kreis der Frühromantiker viel beachteten Volksmährchen, die bereits
viele der in den Phantasus mit allerdings teils erheblichen Überarbei-
tungen aufgenommenen Texte beinhalten. Dazu gehören Der blonde
Eckbert, Ritter Blaubart, Der gestiefelte Kater und die »Wundersame Lie-
besgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der
Provence«. Darüber hinaus enthalten die drei Bände der Volksmährchen
die Umarbeitung des Karl von Berneck, Die Geschichte von den Heymons
Kindern und Die denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger, die in der
nie erschienenen Fortsetzung der drei Bände des Phantasus vertreten
sein sollte.
Sowohl in den Volksmährchen als auch im Phantasus stellt Tieck
Übernahmen aus den Volksbüchern (z. B. der Magelone-Stoff oder
der Fortunat) und Umarbeitungen der Märchen Charles Perraults
(z. B. der Ritter Blaubart) neben eigene Schöpfungen (Der blonde Eckbert,
LU DW IG T IECK
und Poesie stellt eine Art Realisierung der Schlegel’schen »Sym-
poesie« dar. Im Kontext dieser Gespräche tragen die sieben Herren
die Einzelwerke des Phantasus (sieben Märchen in der ersten Abtei-
lung, fünf Dramen und der zweigeteilte Fortunat in der zweiten Abtei-
lung) vor; im Anschluss an diese Vorträge kommt es zu intensiven
Gesprächen über Gattungsfragen oder die Wirkung einzelner Texte.
In programmatischer Absicht werden Grundzüge romantischer
Ästhetik formuliert.
So führt in dem die erste Abteilung einleitenden Gedicht »Phanta-
sus« der Knabe Phantasus das lyrische Ich in ein Märchenland, in dem
es dem Schreck, der Albernheit, dem Scherz, der Liebe und zuletzt Pan,
»von allem der Erhalter«, in personifizierter und allegorischer Gestalt
begegnet. Über die Märchen der ersten Abteilung heißt es: »In diesen
Natur-Märchen mischt sich das Liebliche mit dem Schrecklichen,
das Seltsame mit dem Kindischen, und verwirrt unsre Phantasie bis
zum poetischen Wahnsinn, um diesen selbst nur in unserm Innern zu
lösen und frei zu machen.« Dieser Definition folgen die Märchen der
ersten Abteilung, die mit Der blonde Eckbert eröffnet wird.
Der Ritter Eckbert ist mit Bertha verheiratet; beide leben zurück-
gezogen und kinderlos. Bertha erzählt dem Freund Eckberts, Philipp
Walther, wie sie als Kind von zu Hause wegläuft und die »Waldein-
samkeit« findet, ein romantisches Märchenland, in dem eine Alte mit
einem Hund und einem sprechenden Vogel lebt. Der Vogel singt in
leitmotivischer Art immer wieder das Lied von der »Waldeinsamkeit«.
Bertha bleibt bei der Alten, die sie an Kindes statt annimmt. Mit 14 Jah-
ren wird das Lesen ihre einzige Verbindung zur Außenwelt und weckt
ihre Sehnsüchte. Als die Alte wieder einmal abwesend ist, bindet Ber-
tha den Hund an, nimmt den Vogel und die Edelsteine der Alten an
sich und flieht. Sie erfährt vom Tod ihrer Eltern. Auf ihrer Wanderung
erwürgt sie den Vogel, der sie mit dem Lied von der »Waldeinsamkeit«
ängstigt. Walther erwähnt im Anschluss an Berthas Erzählung den
Namen des Hundes Strohmian, den Bertha vergessen hatte; darauf-
hin erkrankt Bertha und stirbt im Fieber. Eckbert tötet den in seinen
104 Augen schuldigen Walther, der Berthas Erkrankung ausgelöst hat, und
schließt Freundschaft mit dem jungen Ritter Hugo. Langsam verfällt
Eckbert in einen Traum und Wahnsinn ähnelnden Zustand; er sieht
in Hugo den ermordeten Walther. Er flieht im Wahn und gelangt in
verwunschene Gegenden. Noch einmal erkennt er Walther in einem
Bauern, den er nach dem Weg fragt. Dann, als es schon »um die Sinne
Eckberts geschehn« ist, trifft er die Alte mit ihrem Vogel, die ihm
eröffnet, sie sei Walther gewesen und Bertha Eckberts Schwester. Im
Wahnsinn stirbt Eckbert.
Der häufig als ›Märchennovelle‹ etikettierte Blonde Eckbert belässt
das erzählte Geschehen in der unauflösbaren Schwebe zwischen
Traum, Wahnsinn und Realität. Die drei Erzählebenen der Gegenwart,
der Vergangenheit Berthas und des traumähnlichen Erlebens Eck-
berts am Ende des Textes sind in fließenden Übergängen so verfloch-
ten, dass sie sich durchdringen und dass besonders das Märchenhafte
und Schreckliche seine Geltung für die Gegenwart der Erzählung
behauptet. Die Verrätselung des Textes, die sich beispielsweise
am Spiel mit den Namen (Bertha – Eckbert) oder dem Anagramm
»Strohmian« (»romantisch«) zeigt, intensiviert den Charakter des
Märchenhaften und multipliziert die Deutungsmöglichkeiten. Im
nie eindeutigen Oszillieren zwischen der Idylle und der Dämonie der
Natur, das zu Krankheit und Wahnsinn Berthas und Eckberts ange-
sichts der furchtbaren Wahrheit des Inzests führt, liegt das formal und
ästhetisch Besondere des Blonden Eckbert.
Die jüngere Forschung akzentuiert die exakte Komposition des
Textes und vor allem die Selbstbezüglichkeit, die nicht nur durch
die kommentierende Rahmenhandlung, sondern auch durch zahl-
reiche Anspielungen auf das Literarische und das Erzählen im Text
selbst offenbar wird. So lösen das Lesen und das Erzählen Berthas
die bestimmenden Handlungen aus; im Zentrum des Textes steht
das Anagramm »Strohmian«, dessen Erwähnung Berthas Tod sowie
Eckberts Mord und Wahnsinn verursacht. Der singende Vogel kann
auch in Anlehnung an die Theorie des dichterischen Sprechens in den
Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders als Allegorie des
romantischen Sängers verstanden werden. Der blonde Eckbert gilt als
exemplarisch für die Gattung des romantischen Kunstmärchens und
wurde meist aus dem Kontext des Phantasus herausgelöst rezipiert. 105
Auch in der kommentierenden Rahmenhandlung zum Blonden Eckbert
wird dementsprechend betont, dass man »auf die ursprüngliche Erfin-
LU DW IG T IECK
dung einer Dichtung sehr viel halte«.
Die Wertschätzung der Originalität bezieht sich auch auf die bei-
den folgenden Märchen, Der getreue Eckart und der Tannenhäuser sowie
Der Runenberg. Mit dem Wahnsinn und dem Schrecklichen, das verstö-
rend in die reale Welt einbricht, behandeln die ersten drei Kunstmär-
chen ähnliche Motive. So hält Eckart dem Herzog die Treue, auch als
dieser Eckarts Söhne töten lässt. Eckart beschützt die Söhne des Her-
zogs, als diese von den teuflischen Mächten des Venusbergs gefangen
werden; er stirbt im Kampf gegen die Fabelwesen, die aus dem Berg
drängen. 400 Jahre später hält sich die Sage vom getreuen Eckart noch
immer, der den Wanderer am Eingang des Berges vor der Verlockung
warnt. Der Tannenhäuser jedoch ignoriert auf seinem Abstieg in die
Urgründe auch der eigenen Seele die Warnung des gespenstischen
Eckart und genießt im Venusberg alle irdischen Freuden im andauern-
den Rausch der Lüste. Auch nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr
aus dem Berg kann er den Lockungen nicht widerstehen: Nach einem
Mord kehrt er zurück in den Berg. Wahnsinn, Grauen und Schrecken
sind im Doppelmärchen Der getreue Eckart mehr als im Blonden Eckbert
an das Subjekt gebunden und klarer als Gegenwelt des Triebhaften
und der fleischlichen Sünde gekennzeichnet.
Das Motiv der Gegenwelt, in der wie in der Waldeinsamkeit und
im Venusberg die Gesetzmäßigkeiten der Realität außer Kraft gesetzt
sind, kehrt auch im 1804 erstmals veröffentlichten Runenberg wieder.
Der Jüngling Christian befindet sich nach der Trennung vom Eltern-
haus auf Wanderschaft in einem Gebirge und findet eine Alraune. Die-
ser Fund setzt ein magisch-märchenhaftes Geschehen in Gang, denn
plötzlich steht ein Fremder vor ihm, der vom sagenhaften Runenberg
erzählt. Christian erwartet auf diesem Berg seine ungestillte Sehn-
sucht befriedigen zu können; ihn spornen »irre Vorstellungen und
unverständliche Wünsche« an, so dass ihn auch die dämonische und
abweisende Landschaft nicht aufhält. Er wird schließlich der unbeklei-
deten Bergkönigin ansichtig und verfällt ihrer überirdischen Schön-
heit. Sie überreicht ihm eine kostbare Tafel voll unverständlicher
106 Zeichen, bevor Christian im Wahn den Berg hinabstürzt. Als er am
nächsten Morgen erwacht, ist die Tafel verschwunden und das nächt-
liche Geschehen in die Ferne traumähnlicher Verwirrung entrückt.
Im zweiten Teil der Erzählung wird geschildert, wie der Protago-
nist mit der blonden Elisabeth in einem fernen Dorf ein neues Leben
beginnt. Seine Ehe ist glücklich, seine Geschäfte sind erfolgreich,
dennoch ist die Bergkönigin in seinen Träumen nach wie vor präsent.
Der Wunsch, seine Eltern zu besuchen, führt ihn bald wieder in das
bedrohliche Gebirge. Die Natur erscheint nun ebenso anthropomor-
phisiert wie sexualisiert, sie wird zum Spiegel seiner Triebe. Das plötz-
liche Erscheinen seines Vaters verhindert jedoch noch einmal, dass
Christian den Lockungen nachgibt. Nach vielen Jahren erscheint ein
Fremder im Dorf, der ihm Geld zur Verwahrung überlässt. Nun wird
die Versuchung stärker, denn in dem Fremden erkennt Christian die
Bergkönigin; auch hört er wieder die Alraune stöhnen. Er nimmt das
Geld an sich, und als er dann das alte Waldweib trifft, in dem er den
Fremden und die Bergkönigin zu erkennen glaubt, und auch die Tafel
wiederfindet, geht er zurück in die Berge, um Schätze zu heben und
die Bergkönigin zu suchen. Über sein Haus und seine Familie kommt
das Elend. Eines Tages kehrt Christian alt und zerrissen zurück; offen-
sichtlich dem Wahnsinn verfallen, bezeichnet er einen Sack voller
Steine als wertvollen Schatz und das Waldweib als die Bergkönigin.
Danach verschwindet er für immer. Für die Komposition und den
Stil des Runenberg gilt Ähnliches wie für den Blonden Eckbert. Auch in
diesem Fall hat man es mit einer bildlich komplexen und kunstvoll
verwobenen Handlung zu tun, die die Vermengung von Wahnsinn,
Grauen und Alltäglichkeit zum Thema hat. Wie der Blonde Eckbert gilt
auch Der Runenberg als exemplarisch für die Gattung des Kunstmär-
chens.
In der folgenden Erzählung Liebeszauber nimmt die Schilderung
des Grauens zu und gipfelt in blutigen Szenen voller albtraumhafter
Schrecknisse. Eine groteske Alte, die Jungfrauen die Kehle durch-
schneidet und einen scheußlichen Drachen mit dem Blut tränkt,
stellt das personifizierte Grauen dar. Ein höllisches Maskenfest endet
schließlich in einer Blutorgie. Die kommentierende Rahmenhandlung
bezieht sich kritisch auf das in den ersten Erzählungen geschilderte
Grauen; die Damen und Herren diskutieren an diesen Beispielen das 107
Recht der Kunst auf die Freiheit und Möglichkeit der Darstellung. Das
Verstörende der ersten Märchen liegt vor allem auch in der Tatsache,
LU DW IG T IECK
dass es weniger um die Verurteilung des amoralischen Handelns geht,
als vielmehr um die eindrucksvolle Darstellung des Numinosen und
des magischen Grauens, das ohne Veranlassung nur auf das unbegreif-
liche Streben und Wollen der Protagonisten hin seine Macht aus-
zuüben beginnt. Anders als im Volksmärchen erscheint das Grauen
somit als Teil des Innersten des Menschen.
Die die erste Abteilung abschließende Gruppe beinhaltet drei
Texte: die »Liebesgeschichte der schönen Magelone«, eine bereits in
den Volksmährchen 1797 veröffentlichte romantisierte Adaption des
Volksbuchstoffs, »Die Elfen« und »Der Pokal«, eine Liebesgeschichte
um ein verwunschenes Gefäß und eine Verfehlung des Liebhabers im
Reich des Magischen, die dieser zeitlebens büßt, um seine Geliebte
erst am Ende seines Lebens wiederzusehen. In den »Elfen« geht es
um das Mädchen Marie, das sich in die gefährliche Nähe des verwun-
schenen Tannengrunds begibt. Im Spiel versunken, betritt sie ein
romantisches Märchenland und begegnet »glänzenden Kindern« und
der Elfe Zerina, die sie mit dem magischen Palast und dem Leben der
Elfen, Zwerge und des sagenhaften Vogel Phönix vertraut macht. Als
Marie das Zauberland verlässt und zum Elternhaus zurückkehrt, sind
sieben Jahre vergangen. Sie heiratet und bringt die mit besonderen
Fähigkeiten ausgestattete Elfriede zur Welt. Das Kind nimmt bald
Kontakt zur Elfe Zerina auf. Marie und ihr Mann jedoch beobachten
das Spiel der Kinder heimlich und vergehen sich so am Magischen.
Die Elfen verlassen den Tannengrund, das Land wird von Dürre und
Elend heimgesucht und Marie und Elfriede sterben bald. Anders als
in den einleitenden Kunstmärchen geht es am Ende der ersten Abtei-
lung um die magisch-versöhnliche Dimension der märchenhaften
Gegenwelt, die tabuisiert wird und den Kindern vorbehalten ist; das
Grauen findet hier keinen Platz. Im abschließenden Gespräch der
Rahmenhandlung werden »Der blonde Eckbert« als beste Erzählung
hervorgehoben, »Die Elfen«, die »Magelone« und »Der Pokal« gelobt,
»Der Runenberg« und »Liebeszauber« aus den genannten Gründen
herabgewürdigt.
108 Die Dramen der zweiten Abteilung modifizieren bestehende
Stoffe in satirischer Absicht. Volksmärchenstoffe (Leben und Tod des
kleinen Rotkäppchens, Erstveröffentlichung 1800; »Leben und Taten des
kleinen Thomas, genannt Däumchen«), Adaptionen der Märchen
Charles Perraults (Der Blaubart, 1797; Der gestiefelte Kater, 1797) und der
Volksbuchstoffe (Fortunat) geraten in anti-illusionistischer und teils
grotesker Manier zur Abrechnung mit dem Literatur- und Theaterbe-
trieb. Im Rotkäppchen kommt es zur Travestie des Märchens, indem der
Wolf als Sieger aus dem Drama hervorgeht. Er frisst das als Allegorie
romantischer Poesie konzeptualisierte Rotkäppchen, um sich an der
Menschheit zu rächen, die statt seiner den Hund domestiziert und
den Wolf trotz seiner lauteren Absichten immer nur gedemütigt hat.
Der als Revolutionär und Freigeist beschriebene Wolf wird dann vom
Jäger als Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft erschossen.
Im Blaubart verbindet Tieck eine ironisierende Parodie des Ritter-
stücks mit zeitkritischen Anspielungen vor dem Hintergrund eines
düsteren Geschehens. Der Ritter Hugo hält Agnes gefangen, die gleich
ihren sechs Vorgängerinnen in der verborgenen Kammer des Schlos-
ses geschlachtet und ausgestellt werden soll. Sie wird jedoch von ihren
Geschwistern gerettet; Hugo fällt im Kampf. Die kommentierende
Rahmenhandlung wird zu einer Apologie des Fünfakters, bevor sich
dort eine ausgedehnte Parallelhandlung mit Reflexionen und Erzäh-
lungen um die »theatralische Liebhaberei« herum entspinnt.
Der gestiefelte Kater stellt ein Stück im Stück dar: Eine Theater-
gruppe bemüht sich, den Märchenstoff auf die Bühne zu bringen,
scheitert dabei aber in grotesken Verkehrungen und satirisch darge-
stellten Auseinandersetzungen mit dem Publikum. Bereits der Prolog
zeigt das Publikum, das vorurteilsbehaftet das Stück als »Kinderposse«
auf dem »National-Theater« verunglimpft und die beginnende Auf-
führung stört. Der Dichter erscheint und das Publikum begehrt ein
Stück über »Sittlichkeit und deutsche Gesinnung« und »religiös erhe-
bende, wohltuende geheime Gesellschaften«. Die nun einsetzende,
bekannte Märchenhandlung wird laufend vom ignoranten Publikum
durch Kommentare gestört, die sich auf äußere Erscheinungsbilder
wie Kostüm, Maske und Bühnenbild beziehen. Nur die »schöne
menschliche Gesinnung«, wie »die Alten« sie darstellten, wird goutiert.
Die Schauspieler fallen aus den Rollen, und der Dichter erscheint wie- 109
der, um das Publikum mit einer bunten Zirkusdarbietung zu besänf-
tigen. Auch soll der Theater-Maschinist bei weiteren Unmutsbekun-
LU DW IG T IECK
dungen alle Maschinen des Theaters zur Attraktion betätigen.
Das Spiel mit den Ebenen wird extrem, als innerhalb des auf-
geführten Märchens selbstreflexiv auf das in diesem Augenblick
dargebotene Stück Bezug genommen wird; so prüft der Hanswurst
eine Disputation zum Thema, ob Der gestiefelte Kater ein gutes Stück
sei. Das Publikum reagiert mit Verwirrung. Am Ende applaudiert
man der Dekoration der Zauberflöte und der Dichter schließt mit den
Worten: »O du undankbares Jahrhundert!« Tieck nutzt in besonderer
Weise das Spiel auf mehreren Ebenen und weitet die Möglichkeiten
des Stücks im Stück in satirischer Absicht aus. Angesichts dieser Inno-
vationen war die Wirkung des Gestiefelten Katers beispielsweise bei
E. T. A. Hoffmann oder Grabbe groß; die maximalisierte Dimension
der Selbstreflexivität ließ das Werk auch im 20. Jh. zu einem geschätz-
ten Stück werden.
Tieck radikalisiert die im Gestiefelten Kater begonnenen Experi-
mente mit dem Mehrebenenspiel und der Selbstbezüglichkeit vor
allem in dem 1800 erschienenen »historischen Schauspiel« Die verkehrte
Welt. Bereits der Beginn des Stücks signalisiert diese Ausrichtung: Die
Musik selbst kommentiert das Stück, dann tritt der »Epilogus« auf
(der Prolog wird am Schluss gesprochen), der das Stück mit einem
ironischen Angriff auf das Publikum für beendet erklärt: »Ihr müßt
Euch übrigens darüber nicht verwundern, daß Ihr das Stück noch gar
nicht gesehn habt, denn hoffentlich seid Ihr doch in so weit gebildet,
daß das bei Euch nichts zur Sache tut, um darüber zu urteilen.« Die
Bühne stellt ein Theater dar, auf dem Skaramuz und der Dichter über
die Rolle des Skaramuz streiten, der statt eines komischen einen edlen
Charakter, nämlich den Apoll darstellen möchte. Es kommt zur Ver-
tauschung der Rollen, wobei der Dichter dem Publikum die Verant-
wortung überträgt. Fortan herrscht das Publikum beispielsweise über
die Maschinen; so kommt es zu komischen Szenen, wenn Skaramuz
überraschend in ein vom Publikum angeordnetes Gewitter gerät.
Skaramuz, Repräsentant utilitaristischer Zweckrationalität,
besetzt den Parnass mit der Frage: »Wie viel trägt mir aber der Berg
110 ein?« Daraufhin veranlasst er die landwirtschaftliche Nutzung des
Parnass. Ein fremder Arzt tritt auf, der die Muse Melpomene, die
aus ihrem bürgerlichen Leben in den Parnass geflüchtet ist, wieder
heimholen will. Als Skaramuz ihre Freigabe verweigert, wird ein Thea-
terstück über diese verhinderte Liebe aufgeführt, um ihn umzustim-
men. Innerhalb dieses Stücks kommt es auf einer vierten Ebene zur
Aufführung eines weiteren Stücks, bis Skaramuz schließlich nachgibt.
Die Zuschauer allerdings rebellieren gegen diese Konfusion. Apoll,
der derweil Schafe hütete, entschließt sich nun zur Wiedereroberung
seines Throns. Obwohl er siegt, beschließt das Publikum, den sympa-
thischen Skaramuz auch weiterhin regieren zu lassen.
Im Vergleich zum Gestiefelten Kater treten in Die verkehrte Welt
Handlungselemente und Figurenzeichnung noch mehr in den Hinter-
grund; dominant werden die satirisch-polemische Absicht, die Ver-
mengung der Ebenen durch ein potenziertes Spiel im Spiel sowie die
zeitkritische Anspielung und die Parodie. Neben die Angriffe auf das
an Oberflächenreizen interessierte Publikum tritt vermehrt auch die
Abrechnung mit den Idealen der Aufklärung mit den Mitteln einer ins
Extreme getriebenen, theatralen Form romantischer Ironie. So reflek-
tieren beispielsweise die Darsteller beständig über den Zuschnitt
ihrer Rolle oder probieren die technischen Möglichkeiten der Theater-
Maschinen aus. Der Fortgang der Handlung wird immer wieder durch
den Einbruch anderer Ebenen oder durch eingestreute, teils idyllische,
komödiantische oder groteske Szenen gestört. Das Stück gilt als nahe-
zu unaufführbar; wegen seiner Selbstreflexivität und der Verwirrung
der Ebenen erfährt es dennoch viel Beachtung.
Die Rahmenhandlung kommentiert den Humor dieses Schau-
spiels und gibt mit Weises Zittauischem Theatrum (1683) auch die Quelle
Tiecks an. Die Parallelhandlung um einen Theaterbesuch im nahen
Städtchen wird fortgeführt. Man geht auf den »traurigsten Anblick der
deutschen Theater-Welt« und die im Sinken begriffene Schauspiel-
kunst ein (mit Ausnahme von Iffland, Schröder, Garrick und Fleck).
Tieck gibt zahlreiche illustrative Beschreibungen vom Zustand der
(Wander-)Theater um 1800 und von der Attraktionslust und Sen-
sationsgier des deutschen Publikums, die »unsre Theater in wahre
kindische Kuckkasten verwandeln, und bald die letzte Spur von Kunst
auslöschen werden«. Der zweite Band schließt mit dem dreiaktigen 111
Märchen »Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen«,
in dem Tieck den bekannten Märchenstoff mit der Artussage verbindet.
LU DW IG T IECK
Der dritte Band ist ganz dem Fortunat gewidmet, der in zwei Teilen
mit jeweils fünf Aufzügen von zwei Sprechern gelesen und durch den
eingestreuten »Prolog« getrennt wird. Auch in inhaltlicher Hinsicht ist
der Fortunat antagonistisch angelegt. Wird im komödiantischen ersten
Teil noch das glückliche Leben des verarmten Edelmannes Fortunat
geschildert, der einen sich nie leerenden Beutel Gold vom personifi-
zierten Glück überreicht bekommt und mit dessen Hilfe eine Reihe
von Gefahren besteht, heiratet und durch seinen Großmut bekannt
wird, stellt der tragödische zweite Teil das gegensätzliche Schicksal
seiner Söhne Ampedo und Andalosia dar. Nach Fortunats Tod verführt
sie das magische Erbe, der Beutel und ein Zauberhut, zu Leichtsinn,
Eigennutz, Ehrsucht und Schwäche bis in den frühen Tod. Darin zeigt
sich der Fortunat als Illustration eines Epochenumbruchs, als dessen
Folge die gestiegene Bedeutung des Handels Großmannssucht und
Geldfetisch befördert. Der »Prolog« kommentiert dieses Geschehen,
indem hier die personifizierte Fortuna vor einem Gericht angeklagt
wird, für einen unglücklichen Lebenslauf verantwortlich zu sein; das
Urteil lautet auf Freispruch, denn der Mensch ist für sein Schicksal
selbst verantwortlich. Insofern sind der Fortunat und das gegensätz-
liche Los des Vaters und der Söhne auch als eine Absage an das klassi-
sche Schicksalsdrama zu lesen.
Die Dramen des Phantasus wenden sich gegen die dramaturgi-
schen Konventionen und die normative Poetik. Sie prägen mit ihrer
Offenheit, ihrer Fragmentarizität, ihrer uneinheitlichen Handlung,
der aufgelösten Zeit- und Raumstruktur und der Ironie das romanti-
sche Drama, das auf eine Grenzverwischung von Theater und Wirk-
lichkeit hin abzielt und das Leben und die Kunst zum Spiel werden
lässt. Die stilistische und inhaltliche Heterogenität des Phantasus
als Gesamtwerk und der unterschiedliche Entstehungskontext der
14 Einzelwerke bewirkten eine meist vom Gesamtwerk abgelöste
Rezeptionsgeschichte der Märchen und Dramen. Diese gelten als pro-
grammatisch und exemplarisch für die Gattung des Kunstmärchens
und das romantische Drama. CHRISTIAN DAWIDOWSKI
112
Adelbert von Chamisso
* vermutlich zwischen 27. und 30. Januar 1781 auf Schloss Boncourt/
Champagne (Frankreich)
† 21. August 1838 in Berlin (Deutschland)
Die Märchen
Hauffs Märchen erschienen 1826 bis 1828 in drei Mährchen-Almanachen.
Beeinflusst von der Märchensammlung Tausendundeine Nacht, von den
Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) der Brüder Grimm und den roman-
116 tischen Kunstmärchen L. Tiecks und E. T. A. Hoffmanns, gewinnen
die Hauff ’schen Märchen doch ihr eigenes Gepräge. Jeder Almanach
enthält eine Rahmengeschichte (»Die Carawane«, »Der Scheikh von
Alessandria und seine Sclaven«, »Das Wirtshaus im Spessart«), die als
Bindeglied zwischen den einzelnen Märchen fungiert.
Hauff wählte die Almanachform in der Absicht, den Märchen wie-
der eine größere Publizität und ideelle Verbindlichkeit zu verschaf-
fen. Dies macht die allegorische, zeitkritische Einleitung zum ersten
Almanach, »Märchen als Almanach«, deutlich: »Märchen«, die älteste
Tochter der »Königin Phantasie«, klagt der Mutter ihr Leid. Seit sich
die Menschen »kluger Wächter« – gemeint sind offenbar einige beson-
ders unduldsame Literaturkritiker – bedienten, sei sie nicht mehr so
willkommen wie früher. Der »Mode« und ihren »windigen Gesellen«
gebe man nun auf Erden den Vorzug. Die Mutter rät »Märchen«, sich
an die Kinder zu wenden und deren Aufmerksamkeit mit Hilfe eines
neuen, farbenfrohen Kleides zu erobern: dem »Gewand eines Alma-
nachs«. Die Wächter verspotten das malerisch aufgeputzte Phantasie-
geschöpf, schlafen aber ein, als es bunte Bilder in die Luft steigen lässt.
Ein freundlicher Mann gewährt »Märchen« Einlass und weist ihm
einen Platz bei den Kindern an. Auf diese Weise evoziert Hauff den
für seine Erzählhaltung und die Wirkungsintensität des Erzählten
WIL H EL M H AU F F
Als grausiger Kontrast schließt sich die Geschichte vom »Gespens-
terschiff« an, und auch »Die Geschichte vom kleinen Muck« trägt eher
groteske als heitere Züge. Die Rahmenerzählung nimmt eine über-
raschende Wendung: Der geheimnisvolle Fremde, der die Anregung
zum Erzählen gab, entpuppt sich als der berüchtigte Räuber Orbasan,
der in einigen Märchen eine Rolle spielte, also Märchenfigur und Mär-
chenerzähler zugleich ist. Damit gewinnt auch die Rahmenerzählung
Märchencharakter.
Eine ähnlich überraschende Pointe weist die Rahmenerzählung
des zweiten Almanachs auf. Vor vielen Jahren ist Kairam, der Sohn
des Scheiks von Alessandria, von den Franken entführt worden. Ein
Derwisch prophezeite dem Vater, sein Sohn werde einst am Jahrestag
seiner Entführung heimkehren. Jahr für Jahr veranstaltet der Scheik
aus diesem Grund ein großes Fest und gibt, weil er seinen Sohn in
der Sklaverei wähnt, zwölf Sklaven die Freiheit. Diese bedanken
sich mit Geschichtenerzählen. Als das Fest zum 15. Mal stattfindet,
erzählt einer der Sklaven, ein schöner junger Mann, »Die Geschichte
Almansors«, die Geschichte einer Entführung. Am Schluss wird deut-
lich, dass Almansor mit dem Erzähler identisch ist und dass sich hinter
beiden der verlorene Sohn des Scheiks verbirgt.
Außer vier von Hauff selbst stammenden Märchen (»Zwerg Nase«,
»Abner, der Jude«, »Der Affe als Mensch«, »Geschichte Almansors«)
enthält der zweite Almanach auch Märchen anderer Autoren: »Der
arme Stephan« von G. A. Schöll, »Der gebackene Kopf« von J. Morier
sowie »Das Fest der Unterirdischen« und »Schneeweißchen und
Rosenrot« von W. Grimm. »Zwerg Nase« und »Der Affe als Mensch«
spielen in Deutschland und bezeugen die allmähliche Abkehr Hauffs
von der orientalischen Märchenwelt und den Übergang zur Welt der
Grimm’schen Märchen, der im »Wirtshaus im Spessart« (mit einer
Ausnahme) vollzogen wird. »Zwerg Nase« ist die Geschichte des klei-
nen Jakob, dessen Mutter auf dem Markt Gemüse und Kräuter ver-
kauft. Eines Tages schilt ein hässliches, boshaftes altes Weib mit langer
Nase und Spinnenfingern die Ware »schlechtes Zeug«. Jakob belustigt
118 vor allem die lange Nase. Zur Strafe versetzt ihn die Alte, als er sie in
ihr wunderliches Haus begleitet, mit Hilfe eines seltenen Kräutleins
in tiefen Schlaf. Als er wieder erwacht, läuft er nach Hause, wo man
ihm mit Abscheu begegnet: Er hat sich in einen hässlichen Zwerg mit
einer langen Nase verwandelt. Nun verdingt er sich als Küchenmeis-
ter bei einem Herzog, für den er eines Tages die »Pastete Souzeraine«
zubereiten soll. Erst nach langem Suchen findet er das seltene Kräut-
lein »NiesmitLust«, eine der Hauptzutaten. Er riecht daran und erhält
seine natürliche Gestalt zurück.
Von düsterer Spannung ist die Rahmenerzählung des dritten
Almanachs, »Das Wirtshaus im Spessart«, erfüllt. Eine Gruppe von
Reisenden verbringt die Nacht in einem Wirtshaus mitten im sagen-
umwobenen, von Räubern durchstreiften Spessart. Um die Angst vor
den Räubern zu bannen – die Wirtsleute scheinen deren Komplizen
zu sein –, erzählt man sich Geschichten (»Sage vom Hirschgulden«,
»Das kalte Herz«, »Saids Schicksal«, »Die Höhle von Steenfoll«).
»Das kalte Herz« ist ein Märchen aus dem Schwarzwald. Der arme
Kohlenbrenner Peter Munk sehnt sich nach Reichtum und Ansehen.
Das »Glasmännlein«, genannt Schatzhauser, gewährt ihm drei Wün-
sche. Statt Verstand und Klugheit wünscht sich der törichte Peter,
ein flotter Tänzer zu sein, stets genauso viel Geld zu besitzen wie der
»dicke Ezechiel«, den der mächtige Waldgeist »Holländer-Michel«
reich gemacht hat, und Eigentümer der ertragreichsten Glashütte im
ganzen Schwarzwald zu sein. Weil er jedoch Stammgast im Wirtshaus
wird, geht es mit der Glashütte rasch bergab, und als der dicke Ezechiel
sein ganzes Geld verspielt, ist auch Peter bettelarm. In seiner Verzweif-
lung fleht er den Holländer-Michel um Hilfe an. Dieser verspricht ihm
Reichtum unter der Bedingung, dass er sein Herz hergibt und sich
dafür ein steinernes einsetzen lässt. Mit dem Herz aus Stein ist Peter
unempfindlich für menschliche Regungen geworden, führt ein Leben
in Saus und Braus, verstößt seine alte Mutter und tötet im Zorn seine
junge Frau, weil sie einen armen alten Mann mit Essen versorgt hat.
Dieser, niemand anders als das Glasmännlein, zeigt ihm, wie er den
Holländer-Michel überlisten und sein lebendiges Herz wiedererlan-
gen kann. Obendrein gibt er dem Bußfertigen seine Frau und seine
Mutter zurück. Auch in der Rahmenerzählung wendet sich alles zum
Guten: Dank der Unerschrockenheit des jungen Felix werden die Rei- 119
senden, die inzwischen Räubern in die Hände gefallen sind, befreit.
Hauffs Märchen entziehen sich der präzisen Zuordnung zu einer
WIL H EL M H AU F F
literarischen Stilrichtung. Wie für E. T. A. Hoffmann, dessen Theorie er
sinngemäß in das Rahmengespräch zu der Märchensammlung »Der
Scheikh von Alessandria« übernahm, liegt auch für Hauff der eigen-
tümliche Reiz des Märchens in der »Einmischung eines fabelhaften
Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben«. Von Hoffmann lernte
er die genaue und greifbare Beschreibung des ›Wunderbaren‹. Dies
zeigt sich im »Kalten Herz« beispielsweise in dem sinnverwirrenden
Gestaltwechsel des Schatzhausers zwischen Eichhörnchen und
Mensch, in den anderen Metamorphosen der beiden Geister, in den
aufgereihten pochenden Herzen von Michels Opfern und in Peters
wirklichkeitsnahen Träumen. DIETER BAAKE / KLL
Clemens Brentano
* 9. September 1778 in Ehrenbreitstein/Koblenz (Deutschland)
† 28. Juli 1842 in Aschaffenburg (Deutschland)
CL EMENS BR EN TA NO
Gockel erneut ins Unglück zu stürzen. Eine Maus, die als »Motor« in
der Puppe gefangen ist, verhilft der Familie dann wieder zu dem Zau-
berring. Die letzten Wünsche bringen Gackeleia den Bräutigam Prinz
Kronovus und verwandeln die ganze Hochzeitsgesellschaft in eine
Kindergesellschaft, der Alektryo gerade das Märchen erzählt.
In der Spätfassung ist die Hochzeit Gackeleias ausgeschmückt,
wobei der Blumensarg der Ahnfrau (Gräfin Amey) und (im Anhang)
deren Tagebuchblätter (u. a. zur Gründung des »Ordens der freudig-
frommen Kinder« und des Klosters Lilienthal in Vadutz) ins Zentrum
rücken. Der frühromantische Kult der Kindlichkeit erscheint hier
verwandelt zu einem frommen ›Kinderorden‹. Die Wirkung des
Märchens, das sich unversehens in eine Art Privat-Mythologie mit
Bezügen auf Brentanos Freundinnen Luise Hensel und Emilie Linder
verwandelt, wird damit weitgehend zerstört. Die von Germanisten
eingeführte Bezeichnung ›Arabesken-Roman‹ versucht – wenig
überzeugend – die Verknüpfung von Zueignung, Märchentext und
Tagebuch der Ahnfrau zum romantischen Kompositionsprinzip des
Werkes zu erheben. HARTWIG SCHULTZ
Theodor Storm
* 14. September 1817 in Husum (Deutschland)
† 4. Juli 1888 in Hademarschen (Deutschland)
Die Märchen
Die Märchenproduktion des Autors begann in der frühen Studienzeit
mit Hans Bär, setzte sich mit Der kleine Häwelmann (1849) und Hinzel-
122 meier (1850/55) fort, die zu Storms ersten ernsthaften poetischen Ver-
suchen zu zählen sind, und endete mit den drei novellistisch durchge-
feilten Märchen der 1860er Jahre: Die Regentrude (1864), Bulemanns Haus
(1864) und Der Spiegel des Cyprianus (1865), 1866 gemeinsam veröffent-
licht in der Buchausgabe Drei Märchen. Storms Märchen bündeln die
wichtigsten Traditionslinien der Gattung seit der Romantik, indem
sie auf Vorgaben vor allem Tiecks, der Brüder Grimm, Hoffmanns,
Hauffs und Andersens rekurrieren.
Hans Bär steht ganz in der Tradition der Grimm’schen Volkmär-
chen: Ein von einer Bärin aufgezogener, ebenso starker wie guther-
ziger Köhlersohn (Typus ›Jung-Siegfried‹) zieht hinaus in die Welt,
tötet einen Riesen, erobert sich so die schöne Königstochter, wird
wenig später König und kehrt im Triumph zu Eltern und ›Pflegemut-
ter‹ zurück. Während der 1930 erstmals gedruckte Text weitgehend
unbekannt blieb, gehört das »Kindermärchen« (so der Untertitel) Der
kleine Häwelmann zu Storms meistgelesenen Dichtungen: Es erzählt
die Geschichte eines kleinen Jungen im »Rollenbett«, der den »guten
alten Mond« zu einer halsbrecherischen nächtlichen Fahrt durch Stadt
und Wald bis in ikarisch himmlische Höhen nötigt. Textgrundlage
ist dabei meist die überarbeitete, um die kindlich verniedlichende
Darstellungsweise der Erstausgabe bereinigte Fassung von 1860.
T HEOD OR ST OR M
entstand mit dieser Sammlung der in Erzählweise, Komposition und
thematischer Gestaltung gänzlich unterschiedlichen Märchen eine
seiner bemerkenswertesten Dichtungen.
Während Der Spiegel des Cyprianus eher dem Genre ›Sage‹ zuzurech-
nen ist und Bulemanns Haus der ›Historie‹, kann Die Regentrude als Mär-
chen im eigentlichen Sinn gelten. Der Text stellte schon die zeitgenös-
sische Rezeption vor Deutungsschwierigkeiten: Handelt es sich dabei
um zweckfreie, ›reine Poesie‹ oder um eine ›Allegorie‹ des Kampfs zwi-
schen den Elementen Feuer und Wasser? Beide Perspektiven ignorie-
ren die poetologische Ausrichtung eines Textes, der die Möglichkei-
ten märchenhaften Erzählens unter den Bedingungen realistischer
Novellistik auslotet. Die Geschichte vom Weg des Liebespaars Maren
und Andrees aus der dörflichen Realität in die wunderbare Welt der
schlafenden Regentrude ruft zentrale Gattungsmerkmale auf: Im
Mittelpunkt steht eine schwierige Aufgabe, nach deren listenreicher
Bewältigung die äußerst typenhaft gezeichneten Figuren neu konstel-
liert werden. Der Feuermann ist besiegt, und der reiche (ursprünglich
›böse‹) Wiesenbauer stimmt der Heirat seiner Tochter mit dem Sohn
der armen (›guten‹) Mutter Stine zu. Dabei vollzieht diese finale Ver-
bindung der Kinder die Versöhnung von Realitätsprinzip (verkörpert
durch den Wiesenbauer) und naturmagischer Welt (Mutter Stine).
Wie der Regen, der in den Brautkranz tropft, ›Glück‹ bedeutet, weil
er auf den Schutz durch die Regentrude verweist, so dominiert das
Ende des Märchens ein realpragmatisch-utilitaristischer Blick auf die
Zukunft des Paares: Das im Bild des tropfenden Regens verheißene
Glück bezieht sich in erster Linie auf den Erhalt und die Sicherung
ihres materiellen Wohlstands.
Storms dichterischem Selbstverständnis zufolge gehört die Gat-
tung ›Märchen‹ zu den wichtigsten poetischen Formen. Die Drei Mär-
chen von 1866 hielt er selbst nicht nur für »das Beste, was ich geschrie-
ben habe«, sondern zudem für »ungefähr das Beste, was in dieser Art
in deutscher Zunge existirt«. Zwar boten ihm auch die in Am Kamin
(1862) versammelten Spuk- und Schauergeschichten Gelegenheit, sein
124 Konzept von ›wahrer Poesie‹ zu erproben. Eine auf den »Naturlaut
in künstlerischer Form« abonnierte Poetologie aber lässt sich nach
Storm insbesondere in volksliedartiger Lyrik sowie im Märchen ver-
wirklichen. Wie auch seine Sammel- und Bearbeitungstätigkeit in den
1840er Jahren zeigt (Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig,
Holstein und Lauenburg, 1845), wertete Storm das Märchen gegen zeitge-
nössische Vorbehalte auf, die die Gattung als ›unrealistische Kinderei‹
verwarfen oder für bloßen »Dilettantismus« hielten, »der seine Pfu-
scherarbeit mit bunten Bildern überkleistert« (Vorrede zu Geschichten
aus der Tonne, 1873). Dagegen setzte Storm seine Märchen explizit als
eine »poetische Kunstform« ein. Deren Bedeutung ergibt sich aus
einer spezifischen Produktionshaltung, die seinen Forderungen an
eine angemessene Rezeption korrespondiert: Wie die Märchen »aus
unmittelbarster naiver und hingebendster Anschauung« entstanden
sind, so solle der Leser bereit sein, »alles Suchen nach Bezügen außen
vor zu lassen, und rein in und mit den gegebenen Dingen zu leben«.
Die Märchen der 1860er Jahre bezeichnete Storm in Anlehnung
an die ästhetische Editorik der romantischen Märchenproduktion
als »ernst gemeintes Werk der Poesie«, das nicht als erfunden und
demnach inszeniert zu gelten habe, sondern als gefunden und damit
›wahr‹. CLAUDIA STOCKINGER
Peter Christen Asbjørnsen /
Jørgen Engebretsen Moe
Peter Christen Asbjørnsen Asbjørnsen / Moe
siehe Seite 127
CH A R L E S DICK ENS
loste Kinder, die unter dem Mantel des Geistes hervorkommen und
ihm als die Kinder der Menschheit, nämlich ›Unwissenheit‹ und ›Man-
gel‹, vorgestellt werden.
In der vierten ›Strophe‹ lässt ihn der Geist der zukünftigen Weih-
nacht, eine schwarz bemantelte Erscheinung, auf der Straße Gesprä-
che von Passanten über einen verstorbenen Geschäftsmann mit
anhören. Bei einem Altwarenhändler wird Scrooge Zeuge, wie Gegen-
stände aus dem Besitz eines Toten, einschließlich des Totenhemdes,
verhökert werden. Er sieht auch den Leichnam, der ausgeplündert und
unbeweint auf seinem Bett liegt. Freude über den Tod zeigt ein junges
Ehepaar, Schuldner des Toten, denen nun Zahlungsaufschub gewährt
wird. Mitgefühl sieht Scrooge dagegen bei der Familie Cratchit, die um
den kleinen Tim trauert. Erst als er ein Grab und den Grabstein mit der
Inschrift ›Ebenezer Scrooge‹ sieht, versteht er, dass ihm sein eigenes
Ende vorgeführt wurde. Er gelobt, die Lehre, die er aus den Erschei-
nungen gezogen hat, zu beherzigen und den ›Geist der Weihnacht‹
sein weiteres Leben bestimmen zu lassen.
In der letzten ›Strophe‹ erwacht Scrooge am Weihnachtsmorgen
und schickt als erstes den größten Truthahn, den er beschaffen kann,
zur Familie Cratchit. Er verspricht, den Armen eine umfangreiche
Spende zukommen zu lassen und nimmt im Hause seines Neffen am
Weihnachtsessen teil. Schließlich erhöht er das Gehalt seines Buch-
halters und kümmert sich um dessen Familie, damit Tim nicht stirbt.
Aus dem Egoisten und Materialisten Scrooge ist ein guter Mensch
geworden.
Die Rückschau und der Zukunftsentwurf erlauben es Dickens,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in einer Simultanschau
nebeneinander zu stellen. Wie in den anderen Weihnachtserzählun-
gen geht es ihm darum, Situationen aus dem Leben der Armen in einer
Geschichte zu zeigen, deren moralische Botschaft die Glorifizierung
der Familie, gegenseitige Verantwortung und Liebe der Menschen
untereinander ist. Dickens’ Plädoyer für Nächstenliebe und die soziale
Zusammengehörigkeit aller Menschen wurde häufig als ›Weihnachts-
130 philosophie‹ kritisiert. Dagegen belegen zahlreiche Adaptationen und
Dramatisierungen, die zur Weihnachtszeit aufgeführt werden, die
anhaltende Popularität seines Werks. Mit A Christmas Carol begründete
Dickens die Gattung der ›Weihnachtsgeschichte‹ und trug maßgeb-
lich zur Re-Etablierung des Weihnachtsfestes bei, das zu Beginn des
19. Jh.s in England völlig aus der Mode gekommen war.
ANNEGRET MAACK
Aleksandr Nikolaevič Afanas’ev
* 23. Juli 1826 in Bogučar bei Voronež (Russland)
† 5. Oktober 1871 in Moskau (Russland)
L EW IS C A R ROL L
stehen. Dabei werden gerade die vertrautesten Erfahrungsbereiche
des Kindes grotesk verfremdet: Freizeit und Spiel, Heim und Herd,
Unterricht und Geselligkeit. Ein besonderer Reiz geht von der spiele-
rischen Sprachkomik des Nonsens aus. Die unsinnige Verwirrung der
Kommunikation erfährt Alice vor allem in ihren Versuchen, zu einer
Verständigung mit den Wunderlandwesen zu kommen, die sie quasi-
rituell in abstruse Dispute verwickeln und sie so unter Druck setzen,
dass ihr selbst bald sprachliche Fehlleistungen unterlaufen: Die spie-
lerische Manipulation der Sprache auf allen Ebenen lässt sie letztlich
als höchst unzuverlässiges Verständigungs- und Ausdrucksmedium
erscheinen.
Die Struktur der Erzählung ist episodenhaft. Alice schwankt in der
Folge der Abenteuer zwischen kindlicher Spontaneität und frührei-
fer Vernunft und verhält sich paradoxerweise meist erwachsener als
die sich kindisch gebärdenden Autoritätsfiguren, die ihr mit repres-
siven Ritualen zusetzen. Sie macht keine Entwicklung durch und
zieht, als sie den Traum im abschließenden Rahmen der Schwester
erzählt, keine Bilanz im Sinne eines Lernprozesses. Dies unterstreicht
zugleich den Unterhaltungscharakter der Erzählung, die im Unter-
schied zur Tradition der (hier mehrfach auch parodierten) erbaulichen
Kinderliteratur auf Spannung und Witz setzt, nicht zuletzt den schon
von den ursprünglichen Zuhörern der Geschichte eingeforderten
Nonsens. Die Erwartungshaltung ist zugleich im Kontext des vikto-
rianischen Geschmackswandels zu sehen, der durch das verstärkte
Aufkommen und die formale Auffächerung jeglicher Art von ›inno-
cent mirth‹ (unschuldiger Heiterkeit) gekennzeichnet war.
Beide Alice-Bücher wurden nicht nur nach literarischen Kriterien
auf vielfältige Weise gedeutet, wobei manche Interpreten aus den
Texten verschlüsselte Botschaften herauslesen, die Carroll auch in
seinen kühnsten Träumen kaum hineingelegt hätte. Überzeugender
ist die Forschungsrichtung, die die Texte als das betrachtet, was sie
von Anfang an waren: Kinderbücher. Als solche sind sie prototypisch
für viele spätere Klassiker der Kinderliteratur in der angelsächsischen
136 Welt: von L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz, 1900 (Der Zauberer
von Oz), und Kenneth Grahames The Wind in the Willows, 1908 (Der Wind
in den Weiden), bis zu J. K. Rowlings Reihe der Harry Potter-Bücher (ab
1997). EBERHARD KREUTZER
L EW IS C A R ROL L
Wachzustand. Die Dialektik von Träumer und Geträumtem berührt
sich mit der von Spieler und Gespieltem: Die Topoi von der Welt als
Traum und der Welt als (Schau-)Spiel klingen verschiedentlich an.
Während die hier implizierten philosophischen Ideen sich eher an
erwachsene Leser als an Kinder richten, kommen diese in jenen Epi-
soden voll auf ihre Kosten, die bekannte Kinderreim-Geschichten in
Szene setzen: den Streit der Zwillinge Tweedledee und Tweedledum
um ihre Rassel, den Fall des eiförmigen Humpty Dumpty von der
Mauer und den Kampf von Löwe und Einhorn um die Krone – vor-
gezeichnete Rituale im Sinne der das gesamte Geschehen charakte-
risierenden Spiegelbildlichkeit. Aus Humpty Dumpty macht Carroll
allerdings mehr, als in der lustigen Kinderreim-Figur angelegt ist: den
Querulanten, der alle Sprachregeln und Denkgesetze um des Non-
sensprinzips willen unterläuft. Mit deutlichen Anzeichen kindischen
Eigensinns spielt er das ›enfant terrible‹ aller Philologien, das sämt-
liche linguistische und literarische Konventionen auf den Kopf stellt:
Namen haben um jeden Preis etwas zu bedeuten; Wörter nehmen
die Bedeutungen an, die ihnen der Sprecher gibt; Gedichte lassen sich
interpretieren, bevor sie auch nur verfasst sind; und das Verhältnis
von Sprecher und Sprache bemisst sich schließlich nach der Frage,
wer wen beherrscht. Humpty Dumpty liefert selbst den praktischen
Beweis seiner abstrusen Ideen, wenn er Alice so mit Kalauern und
Paradoxien überschüttet, dass sie sich weniger in ein Gespräch als in
ein undurchschaubares Frage-und-Antwort-Spiel verwickelt findet,
und seine Explikation der von Mischwortprägungen strotzenden
Balladenparodie »Jabberwocky« zeigen den assoziationsfreudigen
Sprachtüftler und dechiffrierenden Interpreten des eigenen Produkts
vollends in seinem Element. EBERHARD KREUTZER
138
Hans Christian Andersen
* 2. April 1805 in Odense (Dänemark)
† 4. August 1875 in Kopenhagen (Dänemark)
142
Pavol Dobšinský
* 16. März 1828 in Slavošovce (Slowakei)
† 22. Oktober 1885 in Drienčany (Slowakei)
PAVOL D OB ŠINSK Ý
chen, die Pavol Dobšinský gemeinsam mit August Horislav Škultéty
zwischen 1858 und 1861 unter dem Titel Slovenské povesti (Slowakische
Sagen) vorbereitet hatte. In die achtbändige Ausgabe übernahm
Dobšinský auch einige Märchen aus Božena Němcovás Sammlung
slowakischer Märchen und Sagen von 1857.
Die Märchen sind das am meisten gelesene Werk der slowaki-
schen Literatur. Traditionell dem Bereich der Folklore zugeordnet,
zeigten erst jüngste Forschungen (Pácalová), dass literarische Mär-
chen, etwa von so bedeutenden romantischen Dichtern und Prosa-
autoren wie Ján Botto, Samo Chalupka, Janko Kráľ und Ján Kalinčiak,
ein Schlüsselelement der slowakischen literarischen Romantik bilden.
Dobšinskýs Sammlung slowakischer Märchen geht implizit
von Novalis’ frühromantischer Konzeption des Märchens als der
»eigentümlichsten Form der Poesie« und »des Kanons aller Poesie«
aus. Wie in der deutschen Frühromantik galten die Märchen auch in
der slowakischen Romantik als ein Abbild universeller menschlicher
Situationen, dargestellt beispielsweise in den Geschichten von der
Suche nach der individuellen Identität (»Martinko Klingáčik«), von
145
PAVOL D OB ŠINSK Ý
Carlo Collodi
* 24. November 1826 in Florenz (Italien)
† 26. Oktober 1890 in Florenz (Italien)
C A R L O COL L ODI
die Opposition gegen das Volksmärchen (»Es war einmal […] ein
König! […] Nein, […] ein Stück Holz«): Die Sprache ist die des täglichen
Umgangs, mit kindgerechten Elementen wie Lautmalerei und ›spre-
chenden Namen‹. Das Märchenhafte entbehrt aller dunklen Mystik,
es ist bestimmt von Klarheit und Präzision und wirkt oft surrealis-
tisch. Man mag an Pinocchio Wiederholungen, innere Widersprüche
und das Moralisieren tadeln, es bleibt ein Meisterwerk der Kinder-
Weltliteratur. Auch für Erwachsene sind Collodis Ironie, sein Sinn
für Paradoxie, die Lebensweisheit und der Humor reizvoll, und der
unbeschwerte Stil, in dem mit voltairischer Behendigkeit eine immer
wieder überraschende Handlung skizziert wird.
Viele Illustratoren versuchten sich an Pinocchio, in Italien u. a.
Chiostri, Mussino, Bernardino und Maraja, in Deutschland u. a.
W. Felten, R. Bicher, A. Zacharias, M. und R. Koser-Michaelis und
J. M. Szancer. Schon 1911 drehte E. Pasquali einen Pinocchio-Film. Die
bekannteste und am meisten diskutierte Verfilmung des Stoffs ist die
von Walt Disney (1939). Seit 1956 bestehen in Pescia ein Park und ein
Museum, die Pinocchio gewidmet sind. REINHARD KLESCEWSKI
Oscar Wilde
* 16. Oktober 1854 in Dublin (Irland)
† 30. November 1900 in Paris (Frankreich)
O SC A R WIL DE
adressiert: Laut Verfasser sind sie »teilweise für Kinder bestimmt und
teilweise für diejenigen, die die kindliche Fähigkeit bewahren konn-
ten, sich zu wundern und zu freuen«. Bestimmte inhaltliche (z. B. die
sozialistischen Sympathien im »Glücklichen Prinzen«) und stilistische
Elemente wie die ironische Titelgebung (weder ist der Prinz glücklich
noch der Freund wirklich ergeben) sind nur für erwachsene Leser
realisierbar. Die Erschaffung einer phantastischen Welt erlaubte es
Wilde, tabuisierte Thematiken wie etwa Homoerotik zu erkunden.
Gemeinsam ist den Märchen eine bildhafte, kunstvolle Erzähl-
weise mit hochgradig artifiziellem, schmückendem und sinnlichem
Stil bei scheinbar einfachem Inhalt. Die religiöse Motivik ist teilweise
den Präraffaeliten entlehnt, wiederholt kommt das Motiv des Märty-
rers vor. Wilde strebte eine offensichtliche Kongruenz von Märtyrer
und Künstler an.
Die Märchen hatten sofort Erfolg und machten den Autor neben
Charles Algernon Swinburne und James Whistler zu einem der pro-
minentesten Vertreter des Ästhetizismus. Eine weitere Kunstmär-
chensammlung, A House of Pomegranates (Das Granatapfelhaus, 1904),
folgte 1891. Einzelne Märchen wurden dramatisiert, vertont und
verfilmt. Die Märchen Wildes wurden vielfach in Anthologien aufge-
nommen und erschienen in Bilderbuch- und illustrierten Ausgaben.
Sie zählen zu den schönsten Kunstmärchen der Weltliteratur.
RENATE BROSCH
O SC A R WIL DE
der Romantik mit ihren todbringenden Undinen. Er kehrt Hans
Christian Andersens »Die kleine Seejungfrau« in der Erzählrichtung
um, denn der Handlungsantrieb geht nicht von der magischen Welt
aus, sondern vom Menschen, der das Besondere und Schöne in den
Zweckalltag hineinholen will. Das Verlangen des Fischers nach einem
unnatürlichen Zwitterwesen führt ihn aber in eine sterile, seelenlose
Lust am Anderssein, die nur im sozial unsemantisierten Wunderraum
des Meeres realisiert werden kann. Die dualistischen Symbole ent-
werfen eine gespaltene Welt zwischen der Schönheit und Verlockung
des Meeres und der Ruchlosigkeit und Hässlichkeit der menschlichen
Welt. Die Vereinigung von Herz und Seele am Ende ist kein Kompro-
miss, sondern ein Sieg über das Laster, der sich entsprechend der Fin
de Siècle-Ästhetik im Liebestod realisiert.
Die Welt, die Wilde in diesen Märchen entwarf, ist alles andere
als märchenhaft. Überall begegnet man Bedürftigen und Gequälten
am Rande der Gesellschaft. Die Geschichte »The Young King« enthält
eine mühelos auf das zeitgenössische England übertragbare Beschrei-
bung der Lage der Arbeiter und Armen. Dass die Märchen überdies
mit sentimentalen Mitteln an die Gefühle appellieren, entwertet ihre
scharfe Schilderung nicht. Dennoch leidet ihre Beliebtheit bei solchen
Lesern, die sich besonders an der Ironie und dem Skeptizismus von
Wildes Essays erfreuen, unter der Privilegierung eines Nexus von
Schönheit und Altruismus zugunsten einer christlich humanistischen
Moral. JÖRG DREWS / EMER O’SULLIVAN
152
Hugo von Hofmannsthal
* 1. Februar 1874 in Wien (Österreich)
† 15. Juli 1929 in Rodaun bei Wien (Österreich)
155
(d. i. Lyman Frank Baum) – Nach dem Tod des Vaters finanzielle Pro-
bleme, arbeitete u. a. als Schauspieler, Journalist und Verleger (zeitweise
im Dakota-Territorium); ab 1897 Kinderbuchautor (mit dem Illustrator
W. W. Denslow), 1900 Durchbruch mit The Wonderful Wizard of Oz, zahl-
reiche Fortsetzungen, Theaterbearbeitungen und Verfilmungen; ab
1910 in Hollywood, dort Gründung einer eigenen Filmgesellschaft.
L . FR A NK BAUM
scheuche, der Blechmann und der Löwe eine Reihe von oft bizarren
Abenteuern (u. a. in einem betäubenden Mohnfeld), aus denen sie
dank ihres Teamgeistes und Dorothys Entschlossenheit immer wie-
der heil herauskommen. Schließlich gelingt es ihnen sogar – wie vom
Zauberer als Gegenleistung für die Erfüllung ihrer Wünsche gefor-
dert –, die böse Hexe des Westens zu vernichten. Der Zauberer wiede-
rum begegnet ihnen als »Oz, the Great and Terrible« (»Oz, der Große
und Schreckliche«) in einer Reihe einschüchternder Inkarnationen,
die an den Gott des Alten Testaments erinnern: Oz tritt als Feuerball,
als wildes Ungeheuer, als schöne Dame und als gewaltiger schweben-
der Kopf auf, bevor er als entkörperte Stimme von überall her seine
Präsenz verkündet.
Die eigentliche Überraschung steht Dorothy und ihren Freunden
aber noch bevor: Der gottgleiche und furchtbare Zauberer stellt sich
als ein Jahrmarktsgaukler und Trickbetrüger aus Omaha/Nebraska
heraus, der vor einiger Zeit mit seinem Heißluftballon zufällig nach
Oz getragen wurde. Dort hat er sich zum Schutz vor den – tatsäch-
lich übernatürlich begabten – Hexen ein Reich der Illusionen und
Simulationen errichtet (auch Emerald City erscheint nur deshalb im
wunderbaren Smaragd-Glanz, weil alle dort grüne Brillen tragen).
Letztlich aber erfüllt dieser durchaus sympathische Scharlatan die
Lebenswünsche der vier Gefährten ganz ohne Magie, indem er ihnen
begreiflich macht, dass sie das, wonach sie suchen, schon längst in
sich tragen. Diese sehr amerikanische Einsicht – man kann jede
gewünschte Identität annehmen, wenn man nur fest daran glaubt –
hat den Mann aus Omaha einst zum Zauberer von Oz werden lassen
und sorgt nun dafür, dass sich die Vogelscheuche zum Intellektuellen,
der Blechmann zu einem empfindsamen Wesen und der Löwe zum
Herrscher der Tiere wandelt. Dorothy und Toto wiederum sollen mit
dem flott gemachten Ballon des Zauberers nach Kansas zurückkehren.
Der Ballon hebt aber versehentlich ohne die beiden ab, so dass es letzt-
lich doch eines Zaubers (der guten Hexe Glinda) bedarf, um Dorothy
wieder nach Kansas zu bringen.
158 Mit seinen defizitären, aber gutmütigen Männern, seinen mal
furchterregenden, mal Achtung gebietenden Frauen und nicht zuletzt
mit seiner Protagonistin – einem Prototyp des US-amerikanischen
Mädchens in zahlreichen späteren Romanen und Filmen des frühen
20. Jh.s – spiegelt The Wonderful Wizard of Oz den Einfluss des Feminis-
mus wider, der um die Wende zum 20. Jh. zu einem beherrschenden
Thema in der amerikanischen Öffentlichkeit wurde. (Baum widmete
das Buch seiner Frau Maud Gage, Tochter einer führenden Frauen-
rechtlerin.) Zum Verkaufserfolg trugen auch die mehr als 100, oft far-
bigen Jugendstil-Illustrationen von William Wallace Denslow bei. Ein
1902 uraufgeführtes Musical machte den Zauberer von Oz endgültig
zu einer festen Größe in der US-amerikanischen Populärkultur.
Baum ließ auf seinen Bestseller eine Reihe von Fortsetzungen
folgen, die in ihrer Gesamtheit eine relativ kohärente Vision alternati-
ver Gesellschaftsorganisation gegen die ökonomischen und sozialen
Entwicklungen der Zeit zeichnen. Die insgesamt 14 Oz-Romane des
Autors nehmen damit eine herausragende Stellung im Genre ame-
rikanischer utopischer Literatur ein, das eine beeindruckende Blüte
zwischen dem Bürgerkrieg und dem Ersten Weltkrieg erlebte. Die
erste Fortsetzung, The Marvelous Land of Oz, 1904 (Im Reich des Zauberers
Oz, 1981, C. Hettinger), formuliert eine moderate Kritik an der Suffra-
gettenbewegung und macht sich über akademischen Jargon lustig
(in der äußerst populären Figur des Woggle-Bog). Im Kern handelt die
Geschichte aber von einem Jungen namens Tip, der sich in das Mäd-
chen Ozma (zurück)verwandeln muss, um zur Herrscherin über Oz
zu werden. Es folgten die Romane Ozma of Oz, 1907 (Prinzessin Ozma von
Oz, 1981, C. Hettinger), Dorothy and the Wizard in Oz, 1908 (Dorothy und
der Zauberer in Oz, 1999, E. Berlt), The Road to Oz, 1909 (Dorothy auf Zau-
ber wegen, 2000, E. Berlt), und The Emerald City of Oz, 1910 (Dorothy in der
Smaragdenstadt, 2001, E. Berlt).
Mit The Emerald City wollte Baum die Serie eigentlich beenden.
Dorothy, Tante Em und Onkle Henry siedeln hier auf der Flucht vor
einer ökonomischen Depression endgültig nach Oz um. Drei Jahre
später aber sah sich Baum aufgrund finanzieller Schwierigkeiten
gezwungen, weitere Oz-Romane zu verfassen. Diese Werke gehören
zu den phantasievollsten und politisch suggestivsten der Serie: The
Patchwork Girl of Oz, 1913 (Dorothy und das Patchwork-Mädchen, 2003, 159
E. Berlt), Tik-Tok of Oz (1914), The Scarecrow of Oz (1915), Rinkitink of Oz
(1916), The Lost Princess of Oz, 1917 (Die verlorene Prinzessin von Oz), The
L . FR A NK BAUM
Tin Woodman of Oz (1918), The Magic of Oz, 1919 (Der Zauber von Oz), und
Glinda of Oz (1920). Vorherrschendes Thema dieser zweiten Serie ist die
Frage nach dem verantwortungsvollen Umgang mit Zauberkraft und
politischer Macht.
Trotz der Bemühungen späterer Kritiker, Baums Werke als sozia-
listische Utopien – oder zumindest als progressive Parabeln in der Tra-
dition Edward Bellamys – zu lesen, scheinen die politischen Verhält-
nisse in Oz eher feudal und matriarchalisch geprägt. In der Handlungs-
führung ist ein deutlicher, für Kinderliteratur typischer Hang zu Deus
ex machina-Lösungen zu erkennen. Beachtlich an der Genese der
Romanserie sind zwei Merkmale, die die US-amerikanische Populär-
kultur im Kern auszeichnen: die enge Interaktion zwischen Autor und
Publikum im Produktionsprozess (Baum erhielt zahlreiche Briefe mit
Anfragen und Bitten zur Plot-Gestaltung, die er zum Teil umsetzte)
und die ausgeprägte Transmedialität eines in sich geschlossenen fik-
tionalen Universums (nach dem Erfolg des ersten Musicals versuchte
sich Baum an zahlreichen weiteren Theatralisierungen, Shows und
Verfilmungen). Sogar der ursprüngliche Illustrator Denslow, der sich
mit Baum wegen Tantiemen-Fragen überwarf, publizierte eigene Oz-
Geschichten; sämtliche Romane nach The Wonderful Wizard of Oz wur-
den deshalb von John R. Neill illustriert (der später seinerseits eigene
Bände verfasste). Nach Baums Tod (1919) führte Ruth Plumy Thomp-
son die Serie mit 21 Bänden bis 1939 fort. Weitere Autoren waren Jack
Snow, Rachel Cosgrove Payes, Eloise Jarvis McGraw und Lauren Lynn
McGraw. Insgesamt existieren bis heute ca. 40 offizielle und weit über
100 inoffizielle Fortsetzungen sowie zahllose bearbeitete Übersetzun-
gen und Nachdichtungen (vor allem im Russischen, durch Aleksander
Volkov), Radioshows und Verfilmungen, Theater- und Fernsehadap-
tionen, Animationen, Vertonungen und Spiele.
Von all diesen Transpositionen war keine so erfolgreich wie Vic-
tor Flemings MGM-Verfilmung aus dem Jahr 1939, The Wizard of Oz
(Das wunderbare Land), mit Judy Garland als Dorothy. Im Anschluss an
diesen Film erschien 1940 in der Schweiz die erste deutschsprachige
160 Übersetzung (U. v. Wiese) von Baums Roman. Zunächst nur mäßig
populär, wurde die MGM-Verfilmung 1956 und dann erneut 1959 zur
Weihnachtszeit im US-amerikanischen Fernsehen vor einem Mil-
lionenpublikum ausgestrahlt. Seitdem war sie fast jährlich im Weih-
nachtsprogramm amerikanischer Kinos und Fernsehsender zu sehen
und hat sich auf diese Weise nachhaltig in die populäre Imagination
(nicht nur der amerikanischen Kultur) eingebrannt. Der Einfluss der
MGM-Verfilmung auf die Literatur des 20. Jh.s ist gewaltig und über-
trifft möglicherweise noch den Einfluss der Romanvorlage. Salman
Rushdie gab an, dass dieser Film (über den er auch ein Sachbuch ver-
fasste) ihn zum Schriftsteller gemacht habe. James Thurber, Ray Brad-
bury, Gore Vidal, John Updike, Stephen King u. a. schrieben enthusias-
tische Essays über Film und Roman bzw. lehnten eigene Werke hieran
an. Judy Garlands erstaunter Ausruf bei ihrer Ankunft in Oz – »Toto, I
have a feeling we’re not in Kansas anymore« (»Toto, es scheint mir, als
ob wir nicht mehr in Kansas wären«) – ist zu einem geflügelten Wort
in der amerikanischen Literatur geworden und dient u. a. als Epigraph
zum dritten Teil von Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, 1973 (Die
Enden der Parabel, 1981). Ähnlich oft zitiert und parodiert wurden wei-
tere Aussprüche und Songs aus der Verfilmung: »Somewhere Over the
Rainbow« (»Irgendwo über dem Regenbogen«), »Follow the yellow
brick road!« (»Folge dem gelben Steinweg«) und »There’s no place like
home« (»’s ist nirgends besser als daheim«).
Unter den vielen jüngeren Adaptionen, die sich meist ebenso
stark auf Baums Roman wie auf den Film mit Judy Garland beziehen,
sind zwei hervorzuheben: das afroamerikanische Musical The Wiz,
1975 (drei Jahre später von Sidney Lumet mit Diana Ross, Richard
Pryor und Michael Jackson in den Hauptrollen verfilmt), und Gregory
Maguires Roman Wicked. The Life and Times of the Wicked Witch of the West,
1995 (Wicked. Die Hexen von Oz, 2008), der die Geschichte aus der Sicht
der bösen Hexe des Westens erzählt und 2003 ebenfalls erfolgreich
als Musical adaptiert wurde. (Maguire verfasste daraufhin noch zwei
Romanfortsetzungen.)
Weitere Anverwandlungen und Hommagen zeugen von der an-
haltenden kulturellen Produktivität der Oz-Romane im 20. und
frühen 21. Jh.: Eines der ersten astronomischen Projekte zur Auffin-
dung fremden Lebens im All trug den Namen ›Project Ozma‹ (1960, 161
1973–1976); John Boormans dystopischer Film Zardoz (1974) mit Sean
Connery imaginiert eine totalitäre Gesellschaft, die sich aus einer eso-
L . FR A NK BAUM
terischen Lektüre von Baums The Wonderful Wizard of Oz ableitet; David
Lynchs Film Wild at Heart, 1990 (Wild at Heart – Die Geschichte von Sailor
und Lula), lässt Glinda als übernatürliche Retterin in höchster Not auf-
treten und vereint zahlreiche visuelle Anspielungen auf die MGM–
Verfilmung; in den 1990er Jahren kursierte im Internet der Ratschlag,
The Wizard of Oz zusammen mit dem Pink Floyd-Album The Dark Side of
the Moon (1973) abzuspielen, da beide Werke merkwürdig miteinander
synchronisiert seien (wie sich dann 2000 bei einer entsprechenden
Aufführung auf Turner Classic Movies unter dem Titel The Dark Side
of the Rainbow überprüfen ließ); das kontroverse Comicbook Lost Girls,
1991–2006, von Alan Moore und Melinda Gebbie widmet sich dem
Liebes- und Sexualleben von Dorothy; die Fernsehserie Oz (1997–2003)
des Senders HBO zeigte die brutalen Verhältnisse in einem amerika-
nischen Hochsicherheitsgefängnis unter ständigem Verweis auf das
Vokabular der Oz-Romane und Verfilmungen. Zahlreiche weitere Bei-
spiele für die Omnipräsenz des Universums Oz ließen sich anführen.
Es gibt wenige Romane, die derart tief in das kulturelle Bewusstsein
ihrer Zeit eingedrungen sind. FRANK KELLETER
James Matthew Barrie
* 9. Mai 1860 in Kirriemuir/Schottland (Großbritannien)
† 19. Juni 1937 in London (Großbritannien)
Peter Pan oder der Junge, der nicht groß werden wollte /
Peter Pan. Or The Boy Who Would Not Grow Up
Das Kinderschauspiel in fünf Akten wurde am 27. 12. 1904 in London
uraufgeführt. Zum ersten Mal war die Figur des Peter Pan 1902 in The
Little White Bird (Der kleine weiße Vogel) aufgetreten, einem Roman
für Erwachsene, und zwar in einer Binnengeschichte um einen Säug-
162 ling, der seinen Eltern entkommen ist und der, halb Vogel, halb Kind,
in den Londoner Kensington Gardens lebt. Diese Geschichte erschien
1906 als eigenständiges Buch unter dem Titel Peter Pan in Kensington
Gardens. Im Theaterstück ist Pan älter, und aus Kensington Gardens ist
»Neverland« (»Nimmerland«) geworden. Die Romanfassung des Thea-
terstücks, Peter and Wendy (inzwischen meistens Peter Pan), erschien
1911. Das Stück selbst wurde in stark adaptierter Form erst 1928 ver-
öffentlicht.
Peter Pan fliegt eines Nachts auf der Suche nach seinem verlo-
ren gegangenen Schatten in das Haus der Darlings in London. Dort
begegnet er Wendy und ihren beiden Brüdern und nimmt sie mit
auf die Insel Neverland, in ein Traumland, in dem Kinder nicht älter
werden und das von keinem Erwachsenen betreten werden kann.
Hier übernimmt Wendy die Mutterrolle für Peter und die »verlore-
nen Jungen«, die aus ihrem Kinderwagen gefallen und nicht »binnen
einer Woche zurückverlangt« worden waren. In Nimmerland sind
die Gesetze der Zeit, des Wachstums und der Autorität der Eltern
außer Kraft, hier gibt es Palmen, Lagunen, Feen, Piraten, Indianer
und Meerjungfrauen – lauter kinderliterarische Abenteuer- und
Märchenmotive. Nimmerland ist eine Metapher der kindlichen Ein-
bildungskraft, ein intertextuell konstruiertes Paradies. Das einzige
JA ME S M AT T HEW BA R R IE
phantasiereich, eingebildet und verführerisch; er verkörpert eine
Kindheit, die sich an sich selbst klammert, eine Absage an das Erwach-
senensein.
Die geheimnisumwitterte Uraufführung wurde durch technische
Herausforderungen (Flugmaschinen u.ä.) verzögert. Das Stück war
sofort erfolgreich und wurde seither mit nur einer kriegsbedingten
Unterbrechung 1940 jedes Jahr zu Weihnachten in London aufge-
führt, wobei die Rolle von Peter bis zu einer Neuinszenierung durch
die Royal Shakespeare Company 1982 von einer Schauspielerin
verkörpert wurde. Diese dramatische Collage aus klassischen kinder-
literarischen und originellen Elementen (das tickende Krokodil ist
besonders publikumswirksam) gilt als eines der ›Gründungsstücke‹
des modernen Kindertheaters.
Die Figur des Peter Pan, die als universelles Symbol der ewigen
Kindheit gilt, führt schon lange ein Eigenleben jenseits der
Ursprungstexte. Für Jacqueline Rose sind Entstehung und Rezeption
der Peter-Pan-Texte ein Sinnbild für die Schwierigkeiten der Bezie-
hung zwischen Erwachsenen und Kindern und für die sexuelle und
politische Mystifizierung des Kindes. In der Psychoanalyse wird das
Verhaltensmuster von Männern, die ihr Erwachsensein nicht akzep-
tieren wollen, als ›Peter-Pan-Syndrom‹ bezeichnet.
Die Rechte an Peter Pan trat Barrie 1929 an das Londoner Kinder-
krankenhaus ›Great Ormond Street Hospital‹ ab. Mit Ablauf des
Copyrights zu seinem 70. Todestag wurde Geraldine McCaughrean in
einem Wettbewerb als Verfasserin einer offiziellen Fortsetzung aus-
gewählt, deren Erlöse weiterhin dem Krankenhaus zugute kommen
sollten. Ihr Peter Pan in Scarlet wurde am 5. Oktober 2006 in 31 Ländern
gleichzeitig veröffentlicht, in Deutschland unter dem Titel Peter Pan
und der rote Pirat.
Die erste Filmadaption erschien bereits 1924, der bekannteste
Zeichentrickfilm stammt von Walt Disney (1953). In Hook (1991)
agiert ein erwachsener Peter Pan, und die Entstehungsgeschichte des
Stücks ist Gegenstand von Finding Neverland (Wenn Träume fliegen lernen,
164 2004). JERÔME VON GEBSATTEL / EMER O’SULLIVAN
Micha Josef Berdyczewski
* 19. August 1865 in Miedzyborz/Podolien (Ukraine)
† 18. November 1921 in Berlin (Deutschland)
166
Anni Swan
* 4. Januar 1875 in Helsinki (Finnland)
† 24. März 1958 in Helsinki (Finnland)
A NNI SWA N
Märchen, die die Autorin seit 1901 veröffentlicht hatte. Die darauf
basierende deutsche Auswahl wurde nach einem der darin enthalte-
nen Märchen benannt. Einige der Gedichte in den Märchen stammen
von ihrem Mann Otto Manninen.
Anni Swan begann ihre schriftstellerische Laufbahn mit sym-
bolistischen Märchennovellen für Erwachsene und legte damit den
Grundstein der finnischsprachigen Märchenliteratur. Für ihre Popu-
larität zeugen die zeitgenössischen Bezeichnungen ›Märchenkönigin‹
und ›Tante Swan‹. Neben Zacharias Topelius ist sie auch die einfluss-
reichste finnische Jugendbuchautorin, die die Gattung des Jugend-
romans in Finnland überhaupt erst etablierte.
Sie verfasste Kunstmärchen, die anfangs in Struktur, Plot und
Details vom Volksmärchen beeinflusst waren. Ihre frühen Märchen
bevorzugen Wunder und Zaubermittel, später dominiert der realisti-
sche Ansatz. Alltagswirklichkeit und übernatürliche Welt erscheinen
neben- und ineinander. Es überwiegt eine pantheistisch-idealistische
Weltanschauung. Mitunter begegnen Elemente des Christentums,
wenn z. B. Taufe und Gebet die Mächte der Finsternis überwinden
A NNI SWA N
visionen lassen eine Beeinflussung durch Jugendstil und Symbo-
lismus erkennen. Auch die Werke der finnischen Maler Axel Gallén
(Akseli Gallen-Kallela) und Hugo Simberg hinterließen ihre Spuren.
Darüber hinaus weisen die Märchen Einflüsse von Hans Christian
Andersen, den Brüdern Grimm sowie – in geringem Umfang – von
Zacharias Topelius auf. Auch die Übernahme von Motiven aus dem
finnischen Nationalepos Kalevala (E. Lönnrot) ist erkennbar.
INGRID SCHELLBACH-KOPRA
Pamela L. Travers
* 9. August 1899 in Maryborough (Australien)
† 23. April 1996 in London (Großbritannien)
PA MEL A L . T R AV ER S
Abubakar Imam
* 1911 in Kagara/Kontagora (Nigeria)
† 19. Juni 1981 in Zaria/Kaduna (Nigeria)
A BUBA K A R IM A M
feige Hyäne, der listige Schakal und der Löwe. Imam hat Hausa-Mär-
chen und -Fabeln, die in Anthologien oft nur als Zusammenfassungen
vorlagen, neu und lebendig erzählt.
In Magana Jari Ce wurde die fremde Märchenwelt so stark in den
eigenen Kontext eingepasst und die moralisch-religiöse Wertordnung
der muslimischen Hausa so weit gewahrt, dass die Lektüre zur Erfah-
rung des Eigenen wurde. Dieser Weg findet seit den 1990er Jahren im
Umgang mit Videofilmen seine Fortsetzung. Imams Sprache und Stil
sind mit der Prägung ›Imamanci‹ in die Hausa-Literaturkritik einge-
gangen.
Nur drei Geschichten sind ins Englische übersetzt worden.
Magana Jari Ce ist Schullektüre und wurde 1989 bis 1990 in einer 52-tei-
ligen TV-Serie dramatisiert. Die Abubakar Imam Foundation bewahrt
Imams Vermächtnis und hält seine Texte im Internet bereit.
HANNELORE VÖGELE
Antoine-Marie-Roger de
Saint-Exupéry
* 29. Juni 1900 in Lyon (Frankreich)
† 31. Juli 1944 vor Nizza (Frankreich)
Aus adliger Familie des Limousin; seit 1904 vaterlos auf Schloss de La
Mole erzogen; 1909–1914 Jesuitenkolleg Le Mans; 1917–1919 Architek-
turstudium in Paris; 1921 Dienst bei der Luftwaffe; Handelsvertreter;
Pilot einer französischen Luftfahrtgesellschaft, seit 1927 Direktor des
Flugplatzes Cap Juby in Rio de Oro, dann der Aeroposta Argentina in
Buenos Aires, seit 1934 bei der Air France; Flugzeugunfall in Guate-
mala; im Zweiten Weltkrieg Pilot einer Aufklärungsstaffel; 1940 nach
New York, 1943 in Nordafrika; seit 31. Juli 1944 nach Flug von Korsika
vermisst; verbindet in seinen Romanen Humanismus mit neuzeit-
174 lichem Abenteuergeist.
Die Muminbücher
In insgesamt neun Büchern, die zwischen 1945 und 1970 erschienen,
werden das Leben und die Abenteuer des Mumintrolls, seiner Eltern
und Freunde erzählt. Dabei handelt es sich um Phantasiewesen, die
Tove Jansson bereits in den 1930er Jahren entworfen hatte. Die von ihr
in schwarzer Tusche gezeichneten kleinen nilpferdähnlichen Figuren,
176 die sich durch ihre Gastfreundlichkeit, Offenheit und Liebenswür-
digkeit auszeichnen und deren Gemeinschaft ständig durch neue
Freunde – ebenfalls Phantasiegestalten – erweitert wird, weisen men-
schenartige Züge auf.
Die Bücher, die nicht als Fortsetzungsreihe konzipiert wurden,
sondern als eigenständige Romane und Erzählungen – nicht nur
für Kinder – gelesen werden können, handeln jeweils von Mumins
Erlebnissen innerhalb und außerhalb des paradiesischen Mumintals.
Die Muminwelt erweist sich als ein Ort der Gemeinschaft; einzig die
Sorge, sich zu langweilen, treibt den Mumintroll und seine Freunde
an, den Ort zu verlassen und auf Abenteuersuche zu gehen. Sie keh-
ren jedoch immer wieder zurück in die heimische Familienidylle, die
zugleich eine offene Gesellschaft repräsentiert, in die auch Fremde
integriert werden.
Abenteuer und Verunsicherungen erleben die Figuren immer
dann, wenn sie die gewohnte Umgebung verlassen. Bedroht fühlen
sie sich aber auch, wenn sie ungewöhnlichen Naturerlebnissen ausge-
setzt sind, wie etwa einer Sturmflut in Farlig midsommar, 1954 (Sturm im
Mumintal, 2002, B. Kicherer), die die Familie mitreißt. Auf ihrer Odys-
see entdeckt sie schließlich ein verlassenes Theater, das eine völlig
neue Erlebniswelt eröffnet. Einer ungleich größeren Gefahr begegnen
TOV E JA NS SON
sung des Rätsels um den verschwundenen Zauberhut führt, möglich
wird.
Auf ironische Weise werden auch Geschlechterstereotypen vorge-
führt und zur Disposition gestellt: So unterstreicht die Handtasche als
ständige Begleiterin der Muminmutter einerseits ihre Weiblichkeit,
andererseits wird dieses Rollenklischee durch ihre Tatkraft und ihren
Mut unterlaufen. Der Vater, dessen Selbstgefälligkeit und Eitelkeit
immer wieder thematisiert werden, wird zugleich in seiner Rolle als
Haupt der Familie in Frage gestellt, wenn man zwar seinen Vorgaben
folgt, er aber schließlich von seiner Familie zum Umdenken angeleitet
wird. In Muminspappas memoarer, 1968 (Muminvaters wildbewegte Jugend,
2002, B. Kicherer), erzählt er seine Lebensgeschichte und bestätigt
damit als scheinbarer Patriarch die Genealogie seines Geschlechts.
Auch Mumins Freunde weisen jeweils typische Eigenarten auf, die sie
unverwechselbar machen und alle Ansprüche an Normalität außer
Kraft setzen: Sowohl der Schnupferich als auch die kleine, freche My
oder die geheimnisvolle, bedrohliche Mårra (Morra) zeichnen sich
durch Individualität, Eigensinn und Charakterstärke aus.
Als durchgängiges Prinzip der Romane erweist sich die Konfron-
tation der von Pazifismus geprägten Muminwelt mit Chaos und
Schrecken, die von außen an sie herangetragen wird, und nach diesen
Prüfungen die Rückkehr ins Mumintal. KARIN HOFF
178
Astrid Lindgren
* 14. November 1907 in Vimmerby (Schweden)
† 28. Januar 2002 in Stockholm (Schweden)
Die Pippi-Langstrumpf-Bücher
Auf den ersten Band der Kinderbuch-Trilogie, Pippi Långstrump, 1945
(Pippi Langstrumpf, 1949, C. Heinig), folgten die Fortsetzungsbände
Pippi Långstrump går ombord, 1946 (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1950, 179
C. Heinig) und im Jahr 1948 Pippi Långstrump i Söderhavet (Pippi in Taka-
Tuka-Land, 1951, C. Heinig). Ihre Entstehung geht auf Geschichten
A S T R ID L IND GR EN
zurück, die die Autorin über Jahre hinweg ihrer Tochter Karin erzählt
hatte. Aufgrund der außergewöhnlichen körperlichen Kraft und der
Unabhängigkeit der Hauptfigur wurden sie als ›moderne Märchen‹
bezeichnet. Pippi kann jedoch als Figur, die kindliche Wunschvorstel-
lungen und Phantasien personifiziert, eine Wirklichkeit ganz anderer
Art beanspruchen: Sie lebt in einem realistisch geschilderten schwe-
dischen Kleinstadtmilieu, gestaltet dort ihr Alltagsleben als Spiel und
Abenteuer, setzt sich gegen die Erwachsenen durch, hilft Schwachen
und Benachteiligten und feiert Feste. In den beiden Folgebänden setzt
sie ihre Abenteuer in der Umgebung und schließlich in der ›weiten
Welt‹ fort.
In ihrer selbstbewussten, tatkräftigen Art hat die neunjährige
Pippi Ähnlichkeiten mit den Protagonisten der ›Lausbubengeschich-
ten‹. Bei der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit helfen ihr auch
Schlagfertigkeit und Mutterwitz. Sie hat das Talent, die Erwachse-
nenlogik auf den Kopf zu stellen und phantasievoll übertreibende
Geschichten zu erfinden. Ohne Eltern, nur mit ihrem Affen (genannt
›Herr Nilsson‹) und einem Pferd wohnt sie inmitten eines verwilder-
A S T R ID L IND GR EN
Die Geschichten von Pippi wurden mehrfach verfilmt; die wohl
bekannteste Fassung stammt von Olle Hellbom und wurde in vier
Teilen 1969/70 und 1973 gedreht. KIRSTEN HÖLTERHOFF
183
A S T R ID L IND GR EN
Kirsi Kunnas
* 14. Dezember 1924 in Helsinki (Finnland)
K IR SI KUNNA S
aber auch für Erwachsene, genauer gesagt, für das Kind, das nach
Überzeugung der Autorin in jedem Erwachsenen steckt.
GABRIELE SCHREY-VASARA
Otfried Preußler
* 20. Oktober 1923 in Reichenberg (Liberec, Tschechien)
† 18. Februar 2013 in Prien am Chiemsee (Deutschland)
O T FR IED PR EUS SL ER
Geschichte fast analog zur ersten. Im dritten Buch, der »endgültig letz-
ten Kasperlgeschichte«, hängt Hotzenplotz schließlich mit Kasperls
und Seppels Hilfe den Räuberhut an den Nagel und will das »Gasthaus
zur Räuberhöhle« eröffnen.
Theaterleute konnten bei ihren kindlichen Zuschauern beob-
achten, dass diese sich besonders gerne mit dem Störer und Außen-
seiter Hotzenplotz solidarisieren. Mit Namensverdrehungen wie
»Oberschmachtmeister Plotzenhotz« und »Zauberer Zeprodilius
Wackelzahn« machen sich auch die Kinderfiguren des Stückes über
Autoritäten lustig. Kasperl und Seppel sind es, die die Probleme der
Erwachsenen lösen. KERSTIN DÖTSCH
Michael Ende
* 12. November 1929 in Garmisch-Partenkirchen (Deutschland)
† 28. August 1995 in Stuttgart (Deutschland)
MICH A EL ENDE
ein: Der Leser eines Buches (Bastian) betritt handelnd in die dort
dargestellte Welt, indem er sie durch eigene (innere) Vorstellungen
erweitert; dieses Ereignis manifestiert sich wieder in einem Buch, der
Unendlichen Geschichte; ihr Leser könnte seinerseits phantasiehandelnd
die Geschichte weiterspinnen; es könnte ein Buch daraus entstehen
etc., ad infinitum. Die rote Schrift steht für Bastians äußere, die grüne
für seine innere Realität, also für das lesend und ›phantasiehandelnd‹
Erlebte. Am Ende kann Bastian das gestohlene Buch nicht wiederfin-
den, und im Antiquariat wird kein solches Buch vermisst. Das para-
doxe Verhältnis von Realität und Fiktion, von dargestellter Wirklich-
keit innerhalb imaginärer Texte wird hier deutlich.
Zentrales Thema ist die Rolle der Phantasie: Durch sie werden
fiktive Welten erst erzeugt; ohne sie fehlt ein Teilbereich der realen,
›kranken‹ Welt. Phantasie macht beide Welten gesund. Sie bereichert
die reale Welt, wenn den Phantasiewelten als solchen Existenz-
berechtigung zugestanden wird. Phantasie kann aber auch zur Gefahr
werden, wenn Vorstellungswelten auf dieselbe Realitätsebene geho-
ben werden wie die reale Welt, wenn also Phantasie und Wirklichkeit
verwechselt werden: Bastian verliert sich in seiner Wunschwelt und
möchte nicht mehr in die Realität zurück. Wohin das führt, zeigt die
Bevölkerung der Alten-Kaiser-Stadt: Sinnlosigkeit, Isolation, Kom-
munikationslosigkeit. Bastian wird vor dieser Gefahr durch einen
Selbstfindungsprozess bewahrt, der deutlich von psychoanalytischen
Verfahren inspiriert ist: Er findet Gemeinschaft bei den Yskálnari, die
nicht zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheiden. Er regrediert in die
Kindheit und findet mütterliche Liebe bei Dame Aiuóla. Er schürft
in Yors Bergwerk nach seinen Träumen und findet die Sehnsucht
nach seinem Vater, die ihn in die Realität zurückbringt. Bastian kann
das Eis durchbrechen, das seinen um die Mutter trauernden Vater
umgibt, und erlangt durch die Erlebnisse in Phantásien eine neue
Auseinandersetzungs- und Kommunikationsfähigkeit mit seiner
Welt. KATHARINA HOLZINGER
190
Rafik Schami
* 23. Juni 1946 in Damaskus (Syrien)
(d. i. Suheil Fadél) – Sohn eines Bäckers; Studium der Chemie, Mathe-
matik und Physik in Damaskus; 1966–1970 Redakteur einer kritisch-
literarischen Wandzeitung; seit 1971 in Deutschland im Exil; Aus-
hilfsjobs; Fortsetzung des Studiums, 1979 Promotion in Chemie; 1980
Gründung der Literaturgruppe Südwind; 1981 Gründung des Polyna-
tionalen Literatur- und Kunstvereins; seit 1982 als freier Schriftsteller
in der Pfalz; bis 1985 Mitherausgeber und Autor der Reihe »Südwind-
Literatur«; Erzähler.
R A FIK SCH A MI
Preis (1986) erzählte Schami bereits in Kurzform die Handlung seines
zweiten Romans Erzähler der Nacht (vgl. Die sieben Siegel der Zunge, in Vom
Zauber der Zunge, 1991), und die Hauptfigur, der Kutscher Salim Bussard
aus Damaskus, taucht schon in dem Erzählungsband Der Fliegenmelker
und andere Erzählungen (1985) und in dem Tagebuchroman Eine Hand
voller Sterne (1987) auf. Thema der Rahmenhandlung und der sieben
Binnengeschichten sind das Erzählen und Zuhören. Onkel Salim, der
großväterliche Freund des jugendlichen Erzählers, ist im Damaskus
des Jahres 1959 für sein großes Erzähltalent bekannt. Doch eines Tages
lässt ihn seine inspirierende Fee verstummen. Nur sieben Geschenke
innerhalb von drei Monaten könnten ihm die Stimme zurückbringen.
Seine sieben alten Freunde jedoch, die sich jeden Tag etwas von ihm
erzählen ließen, bringen ihn weder mit Speisen, Getränken, Düften
noch mit Reisen zum Reden. Erst als die Männer in den verbleiben-
den Nächten ihre eigenen Lebensgeschichten und Märchen preisge-
ben, wird auch Salims Stimme wieder lebendig. Die Freunde erinnern
sich an Erfundenes und Erlebtes über die Macht des Erzählens und
des Zuhörens, über die Umkehrungen von Wahrheit und Lüge.
193
R A FIK SCH A MI
Yōko Tawada
* 23. März 1960 in Tokio (Japan)
YŌKO TAWA DA
ist geschlossen. Zwei Tage später erhalten die Oritas ein Telegramm,
Mitsuko habe Fukiko mitgenommen und sei weitergezogen.
Die Erzählung stellt in spielerischer Manier die blutleere Ordnung
des ›Nordbezirks‹ der ›Mütter‹ dem ›Südbezirk‹ Mitsukos und Tarōs
gegenüber, in dem noch archäologische Befunde aus der Urgeschichte
zu finden sind. Die Kitamura-Nachhilfeschule ist eine Freizone kind-
licher Körperlichkeit, wo offen über Nasenpopel und Rotz geredet
wird. So erzählt Mitsuko den Kindern, sie verwende jedes Papier-
taschentuch mindestens zweimal zum Schneuzen und dann erst,
um sich den Hintern abzuwischen (weil das Papier dann angenehm
durchgeweicht sei). Hier ist die Erzählung differenziert genug, die
Ambivalenz der Mütter zu zeigen, die zwar angewidert sind, denen
jedoch plötzlich unangenehm bewusst wird, wie trocken normales
Toilettenpapier ist. Die Erzählung thematisiert somit weniger den
Durchbruch der primitiven Welt und kindlicher sexueller Triebe in die
geordnete Welt der Erwachsenen als die Durchmischung beider Sphä-
ren im modernen postindustriellen Japan. MATTHEW KÖNIGSBERG
Joanne K. Rowling
* 31. Juli 1965 in Chipping Sodbury/South Gloucestershire
(Großbritannien)
Die Harry-Potter-Romane
Ab 1997 erschien eine Reihe von phantastischen Kinderbüchern, die
in kürzester Zeit eine phänomenale weltweite Popularität erlangten:
196 Harry Potter and the Philosopher’s Stone, 1997 (Harry Potter und der Stein
der Weisen); Harry Potter and the Chamber of Secrets, 1998 (Harry Potter und
die Kammer des Schreckens); Harry Potter and the Prisoner of Azkaban, 1999
(Harry Potter und der Gefangene von Askaban); Harry Potter and the Goblet of
Fire, 2000 (Harry Potter und der Feuerkelch); Harry Potter and the Order of the
Phoenix, 2003 (Harry Potter und der Orden des Phönix); Harry Potter and the
Half-Blood Prince, 2005 (Harry Potter und der Halbblutprinz), und schließ-
lich Harry Potter and the Deathly Hallows, 2007 (Harry Potter und die Heilig-
tümer des Todes).
Obgleich alle Bände ähnliche Titel und Handlungsschemata
aufweisen, handelt es sich streng genommen nicht um eine Serie,
sondern um eine Heptalogie, denn das Werk wurde von Anfang an
auf sieben Bände angelegt, die eine fortlaufende Geschichte erzählen,
wobei jeder Band ein Jahr erzählter Zeit umfasst. Die Grundidee der
im zeitgenössischen Großbritannien spielenden, aber gleichwohl
phantastischen Romane ist, dass es zauberkundige Menschen gibt, die
weitestgehend unerkannt unter den normalen Bürgern (den »Mug-
gels«) leben, dabei aber eine eigene Gemeinschaft bilden, mit einem
eigenen, auf Magie statt auf Technologie basierenden Lebensstil und
einer kompletten kommunalen Infrastruktur – einschließlich Verwal-
tung, Währung, Presse, Geschäften und Schulen.
Die Zamonien-Reihe
Im Jahr 1999 erschien mit Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär das erste
Buch der Zamonien-Reihe von Walter Moers, der die Bücher als Zeich-
ner auch mit zahlreichen Illustrationen ausstattet. In dem Roman
wird nicht nur der fiktionale Raum »Zamonien« erkundet und kartiert,
in dem ein buntes Bestiarium eigenen Gesetzen folgt, es werden auch
sonst programmatisch entscheidende, für die folgenden Romane
konstitutive Elemente gesetzt.
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass der Roman Homers 199
Odyssee zitiert und zugleich Attribute eines barocken Abenteuer-
romans aufweist. Zu Beginn hilflos im Ozean treibend, durchlebt
WA LT ER MOER S
der Protagonist, ein kleiner Bär, vom Zufall geleitet 13 Abenteuer,
die er mit eigener List und oft mit Hilfe unerwartet erscheinender
Wendungen und Figuren – etwa einem Flugsaurier namens Deus
X. Machina – jeweils glücklich bewältigen kann. Gleichfalls eingewo-
ben in diese Erzählung ist der biblische Mythos des Moses. Wie das
alttestamentarische Vorbild wurde der Blaubär angesichts von Ver-
folgung ausgesetzt und wird zum Retter seines Volkes, das er aus der
Gefangenschaft ins ›gelobte Land‹ führt. Zu erkennen sind aber auch
Motive des Entwicklungsromans, denn im Lauf der Irrfahrt bildet
sich der Protagonist in mehrerer Hinsicht aus, er wächst heran, lernt
seine Fähigkeiten kennen und verfeinert sie. So bestehen die Ziele
der Reise schließlich in der Vervollkommnung seines Selbst in Bezug
auf Bildung und Charakter und im Erkennen seiner Identität als
Blaubär, der Aufklärung seiner Herkunft sowie der Erfüllung seiner
Sehnsucht nach Liebe.
Eines der zentralen Kapitel des Romans ist das große Lügenduell
im »Megather« von Atlantis. Das kann der aus dem realen Fernsehen
bekannte »Lügenbär« für sich entscheiden, indem er Teile seiner wah-
WA LT ER MOER S
Literatur näher, ohne jedoch wirklich darin aufzugehen, denn auch
hier treibt Moers das Genre über sich selbst hinaus zur kunst- und
liebevollen Parodie.
In der Rezeption hatte Die Stadt der Träumenden Bücher (2005)
den nachhaltigsten Erfolg. Hildegunst von Mythenmetz selbst ist
der Protagonist des Romans und berichtet als Ich-Erzähler von den
Erlebnissen, die ihm auf der Suche nach dem Verfasser einer perfek-
ten Dichtung widerfahren. Die Welt, in die er eintaucht, ist über- wie
unterirdisch eine Welt der Bücher, die Moers im wahrsten Sinne des
Wortes zum Leben erwachen lässt. Es ist ein in sich geschlossener
Buchkosmos aus ›echten‹ Labyrinthen und solchen des Wissens. Auf
interessante Weise spielt Moers hier mit dem Topos des Bösen, das
scheinbar im Schattenkönig verkörpert ist, dem Attribute aus den
Klassikern der Horrorliteratur eigen sind. Er erweist sich aber als der
von Hildegunst von Mythenmetz gesuchte geniale Verfasser, der
durch die als satirischen Hieb auf den Literaturbetrieb zu verstehende
Personifikation des Gierigen, den Verleger Phistomefel Smeik, zu
einem aus Büchern zusammengesetzten Monster zugerichtet worden
ist. Der Schattenkönig opfert sich schließlich, um Smeik zu vernich-
ten, sich und die Bücherwelt zu erlösen und gleichzeitig das Orm, die
geniale schriftstellerische Inspiration, wieder in die Welt zu bringen.
Dieses Orm befähigt Hildegunst von Mythenmetz schließlich, seinen
Bericht über das Erlebte als Dichtung zu verfassen, so dass sich der
Kreis schließt und das Buch von vorne beginnt. Motivisch ist Die Stadt
der Träumenden Bücher der dichteste Roman der Zamonien-Reihe, eine
Allegorie der Literatur in allen ihren Facetten, ein Buch über Bücher,
eine phantastische Feier des geschriebenen Wortes, ein Plädoyer für
das Lesen und die Phantasie.
Die Klassifizierung der Romane Moers’ unter dem Aspekt einer
eindeutigen Genrezuordnung birgt die Gefahr eines voreiligen
Schlusses. ›Fantasy-Literatur‹ ist der in der Rezeption meistgenannte
Begriff, doch er trifft den Kern nur zum Teil. Das Spiel mit den Tradi-
tionen und der universelle Gebrauch von Literatur als frei zur Verfü-
202 gung stehendes Material legen vielmehr den Gedanken an eine post-
moderne Schreibweise nahe. Moers’ literarische Methode erweist sich
nicht erst auf den zweiten Blick als intertextuell, selbstreferenziell und
ironisch und bewegt sich ohne Angst vor Widersprüchen schwankend
zwischen Parodie und Hommage. Die immer wieder auffallenden
Anleihen, Bezüge oder Parallelen zu Autoren wie Melville, Poe, Verne,
Dante, Grimmelshausen, Cervantes, Lovecraft und D. Adams – um
nur einige wenige zu nennen – sind Programm. Lässt man sich nicht
zu sehr vom ungewohnten Personal und den Geschehnissen ablen-
ken, so offenbart sich zudem eine große strukturelle Nähe zu post-
modernen Autoren wie Umberto Eco und Italo Calvino. Im Vergleich
zu Autoren der klassischen Fantasy-Literatur wie J. R. R. Tolkien,
J. K. Rowling oder Michael Ende verzichtet Moers bezeichnender-
weise auf die zentrale Inszenierung der großen Meta-Erzählung vom
alles umfassenden und alle einbeziehenden Kampf zwischen Gut und
Böse. Zwar ist diese Dichotomie immer deutlich präsent, doch erlangt
sie nie jenes schnell ideologisierende Übergewicht.
Moers entzieht sich somit einer stringenten literarischen Zuord-
nung und bewegt sich bewusst in einem breit angelegten, fluktuie-
renden literarischen Feld. Durch die Vielzahl der Zitate geraten die
Romane zu einem im romantischen Sinne ironisch-literarischen
Vexierspiel, wobei sich die Bezüge und Zitate geschickt auf alle Ebe-
nen des Schreibens verteilen, sei es in Form von Anagrammen, Wort-
spielen, personellen, motivischen und strukturellen Bezügen.
Die Figur des Hildegunst von Mythenmetz darf sicher als Alter
ego von Walter Moers gelesen werden, denn sie trägt einen für den
Autor und seine schriftstellerische Methode programmatischen
Namen. Versteht man nämlich ›Mythos‹ dem puren Wortsinn nach
als Erzählung, Rede, Geschichte, so steht im übertragenen Sinne alles
Erzählte als Rohmaterial seinem Schaffen zur Verfügung wie dem
Steinmetz der Stein. Das Vorgefundene wird von ihm umgeschrieben,
überschrieben und virtuos in parodistisch-dekonstruktiver Manier
zu neuen Geschichten geformt. Dass Moers sich auch anderer Gen-
res bedient – vom Comic bis zum Lexikonartikel –, kann dabei nicht
überraschen. Der Leser wird eingeladen, zu suchen, zu probieren, den
vielen versteckten Rätseln auf den Grund zu gehen und vielfältigen
Sinn zu entdecken. Dabei stört keineswegs, dass mitunter Vorbilder 203
in die Texte hineingelesen werden, die Moers nach eigener Aussage
nicht kennt oder nie gelesen hat, denn Intertextualität überschreitet
WA LT ER MOER S
bekanntlich die Autorschaft. Die postmoderne Schreibweise beweist
das Funktionieren der von Wolfgang Iser entworfenen Rezeptions-
theorie der Erweiterung von Literatur im Akt des Lesens – eine Erwei-
terung, die, am Rande bemerkt, auf der Website www.nachtschule.de
von den Lesern ganz konkret durchgeführt wird.
DIRK ENGELHARDT
Johanna Sinisalo
* 22. Juni 1958 in Sodankylä (Finnland)
ISBN 978-3-476-04358-0
ISBN 978-3-476-04359-7 (eBook)