Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Zu diesem Buch
«Seit sie dichtet, haben sie viele Menschen, die sie nie gesehen haben, lieb:
Mascha Kaleko. Sie macht Gedichte, die so einfach sind, daß sie jeder
kapiert, weil es Dinge sind, die wir alle erleben: die Kindheit, die kleine
und die große Liebe, die Traurigkeit beim Gedanken an gestern und morgen.
Das Quentchen Spott bei allem Gefühl vertreibt jegliche Sentimentalität aus
ihren Versen, macht sie so reizvoll und bemerkenswert, daß es viele Leute
gibt, die man aus dem Schlaf wecken könnte und die dann fähig wären, gleich
eines ihrer Gedichte herzusagen. Hier werden aus bitterem Emigrantenleben
Töne angeschlagen, die den Hörenden und Lesenden ergreifen. Sie untertreibt,
das ist ihre Art. Heine hat es nicht anders gemacht. Der echte Schmerz,
zurückgedrängt und durch einen durchaus geistigen Prozeß in die kleine
Melancholie verwandelt: das ist eine künstlerische Bewältigung, die ihr
überzeugend gelang» («Der Telegraf», Berlin).
«Was anziehend geblieben ist, ja, suggestiv in Reim und Lied und unmittelbarem
Ausdruck, ist dieses von der Person gleichsam gelöste Erinnerungsheimweh, ein
Herz-Weh, das süßliche, sentimentale Wort sei erlaubt. Es trifft für manches zu,
was gar nicht sentimental gemeint sein konnte als es entstand, vielmehr trauernd,
resignativ, ganz sicher ernst und schmerzvoll, so leicht die Zeilen und Reime auch
kommen und gehen, von Gedicht zu Gedicht . . . Gefühl ist hier als das Gefühl einer
gleichsam Ertrinkenden zu verstehen. Aus diesem Grunde klingt es wie Forderung,
wie ein erstickter Schrei mitunter, denn die < Verse für Zeitgenossen), so keß und
so keck sie immer noch sein können, zeigen ebenso unverhüllt dieses bare und
blanke Gefühl» (Karl Krolow).
Die Lyrikerin Mascha Kaleko wurde als Tochter eines russischen Vaters und
einer österreichischen Mutter geboren. Nach Schul- und Studienjahren in Berlin
wurde sie 1930 von Monty Jacobs, einem der Pioniere des deutschen Feuilletons,
für die «Vossische Zeitung» entdeckt. Hier und im «Berliner Tageblatt» erschienen
jahrelang ihre Gedichte, die sie rasch zu einer literarischen Berühmtheit der alten
Reichshauptstadt und über ihre Grenzen hinaus bekannt machten. Hermann Hesse,
Thomas Mann, Alfred Polgar rühmten die Verse dieser jungen Großstadtdichterin,
die Erich Kästners wachen Sarkasmus besaß, ihn aber in zärtlich-weibliche Rhythmen
kleidete, in Strophen, die ihren Charme einer eigentümlichen Mischung von
Melancholie und Witz, Aktualität und Musik, romantischer Ironie und politischer
Schärfe verdankten. Die zusammengefaßten Bände «Das lyrische Stenogrammheft /
Kleines Lesebuch für Große» erschienen als rororo Nr. 1784.
Seit 1938 lebte die Dichterin als amerikanische Staatsbürgerin in New York mit ihrem
Mann, dem Dirigenten und Komponisten Chemjo Vinaver, und ihrem Sohn Steven, der
ihre lyrische Begabung geerbt hat.
Mascha Kaleko starb nach jahrelangem Aufenthalt in Jerusalem im Januar 1975 in
Zürich.
2
Mascha Kaleko
Verse für
Zeitgenossen
Herausgegeben und
mit einem Nachwort versehen
von Gisela Zoch-Westphal
Rowohlt
SB im April 2002
3
43.-46. Tausend März 1990
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, Dezember 1980
© Copyright by Verlag Eremiten-Presse, Düsseldorf, 1978
Umschlaggestaltung Walter Hellmann (Foto: Rowohlt Archiv)
Satz Garamond (Linotron 404) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 780-ISBN 3 499 14659 2
4
Statt eines Vorworts:
5
I
Die Zeit steht still
6
Memento
7
Alle 7 Jahre
8
Gebet
9
Ein welkes Blatt
Ein welkes Blatt - und jedermann weiß: Herbst.
Fröstelnd klirren die Fenster zur Nacht.
O grüne Welt, wie grell du dich verfärbst!
10
Wo sich berühren Raum und Zeit...
Wo sich berühren Raum und Zeit,
Am Kreuzpunkt der Unendlichkeit,
Ein Pünktchen im Vorüberschweben -
Das ist der Stern, auf dem wir leben.
11
Herbstabend
Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.
12
Lenz
Nachdenkliches Gedicht
13
Souvenir ä Kladow
Geschrieben im heftigen Vorfrühling Manhattans
14
24 Zeilen Herbst
O lebensmüdes altes Jahr!
Die Wälder stumm. Der Park entlaubt.
Bald schneit der Winter weißes Haar
Auf unser sommergrünes Haupt.
15
Als ich Europa wiedersah...
Als ich Europa wiedersah
- Nach jahrelangem Sehnen -
Als ich Europa wiedersah
Da kamen mir die Tränen.
16
Die «Kleine Angina»
Als ich noch im Halswehalter war
Und ziemlich stolz auf mein Fieber,
- Mama stand Wacht, und das Haus stand Kopf,
Und es roch nach Jelängerjelieber –
17
Träumer mittleren Alters
18
Herbstanfang
Die Nachtigall in meinem Garten schweigt.
Die Welt wird leer.
Und auch die Geige in der Ferne
Geigt nicht mehr.
Der Sommer flieht.
Mit jedem Tage stiller wird mein Lied.
19
Kleine Zwischenbilanz
20
II
Lieder für Liebende
21
Pihi
22
Weil du nicht da bist
Weil du nicht da bist, sitze ich und schreibe
All meine Einsamkeit auf dies Papier.
Ein Fliederzweig schlägt an die Fensterscheibe.
Die Maiennacht ruft laut. Doch nicht nach mir.
23
Das graue Haar
Ein welkes Sommerblatt fiel mir zu Füßen.
- Dein erstes graues Haar. Es sprach zu mir:
Mai ist vorbei. Der erste Schnee läßt grüßen.
Es dunkelt schon. Die Nacht steht vor der Tür.
24
Mit auf die Reise
25
Das berühmte Gefühl
26
Ein Herr namens Tristan
Als er zum ersten Mal in meinem Leben
Die Hand mir drückte (halb verführerisch,
Halb sorgenvoll) - auf einmal wußte ich,
Als war es lang versiegelt und verbucht:
... Dies war er, den ich unbewußt gesucht.
Nie wieder wird es seinesgleichen geben.
27
Gebet
Es wohnen drei in meinem Haus –
Das Ich, das Mich, das Mein.
Und will von draußen wer herein,
So stoßen Ich und Mich und Mein
Ihn grob zur Tür hinaus.
28
Unabgesandter Überseebrief
29
Mit einem Jugendbildnis
30
An mein Kind
Dir will ich meines Liebsten Augen geben
Und seiner Seele flammenreiches Glühn.
Ein Träumer wirst du sein und dennoch kühn
Verschloßne Tore aus den Angeln heben.
31
Alte Flamme
bei Lichte besehen ...
Das also ist der Abgott, der verjähren
Mein Herz bewohnte einen Sommer lang!
- Und dies die Augen, dies der Stimme Klang,
Die meinem Leben Licht und Kompaß waren ...
Man denke, einen ganzen Sommer lang!
32
III
Die tausend
Jahre
33
Einem kleinen Emigranten
Für Steven
34
Interview mit mir selbst
Anno Zwounddreißig
36
Chanson für Morgen
37
Fast ein Gebet
38
Momentaufnahme eines Zeitgenossen
Wer mit den Wölfen heult, der heult mit allen Tieren.
39
Zehn Gebote für den <Nouveau Pauvre>
Wir sollten nicht mit unsrer Armut protzen;
Denn Mitleid ist der Güter höchstes nicht.
Auch wer partout von seinem «Damals» spricht,
Ist - Sie verzeihn - nicht weniger zum Ko ...
40
Kaddisch
41
Überfahrt
Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.
Nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben.
Von all den Vielen ist nur er geblieben.
Sonst keiner, der in Treue zu uns hält.
42
Einmal möcht ich dort noch gehn ...
43
Verse für keinen Psalter
Ich möcht in dieser Zeit nicht Herrgott sein
Und wohlbehütet hinter Wolken thronen,
Allwissend, daß die Bomben und Kanonen
Den roten Tod auf meine Söhne spein.
44
Das war damals
I
Der kleine Affe auf der Orgel hüpfte,
So oft der Alte seinen Schlapphut lüpfte,
Wenn aus dem Fenster Kupfermünzen fielen.
Und wieder fing der Kasten an zu spielen.
Leis fiel der Schnee. Der Hof war menschenleer:
«Es war einmal, einmaaal. Es kommt nicht mehr...»
II
Es roch nach Anfang Mai und erstem Flieder.
Vorm Fenster blühte der Kastanienbaum.
Wir schwangen durch die Straßen wie im Traum.
Und wieder
Sangen die Kinder ihre Frühlingslieder:
«Der Lenz, der Lenz. Der Lenz ist angeko-hom-men ...»
III
So ratterte der Schnellzug in die Fremde:
Ein Haus. Ein Pferd. Ein Stückchen Wiesenpfad.
Ein Kind, das winkt. Ein grünes Wald-Quadrat.
Und hoch im Blau der Spatzen Notenköpfe
Auf feinliniertem Telegrafendraht.
45
Frühlingslied für Zugereiste
Liebes fremdes Land, Heimat du, wievielte.
Park so grün wie dort, wo als Kind ich spielte.
Erster Duft im Strauch. Schüchterne Platanen.
Müßt ihr immer mich an daheim gemahnen?
Alles um mich her blüht im Sonnenlicht.
Doch der Frühling hier ist mein Frühling nicht.
46
Sozusagen ein Mailied
Manchmal, mitten in jenen Nächten,
Die ein jeglicher von uns kennt,
Wartend auf den Schlaf des Gerechten,
Wie man ihn seltsamerweise nennt,
Denke ich an den Rhein und die Elbe,
Und kleiner, aber meiner, die Spree.
Und immer wieder ist es dasselbe:
Das Denken tut verteufelt weh.
47
Emigranten-Monolog
48
Deutschland, ein Kindermärchen
Geschrieben auf einer Deutschland-Reise im Heine-Jahr 1956
I
Nach siebzehn Jahren in «U. S. A.»
Ergriff mich das Reisefieber.
Am letzten Abend des Jahres wars,
Da fuhr ich nach Deutschland hinüber.
49
II
Es hat wohl seitdem kein deutscher Poet
So frei von der Freiheit geschrieben.
Wo das Blümelein «Freiheit» im Treibhaus gedeiht,
Wird das Treiben ihm ausgetrieben ...
50
III
Wie Heinrich Heine zu seiner Zeit
War auch ich in der Fremde oft einsam.
(Auch daß mein Verleger in Hamburg sitzt,
Hab ich mit dem Autor gemeinsam.)
51
IV
«... Da kam der böse Wolf und fraß
Rotkäppchen.» - Weil sie nicht arisch.
Es heißt: die Wölfe im deutschen Wald
Sind neuerdings streng vegetarisch.
52
Minetta Street
53
Du hörst ihn unterirdisch hasten,
Wenn er vom Eis erwacht im Lenz,
- Im «Penguin», wo die Literasten
Sich raufen um die «Existenz».
54
IV
Auf diversen
Breitengraden
55
Sehensnichtswürdigkeiten
56
Damen unter sich
57
New Yorker Sonntagskantate
58
Vom ersten «Martini» zum letzten Kaffee
Rollt alles sich ab nach bewährtem Klischee.
Denn was sich schickt und wann, wenn zwei sich lieben,
Ist gottseidank ausführlich vorgeschrieben
Und führt, sofern man diplomatisch war,
Zum «Happy End». Das heißt, zum Traualtar.
59
Verse für ein amerikanisches Bankbuch
Geschrieben in Wall Street, New York
Wenn drüben einer nach dem Beruf des Herrn Vaters uns fragte,
So sagte man - gewöhnlich kleinlaut, ja nahezu schuldbeladen –
Das Wörtchen: «Kaufmann». Stand nicht in hohen Gnaden,
Wenn man auch, umgerechnet, many Dollars machte.
Hierzulande jedoch, sowohl für Mister Kelly als auch für Mister Gönn,
Ist «business» die zweite, wenn nicht gar die erste, Religion.
Heilig, heilig, heilig ist der Herr. Vorausgesetzt, er kann zahlen.
Ein' feste Burg ist unser Geld. Es wohnet in Kathedralen ...
60
Gesucht: Ein Irgendwo von dazumal...
Mit ein paar Bäumen davor, und einem Vogel, der singt.
Von fern, das Gebirg. Man meint, in den Wolken zu schweben.
Und die Stille ringsum! Es ist eine Stille, die klingt.
Vier Mal spiegelt der Bach mir das wechselnde Antlitz der Zeiten.
Mein Kompaß: Sonne und Wind. Meine Zeitungen: Spuren im Schnee.
- Wie seltsam: der erste Tag, und ich fühle mich selig Zuhause!
Vertraut ist die Landschaft mir längst. Sah alles so oft schon im Traum:
Den Brunnen, den Urväterrat und den offnen Kamin in der Klause;
Petroleumlampe zur Nacht und Bänke aus knorrigem Baum.
61
Brief aus Venedig
62
Ich habe mir schon vieles angesehn
Und fand das meiste vorschriftsmäßig schön.
Im Markusdom und anderso erkennt
Sogar der Laie frühen Orient;
Byzanz, Judäa, Griechenland, archaisch ...
Mir schien so manches Mosaik mosaisch.
63
Der Bescheidwissenschaftler
64
Mutter sein dagegen sehr
65
Zum Thema «Seelenwanderung»
Als ich ein Kind war, konnte ich auch noch fliegen.
- Oft hab ich des Nachts aus dem Bett mich entfernt.
Und wo andere Leute ihr Rheuma kriegen,
Hatte ich anderntags den Schwingen- Kater.
Aber das Fliegen habe ich etwas verlernt.
66
Und immer, wenn die Palmenbäume blühn,
Schlank wie im Hohenliede Salomonis,
Gedenke ich des klugen Davidsohnes,
Der unsre Vogelsprache ernst studierte,
Ja, der mich seinerzeiten engagierte,
Ihn unsern neuesten Dialekt zu lehren,
Und auch in der Grammatik abzuhören.
67
Temporäres Testament
68
POST SCRIPTUM: Schont die guten Taschentücher,
Ihr Herrn Verleger meiner wenigen Bücher.
Mein «letzter Wunsch» - mag man ihn übelnehmen:
Zahlt meinem Kind die fälligen Tantiemen!
69
Nachwort
Mascha Kaleko, in den dreißiger Jahren in Berlin mit ihren
beiden Büchern Das lyrische Stenogrammheft und Kleines
Lesebuch für Große zu frühem Ruhm gekommen,
emigrierte 1937 nach Amerika. Mit ihrem Mann, dem
Musiker Chemjo Vinaver, wohnte sie bis 1966 in New
Yorks Künstlerviertel Greenwich Village.
Viele Leser von Mascha Kaleko lebten wie sie im Exil und
begegneten in den verstreuten und unter Emigranten
weitergereichten Blättern, vereinzelt auch in Zeitungen,
neuen Versen der Dichterin. Diese fanden begeisterte
Aufnahme, waren sie doch das lyrische und satirische
Echo der Nöte und Sorgen, die ihnen allen durch das
aufgezwungene Schicksal gemeinsam waren. Was Mascha
Kaleko in diesen Emigrationsjahren dichtet, ist vor allem
Heimweh nach der verlorenen Heimat. Immer wieder stellt
sich die Sehnsucht nach Deutschland ein. Der
Heimatlosigkeit entrinnt sie durch Poesie, bezwingt sie im
Sichhingeben an die Nächsten, die Familie, die wenigen
Freunde, die noch zählen. <Zur Heimat erkor ich mir die
Liebe> wird nicht nur Verszeile, sondern gelebte Maxime.
1945 erscheinen die in Amerika entstandenen Gedichte
beim Schoenhof Verlag in Cambridge, Massachusetts,
unter dem Titel Verse für Zeitgenossen. 1948 wird durch
Alfred Polgar eine erste Verbindung mit ihrem deutschen
Verleger, Ernst Rowohlt, wiederhergestellt.
70