Germanistische Symposien
Berichtsbände
Herausgegeben von
Wilfried Barner
XXIII
Text und Kultur
Mittelalterliche Literatur
1150–1450
Herausgegeben
von Ursula Peters
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Germanistische Symposien
Berichtsbände, XXIII
ISBN 978-3-476-01854-0
ISBN 978-3-476-05567-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05567-5
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
I.
Textkonstitution und Vermittlung
II.
Kulturtheoretische Konzepte
Abendvortrag
Joachim Bumke (Köln): Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival
Wolframs von Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
III.
Alterität: Institutionelle Bedingungen
IV.
Poetologische Konzepte
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
Abkürzungen
ASNS Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen
ABäG Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik
AfdA Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur
AFP Archivum Fratrum Praedicatorum
AfK Archiv für Kulturgeschichte
ATB Altdeutsche Textbibliothek
BLVS Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart
DTM Deutsche Texte des Mittelalters
DU Der Deutschunterricht
DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-
geschichte
EM Enzyklopädie des Märchens
FMSt Frühmittelalterliche Studien
Frank István Frank, Répertoire métrique de la poésie des troubadours,
2 Bde, Paris 1966
GAG Göppinger Arbeiten zur Germanistik
GQ The German Quarterly
GR German Review
GRLM Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters
GRM Germanisch-romanische Monatsschrift
GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Hist. Jb. Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft
HMS Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahr-
hunderts, aus den bekannten Handschriften und früheren Drucken
gesammelt […] von Friedrich Heinrich von der Hagen, T. 1–5,
Leipzig 1838–1856
HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie
IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
JEPG Journal of English and German Philology
JOWG Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft
LexMa Lexikon des Mittelalters
LiLi Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik
X Abkürzungen
Vom 24. bis zum 28. September 2000 hat auf Schloß Reisensburg das 23.
von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Germanistische Sym-
posion stattgefunden, in dem unter dem sehr allgemeinen Titel »Text und
Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 bis 1450« Mediävisten in einer Kom-
bination von Theoriediskussion, forschungskritischer Bilanz und Fallstudien
grundlegende Fragen des Faches verhandelt haben. Ausgangspunkt dieses
Treffens war ein Unbehagen angesichts der augenblicklichen mediävistischen
Methoden-Diskussionen, die sich in bestimmten Bereichen und auf den
verschiedensten Ebenen in die neueren texttheoretischen und kulturwissen-
schaftlichen Positionsbestimmungen und Gefechte anderer Disziplinen ein-
klinken, vor allem im Umkreis des Stichwortes Kulturwissenschaft dezidiert
das Neue, das Innovative von Fragestellung, Arbeitsweise und – nicht zuletzt
– der vermuteten Ergebnisse und Einsichten betonen, ohne dass in vielen
Fällen die jeweils in die Debatte eingebrachten Theorieangebote auch nur
ansatzweise in ihrer terminologischen wie sachlichen Leistungsfähigkeit aus-
diskutiert und auf einer breiteren Basis textanalytisch umgesetzt und erprobt
worden wären. Es wechseln allzu schnell die Richtungen, die Begriffe und
disziplinären Ausgriffe, so dass diese auf eine sachliche wie methodische
Neupositionierung des Faches bezogene Diskussion vornehmlich im kon-
zeptionellen Bereich beliebig zu werden droht. Diese Schnellebigkeit der
Theoriediskussion hat allerdings zugleich dazu geführt, dass auch die schein-
bar ausgeloteten Problemkreise im Umfeld von Texttheorie und Kultur-
wissenschaft noch keineswegs ausdiskutiert sind. Im Gegenteil: viele Fragen
sind unbeantwortet geblieben, viele Vorschläge sind nicht weiter verfolgt
worden und viele Theoriekonzepte ohne Reaktion, aber eben auch ohne
Textbezug ins Leere gelaufen. Forschungskritik und Defizitbilanzierung, eine
Art Standortbestimmung, eine fachlich-methodische Vergewisserung des Er-
reichten wie auch des Ausgeblendeten in diesem etwas diffusen, kaum mehr
zu überschauenden Feld mediävistischer Text- und Kulturtheorie, von Text
und Kultur schienen uns deshalb angezeigt zu sein.
Prominente Vorläufer für diese Fragen sind die beiden letzten mediävisti-
schen Veranstaltungen in der Reihe der bisherigen Germanistischen DFG-
Symposien.
XII Vorbemerkung
3 Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum
Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985. 21992.
XIV Vorbemerkung
schen Implikationen erörtert werden. Damit sind bereits die thematischen Schwer-
punkte der vier Sektionen bezeichnet, die die Kuratoren dieses Symposiums, Jan-
Dirk Müller, Ursula Peters, Andreas Kablitz und Christoph Huber, für die gemein-
same Arbeit vorschlagen.
2. Kulturtheoretische Konzepte
Leitung: Ursula Peters, Köln
4. Poetologische Konzepte
Leitung: Christoph Huber, Tübingen
Die Beiträge der ersten Sektion sind alle mehr oder weniger deutlich Pro-
blemen gewidmet, die von der sog. New Philology aufgeworfen wurden. Die
Diskussion um diesen Ansatz ist im Jahrzehnt seit Erscheinen von Bernard
Cerquiglinis ›Éloge de la variante‹ und dem Speculum-Heft von 1990 in
ruhigere Bahnen gekommen. Der Auffälligkeitswert der Provokation ist
längst verbraucht; das Prädikat ›neu‹ wurde inzwischen selbst von den
Vertretern der New Philology relativiert; das Phantasma einer elektronischen
Edition, die sämtliche Handschriften-Zeugen zugleich vollständig verfügbar
hält, harrt noch praktikabler Vorschläge zur Umsetzung. Unübersehbar aber
beginnen die Anstöße, die von der Provokation ausgingen, ihre Wirkung zu
zeigen.
Stephen Nichols’ Vorschlag, das Epitheton ›new‹ durch ›material‹ zu
ersetzen, pointiert den Erkenntnisgewinn einer Mediävistik, die nicht den
abstrakten, oft aus vielen Überlieferungsträgern rekonstruierten, gedruckten
Text in einer modernen Edition zu ihrem Gegenstand macht, sondern die
Materialität seiner Überlieferung selbst thematisiert: die Handschrift, ihre
Zusammensetzung, ihr Layout, die Mittel der Texterschließung, die Rezep-
tionsanleitungen, die Illustrationen usw. Natürlich war all dies seit langem
Gegenstand mediävistischer Untersuchungen, doch nicht selten abgedrängt in
sog. Hilfswissenschaften und ohne Einfluß auf die Interpretationspraxis. Die
›Material Philology‹ hat dagegen gezeigt, wie wichtig die konkrete Erschei-
nungsform eines Textes in Schrift für dessen Verständnis und für seine
Funktion ist. Statt ›Philologie‹ von theoriegeleiteter Literaturwissenschaft
abzuspalten, regt sie im Gegenteil zu neuen philologischen und literatur-
wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Texten an. Ist einmal die
Aufmerksamkeit auf den konkreten Überlieferungsträger gelenkt, dann las-
sen sich Abweichungen zwischen Handschriften nicht mehr ohne weiteres als
›Fehler‹ eliminieren und in einem ›gereinigten‹ Text nur mehr in den text-
kritischen Apparat verbannen. Die Materialität des Artefakts erklärt sich aus
den Bedingungen seiner Herstellung, und da zeigt sich, daß die mittel-
alterliche Kopierpraxis nicht nur faktisch die Annäherung an einen au-
tornahen Archetypus unmöglich macht, sondern in vielen Fällen schon die
Leitvorstellung eines Archetyps, die Vorstellung einer und nur einer verbind-
4 Jan-Dirk Müller
lichen Textgestalt, auf die dann alle anderen mehr oder minder fehlerhaften
zurückzuführen sind, in Frage stellt.
In der mediävistischen Editorik ist das Problem seit langem bekannt.
Cerquiglinis ›Lob der Variante‹ war gegen eine bestimmte Editionspraxis
gerichtet gewesen, der Abweichungen nur als Fehler denkbar waren. Daß
andere Editionsschulen diesem Konzept nicht folgten, wurde übersehen.
Auch schoss der Impetus über das Ziel hinaus, wenn mittelalterliche Texte in
jeder Hinsicht als ›unfest‹, von Realisierung zu Realisierung sich wandelnd,
angesehen wurden und alles und jedes in einer Handschrift – offenkundige
Fehler wie belanglose Schreibvarianten – die Dignität der bedeutsamen
Variante erhielt. Auf der anderen Seite zeigte sich – etwa in Karl Stackmanns
Überprüfung der Konstituierung eines Frauenlob-Gedichtes – wie fruchtbar
für die Editionspraxis die Aufwertung der Varianz bei einer Unterscheidung
von Variantentypen unterschiedlicher Relevanz sein kann.
Wenn der mittelalterliche Text in unterschiedlichen, untereinander gleich-
wertigen Fassungen existiert, wird damit die Vorstellung vom Text als ge-
schlossenem Gebilde, dem dann eine ebenso geschlossene Interpretation zu
antworten habe, verabschiedet. Bei näherer Betrachtung zeigte sich aller-
dings, daß je nach Produktions- und Rezeptionsbedingungen, je nach Gat-
tung und Gebrauchszusammenhang und je nach Geltungsanspruch Texte von
ganz unterschiedlicher Festigkeit nebeneinander stehen. Der Verzicht des
Editors auf eine vorgängige Entscheidung, die die eine Version zugunsten der
anderen abwertet, hat auch hier den Blick auf unterschiedliche Interpreta-
tions- und Aneignungsmöglichkeiten geöffnet. Demonstriert wurde dies etwa
von Joachim Bumke in seiner überlieferungsgeschichtlichen Analyse und
anschließenden Edition der Nibelungenklage, eines Textes also, der, wenn
auch nicht zum Kanon gehörig, mit einem Kanontext eng verbunden ist.
Unter interpretatorischem Aspekt stellt sich hierzu die Diskussion um den
alternativen Schluß im Iwein von Hartmann von Aue. ›Unfest‹ bedeutet hier
nicht richtungsloses Oszillieren, sondern das Nebeneinander zweier gleich-
berechtigter, konkurrierender ›Fassungen‹.
Damit ist das Problem des Autors aufgeworfen. Auch hier ist man über die
vorschnelle Übertragung moderner Vorstellungen vom ›Verschwinden des
Autors‹ rasch hinausgekommen, indem man jedoch andererseits das häufig
bedenkenlos ins Mittelalter projizierte moderne Bild vom selbstmächtigen
Autor, der alle Parameter seines Textes kontrolliert, verabschiedete. Die
Gesamtheit der Funktionen, die man dem Autor seit etwa 200 Jahren zu-
schreibt, ist nicht auf das Mittelalter übertragbar, wohl aber einzelne ihrer
Komponenten. So trifft man im Mittelalter auf Vorstellungen von Autor-
schaft, wenn auch anderen Typs. Für das besondere Profil des Autors im
Mittelalter sind vor allem von Bedeutung der seit dem 12. Jahrhundert sich
langsam in der Volkssprache vollziehende Übergang von Mündlichkeit zur
Schriftlichkeit, die Reproduktionspraxis innerhalb der Manuskriptkultur, die
dem Verfasser eines Werks keine dauernde Aufsicht über dessen Verbreitung
erlaubt, schließlich die Lizenzen, die dem Abschreiber eines Werks für den
eigenen oder fremden Gebrauch gegenüber dem vorgefundenen Wortlaut
Einführung 5
eingeräumt werden. So wenig jeder Schreiber schon ein Autor ist, so wenig
kann der Verfasser eines Textes verhindern, daß andere diesen Text für ihre
besonderen Bedürfnisse bearbeiten.
An Probleme dieser Art knüpften die Vorlagen für diese Sektion an. Klaus
Grubmüller und Bruno Quast setzen dem Konzept des ›unfesten Textes‹ das
Bemühen mittelalterlicher Autoren um den festen Text entgegen. Quast
konzentriert sich dabei auf die Urstende des Konrad von Heimesfurt, der sich
in seltener Explizitheit dagegen verwahrt, daß jemand die von ihm erarbeitete
Textgestalt korrigiert. Konrad spricht von seinem werc, wählt einen in der
neueren Ästhetik zentralen Begriff, von dem Quast jedoch nachweist, daß
damit nicht eine abstrakte Textgestalt gemeint ist, unabhängig von ihrer
materiellen Realisierung, sondern darin drei Komponenten zusammenkom-
men: die materia, von der die Rede ist, die besondere Gestalt, die ihr der
Dichter gegeben hat, und schließlich die konkrete Handschrift. Weitere
Beispiele belegen, daß insbesondere Texte mit normativem Geltungsanspruch
(häufig geistlichem Gehalt) auf diese Weise vor willkürlichen Eingriffen
geschützt werden sollen. Die Vorstellung einer gültigen Gestalt eines gültigen
Gegenstandes kann allerdings auch implizieren, daß zwecks Annäherung an
die Idealgestalt Verbesserungen geradezu gefordert und dem Rezipienten
aufgegeben werden. »Textoffenheit und Textfestigkeit« schließen einander
nicht aus. Insofern kann auch »Offenheit … als eine Funktion des idealen
Textes firmieren«.
Grubmüller argumentiert in eine ähnliche Richtung. Sein Ausgangspunkt
ist zunächst die Kindheit Jesu des Konrad von Fußesbrunnen, dann eine
größere Anzahl weiterer Textstellen aus unterschiedlichen Gattungen. Zwi-
schen dem Insistieren des Verfassers auf der Integrität seines Textes und
dessen tatsächlicher Überlieferungsgeschichte klafft ein Widerspruch, der für
die mittelalterliche Manuskriptkultur typisch zu sein scheint. Die Bewahrung
des Wortlautes ist insbesondere dort gefordert, wo die Heilswirkung des
Textes zur Debatte steht. Aufrufe zu korrigieren und zu verbessern finden
sich dagegen in größerer Anzahl erst in spätmittelalterlicher Prosa, wobei
auch hier die Lizenzen unterschiedlich weit gehen und sich auf Unter-
schiedliches richten. Grubmüllers breites Belegmaterial macht deutlich, daß
es im Mittelalter durchaus ein explizites Autorbewußtsein gibt, das das
Bemühen um inhaltliche, vor allem dogmatische Korrektheit ebenso ein-
schließt wie die formale Gestaltung. Die Veränderung von Texten ist eine
Folge der Abschreibpraxis, also ein Phänomen der Schriftlichkeit, so daß sie
für die Vortrags- oder Aufführungssituation nicht in Anspruch genommen
werden kann.
Ursula Schulze ergänzt das Textspektrum durch Rechtstexte. Hier könnte
der normative Anspruch Bemühen auf Wortwörtlichkeit erwarten lassen,
doch führt Schulze vor, wie selbst dort, wo die wörtliche Wiedergabe von
Rechtsnormen behauptet wird, eine erhebliche Beweglichkeit im Wortlaut
herrscht. Sie betrifft »einzelne Wörter, Wortgruppen und deren Reihenfolge«,
auch Doppelformeln (denen man rechtsverbindlichen Charakter zuzuschrei-
ben geneigt ist) und selbst unmittelbar rechtsrelevante Sachverhalte. Auch wo
6 Jan-Dirk Müller
1 Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu, Kritische Ausgabe von Hans Fromm
und Klaus Grubmüller, Berlin, New York 1973.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 9
sektorale Verteilungen der Variabilität von Texten etwa nach Stoffen, Gattun-
gen, Lebensbereichen, Sprachen und Sprachniveaus oder auch Autorentypen
gibt, ob z. B. die Vorstellung richtig ist, dass es die Ich-Proklamationen der
Autoren seien, die die Integrität der Texte sicherten und dann deren »ästhe-
tischer ›Überschuß‹«,8 oder ob der Aufruf zur Korrektur und Bereitschaft zur
Veränderung sich auf die ›Sachliteratur‹ konzentriere und dort aus dem
Zurücktreten der Verfasser hinter die zu vermittelnden Fakten folge.9 Wenn
diese Fragen geprüft sind, dann wird vielleicht auch zum Vorschein kommen,
dass Literatur und Kultur des Mittelalters nicht nur aus der Präsenz des
Zeichens, der Geste, der Aufführung zu verstehen sind,10 der Text nicht nur
als ›event‹ zu begreifen, sondern dass die historische Signatur der Epoche im
Gegeneinander, vielleicht in der Durchdringung dieser Kultur der Performanz
mit einer etablierten und geschichtsmächtigen Schriftkultur zu sehen ist. Von
diesem Prozess wissen wir noch viel zu wenig. Seine Erforschung verspricht
mehr historische Erkenntnis als der einfache Austausch des einen Paradigmas
gegen das andere.
Unbestritten ist, dass Äußerungen wie die Konrads von Fußesbrunnen auf die
Veränderung von Texten durch Schreiber oder Bearbeiter als gängige Praxis
verweisen. Unbestreitbar ist auch, dass Konrads Protest dagegen wenig
Erfolg hatte: Die Kindheit Jesu variiert in Textbestand und Formulierung
erheblich zwischen den einzelnen Textzeugen; dass sich dabei Gruppierun-
gen ergeben (z. B. häufige Allianzen zwischen den Haupthandschriften AC
und dem umfangreichen Fragment L gegenüber Hs. B und den Fragmenten H
und I) tut wenig zur Sache, weil keine Konsequenz herrscht und andere
Konstellationen jederzeit möglich sind.
Die Veränderungen betreffen auch den Gesamtaufbau des Werkes: gleich
zu Beginn ist im gemeinsamen Text aller Textzeugen auf ein vorausliegendes
liet eines meister Heinrîch verwiesen, in dem die Jugendgeschichte Mariens
und die Erwählung Josephs zu ihrem Gemahl erzählt werde. In den Hand-
schriften B und L erklärt der Erzähler, dass er die Verlobungsgeschichte
überspringen werde:
11 In der Ausgabe schreiben wir an der stunt. Das trifft den Sinn nicht; es geht hier
um die überflüssige Wiederholung: ›ein zweites Mal, erneut‹.
12 Klaus Grubmüller
II
12 Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg. Die erste Naturgeschichte in
deutscher Sprache, hg. v. Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861, S. 174.
13 Vgl. dazu auch unten S. 26 zur Klage Heinrichs von Hesler in seiner Apokalypse:
Sterbe ich, so wirt lichte / Vorkart min getichte, / Daz der schriber misseschribet /
Unde immer also blibet (Vv.1349–1352).
14 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Nach den ältesten und besten Hand-
schriften kritisch hg. v. Werner Wolf, Bd. I (Strophe 1–1957), Berlin 1955 (DTM
45). Diese Strophe zitiert Jakob Püterich von Reichertshausen unmittelbar nach
seiner Klage um die verdorbenen Titurel-Exemplare, die ja ebenfalls in diesen
Zusammenhang gehört (Der Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen, hg. v.
Fritz Behrend und Rudolf Wolkan, Weimar 1920, Str. 142 f.).
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 13
15 Der Renner von Hugo von Trimberg, hg. v. Gustav Ehrismann, Tübingen
1909–1911.
16 Ernst Strehlke, »Di Kronike von Pruzinlant des Nicolaus von Jeroschin«, in:
Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis
zum Untergange der Ordensherrschaft, Leipzig 1861, Bd.1, S. 303–624.
17 Die Verse 24 520–24523 fehlen in den Handschriften JBU, die in Ehrismanns
Ausgabe die Klasse I repräsentieren.
18 Judith. Aus der Stuttgarter Handschrift HB XIII 11, 2. Aufl. besorgt von Hans-
Georg Richert nach der Ausgabe von Rudolf Palgen, Tübingen 1969 (ATB 18), zur
Datierungsfrage p.VII-XI.
14 Klaus Grubmüller
Wenn, wie an anderer Stelle (Vv. 669–671) gesagt ist, das Erzählte nicht als
fabula und damit nicht nach dem bloßen Buchstabensinn (V. 670: blozlich)
verstanden werden darf wie irgendeine Geschichte (V. 671: als ich dir schribe
ein mere), wenn die Heilserfahrung an die zeichenhafte Bedeutung des
Buches gebunden ist und an seine sinne[n]richen wort, dann wird das
korrekte Abschreiben mehr als ein Akt des Respekts vor Autor und Werk,
dann wird es zur notwendigen Voraussetzung für die Bewahrung der geist-
lichen Potenz des Gedichts und kann seinerseits ein Akt der Heilsgewinnung
werden; die Sorge um den sin möge nach dem Wunsch des Verfassers die
Vergebung der Sünden und die Aufnahme in das Buch des Lebens be-
wirken:
III
19 Bernhard Schnell, Thomas Peuntner, Büchlein von der Liebhabung Gottes. Edition
und Untersuchung, München 1984 (MTU 81), S. 216.
20 Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel
Velser. Nach der Stuttgarter Papierhandschrift Cod. HB V 86 hg. v. Eric John
Morrall, Berlin 1974 (DTM 66).
21 Tristrant und Isalde. Prosaroman. Nach dem ältesten Druck aus Augsburg vom
Jahre 1484, versehen mit den Lesarten des zweiten Augsburger Druckes aus dem
Jahre 1498 und eines Wormser Druckes unbekannten Datums hg. v. Alois Brand-
stetter, Tübingen 1966 (ATB, Erg. 3).
22 Meister Ingold, Das Goldene Spiel, hg. v. Edward Schröder, Straßburg 1882
(Elsässische Literaturdenkmäler aus dem 14.–17. Jahrhundert 3).
16 Klaus Grubmüller
Vnde so wer dyt liest vnde mit vlysse besynnet der mach gunstlichen myrcken die
meynunge vnde besseren den synn deser materien.
(Der doernen krantz van collen, Köln: Johann Koelhoff 1490, Kolophon)23
Ist der drāme nit recht gedremet, so biedē ich daz er zu recht gekorigieret vnd
gestraft werde vō den die baß dremē konnen vnd baß gemachē mogen.
(Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, S. 333)24
So ich aller eigenlichest kund, so han ich des begunnen vnd gnumen von dem lattin
v e
einvaltiklich vnd och gar blossiklich die wort oder den sinn. Wer daz besseren will,
des bin ich gar fro vnd wùnsch im gottes lon, won mitt gebett vnd mit begierde, so
manen ich, fil vnwirdiger, daz es werde gerichtet von denen, die es bas an kùnsten
hand. Vnd als es mich geheissen ist, so wirt es gerichtet und ist.
(Sibilla von Bondorf, Legenda Sancti Francisci, Vorrede, S. 38, Z. 12–19)25
Wenn die Sachkunde in den Vordergrund gerückt wird, dann können solche
Verbesserungsappelle auch zu Huldigungsadressen genutzt werden,26 etwa
bei Thüring von Ringoltingen, der neben einem jegelichen, der sich des baß
wüsse zuo behelffen den ich, ganz besonders seinen Markgrafen auffordert, das er es
besseren, reformieren und corrigieren welle: wan er die sprache baß kann dan ich,27
oder bei Johann Hartlieb, der in der Vorrede zu seiner Andreas-Capellanus-Über-
setzung Herzog Albrecht VI. von Österreich auffordert:
wo ich darin uerhanndel, daz enpfilch ich ewren genaden ze pesseren, als ich dann
aller weishait vnd verstentnüss v"berfluzzigkait wol bey ewren fürstlichen genaden
wais vnd erkenne.28
2. In vielen Fällen richtet sich die Bitte um Verbesserung auf die sprach-
liche Gestalt des Werkes. Selten geht es dabei um Formulierungsfragen der
Prosa, obgleich auch dort die Sprachgestalt als verfügbarer Bereich gegen
den unverfügbaren Sinn gesetzt werden kann:
darumb hat ein yegklicher der soliches weyßt zuo besseren. macht vnd gewalt die
worte zuo verenderen vnnd zuouerseczen auff ander form wie jm geuelt. vnd doch
den sin der histori beleyben lassen. die dan als mich bedunckt gerecht ist.
(Wigoleis vom Rade, S. 235, Z. 2–5)29
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht aber – korrespondierend der Sorge um
die Bewahrung der Versgestalt bei Albrecht, Hugo von Trimberg und Niko-
laus von Jeroschin (s. o.) – die metrische Form; sie variiert den Bescheiden-
heitstopos von der unzulänglichen Beherrschung der Kunstregeln durch den
Verfasser:
o
Die guten tichtære
Pit ich durch ir ere
Und durch got michels mere
Daz si dez rechte nemen war
Swar ich dar an misse var
Von swaches sinnes chreft
Daz si es mit meisterscheft
o
Mir helfen vol furen
o o
Richtun und sturen
Behowen unde besniden.30
Daz sulen si nicht vermiden
Unde haben ez zeeinem spote.
(Otte, Eraclius, Vv. 128–139)31
Sît nu menglich niht enkan
latîn, dâvon nam ich mich an,
e
das ich es gerne brahte
e
ze tutsche, ob ich mehte
oder künde den rîmen eben
ir mes nâch rechtem loufe geben.
ob aber ich des nicht enkan,
sô sî erloubet iedem man,
das er âne mînen has
die rîmen zsemen rüege bas,
ob in kein rîme dunk zelank,
dâ wider ze kurz oder ze krank
villîht ir etlicher ist,
sô neme er im stunde unde vrist,
das er die zsemen messe.
ob ouch ich iht vergesse
mîn selbes an den worten,
29 Zitiert nach Alois Brandstetter, Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfi-
schen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Frankfurt a. M. 1971.
30 behouwen und besniden sind vers- und reimtechnische Termini, die den richtigen
›Zuschnitt‹ des Verses betreffen. Vgl. dazu neben den hier folgenden Textstellen
oben S. 12 Hugo von Trimberg, Renner, V. 24517 f., und unten S. 23 zu Konrads
von Heimesfurt Urstende, V. 13, und BMZ II, 2, S. 439.
31 Otte, Eraclius, hg. V. Winfried Frey, Göppingen 1983 (GAG 348), S. 4 (Fassung
B). In V. 139 schreibt Frey mit der Handschrift zedeinem.
18 Klaus Grubmüller
Sonst aber wird Kompetenz eingefordert: die guoten tihtaere sind bei Otte
zur Korrektur aufgerufen, die Verständigen (die besinten) bei Heinrich von
Beringen, und Heinrich von Kröllwitz trifft in seiner gereimten Vaterunser-
Auslegung aus den Jahren 1252–1255 sehr präzise Unterscheidungen: nur
diejenigen haben die Erlaubnis zum Eingriff in das Werk, die dies in guter
Absicht tun, es nicht zerstören (verkêren) wollen und vor allem über die
nötigen verstechnischen Fähigkeiten verfügen (Vv. 3978f.):
Sô nemach mich niht irvêren,
ob mir wol ist worden bruch35,
daz ich lîhte einen spruch
unrehte hân gesprochen;
sî ihtes dâ gebrochen,
dez muget ir iuch irgezzen
unde anders dar sezzen,
alsô daz ir sô sprechet,
daz ir die rîme icht brechet,
sô will ich lâzen âne haz,
ob ir kunnet gereden baz;
o
enkunnet ir aber des niht getun,
o
daz ir iuch niht wollet mun
sô lât die rede alsô beste
unde machet ir minner, noh mê,
dan als ich gesaget hân.
(Vaterunser-Auslegung, Vv. 3971–3986)36
3. Der Aufruf zu inhaltlicher Korrektur, so häufig er sich in der Prosa
findet, ist in Versepen selten. Er konzentriert sich auf die Marienleben:
Ouch sô bite ich alle, die
Sîn gelêret, swaz si hie
Ungewaeres vinden,
Daz sie daz widerwinden
Und ze rehte wellen staben
Alder von dem buoche schaben
Ald verbrennen ez gar,
Sô hât der nîdaere schar
Ze nîde kein ursuoche
Gägen disem buoche,
Wan ielîchem ist der gewalt
Diz buoch ze rihtenne bezalt
35 bruch meint hier ›Schade, Mangel‹ (Lexer I, Sp. 362): Die Bedeutung ›schadhafter
Vers‹ ergibt sich aus V. 3979, wo rîme brechen zweifellos für ›Verse zerstören‹
steht (vgl. dazu auch Lexer I, Sp. 344).
36 Heinrich’s von Krolewiz ûz Mîssen Vater Unser, hg. v. Georg Chr. Fr. Lisch,
Quedlinburg, Leipzig 1839 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Lite-
ratur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 19).
20 Klaus Grubmüller
37 Walther von Rheinau, Das Marienleben, hg. v. Edit Perjus, Åbo 1949.
38 Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben, hg. v. Heinrich Rückert, Quedlin-
burg, Leipzig 1853 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von
der ältesten bis auf die neuere Zeit 34).
39 Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica, hg. v. Dr. Adolf Vögtlin,
Tübingen 1888 (BLVS 180). Es handelt sich hier um den Prolog zum 3. Buch.
Walther wiederholt die Passage mit geringfügigen, aber charakteristischen Abwei-
chungen im Prolog zum 1.Buch (dort fehlt z. B. die Aufforderung zum Verbrennen)
und im Epilog (mit der Aufforderung zum Ergänzen, Korrigieren, Ausschaben oder
Verbrennen).
40 Walther übernimmt die Passage auch an den anderen Stellen (Vv. 5,6–24 und
Vv. 215,21–34) aus der Vita rhythmica. Philipp der Kartäuser hat an der zitierten
Stelle wohl die Prologpassage der Vita im Sinn; dafür spricht auch die Beteuerung,
dass alles dem Lobe Gottes diene.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 21
Dass sich die Aufforderungen zur Richtigstellung dessen, was als Wider-
spruch zur Wahrheit empfunden werde, im Bereich der apokryphen bibli-
schen Erzählungen häufen, wird kein Zufall sein. Es hat ganz offensichtlich
mit der besonderen ›Glaubwürdigkeitslücke‹ zu tun, wie sie schon in der Vita
rhythmica in der ausdrücklichen Berufung auf die authentischen Schriften
(V. 8: in autenticis scriptis) und damit in der Abweisung eines zu leichtfertig
ausgesprochenen Apokryphen-Verdikts sichtbar wird:
Si quis ut apocrifum hoc velit reprobare,
Caveat, ne veritatem presumat condempnare.
Et in locis singulis ponendi sunt auctores,
Qui sunt huius carminis verissimi doctores
Si qua tamen hic fortassis apocrifa ponantur,
Non idcirco perprudenter ut falsa condempnantur. (Vv. 33–38)41
In den deutschen Epen zeigt sich diese ›Glaubwürdigkeitslücke‹ darin, dass
die Autoren sich ganz besonders intensiv um die Absicherung ihrer Erzählun-
gen in konkreten Tradierungs-Konstruktionen bemühen:
– Walther von Rheinau versichert, weder Eigenes hinzugefügt, noch andere
Überlieferungen berücksichtigt zu haben (Vv. 5,16–24).
– Philipp der Kartäuser teilt mit (Vv. 10–15), alles zu künden, was diu schrift
uns sagt und was er in der weiten Welt erfahren habe (swaz ich gehôrt hân
und gelesen / von dir, swâ ich pin gewesen).
– Der Schweizer Wernher, der gleichfalls auf der Vita rhythmica fußt,
Dionysius Areopagita als fingierte Quelle übernimmt und auch auf das
Zeugnis der Evangelisten verweist (Vv. 47–51), setzt sich in einem langen
Einschub mit dem Vorwurf der fehlenden Verankerung seines Stoffes in
den Evangelien auseinander und verweist auf die Bücher der Lehrer:
Ob ir dar umb hie vindent út
Da von kain ewangelium nút
Seit noch úns bewiset,
Kainer sage priset,
Dar umb ist es doch nit gelogen,
Das iemant si da mit betrogen
Und es dúrfe han fúr spot:
Ich will die warhait hie von Got
Sprechen a(v)n liegen,
Niement da mitte triegen;
Und wer es wil fúr lugi han,
Der sol fúro selber gan
o
Es fragen und suchen
o
An der lerer buchen
Di zem ersten geschriben hant
41 Vgl. auch die Beiziehung angesehener Autoren als Gewährsleute (Vv. 25–30), z. B.
des Dionysius Areopagita als Verfasser des Transitus Mariae.
22 Klaus Grubmüller
– Auch Konrad von Fußesbrunnen hatte sich auf seine Quellenstudien be-
rufen (Vv. 3007–3010), und Konrad von Heimesfurt43 stützt sich in der
Urstende auf ein latînisch buoch, das er ins Deutsche übertragen wolle und
das auf einen Juden mit Namen Enêas zurückgehe, der als Augenzeuge die
Ereignisse bei der Kreuzigung Christi und seiner Auferstehung nieder-
geschrieben habe (Vv. 67 f.: daz tete er allez geschriben; / des sint diu
maere her beliben).44 Für Unser vrouwen hinvart konstruiert er eine lange
und ununterbrochene Überlieferung (Vv. 79–134), die gleichfalls bei ei-
nem Augenzeugen des Lebens und der Himmelfahrt Mariens, dem Apostel
Johannes, beginnt, über seine Aussendung nach Asien, die Gründung des
Bistums Sardiâ und die Inthronisierung des Fürsten Milito zu Konrads
Quelle Ps.-Melito von Sardes45 führt und auch den Akt der Übermittlung
noch rekonstruiert: Chorherren aus Laodicîa hätten bei Milito nach der
Wahrheit über Leben und Tod Mariens fragen lassen; er solle sie an einen
brief schribe[n]:
der vil heilige Militô
schreip in hin wider alsô
diu bescheidenlîchen maere,
als im ir phlegaere
sant Jôhannes seite,
wie ez ze ir hinleite
und ze ir antvange ergie.
alsô tuon ich iu, gebietet irz hie. (Vv. 127–134)
42 Das Marienleben des Schweizers Wernher, aus der Heidelberger Handschrift hg. v.
Max Päpke, zu Ende geführt von Arthur Hübner, Berlin 1920 (DTM 27).
43 Konrad von Heimesfurt, ›Unser vrouwen hinvart‹ und ›Diu Urstende‹. Mit Verwen-
dung der Vorarbeiten von Werner Fechter hg. v. Kurt Gärtner und Werner J.
Hoffmann, Tübingen 1989 (ATB 99).
44 Gemeint ist das apokryphe Evangelium Nicodemi, hg. v. Konstantin Tischendorf,
Evangelia apocrypha, 2. Aufl., Leipzig 1876, S. 333–432. Der jüdische Gewährs-
mann Enêas findet sich in dessen erstem Teil, den Gesta Pilati.
45 Es handelt sich um die von Monika Haibach-Reinisch (Ein neuer ›Transitus
Mariae‹ des Pseudo-Melito von Sardes. Textkritische Ausgabe und Darlegung der
Bedeutung dieser ursprünglicheren Fassung für Apokryphenforschung und la-
teinische und deutsche Dichtung des Mittelalters, Rom 1962) entdeckte Fassung
des apokryphen Transitus Mariae. Kurze Zusammenfassung zur Quellenfrage bei
Gärtner/Hoffmann (Anm. 43), S. XX-XXII.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 23
IV
Mit dem Weg, den er einschlägt, ordnet sich Konrad von Heimesfurt in ein
wohl etabliertes Muster ein: die Inspiration des Dichters durch den Heiligen
Geist. Nur ist sie im Zusammenhang mit biblischen Stoffen strikter zu
verstehen als sonst. Sie verschafft Teilhabe an den Traditionsmaßstäben des
Wortes Gottes. Deren immer wieder eingeforderte wörtliche Tradierung hat
für die Bewahrung ihrer Authentizität zu sorgen; das Bemühen um die
Sicherung des Überlieferungs- und Auslegungsmonopols durch das Lehramt
der Kirche hat hierin seine Wurzel. In der Apokalypse des Johannes ruft
Jesus selbst zur Bewahrung seiner Worte auf:
Et dixit mihi: haec verba fidelissima et vera sunt et Dominus Deus spirituum
prophetarum misit angelum suum ostendere servis suis quae oportet fieri cito et
ecce venio velociter. Beatus qui custodit verba prophetiae libri huius (22, 6 f.)
Contestor ego omni audienti verba prophetiae libri huius: si quis adposuerit ad
haec, adponet Deus super illum plagas scriptas in libro isto, et si quis deminuerit de
verbis libri prophetiae huius, auferet deum partem eius de ligno vitae et de civitate
sancta (22,18 f.).
An dis gedicht pringt worlich mich Des halb gepeut er im ein zeyt
Ein tumer mit eim parat haw, Nach zu lossen, er gründ zu tiff,
Der über ser hochferticlich Ein weil er ym vil mer zu geit
Appocalipsim so genaw Dan ye Johannes geist durch liff.
Durch gründen meint uber die moß O herre Got, was narret groß,
Mer dan Johanes sach. Herczliches leits und ach,
Du tumer tichter, dir zeuchst zu!
Lernstu das a b c vor pas,
Tichtest ein tanczlidlein dar fur,
Das denoch do in dir kaum was,
Do du furnamst die hoen kür,
Hestu gehapt dein ru.
Sag: spurstu nicht
Was clerlich spricht
Der adelar
Do selbst fur war
Do er lauter vergicht:
»Wer hie vor meynen worten dut
Oder zu gipt, der ist verdampt.«
Hie all schrifft weis und hoch gelert
Über erschröcklich allesampt
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 25
46 Meisterlieder des Hans Folz. Aus der Münchener Originalhandschrift und der
Weimarer Handschrift Q. 566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen hg. v. August
L. Mayer, Berlin 1908 (DTM 12), S. 45 f.
47 Die Apokalypse Heinrichs von Hesler, hg. v. Karl Helm, Berlin 1907 (DTM 8).
26 Klaus Grubmüller
So muss Heinrich dafür Sorge tragen, dass diz buch uz allen buchen (V.
1304), das die ware urkunde (V. 1305) zu verbreiten hat, unde ist gerecht und
ist war (V. 1307), vor Eingriffen jeder Art geschützt bleibt. Er fordert
diejenigen auf, die die Absicht hätten, nach seinem Tode dise warheit mit
lugene (V. 1311) zu brechen, sich im Alten Testament, bei den Propheten und
bei Job, dann im Neuen Testament zu versichern, dass alles seine Richtigkeit
habe. Wer aber doch etwas Fehlerhaftes (Vv. 1324 f.: icht […] wandelberiger
sache) finde, der möge sich darum doch zu Lebzeiten des Verfassers be-
mühen:
Durchsuchet wort, durchsuchet sin
Und durchsuchet mine rime,
Swen ich wort zu worte lime;
Durchpruvet die materien
Und mit den ewangelien
Die sich hir in diz buch tragen –
Daz selbe tuent die wissagen –
So durchpruvet dan die glosen,
Als ich knoten muz zu losen
Uz tief gesprochem sinne.
Vint iemant icht dar inne
Dar an ich missespreche,
Rim oder sin zubreche,
Materien vorkere
Von unkunstiger lere,
Daz wider den gelouben si,
Daz sprich ich bie den namen dri,
Die ein war got sint unzuscheiden
Uber juden, cristen, heiden,
Al die wile daz ich lebe,
Daz ich des antworte gebe. (Vv. 1328–1348)
Wie Konrad von Fußesbrunnen besteht Heinrich von Hesler darauf, dass
Änderungen nur von ihm selbst vorgenommen werden, weil er für den Text
verantwortlich sein will. Seine Sorge gilt den Entstellungen nach seinem
Tode durch unaufmerksame Schreiber, die ihm zur Last gelegt werden
könnten; davon distanziert er sich vorsorglich mit einer vorweggenommenen
›Ehrenerklärung‹ (V. 1354: lumen = liumunt):
Sterbe ich, so wirt lichte
Vorkart min getichte,
Daz der schriber misseschribet
Unde immer also blibet.
Die rede vorchte ich vorsumen;
Dar von ticht ich disen lumen,
Ob einer durch itewiz
Oder lichte durch vorgiz
Eines rimes dar an vormisse,
Daz man hir vinde gewisse
Daz ich den rim nie valsch gesprach
Noch satz des rimes nien zubrach,
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 27
48 Vgl. Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorge-
schichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tü-
bingen 1988 (Hermaea N.F. 56) und Susanne Bürkle, Literatur im Kloster (Anm.
7), bes. S. 294–301 zu Christine Ebners Offenbarungen.
49 Prolog zu Buch I. Genaueres dazu in meinem Aufsatz: »Sprechen und Schreiben.
Das Beispiel Mechtild von Magdeburg«, in: Festschrift Walter Haug und Burghart
Wachinger, hg. v. J. Janota u. a., Tübingen 1992, Bd. I, S. 335–348.
28 Klaus Grubmüller
50 Ulrich Montag, Das Werk der heiligen Birgitta von Schweden in oberdeutscher
Überlieferung. Texte und Untersuchungen, München 1968 (MTU18).
51 Sachsenspiegel, Landrecht, hg. v. Karl August Eckhardt, 3. Aufl., Göttingen 1973
(MGH. Fontes iuris Germanici antiqui. Nova series I, 1).
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 29
52 Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob aus der Handschrift des
Königlichen Staatsarchivs zu Königsberg, hg. v. Torsten Evert Karsten, Berlin
1910 (DTM 21).
30 Klaus Grubmüller
Der Schutz, den die Lehrer beanspruchen können, richtet sich nach ihrem
Rang. Wer, wie Hiob, gewissermaßen unmittelbar zu Gott ist, und in seinen
Prüfungen ein Dokument von Gottes Einwirken in die Welt vorzuweisen hat,
kann sich auf dessen Autorität stützen. Wer geistliches Recht weitergibt, darf
auf dessen Unantastbarkeit pochen, zumal dann, wenn er zur Überprüfung
und zur Richtigstellung von Verderbnissen und Zutaten der Schreiber auch
noch auf seine Vorlage oder gar auf die gelehrte Rechtsautorität Gratian
(decret) verweisen kann:
o
Vnd pit alle die di daz puch lesend oder schreibent, daz si nit da zü noch da von
seczen, dann daz not ist zeton, durch daz der recht syn der heyligen lerer nicht
gefelscht werd jn dem püch. Vnd wer zwyffel hat an dem puch oder an dem synn
oder an der zal der quoten vnd der capitel des decrets püch, die etwen vnrecht von
e
den schreyberen geseczt werden vnd vber sehen, der mag gen zue der Summen
o
Johannis oder zu dem decret vnd lesen nach seyner begir seiner sel sälichait.
(Bruder Berthold, Rechtssumme, Prolog, Bd. 1, S. 130, Z. 79–132, Z. 93,
hier Fassung B)53
Wer sich freilich nur auf sich selbst berufen kann oder berufen mag, der bittet
(zu seinem eigenen Schutz vor dogmatischen Irrtümern) um Korrektur:
Darumb pit ich in Christo Jhesu alle die, die es lesen oder hören lesen, ob ich
darinnen ichtes geseczet hiet, daz der warhait christenleiches gelaubens nicht
geleich we(a)r, des ich ye mit nichte mayn vnd beste(a)tt auch daz vor got, oder des
zeuil oder zu wenig we(a)r, daz si daz icht vnwirdichleich vnd neydichleich peyssen
vnd fraisleich reissen, sunder liepleich vnd prüderleich straffen vnd in ainen pessern
sinn bringen denn der ist, den ich geseczt han.
(Ulrich von Pottenstein, Vorrede zum katechetischen Gesamtwerk,
S. 2, Z. 24–30)54
Der Grad an demütiger Unterwerfung unter die Einsichtsfähigkeit und damit
die Kontrolle einer anonymen Öffentlichkeit von Schreibern und Lesern ist
freilich durchaus abhängig vom Selbstbewusstsein und der Selbsteinschät-
zung, sicher auch vom Bildungsstand und der Amtskompetenz der Autoren.
Ein an den besten Schulen und Studien ausgebildeter, als Lektor im Domini-
kanerorden tätiger, in der geistlichen Betreuung zahlreicher Frauenklöster
erfahrener Ordenslehrer wie Heinrich Seuse versucht, die Kontrolle über sein
Werk zu behalten. Die Zusammenstellung des ›Exemplars‹, seiner ›Ausgabe
letzter Hand‹, begründet er mit der Willkür, mit der unfähige und kennt-
nislose Schreiber und Schreiberinnen sein Werk, das (s.o) auch Wort Gottes
ist, behandelt haben:
immer nur von einer relativen Textfestigkeit die Rede sein. Beginnen wir mit
jenem von Bumke angeführten prominenten Fall. Konrad von Heimesfurt,
der sich als Geistlicher vorstellt, schreibt im zweiten Viertel des 13. Jahr-
hunderts im Prolog zu seiner Urstende8, einer aus dem apokryphen Material
des Evangelium Nicodemi gespeisten Verserzählung, die Ereignisse zwischen
Jesu Einzug in Jerusalem und Pfingsten schildert:
[…]
swenne ich daz werc ze liehte trage
und ich ez an der strâze
sehen und hœren lâze,
daz ich ez sô besniten habe
daz mir iemen iht dar abe
mit pumz oder mit mezzer
schabe und mir bezzer
in dem margine dâ bî
des in dem blate vergezzen sî. (Vv. 10–18)
Hier ist von Techniken die Rede, den Text in seiner Lautgestalt zu verändern,
vom Abschaben des Pergaments und Eintragen von Zusätzen auf dem Rand.
Um diese Veränderungen von vornherein zu unterbinden, werden Maß-
nahmen ins Feld geführt, das werc, wie es bei Konrad von Heimesfurt heißt,
in seiner vom Dichter erarbeiteten Gestalt zu schützen: daz ich ez sô besniten
habe / daz mir iemen iht […] bezzer in dem margine dâ bî. Es bleibt zu
fragen, ob die auffällig seltene Bezeichnung werc, die hier gewählt wird,
bereits eine Vorstellung fester Textualität voraussetzt, wie sie historisch
gesehen wohl erst mit dem humanistischen Textverständnis bleibend Geltung
erlangt. Demzufolge umfasst Konrads werc zum einen den vorgegebenen
Stoff, die materia vom Descensus und der Auferstehung, zum zweiten die
individuelle Gestalt, in der der Stoff die Rezipienten erreicht, zum dritten
schließlich die konkrete Handschrift, die Konrad ans Licht bringt. Das Werk
existiert also nicht als abstrakte Größe, sondern ist material an das Medium
der Überlieferung gebunden, den Kodex. Zumindest suggeriert Konrad von
Heimesfurt, dass es nichts geben könne, was er hätte vergessen haben können
– des in dem blate vergezzen sî -, denn nach Gehalt und Gestalt handelt es
sich bei seinem Text, den er ans Licht bringt, um einen idealen Text, den er in
einem absoluten Sinne, also auch und gerade hinsichtlich seines Wortlauts,
vor situationeller Varianz geschützt wissen will. Joachim Bumke hat den
frühen Zustand volkssprachlicher Schriftlichkeit dahin gehend charakteri-
siert, dass die Texte noch prinzipiell variabel gewesen seien. »Man konnte
einzelne Szenen und Abschnitte oder auch den gesamten Text länger oder
kürzer gestalten, konnte einen Ausdruck durch einen andern, einen Gedanken
durch einen anderen, eine Szene durch eine andere ersetzen, ohne daß der
8 Konrad von Heimesfurt, ›Unser vrouwen hinvart‹ und ›Diu urstende‹. Mit Verwen-
dung der Vorarbeiten von Werner Fechter hg. v. K. Gärtner/W. J. Hoffmann, Tü-
bingen 1989 (ATB 99).
38 Bruno Quast
Die Erwähnung der mâze indiziert ein ästhetisches Ideal, dem sich Konrad
zutiefst verpflichtet weiß. Der auktorial gesteuerten Annäherung an dieses
Ideal dient die Aufforderung an die Freunde, ihn auf schwache Stellen
aufmerksam zu machen.
Auf der anderen Seite – und hier könnte sich prima vista die These einer
prinzipiellen Variabilität des volkssprachlichen Textes um 1200 gestützt
sehen – richtet sich eine Anzahl von Appellen an potenzielle Leser oder
Hörer, Verbesserungen – wohl überwiegend formaler Art, häufig ist vom
Parameter des Reims die Rede – am Text selbstständig vorzunehmen. So
bittet Walther von Rheinau, der angibt, seinen Lebensunterhalt als Berufs-
schreiber zu verdienen, in einem wohl ins letzte Viertel des 13. Jhs. zu
datierenden Marienleben12 seine Kritiker, Fehler eigenständig zu korrigie-
ren.
12 Das Marienleben Walthers von Rheinau, hg. v. Edit Perjus, 2., verm. Aufl., Åbo
1949.
40 Bruno Quast
II
Hier bleibt freilich offen, nach welcher Maßgabe der Leser einen Eingriff
vornehmen darf. Immerhin wird deutlich, dass selbst in ihrem Bestand
geschützte Texte nicht nur verändert werden können, sondern erweitert oder
gekürzt werden müssen, um gewandelten Rahmenbedingungen Rechnung zu
tragen. Textsicherung und Situationalität des Textes im Sinne einer Anpas-
sung an spezifische Gegebenheiten müssen sich also keineswegs ausschlie-
ßen.
Bisherige Versuche einer historisch angemessenen Differenzierung mittel-
alterlicher Textualität leiden, wenn ich recht sehe, unter einer dichotomisie-
renden Perspektive: Auf der einen Seite findet sich da der feste, auf der
anderen der offene Text. Offenheit kann indes, wie wir sehen konnten, als
eine Funktion des idealen Textes firmieren. Darüber hinaus greift ausweislich
des hier dargelegten Befunds eine naheliegende Unterscheidung entlang
profan-offenen und heilig/rituell-festen Texten zu kurz. Denn versucht man
die Verteilung der zu Gehör gebrachten Einlassungen zur Textidentität im
Gesamtspektrum mittelalterlicher volkssprachlicher Texte einer Deutung zu
unterziehen, gelangt man zu dem Schluss, dass eine Fixierung der Produzen-
ten auf Textsicherung mit einer Normativität der dargelegten Wissensbe-
stände korreliert.16 Und hier erweist sich die Unterscheidung in Profanes und
Rituelles als zu holzschnittartig. Betroffen vom Schutzgestus der Produzen-
ten sind auch profane Texte wie poetisch geformte Lehrdichtungen oder
Sammlungen von Rechtssätzen. Die Normativität dieser profanen Textsorten
lässt sich von der auctoritas ihrer materia ableiten. Die bibelepischen Texte
nehmen dabei eine aussagekräftige Sonderstellung ein. Sie gelten zwar
einerseits als profan. So wird etwa Konrads von Fußesbrunnen Kindheit
Jesu, eine Erzählung, der es auch darum zu tun ist, biblische Szenen wie
etwa die Umstände der Geburt Jesu in höfischer Einkleidung erscheinen zu
lassen, in der Hs. C zusammmen mit höfischen Epen überliefert.17 Anderer-
seits jedoch scheinen bibelepische Texte an einer besonderen auctoritas,
nämlich der des heiligen Geschehens, zu partizipieren, was dazu führt, dass
im Unterschied zu anderen höfischen Epen des 12. und 13. Jahrhunderts ihre
feste Gestalt zumindest in einigen Fällen eingeklagt werden kann. Die
Produzenten normativ verankerter Texte definieren sich offenbar über die
Autorität der materia, die wie im Fall sogenannter poetischer Texte ebenso
zur Darstellung gebracht werden soll. Feste Gestalt der Vertextung und
auctoritas der materia sind nicht zu trennen. Was könnte daraus für im
engeren Sinne literarische Texte folgen? Dass Aufrufe zur formalen Ver-
besserung hier fehlen, versteht sich, denn es stehen Formkunst und Virtuosi-
tät des Dichters auf dem Spiel. Doch warum sichern sich Produzenten
poetischer Texte – von impliziten Verfahren, Textidentität sicherzustellen, wie
Akrostichon, Metrum, Strophenform etc. soll hier bewusst abgesehen werden
– nicht gegen Eingriffe ab? Wenn es zutrifft, dass ein zwingender Zusam-
menhang zwischen fester Textgestalt und der auctoritas der materia besteht,
wäre es immerhin denkbar, die fehlende explizite auktorielle Absicherung
mit einem unsicheren Wahrheitsanspruch des Poetischen,18 aller topischen
Berufung auf mündliche Tradition oder das buoch als wahrheitsverbürgende
Instanz zum Trotz, in Verbindung zu bringen. Die Offenheit des poetischen
Textes als auf Produzentenseite zu verortendes Phänomen, insofern die
explizite Abwehr eines möglichen Eingriffs ausbleibt, wäre, überträgt man
die den sogenannten Ausnahmen zugrunde liegende Logik auf den sogenann-
ten Regelfall, auf die prekäre Wahrheit des Poetischen, auf die prekäre
Wahrheit der poetischen materia zurückzuführen. Die Beweglichkeit des
mittelalterlichen poetischen Textes ließe sich dann kaum allein durch die
offenbar nicht vollends kontrollierbare primäre Verschriftungspraxis oder die
Kommunikationsparameter einer semioralen Gesellschaft erklären. Für die
Textualität mittelalterlicher Literatur würde dies bedeuten, dass die Norma-
tivität der materia den auktorialen Anspruch auf Textintegrität und -identität
maßgeblich begründen würde. Wo von einer breiten Akzeptanz der Wahrheit
des Poetischen noch keine Rede sein kann, stellt sich die Frage nach
auktorialer Sicherung der Textgestalt nicht. Es wäre allerdings naiv, daraus zu
schließen, dass Dichter als vermittelnde Gestalter einer poetischen materia
für sich keine feste Textgestalt vor Augen gehabt hätten. Dass sie die
Konservierung dieser Textgestalt aus dargelegten Gründen nicht explizit
einfordern, bedeutet mitnichten, dass der material feste poetische Text eine
intentional zu vernachlässigende Größe sei. Auf der anderen Seite freilich
käme es einem anachronistischen retour à gleich – und hier renne ich offene
Türen ein –, einen authentischen Autortext aus dem Überlieferten herausdes-
tillieren zu wollen. Man würde damit einem modernen Autor- und Werkkon-
zept Rechnung tragen, nicht aber einem Dichtungsverständnis, dem die
explizite Sicherung der eigenen Textgestalt offenbar fern lag.
III
Wenn Erasmus von Rotterdam, um eine wenn auch nicht mehr frühe, so doch
unbestritten maßgebliche humanistische Stimme um 1500 zu Gehör zu
bringen, in seinen Adagia ein düsteres Bild von der mittelalterlichen Manu-
skriptkultur malt, hat er den schreibenden Mönch vor Augen, der aus Un-
kenntnis für die Verderbnis der antiken Autoren verantwortlich zeichne. Die
Drucker, meint Erasmus im Kommentar zum Sprichwort Festina lente, stün-
den den unwissenden Mönchen in nichts nach, sie machten die Sache indes
nur noch schlimmer.19 Erasmus geht in diesem Kommentar bereits mit einer
verblüffenden Selbstverständlichkeit von einem buchstäblich festen Autortext
aus,20 es ist jeweils die Überlieferung, sei es in Gestalt des Manuskripts oder
des Drucks, die für Depravierungen in Form varianter Fassungen einzustehen
hat. Um 1500 ist der in seiner Buchstäblichkeit feste Text für den Editor wie
den Autor Erasmus bereits eine in der Tat feste Bezugsgröße, und zwar
unabhängig von der Normativität des dargelegten Stoffes. Vom 12. bis zum
14. Jahrhundert dagegen, so konnten wir sehen, war der feste Text noch lange
keine Selbstverständlichkeit, er musste, um der auctoritas des Vermittelten
Rechnung zu tragen, vom Produzenten eigens angemahnt werden, ohne
jemals sicher gehen zu können, dass Schreiber, Leser oder Hörer sich dieser
Anweisung fügten. Für meine Überlegungen war es heuristisch unabdingbar,
von einem erweiterten Literaturbegriff auszugehen, also neben den sogenann-
21 Dies scheint insbesondere für »fetischistische« heilige Texte zu gelten, die in ihrer
Materialität, ihrer dinghaften »Substanz« für sakrosankt erachtet werden. Die
Unterscheidung zwischen ›fetischistischen‹ und ›kommunikatorischen‹ heiligen
Texten, wobei die Heiligkeit sich bei letzterem Typus erst im »Ereignis« der
Auslegung konstituiert, findet sich bei Aharon R. E. Agus, Heilige Texte, München
1999, bes. S. 43–46. – Zum mittelalterlichen Gebetsritualismus vgl. Arnold An-
genendt, »Libelli bene correcti. Der richtige Kult als ein Motiv der karolingischen
46 Bruno Quast
heiligen Texten als zumindest heuristisch sinnvoll erscheinen lässt, liegt also
im Grad der implizit wie explizit geforderten Textfestigkeit, die mit dem
Normativitätsanspruch der vermittelten materia korreliert. So gesehen
könnte die Frage nach dem buchstäblich festen Text vielleicht ein geeignetes
Instrument sein zu einem besseren und das meint gleichermaßen historisch
wie typologisch differenzierten Verständnis mittelalterlicher volkssprachli-
cher Textualität.
Reform«, in: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Vorträge
gehalten anläßlich des 26. Wolfenbütteler Symposions vom 11. bis 15. September
1989 in der Herzog-August-Bibliothek, hg. v. P. Ganz, Wiesbaden 1992, S. 117–
135; Giles Constable, Culture and Spirituality in Medieval Europe, Aldershot/
Hampshire 1996, XII, S. 17–30 (The Concern for Sincerity and Understanding in
Liturgical Prayer, Especially in the Twelfth Century).
Varianz und Identität in rechtssprachlichen
und dichterischen Texten
Einleitung
Jacob Grimm hat in seinem viel zitierten Aufsatz »Von der Poesie im
Recht«7 zum Ausdruck gebracht, dass der Rechtsbereich ursprünglich nicht
als eigener Sektor ausgrenzbar, sondern im größeren kulturellen Zusammen-
hang aufgehoben war. Die Gemeinsamkeit von Poesie und Recht bestimmt er
3 Ruth Schmidt-Wiegand, »Rechtssprache«, in: HRG 4, 1990, Sp. 344–360, bes. Sp.
344.
4 Eberhard von Künßberg, »Die deutsche Rechtssprache«, Zs. f. Deutschkunde 44,
1930, S. 379–389.
5 Schmidt-Wiegand, Rechtssprache (Anm. 3), Sp. 344.
6 Wolfgang Raible, »Rechtssprache. Von den Tugenden und Untugenden einer Fach-
sprache«, in: Die Sprache des Rechts und der Verwaltung, hg. v. I. Radtke, Stuttgart
1981, S. 20–43 passim.
7 Jacob Grimm, »Von der Poesie im Recht«, Zs. f. geschichtl. Rechtswiss. 2, 1815,
S. 25–99, Nachdr. Darmstadt 1972.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 49
20 Die Untersuchung gründet sich auf das Corpus der altdeutschen Originalurkunden
bis zum Jahr 1300, Bd. 1–5, hg. v. Friedrich Wilhelm/Richard Newald/Helmut de
Boor u. a., Lahr 1932–1986 [zitiert: Corpus Nr.].
21 Ernst Dittmer, »Untersuchungen zum Formelschatz der frühen deutschen Ur-
kunden im Verhältnis zum Latein. Die Formel minne oder reht«, Sprachwissen-
schaft 4, 1979, S. 24–52, bes. S. 28. – Dagegen Ursula Schulze, »Mittelhochdeut-
sche Urkundensprache. Probleme ihrer lexikographischen Erfassung«, in: Fest-
schrift für Ingo Reiffenstein zu seinem 60. Geburtstag, hg. v. P. K. Stein/A. Weiss/
G. Hayer, Göppingen 1988 (GAG 478), S. 39–58, bes. S. 56 f.
22 Schmidt-Wiegand, Paarformeln (Anm. 12).
23 Lateinisch formula bezeichnet eine feste, vorgeprägte Wendung im römischen
Rechtsverfahren, vgl. Christian Schmid-Cadalbert, »Formel2 (Erzählformel)«, in:
RL 1, 3. Aufl. 1997, S. 619 f., bes. zur Wortgeschichte.
24 Z. B. Hans Fehr, Kunst und Recht III. Die Dichtung im Recht, Bern 1936.
25 S. unter den entsprechenden Lemmata im Wörterbuch der mittelhochdeutschen
Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalur-
kunden bis zum Jahr 1300, (WMU), hg. v. Bettina Kirschstein/Ursula Schulze,
Berlin 1994ff. Das vollständige Belegmaterial ist im Wörterbucharchiv an der
Freien Universität Berlin einsehbar.
52 Ursula Schulze
mel30 produktiv weiterbilden, suchen alle das neue Phänomen der Schrift-
lichkeit zu fassen, dass ein Stück Pergament einen Rechtsakt zeitüberdauernd
dokumentiert, für dessen Gültigkeit die Besiegelung steht, ganz gleich ob
außerdem noch Zeugen aufgeführt sind, die den Vorgang gesehen und gehört
haben. Die Beweiskraft ist auf das Schriftstück übergegangen und soll den
künftigen Benutzern vermittelt werden. Diesen Akt umschreiben die Varia-
tionen der Formel.31
Insgesamt verdeutlicht der vielfältige Gebrauch der Zweifach- und Mehr-
fachausdrücke, dass Doppelung und Wortvariation ein wichtiges sprachliches
Gestaltungsprinzip dieser frühen Verschriftlichung von Rechts- und Ge-
schäftsvorgängen darstellt.
Auch im größeren Rahmen der Urkundenformulierung kommt der modifi-
zierende Umgang mit einem zugrunde liegenden Strukturmuster zur Geltung.
Der pragmatische Literaturtyp Urkunde wird vor allem durch ein gliederndes
Formular definiert, das aus lateinischen Diplomen ins Deutsche übertragen
wurde: Publicatio, Dispositio, Corroboratio, Datierung sind die unverzichtba-
ren Teile.32 Das Formular gibt die Makrostruktur der Schriftstücke vor mit
bestimmten Kernwörtern (künden, kunt tuon, wizzen suln u. Ä.) und Topoi,
welche die Veröffentlichung, den Rezeptionsvorgang, die Besiegelung und
beständige Gültigkeit der Urkunde betreffen. Die Ausgestaltung im Einzel-
nen ist nicht festgelegt; im Laufe der Zeit entsteht ein Reservoir von
Versatzstücken, die kombiniert und abgewandelt werden. Die Mikrostruktur
variiert nicht nur von Kanzlei zu Kanzlei und regional, sondern auch am
gleichen Herkunftsort und innerhalb zusammengehöriger Gruppen. Schrei-
ber, die in eine Beurkundungstradition einsteigen, übernehmen nur begrenzt
den formularischen Wortlaut ihrer Vorgänger. Das Ausmaß der vorkommen-
den Varianz ist bisher noch wenig beachtet worden, weil die Forschungsper-
spektive überwiegend auf formularische Gemeinsamkeiten ausgerichtet war,
um kanzleimäßige Zusammenhänge zu ermitteln.33
30 Vgl. Dennis Green, »Hören und Lesen. Zur Geschichte einer mittelalterlichen
Formel«, in: Erscheinungsformen kultureller Prozesse, hg. v. W. Raible, Tübingen
1990 (ScriptOralia 13), S. 23–44.
31 Die Verfasser der deutschsprachigen Urkunden verfahren im Umgang mit der
sehen und hoeren-Formel selbständig gegenüber dem Lateinischen, wie aus dem
Vergleich der Publikationsformeln von 19 Urkunden, die im Corpus der altdeut-
schen Originalurkunden (Anm. 20) in zweiprachiger Fassung vorliegen, zu ent-
nehmen ist (Corpus Nr. 121ab, 145AB, 150AB, 298AB, 970AB, 1087AB u. 1088,
1104AB, 1143AB, 1197AB, 1603AB, 1859AB, 2099, 2237AB, 2418AB, 2579AB,
N792 u. 3198, 3422AB, N327ABC, N477AB). Dem im Lateinischen dominieren-
den einfachen inspecturis oder inspectoribus entsprechen unterschiedliche Doppel-
und Dreifachausdrücke. Das abweichende Ergebnis von Green, Hören und Lesen
(Anm. 30), S. 31ff., beruht auf einer anderen Belegauswahl.
32 S. z. B. Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die
historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart/Berlin/Köln, 15. Aufl. 1998, S. 97–
143.
33 Z. B. Leo Santifaller, Urkundenforschung. Methoden. Ziele. Ergebnisse, 4. Aufl.
Köln/Wien 1986.
54 Ursula Schulze
Von der 1235 auf dem Mainzer Reichstag verkündeten Rechtsordnung gibt
es keine zeitgleiche ›Originalurkunde‹, sondern nur spätere Aufzeichnungen,
zwei lateinische: 4F37, 4Dor38 und drei deutsche: 4P39, 4D40, 4W41. Außer-
dem existieren deutschsprachige Erneuerungen des MLF von König Rudolf
von Habsburg 1281 (Corpus 494), 1287 (Corpus 879W, L, H, K, Sp, Sa) und
1291 (Corpus 1401), von König Adolf von Nassau 1292 (Corpus N548A, B)
und von König Albrecht I. 1298 (Corpus 3110).42 Dass eine deutsche
Fassung des Landfriedens bereits 1235 schriftlich fixiert und nicht erst später
übersetzt und aufgezeichnet wurde, geht aus der als verlässlich geltenden
Kölner Königschronik hervor, die einen vielzitierten Bericht über den Main-
zer Reichstag enthält:
Curia celeberrima in assumptione beate Marie apud Maguntiam indicitur; ubi fere
omnibus principibus regni Teutonici convenientibus, pax iuratur, vetera iura sta-
biliuntur, nova statuuntur et Teutonico sermone in membrana scripta omnibus
publicantur.43
494, 879Sp :∫o ∫ol reht / vmbe die clage be∫chehen / an dez vater ∫tat / al∫e ob der
vater ∫elbe da were. (S. 238, Z. 19 ff.)
Die Beispiele stehen für ein Verfahren stellenweise freier Verfügung über
einzelne Wörter, aus der sich keine gravierenden Sinnveränderungen des
Textes ergeben (ausgesprochene Zusätze in den Erneuerungsurkunden sind
hier außer Acht gelassen). Offenbar bestanden im Vermittlungsprozess Um-
setzungsspielräume für die Wortwahl, die Wortfolge und die Graphie, ohne
dass im Gebrauchsvorgang das Vermittlungsergebnis als verändert gewertet
wurde.
Diese Einschätzung hat eine entscheidende Voraussetzung in der symbio-
tischen Existenz bestimmter Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlich-
keit, die sich gerade an Friedensordnungen und anderen Rechtsweisungen
des 12. Jahrhunderts erkennen lässt. Der Aggregatzustand der Texte wech-
selte von dem Vertragsschluss und dem Schwur der Beteiligten in mündlicher
deutschsprachiger Kommunikation am Anfang in eine wohl bei gleicher
Gelegenheit erfolgende Aufzeichnung in lateinischer Sprache. Diese hatte
assistierenden Charakter und fungierte als eine Art Protokoll zur Gedächt-
nisstütze im Weitergabeprozess, in dem der schriftliche Text mündlich wieder
ins Deutsche übertragen wurde. Derartige Verfahrensschritte lassen sich für
den »Bayerischen Landfrieden« von 1094 rekonstruieren, dessen Zustan-
dekommen Bernold von Konstanz beschreibt: Nach ihrer eigenen Verpflich-
tung gegenüber Kaiser Heinrich IV. haben einzelne Fürsten den Frieden in
ihren Herrschaftsbereichen beschwören lassen wollen.54 »Ein solcher Vor-
gang ist ohne eine schriftliche Information über den Friedensinhalt kaum
denkbar.«55 Sie musste dann für die Bestätigung wieder in die Volkssprache
transponiert werden. Für andere Rechtsweisungen ist ein ähnliches Abfolge-
modell anzunehmen. Z. B. erfolgte die Regaliendefinition von 1158 durch
62 Die Vorstellungen gründen sich auf Fulberts von Chartres De forma fidelitatis.
Vgl. Alfons Becker, »Form und Materie. Bemerkungen zu Fulberts von Chartres
De forma fidelitatis im Lehnrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit«, Hist.
Jb. 102, 1982, S. 325–361.
63 Ebd., S. 352 f.
64 … daz die satzunge des lantfrides, die kúninch Rudolf … ge∫etzet hatte …, vns
e
geovget vnd gele∫en wart ze Colne vf dem sale von worte ze worte als hie nah
ge∫chriben ∫tat. (N548B, S. 389, 25ff.) – Vnd wan wir kuninch Adolf di∫e satzunge
de∫ lantfrides von worte ze worte al∫ hie vorge∫chriben i∫t … ernúhet vnd be∫têtet
han. (N548B, S. 399, 19ff.).
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 61
auf den Bezug von worte ze worte verbindet sich also nicht der Begriff
exakter ausdrucksseitiger Übereinstimmung.65
Vergleichbare Einsichten ergeben sich bei den frühen deutschsprachigen
Stadtrechten, die der pragmatischen Textsorte der Landfrieden verwandt
sind.66 Als Beispielfall wurde das Freiburger Stadtrecht kollationiert, von
dem aus dem 13. Jahrhundert zwei Fassungen von 1275 und 1293 jeweils in
doppelter Ausfertigung vorliegen (Corpus 248A/B; Corpus 1797A/B). Die
Textrelation der beiden frühen, von gleicher Hand stammenden Urkunden
lässt sich ähnlich beschreiben wie die der Landfriedensüberlieferung: (1)
Wörter und Wortgruppen, auch solche, die Rechtsrelevanz besitzen, fehlen in
einer der zwei Versionen; (2) semantisch gleiche Sachverhalte werden durch
Synonyme, ähnliche Wörter oder Gliedsätze formuliert; (3) die Anordnung
der Wörter ist verändert:
(1) – v' billich … wundot (248A, S. 250, Z. 18 f.) / wundot (248B, S. 250, Z. 33)
– kǒfet oder verkǒfet (248A, S. 258, Z. 17) / kǒfit (248B, S. 261, Z. 10)
– ane alre ∫laht akû∫te vnde ane geværde (248A, S. 258, Z. 30 f.) / ane
aller∫laht geværde (248B, S. 261, Z. 23)
(2) – hungernot twinge e∫ darzve (248A, S. 253, Z. 28) / hungernot trib es
darzvo (248B, S. 253, Z. 46 f.)
o
– ∫wer de∫ nv^t entvt (248A, S. 255, Z. 37 f.) / ∫wer daz denne brichet (248B,
S. 256, Z. 27 f.)
– an ir wi∫∫ende (248A, S. 250, Z. 15) / ane jrne willen (248B, S. 250, Z. 29)
o
– v∫∫ir dem gvt (248A, S. 253, Z. 27) / v∫∫ir eîgen noh u∫∫ir erbe (248B, S. 253,
Z. 45 f.)
– vn̄ ∫wa∫ ∫û gemeinlich ge∫ezzint / vnde v' bir ein komint / daz ∫ol man fûr ein
reht haltin (248A, S. 255, Z. 35ff.) / vn̄ ∫was ∫v' mit der willen / vn̄ volge
v̂birein komint har vmbe / daz ∫ol ∫tæte beliben (248B, S. 256, Z. 25ff.)
– Swelch∫ mannes hû∫ verbrûnnet (248A, S. 255, Z. 4) / Swem ∫in hus ver-
brinnet (248B, S. 255 Z. 36, )
(3) – heige ∫ine hulde wider gewunnen (248A, S. 249, Z. 40) / ∫ine hulde heige
wider gewunnen (248B, S. 250, Z. 7 f.)
Die spätere Stadtrechtsfassung weist zu der früheren ähnliche Abwandlungen
auf wie Corpus 248A und B untereinander:
– So ∫ol der herre wellen einin Schultheizen u∫∫er den vier vn̄ zweinzigen vn̄
enheinen andirn (248A, S. 249, Z. 16ff.) / Der herre ∫ol ǒuch da∫ Schult-
o
heizentvm lihen eime der viervn̄zweinzigen (1797A, S. 96, Z. 9ff.)
o
– So ∫ol der herre die burger ∫chirmen mit lib vnde mit gvt wider mænlichen
∫wa ∫û ∫in bedûrfen (248A, S. 248, Z. 47ff.) / So ∫ol der herre die burger
o o
∫chirmen / mit libe vn̄ mit gvte / ∫wa man in v' t tvt / an libe oder an deheime
o
irme gvte oder an iren eren mit vnreht oder mit gewalt (1797A, S. 95, Z.
36ff.)
65 Das entspricht laut Ong, Oralität (Anm. 17), S. 65, dem im Rahmen der Münd-
lichkeit üblichen Verweisverfahren.
66 Vgl. Dilcher, Oralität (Anm. 8).
62 Ursula Schulze
69 Vgl. das Geleitwort zu der Ausgabe von Eckhardt, Sachsenspiegel (Anm. 67).
70 Die von Carl Gustav Homeyer, Die Genealogie der Handschriften des Sachsen-
spiegels, Phil. u. hist. Abh. d. kgl. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1859, abgesetzten drei
Schichten gelten auch in der neueren Rechtsgeschichte, vgl. Kroeschell, Rechtsauf-
zeichnung (Anm. 58), S. 357.
71 Vgl. Eckhardt, Sachsenspiegel (Anm. 67). Es handelt sich um die dritte Bearbei-
tung der 1933 erschienenen Ausgabe.
72 Sachsenspiegel III. Quedlinburger Handschrift, hg. v. Karl August Eckhardt nach
der Ausg. Hannover 1966, Aalen 1973, Einleitung, S. 7.
73 Vgl. Ebel, Sachsenspiegel (Anm. 68), Sp. 1231.
74 Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Qu. Cod. 81. Ausgabe: Sach-
senspiegel III. (Anm. 72).
75 Bremen SB, Mscr. a. 30a. Als B im Apparat des Sachsenspiegels (Anm. 67)
abgedruckt.
76 Vgl. Eckhardt, Sachsenspiegel (Anm. 67), Geleitwort, S. 26.
64 Ursula Schulze
Dass die Präzisierung, die Q bringt, in B ebenso gemeint ist, ergibt sich aus
dem Beginn des Abschnitts We dat erve nemet (B) / Swer sô daz erve nymt
(Q). Q paraphrasiert z. T. die rechtlichen Aussagen und Anweisungen etwas
weiter. Beide handschriftlichen Versionen erscheinen als lebendige Aneig-
nungen von Eikes Buchtext, die nicht die Grenze zu den von dem Verfasser
gefürchteten rechtsverkehrenden Zusätzen überschreiten.77 Offenbar erfor-
derte der rechtliche Inhalt keine absolute Wortlautdeckung. Dieser Befund
entspricht den Beobachtungen bei den Landfrieden und Stadtrechten wie
auch der Varianz bei nicht pragmatischen Texten.78 Vorstellbar ist, dass die
Abwandlungen bei der Niederschrift gelesener und erinnerter oder beim
Diktat gehörter Sinnabschnitte entstanden.
79 Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, »Eike von Repgow«, in: VL 2, 1980, Sp. 400–409,
bes. Sp. 401.
80 Z. B. Ruth Schmidt-Wiegand, »Die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels als
Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit«, FMSt 90, 1988, S. 357–387.
81 Michael Curschmann, »Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis
von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis
zum Codex Manesse«, in: Pragmatische Schriftlichkeit (Anm. 2), S. 211–229, bes.
S. 227.
82 Die Bedeutung bestimmter Symbole ist nicht immer selbstredend. Vgl. Dagmar
Hüpper, »Funktionstypen der Bilder in den Codices picturati des Sachsenspiegels«,
in: Pragmatische Schriftlichkeit (Anm. 2), S. 231–249, bes. S. 234.
83 Vgl. dazu auch Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und
Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, bes. S. 465.
84 Karl Kroeschell, »Recht und Rechtsbegriff«, in: Probleme des 12. Jahrhunderts.
Reichenau-Vorträge 1965 –1967, hg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche
Geschichte geleitet von Theodor Mayer, Stuttgart 1968 (Konstanzer Arbeitskreis
für mittelalterliche Geschichte: Vorträge und Forschungen 12), S. 309–335, bes.
S. 326.
66 Ursula Schulze
kommt, unter der Richter und Missetäter stehen,91 birgt – abgesehen von der
oben behandelten allgemeinen Apperzeptionspraxis – eine theoretische Prä-
misse für die Offenheit des Rechts und der rechtlichen Texte.
formen, die auf einem besonderen kognitiven Vermögen beruht, ist ein
relevanter Faktor für die Beurteilung des mittelalterlichen Umgangs mit
Varianzerscheinungen überhaupt.
Graphiedifferenzen zeigen sich – wenn ich mich auf das in den vorange-
henden Ausführungen herangezogene Material beschränke – bei gleichen
Wörtern innerhalb einer Urkunde, bei parallelen Ausfertigungen, die von
einem Schreiber stammen, bei zusammenhängenden Schriftstücken gleicher
Schreibortprovenienz, wie z. B. dem Freiburger Stadtrecht, auch bei dem
oben erwähnten Protokoll und der Reinschrift einer Königsurkunde, bei den
Parallelausfertigungen der Landfriedenserneuerungen sowie in der hand-
schriftlichen Tradition des Mainzer Reichslandfriedens und des Sachsen-
spiegels. Die auftauchenden Schreibvarianten lassen sich wie analoge Er-
scheinungen in der literarischen Überlieferung allgemein mit der unter-
schiedlichen Herkunft und Schulung der Schreiber und mit Empfängerrück-
sichten nur z. T. erklären, auch innerhalb der einzelnen Schriftstücke und bei
Herkunft von gleicher Schreiberhand fehlt – trotz möglicher Erkennungs-
merkmale – bekanntlich eine einheitliche Graphie, eben die Schreibnorm.
Die Tatsache, dass unterschiedliche Schreib- (und auch Schrift-)bilder mit
gleicher Wortbedeutung in Verbindung gebracht werden und dass die wech-
selseitige Zuordnung geläufig erfolgt, ist bisher kaum hinreichend gewürdigt
worden. Christian Stetter hat von »kombinatorischer Mächtigkeit« gespro-
chen, die vorhanden gewesen sein muss, um aus bestimmten Graphemmen-
gen eine »rekursive Definition« vorzunehmen.98 Seine Überlegungen zum
Bezug zwischen mündlicher und schriftlicher Dimension gelten auch inner-
halb der literalen Tradition für die Identifizierung der Lexeme aus variieren-
den Schreibungen. Erleichtert wurde das Sortieren und Erkennen der Wörter
dadurch, dass keine graphematischen Normen existierten, die die Erwartung
steuerten; denn nicht nur Denkgewohnheiten erschweren Problemlösungen,
sondern auch Orthographienormen können der Lexemdefinition von Gra-
phievarianten im Wege stehen.
Zu der Vielfalt der Bereiche, in denen mittelalterliche Sprachteilnehmer
mit Varianten umgehen mussten, gehört auch die Wortbildung. Während des
13. Jahrhunderts lassen sich Synonymreihen belegen, die nicht als mundart-
liche Unterschiede erklärbar sind, sie spiegeln die ausdrucksseitige Beweg-
lichkeit der Sprache auf einem Gebiet, wo zum Neuhochdeutschen hin
Selektionsprozesse stattgefunden haben.
Z. B. ingesigel, ingesigelde, insigel, gesigel, sigel W Siegel; gewonheit, gewenheit,
gewonung, gewende W Gewohnheit; gehüge, hügede, behügede, gehügede, ge-
hugnisse, hugnisse W (Gedächtnis); gedaehtnisse, gedenknüsse, gedenkunge W
Gedächtnis.99
100 Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte
menschlichen Erkennens, München/Zürich 1997.
101 Ebd., S. 152.
102 Ebd., S. 156.
103 Ehlich, Text (Anm. 95).
104 Peter Strohschneider, »Textualität der mittelalterlichen Literatur. Eine Problems-
kizze am Beispiel des ›Wartburgkrieges‹«, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen
alten Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel, Leipzig 1999, S. 19–41, bes.
S. 21 f., hat ebenfalls Ehlichs Textbegriff aufgenommen; aber im Interesse, die
Eigenart mittelalterlicher Textualität zu erfassen, hat er andere Akzente gesetzt.
Er hebt auf die Bindung an die Situation des Wiedergebrauchs ab, während mir
die Überbrückung der Sprechsituationen durch einen abstrakten Gedanken- und
Vorstellungskomplex (den Text) wichtig ist.
105 Vgl. W. Raible, Rechtssprache (Anm. 6), S. 21ff.
70 Ursula Schulze
enten in der irdischen Welt und darüber hinaus die transzendente Instanz
Gottes, der jederzeit einwirken und eingreifen kann.
Auf Grund dieser Voraussetzungen standen schriftlich überlieferte Texte für
variierende Formulierungen und Modifikationen offen.
Erst nach Erfindung der beweglichen Lettern und der damit verbundenen
technischen Organisation (Auswählen und Setzen einzelner Buchstaben),
verliert die Durchlaufstation des Sinnabschnitte erfassenden und reproduzie-
renden Schreibers ihre Bedeutung zugunsten eines eher buchstabenorientier-
ten Setzers.109 Z. B. fordert und fördert die Korrektur der Probedruckbögen
den kontrollierenden Blick und wohl auch ein Normierungsbedürfnis. Da-
durch entsteht erst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Wort
und Bild die Voraussetzung für einen neuen Begriff von Textidentität, der
sich auf die visuelle Oberfläche des Gedruckten gründet.
109 Vgl. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische
Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikations-
technologien, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 90ff.
Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe
»Laudines Kniefall«
und das Problem des »ganzen Textes«
II
scheitern muss – obwohl der Iwein der erste von Lachmann edierte mittel-
hochdeutsche Großtext war.6 Die mehr als dreißig Textzeugen (Lachmann
kannte – z. T. in unsicheren Abschriften und Drucken – nur acht)7 scheinen
teilweise von Lesart zu Lesart wechselnde Verwandtschaftsverhältnisse ein-
zugehen, ein konsensfähiges Handschriftenstemma hat sich deshalb bis heute
trotz erheblicher Anstrengungen nicht aufstellen lassen.8 Anscheinend verlief
die Texttradierung nicht linear, sondern ist geprägt durch die wohl mehrfache
Kontamination verschiedener Vorlagen auf einzelnen Überlieferungsstufen.9
Immerhin existieren zwei frühe Handschriften, die relativ nahe an die wahr-
scheinliche Entstehungszeit des Textes heranführen (A, B).10 Doch gerade
diese beiden Handschriften unterscheiden sich ganz erheblich voneinander: A
bietet insbesondere zum Schluss hin weniger Text als B, oder genauer:
Während in B fast nur einzelne Verse oder Verspaare gegenüber A »fehlen«
(insgesamt 24), gehen A gegenüber B meist längere Versgruppen oder ganze
Passagen ab (insgesamt 154 Verse)11 – wobei zunächst nicht feststellbar ist,
welcher Zustand jeweils primär, welcher sekundär ist. Am meisten Anlass zu
Diskussionen gaben die Verse 8121–8136, die nur in B enthalten sind (und in
den beiden jüngeren Handschriften a [Dresden, Sächs. LB, Ms. Dresd. M
175] und d [Wien, ÖNB, Cod. ser. nova 2663 »Ambraser Heldenbuch«; hier
nur bis v. 8132): Laudine fällt vor Iwein auf die Knie und bittet ihn um
Verzeihung (»Laudines Kniefall«). Der Gelehrtenstreit um diese Stelle, deren
An- oder Abwesenheit dem ganzen Iwein eine andere Richtung zu geben
scheint, ist bis heute nicht verstummt, ein Konsens wurde nicht erreicht.12
6 Iwein. Der riter mit dem lewen, hg. v. Georg F. Benecke/Karl Lachmann, Berlin
1827.
7 Ebd., S. 3f.
8 Vgl. u. a. Hermann Paul, »Ueber das gegenseitige Verhältnis der Handschriften von
Hartmanns Iwein«, PBB 1, 1874, S. 288–401; Hartmann von Aue, Iwein der Ritter
mit dem Löwen, hg. v. Emil Henrici, zweiter Teil: Anmerkungen, Halle 1893 (die
zahlreichen vorausgehenden Arbeiten Henricis zu einzelnen Iwein-Hss. sind nach-
gewiesen bei Okken [s. u.], S. 22–25); Konrad Zwierzina, »Allerlei Iweinkritik«,
ZfdA 40, 1896, S. 225–242; Ludwig Wolff, »Die Iwein-Handschriften in ihrem
Verhältnis zueinander«, in: Festschrift Helmut de Boor zum 75. Geburtstag,
Tübingen 1966, S. 111–135; Lambertus Okken, Ein Beitrag zur Entwirrung einer
kontaminierten Manuskripttradition, Proefschrift Utrecht 1970.
9 Der sehr komplexe Versuch bei Okken, Entwirrung (Anm. 8), Licht in diese
anscheinend kontaminierte Überlieferung zu bringen, hat ebenfalls nicht zu einem
editorisch oder interpretatorisch verwertbaren Ergebnis geführt. Im Ansatz scheint
sich Okkens Konzept mit der weiter unten geforderten Verabschiedung der Doktrin
des »ganzen« Textes zu berühren.
10 A = Heidelberg, UB, Cpg. 397; B = Gießen, UB, Hs. 97 (mit den als e bezeich-
neten Ergänzungen auf den Bll. 90r-92v). Zur Datierung vgl. Karin Schneider,
Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um
1300, Textband, Wiesbaden 1987, S. 147–149 (zu B: 2. Viertel 13. Jh.) und S. 156–
158 (zu A: »eher zu Beginn des 2. Jahrhundertviertels [des 13. Jh.s]«).
11 Werner Schröder, ›Laudines Kniefall‹ und der Schluss von Hartmanns ›Iwein‹,
Stuttgart 1997, S. 17.
12 Ausführliche Darstellung und Diskussion der Problematik mit wichtigen An-
regungen: Christoph Gerhardt: »Iwein-Schlüsse«, Literaturwissenschaftliches Jahr-
buch 13, 1972, S. 13–39. – Bemerkenswert der Meinungswandel bei Kurt Ruh. Im
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 75
Übereinstimmung aber gab es in der Auffassung, dass man sich jedenfalls für
eine der beiden Lesarten – mit oder ohne Kniefall – zu entscheiden hätte,
dass man sich also auf ein bestimmtes Überlieferungsszenario festlegen
müsste. Das tut auch noch der heute »geltende« Iwein-Text von Ludwig
Wolff. Wolff hält sich zwar überwiegend an die Handschrift A, inseriert aber
– ohne weitere Markierung – die Kniefall-Szene nach B.13
In dieser Situation wirkt das »Fassungskonzept« von Joachim Bumke, das
dieser gerade auch am Iwein vorstellt,14 wie ein beherzter, längst überfälliger
Befreiungsschlag; jedenfalls stellt es den derzeit wohl avanciertesten Versuch
dar, mit derartigen Überlieferungsproblemen fertig zu werden. Bumke
kommt zu dem Ergebnis, dass die beiden in den frühen Handschriften A und
B dokumentierten Iwein-Versionen *A und *B als »gleichwertige Fassun-
gen«15 zu sehen sind; die Frage nach dem ursprünglichen Text stelle sich
dann nicht mehr: »Die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen lassen
sich nicht im Sinne von echt und unecht, primär und sekundär, bestimmen.
Man muß sich mit der Feststellung begnügen, daß es, wie bereits Henrici
vermutete, ›mehrere echte »Iweine»‹ gegeben hat.«16 Nach Bumke gilt dies
nicht nur für den Iwein, sondern in beträchtlichem Umfang auch sonst für die
höfische Epik. Immer wieder, so Bumke, lägen die Texte in »gleichwertigen«
ersten Teil seiner Höfischen Epik des deutschen Mittelalters sprach er sich in der
ersten Auflage (Berlin 1967, S. 155 f.) zumindest dafür aus, die Kniefall-Szene als
»das größte Mißverständnis der Nachdichtung« anzusehen. Zehn Jahre später
kommt er in der zweiten Auflage (1977, S. 161) zur gegenteiligen Auffassung und
zweifelt nicht an der Echtheit der Verse. Zuletzt ausführlich und in der Absicht, die
»Unechtheit« der Stelle nachzuweisen: Schröder, Kniefall (Anm. 11), mit einer
Zusammenfassung älterer Positionen.
13 Zur Begründung bemerkt Wolff, Ausgabe (Anm. 4), S. VI: »Umstritten ist es, ob V.
8121–8136 von Hartmann stammen. Ich glaube, daß wir darin einen nachträgli-
chen Zusatz des Dichters haben […].«
14 Bumke, Fassungen (Anm. 5), v. a. S. 5–11, 30–60.
15 Ebd., S. 32 (Definition des Fassungsbegriffs) u. ö.
16 Ebd., S. 42. – Man wüsste allerdings gerne, an welcher Stelle die (für sich
zunächst gar nicht bezweifelte) These von den beiden frühen Iwein-Fassungen das
Problem der stemmawidrigen Lesartenkonstellationen berührt oder gar löst. Inwie-
fern handelt es sich bei dieser These um eine Antwort auf die Frage nach dem
Zustandekommen von signifikanten Übereinstimmungen zwischen Handschriften,
die allem Anschein nach nicht nahe verwandt sind? Dass Iwein-Handschriften
verwandt sind, dass sie sich in Gruppen einordnen lassen, die auf gemeinsame
Vorlagen zurückgehen, also die prinzipielle Möglichkeit von Stemmabildungen,
leugnet Bumke ja keineswegs: Seine »Fassungen« *A und *B stellen Ausgangs-
versionen dar, wie sie die traditionelle Textkritik immer wieder als primäre
Archetypfiliationen gesucht und auch gefunden hat. Dann aber bleibt das Problem
der Handschriftenkontamination, das für Bumke ein wesentliches Indiz für die
Unangemessenheit der traditionellen Textkritik ist, in vollem Umfang erhalten.
Auch wer von zwei ursprünglichen und gleichwertigen »Fassungen« *A und *B
ausgeht, tut sich schwer zu erklären, wie »Laudines Kniefall« von der Fassung B in
zwei späte Handschriften (a, d) gelangte, deren Textgestalt ansonsten die »Fas-
sung« *A repräsentiert. Allenfalls kann Bumke dieses Phänomen leichter als seine
»traditionellen« Vorgänger marginalisieren, weil es nicht schon die primären
Fassungen, sondern erst die insgesamt weniger relevanten Bearbeitungen betrifft.
76 Albrecht Hausmann
Konzentriert man sich auf diesen bei Bumke nur impliziten stemmatologi-
schen Aspekt des Fassungsbegriffs – der zu seiner expliziten Definition
(»Gestaltungswille«) in einem erheblichen logischen Widerspruch steht23 –,
dann erscheint das Phänomen der (häufig zwei) frühen Parallelfassungen
nicht so sehr als Ausdruck eines für eine bestimmte, nämlich frühe Über-
lieferungsphase charakteristischen Verhaltens von Textredaktoren als viel-
mehr als Ergebnis einer grundsätzlichen Aporie, welche der Methode rekon-
struierender Textkritik in der Prägung durch Lachmann zu Eigen ist.24 Ihre
Voraussetzung nämlich ist das Stemma, das im Rahmen der Recensio durch
Kollation hergestellt wird. Das Stemma beruht auf der Klassifizierung von
Handschriften nach bestimmten Textmerkmalen; die Handschriften einer
Gruppe sollen direkt oder indirekt auf eine gemeinsame Vorstufe zurück-
gehen, welche alle übereinstimmenden Merkmale der dieser Gruppe ange-
hörenden Handschriften besaß. Solche Merkmale aber kann es immer nur im
Vergleich mit anderen Überlieferungsträgern bzw. Handschriftengruppen ge-
ben, die sich eben in diesen »Merkmalen« von der zu vergleichenden Gruppe
unterscheiden. Der Textkritiker sucht deshalb zunächst immer nach mehreren
Handschriftengruppen, aber sie sind nicht sein eigentliches Ziel: Alles dient
dazu, den Archetyp zu finden, von dem aus alle Gruppen ihren Ausgang
genommen haben.
Gegen die von Bumke als letztlich irrelevant (»theoretisch«)25 abgetane
und in der aktuellen Diskussion insgesamt eher ungeliebte Vorstellung, dass
23 Dies wird etwa beim Begriff »Nebenfassung« deutlich, den Bumke, Fassungen
(Anm. 5), S. 599 u. ö., mit Blick auf die »Fassungen« *J und *D der Nibelungen-
klage verwenden muss: Es handelt sich nach Bumkes impliziter stemmatologischer
Definition um »Bearbeitungen«, die aber so viel »Gestaltungswillen« zeigen, dass
Bumke sie nicht als »Bearbeitungen« marginalisieren will.
24 Es ist hier nicht der Ort, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
insbesondere in der Romanistik geführte Debatte um die grundsätzlichen Defizite
der sogenannten Lachmannschen Methode (mit den Protagonisten J. Bédier, E.
Faral, A. Dain u. a.) nochmals zu wiederholen. Einen Überblick vermittelt Karl
Stackmann, »Mittelalterliche Texte als Aufgabe«, in: Festschrift für Jost Trier zum
70. Geburtstag, hg. v. W. Foerste/K. H. Borck, Köln/Graz 1964, S. 240–267 – ein
Aufsatz, der insgesamt eine forschungsgeschichtlich bedeutende Positionsbestim-
mung darstellt –, detaillierte theoretische Überlegungen finden sich bei Okken,
Entwirrung (Anm. 8), S. 7–21. Tatsächlich beziehen sich die folgenden Ausführun-
gen nicht auf die Lachmannsche Methode im engeren Sinn, sondern auf deren
Grundprinzip, das Konzept der Kollation. Die Lachmannsche Methode ist selber
bereits aus der Auseinandersetzung mit den prinzipiellen Problemen des Kolla-
tionsverfahrens entwickelt worden und besteht wesentlich aus dem Versuch, diese
Probleme durch zusätzliche Techniken einzudämmen (Fehlerbegriff u. ä.). Zur
Lachmannschen Methode nach wie vor grundlegend: Sebastiano Timpanaro, La
genesi del metodo del Lachmann, Florenz 1963 (dt. Die Entstehung der Lach-
mannschen Methode, Hamburg 21971).
25 Bumke, Fassungen (Anm. 5), S. 48: »Man kann daran festhalten, daß ein höfisches
Epos von einem bestimmten Autor verfaßt worden ist, daß der Originaltext
verlorengegangen ist und daß mehrere Fassungen überliefert sind, von denen nicht
sicher ist, in welchem Verhältnis sie zum Original stehen. Aber das ist sozusagen
nur ein theoretischer Standpunkt.«
78 Albrecht Hausmann
es einen solchen Archetyp und auch ein Original gab, ist für sich genommen
nichts einzuwenden. Aber seine Textgestalt ist mit den Mitteln des Vergleichs
bei varianter Überlieferung grundsätzlich nicht rekonstruierbar. Wenn sich
etwa die Stufen (»Fassungen«) *A und *B dadurch unterscheiden, dass *A
eine bestimmte Textpassage (z. B. im Iwein: Laudines Kniefall) fehlt, wäh-
rend sie in *B enthalten war, dann ist es durch bloßen Vergleich unmöglich
zu sagen, ob diese Passage in *AB enthalten war oder nicht; es fehlt schlicht
eine Kontrollüberlieferung außerhalb der Gruppen *A und *B, durch die der
Textzustand entweder von *A oder von *B als sekundär erwiesen werden
könnte. Gäbe es eine dritte Gruppe (z. B. *C), die wie *B die bewusste
Passage enthält, dann könnte man als wahrscheinlich gelten lassen, dass *AB
diese Passage ebenfalls noch überliefert hat und es erst in *A zu einem
sekundären Ausfall kam. Aber das Original wäre damit immer noch nicht
erreicht: Nun steht *AB gegen *C, und da sich *C in irgendeinem relevanten
Merkmal von *AB unterscheiden muss (sonst wäre die Annahme einer
Gruppe *C im Stemma überflüssig gewesen), stellt sich nun die Frage, ob der
Archetyp *ABC in diesem Merkmal entweder *AB oder *C folgte; wie-
derum ein ohne Kontrollüberlieferung durch Kollation allein nicht lösbares
Problem.
Die Gruppenbildung mittels Kollation ist für den Textkritiker demnach
einerseits der einzige Weg zum Archetyp, andererseits aber auch die Me-
thode, die für sich allein die Rekonstruktion des konkreten Textzustandes
dieses Archetyps gerade nicht zulässt.26 Bumke schließt aus den Schwierig-
keiten, die die traditionelle Textkritik bei der Rekonstruktion des »Originals«
hatte, dass die Textkritiker nicht mit dem – für Bumke – historischen
Phänomen der gleichwertigen Parallelfassungen zurechtkamen. Das Problem
liegt jedoch zunächst im methodischen Bereich: Hinter den Parallelfassungen
kann sehr wohl grundsätzlich e i n Archetyp und auch ein Autortext stehen,
nur ist dieser nicht – jedenfalls nicht mit den Mitteln des textkritischen
Vergleichs – rekonstruierbar. Nicht das historische Fehlen von »Originalen«
oder »Archetypen« und damit eine Besonderheit mittelalterlicher Kultur,
sondern die Unmöglichkeit, sie mit den eigenen methodischen Mitteln zu
rekonstruieren, war und ist das Problem einer Textkritik, die mit Hilfe des
Kollationsverfahrens auf den »originalen« Text zielt. Das Phänomen der
»Parallelfassungen« ist also das Ergebnis eines Kollationsverfahrens, das
Primärfiliationen gegenüber späteren Überlieferungsstufen einen privilegier-
ten Status zuweist; »gleichwertig« sind diese Parallelfassungen nicht in
einem historischen Sinn, sondern allenfalls in einem methodischen, nämlich
aufgrund ihrer »gleichen« Positionen im Stemma. Diese »Fassungen« unter-
scheiden sich von den »Bearbeitungen«, die Bumke an späteren Stellen im
26 Aus diesem Grund hat die rekonstruierende Textkritik eine Reihe von Zusatz-
instrumenten entwickelt, die das Kollationsverfahren methodisch ergänzen sollen.
Solche Instrumente sind etwa der Fehlerbegriff (Bindefehler u. ä.) oder die Vor-
stellung der Lectio difficilior. Gerade diese Konzepte aber haben das ansonsten
sehr rationale, letztlich empirisch arbeitende Kollationsverfahren für subjektive
Entscheidungen geöffnet.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 79
III
Für Bumke hat die »alte« Philologie abgewirtschaftet, weil sie von falschen
historischen Prämissen ausgegangen ist und vor allem nicht mit dem Vor-
liegen von Parallelfassungen gerechnet hat. Mir scheint es dagegen eher so
zu sein, dass die ältere Mittelalterphilologie die Grenze des Erkennens, die
ihr die Überlieferung setzt, nicht gesehen hat – oder aber gesehen hat und
doch zu viel wollte.28 Ihr Ziel nämlich war der »ganze Text«. Unter den
Voraussetzungen einer entwickelten Buchkultur ist das eine Selbstverständ-
lichkeit: Die Identität eines Textes entscheidet sich auf der linguistischen
Ebene des Wortlauts.29Aus der Integrität des Wortlauts aber beziehen dann
auch alle anderen denkbaren Aspekte eines Textes (»Form«, »Struktur«,
»rhetorische Gestalt« etc.) ihre Gültigkeit – der Text versteht sich insofern als
»ganzer Text«. Der »gültige« Wortlaut ist deshalb auch die Grenzlinie, an der
entlang die Aufgaben zwischen Editor und Interpret verteilt wurden und –
wenigstens meistens – noch werden. Die Forderung nach der Integrität des
Wortlauts und dementsprechend nach Texten, die in jeder Hinsicht und unter
jedem Aspekt in all ihren Konstituenten gleich gültig sind, ist mit der
Entstehung einer methodisch vorgehenden Philologie eng verbunden, und als
Zielvorstellung praktischer editorischer Bemühungen ist diese Forderung bis
27 Cerquiglini, Éloge (Anm. 2), S. 68: »[…] l’analyse doit être comparative, et non
pas archéologique.«
28 Die Spannung zwischen Anspruch und Realität wird schon in Lachmanns Ein-
leitung zu seiner Iwein-Edition von 1827 (Anm. 6, hier S. 8) deutlich: »bei diesem
ersten versuch, ein altdeutsches gedicht kritisch zu behandeln, sollte dem leser
recht fühlbar gemacht werden, daß jede kritik sich bestreben muß in worten und
wortformen das ursprüngliche herzustellen, ohne hoffnung vollkommenes [!] ge-
lingens.«
29 Strohschneider, Situationen (Anm. 2), S. 83.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 81
heute präsent, ja dominant: Der Editor hat einen »ganzen Text« zu liefern,
auf dessen Grundlage der Interpret mit seiner Arbeit beginnen kann.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass mit dem »ganzen Text«
das »Werk« gemeint ist, dass also die Forderung nach dem »ganzen Text« auf
eine bestimmte, nämlich autorzentrierte Sichtweise und damit auf die »alte«
Philologie beschränkt sei. Das ist jedoch nicht der Fall. Das »Werk«, das
seine Gültigkeit als Produkt eines Autors erlangt, ist nur e i n e Spielart des
»ganzen Textes«. Der Bezugspunkt für die »Gültigkeit« eines Textes muss
nicht der Autor sein, er kann auch in der Dignität des historischen Doku-
ments liegen, das ihn enthält, oder überhaupt in dem Wert, den man histori-
schen Manifestationen zubilligt. Wer strikt nach dem Leithandschriftprinzip
ediert, rechtfertigt auch das damit, dass nur so ein »ganzer Text« zu erreichen
sei – »ganz« in dem Sinn, dass alle Elemente und Aspekte des Textes sich
von einer Bezugsgröße her legitimieren (der Leithandschrift als historischem
Dokument) und insofern gleichmäßig gültig, ja sogar zueinander synchron
sind. Entsprechend verbieten sich Kontaminationen mit Lesarten anderer
Überlieferungsträger – sie erscheinen als »Fälschungen«.
Die New Philology geht sogar noch einen Schritt weiter. Wenn man mit
Strohschneider30 allgemein sagen kann, dass die verbindende Tendenz der
»neuphilologischen« Ansätze in einer Historisierung mittelalterlicher Texte
besteht, diese Historisierung aber insbesondere durch die Berücksichtigung
historischer Kontexte und nicht zuletzt des materiellen Kontextes »Hand-
schrift« (als Kommunikationsmaterial) erfolgen soll, dann wird hier die
Integritätsforderung über den linguistisch beschreibbaren Text hinaus ausge-
dehnt (z. B. auf Elemente der Seitengestaltung), die dann auch semiotisch
aufgeladen werden, also Zeichencharakter zugesprochen bekommen. Hinter
diesem Konzept scheint die in einer Medienkultur, in der den Zeichen
langsam die Signifikate abhanden kommen, durchaus verständliche Sehn-
sucht nach dem echten, alten Gegenstand zu stehen, nach der Präsenz und
Materialität des Originals.31 Dieses Original – man spricht gern vom mittel-
alterlichen »Artefakt«32 – gilt es als »Ganzes« zu bewahren.33
Bumkes Konzept liefert ebenfalls »ganze Texte« und kombiniert geschickt
die beiden Legitimationsmöglichkeiten des »ganzen« Textes (Autor und
historisches Dokument), indem bestimmte historische Dokumente bzw. die in
ihnen enthaltenen Textzustände als Ausdruck eines redaktionellen Gestal-
30 Ebd., S. 64.
31 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Ein Hauch von Ontik. Genealogische Spuren der
New Philology«, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft, S. 31–45.
32 Nichols, Material Philology (Anm. 2), S. 11 (»artefact«).
33 Ob diese Sehnsucht nach dem »echten« historischen Gegenstand für sich post-
modern ist, darf bezweifelt werden. Vielleicht trifft dies erst für einen Umgang mit
dem »Historischen« zu, dem an der Echtheit des Alten nicht mehr liegt. Das Retro-
Design »unserer« Jahrhundertwende etwa verfügt hemmungslos und ohne Angst
vor Kitsch über die Vergangenheit, und Ähnliches gilt für die vom Mittelalter
zehrende Fantasy-Literatur, die sich aber gerade nicht für das »echte« Mittelalter
interessiert.
82 Albrecht Hausmann
tungswillens und damit als Zeugnis einer Art von Autorschaft aufgefasst
werden.
Die Notwendigkeit, »ganze« Texte zur Verfügung zu stellen, dürfte auch
einer der Gründe dafür sein, dass Bumke eine von ihm selber angedeutete
Möglichkeit34 zur Rekonstruktion vorgängiger Iwein-Versionen nicht nutzt:
Immerhin für einige Passagen sei durch den Vergleich mit dem Yvain Chres-
tiens von Troyes zu ermitteln, ob es sich um unmittelbar von Chrestien
ausgehende Textabschnitte handle oder nicht. Wenn dies der Fall wäre, dann
stünde – so jedenfalls mein Eindruck – mit Chrestiens Yvain eine Art
Kontrollüberlieferung zur Verfügung, welche zumindest theoretisch für ein-
zelne Stellen eine grobe Rekonstruktion des Zustandes von *AB erlauben
würde. Das Problem ist jedoch, dass dies eben nur in wenigen Einzelfällen
möglich wäre; ein »ganzer« *AB-Text entsteht so nicht, nur ein Umriss.
Aber muss das überhaupt sein? Wäre eine Edition, die den »ganzen« Text
diachron in die Textgeschichte hinein auflöst, nicht auch dann von Interesse,
wenn die Dokumentation der Überlieferungsprozesse nicht für jede Stelle
gleich »tief« gelingt? Voraussetzung dafür aber ist, dass man den »ganzen«
Text auch schon als Beobachtungsobjekt einer Differenzierung unterzieht
und in verschiedene Varianzfelder (Wortlaut, Versbestand u. ä.) auffächert.
Der Wortlaut im engeren Sinn muss wohl von jedem derartigen Rekonstruk-
tionsversuch ausgenommen bleiben; die Ebene des Versbestandes dagegen ist
einem solchen Verfahren zugänglich, vor allem wenn es um längere Ab-
schnitte geht. Eine differenzierte Betrachtung verschiedener Varianzfelder
(Wortlaut, Versbestand) ist also die Grundlage einer diachronen Vertiefung
des Textes.
Um Missverständnisse zu vermeiden: (1) Ziel ist selbstverständlich nicht
ein eklektisches Editionsverfahren, das verschiedene Textzustände in einem
Editionstext kontaminiert. Dem potenziellen Systemcharakter des überlie-
ferten Textes ist hinsichtlich des Wortlauts Rechnung zu tragen. (2) Es soll
nicht bezweifelt werden, dass auf den verschiedenen Überlieferungsstufen –
auch den verlorenen – »ganze« Texte existiert haben. Auch Hartmann hat
seinen Text wohl als »ganzen« konzipiert und auch formuliert. Ganze Texte
hat es immer gegeben, aber sie sind nicht rekonstruierbar. Die Rekonstruk-
tion zielt auf Rudimente, Umrisse, vielleicht auch Substrate ehemals »gan-
zer« Texte. Insofern hat die Problematisierung des »ganzen« Textes in erster
Linie eine methodische Dimension und ist kein Plädoyer für die These, »im
Mittelalter« seien Texte »offen«, also auf Veränderung hin angelegt ge-
wesen.
Dass bei der Rekonstruktion früherer Textzustände mit großer Vorsicht
vorgegangen werden muss, beweist der Versuch Werner Schröders, der sich
zuletzt ausführlicher mit den sogenannten B-Pluspassagen im Iwein und mit
34 Bumke, Fassungen (Anm. 5), S. 39 f. – Bumke zieht aus den Parallelen zwischen
mehreren B-Pluspartien und dem Chrestienschen Yvain den Schluss, »daß der *B-
Redaktor denselben Chrétien-Text als Vorlage benutzt hat wie der *A-Redaktor«
(ebd).
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 83
»Laudines Kniefall« beschäftigt hat, dies jedoch mit dem dezidierten und
gegenüber Bumke polemischen Ziel, »Laudines Kniefall« als sekundäre
Erweiterung des B-Bearbeiters zu erweisen.35 Immerhin versucht Schröder,
seine aus »inneren Gründen« abgeleitete Athetese der Kniefall-Szene auch
durch ein überlieferungskritisches Argument zu stützen. Er geht implizit
davon aus, dass eine Vielzahl von ähnlich gelagerten Unterschieden zwischen
zwei Handschriften auf einen bestimmten Habitus des einen oder des anderen
Schreibers oder Redaktors zurückgehen könnte. Lässt sich wenigstens für
einige dieser Lesarten bestimmen, wie sie zustande gekommen sind, dann ist
es nicht unwahrscheinlich, dass auch bei ähnlich gelagerten Fällen das
gleiche Verhalten eines bestimmten Überlieferers im Spiel war. Konkret:
Wenn sich zeigen ließe, dass die meisten der in A nicht enthaltenen B-Verse
auf sekundäre Erweiterung in B zurückgehen (und nicht auf sekundäre
Reduktion in A), dann dürfte das gleiche auch für solche B-Plusverse gelten,
für die dieser Nachweis nicht sicher geführt werden kann. Der Überliefe-
rungshabitus der Handschrift B bestünde dann darin, sekundär zu erweitern.
Schröders Argumentation zielt darauf, alle B-Pluspartien, welche der Knie-
fall-Szene vorangehen, als sekundär und damit »unecht« zu erweisen, um
dann auch »Laudines Kniefall« als typische B-Erweiterung zu qualifizieren,
obwohl für diesen Fall allein eine sichere Entscheidung nicht möglich
wäre.36
Zu diesem Zweck vergleicht Schröder die B-Pluspassagen mit den ent-
sprechenden Abschnitten im Yvain Chrestiens. Der positive Beweis dafür,
dass eine bestimmte B-Pluspassage nicht von Hartmann stammt bzw. nicht in
*AB enthalten war, ist auf diese Weise jedoch generell nicht zu erbringen.
Denn auch in der »kurzen« A-Version gibt es eine ganze Reihe von zum Teil
längeren Abschnitten (am bekanntesten: Iweins Erwachen, vv. 3508–3583),
für die bei Chrestien jede Vorgabe fehlt. Angesichts der insgesamt er-
weiternden Bearbeitungsweise Hartmanns, dessen Text (wenn man einmal
von Wolffs Edition ausgeht) um über 1200 Verse länger ausgefallen ist als
der Chrestiens (nach Foerster), erscheint das geradezu als eine Selbstver-
ständlichkeit.37 In allen Fällen, in denen Chrestien als Vergleichsgröße nicht
zur Verfügung steht, weil die entsprechende B-Passage bei ihm keine Vorlage
hat, ist also vom Überlieferungsbefund her sekundäre B-Erweiterung nicht
wahrscheinlicher als sekundäre Reduktion in A. Das gilt für die sechs Verse
nach v. 6204 (Tätigkeiten der 300 gefangenen Damen; tendenziell auch in A
35 Schröder, Kniefall (Anm. 11). – Schröders letztlich ganz auf »inneren Gründen«
basierende Athetese der Kniefall-Szene überzeugt nicht. Symptomatisch für die
argumentative Schwäche der Ausführungen Schröders sind seine rhetorischen
Fragen (S. 8: »Kann Hartmann das so gewollt haben?«; S. 12: »Doch war ihm
[Hartmann] wohl dabei?«).
36 Schröder, Kniefall (Anm. 11), S. 17. – Er nähert sich damit übrigens, sicher ohne
es zu wollen, Bumkes Vorstellung vom erkennbaren Gestaltungswillen des Re-
daktors weitgehend an.
37 Zur Bearbeitungstechnik Hartmanns vgl. Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio mate-
riae. Zur Poetik des ›Erec‹ Hartmanns von Aue«, FMSt 19, 1985, S. 1–30.
84 Albrecht Hausmann
gegenüber Chrestien erweitert), das gilt noch deutlicher für die zwölf Verse
nach v. 6904 (Iweins Gefolge).
Immerhin lässt sich durch den Vergleich mit Chrestiens Yvain zwar nicht
beweisen, aber doch wahrscheinlich machen, dass bestimmte B-Pluspassagen
in *AB enthalten waren, weil sie offenbar auf Hartmanns Übertragungs-
leistung zurückgehen. Denn wenn eine B-Pluspassage eine inhaltliche Ent-
sprechung bei Chrestien aufweist, dann dürfte sie ein Produkt der Über-
tragung durch Hartmann sein.38 Dies gilt mit einiger Wahrscheinlichkeit für
folgende B-Pluspassagen: 2 Verse nach v. 3486 (Wirkung der Heilsalbe, vgl.
Yvain, vv. 3004 f.); 42 Verse nach v. 6876 (Iwein bei der jüngeren Schwester
vom Schwarzen Dorn, vgl. Yvain, vv. 5819–5839); 12 Verse nach v. 6904
(Reise Iweins und der Grafentochter an den Artushof).39
Insgesamt sind die Überlieferungskonstellationen der verschiedenen B-
Pluspassagen zu heterogen, als dass auf einen bestimmten Habitus des B-
Redaktors (Erweiterung) geschlossen werden könnte: Es gibt sowohl solche
Passagen, die ohne jeden Ansatz bei Chrestien sind, als auch solche, die sich
mehr oder weniger deutlich auf Chrestien beziehen lassen. Aber auch die
Passagen selber sind, vergleicht man sie untereinander, so verschieden, dass
auf ein habituelles Verhalten als Grundlage ihrer Existenz kaum zu schließen
ist: Zum Teil handelt es sich nur um ein bis zwei Verspaare (hier ist dann
immer mit einem Augensprung des Schreibers zu rechnen), zum Teil aber
erstrecken sich die B-Pluspassagen über erheblich mehr Verse. Auch die
kontextuelle Einbindung ist durchaus unterschiedlich (enger oder lockerer
Bezug zum umgebenden Text u. ä.). Es müsste schon ein ziemlich un-
spezifischer »Habitus« sein, der sich auf alle betroffenen Passagen beziehen
ließe. Ein in sich geschlossenes Stück, wie es in »Laudines Kniefall«
vorliegt, gibt es sonst überhaupt nicht. Es lassen sich also keine Aussagen
38 Erstaunlicherweise münzt Schröder, Kniefall (Anm. 11), jedoch auch solche Kon-
stellationen in Argumente für den sekundären Status aller B-Pluspassagen um:
Hier habe der erweiternde Bearbeiter, der je länger desto mehr »am Hinzudichten
Gefallen gefunden« (S. 21) habe, eben nochmals und eigenständig auf den Chres-
tienschen Text zurückgegriffen (z. B. Pluspassage nach v. 6874; Schröder: »Der
Zusatz in B verrät Chrestien-Lektüre« S. 20, noch eklatanter in Bezug auf die
Passage nach v. 6876, Schröder, S. 20 f.). Zweifellos lässt sich dies nicht ausschlie-
ßen, auch wenn dann wenigstens nachzuweisen wäre, dass in solchen Abschnitten
die Übertragungsmethode in irgendeiner Weise von derjenigen in »normalen«
(nach Schröder also »Hartmannschen«) A-Passagen abweicht (Schröder, S. 20,
sagt in bezug auf die Verse nach v. 6876 nur, dass diese Verse nicht »als sichere
Übersetzung aus dem Französischen [gelten] können«, was auch in vielen anderen
Fällen so sein dürfte). Aber wer so argumentiert, kann sich die Mühe des Ver-
gleichs ohnehin sparen. Denn nun wird jeder Befund beliebig deutbar, und tatsäch-
lich bereitet Schröder alle Varianzbefunde nach Gusto so auf, dass sie am Ende zu
seiner vorher gefassten Meinung passen – einer Meinung, die allein auf »inneren
Gründen« beruht und insofern zur Überlieferungsuntersuchung in einem apriori-
schen Verhältnis steht. Bewiesen ist damit nichts.
39 Vgl. dazu detailliert Bumke, Fassungen (Anm. 5), S. 39. Bumke zeigt ausführlich
auch für die B-Plusverse nach v. 6854 und sogar v. 8158 Parallelen bei Chrestien
auf.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 85
über A, B oder *AB als jeweils Ganzes treffen, sondern nur über einige
Passagen, die in B enthalten sind, in A nicht vorkommen und einen Ansatz-
punkt bei Chrestien aufweisen; für sie ist anzunehmen, dass sie zum *AB-
Bestand gehören und in A sekundär ausgefallen sind. In den anderen Fällen –
auch bei »Laudines Kniefall« – kommt auch ein vorsichtig rekonstruierendes
Verfahren nicht über den Zustand in A und B hinaus. Der Überlieferungs-
prozess wird nur punktuell in seiner diachronen Tiefe erkennbar; es lässt sich
deshalb nicht behaupten, dass B grundsätzlich erweitert, A dagegen generell
kürzt (und schon gar nicht beides zusammen).
Immerhin sollten die Befunde, auch wenn sie punktuell bleiben, in eine
Edition eingehen, die sich um eine diachrone Vertiefung des Textes in die
Textgeschichte hinein bemüht und damit Überlieferung als Prozess trans-
parent zu machen versucht. Zu fragen wäre dabei allerdings, ob es sich lohnt,
mehrere Fassungen (beim Iwein wohl: *A und *B) nebeneinander abzu-
drucken oder gar, wie auch vorgeschlagen wurde, Abschriften aller Über-
lieferungszeugen eines Textes (etwa in elektronischer Form) zur Verfügung
zu stellen.40 Der Versuch, so getreu wie möglich ganze Texte abzubilden,
führt hier zu einem erheblichen Maß an Redundanz. Solche Editionen sind
aufwendig, und in der Realität des Faches vergrößern sie vermutlich die
Distanz zwischen den Editoren und den eher »inhaltlich« arbeitenden Altger-
manisten, werden es jedenfalls schwer haben, sich durchzusetzen. Fächert
man jedoch den Text nach unterschiedlichen Aspekten auf (Wortlaut, Versbe-
stand) und wählt für diese Aspekte jeweils eigene, jedoch kombinierbare
adäquate Editionskonzepte, dann könnte auch mit weniger Aufwand eine
»textgeschichtliche« Edition möglich sein41: Der nach dem Leithandschrift-
prinzip abgedruckte Wortlaut könnte diachron »vertieft« werden, indem dem
Benutzer signalisiert wird, bis zu welchem Punkt in der Überlieferungsge-
schichte der Versbestand – nur dieser! – an der jeweiligen Stelle zurück-
zuverfolgen ist. Genauer: Bezüglich des Versbestandes wird dokumentiert,
(1) mit welcher Reichweite des »Erkennens« an einer bestimmten Stelle zu
rechnen ist (z. B. nicht über *A oder *B hinaus oder aber bis *AB), und (2)
für welche Überlieferungsstufe der jeweilige Textbestand wahrscheinlich
gemacht werden kann (z. B. bei den Versen nach v. 6876 schon für *AB).42
Für beide Textaspekte – Wortlaut und Versbestand – wäre ein eigener Apparat
IV
Auch wenn für einzelne B-Pluspassagen durch den Vergleich mit dem Yvain
wahrscheinlich gemacht werden kann, dass sie schon in *AB enthalten
waren, bleibt der umgekehrte Fall, bei dem sekundäre Ergänzung ebenso
plausibel erscheint wie sekundäre Reduktion, doch der häufigere, und auch
für »Laudines Kniefall« trifft dies zu. Gefordert ist dann aber ein Interpreta-
tionsverfahren, welches ohne Festlegung auf ein bestimmtes Überlieferungs-
szenario, d. h. ohne Entscheidung über die »Echtheit«, die literaturwissen-
schaftlich-interpretierende Arbeit mit unaufgelösten Präsumtivvarianten er-
möglicht – mithin also ein »offener« Interpretationstyp (der aber ohne die
These vom »offenen Text« auskommt). Anders als Bumke denke ich dabei
nicht an ein Verfahren, das auf dem Vergleich der beiden je für sich »ganzen«
Fassungen *A und *B beruht, sondern an einen Interpretationstyp, der die
beiden Lesarten – hier also An- und Abwesenheit von »Laudines Kniefall« –
in ein Verhältnis zu jenem quantitativ weit überwiegenden Kerntextbestand
setzt, der den Iwein jenseits aller Varianz prägt – und zwar auch schon auf der
Stufe *AB. Ein solches Verfahren wird einerseits auf die Vorstellung des
»ganzen« Textes verzichten, weil ja nicht endgültig bestimmt wird, wie die
Texte »insgesamt« auf der jeweiligen Überlieferungsstufe ausgesehen haben
A und B hinaus keine Aussagen gemacht werden können (dies gilt z. B. für
»Laudines Kniefall«). Bei einer elektronischen Edition wären natürlich noch
plastischere Darstellungskonzepte denkbar. – Sicherlich ist auch der Wortlaut der
nicht als Leithandschrift gewählten Textzeugen interessant, aber letztlich wird
man, wenn man sich mit diesen Textzeugen beschäftigt, doch immer mehr wissen
wollen, als ein Abdruck bietet – gerade wenn man »new attitudes to the page«
(Bumke, Fassungen [Anm. 5], S. 68) vertritt. Deshalb erscheint mir anstatt des
Parallelabdrucks mehrerer Versionen der Abdruck einer diachron vertieften Version
unter Zusatz von (elektronischen?) Abbildungen oder Faksimiles wenigstens der
»wichtigsten« Überlieferungsträger sinnvoller.
43 Für den wissenschaftlichen Gebrauch könnte eine solche Edition ergänzt werden,
z. B. durch ein (elektronisches?) Faksimile der Überlieferungsträger.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 87
(nur ein Kernbestand wird rekonstruiert), und es wird auf einem prozessualen
Textbegriff und der diachronen Vertiefung der überlieferten Textzustände in
ihre Geschichte hinein basieren. Denn die Untersuchung des Verhältnisses
der Lesarten zum Kerntextbestand zielt auf die Interpretation von Vorgängen,
die von *AB zu *A und *B geführt haben. Konkret sind zwei sich gegen-
seitig ausschließende Szenarien als potenzielle historische Vorgänge denkbar:
Szenario 1: »Laudines Kniefall« ist eine spätere Ergänzung auf der Stufe *B,
war also in *AB noch nicht enthalten; Szenario 2: »Laudines Kniefall« war
ursprünglich enthalten und wurde auf der Stufe *A sekundär getilgt. Die
Frage lautet, ob es möglich ist, beide Vorgänge – von denen sicher nur einer
tatsächlich abgelaufen ist – auf ein und dieselbe Ausgangsproblematik im
Kernbestand des Iwein zu beziehen und damit eine Interpretation zu ent-
wickeln, die zwar von der Überlieferung ausgeht, sich dabei aber nicht auf
eines der beiden Szenarien festlegen muss. Ich versuche im folgenden eine
solche Iwein-Interpretation in den Grundlinien zu entwerfen, wobei ich mir
des experimentellen Charakters und der bedingten Reichweite des Unter-
nehmens bewusst bin.
Der Kerntextbestand des Iwein lässt sich, je nach Interpretationsinteresse,
auf unterschiedliche Weise beschreiben, z. B. durch eine Paraphrase der
»Geschichte«, wie sie jenseits aller Varianz in *A und *B erzählt wird und
dementsprechend wohl auch für *AB anzusetzen ist. Weil es mir jedoch um
den Prozess zu tun ist, der von Chrestien über Hartmann bzw. *AB zu A und
B geführt hat, wähle ich eine andere, auch »kürzere« Beschreibungsform:
Die »Wiedererzählung« Hartmanns bestimmt sich nicht zuletzt durch die
Veränderungen, die Hartmann im Zuge seiner Übertragungsarbeit an den
Vorgaben Chrestiens vorgenommen hat. Solche Eingriffe sind am Kerntext-
bestand gut zu erkennen, und die Iwein-Forschung nutzt sie längst als
Ausgangspunkt zur Interpretation des Hartmannschen Iwein. Die wohl deut-
lichste Tendenz der Hartmannschen Übertragung besteht in einer durch-
gängigen Aufwertung Laudines.44 Dies zeigt sich schon in ihrem sozialen
Status: Sie ist bei Hartmann Königin (und nicht Herzogstochter wie bei
Chrestien)45 und damit Artus ebenbürtig. Vor allem aber ist sie nicht die
schnell getröstete Witwe des Chrestienschen Yvain. Hartmann tut viel, um sie
vor diesem Vorwurf zu schützen. Die durch Reimspiel markierte Reflexion
über die guote wandelunge der Frauen (vv. 1869–1888) ist ebenso Hartmanns
Zutat (bei Chrestien gibt es ein eher frivol-misogynes Pendant aus dem
Munde Yvains, Yvain vv. 1435ff.) wie die folgende lange Passage (bis v. 1928),
44 Vgl. zum folgenden nach wie vor (auch wenn man Mertens’ Optimismus hinsicht-
lich des Abbildungscharakters von Literatur nicht mehr so einfach folgen wird):
Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue,
Berlin 1978 (ZfdPh, Beiheft 3); ders., »Iwein und Gwigalois – der Weg zur
Landesherrschaft«, GRM 31, 1981, 14–31; Silvia Ranawake, »Zu Form und
Funktion der Ironie bei Hartmann von Aue«, Wolfram -Studien 7, 1982, S. 75–116
(mit wertvollen Anregungen, auch wenn ich im folgenden nicht mit der Kategorie
Ironie arbeite).
45 Vgl. Mertens, Laudine (Anm. 44), S. 36 f.
88 Albrecht Hausmann
in der Laudine deutlich zum Ausdruck bringt, warum sie überhaupt an eine
neue Heirat denkt: der [Gott] weiz wol, ob mîn lant / mit mir bevridet waere,
/ daz ichs benamen enbaere (vv. 1904–1906). Die Verantwortung gegenüber
dem leicht verwundbaren Land ist das Grundmotiv aller Handlungen Lau-
dines. Damit verkörpert sie eine bei Hartmann prononciert gegen das âven-
tiure-Rittertum des Artus-Hofes gestellte Ethik, der der Artus-Ritter Iwein
dann tatsächlich nicht gerecht wird. In der Anklage Lunetes gegen den
säumigen Iwein wird dies sehr deutlich. Während bei Chrestien Yvain mit
dem Vorwurf konfrontiert wird, er liebe Laudine nicht genügend (Yvain vv.
2722–2773), ist bei Hartmann davon nicht die Rede. Iwein wird hier einzig
mangelnde triuwe gegenüber Laudine – und das heißt: gegen ihr Land –
vorgeworfen (vv. 3111–3196 mit dem Leitwort triuwe). Durch die Fristver-
säumnis hat Iwein Laudine nicht etwa in eine für sie emotional problemati-
sche Situation gebracht, sondern als Landesherrin in einen gefährlichen
Zustand versetzt.46
Komplementär zu der Aufwertung Laudines lässt sich bei Hartmann eine
Problematisierung des Artushofes und der dort herrschenden Ethik beob-
achten. Das wird nicht nur in solchen Passagen wie der komischen Charak-
terisierung des âventiure-Begriffs als eines Zentralbegriffs des Artusritter-
tums deutlich (vv. 528–537), sondern vor allem in der nur von Hartmann
derart breit angelegten Binnenerzählung von der Entführung Ginovers.47 Die
Paralyse des Artushofes demonstriert das Defizitäre einer Ethik, die den êre-
Begriff entsubstantialisiert und deshalb für Gauner problemlos pervertierbar
ist.48 Dem steht im zweiten Handlungszyklus Iweins eigenes Handeln gegen-
über, das stets auf die substantielle Rechtlichkeit der an ihn herangetragenen
Ansprüche Wert legt (nicht umsonst finden hier zwei Gerichtskämpfe statt).
Demgegenüber verteidigt Gawein die ältere Schwester vom Schwarzen Dorn,
ohne zu fragen, ob sie im Recht ist oder nicht. Iweins Handeln im zweiten
Zyklus ist ein Handeln im Sinne der von Laudine verkörperten Ethik, es zielt
auf sie. Damit aber wird Laudine zu einem zweiten Zentrum neben dem
Artushof, das diesem zumindest ebenbürtig ist, wenn nicht sogar überlegen.
Laudine wird einerseits aufgewertet und durch die Akzentuierung ihres
landesherrschaftlichen Verantwortungsbewusstseins gegen den Vorwurf ge-
schützt, eine rasch getröstete Witwe zu sein. Andererseits aber wird bei
Hartmann im scheinbaren Widerspruch dazu auch Laudines »Minne« zu
Iwein mehrfach deutlicher thematisiert als bei Chrestien, etwa im Zusam-
menhang mit der Herzenstauschszene (vv. 2971–3028). Aber Laudines
»Liebe« ist nicht etwas, was zusätzlich zum funktionsorientierten Einver-
49 Vgl. Tony Hunt, »Iwein and Yvain: Adapting the Love Theme«, in: Chrétien de
Troyes and the German Middle Ages, hg. v. M. H. Jones/R. Wisbey, London 1993,
S. 151–163.
50 Laudine drängt auf das baldige Eintreffen Iweins (vv. 2120–2123); sie wird bei
der Ankündigung Lunetes, dass Iwein nun da sei, von vreuden bleich unde rôt
(v. 2203).
51 Vgl. vv. 1312–1323 (nicht bei Chrestien).
52 Mertens, Laudine (Anm. 44), S. 17.
53 So erklärt sich wohl auch der keineswegs frivol gemeinte Vergleich mit dem ros
daz willeclîchen gât, / swer ouch daz mit sporn bestât, / sô gât ez deste baz ein teil
(vv. 2395–2397).
90 Albrecht Hausmann
54 Die Begleitung übernehmen andere, vor allem der Löwe, aber auch Lunete.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 91
affektiven Minne von Seiten Laudines kein Mangel mehr, sondern eine von
Iwein akzeptierte Realität.
Aber auch eine andere Interpretation ist zu erwägen. Die Dissonanz kann
auch auf eine Problematisierung des Artusromans an sich deuten. Sie könnte
signalisieren, dass der Artusroman zwar die ethische Perfektionierung des
Helden vorzuführen vermag, dass aber damit keineswegs alle im ersten Teil
aufgeworfenen Probleme gelöst sind. Die geschlossene Sinnstruktur des
Doppelwegs wird durch das Erzählte überschritten, und deshalb endet die
Geschichte von Laudine und Iwein auch nicht »innerhalb« des Romans.55
Solche Überschreitungen der Artusstruktur könnten zum Ausdruck bringen,
dass die Erzählstruktur des Artusromans mit ihrer Sinnverheißung gegenüber
der Kontingenz und Unabgeschlossenheit der Geschichte letztlich machtlos
bleibt.
Wie auch immer man die Dissonanz in dem Gespräch zwischen Laudine
und Iwein versteht, sie ist allemal Hinweis auf einen Verzicht: Der Iwein ist
nicht die Geschichte von der Minne zwischen Laudine und Iwein, sondern
die Geschichte von der Integration Iweins in die von Laudine verkörperte
Normenwelt. Diese Integration, die eine Sozialisation darstellt, wird zwar als
eine Geschichte zwischen Mann und Frau inszeniert, aber der unmittelbare
Anspruch des Eros – im Erec d a s Thema – hat darin keinen Platz. So aber
war der Artusroman als literarisches Modell angetreten: Die Integration
unmittelbarer Ansprüche des idealen ritterlichen Lebens – Minne und Kampf
– in einem Konzept, in der Lebensform des arthurischen Ritters, stand zur
Diskussion. Mit dem Iwein scheint dieser Anspruch aufgegeben; der nächste
Schritt, der dann in Wolframs Parzival vollzogen wird, ist vorgezeichnet: Im
Parzival wird es zwar auch ein Handlungszentrum neben dem Artushof
geben, eine Herausforderung, der Parzival sich stellen muss, aber dieses wird
nicht mehr in der Frau bestehen, sondern in einem religiös konnotierten
»Ding« – dem Gral.56 Die im Minnesang etwa gleichzeitig in die Kritik
geratene Konzeption einer Integration von Normverkörperung und Eros in
der Figur der Frau scheint nicht mehr weiter zu tragen.
In Überlieferungsszenario 1 (sekundäre Ergänzung der Kniefall-Szene in
B/*B) wird versucht, dieses Problem zu entschärfen. Durch die Geste der
Versöhnung wird Laudine als handelnde Person zurückgeholt; ihr Kniefall
bringt sie mit Iwein »auf Augenhöhe«, und es entsteht eine wenigstens
ungefähre Balance. Zwar wird nicht von Minne gesprochen, aber Laudines
55 Vgl. auch die vv. 8148, 8157 und 8159 des Iwein, in denen – zum Schluss –
deutlich gemacht wird, dass das guot leben noch keineswegs sicher ist: Alles ist nur
waenlich.
56 Zu einer anderen »Möglichkeit« des Artusromans vgl. Mertens, Iwein und Gwiga-
lois (Anm. 44), S. 14: »[…] im Iwein ist jedoch die erotische Partnerbeziehung, die
Ehe, mit dem Weg problemhaft verkoppelt, während sie im Wigalois für den
Helden keine Schwierigkeit bedeutet.« Ob allerdings im Iwein die »Integration von
persönlichem Glück und politisch-sozialer Verantwortung […] am Schluß wieder-
hergestellt« ist (ebd., S. 16), ist durchaus fraglich; allein der Kniefall Laudines
bewerkstelligt dies.
92 Albrecht Hausmann
Handeln ist affektiv, nicht funktionsorientiert. Sie fällt nicht auf die Knie, um
einen Beschützer für ihren Brunnen zu bekommen, sondern um die Ver-
gebung des lieben herren zu erlangen. Tatsächlich entsteht so ein gewisser
Abschluss der Geschichte von Iwein und Laudine, eine »Versöhnung«, die
dem Schluss, den der Redaktor diesem Szenario zufolge zunächst vorfand –
nämlich einem Schluss ohne den Kniefall –, seine Härte nimmt. Aber die
Problematik des Verzichts auf die Integration des unmittelbaren Anspruchs
der Minne in den Artusroman ist so nicht gelöst, sondern nur verschoben.
Diese Verschiebung hat ihren Preis, der darin besteht, dass nun am Ende des
Romans eine Passage steht, die sich handlungslogisch nicht nur mit dem
vorhergehenden Dialog, sondern letztlich mit dem ganzen vorausliegenden
Text nicht verträgt. Denn Laudine hat keine Schuld und sie hat Iwein nie
affektiv geliebt (worin auch ein Motiv für den Versöhnungswunsch liegen
könnte). Die Klärung der ungleichgewichtigen Mann-Frau-Beziehung zwi-
schen Iwein und Laudine durch die Kniefall-Szene verursacht also in Szena-
rio 1 einen handlungslogischen Bruch. Das Problem wird nicht gelöst,
sondern nur anders disponiert, die zugrundeliegende Aporie wird nicht
beseitigt, sondern transformiert.
Geht man dagegen von Szenario 2 aus (sekundäre Reduktion der Kniefall-
Szene in A/*A), dann trifft der A-Redaktor, der die Kürzung vornimmt,
bereits auf diesen in der Darstellung von Szenario 1 als Ergebnis einer
möglichen Erweiterung in B beschriebenen »Aggregatzustand« der Aporie
und vollzieht die Transformation in umgekehrter Richtung. Durch die Aus-
lassung von »Laudines Kniefall« wird der handlungslogische Bruch, den
diese Episode auch dann produziert, wenn sie vom Autor Hartmann selber
stammt, ausgemerzt. Aber auch hier wird die grundlegende Aporie nicht
beseitigt, sondern nur umgewandelt. Sie liegt nun als Ergebnis der in Szena-
rio 2 ablaufenden Vorgänge in genau der »Form« vor, in der sie das Aus-
gangsproblem für Szenario 1 bildetet: Nun bleibt es in A (und der damit
zusammenhängenden Iwein-Überlieferung) bei dem Problem der Unausge-
wogenheit in der Mann-Frau-Beziehung von Iwein und Laudine.57
Gleichgültig, in welche Richtung sich der Text entwickelt hat, welches
Szenario historisch tatsächlich abgelaufen ist: »Laudines Kniefall« ist ein
Brennpunkt des Hartmannschen Iwein, und die Varianz, von der diese Stelle
betroffen ist, zeigt, dass sich hier – kurz vor Schluss – die in der Geschichte
von Iwein und Laudine angelegten Aporien verdichten und nach Entschei-
dungen verlangen.58 Weder die Entscheidung für diese Passage noch dieje-
nige dagegen ist richtig oder falsch. Das grundlegende Problem wird nicht
gelöst, sondern verschoben und dabei transformiert. Je nach Lesart (mit oder
ohne Kniefall-Passage) handelt es sich entweder um ein nicht aufgelöstes
Ungleichgewicht im Verhältnis zwischen Iwein und Laudine oder um eine
Problematik in der Handlungslogik des Textes. In ihrer Grunddisposition ist
die Aporie, die hier hin und hergeschoben wird, dem Hartmannschen Iwein
eigentümlich, und zwar jenseits aller Varianz auch in dem Textbestand, der
sowohl in *A als auch in *B enthalten ist: Die Bearbeitungstendenz Hart-
manns gegenüber der Chrestienschen Vorlage bringt es mit sich, dass Lau-
dine gegenüber dem Artushof aufgewertet wird.59 Dadurch aber kann sie
nicht mehr Trägerin einer Affektminne sein, wie sie die vom Artusroman
behauptete Integration von Minne und Kampf eigentlich voraussetzen
würde.60
erzählt hatte, *A und *B tun ähnliches, wenn auch in einer sicher weniger
durchgreifenden Form. Wesentlich für mittelalterliches Wiedererzählen – und
eben auch für mittelalterliches Überliefern – scheint mir zu sein, dass ein
reproduktiver und ein rezeptiver Aspekt dergestalt zusammenkommen, dass
sich der dabei entstehende Text – sei es eine Übertragung oder eine »Ab-
schrift« – der ihm eigenen Situation62 anpassen kann, ohne dass dem
Wiedererzähler oder Überlieferer ein Bewusstsein davon entsteht, den Text
wesentlich verändert zu haben. Hier liegt ein Ansatzpunkt für die Historisie-
rung des vorgestellten »offenen« Interpretationsmodells: Die »Anpassung«
bzw. die jeweilige Transformation geschieht zwar aufgrund einer dem »Text«
genuinen Aporie, aber virulent wird diese Aporie vielleicht nur in be-
stimmten »Situationen des Textes«, so dass man methodisch versuchen
könnte, beides – Situationalität und prozessuale Vertiefung des Textes in die
Textgeschichte hinein – miteinander zu koppeln. Hier ist dann auch der Ort
für eine ohne jeden Zweifel notwendige – komplementär notwendige –
»material philology«, die sich intensiv mit dem jeweiligen Überlieferungs-
träger und seiner gegebenen Materialität auseinandersetzt, denn die Situation
des Textes wird eben gerade auch beschreibbar durch die Analyse der
materiellen »Umstände« eines Textes – auch wenn das in der Praxis und am
konkreten Fall immer wieder sehr schwierig sein dürfte.
Die Überlieferung ist nicht allein Kontext, bietet nicht nur Situationen für
den Text,63 sie stellt auch einen Prozess dar, in dem sich der überlieferte Text
als prozessualer Diskurs realisiert. Es gibt also stets einen überlieferungs-
und einen textgeschichtlichen Aspekt, und die Beschäftigung mit einem
mittelalterlichen Text ist wohl nur dann vollständig, wenn beide zur Geltung
kommen. Mir ging es in dem vorliegenden Beitrag vor allem um die
Textgeschichte: Ich wollte vorführen, dass der prozessuale Diskurs Yvain/
Iwein sich eher erschließt, wenn sich zum einen der Editor von der Vor-
stellung des »ganzen Textes« verabschiedet – dann lassen sich auch rekon-
struierende Verfahren mit aller Vorsicht wieder ins Recht setzen – und zum
anderen der Interpret die Identität »des Textes« zumindest auch in den
Gründen für seine varianzträchtige Dynamik sucht – und nicht in der auf
einem einzigen Textzustand basierenden Interpretation. Angenehm, einfach
ist die Arbeit mit verschiedenen Überlieferungsszenarien und Transforma-
tionsprozessen nicht; aber nimmt man mittelalterliche Überlieferung als
Interpretationsaufgabe ernst und lässt sich auf die methodischen Probleme
ein, die damit verbunden sind, dann erscheint sie doch als lohnend.
Swaz ich nu niuwer maere sage, / des endarf mich nieman vrâgen: ich enbin
niht vrô (Reinmar, MF 165,10 f.). Ich denke underwîlen, / ob ich ir nâher
waere, / waz ich ir wolte sagen (Friedrich von Hausen, MF 51,33–35).1 So
beginnen zwei Lieder zweier berühmter Minnesänger: Beide setzen wie viele
andere Minnelieder mit einem ›Ich‹ im ersten Vers ein.2 Wer aber ist es, der
›Ich‹ sagt: der Autor, der das Lied verfasst hat, oder der Sänger, der das Lied
vorträgt, oder ein überpersonales ›Man‹ (in dem sich die Zuhörenden selbst
wiederfinden können),3 oder ein Rollen-Ich, das eine ›Als-ob‹-Referenz
fingiert, in Wirklichkeit also referenzlos bleibt?4 Mit diesen Fragen befinden
volkssprachlicher Lyrik«, IASL 19, 1994, Heft 1, S. 1–21, bes. S. 3 f. u. 19 f.; ders.,
»Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar«, PBB 121,
1999, S. 379–405, S. 401 f.). Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), zitiert zwar zu
Anfang seines Aufsatzes, S. 9 zustimmend Müllers These, meint auch, dass es
interessant sei, Lieder zu untersuchen, die die Relation von textinternem und
textexternem Ich reflektierten (S. 14), befasst sich aber dann doch fast ausschließ-
lich mit der textinternen Relation von Sänger- und Minnerrolle.
8 Einige Informationen, die nicht aus den Liedern selbst stammen, hat für den
spätmittelalterlichen Minnesang zusammengestellt Ulrich Müller, »Kontext-In-
formationen zum ›Sitz im Leben‹ in spätmittelhochdeutschen Lyrik-Handschriften:
Mönch von Salzburg, Michel Beheim. Mit einem Ausblick auf Raimbaut de
Vaqueiras, Reinhard Westerburg und Oswald von Wolkenstein« (im Druck).
9 Immerhin gelingt es Helmut Tervooren, »Die ›Aufführung‹ als Interpretament
mittelhochdeutscher Lyrik«, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ (Anm. 4), S. 48–66, die
in den Text eingeschriebene Situation der Mündlichkeit anhand sprachlich-stili-
stischer Eigenheiten zu belegen. Albrecht Hausmann, Reinmar der Alte als Autor.
Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen/
Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), und Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7),
S. 381 Anm. 8, plädieren dafür, Aussagen über die Aufführungssituation an der
›Poetik der Texte‹ festzumachen. – Für meine Studie übernehme ich nicht die
Unterscheidung zwischen Verschriftung (der rein medialen Umsetzung) und Ver-
schriftlichung (einer konzeptionellen Schriftlichkeit), weil eine solche Abgrenzung
im Bereich der Minnesang-Überlieferung methodisch kaum zu leisten ist; vgl.
Wulf Oesterreicher, »Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und
konzeptioneller Schriftlichkeit«, in: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. v. U.
Schaefer, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267–292.
10 Vgl. dazu unten Abschnitt IV.
11 Zur identifikatorischen Funktion der Werber-Rolle vgl. u. a. Rainer Warning,
»Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors«, in: Deutsche Literatur im
Mittelalter (Anm. 3), S. 120–159, S. 130–132; Claudia Händl, Rollen und pragma-
tische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der
Vogelweide, Göppingen 1987 (GAG 467), S. 69ff.; Hahn, dâ keiser (Anm. 6), S. 95
und 99. Vgl. auch Knape, Rolle und lyrisches Ich (Anm. 2), S. 180: Er vermutet für
einige Lieder Walthers, dass »die höfischen männlichen Hörer [. . .] als Referenz
für das Ich sich selbst annehmen«, und spricht von einem »identifikatorischen«
bzw. »Rezipienten-Ich«.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 99
Sängerrolle als die Minnerrolle mit dem realen Sänger gleichgesetzt haben.
Auch der vortragende reale Sänger selbst wird möglicherweise zu seiner
Sängerrolle einen anderen Bezug gehabt haben als zu der Rolle des Minners.
Jedenfalls ist heute bei der Frage nach der Referenz des Text-Ichs – und
damit nach dessen Authentizität oder Fiktionalität – die Relation von Sänger-
und Minnerrolle dieses Text-Ichs mit zu berücksichtigen.12
Es sei gleich zu Anfang betont, dass ich selbst bei der Frage nach dem
möglichen identifikatorischen Potential der Ich-Aussagen eines Minneliedes
vornehmlich die Relation von Sänger und Text-Ich im Auge habe, dass mich
hingegen hier wenig interessiert, inwieweit die Rezipienten sich mit den Ich-
Aussagen identifiziert haben und ob der Minnesang ein Verhaltensprogramm
bietet.13
Die Minnesangforschung hat einen langen Weg zurückgelegt, bis sie zu
der heutigen differenzierten Diskussion über die Referenzmöglichkeiten ei-
nes Minneliedes angelangt ist. Nachdem im 19. Jh. und noch bis zur Mitte
des 20. Jhs. die biographistische Ausdeutung vorherrschte – die Liedaussage
wurde als Ausdruck der Gefühle des Autors gedeutet14 – und nach den ersten
sozialgeschichtlichen Deutungen um 1900, denen zufolge das Text-Ich die
Wünsche der meist aus niederer Stellung stammenden Sänger kollektiv
formuliert,15 setzte mit der These von Robert Guiette (1949) eine Kehrt-
wende ein; Minnesang sei eine poésie formelle, ein vornehmlich rhetorisches
und artistisches Phänomen, gleichsam l’art pour l’art; das Text-Ich besitze
keine Referenz, sondern genüge sich selbst. Obwohl sich diese Forschungs-
richtung in der Romania bis heute behaupten kann (R. Dragonetti, Paul
Zumthor u. a.),16 erwuchs ihr in der deutschsprachigen Romanistik und
Germanistik ab den 60er Jahren des 20. Jhs. eine starke Konkurrenz in einer
12 Zur Forschungsdiskussion hinsichtlich der Vielfalt von Ichs bei Walther von der
Vogelweide vgl. zuletzt Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide,
Stuttgart 1999, S. 2–4.
13 Die Auseinandersetzung zwischen J.-D. Müller und A. Hausmann wäre um einiges
entschärft, wenn diese beiden unterschiedlichen Arten von Identifikation deutli-
cher getrennt worden wären. Vgl. Hausmann, Reinmar (Anm. 9), S. 136ff.; Müller,
Selbstwiderspruch (Anm. 7). Zum Miteinander und Gegeneinander von ›Ich‹ und
den ›Anderen‹ im Minnesang vgl. J.-D. Müller, Strukturen (Anm. 3), bes. S. 416–
425; Rüdiger Schnell, »Kreuzzugslyrik. Variation der Argumentation«, in: Spuren,
Festschrift Theo Schumacher, hg. v. H. Colberg/D. Petersen, Stuttgart 1986, S. 21–
58 (passim).
14 Vgl. z. B. Alfred Jeanroy, La poésie lyrique des troubadours, Toulouse 1934, Bd. 2,
S. 282.
15 Die Bitten um Lohn für Lobpreis seien in ein Liebeswerben umformuliert worden.
Der Rollencharakter wurde hier schon gesehen. Zu den soziologischen Deutungen
des Minnesangs vgl. Ursula Liebertz-Grün, Zur Soziologie des »amour courtois«.
Umrisse der Forschung, Heidelberg 1977 (Beihefte zum Euphorion 10); Rüdiger
Schnell, »Die ›höfische Liebe‹ als Gegenstand von Psychohistorie, Sozial- und
Mentalitätsgeschichte. Eine Standortbestimmung«, Poetica 23, 1991, 374–424.
16 Für den deutschen Minnesang lehnte diese These ab Ursula Peters, »Le Minnesang
ent tant que ›poésie formelle‹«, in: Musique, littérature et société en moyen âge,
hg. v. D. Buschinger/A. Crépin, Paris 1980, S. 323–343. Günter Eifler, »Liebe um
des Singens willen. Lyrisches Ich und Künstler-Ich im Minnesang«, in: Festschrift
100 Rüdiger Schnell
19 Warning, Lyrisches Ich (Anm. 11); Müller, »Ir sult sprechen willekomen« (Anm.
7), S. 7; ders., Ritual (Anm. 18); Gert Hübner, Frauenpreis. Studien zur Funktion
der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone, 2 Bde., Baden-
Baden 1996, Bd. 1, S. 29 f. u. S. 343; G. Hahn, »Zu den Ich-Aussagen in Walthers
Minnesang«, in: Walther (Anm. 2), S. 95–104, und ders., dâ keiser (Anm. 6),
spricht von einem »gesellschaftlichen Programm«. Rüdiger Schnell, »Die ›höfi-
sche‹ Liebe als ›höfischer‹ Diskurs über die Liebe«, in: Curialitas. Studien zu
Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hg. v. J. Fleckenstein, Göttingen 1990
(Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), S. 231–301,
sieht weniger in den Liedaussagen als in der Art der Diskursivierung von Liebe die
gesellschaftliche Relevanz des Minnesangs. Zur forschungsgeschichtlichen Rück-
ständigkeit der immer wieder als ›revolutionär‹ bezeichneten Arbeit von Eva
Willms, Liebesleid und Sangeslust. Untersuchungen zur deutschen Liebeslyrik des
späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts, München 1990 (MTU 94), vgl. Schnell,
Die ›höfische‹ Liebe (Anm. 15), S. 379 f.
20 Auf die Bedeutung der Sänger-/Künstlerrolle gegenüber der Minnerrolle hat
innerhalb der germanistischen Forschung zuerst Hugo Kuhn aufmerksam gemacht,
vgl. dazu Burghart Wachinger in einer Rezension: PBB 107, 1985, S. 299–306;
vgl. auch Eifler, Liebe (Anm. 16); Frank Willaert, »Heinrich von Veldeke und der
frühe Minnesang«, in: Mittelalterliche Lyrik (Anm. 5), S. 33–56, S. 53. Ebenfalls
skeptisch gegenüber der Auffassung von einem Verhaltensprogramm im Minne-
sang Volker Mertens, »Der Hof, die Liebe, die Dame und ihr Sänger. Über-
legungen zur Thematik und Pragmatik des Minnesangs am Beispiel zu Liedern
Walthers von der Vogelweide«, in: Walther von der Vogelweide, Greifswald 1995
(Wodan 52), S. 75–93, und z. T. damit wörtlich übereinstimmend ders., »Autor,
Text und Performanz. Überlegungen zu Liedern Walthers von der Vogelweide«, in:
So wold ich in froiden singen. Festschrift Anthonius H. Touber, hg. v. C. Dauven-
van Knippenberg/H. Birkhan, Amsterdam 1995 (ABäG 43/44), S. 379–397; Jörn
Gruber, Die Dialektik des Trobar: Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung
des occitanischen und französischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts, Tübingen
1983 (ZfrPh, Beiheft 194). Dass die Trobadorlyrik vor allem ein Diskurs über das
Dichten, weniger über die Liebe sei, führt aus Michael Bernsen, Die Problemati-
sierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel
der Liebesdichtung von den Provenzalen bis Petrarca, Tübingen 2001 (ZfrPh,
Beiheft 3/3).
102 Rüdiger Schnell
21 Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7), S. 3, weist darauf hin, dass »für die situationsab-
strakte Schrift die Sprecherinstanz erst noch zu klären ist«; Franz H. Bäuml/
Richard H. Rouse, »Roll and codex. A new manuscript fragment of Reinmar von
Zweter«, PBB 105, 1983, S. 192–231, S. 317–330, S. 326, überspielen mögliche
Unterschiede, wenn sie die Identifikation des Sängers mit dem lyrischen Ich, wie
sie sich in der Aufführungssituation einstelle, gespiegelt sehen in den Autorenbil-
dern, wo ebenfalls »the poet or singer as lover« abgebildet werde.
22 An einem ganz anderen Textmaterial habe ich diesen Frageaspekt erörtert: Rüdiger
Schnell, »Von der Rede zur Schrift. Konstituierung von Autorität in Predigt und
Predigtüberlieferung«, in: The construction of textual authority in German litera-
ture of the medieval and early modern periods, hg. v. J. F. Poag/C. Baldwin, Chapel
Hill 2001 (im Druck).
23 Mir geht es dabei nicht um eine pauschale Gegenüberstellung von mündlicher und
schriftlicher Minnesangüberlieferung. Auch soll keinesfalls behauptet werden, vor
den Handschriften A, B und C habe es keine schriftlichen Aufzeichnungen von
Minneliedern gegeben (dazu Cramer, Waz hilfet [Anm. 6], S. 21 f.). Doch meine
ich, dass die Sammlung und Niederschrift zahlreicher Autorencorpora in einem
›Buch‹ eine neue Phase der Literarisierung des Minnesangs einleitet, die ihre
eigenen Voraussetzungen und Konsequenzen hat. Die Handschriften B und C
wurden überdies deshalb ausgewählt, weil sie auch sog. Autorbilder enthalten, die
für das Referenzproblem relevant sind. Zu den Handschriften A, B und C vgl.
zuletzt Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und
Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik, Tübingen/Basel 1995 (Bibliotheca
Germanica 32), S. 21–280; Gisela Kornrumpf, »Weingartner Liederhandschrift«,
VL2, Bd. 10, 1998, Sp. 809–817.
24 Obwohl neuerdings der Unterschied zwischen Minnesangaufführung und Theater-
aufführung stärker gesehen wird (Strohschneider, nu sehent [Anm. 4], S. 11–13),
mag doch der Hinweis auf eine Bemerkung von Ina Schabert, »Männertheater«,
Shakespeare Jahrbuch 134, 1998, S. 11–28 (ebd. S. 16), gestattet sein: die Shake-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 103
29 Vgl. auch van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 2 (das romantische Dichtungsverständ-
nis sei durch die Trobadorviten des 13./14. Jhs. gestützt worden). Meines Erach-
tens ist es kein Zufall, dass die Minnesangforschung die Bedingungen und Kon-
sequenzen der Aufführung des Minnesangs erst in dem Moment (d. h. in den
50/60er Jahren des letzten Jahrhunderts) ›entdeckte‹, als sie sich von der bio-
graphistischen Deutung der Minnelieder gelöst hatte. Erst jetzt wurden die kom-
plexen Bezüge zwischen interner Sprechsituation und äußerer Kommunikations-
situation erkannt. Dabei stellte sich die Erkenntnis ein, dass der Reiz vieler Lieder
gerade in der Fiktionalisierung des Text-Ichs lag und sich somit eine rein autor-/
biographiebezogene Deutung verbot.
30 Aus einer inzwischen immens angewachsenen Literatur seien exemplarisch einige
Arbeiten herausgegriffen: Sylvia Huot, From song to book. The poetics of writing
in Old French lyric and lyrical narrative poetry, Ithaca/London 1987, bes. S. 46–
48 (in der Überlieferung der altfranzösischen Lyrik nehme die Figur des Autors
eine viel gewichtigere Rolle ein als in der Überlieferung der Erzählungen) u.
S. 213–273; Burghart Wachinger, »Autorschaft und Überlieferung«, in: Autoren-
typen, hg. v. W. Haug/B. Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 6), S. 1–28;
Cynthia J. Brown, Poets, patrons, and printers. Crisis of authority in late medieval
France, Ithaca/London 1995, bes. Kap. 2–3 (zur paratextuellen Präsentation des
Autors); Heinz Kischkel, Tannhäusers heimliche Trauer, Tübingen 1998, S. 217–
259, S. 285–289; Burt Kimmelmann, The poetics of authorship in the later middle
ages. The emergence of the modern literary persona, New York u. a. 1996; Autor
und Autorschaft (Anm. 17); Rüdiger Schnell, »›Autor‹ und ›Werk‹ im deutschen
Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven«, Wolfram-Studien 15,
1998, S. 12–73; Hausmann, Reinmar (Anm. 9). Dass sich innerhalb der mittel-
alterlichen Überlieferung volkssprachlicher Texte allmählich poetische Autoritäten,
deren ›Werk‹ nicht verändert werden durften, herausgebildet haben, lässt die sich
ab ca. 1300 verfestigende Überlieferung einiger Texte vermuten; vgl. Joachim
Bumke, »Der unfeste Text«, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ (Anm. 4), S. 118–129,
S. 127 f.; Sylvia Huot, The ›Romance of the Rose‹ and its medieval readers,
Cambridge 1993, S. 133.
31 Diese These befindet sich also in direktem Gegensatz zu dem Buchtitel Haus-
manns Reinmar der Alte als Autor (Anm. 9). Für Hausmann macht es keinen
Unterschied, ob Reinmar als Sänger auftritt oder aber in den Handschriften als
Autor figuriert.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 105
32 Warning, Lyrisches Ich (Anm. 11), S. 123, identifiziert Autor und realen Sprecher;
Eifler, Liebe (Anm. 16), S. 5ff., 12 u. 14, behauptet sogar eine »Ineinssetzung« von
Autor, Sänger und lyrischem Ich. Helmut Tervooren, »Die Haager Liederhand-
schrift. Schnittpunkt literarischer Diskurse«, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft, S. 191–
207, S. 198, nimmt für den klassischen Minnesang eine Personalunion von Autor
und Vortragskünstler an. Auch für Elisabeth Lienert, »Hoerâ Walther, wie ez mir
stât. Autorschaft und Sängerrolle im Minnesang bis Neidhart«, in: Autor und
Autorschaft (Anm. 17), S. 114–128, S. 115–117, fallen Sängerrolle und Autor-
schaft zusammen. Mit Hilfe der Lieder eines Dritten zu werben, sei »geradezu
widersinnig«. Andererseits räumt sie ein, dass »in der realen Vortragsituation der
Vortragende in den Vordergrund« tritt, »zum Teil auf Kosten des Autors«
(S. 117).
33 Zum Beispiel durch den Literaturexkurs Gottfrieds von Straßburg (Tristan
4751ff.), der die Minnesänger Reinmar und Walther von der Vogelweide nament-
lich erwähnt und den Wunsch ausspricht, sie möchten ihre Klage eines Tages in
Freude enden lassen. Doch bilden Reinmar und Walther bereits den Endpunkt einer
Entwicklung; vgl. unten zu Liedtyp 4.
34 Thomas Bein, »Das Singen über das Singen. Zu Sang und Minne im Minne-Sang«,
in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ (Anm. 4), S. 67 A. 4; Händl, Rollen (Anm. 11), S. 8
und S. 23 A. 28 (hält es für denkbar, dass die Lieder adeliger Dilettanten von
fahrenden Sängern vorgetragen wurden); Reinmar. Lieder, Mittelhochdeutsch/Neu-
hochdeutsch, hg. v. Günther Schweikle, Stuttgart 1986, S. 306 (hält es für möglich,
dass Reinmar MF 150,1 u. 150,10 aus der »Sammlung eines Nachsängers« in die
Hs. B gelangt sind). Nach Schweikle, Minnesang (Anm. 6), S. 4, enthält aber Hs.
B – im Unterschied zu A und C – nur Autorcorpora, keine Sammlungen von
Fahrenden. Dass ein Lied nicht nur vom ›Autor‹ vorgetragen wurde, lässt MF 5,20
(Kaiser Heinrich) vermuten.
35 Johannes Janota, »Der vogt von Rotenburch im Budapester Fragment«, in: Mittel-
alterliches Schauspiel. Festschrift Hansjürgen Linke, hg. v. U. Mehler/A. H. Tou-
ber, Amsterdam 1994, S. 213–222, bes. S. 219 u. 221 (späteren Sammlern sei die
Vermischung von Autorschaft und Übernahme von Liedern und Strophen anderer
Autoren im Vortragsrepertoire dichtender Nachsänger nicht mehr völlig durch-
sichtig gewesen).
106 Rüdiger Schnell
nicht der Autor.36 Dass der Vortrag bzw. die Adoption von Liedern durch
reproduzierende Sänger, aber auch durch andere Autoren offensichtlich ein
weitverbreitetes Phänomen gewesen ist, lassen einschlägige Hinweise der
Forschung vermuten.37 Doch die Konsequenzen aus dieser Annahme schei-
nen nicht gezogen worden zu sein.
b. Die in der Handschrift A den Autorennamen Niune, Gedrut und Leut-
hold von Seven zugeordneten Textcorpora, bei denen sich die Zuschreibungs-
divergenzen zu C häufen, werden heute »als authentische Zeugnisse für
Repertoirehefte von Fahrenden in Anspruch genommen«38. Wir hätten es
demnach mit anonymen Kleinsammlungen zu tun, die erst in einer Vorstufe
von Handschrift A Autornamen unterstellt wurden. Dies würde die These
»Vom Sänger zum Autor« gut stützen. Dass in der Überlieferung einige
Lieder nicht den ursprünglichen Autoren, sondern den Sängern zugeordnet
wurden, zeigt, dass der Sänger die ausschlaggebende Instanz bei einem
Vortrag sein konnte, nicht der Autor.39
36 Günther Schweikle, »Heinrich von Rugge«, in: VL2, 3, 1981, Sp. 869–874, Sp.
871.
37 Reinmar (Anm. 34), S. 56 (im Repertoire Reinmars könnten sich auch Lieder
anderer Minnesänger befunden haben); Die frühe Minnelyrik, hg. v. Günther
Schweikle, Darmstadt 1977, S. 49 (denkbar sei »nicht nur die Übernahme ganzer
Lieder ins Repertoire eines anderen Dichters, sondern auch die Adoption und
Erweiterung einzelner Strophen«); ebd. S. 401 f. (vermutet, dass die Fassung des
Liedes MF 36,5 von Dietmar von Aist, die Fassung C von Reinmar gesungen
wurde); ebd. S. 425 (ähnlich zu Veldeke); Günther Schweikle, »Hartmann von Aue
und Walther von der Vogelweide?«, in: So wold ich in fröiden singen. Festschrift
Anthonius Touber, hg. v. C. Dauven-van Knippenberg, Amsterdam 1995, S. 449–
458, S. 456 f. (zu Hartmann MF 214,34 und Walther La 120,16); Günther
Schweikle, »Zur Edition mittelhochdeutscher Lyrik«, ZfdPh 104, 1985, Sonder-
heft, S. 2–18, S. 12; Hahn, dâ keiser (Anm. 6), S. 89; Erich Kleinschmidt, »Minne-
sang als höfisches Zeremonialhandeln«, AfK 58, 1976, S. 35–76, gekürzt wieder
in: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, hg. v. Hans Fromm,
Bd. 2, Darmstadt 1985 (WdF 608), S. 134–159, S. 156 (zu Ulrich von Liechten-
stein, Frauendienst, hg. v. Franz V. Spechtler, Göppingen 1987 (GAG 485), Str.
775,4ff.); Peter Göhler, »Textabwandlung in der Minnelyrik Walthers von der
Vogelweide«, in: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition, hg. v. T. Bein,
Berlin/New York 1999, S. 125–139, S. 128–130 (erklärt einige Textveränderungen
dadurch, dass ein anderer als der Autor die Lieder vorgetragen hat). Mit einem
ähnlichen Vorgang bei anderen Minnesängern rechnen Max Schiendorfer, »Hand-
schriftliche Mehrfachzuweisungen: Zeugen sängerischer Interaktion im Mittel-
alter? Zu einigen Tönen namentlich aus der Hohenburg-, Rotenburg- und Walther-
Überlieferung«, Euphorion 79, 1985, S. 66–94; Thomas Bein, »Der ›offene‹ Text –
Überlegungen zu Theorie und Praxis«, in: Quelle – Text – Edition, hg. v. A.
Schwob/E. Streitfeld, Tübingen 1997, S. 21–35, bes. S. 33. Hausmann, Reinmar
(Anm. 9), S. 341, führt die Reinmar-Rugge-Vermischung auf eine Unsicherheit des
C-Schreibers zurück, muss aber immerhin einräumen, dass bei zwei Tönen die
Zuschreibungsdivergenz weiter zurückreicht.
38 Gisela Kornrumpf, »Heidelberger Liederhandschrift A«, in: VL2, Bd. 3, 1981, Sp.
577–584, Sp. 582. Vgl. auch Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidel-
berger Liederhandschrift, hg. und erläutert v. I. F. Walther, Frankfurt a. M. 1988,
S. 222 (zu Niune), S. 256 (zu Kunz von Rosenheim), S. 258 (zu Rubin).
39 Den möglichen Einwand, dass die fahrenden Sänger, Angehörige eines sozial
niederen Standes, nicht zu Identifikationsfiguren für die Aussagen eines adlig-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 107
c. Narrative Texte des 13. Jhs. bieten Szenen, in denen Adlige oder auch
Spielleute die Lieder von Dritten vortragen, dabei sich selbst mit dem Text-
Ich identifizieren. Bekanntestes Beispiel ist der Guillaume de Dole ou Le
Roman de la rose von Jean Renart (zwischen 1210 und 1228 entstanden).40
Da man annehmen darf, dass sich die Darstellung der Dichtung nicht
gänzlich von den damaligen Möglichkeiten entfernt hat, ohne insgesamt
unglaubwürdig zu werden, ist dies ein (weiterer) Beleg dafür, dass die
Sängerrolle nicht für Autoren reserviert war. Damit aber werden die Aus-
sagen des Text-Ichs eines Liedes als vom Autor ablösbar gedacht.
d. Auch der Stricker fokussiert in seiner parodistisch-satirischen Dar-
stellung höfischen Minnesangs nicht auf die Autoren, sondern auf die Sänger
von Liebesliedern, die er mit ihrem Sang um Liebe bei der Burgherrin
werben lässt.41
e. In der okzitanischen Lyrik scheint der Abstand zwischen ›Textprodu-
zent‹ und vortragendem Sänger deutlicher markiert zu sein als im deutschen
Minnesang,42 damit aber auch das Bewusstsein stärker ausgeprägt zu sein,
dass der Sänger das von einem ›Autor‹ verfertigte Lied vorträgt. Einige
Trobadors fordern explizit Jongleurs auf, die von ihnen verfertigten Lieder
sorgfältig zu erlernen, äußern aber zugleich Bedenken, diese könnten ihre
höfischen literarischen Genres werden konnten, möchte ich durch den Hinweis auf
das Nebeneinander von Berufssängern und Adligen in der okzitanischen und
deutschen Liedproduktion entkräften. Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 80 f., erwähnt
zwar, dass in manchen französischen Liederhandschriften »eine klare ikonographi-
sche Trennung zwischen den Bildtypen für adelige und für nicht-adelige Autoren
festzustellen ist«, bemerkt aber, dass in der Weingartner Handschrift B »die
sozialen Abstufungen zwischen den hochadeligen Dilettanten und den Berufs-
sängern, zwischen den Ministerialen und dem Adel [. . .] eher verwischt als betont«
werden. Reinmars und Walthers Text-Ichs repräsentierten meines Erachtens wohl
denselben Anspruch auf Vorbildhaftigkeit wie die Text-Ichs eines Friedrich von
Hausen, Rudolf von Fenis oder des Burggrafen von Rietenburg.
40 Vgl. M.-R. Jung, »L’empereur Conrad chanteur de poésie lyrique. Fiction et verité
dans le Roman de la Rose de Jean Renart«, Romania 101, 1980, S. 35–50; Volker
Mertens, »Kaiser und Spielmann. Vortragsrollen in der höfischen Lyrik«, in:
Höfische Literatur (Anm. 3), S. 455–468; Huot, From song (Anm. 30), S. 108–
116.
41 Die Kleindichtung des Strickers, hg. v. Werner W. Moelleken u. a., Bd. 5, Göppin-
gen 1978 (GAG 107 V), S. 83–97. Einerseits erwähnt der Stricker das Singen der
Werber (V. 16, 242, 245, 283 f.), andererseits lässt er sie ihre Werbung in einem
vertraulich-privaten Gespräch mit der Burgherrin vorbringen (V. 43ff., 174, 190ff.;
allerdings wird auch bei Morungen MF 151,30 f. in der Handschrift A die Verbin-
dung von intimer Zweisamkeit und Sang als Wunsch erwähnt). Zu einer gewissen
Unstimmigkeit in der Bezeichnung der Minnesänger durch Stricker vgl. Müller, Ir
sult sprechen (Anm. 7), S. 3 Anm. 5. Gottfried von Straßburg nennt im Tristan, wo
er den Minnesang vorstellt, die Namen von Autoren. Dies dürfte in einem Litera-
turkatalog allerdings nicht überraschen.
42 Händl, Rollen (Anm. 11), S. 23, hingegen geht davon aus, dass auch im deutschen
Minnesang der Autorname in der realen Aufführungssituation stets bekannt ge-
wesen sei.
108 Rüdiger Schnell
Lieder beim Vortrag entstellen.43 Die Tornadas, die sog. Geleitstrophen in der
okzitanischen Lyrik, in denen der Autor eines Liedes meist einen Gönner
bzw. eine Gönnerin nennt, sorgten wohl dafür, dass beim Vortrag eines
Liedes hinter dem joglar (Jongleur) stets der Autor als ›Produzent‹ des Textes
und damit des Text-Ichs gegenwärtig war.44 Offensichtlich machten die
Trobadors hiermit in stärkerem Maße als die deutschen Minnesänger ihren
Anspruch auf die Autorschaft eines Lieds geltend.45 Es ist allerdings daran
zu erinnern, dass die Tornadas nicht obligatorisch waren und ein gewisser
Spielraum für die Selbstdarstellung der Jongleurs bestand.46 Weiterhin ist
daran zu erinnern, dass ein sog. joglar durchaus auch eigene Lieder verfer-
tigte, damit in Konkurrenz zu einem trobador treten konnte.47 Schließlich
wird auch in der Okzitanistik für möglich gehalten, dass Trobadors die
Lieder anderer Trobadors vorgetragen haben.48 In diesen Fällen wird der
vortragende Sänger mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben als der
43 Van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 48 f.; Joseph J. Duggan, »Performance and
transmission, aureal and ocular reception in the twelfth- and thirteenth-century
vernacular literature of France«, RPh 43, 1989/90, S. 49–58, S. 54; Ulrich Mölk,
Trobadorlyrik. Eine Einführung, München 1982, S. 60 f.
44 Van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 48 f. zu einem Lied Peires d’Alvernhe. Selig,
Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Anm. 6), S. 15 f. u. 19, spricht mit Blick auf die
Tornadas davon, dass die Personalunion zwischen Autor und Rezitator eines Textes
zerbreche. Der Trobador dichte und komponiere nur noch; die Aufführung über-
trage er einem professionellen Interpreten, einem joglar. Zur Tornada und zum
Lesen bzw. Hören von Trobadorliedern vgl. auch Dietmar Rieger, »Die altproven-
zalische Lyrik«, in: Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretationen, Bd. 1,
hg. v. H. Bergner, Stuttgart 1983, S. 197–390, S. 210, 228 f. u. 357 f. Anm. 11.
Riegers Überlegungen sind noch ganz Gustav Gröbers Hypothese von der Existenz
von Liederblättern und Liederbüchern verpflichtet; dagegen aber nun van Vleck,
Memory (Anm. 6), Kap. 3 (S. 56ff.). (Inwieweit das von Eckart Conrad Lutz
edierte [Dießenhofener] Liederblatt [ca. 1400] auf eine lange Praxis zurück-
verweist, ist völlig unsicher. Skeptisch gegenüber der von Lutz angenommenen
Funktionsbestimmung des Liederblattes Franz-Josef Holznagel in seiner Rezen-
sion: Arbitrium 1998, S. 178 f.). Ob die Geleitstrophen »als Zeichen beginnender
Verschriftlichung zu verstehen« sind (Müller, »Ir sult sprechen willekomen« [Anm.
7], S. 8 Anm. 18), muss offenbleiben, da zumindest im 12. Jh. die Trobadorlyrik
mündliche wie schriftliche Produktion und Rezeption kennt.
45 Möglicherweise ist dies mit ein Grund dafür, dass in den okzitanischen Lie-
derhandschriften der biographische Bezug der Lieder zu den Autoren sehr viel
deutlicher artikuliert wurde (durch Vidas und Razos) als in den deutschen Pen-
dants. S. unten S. 125 f.
46 Vgl. William D. Paden Jr., »The role of the joglar in troubadour lyric poetry«, in:
Chrétien de Troyes and the troubadours. Essays in honor of the late Leslie
Topsfield, hg. v. P. S. Noble/L. M. Paterson, Cambridge 1984, S. 90–111.
47 In den Biographies des troubadours. Textes provencaux des XIIIe et XIVe siècles,
hg. v. Jean Boutière/A.-H. Schutz, Paris 21964, werden ca. 35 Trobadors als joglars
bezeichnet. Vgl. den Razo zu P.-C. 29,2 (Arnaut Daniel), übersetzt bei William E.
Burgwinkle (Transl.), Razos and troubadour songs, New York/London 1990,
S. 38 f.: ein joglar tritt zu einem Dichterwettstreit mit Arnaut Daniel an; vgl. auch
van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 37 f. u. 47 f.
48 D’Arco Silvio Avalle, La letteratura medievale in lingua d’oc nella sua tradizione
manoscritta, Turin 1961, S. 55; Martín de Riquer, La lírica de los trovadores,
Barcelona 1975, S. 19; Sarah Kay, »La notion de personnalité chez les trouba-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 109
Indem die einzelnen Lieder derart auf ihren ›Urheber‹ hin ausgerichtet
werden, herrscht in den beiden Handschriften ein Autorprinzip. Man muss
sich heute den Unterschied zwischen Aufführungssituation eines Liedes und
der Reihung schriftlich fixierter Lieder eines Autors erst wieder klar machen:
der Vortrag eines einzelnen Liebesliedes lässt den Sänger (in der Rolle des
Liebenden) hervortreten; der Anblick einer schriftlichen Sammlung von
Liedern lässt nach dem Produzenten dieser Texte fragen. Mir scheinen die
Zyklusbildungen von Gedichten bei Dante und Petrarca, die ja eindeutig den
Befund ›Buchlyrik‹ anzeigen, und die Reihung mehrerer Gedichte zu Auto-
55 Es ist bezeichnend, dass die Minnesang-Forschung des 19./20. Jhs. die Autoren-
sammlungen der Handschriften B und C als Liedzyklen verstanden hat (die auf
biographische Erlebnisse zurückgehen). Zum Zusammenhang von Leselyrik und
Zyklusbildung vgl. Burghart Wachinger, »Liebeslieder vom späten 12. bis zum
frühen 16. Jahrhundert«, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche
und Neuansätze, hg. v. W. Haug, Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 1–29, S. 5–
7, der allerdings den stärkeren Literarisierungsschub in der italienischen Liebes-
lyrik betont (S. 10 f.).
56 Ob vom 13. zum 15. Jh. das Interesse von Schreibern und Sammlern an Autor und
Autorschaft zu- oder aber abgenommen hat, ist bei dem heutigen Forschungsstand
nicht zu entscheiden. Jedenfalls bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den
verschiedenen Literaturbereichen (Lyrik, höfischer Roman, Heldenepik, Kurz-
erzählungen, geistliches Gebrauchsschrifttum, Sachliteratur). Neben dem ›Autor‹
bilden Gattung und Alphabet wichtige Ordnungsprinzipien in Liederhandschriften.
Zwar darf vermutet werden, dass die Liedüberlieferung mit ihren Autorrubriken
eine Vorreiterrolle gespielt hat, doch das 15./16. Jh. kennt auch nicht autorbezo-
gene Liedsammlungen. Vgl. zuletzt Huot, From song (Anm. 30), S. 47 f. u. 211ff.
(zur Dominanz des Autor-Prinzips in der nordfranzösischen Lyrik-Überlieferung);
Wachinger, Autorschaft (Anm. 30), bes. S. 6 f. u. 12–14 (die Zeugnisse eines
Interesses am Autor würden vom 12. bis zum 15. Jh. zunehmen); ders., Liebes-
lieder (Anm. 55), S. 11 (zum Desinteresse am Autor in der Liedüberlieferung des
15./16. Jhs.); Tervooren, Die Haager Liederhandschrift (Anm. 32), S. 199–202
(zum Nebeneinander von anonymer und autororientierter Überlieferung im
15. Jh.); Johannes Spicker, »Singen und Sammeln. Autorschaft bei Oswald von
Wolkenstein und Hugo von Montfort«, ZfdA 126, 1997, S. 174–192 (mit differen-
zierten Ergebnissen: Hugo stilisiere sich als Autor, Oswald hingegen als Sänger);
Thomas Bein, ›Mit fremden Pegasusen pflügen‹. Untersuchungen zu Authentizitäts-
problemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998 (Philo-
logische Studien und Quellen 150), S. 30ff. u. 201ff. (zu anonymen Werken und
Autorzuweisungen); Christoph März, Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salz-
burg. Texte und Melodien, Tübingen 1999 (MTU 114), S. 3 (zur nicht autorzen-
trierten Lyrik-Überlieferung); Franz-Josef Holznagel, »Autorschaft und Überliefe-
rung am Beispiel der kleineren Reimpaartexte des Strickers«, in: Autor und
Autorschaft (Anm. 17), S. 164–184 (zur autorbezogenen Überlieferung beim Strik-
ker, einem Sonderfall innerhalb der Überlieferung von Kleinepik).
57 Als meditierende oder diktierende bzw. schreibende Dichter erscheinen die ›Au-
toren‹ auf den Tafeln 10, 16, 45, 124 bzw. 58, 96, 112, 121 und 124. Der Kürze
wegen nenne ich nicht die Autorennamen, sondern nur die Bild-Nummern; dabei
beziehe ich mich auf Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger
Liederhandschrift, hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit v. G. Siebert,
Frankfurt a. M. 1988.
112 Rüdiger Schnell
Lieder vor einem Publikum vorträgt.58 Dieser Befund lässt einerseits Skepsis
aufkommen gegenüber der Vorstellung vom Minnesang als eines vor allem
dichterischen Wettstreits,59 provoziert aber zugleich die Frage, ob nicht
vielleicht gerade die Schriftlichkeit des Minnesangs in den Handschriften B
und C eine solche ›Aussparung‹ der Sängerfunktion verursacht hat. Jeden-
falls wird zu fragen sein, inwieweit die autorbezogene Einrichtung der
Handschriften B und C einerseits und die Dominanz der Minnerrolle in den
›Autorenbildern‹ andererseits die Referenz für das Text-Ich bestimmen, und
zwar – im Vergleich mit einem Liedvortrag – anders bestimmen.60
Exkurs zur Relation von Minnethematik und Sangesthematik auf den Miniaturen der
Handschrift C
Meiner Auffassung, auf den Autorenbildern dominiere die Darstellung des Minne-
handelns, das Sangesthema trete zurück, ließe sich entgegenhalten, dass einige der
Miniaturen, die den Dichter im Beisein von Damen zeigten, diesem eine Schrift-
rolle zur Seite stellten. Diese Schriftrollen indizieren nach Sylvia Huots und
Michael Curschmanns Auffassung die lyrisch-orale Kommunikation mit der Dame,
ja sie würden sogar »Dichtung als Aufführungskunst« assoziieren.61 Somit würden
62 Gruber, Singen und Schreiben (Anm. 6), S. 35–51; Rieger, Hören und Lesen (Anm.
6), S. 78–91, bes. S. 84–86; ders., »Senes breu de parguamina ? Zum Problem des
›gelesenen Lieds‹ im Mittelalter«, RF 99, 1987, S. 1–18, bes. S. 3–5; van Vleck,
Memory (Anm. 6), S. 41–45. Als literarisches Motiv erscheint es auch in Ulrichs
von Liechtenstein Frauendienst (Anm. 37), Str. 74 (Vorlesen), 165 (Bote bringt
Brief, in dem diu liet aufgezeichnet sind), 403 (Bote singt im Auftrag des Minners
dessen Lieder). Bei Hausen MF 51,23 und bei Bernger von Horheim MF 113,33
bleibt undeutlich, wie man sich das ›Senden der Lieder‹ an die Dame vorzustellen
hat. Rudolf von Rotenburg (KLD 49, Nr. 12, Str. 4 u. 5; in Hs. A auch unter
Walthers Namen überliefert) will seine neuen Lieder seiner Dame durch einen
Boten schriftlich überbringen lassen (ders ir wîzen henden / schône bringe und ir
ze boten gezeme, 4,5 f.), zugleich aber sie der Dame vorsingen lassen (sôs ir alle
bringent / mînen süezen sanc / und in schône singent, 5,3–5). Dieses Miteinander
von Schriftlichkeit und Mündlichkeit beim ›Überbringen‹ eines Liedes begegnet
auch beim Taler (SMS 25, Nr. 4 Str. 1; allerdings bleibt offen, ob Lied und Brief
denselben Inhalt haben).
63 Im Gegensatz zu Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 222,
der den Schriftlichkeitscharakter einer reduzierten Form der Pergamentrolle unter
Hinweis auf deren Verwendung, die »sich ganz auf Verständigung im Bereich des
Amourösen beschränkt«, bestreitet. Man wird einwenden, dass sich literarische
Konventionen nicht gegen ikonographische Traditionen aufrechnen lassen. Doch
wäre erst noch zu klären, ob sich das Bildinventar in den Lyrikhandschriften
ausschließlich von der religiös-geistlichen Deutungstradition her bestimmen lässt,
wie es Curschmann suggeriert. Curschmanns Berufung (ebd. S. 223) auf Sylvia
Huots Studien zu französischen Liederhandschriften verkennt einerseits, dass
Huots – im großen Ganzen sehr wertvolle – Deutungsversuche (Huot, From song
[Anm. 30], S. 78 f.: die Schriftrolle indiziere »orality«, sie sei ein ikonographisches
Motiv, das den mündlichen Vortrag eines Liedtextes anzeige) im Detail nicht über
allen Zweifel erhaben sind, und übersieht andererseits, dass Huots sehr komplexes
Bildmaterial die These Curschmanns nicht generell stützt. Vgl. die Kritik an
Curschmann bei Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 83 f. und Cramer, Waz hilfet (Anm.
6), S. 26–29.
64 Holznagel, Wege (Anm. 23), betont – wie übrigens auch Wachinger, Autorschaft
(Anm. 30), S. 13 f. – den Doppelaspekt der Autorenbilder: auf den Gesprächs- und
Botenbildern werde der Minnesänger nicht als Autor, sondern als »höfische Person
im Minnedienst« abgebildet (S. 73); auf dem Bildtyp mit Schreibutensilien oder
Pergamentstreifen werde der Minnesänger als Autor dargestellt, in einer Art
»Umdeutung der Autorrolle« durch die Maler (Holznagel, S. 72 Anm. 251, S. 83 u.
88): die Autorrolle wandle sich »vom Sänger im Rahmen einer mündlichen
Unterhaltungskultur zum Verfasser von schriftlich fixierten Liedtexten«. (Die
Relation der beiden Bildtypen erörtert Holznagel allerdings nicht.) Gegen Wach-
inger und Curschmann meint aber Holznagel in den Handschriften B und C eine
Autorvorstellung erkennen zu können, die im Bereich der Schriftlichkeit anzu-
siedeln sei (S. 72 u. 83 f.). Dieser Auffassung schließe ich mich an.
114 Rüdiger Schnell
65 Bäuml u. a., Roll and codex (Anm. 21), S. 192–231 u. 317–330; Martin Steinmann,
»Das Basler Fragment einer Rolle mit mittelhochdeutscher Spruchdichtung«, ZfdA
99, 1988, S. 296–310 zu einem Rollenfragment (ca. 1300).
66 Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 222.
67 Dass schmale Pergamentrollen möglicherweise von englischen fahrenden Sängern
zum Vortrag verwendet wurden, vermutet trotz seiner allgemeinen Skepsis gegen-
über der These von ›Spielleute-Handschriften‹ Andrew Taylor, »The myth of the
minstrel manuscript«, Speculum 66, 1991, S. 43–73, bes. S. 67–70.
68 So Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 223.
69 Dies im Gegensatz zu frz. Handschriften, vgl. unten Anm. 74. Zu möglichen
Gründen Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 82 f. (Assoziation zu fahrenden Schau-
stellern sollte vermieden werden; eine veränderte Festkultur habe den Liedvortrag
zugunsten anderer Repräsentationsformen zurückgedrängt).
70 Freilich ist die Vorstellung, der Minnesänger trage sein Lied allein seiner Dame
vor, in der ma. Literatur nicht unbekannt; vgl. oben Anm. 41. Genauso verbreitet
ist aber die Vorstellung, ein Minnesänger lasse seiner Dame ein Lied schriftlich,
d. h. in Form einer Pergamentrolle, zukommen (Gruber, Singen und Schreiben
[Anm. 6], passim). Demzufolge ließen sich die Schriftbänder auf den Botenbildern
der Hs. C eben doch als Zeichen der Schriftlichkeit lesen.
71 Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 222 Anm. 39 räumt für
drei Szenen (Tafeln 58, 112, 120) durchaus eine Schriftlichkeitsfunktion der
Schriftrolle ein (obwohl auch dort die Rollen unbeschriftet sind).
72 Umgekehrt kann aber auch der Brief für eine mündlich vorgetragene Werbung
stehen (Tafel 88).
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 115
45, 124). Mir scheint damit eine plurale Funktion bzw. ein verschiedene Ab-
stufungen von Schriftlichkeit anzeigender Status der Schriftrollen eher gegeben zu
sein als eine ausschließliche Fixierung auf die lyrisch-orale Rolle des Minne-
sängers.
5. Auf zahlreichen Miniaturen, die den Dichter mit Frauen abbilden, fehlt die
Schriftrolle: Tafeln 5, 6, 8, 11, 20, 22, 24, 27, 29, 30, 31, 35, 46, 48, 49, 55, 56, 57,
59, 63, 64, 68, 76, 77, 80, 81, 82, 85, 86, 87, 89, 91, 93, 94, 97, 98, 99, 103, 106,
107, 109, 111, 125, 128. Hier sind tatsächlich Minne und Sang ›entkoppelt‹. Der
Verfasser ist hier ›nur‹ als Liebender, nicht als Sänger oder Textproduzent abge-
bildet.73
6. Auch wenn man die These von der Schriftrolle als Indikator mündlicher
Kommunikation akzeptieren sollte, ist dennoch der Unterschied zwischen der
öffentlichen Aufführung eines Minneliedes, wie sie sich die Mediävistik als Nor-
malfall vorstellt, und einem von merchaeren unbemerkten ›privaten‹ Liedvortrag
vor der Dame, wie er angeblich auf den Autorenbildern dargestellt ist, zu be-
achten.74 Auch die ›Aufführungssituation‹ eines Liedes scheint sich infolge des
medialen Wechsels verändert zu haben: Sie wird aus dem gesellschaftlich-öffentli-
chen in den persönlich-privaten Bereich verlegt. Auf das Textverständnis, d. h. auf
die Einschätzung von Identifikation oder Fiktion der Sänger- und Minnerrolle wird
diese Verschiebung nicht ohne Folgen gewesen sein.
Als Ergebnis dieses Exkurses wird man festhalten können, dass sich in den
zahlreichen Verfassersignaturen der Handschriften B und C eine Autorvorstellung
dokumentiert, die weniger mit der mündlichen Vortragssituation von Minnesängern
zu tun hat und die sich stattdessen eher an schriftliterarische Kommunikations-
situationen anschließen lässt.
73 Hier deckt sich meine Einschätzung mit der von Holznagel, Wege (Anm. 23),
S. 73. Bei Huot, From song (Anm. 30), S. 53–64, finden sich hingegen ikonogra-
phische Belege für die Verbindung von Trouvère und Schriftlichkeit. Aufschluss-
reich und als Kontrast zu den deutschen Liederhandschriften erhellend ist die
Tatsache, dass in der französischen Liederhandschrift Paris BN fr. 1586, fol. 173,
eine Vortragsszene abgebildet wird. Hier erscheint die Schriftrolle in der von
Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 223, bestrittenen Funk-
tion: als Aufführungsmanuskript: Der ›Autor‹, hier als Sänger und dennoch eine
beschriftete Schriftrolle in der Hand haltend, trägt einer Gruppe von Damen seine
Lieder vor. Dieses Bildmotiv stand also zur Verfügung (vgl. auch die Vortrags-
szenen in Handschrift Paris BN fr. 25 566 [fol. 89v u. 127], die nur Gedichte von
Adam de la Halle überliefert, und in der Trouvère-Liederhandschrift O, Hand-
schrift Paris BN fr. 846; dazu Huot, From song [Anm. 30], S. 67 f. bzw. S. 74–80).
Umso aussagekräftiger ist das Fehlen eines solchen Szenentypus in den deutschen
Lyrikhandschriften (das Tanzbild, Taf. 46, ist kaum vergleichbar).
74 Von einem solchen Liedvortrag vor der Dame allein wissen Morungen (MF
131,27–31 in Handschrift A) und der Stricker, Minnesänger (vgl. oben Anm. 41).
Zu okzitanischen Parallelen vgl. Gruber, Singen und Schreiben (Anm. 6).
116 Rüdiger Schnell
zu präzisieren. Dem Text-Ich in der Funktion der Sängerrolle rechne ich die
Aussagen eines Liedes zu, mit denen das Text-Ich auf Sachverhalte hinweist,
die nichts mit der ›eigenen‹ Liebesbeziehung zu tun haben bzw. mit denen es
seine Sänger-Funktion reflektiert (etwa über Erfolg oder Misserfolg seiner
Sangeskunst beim fingierten Publikum oder bei der Dame nachdenkt) und
die sich somit auch auf die Aufführungssituation beziehen (lassen!).79 Von
Text-Ich in der Funktion der Minnerrolle spreche ich dort, wo das Text-Ich
vornehmlich seine Beziehung zur geliebten Person ausspekuliert und dabei
den Eindruck erweckt, hier monologisiere ein Ich über seine intim-private
Liebesbeziehung.
Der Versuch einer systematischen Abgrenzung verschiedener Liedtypen
mitsamt der Frage nach deren je unterschiedlicher Rezeption in Aufführung
und Liederhandschrift muss freilich mit der Möglichkeit rechnen, dass beim
Lesen mehrerer Lieder die unterschiedlichen Relationierungen von Sänger-
und Minner-Rolle aus der Perspektive des Lesers verschwinden bzw. einge-
ebnet werden und sich somit eine durchgängige Auffassung für alle Lieder
einstellt. Dann könnte sich die Mühe, unterschiedliche Liedtypen auf je
unterschiedliche Rezeptionsmodi zu befragen, als historisch wenig relevant
erweisen. Doch ermöglicht der hier vorgelegte Versuch überhaupt erst eine
Aussage über Hierarchisierungen von Liedtypen beim Rezeptionsverhalten
gegenüber den Texten der Liederhandschriften.
Dass mein Frageansatz mit einer textuellen Schieflage zu kämpfen hat, sei
eingestanden: Denn ich frage nach den je unterschiedlichen Referenzialisie-
rungen eines Minneliedes in der Aufführungssituation und in der schrift-
literarischen Rezeption der Liederhandschriften, besitze aber nur Texte in
schriftlicher Form. Es wäre ja immerhin denkbar, dass in der Verschrift-
lichung der Lieder alle Merkmale der Mündlichkeit beseitigt wurden. Dann
könnten aber von der Schriftlichkeit her keine Aussagen über Rezeptionsvor-
aber unter »Performanz-Ich« den realen Sänger versteht (oder doch bloß die Rolle,
die der vortragende Sänger spielt?). Mertens differenziert also nicht grundsätzlich
zwischen Minner- und Sänger-Rolle eines einzigen Text-Ichs, sondern zwischen
»Text-Ich« und »Sänger-Ich« (S. 393).
79 Vielleicht ist die uneinheitliche Terminologie in der Forschung ein Indiz für das
Faktum, dass sich scharfe Abgrenzungen nicht durchgängig durchführen lassen. So
können sich etwa Überschneidungen ergeben zwischen dem äußeren Kommunika-
tionsrahmen (der Kommunikation zwischen realem Sänger und realem Publikum)
und dem inneren Kommunikationsrahmen (der Kommunikation zwischen dem
Text-Ich [das ja auch in der Sängerrolle auftreten kann] und den textinternen
Adressaten [die als umworbene Dame, aber auch als ›Publikum‹ erscheinen
kann]). Ohne es zu merken, gibt Claudia Händl dort, wo sie von der »Ich-Rolle des
Sängers« spricht (Rollen [Anm. 11], S. 34ff.), die von ihr zuvor so strikt durch-
geführte Abgrenzung von interner Sprechsituation und externer Rezeptionsebene
auf. (Auf S. 67 f. u. 76 erwähnt sie allerdings mögliche Übergänge zwischen Text-
und Rezeptionsebene.) Auch bei Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7), S. 390,
verschwimmen die Grenzen zwischen (Aussagen in) interner Sprechsituation und
(Reaktion auf) textexterner Rezeptionsebene. Dieser Hinweis ist nicht als Kritik zu
verstehen, sondern als Beleg für das von den Texten provozierte Zusammensehen
von textinterner und textexterner Kommunikationssituation aufzufassen.
118 Rüdiger Schnell
gänge beim mündlichen Vortrag gemacht werden. Doch die bislang be-
kannten Abweichungen zwischen bzw. Varianten in den verschiedenen Lie-
derhandschriften legen nicht die Annahme nahe, sie verdankten sich einer
generellen Absicht der Schreiber, Merkmale der Mündlichkeit tilgen zu
wollen.80 Freilich mögen einige Veränderungen in der Überlieferungsge-
schichte eines Liedes durch infolge der Verschriftung aufgetretene Unklar-
heiten in der Referenzialisierung einer Aussage bedingt sein. Doch die
textuelle Konstanz vieler Lieder in den verschiedenen Liederhandschriften
spricht gegen die Annahme, der Text der mündlich vorgetragenen Lieder sei
wesentlich von dem der schriftlich überlieferten Fassungen abgewichen.
Dennoch, ein Rest an Unsicherheit bleibt.
die Strophen mit weiblichem Text-Ich auf die weibliche Gestalt bezogen
werden.88 Die Doppelfunktion des vortragenden Sängers konnte sich somit
bei der Lektüre auf zwei Referenzträger verteilen. Man muss sich bewusst
halten, dass beim Vortrag von Wechseln oder von Frauenstrophen eine
ständige Spannung zwischen dem männlichen realen Sänger (und der mut-
maßlichen männlichen Sängerrolle) einerseits und der weiblichen Liebenden-
Rolle herrschte. Diese Diskrepanz zwischen vortragendem Sänger und fin-
gierter weiblicher Stimme ging im schriftlichen Text verloren. Die Über-
blendung verschiedener Sprech- wie Rollenebenen beim Vortrag machte in
der schriftlichen Fassung einem Nebeneinander von männlicher und weib-
licher Sprecherrolle Platz. Mündliche Mehrschichtigkeit, ermöglicht durch
Simultaneität von körperlich präsentem Sänger und fingierter weiblicher
Minner-Rolle, wird auf eine schriftliche ›Einstimmigkeit‹ reduziert: Es
spricht allein eine weibliche Person.89 Der Sänger als ›Sprachrohr‹ bzw.
Mittelsmann fehlt. Das bedeutet zugleich, dass sich bei der schriftliterari-
schen Rezeption der fiktionale Status der weiblichen Rede verflüchtigt und
diese denselben Realitätsstatus erlangt wie die Aussage des männlichen Text-
Ichs. So wird verständlich, dass die Minnesang-Philologie des 19./20. Jhs.
auf den Gedanken verfiel, die Frauenstrophen könnten tatsächlich von
Frauen gedichtet bzw. vorgetragen worden sein. Der schriftliterarische Re-
zeptionsmodus hat (auch) das neuzeitliche Verständnis dieser Texte be-
stimmt.
Für diesen Typ von Liedern ist also der unterschiedliche Rezeptionsmodus
(Vortrag, schriftliterarische Rezeption) nicht ohne Folgen geblieben.
Sang und Liebe so: ich singe unde sunge, betwunge ich die guoten, / daz mir
ir güete baz tete. si ist guot (MF 115,32 f.). Singen erscheint als Werbung,
Lieben ist Singen.91 Dies ist ein weiterer Indikator für die Doppelgerichtet-
heit der Minnelieder: Rede zur Dame und Rede zum Publikum.
Wenn das Text-Ich die Sänger- und Minnerrolle in sich vereinigte, konnte
bei der Aufführung eines Liedes der vortragende Sänger durchaus mit dem
Text-Ich gleichgesetzt werden. Denn der ›Sänger-Anteil‹ am Text-Ich ermög-
lichte eine identifikatorische Anbindung an den vortragenden Sänger. Der
körperlich präsente Sänger konnte glaubhaft die Sängerrolle als unmittelbare
Äußerung ausgeben: Mit sange wânde ich mîne sorge krenken. / dar umbe
singe ich, daz ich sî wolte lân (MF 81,30 f.) beginnt Rudolf von Fenis eines
seiner Lieder. Zugleich konnte er für die Glaubwürdigkeit der textuell
inszenierten vorbildlichen Minnehaltung einstehen. Allerdings ist damit zu
rechnen, dass die unterschiedlich starke Anbindungsmöglichkeit von Sänger-
und Minnerrolle an den realen Sänger für Unsicherheiten auf seiten des
Publikums gesorgt hat: Dort, wo das Text-Ich »ich singe« sagte, konnte sich
eher eine Identifizierung des realen Sängers mit diesem Text-Ich einstellen
als dort, wo das Text-Ich ein »ich liebe« äußerte.92
Dieser Ambivalenz von eher fiktional geprägter Minnerrolle und eher zur
Identifikation einladender Sängerrolle scheinen die Dichter zugearbeitet zu
haben.93 Denn zahlreiche Lieder legen es geradezu darauf an, die Identifika-
tion von realem Sänger und Text-Ich zu provozieren.94 Walther von der
Vogelweide schließt das Lied Kan mîn frouwe süeze siuren? (La 69,22) mit
einer vor ›Selbstbewusstsein‹ strotzenden Warnung ab: dû solt aber einez
wizzen, / daz dich rehte lützel ieman baz danne ich geloben kan.95 Eine
einzige den Vortrag begleitende Geste – der Sänger zeigt mit dem Zeige-
finger auf sich – lässt im Schlussvers die Trennung zwischen Sängerrolle und
realem Sänger kollabieren. Aus der Fiktion wird Identifikation. Man wird
einwenden, bei Walther näherten sich Sängerrolle und Sänger ohnehin stark
an.96 Doch gibt es ähnliche Belege bei anderen Dichtern. In Hausens Lied
Ich denke underwîlen (MF 51,33) reflektiert das Text-Ich über räumliche
Nähe und Ferne zur Dame, beklagt seinen kumber und kontrastiert dann
Ende der 3. Strophe den Schmerz zu Hause mit dem in der Fremde: mir was
dâ heime wê / und hie wol drîstunt mê (MF 52,26 f.). Wieder genügt eine
einzige Geste – die rechte Hand zeigt beim Wort hie auf die Erde, auf der der
vortragende Sänger steht –, um die Identifikation zwischen Sänger und
Sängerrolle zu suggerieren. Natürlich wird dieses Durchbrechen des fiktio-
nalen Status der Sängerrolle von den Zuhörern als raffiniertes Spiel durch-
schaut worden sein. Doch das Umspielen der Grenzen von Fiktion und
Identifikation setzt die Möglichkeit der Identifizierung voraus.97 Eben das
Vorhandensein dieser Möglichkeit verführt Friedrich von Hausen dazu, das
Text-Ich eines weiteren Liedes (MF 45,1) biographisch zu konkretisieren,
indem er, der auf einem Italienzug sich befindet, die Ferne zur Heimat
beklagt.98 Im Leich Ulrichs von Gutenburg (MF 69,1) kann der Sänger bei
dem Vers Ich wil iu mînen willen sagen (76,28) durch eine Geste gegenüber
dem Publikum die Trennung zwischen sich und dem Text-Ich aufheben,
genauso wie der Sänger in Reinmars Lied Niemen seneder suoche an mich
deheinen rât (MF 170,36), wenn er in einem Vers schon der ersten Strophe
93 Sollte ein Sänger bei einer Aufführung mehrere Lieder mit unterschiedlicher
Minner-Rolle vorgetragen haben, wird der fiktionale Status der Minner-Rolle
verstärkt worden sein.
94 Wer die Vorstellung von Aufführung von jeglicher Liedinterpretation fernhalten
möchte, übersieht eine wesentlich spielerische Komponente des Minnesangs, d. h.
die intendierten Ambivalenzen von Fiktionalität und Identifikation.
95 Ich folge hinsichtlich der Strophenfolge und Lesart der Fassung AC, wie sie
abgedruckt ist in Walther von der Vogelweide. Werke, hg. v. Günther Schweikle, Bd.
2: Liedlyrik, Stuttgart 1998, S. 368–372.
96 Ein eindrucksvolles Beispiel für Walthers Spiel mit Identifikation und Fiktion
stellt das Lied Nemt, frouwe, diesn kranz (La 74,20) dar; vgl. dazu Thomas Bein,
Walther von der Vogelweide, Stuttgart 1997, S. 131 f.; Scholz, Walther (Anm. 12),
S. 125 f.
97 Hierin gehe ich mit Jan-Dirk Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7) zusammen.
98 Hier lässt sich sogar von einer Gleichsetzung von Autor und Text-Ich sprechen;
vgl. Jeffrey Ashcroft, »Renovatio amoris – Translatio imperii. Hausen und Ae-
neas«, in: Mittelalterliche Lyrik (Anm. 5), S. 57–84, bes. 75–78 (einigen Argumen-
ten Ashcrofts vermag ich allerdings nicht zu folgen).
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 123
singt: ich solte iuch (iu) klagen die meisten nôt (170,40). Hier wird die
Grenze zwischen Identifikation und Fiktion von der Gestik des Sängers
bestimmt, nicht nur vom Text des Autors.
Dass mit solchen Gleichsetzungen von textexternem Sänger und textinter-
nem Sänger (bzw. Minnerrolle) gerechnet wurde, belegen einige Texte, in
denen mit der Gleichsetzung von Sänger-/Minnerrolle und realem Sänger ein
witziger Effekt erzielt wird. Hinlänglich bekannt und deshalb hier nicht
weiter vorzuführen ist die witzig-kritische Darstellung des Minnesänger-
wesens durch Stricker in der Reimpaardichtung Die Minnesänger.99 Der
Stricker attackiert Minnesang und Minnesänger, indem er sie biographisch-
alltagsweltlich deutet: als Versuch unsittlicher Männer, die Ehefrauen ehren-
werter Burgherren zu verführen.100 Das Fiktive wird als Reales ausgegeben.
Die literarische Kunstübung der Minnesänger gerät bei Stricker zur kri-
tikwürdigen Lebenspraxis. Damit schiebt der Stricker eine Fiktionalitätskon-
vention beiseite: Der literarische Vortrag wird als tatsächliche Werbung
verstanden. Sängerrolle und realer Sänger werden gleichgestellt.101 Mit Jan-
Dirk Müller bin ich der Auffassung, dass dieser »Austausch des Geltungs-
anspruchs von fiktionaler und referentialisierend-pragmatischer Rede« nur
möglich war, weil damals Sängervortrag und insinuierende Werbung offen-
sichtlich (noch) nicht prinzipiell unterschiedlichen Bereichen zugeordnet,
Ernst und Spiel noch durchlässig gegeneinander waren.102 Nur deshalb
gelang das Hinüberspielen der fiktionalen Sängerrolle in den Bereich der
›Alltagswelt‹, d. h. die parodistische Gleichsetzung von Sängerrolle, Minner-
rolle und realem Sänger.
Es stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit sich die Referenzialisie-
rungsmöglichkeiten, die in der Aufführungssituation gegeben waren, auch in
der schriftliterarischen Rezeption behaupten können. Zunächst ist daran zu
erinnern, dass der textinternen Sängerrolle mit dem Fehlen des körperlich
präsenten Sängers ein möglicher Referenzpunkt abhanden kommt. Damit
entfällt aber auch die spannungsvolle Reibung zwischen der Minnerrolle (mit
Nähe zur Fiktionalität) und Sängerrolle (mit Nähe zur Identifikation mit dem
realen Sänger). Nun, in der schriftlichen Darbietung werden die Unterschiede
eingeebnet und beide Rollen finden ihren Referenzpunkt im Autor, der
unübersehbar das Organisationsprinzip der Handschriften B und C bildet.
Während beim Vortrag die Minnerrolle durch einen realen Sänger vermittelt
wurde und dabei an fiktionalem Status gewinnen konnte, fehlt nun in der
schriftlichen Präsentation diese Vermittlungsinstanz und damit die vielfälti-
gen Möglichkeiten von Identifizierung und Fiktionalisierung. Jetzt nimmt
der Rezipient den Text un-vermittelt entgegen. Wo im Vortrag noch ein
Gemisch aus Authentizität und Fiktionalität zu erleben war, stellt nun der
Rezipient eine eindeutige Identifikation zwischen Text-Ich und Autor her.
Gestützt wird dieses Textverständnis einerseits durch Bildszenen, in denen
der Autor der Liebende ist, andererseits durch Miniaturen, auf denen der
Liebende mit Signalen der Schriftlichkeit bzw. Textproduktion umgeben ist
(s. o.). Somit erscheinen die Aussagen des Textes als poetische Umsetzung
biographisch dokumentierbarer Erlebnisse. Wo im Vortrag die Sängerrolle
und die sängerische Kompetenz die Szene beherrschte, dominiert nun die
Minnerrolle oder besser: der Autor als Liebender. Dem Autor als Liebenden
wird der fiktionale Status der Minnerrolle, den diese noch beim Vortrag
besessen hatte, genommen:103 weder lässt er die Minnerrolle spielen noch
spielt er die Rolle des Liebenden,104 sondern er ist der Liebende.105
103 Dem Einwand, auch beim Lesen eines Minneliedes könne doch der fiktionale
Status des Sängers ›erinnert‹ werden, indem sich der Leser bewusst mache, dass
der Autor früher einmal dieses Lied gesungen und dabei die Minnerrolle fingiert
habe, ließe sich entgegenhalten: Die Erinnerung an den früheren Sänger, der
dieses Lied gesungen hat, wird bestimmt von der Wahrnehmung der abgebildeten
Autorfigur. Der Rückblick auf den Vortragsvorgang kann sich nicht mehr von der
Autor-Instanz lösen. Dies macht die ›Unhintergehbarkeit‹ der Autor-Instanz deut-
lich, die der Minnesang-Forschung so große Schwierigkeiten bereitet(e).
104 Dass einzelne Autorenbilder den Eindruck erwecken, hier spiele der Dichter eine
Rolle, soll nicht bestritten werden. So legt z. B. das Autorenbild Engelharts von
Adelnburg, das den Dichter mit einem von einem Minnepfeil durchbohrten
blutenden Herzen zeigt (Tafel 57), eine metaphorische Deutung nahe (zum Motiv
vgl. Manfred Kern, »Amors schneidende Lanze. Zur Bildallegorie in Willehalm
25,14ff., ihrer Lesbarkeit und ihrer Rezeption im späthöfischen Roman«, DVjs
73, 1999, S. 567–591; Hildegard Elisabeth Keller, »Gott im Visier. Zur Konstruk-
tion allegorischer Weiblichkeit in Text und Bild beim Motiv der Liebesaggres-
sion«, in: Manlîchiu wîp, wîplîche man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Kör-
per‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. I.
Bennewitz/H. Tervooren, Berlin 1999 (ZfdPh, Beiheft 9), S. 204–226; ein ähn-
liches Bildmotiv zeigt der burgundische Chansonnier O [Ende 13. Jh.], fol. 21v,
vgl. Huot, From song [Anm. 30], S. 75). Andererseits stellen zahlreiche Bilder
aber ›Realität‹ vor (Tafeln 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 15, 16, 18, 19, 21,
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 125
22, 25, 28, 29, 32, 33, 35, 39, 41 u. ö.); von Rollencharakter kann hier keine Rede
sein. Die in den Autorenbildern nachweisbare Tendenz zur Aktualisierung (bei
Kleidung und Wappen) legt ebenfalls die Annahme nahe, hier solle ein möglichst
›realistisches‹ Autorbild entworfen werden; vgl. Holznagel, Wege (Anm. 23),
S. 82.
105 Wachinger, Autorschaft (Anm. 30), S. 13 f. betont die Korrespondenz zwischen
Bildprogramm und Doppelaspekt der Minnelieder: Beide Male erscheine der
Dichter als Autor und/oder als Liebender. Demgegenüber möchte ich auf die
Differenzen zwischen den Minneliedern als Gegenstand einer Aufführung und
den verschrifteten Minneliedern aufmerksam machen: a. auf den Unterschied
zwischen Sänger (Aufführung) und Autor (Schrift); b. auf das unterschiedliche
Fiktionalitätsniveau: der Sänger (beim Vortrag) spielt den Minner; der Autor (in
der Handschrift) ist der Minner. Die Vidas und Razos zu den Liedern der
Trobadors zeigen dasselbe Textverständnis: der Autor ist der Liebende (vgl. mehr
unten nach Anm. 105); c. auf die unterschiedliche Räumlichkeit (vorherrschende
Öffentlichkeit des Liedvortrags vs. dominante privat-intime Szenerie in der
Schrift).
106 Zu den Razos umfassend jetzt William E. Burgwinkle, Love for sale. Materialist
readings of the troubadour razo corpus, New York/London 1997 (der allerdings,
ganz anders als etwa Ulrich Mölk, in den Razos eine anti-idealistische Per-
spektive zu erkennen glaubt).
126 Rüdiger Schnell
Roca Martina, die Gattin Herrn Barrals, des Gebieters von Marseille, der
Peire Vidal um seines trefflichen Dichtens und um der holden Torheiten, die
er redete und tat, freundlicher gesinnt war als irgendwem auf Erden; und sie
nannten sich gegenseitig ›Rainier‹. Peire Vidal war am Hof und in den
Gemächern Herrn Barrals vertrauter als irgendwer; und Herr Barral wusste
gar wohl, dass Peire Vidal in seine Gattin verliebt war, und machte sich einen
Spaß daraus, so wie alle anderen, die es wussten« (aus einer Razo).107 Dem
Dichter wird unterstellt das erlebt zu haben, wovon er gesungen hat.108 Dabei
fällt auf, dass vor allem über das Lieben, weniger über das Singen des
Trobador berichtet wird. Stets wird die Liebe als Impetus des Singens
genannt.109 Damit werden wie in den Handschriften B und C die (fiktiven)
Liedaussagen mit der historischen Autorperson identifiziert.
2. Auch in der deutschen Minnesang-Überlieferung begegnet eine ähnliche
Anbindung der Lieder an die Biographie der Dichter. Auf zwei Liedcorpora,
die unter dem Namen Walthers und Reinmars versammelt sind, folgt in der
Würzburger Handschrift E (ca. 1350), im sog. Hausbuch Michaels de Leone,
eine biographische Notiz zu den beiden Minnesängern. Zunächst werden die
Orte genannt, wo sie begraben sind, dann der Dichterwettstreit zwischen den
beiden erwähnt.110 Deshalb heisst es von Reinmar und Walther: sie tiehten
vnd sungen gein ein ander. In dieser besonderen Dichterkonstellation werden
Dichter- und Sängerstatus verbunden. Über etwaige Verstrickungen in Lie-
besbeziehungen als Auslöser des Dichtens wird kein Wort verloren.
3. Tendenzen des deutschen spätmittelalterlichen Minnesangs arbeiten
einem solch autorbezogenen Textverständnis zu bzw. stellen eine Reaktion
auf veränderte Performanzbedingungen dar. Es hat den Anschein, dass einige
spätmittelalterliche Dichter auf die Schriftlichkeit hin dichteten, d. h. ihre
Lieder so verfassten, wie sie selbst die inzwischen verschriftlichten Minne-
lieder früherer Dichter rezipierten.
Dass in der Bildwelt der Handschriften B und C der Liedautor, die
dargestellte Bildfigur und das Text-Ich der Liedtexte in eins gesetzt werden,
lässt sich in Verbindung bringen mit der Tendenz zur ›Konkretisierung‹ im
107 Biographies (Anm. 47), S. 352 (aus der Vida) u. S. 361 (Razo). Die Übersetzung
habe ich entnommen Franz Wellner, Die Trobadors. Leben und Lieder, Bremen
2
1966, S. 193.
108 Vgl. Mölk, Trobadorlyrik (Anm. 43), S. 110–123. Während Mölk die Identifizie-
rung von Text-Ich und Autor auf eine Idealisierung der guten alten Zeit zurück-
führt (S. 117), möchte ich nicht ausschließen, dass sich die stärkere biographische
Konturierung der okzitanischen Lyrik in der Überlieferung einem stärker autorbe-
zogenen Verständnis schon der vorgetragenen Lieder verdankt, vgl. oben S. 107ff.
Doch schliesst diese Hypothese nicht aus, dass sich im romanischen wie im
deutschen Minnesang die Autor-Instanz während der Überlieferung des
13./14. Jhs. in den Vordergrund spielte.
109 Vgl. z. B. die Vida zu Arnaut de Mareuil: »Es geschah indessen, dass die Liebe so
sehr Besitz von ihm ergriff, dass er ein Lied verfertigte, welches so beginnt: La
franca captenensa [P.-C. 30,15]«; vgl. Biographies (Anm. 47), S. 32.
110 Das Hausbuch des Michael Leone (Würzburger Liederhandschrift) der Universi-
tätsbibliothek München (2o Cod. ms. 731), in Abbildung hg. v. Horst Brunner,
Göppingen 1983 (Litterae 100), Bl. 168v.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 127
die Aufführung vor der höfischen Gesellschaft gewährleistet war – durch die
körperliche Präsenz des Sängers, seine Stimme, seine Gestik –, entstand bei
einer schriftliterarischen Rezeption eine Leerstelle: es war niemand da, der
für die Authentizität einer Liedaussage eintreten konnte. Diesen Verlust an
Authentizität versuchten die Vidas und Razos der Trobadors wettzumachen,
indem sie die Lieder in eine Biographie einbetteten und somit die Texte als
authentische Zeugnisse gelebter Liebe präsentierten.117 In ähnlicher Weise
hätten, so Mertens, Ulrich von Liechtenstein, Hadlaub und Oswald von
Wolkenstein ihren Gedichten einen (auto- bzw. pseudo-)biographischen Rah-
men verpasst, der als Referenz für die Liedaussagen fungieren konnte. Das
Text-Ich wurde also nicht mehr durch den realen Sänger beglaubigt, sondern
durch eine biographisch-fiktive Situation.118 Für Mertens markiert somit die
Biographisierung der Liedaussagen den Übergang von der Mündlichkeit zur
Schriftlichkeit, d. h. von der primär aufführungsbezogenen Existenzform der
Lyrik zum schriftkonservierten Lied (also die Ablösung der Aufführungslyrik
durch die Buchlyrik).119 Denn die Biographisierung müsse dem Leser plausi-
bel machen, weshalb sich das ›Ich‹ in einem Text überhaupt äußere bzw. so
äußere. Die Performanzsituation habe solche Probleme gar nicht entstehen
lassen.
Mit dieser Erklärung hat Volker Mertens sicher einen wichtigen Aspekt der
literarhistorischen Veränderungen im Spätmittelalter erfasst, auch wenn man
der pauschalen Gegenüberstellung von performativer und schriftliterarischer
Rezeption nicht ganz folgen möchte.120 Mertens’ Überlegungen führen aber
zu der von ihm selbst nicht gestellten Frage meines Beitrags: Wie sind
diejenigen Lieder, die im 12./13. Jahrhundert für eine Aufführungssituation
verfasst wurden, in einem Kreis von Literaturkennern rezipiert worden, in
dem schriftliterarische Produktion und Rezeption vorherrschte, in dem dem-
zufolge ein anderes Textverständnis dominierte und in dem deshalb an den
›alten‹ Texten einige ›Defizite‹ auftreten mussten? Ich meine, dass die
Tendenz, auf die einige spätmittelalterliche Dichter zuarbeiteten, um die
Defizite schriftliterarischer Liedproduktion und -rezeption auszugleichen, in
verwandelter Form auch die Organisation der Liederhandschriften B und C
erfasste: die Tendenz, das Text-Ich an eine biographische Person, ob nun
fiktiv oder nicht-fiktiv, anzubinden, um so an Stelle einer verlorengegan-
genen Beglaubigungsinstanz (des realen Sängers) eine neue Referenz-Instanz
zu konstituieren: die Autor-Instanz.
Von einer Substitution der Sängerfigur durch die Autorfigur bzw. von
einer Konstitution der Autorfigur kann man bei Hugo von Montfort spre-
chen.121 Seine vom ihm selbst initiierte Gedichtsammlung (Lieder, Briefe,
Reden: cpg 329) nennt Hugo ein »Buch« und bittet jeden, der das buoch
höret lesen, für ihn zu beten.122 In der Rede 31 ordnet, zählt und reflektiert
Hugo sein Werk.123 Indem sich Hugo zum Autor stilisiert, auch zum Autor
seiner Lieder, belegt er vortrefflich die behauptete Entwicklung »Vom Sänger
zum Autor«.124
Bei den Gedichten, die hierher gehören, diskutiert das Text-Ich das Verhältnis
von Minne und Sang bzw. von Liebesbeziehung und Sängerfunktion. Dabei
kommt es wiederholt zu einem Auseinandertreten von Sängerrolle und Min-
nerrolle.126 Diese Aufspaltung des Text-Ichs in eine Sänger- und Minnerrolle
121 Vgl. Vögel, Die Pragmatik (Anm. 101), S. 269 f.; zustimmend Spicker, Singen
und Sammeln (Anm. 56), bes. S. 190 f.
122 Hugo von Montfort, Bd. II: Die Texte und Melodien der Heidelberger Handschrift
cpg 329, Transkription v. Franz Viktor Spechtler, Göppingen 1978 (Litterae 57),
S. 108 (Nr. 31, Str. 64).
123 Vögel, Die Pragmatik (Anm. 101), S. 269.
124 Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass von Hugos insgesamt 10 bzw. 11
Liedern immerhin acht mit Melodien überliefert sind, also gesungen wurden.
125 Mit diesem Aspekt hat sich der sonst grundlegende Aufsatz von Warning,
Lyrisches Ich (Anm. 11) noch nicht befasst.
126 Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), S. 14, 16, 22 f., spricht mit Blick auf die
Sänger- und Minnerrolle in einigen Liedern von einer Verdoppelung der Sänger-
rolle, damit von zwei Text-Ichs und beruft sich dabei auf Hahn, Zu den Ich-
Aussagen (Anm. 19), S. 97. Doch Hahn setzt ein einziges Text-Ich an, das sich in
zwei Rollen (Minnenden und Singenden) aufspaltet, die aber beide »im ich
enthalten sind«. Diese Auffassung scheint Forschungskonsens zu sein, vgl. etwa
Bein, Singen über das Singen (Anm. 34), S. 91. Jeffrey Ashcroft, »Ungefüege
doene. Apocrypha in manuscript E and the reception of Walther’s minnesang«,
Oxford German Studies 13, 1982, S. 57–82, S. 63, spricht von einem »subtle play
with the dual persona of singer and lover« in einigen Liedern.
130 Rüdiger Schnell
ist nicht zu verwechseln mit der Trennung von Sängerrolle und Minnerrolle
im Liedtyp 1 (s. o.): dort lässt das textuelle Sänger-Ich (inquit-Formel) ein
anderes textuelles Ich als liebende Person zu Wort kommen; hier hingegen
konfrontiert ein und dasselbe Text-Ich die zwei Rollen, die es zu spielen hat:
den Sänger und den Liebenden.127
Die spannungsvolle Diskrepanz zwischen sängerisch-gesellschaftlicher
Tätigkeit und ›persönlicher‹ Minneexistenz wird mit Hilfe verschiedener
Konstellationen erreicht, die ihrerseits bestimmte Referenzialisierungsmög-
lichkeiten nahelegen oder aber abblocken.128 In seiner Sängerrolle ist das
Text-Ich zur vröude-Mehrung der Gesellschaft verpflichtet, in seiner Rolle
als Minner wird er von Liebesschmerz überwältigt und vermag kaum sein
Leid zu verbergen. Somit haben wir es zugleich mit dem Problem von
Authentizität und Fiktionalität zu tun.
Das Auseinandertreten von Minner- und Sängerrolle äußert sich vor allem
in der Form von Glaubwürdigkeits- bzw. Wahrheitsbeteuerungen gegenüber
dem Publikum: Das Text-Ich muss sich in seiner Rolle als Sänger gegenüber
Vorwürfen eines fiktiven Publikums, sein Singen entspreche nicht seinem
Lieben, rechtfertigen. Dabei ergeben sich zwei Spielarten:
a. als Sänger erscheine er fröhlich (bzw. gesund); deshalb könne es mit
seiner Behauptung, er leide schrecklich an Liebesschmerz, nicht weit her
sein. Denn dies würde ja ein trauriges Auftreten (bzw. ein krankes Aussehen)
bedingen (Morungen MF 133,21; Hadlaub, Nr. 4 Str. 5).129
Dazu begegnet eine weitere Variante: Das Text-Ich als Minner räumt von
sich aus die Diskrepanz zwischen fröhlichem Auftreten und innerem Liebes-
schmerz ein, begründet dies aber mit der Absicht, nach außen hin eine
selbstbeherrschte Haltung zu bewahren. Das Minner-Ich muss seine authenti-
sche Verfassung verheimlichen und eine andere innere Disposition vor-
täuschen.130 Wenn aber die Liebe zur Dame und das dadurch erfahrene Leid
nicht mehr nach außen hin in Erscheinung treten (dürfen), deshalb auch nicht
überprüfbar sind, welche Instanz kann dann für die Glaubwürdigkeit dieser
Liebe einstehen? Die Aussagen des Text-Ichs, insofern sie den Minnezustand
betreffen, können ja leicht als simulierte Selbstbeschreibungen erscheinen.
127 In Strophen mit weiblicher Stimme wird lediglich der Minne-Aspekt vorgestellt.
128 Christoph Cormeau, »Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Ein-
bettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide«, in: Mittelalterbilder
(Anm. 48), S. 147–163, S. 158 f., bemerkt, dass zuweilen die Sängerrolle in den
Vordergrund rückt, die Liebhaberrolle dann »als fiktives Spiel markiert oder
ausgeblendet« wird. Dies hat natürlich Konsequenzen für die Anbindung der
beiden Rollen an den realen Sänger.
129 Vgl. zu Morungen zuletzt Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), S. 26–29; Ober-
maier, Möglichkeiten und Grenzen (Anm. 102), S. 13–18.
130 Hausen MF 51,33; Bligger von Steinach MF 118,10; Morungen 133,13; Reinmar
164,3; 164,30; 170,36; 185,27 u. 33; 191,34; Walther La 71,27 [Reinmar MF
Lied IV, Str. 3]; Gottfried von Neifen KLD 15, Nr. 46 Str. 3; Rubin KLD 17,
Nr. 2A u. Nr. 9 Str. 1; Neidhart WL 16 Str. 2; Heinrich von Sax SMS 6 Nr. 1
Str. 9 u. 20–22; Der von Gliers SMS 8, Nr. 2 Str. 4; Ulrich von Singenberg SMS
12 Nr. 9 Str. 2; Heinrich Teschler SMS 21, Nr. 11.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 131
Will man das Bedürfnis des Text-Ichs, die Differenzen zwischen innerer
verborgener Traurigkeit und äußerer sichtbarer Fröhlichkeit zu thematisieren
und zu erklären, nicht als bloßes Jonglieren mit traditionellen Motiven abtun,
so wird man zwei Schlussfolgerungen ziehen: a. der gesellschaftliche Druck
auf den Sänger, Freude hervorzurufen, ist groß; b. um die vorbildliche
Selbstdisziplin der Sängerrolle glaubhaft zu machen, bedarf es als Gegen-
gewicht des Hinweises auf das innere Herzeleid. Da dieses Leid aber nach
außen nicht sichtbar gemacht werden darf, muss es bei einem bloß verbalen
Hinweis auf das Leid sein Bewenden haben. Doch auch das Leid muss
glaubhaft vermittelt sein, wenn der Anspruch auf vorbildliche Leidbeherr-
schung überzeugend vermittelt werden soll. Angesichts dieser unaufhebbaren
Interdependenz der beiden widerspruchsvollen Inszenierungen – als wah-
rer Minner und wahrer Leidbeherrscher bzw. Freudenspender – fragt man
sich, welche Instanz die Glaubwürdigkeit beider Haltungen zu stützen ver-
möchte.
b. Beim zweiten Vorwurf wird dem Text-Ich zwar bescheinigt, es bringe
öffentlich seine Liebesklage vor – so dass innerer Zustand und äußeres
Gebaren scheinbar übereinstimmen –, aber diesen Klagen wird Skepsis ent-
gegengebracht, auf die das Minner-Ich mit erneuter Beteuerung seines Lie-
besschmerzes antwortet. Aufrichtigkeit und Heuchelei in der Liebe werden
also gegenübergestellt, wobei der Sängerrolle die Aufgabe zukommt, die
Glaubwürdigkeit der Minnerrolle zu versichern.131
Wer der Auffassung ist, Minnesang erschöpfe sich in der Selbstdarstellung
der künstlerischen Kompetenz und das Thema Minne sei allenfalls Mittel
zum Zweck, wird die Liedpassagen, in denen die Sängerrolle die Authentizi-
tät des Gesagten zu retten versucht, gerne als Beleg für die Dominanz der
Künstlerthematik über die Minnethematik nehmen. Merkwürdigerweise ist in
den neueren Publikationen zu den einschlägigen Textstellen unberücksichtigt
geblieben, dass die Frage von Glaubwürdigkeit bzw. Echtheit auch in dem
Verhältnis zwischen dem Minner und der Dame – also innnerhalb des
Liebesdiskurses – eine Rolle spielt.132 Solche Beteuerungen bzw. (von der
Dame) eingeforderten Beweise der Liebe gegenüber der Dame sind im
deutschen Minnesang reichlich belegt.133 (Später wird nach Bedingungen
und Funktionen dieser Beteuerungen zu fragen sein.) Auf der textinternen
131 Morungen 132,11; Reinmar MF 150,19; 158,11; 165,10 und 19; 188,5 und
188,18; 197,9; Walther v. d. V. La 13,33; Konrad von Landeck SMS 16, Nr. 21,
Str. 4. Reinmar MF 175,8 wird dem Text-Ich in seiner Sängerrolle der Vorwurf
gemacht, es könne nichts als klagen.
132 Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7); Haferland, Aufrichtigkeitsbeteuerungen
(Anm. 17); Strohschneider, nu sehent (Anm. 4).
133 Burggraf von Rietenburg MF 19,17; Hausen MF 45,19; 45,35; 50,9; Veldeke MF
64,10; Rugge MF 100,12; 110,8 u. 24 f.; Morungen MF 132,11; 136,20; Reinmar
MF Lied Nr. IV Str. 2 [Walther La 71,19]; 155,32; 161,15; 167,29 f.; 173,13 u.
20; 174,17; 178,15; 197,36; Walther La 14,14ff. u. 22ff.; Hawart KLD 19, Nr. 3
Str. 5; Rudolf von Rotenburg KLD 49, Nr. 8, Str. 2; Ulrich von Liechtenstein
KLD 58, Nr. 11, Str. 2; Ulrich von Winterstetten KLD 59, Nr. 11 passim.
132 Rüdiger Schnell
134 In manchen Liedern wird dieser Aspekt tatsächlich auf beiden Ebenen themati-
siert; z. B. Morungen MF 132,11; Walther La 13,33.
135 Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), S. 15 f., sieht hierin eine »Entkoppelung von
Affekt und Ausdruck«, die im Zusammenhang mit dem Auseinandertreten
von Sänger- und Minnerrolle stehe. Dennoch möchte Strohschneider nicht von
einem »Verhältnis etwa von Innen- und Außenseite eines Ich« sprechen (S. 23),
weil er von einer »Verdoppelung des Ich« ausgeht. Mögliche Bezüge zur Auffüh-
rungssituation bzw. zum realen Sänger klammert Strohschneider weitgehend
aus.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 133
sehr auf der Wahrheit dieser Ich-Aussagen insistieren?136 Das Einklagen von
Authentizität und die Inszenierung von Fiktionalität stoßen hart aufeinander
und sind doch wohl mit Bedacht zusammengebracht.137
Einen zentralen Gegenstand des mittelalterlichen Liebesdiskurses bildet
die Frage, inwieweit Frauen die Liebesschwüre ihrer Verehrer für ›echt‹
halten dürfen.138 Da viele Männer nur Liebe heuchelten, in Wirklichkeit nur
auf raschen sexuellen Genuss aus seien, müssten die Frauen ihre Verehrer
lange prüfen, um so Aufschluss über deren wahre Gesinnung zu erhalten.139
Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit der Liebe bildeten die wich-
tigste Voraussetzung für eine eventuelle Gunstbezeugung der Dame. Da aber
zugleich allen Beteiligten klar war, dass man mit Worten und Gesten täu-
schen konnte, begegnen in Minneliedern immer wieder Klagen darüber, dass
die Frauen die Falschen belohnten (z. B. Reinmar MF 167,26ff.; Walther
v. d. V. La 13,33 Str. 4 u. 5). Hörner auf der Stirne sollten denjenigen
wachsen, die Liebe nur heuchelten, ereifert sich Bernhard von Ventadorn.140
Im Mittelalter war das Wissen um das Fingieren von Liebe ein weitver-
breitetes literarisches Motiv, bei Ovid gelernt und im Roman de la Rose
(V. 4389ff.) diskursiviert.141 Die zahlreichen einschlägigen Textbelege in der
136 Nach Jens Pfeiffer, »Die Gewalt der Sprache und die Ohnmacht der Poesie«, in:
Mittelalterliche Lyrik (Anm. 5), S. 122–138, thematisiert Morungen im Lied MF
131,25 die Unmöglichkeit, im Minnesang von ›wahrer‹ Liebe zu singen. Das
konventionalisierte Sprechen im Minnesang ersticke jedes ›wahre‹ Sprechen über
die Liebe. Gegen eine Übertragung dieser Position auf alle einschlägigen Minne-
lieder sprechen zwei Befunde: Die zahlreichen Wahrheitsbeteuerungen machen
nur Sinn, wenn sie mit der Hoffnung auf eine entsprechende Resonanz verknüpft
sind; zweitens begegnet die Diskursivierung von Glaubwürdigkeit bzw. von
Täuschung durch Worte in der Liebe nicht nur im Minnesang.
137 Dass die Zuhörer sich stets mit einer ›Als-ob‹-Referenz (Strohschneider) zu-
friedengaben, scheint mir fraglich zu sein. Dass es so etwas wie eine ›Als-ob‹-
Referenz gegeben hat, soll nicht in Abrede gestellt werden. Doch ist zu bedenken,
dass Strohschneider (nu sehent [Anm. 4]) den textexternen Sänger ganz aus
seinen Überlegungen über mögliche Referenzialisierungen der in den Minnelie-
dern dargestellten Rollen ausgeklammert und sich damit die Möglichkeit zu
anderen Einschätzungen – bewusst? – genommen hat. Andererseits gehe ich nicht
so weit zu behaupten, die mittelalterlichen Minnesänger hätten in ihren Liedern
ihre eigenen Gefühle zur Schau gestellt (vgl. Haferland, Aufrichtigkeitsbeteuerun-
gen [Anm. 17]).
138 Hartmann von Aue, Erstes Büchlein, V. 217ff.: nu ist es leider ein slac,/ daz ein
wîp niht wizzen mac,/ wer si mit triuwe meinet; Walther von der Vogelweide, La
14,25ff.: . . .sît man valscher minne mit sô süezen worten gert? Daz ein wîp niht
wizzen mac,/ wer sie meine,/ disiu nôt alleine/ tuot mir manigen swaeren tac.
139 Vgl. Rüdiger Schnell, »Frauenlied, Manneslied und Wechsel im deutschen Min-
nesang. Überlegungen zu ›gender‹ und Gattung«, ZfdA 128, 1999, S. 127–184,
S. 154 f.; ders., Die ›höfische Liebe‹ (Anm. 15), S. 404–407; ders., Causa amoris.
Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern/
München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 23 f. Vgl. auch oben Anm. 133.
140 Bernart von Ventadorn, seine Lieder, mit Einleitung und Glossar hg. v. Carl
Appel, Halle 1915, Nr. 31, Str. 5.
141 Vgl. u. a. Eberhard von Cersne, Die Lieder, hg. v. Elisabeth Hages-Weißflog,
Tübingen 1998 (Hermaea N.F. 84), S. 75 f. (Lied IV Str. 4): »Manch einer
behauptet, Schmerzen zu leiden, dem sein Lebtag noch kein Leid geschah. Auf
134 Rüdiger Schnell
144 Vgl. auch Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7), S. 19 f. (die Glaubwürdigkeit der
Liedaussage werde verbürgt durch den anwesenden Sänger); ders., Selbstwider-
spruch (Anm. 7), S. 392 u. 401 f., meint ebenfalls, allein die Präsenz des Sängers
könne dem Widerspruch (von [angeblich echtem] Schmerz und [angeblich fin-
gierter] Freude) Glaubwürdigkeit verleihen.
136 Rüdiger Schnell
149 Ich bin fast versucht zu behaupten, dass die Wahrheitsbeteuerungen im Minne-
sang und in der Trobadorlyrik nur deshalb so häufig sind, weil diese Lyrik
mündlich vorgetragen wurde. Die schriftliche Form besaß größere Autorität.
Insofern sprechen die zahlreichen Aufrichtigkeitsbeteuerungen für eine münd-
liche Performanz der Lieder. Doch muss ich zur Kenntnis nehmen, dass Wahr-
heitsbeteuerungen auch in zahlreichen Liebesbriefmustern des Mittelalters be-
gegnen.
150 Dieser anspruchsvolle Typ mit seinem Metadiskurs über die Authentizität des
Singens konnte auch schwerlich im Bild eingefangen werden.
151 Vgl. zuletzt Ursula Kocher, »›Unechte‹ Strophen in der Waltherüberlieferung und
das Problem der ›Zusatzstrophen‹ in der Würzburger Handschrift«, in: Artibus.
Festschrift Dieter Wuttke, hg. v. S. Füssel u. a., 1994, S. 47–62; Ingrid Bennewitz,
»›Eine Sammlung von Gemeinplätzen‹? Die Walther-Überlieferung der Hand-
schrift E«, in: »Dâ hoeret ouch geloube zuo«. Festschrift Günther Schweikle, hg.
v. R. Krohn, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 27–35.
152 Nach Bennewitz, Sammlung von Gemeinplätzen? (Anm. 151), S. 33.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 139
Diese Strophe enthüllt schonungslos den fiktiven Status der frouwe, damit
aber auch den fiktionalen Status der vorausgegangenen Aussagen zum ›eige-
nen‹ Liebesschmerz. Dies wiederum macht den fiktionalen Status der Min-
nerrolle, nicht der Sängerrolle, deutlich!153 Denn, mag das Text-Ich in seiner
Sängerrolle noch so unwahre Aussagen über Liebesschmerz, Frauenbekannt-
schaften und Liebeshoffnung machen, die Sängerrolle bleibt in ihrer Faktizi-
tät davon unberührt. Auch wenn alles, des ich da iach . . . nie geschah, so
bleibt die Tatsache, dass da eine Stimme war, die gesungen hat, davon
unberührt.154 Freilich macht die Fiktionalität der Minnerrolle auch den
Rollencharakter des textuellen Sänger-Ichs stärker bewusst, was wiederum
die Differenz zwischen realem Sänger und Sängerrolle verstärkt. Dennoch
bleibt ein wesentlicher Unterschied zwischen Minner- und Sängerrolle: Die
Minnerrolle existiert nur als Projektion der Sängerrolle, sie kann sich nicht
so ›realisieren‹ wie die Sängerrolle, die mit dem Singen real fassbar ist.155
Die Sängerrolle kann sich somit an den realen Sänger ›anlehnen‹ und so ihre
Authentizität bewahren.156 Mit der Aufdeckung der Minnerrolle als einer nur
gespielten Rolle treten die tatsächlich ausgeübte Sängerrolle und die ledig-
lich projizierte Minnerrolle auseinander. Identifikation mit dem realen Sän-
ger ist nur noch der Sängerrolle möglich, während die Minnerrolle zum
bloßen Hirngespinst degradiert wird. Die in zahlreichen anderen Liedern
aufrechterhaltene Fiktion, es gebe die in den Liedern gepriesene Dame, wird
hier zerstört.157
Dem provozierenden Hinterfragen des Realitätsstatus der besungenen
Dame begegnen wir in weiteren Liedern (Walther La 63,32; 98,26; Reinmar
MF 167,16; Veldeke MF 58,11): Der Sänger bzw. die Sängerrolle sieht sich
mit der Frage von Dritten konfrontiert, wer die von ihm umworbene Dame
sei bzw. welches Alter sie habe. Diese Fragen bewegen sich auf einem
schmalen Grad: Einerseits machen sie den fiktionalen Status der Dame –
damit auch der Minnerrolle! – bewusst; andererseits kann dieses Fragen nur
dann reizvoll sein, wenn auf seiten des (realen wie fiktiven) Publikums mit
der Möglichkeit gerechnet wurde, die im Lied besungene Dame gebe es
153 Während der Stricker in den Minnesängern das als fiktives Spiel verstandene
Minnelied als Realität ausgibt, macht (Ps.-)Walther die Minnerrolle als fiktives
Spiel bewusst.
154 Deshalb stoßen wir im Minnesang auf die Fiktionalisierung aller möglichen
Personen und Funktionen (frouwe, glücklicher Minner, Kreuzzugsfahrer, Bote,
Kaiser, alter Mann u. a.), ohne dass das Sänger-Ich in Zweifel gezogen wird.
Umgekehrt aber beeinflusst die Fiktionalisierung der Sängerrolle den ›Realitäts-
status‹ aller Aussagen eines Liedes.
155 Lienert, Hoerâ Walther, (Anm. 32), S. 122 bemerkt zu Recht, dass die Sänger-
rolle (die Lienert allerdings mit der Autorrolle gleichsetzt) keiner Echtheits-
beteuerungen bedarf.
156 Zu Recht bemerkt Bein, Singen über das Singen (Anm. 34), S. 85, dass die vierte
Strophe eher dem vortragenden Künstler als dem Minnenden zuzuweisen sei.
157 Haferland, Aufrichtigkeitsbeteuerungen (Anm. 17), S. 232–252, S. 248 f., be-
merkt, »Minnesang setzt die Existenz der Dame voraus«. Ich würde hinzufügen:
Ohne den Sänger bzw. die Sängerrolle gäbe es keinen Minnesang.
140 Rüdiger Schnell
Es hat den Anschein, dass die Sängerrolle vor allem im sog. klassischen
Minnesang mehr und mehr akzentuiert wird und dass sich mit dieser Demon-
stration der Sängerrolle ein zunehmendes Autorbewusstsein verbindet.161
Sänger und Autor rücken zusammen, so dass in einem eingeschränkten Sinne
hier schon von einer Entwicklung »Vom Sänger zum Autor« gesprochen
werden kann.162 Die Systematik der Textgruppierung ist durch eine dia-
chrone Sicht zu ergänzen.
Es ließe sich einwenden, dass es eine so definierte Textgruppe gar nicht gebe,
da jedes Text-Ich in einem Minnelied, auch wenn es nur von Liebe singe,
infolge des öffentlichen Vortrags in einer Sängerrolle fungiere.171 Doch geht
es mir hier um die Abgrenzung unterschiedlicher thematischer Dominanzen
auf Text-Ebene: ob das Text-Ich eher die Minnerolle oder die Sängerrolle
spielt. Diese thematischen Akzentuierungen werden die schriftliterarische
Rezeption auf je unterschiedliche Weise bestimmen.172
168 In der Trobadorlyrik scheint die Autorrolle expliziter als im deutschen Minnesang
den einzelnen Liedern eingeschrieben zu sein (vgl. auch oben Anm. 43); vgl. Kay,
La notion (Anm. 142), S. 172–174; Bernsen, Problematisierung (Anm. 20). Mir
ergibt sich der Eindruck, dass in der Trobadorlyrik eher die Autor-/Sängerrolle,
im deutschen Minnesang (zunächst) eher die Minnerrolle akzentuiert wurde. Vgl.
auch oben S. 107ff.
169 Allerdings scheinen noch um 1400 beide Figurationen nebeneinander zu exis-
tieren: in der Überlieferung wird Hugo von Montfort als »schriftlicher Autor«
fixiert, Oswald von Wolkenstein hingegen als »Sänger-Autor«. Vgl. dazu Spicker,
Singen und Sammeln (Anm. 56).
170 Hausmann, Reinmar (Anm. 9), untersucht nur einige ausgewählte Texte. Es ist im
übrigen nicht auszuschließen, dass sich erst mit dem Prozess der Niederschrift in
den Sammelhandschriften die Vorstellungen von einem ›Autor‹ verfestigten oder
aber veränderten. Für Hausmann scheint eine solche Möglichkeit nicht zu exis-
tieren.
171 Berücksichtigt man überdies die Tatsache, dass für jedes Lied ein neuer Ton
gefunden werden musste und somit jedes Lied eine neue Einheit von Minner- und
Sängerrolle präsentierte (vgl. Worstbrock, Überlieferungsrang [Anm. 80]), dann
wird die Separierung eines solchen Liedtyps auf Skepsis stoßen.
172 Eifler, Liebe (Anm. 16), S. 12, verkennt die Vielfalt der Ich-Rollen, wenn er
meint, »dass die Selbstauslegung des lyrischen Ichs als Sänger konstitutiv ist für
den Minnesang«. Es gibt eben noch andere Selbstdarstellungen des Text-Ichs. Vor
allem aber wird seine These den Entwicklungen vom frühen zum hohen Minne-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 143
Wenn das Text-Ich beim Liedvortrag ›lediglich‹ das Thema Minne diskur-
siviert,173 ergibt sich eine größere Distanz zum realen Sänger als in den
Liedern, in denen sich im Text-Ich Minnerrolle und Sangesthematik ver-
binden. Der fiktionale Status der Minnerrolle verstärkt sich also. In der
schriftliterarischen Rezeption jedoch verschwindet diese Diskrepanz zwi-
schen Sänger und Minnerrolle, weil die ›vor-zeigende‹ Instanz des realen
Sängers fehlt. Damit verschwindet auch die Fiktionalität der Liebeswerbung:
Nun erscheinen die Werbungsaussagen als authentische Äußerungen des
(liebenden bzw. verliebten) Dichters, so wie es die Vidas unterstellen. An die
Stelle der Grenze zwischen vortragendem Sänger und liebendem Text-Ich
tritt nun die Identifikation von Autor und liebendem Text-Ich. Dies nenne ich
eine Nivellierung von Rollen und Instanzen. Für diesen Liedtyp wird man
wohl kaum eine ›Gleichwertigkeit‹ von Aufführung und schriftgebundener
Rezeption behaupten können.174
sang nicht gerecht. Nach Axel Eisbrenner, ›Minne, diu der werlde ir vröude
mêret.‹ Untersuchungen zum Handlungsaufbau und zur Rollengestaltung in aus-
gewählten Werbungsliedern aus ›Des Minnesangs Frühling‹, Stuttgart 1995,
S. 23, thematisieren die allermeisten Liebeslieder nur die Minnebeziehung.
173 Belege u. a.: Hausen MF 50,19; Rudolf von Fenis MF 82,26; Morungen MF
124,32; 125,19; 126,8; 141,37; Reinmar MF 176,5; 179,3; 182,14; 183,33;
190,27; 191,7; 194,18; 198,28; 197,15; ebenso alle Frauenlieder.
174 Zu Recht macht Müller, Ritual (Anm. 18), S. 55ff., darauf aufmerksam, dass bei
Neidhart die Sprecherrolle so spezifiziert werde, dass sie als eine fiktive er-
scheint und nicht mehr mit dem vortragenden Sänger identifiziert werden kann.
175 Dass Sänger eine Kontrolle haben »über den Sinn, den Hörer, Zuschauer und
Mitspieler den Texten zuordnen«, betont Strohschneider, Aufführungssituation
(Anm. 25), S. 62. In der Diskussion machte Sarah Kay zu Recht darauf aufmerk-
144 Rüdiger Schnell
einer Liedaussage wird nicht mehr durch einen vortragenden Sänger kennt-
lich gemacht, sondern muss nun vom Rezipienten erschlossen werden. Dass
diese Arbeit nicht geleistet wurde, hat die Minnesang-Forschung bis ins
20. Jh. beeinträchtigt: Das Text-Ich wurde mit dem Autor gleichgesetzt. Aus
einem Spiel mit Fiktion und Identifikation blieb nur noch übrig Identifika-
tion, die Gleichsetzung von Liedaussage und erlebter Wirklichkeit, von Text-
Ich und Autor.176 Damit aber verlor der Text seine Ambivalenz zwischen
erlebter und fingierter Rede.
2. Konstitution der Autor-Instanz: An die Stelle des Sängers, der die
Aufführung dominierte, tritt nun (verstärkt) eine Autorinstanz, die als Text-
produzent vorgestellt wird. In der Verschriftlichung verlieren die zahlreichen
Ich-Aussagen eines Liedes zunächst die Referenz, den Körper (des Sängers),
auf den sie sich beziehen konnten. Deshalb musste in den Handschriften eine
neue Referenz, eine neue Beglaubigungsinstanz aufgebaut werden: die Auto-
rinstanz. Damit verschiebt sich der Referenzpunkt für die Liedaussagen vom
Sänger zum Autor, zugleich von der Aktion zur Illustration. Denn die
sichtbare Vorbildlichkeit der beim Vortrag vorgeführten Minner-Rolle wird
nun von den Autorbildern übernommen. Doch die Körperlichkeit des Sän-
gers weicht der Fläche des Autorbildes.
Da der Autor-Instanz in den Handschriften die körperliche Präsenz als
Beglaubigungsmittel abgeht, muss die Autorinstanz mit Hilfe von Wappen,
Namensnennung und Bildmaterial verstärkt werden. Diese ›Biographisie-
rung‹ wiederum stützt die Authentizität der Liedaussagen. Die Glaubwürdig-
keit der Aussagen des Text-Ichs verbürgt nun nicht mehr der Sänger, sondern
der Autor: das Sänger-Ich wird zum Autor-Ich.
3. ›Ich-Aussage‹ und ›Er-Bezug‹: Damit verändert sich allerdings die
Relation von Text und Referenzsubjekt: Während beim Vortrag das Text-Ich
und der reale Sänger eine ganz enge Verbindung eingehen, steht in den
Lyrikhandschriften der ›Autor‹ gleichsam neben seinem Text. Text und Autor
verweisen aufeinander, gehen aber nicht ineinander auf. Überspitzt könnte
man sagen, der ›Ich-Text‹ des Sängers werde in einer ›Er-Perspektive‹
vorgestellt. In französischen Liederhandschriften sind Autorcorpora öfter mit
der Rubrik »Dies sind die Lieder des Dichters xy« oder »Der Sänger/Dichter
xy hat diese Lieder verfasst« (vergleichbar den Autorbildern) überschrieben.
Damit aber wird für das ›lyrische Ich‹ eine Art von 3. Person-Referenz
konstituiert.177 Der Rezipient selbst nimmt den Bezug der Liedaussagen auf
die Autorfigur vor; der Sänger beim Vortrag hingegen lässt Text-Ich und
Sprecher in eins zusammenfallen. Nur in den Fällen, in denen ein Sänger
sam, dass das Ich eines Liedes nicht nur auf etwas ausserhalb des Liedes referiert,
sondern dass sich dieses Ich selbst erst in der Performanz hervorbringt. Diese
semantische ›Auffüllung‹ des Lied-Ichs ist freilich auch von der Gestik und
Mimik des vortragenden Sängers abhängig.
176 Die Fiktionalität der Werbungsrede entfällt, weil die spannungsvolle Diskrepanz
zwischen Text-Ich und realem Sänger fehlt. Die Texte gelten nun als ›Bekennt-
nisse‹ des Autors.
177 Zur Verwandlung der Ich-Perspektive in Narrativik vgl. Huot, From song (Anm.
30), S. 78 u. 84 f.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 145
erklärtermaßen das Lied eines anderen Autors vortrug, ergab sich eine
ähnliche Konstellation wie in den Lyrikhandschriften: Text-Ich und Referenz-
person treten auseinander. Wenn auch im vorangegangenen Beitrag stets die
Identifikation von Text-Ich und Autorfigur in den Handschriften B bzw. C
betont wurde, so darf doch diese Form der Identifikation nicht mit der
(möglichen) Identifikation von Text-Ich und vortragendem Sänger verwech-
selt werden: Vielleicht lassen sich die beiden als ›verweisend-repräsentative‹
und ›unmittelbar präsente‹ Identifikation auseinanderhalten.
4. Minner/Sänger-Relation: Das Verschwinden des Aufführungsmotivs in
den Autorbildern und das Fehlen eines realen Sängers einerseits, die Häufig-
keit von Bildszenen mit Minnethematik andererseits führen dazu, dass das
Text-Ich der Lieder vor allem als Liebender erscheint. Der Sänger-Status
verliert an Bedeutung. Das Text-Ich reduziert sich weitgehend auf die
Minnerrolle. Doch für die Lieder mit ausgeprägter Selbstthematisierung des
Sängers/Autors – also dort, wo Autor- und Sängerrolle sich eng verbanden –
ist die Transformation weniger gravierend. Freilich, die Stelle des Autor-
Sängers nimmt nun der Autor als Textproduzent ein.
5. Gegenwart und Vergangenheit: Mit dem Moment des Liedvortrags
verschwindet auch die Vergegenwärtigung der Minnerrolle. An ihre Stelle
tritt die Lektüre von vergangenen Liebeskonstellationen. Aus der (simulier-
ten) Gegenwart von Liebe wird erinnerte Vergangenheit.178 Die Werbung
vollzieht sich nicht mehr im Lied, sondern das Lied erinnert lediglich noch
an sie. Während in der Aufführungssituation die Liebesklagen und Liebes-
hoffnungen des Text-Ichs einen Zeithorizont von der Vergangenheit bis in die
Zukunft eröffneten, reduziert sich die zeitliche Dimension der schriftlichen
Liedaussagen auf die Vergangenheit: Hier wird von Vergangenem berichtet.
Mit dieser ›Historisierung‹ des klassischen Minnesangs in den Handschriften
B und C korrespondiert die Tendenz zur Episierung und Biographisierung bei
zahlreichen spätmittelalterlichen Autoren (Ulrich von Liechtenstein, Had-
laub, Oswald von Wolkenstein).179
Die Vorbildlichkeit der Minnehaltung des Sängers war auf den Augenblick
des Liedvortrags beschränkt. In der schriftlichen Präsentation lagert sich die
an den Texten ablesbare Vorbildlichkeit an die biographische Person des
Autors an. Die Vorbildlichkeit des Minnehandelns scheint nun das ganze
Leben des Autors durchzogen zu haben, auch die Zeitspanne zwischen den
einzelnen Sängerauftritten. So konnten die Lieder als Teil einer Vita ver-
standen werden (vgl. auch Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst). Während
die Vita des realen Sängers und das fiktive Text-Ich meist separat nebenein-
ander standen, ein getrenntes Dasein führten, verbinden sich in der Autor-
Instanz der Handschrift Vita und Text. Der Sänger genoss momentane Autori-
178 Im klassischen Minnesang sticht der Liedtyp Tagelied schon dadurch heraus, dass
er als einziger ebenfalls ›erinnerte Erfahrung‹ darstellt.
179 Gerade Oswald scheint viele Lieder auf eine schriftliterarische Rezeption hin
verfasst zu haben. Treffend formuliert Müller, Ritual (Anm. 18), S. 69, zu
Hadlaub: das »Ritual höfischer Minnewerbung [. . .] gerät ins Präteritum. Es wird
als vergangenes Geschehen erzählt«.
146 Rüdiger Schnell
zeigt. Das als Rollenspiel inszenierte Sprechen des Minnesängers als eines
Liebenden wird hingegen seines fiktionalen Status entkleidet und als ›Reali-
tät‹ verstanden. Somit verschärft sich der Gegensatz zwischen dem öffentlich
auftretenden Spruchdichter und dem im privat-intimen Raum verkehrenden
Minnesänger.
7. Didaktisierung: Mit der Transformation von der momentanen Vorbild-
lichkeit der Sängerrolle hin zur schriftlich fixierten und damit kontinuierli-
chen Vorbildlichkeit des Autors in den Handschriften wächst den Liedinhal-
ten eine stärkere didaktische Funktion zu: Sie gerinnen zur ›Lehre‹. Deshalb
lobt Hugo von Trimberg die Minnesänger (Walther von der Vogelweide,
Heinrich von Morungen, Reinmar, Gottfried von Neifen u. a.): In ihren
Liedern finde man tugent, zuht und êre, / Hübscheit der werlde und ouch die
lêre, / Von der sîn leben wird genême / Und selten ieman widerzême.187 Die
Liedaussage gewinnt über den Augenblick des Liedvortrags hinaus einen
Status an Vorbildhaftigkeit, löst sich somit von der Einzelsituation der
Aufführung. Diese Entwicklung verdankt sich sicherlich auch der Tatsache,
dass die Einzellieder zu Autorensammlungen geordnet werden und schließ-
lich buchliterarischen Charakter annehmen.188 Mit der Verschriftlichung er-
höht sich der didaktische Anspruch der Lieder.
Ein didaktisches Verständnis des verschriftlichten Minnesangs lässt sich
auch daran ablesen, dass sowohl die Handschrift B wie die Handschrift C
eine Überlieferungssymbiose mit didaktischen Dichtungen eingehen (Wins-
becke, Winsbeckin [beide in B und C], ›Konstanzer Minnelehre‹ [nur in B],
›König von Tirol‹ [nur in C]).189
Schließlich scheint der Tendenz zur Didaktisierung der überlieferten Lie-
der eine Didaktisierung in der Liedproduktion des Spätmittelalters zu ent-
sprechen,190 die sich etwa in einer pauschalen, nicht an ein ›Ich‹ gebundenen
Frauenverehrung äußert.191 Mit der Verallgemeinerung einer Liedaussage
stellt sich eine didaktische Funktion dieser Aussage ein. Dass zu dieser
187 Der Renner von Hugo von Trimberg, hg. v. Gustav Ehrismann, Mit einem
Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Berlin 1970 (Deutsche
Neudrucke), Bd. I, Vv. 1179–1244 (Zitat Vv. 1239–42).
188 Hadlaub (SMS 30), Nr. 8, Str. 1,3–6 spricht davon, dass man nirgends so viele
Liebeslieder an buochen finde wie in Zürich und dass Manesse nun diu lie-
derbuoch besitze.
189 Zu einer ähnlichen, auf Tugendlehre angelegten Überlieferungsgemeinschaft in
der Haager Liederhandschrift (ca. 1400) vgl. Tervooren, Die Haager Liederhand-
schrift (Anm. 32), S. 193. Auch in der Autorhandschrift Hugos von Montfort
stehen Lieder zwischen Minnereden und Briefen.
190 Jacqueline Cerquiglini, »Le lyrisme en mouvement«, Perspectives médiévales 6,
1980, S. 75–86, nennt die Didaktisierung als ein wesentliches Merkmal der Lyrik
des 14./15.Jhs.
191 Nicht nur in der Spruchdichtung, sondern auch im Minnesang begegnet immer
öfter der Preis aller Frauen: Rumelant von Sachsen (vgl. dazu Peter Kern,
»Rumelant von Sachsen«, in: VL2, 8, 1992, Sp. 382–388, Sp. 385); Hadlaub, hg. v.
Max Schiendorfer, Zürich/München 1986, Nr. 11, 52, 53 u. ö.; Gotfrit von Neifen
(KLD 15, I, XXII, XXV u. ö.); Rubin (KLD 47, XVIII); Rudolf von Rotenburg
(KLD 49, Nr. 13); Walther von Klingen (SMS, Nr. 5, Lied 8). Vgl. auch Ingrid
148 Rüdiger Schnell
Mit »Mystische Poesie« hat Walter Muschg das Kapitel über den Dominika-
ner Heinrich Seuse (vermutlich: 1293 oder 1295–1366) in seiner Darstellung
der »Mystik in der Schweiz 1200–1500« überschrieben.1 Neben einer, immer
einmal wieder gern zitierten, Polemik gegen die Schriften, die als solche
Seuses gelten, finden sich hier auch in einiger Klarheit die Probleme be-
nannt, die den Zusammenhang von Person, Lebenszeit und Lebensgang,
Name, Verfasserschaft, Struktur und Datierung seiner Schriften beleuchten.
Die »einzige sichere Nachricht aus seinem Leben« seien das Datum und der
Ort seines Todes: der 25. Januar 1366 im Dominikanerkloster zu Ulm. »Von
seinen Predigten« hingegen, »die er auf Reisen in Klöstern und vor dem Volk
gehalten haben mag, ist fast nichts übrig geblieben. Es werden ihm vier
zugeschrieben, von diesen sind aber mindestens zwei von höchst fragwürdi-
ger Echtheit. Auch an seinem berühmtesten Traktat, dem ›Büchlein der
ewigen Weisheit‹ [Bdew], haftet der Argwohn nachträglicher Entstellung.
Das ihm zugeschriebene ›Minnebüchlein‹ stammt kaum von ihm. Die zwei
Sammlungen seiner Briefe, eine größere und eine kleinere, vor allem aber
seine Autobiographie sind mit einem heftig umstrittenen Geheimnis umge-
ben. Diese Vita, sein umfangreichstes Werk, ist durch Zusammenarbeit
mehrerer entstanden, deren Anteile nicht mehr ausgeschieden werden kön-
nen. Das Bild Seuses wurde der Nachwelt noch dadurch verschoben, daß
man ihm immer neue Werke zuschrieb. […] Es ist unleugbar, daß er durch
Jahrhunderte ein Gegenstand der Legendenbildung war, und die Grenze, bis
zu welcher die Kritik an seinem Werk zu gehen hat, steht noch nicht
unverrückbar fest.«2 – Das ›Büchlein der Wahrheit‹ [Bdw] sei »die einzige
rein spekulative Schrift von seiner Hand, die einzige auch, die gegen jeden
* Zitate aus den deutschen Schriften Seuses nach: Heinrich Seuse, Deutsche
Schriften […], hg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Unv. Nachdruck Frankfurt a.
M. 1961), zitiert: DS. Zitate aus dem ›Horologium‹ nach: Heinrich Seuses Horolo-
gium Sapientiae, [hg.] v. Pius Künzle OP, Freiburg Schweiz 1977, zitiert: Hor.
1 Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz, Frauenfeld/Leipzig 1935, S. 242–279.
2 Ebd., S. 244 f.
Autorschaft und Medienwandel 151
Verdacht der Unechtheit geschützt ist.« Vom Bdew habe Seuse eine »abge-
änderte lateinische Fassung«, das ›Horologium sapientiae‹ hergestellt.3
In der Einleitung zur Neu-Edition des ›Büchleins der Wahrheit‹ von Loris
Sturlese und Rüdiger Blumrich versuchen die beiden Editoren, das Problem
der Unterscheidung von belegbaren und allenfalls »wahrscheinlichen« bio-
graphischen Daten durch die Differenzierung verschiedener Schrifttypen zu
verdeutlichen: »Gesicherte Daten sind geradstehend gesetzt; die kursiv ge-
setzten Daten, welche aus Seuses Werken erschlossen sind, erheben nur
Anspruch auf Wahrscheinlichkeit.«4 Danach sind allein zwei Daten recte
gesetzt und damit in diesem Sinne »gesichert« nämlich
1. »zw. 1334 und 1339 Abfassung des ›Horologium sapientiae‹« – be-
gründet damit, dass das Werk »ein Zitat aus einem Rundbrief vom Dominika-
nergeneral Hugo von Vaucemain aus dem Jahr 1333« enthält und »im Jahr
1339 in einem Brief Heinrichs von Nördlingen« erwähnt wird5 und
2. »1366 Jan. 25, Ulm Heinrich Seuse stirbt«.
Alle anderen Daten sind kursiv gesetzt, nämlich: »um 1295, Konstanz
Heinrich Seuse wird geboren; um 1308 Eintritt in den Dominikanerorden;
vor 1326, Köln Theologiestudent an der Ordensuniversität, Studium bei
Meister Eckhart; um 1327, Konstanz Konventslektor; nach 1329 Abfassung
des ›Buchs der Wahrheit‹; um 1332 Amtsenthebung, Abfassung des ›Buchs
der ewigen Weisheit‹; um 1348 Wahl zum Prior des Konvents Konstanz; nach
1362 [?] nach Ulm versetzt, Abfassung der ›Vita‹, Herstellung des ›Exem-
plars‹«. Alle diese Daten sind demnach »aus Seuses Werken erschlossen«.
Dass es Unsicherheiten darüber gibt, welche Werke und welcher Art »Seuses
Werke« seien und dass auch unterschiedliche Auffassungen über einzelne
hier genannte und eventuell mögliche weitere Daten und Werke und Seuses
Anteil an ihnen bestehen, wie man den einschlägigen biographischen Über-
sichten entnehmen kann,6 darüber gibt dieser »biographische Überblick«
verständlicherweise keine Auskunft.
Immerhin sind selbst die gemeinhin stets als »gesichert« geltenden An-
gaben zu Seuses Ulmer Zeit – ab ca. 13487 bis zum Tod am 25. 1. 1366
Angehöriger des Ulmer Konvents, Beisetzung in der Dominikanerkirche –
auch aus der Überlieferung der für Seuse reklamierten Werke erschlossen.
Dass Seuse etwa 1348 nach Ulm versetzt worden sei, ist einer Kombination
aus verschiedenen Angaben entnommen: der ›Vita‹ insofern von der Gestalt
des dieners, die mit Seuse identifiziert wird, gesagt wird, dass sie zur Zeit
einer Untersuchung, den dú obrest meisterschaft úber allen orden und dú
meisterschaft úber […] tútsches land (126,14 f.) in der stat vornahm, in der
ihn eine Frau verleumdet hatte, bereits anderswa wonende war (126,15 u.
16). Die stat wird mit Konstanz identifiziert, das anderswa wonende mit Ulm
(s. Kommentar zu DS 126,16), letzteres, weil eine Reihe von Nachrichten aus
dem 15. Jahrhundert oder später mit ganz unterschiedlichen Zeitangaben von
Seuses Ulmer Zeit berichtet.8 Selbst die Nachrichten über das Todesdatum
haben einen Zug, der seine faktische Richtigkeit wohl nicht zu dementieren
geeignet ist, aber auf seine mögliche Stilisierung nach bestimmten literari-
schen Mustern verweist. In zwei deutschen ›Exemplar‹-Hss. des 15. Jahr-
hunderts (S, f) finden sich die Einträge, dass Seuse uf conversio sancti pauli
gestorben sei, und die ›Horologium‹-Hs. Clm 7819 (M5) weiß durch einen
nachträglichen Eintrag des 15. Jahrhunderts sogar von der Inschrift auf
Seuses Epitaph: Nota veraciter Epitaphium compilatoris huius libri: Obiit
venerabilis pater frater Heinricus Suso Anno domini MCCCLXVI mense
Januarii die XXV obdormivit in domino propter quod gaudeamus in evis
dilecto.9 Dem 25. 1., dem Tag der conversio des Apostels Paulus, kommt,
zumal in den Kreisen der Gottesfreunde, besondere Bedeutung zu,10 so dass
eine entsprechende Stilisierung nicht ausgeschlossen scheint; vergleichbar ist
etwa auch, dass des dieners Mutter, so heißt es in der ›Vita‹, in der
Todesstunde Jesu, an Karfreitag ze none gestorben sei (DS 143,8). Dass
Heinrich Seuses Mystik, Bern u. a. 21996, S. 9–24, hier S. 9–13); Kurt Ruh,
Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. III: Die Mystik des deutschen Predi-
gerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, hier
S. 417–420.
7 Die Angabe »nach 1362« für »nach Ulm versetzt« bei Sturlese/Blumrich (Anm. 4)
ist vermutlich in der Zeile verrutscht und sollte vor »Abfassung der Vita« und
»Herstellung des Exemplars« stehen.
8 Vgl. Bihlmeyer, DS, S. 132*–134* mit den entsprechenden Anmerkungen.
9 DS, S. 136*f. m. Anm. 3: Hss. S, f u. Clm 7819; zu letzterer auch Künzle, Hor.,
S. 155 f.
10 Vgl. z. B. dazu das ›Fünfmannenbuch‹ des Gottesfreundes: Merswins Vier anfan-
gende Jahre. Des Gottesfreundes Fünfmannenbuch. Die sogenannten Autographa,
hg. v. Philipp Strauch, Halle 1927 (ATB 23. Schriften aus der Gottesfreund-
Literatur 2. H.), 70,26–81,9, und die entsprechenden, über das Register s. v. Paulus
zu erschließenden Passus in: Karl Rieder, Der Gottesfreund vom Oberland, Inns-
bruck 1905. Vgl. auch die Darstellung der Entrückung des dieners (DS 10,16–30),
die mit wörtlichen Übernahmen sich dem Bericht vom raptus des Apostels Paulus
II Cor 12,1–6 angleicht. Vgl. Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6),
S. 446.
Autorschaft und Medienwandel 153
Seuses Grab selbst in der Ulmer Dominikanerkirche iuxta altare sancti petri
martyris gelegen sei, ist wiederum in zwei ›Horologium‹-Handschriften
notiert; den angegebenen Ort hat man in der zerstörten Kirche zwar rekon-
struieren können, das Grab selbst aber nicht gefunden.11 Dies bedeutet:
Selbst die relativ »gesicherten« Daten zu Seuses Leben und Werken sind
allein durch systematisierende und rekonstruierende Akte aus verstreuten,
und im einzelnen stets neu zu interpretierenden und gewichtenden Angaben
zu gewinnen – und dies, obwohl mit der ›Vita‹ ein, wenn vielleicht auch nicht
»echtes«, so doch »authentisches«, möglicherweise »autobiographisches«
Zeugnis vorliegt.12 Es ist offensichtlich, dass dies eine direkte Folge der
Präsentation des Autors in seinen Werken ist, »Autor« zunächst verstanden
als Chiffre für »Verfasser« und/oder »Verfasserin« und für einen Autor, den
es hier auch »im Plural»13 geben mag (»Werkstatt«).14
Die Präsentation des Autors ist nun ausgesprochen irritierend, verrätselnd.
Dies beginnt bereits mit dem Namen. »Seuse nannte seine Selbstdarstellung
der Súse«, heißt es bei Kurt Ruh.15 Dies ist so eindeutig nicht. Die Über-
schrift der ›Vita‹ lautet in den Handschriften des ›Exemplars‹: Hie vahet an
o
daz erste tail dizz buches, daz da haisset der Súse (7,1). Der Satz ist
grammatisch nicht eindeutig; ob sich das daz des Relativsatzes auf daz erste
o o
tail oder auf dizz buches bezieht und ob mit buch das ›Exemplar‹ oder dessen
erstes ›Büchlein‹ gemeint ist, ist dieser Überschrift allein nicht zu ent-
nehmen, die Überschrift zum zweiten Teil der ›Vita‹ ist hinzuzuziehen. Sie
o
lautet: Hie vahet an daz ander teil diss ersten buches (DS 96,2). Lediglich in
der parallelen Konstruktion der Überschrift des zweiten Teils mit ihrer in
einem Punkt distinkten Abweichung von der Überschrift des ersten Teils ist
ein Hinweis darauf enthalten, dass das Demonstrativum dizz in Zusammen-
o
hang mit buches in der ersten Überschrift darauf deutet, dass nach dem
Willen dessen, der diese Überschriften eingesetzt hat, das erste »Buch« des
Exemplars den Namen der Súse erhalten hat. Gleichwohl enthält nicht der
o
Text allein, sondern erst der Text in seiner Aufzeichnung als buch den Namen
o
der Súse. Von den semantischen Merkmalen von buch werden offensichtlich
eher die materiellen als die inhaltlichen Aspekte akzentuiert, wie auch am
ersten Satz des ›Exemplar‹-Prologs abzulesen ist: In disem exemplar stand
11 Albrecht Rieber, »Auf der Suche nach dem Grab Heinrich Seuses«, in: Heinrich
Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366–1966, gesammelt u. hg. v. E. M. Filthaut,
Köln 1966, S. 457–477.
12 Diese Differenzierung öfter, zuletzt bei Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens
(Anm. 6), S. 420 u. 445.
13 Jan-Dirk Müller, »Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegen-
wärtiger Diskussion«, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld
von Hof und Kloster, hg. v. N. F. Palmer u. H.-J. Schiewer, Tübingen 1999, S. 149–
166, hier S. 158.
14 Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen zur
Überlieferungsgeschichte und zur Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert,
Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kultur-
geschichte 8), S. 67.
15 Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6), S. 445.
154 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler
o e
geschriben vier gutú buchlú. Die Wolfenbütteler Hs. Cod. guelf. 78.5 Aug. fol.
(Sigle W; 1473) und die Drucküberlieferung (a) haben beide Formulierungen
aufgenommen und sie auf die Überschrift des ›Exemplar‹-Prologs und damit
e
auf alle vier buchlú übertragen. Wo es sonst heißt Diz ist der prologus, daz ist
o o
dú vorred diss Buches (3,1) wird in W und a diss Buches ersetzt durch des
e
buchlins, das da heisset der Seüsse; in b wird der Zusatz das da heisset der
Seüsse wieder getilgt mit der Begründung: So heißt er nit mer Seüss wie wol
man yn also nennt Sonnder er haißt Amandus (2r).
Die Möglichkeit, einen Personennamen als einen alle vier Schriften um-
greifenden Buchtitel einzusetzen, findet ihr Komplement in den Überschrif-
ten der ebenfalls im 15. Jahrhundert entstandenen Hss. N, P und A1. Sie
enthalten das ›Exemplar‹ ohne den Prolog und die ›Vita‹ in stark gekürzter
Form (N), neben anderen Schriften nur die ›Vita‹ und das ›Kleine Briefbuch‹
(P) oder allein die ›Vita‹, aber mit dem Prolog des ›Exemplars‹ (A 1). In
ihnen wird nun auch der Name mit einer Person verknüpft und das, was im
o
buch aufgezeichnet ist, als das leben dieser Person bezeichnet: Die Über-
schrift der ›Vita‹ lautet in P: dis ist des súsen leben und in N: daz leben eins
predigers der do hies súse; in A1 ist als Überschrift des ›Exemplars‹
eingesetzt: hie fahet an des súsen leben und ander gute leer.
Die Praxis, ein Werk mit einem (Autor-)Namen zu benennen, ist in der
handschriftlichen Überlieferung, insbesondere der des 15. Jahrhunderts, nicht
so selten. In zwei Stricker-Hss. (München, Cgm 273; Karlsruhe, St. Georgen
86) heißt es: Ditz puch hayssent sy den strickh bzw. Hie nach volget das buch
genant der Stricker. Der weitverbreitete mystische Traktat ›Von den drîn
fragen‹ hat in der Stuttgarter Hs., LB, Cod. 283, Bl. 293vb die »Nachschrift«
e
Disz buchlein haist der lerer. Als Gattungsbezeichnung für bestimmte lite-
rarische Typen erscheinen auch der Name Neidharts, Freidanks und des
Teichners.16 Dass es einen Autor mit Namen »Seuse« (o. ä.) gegeben und
sich dieser nach dem Namen seiner Mutter genannt habe, ist bekanntlich
ausschließlich im Prolog zum ›Exemplar‹ im Augsburger Druck (Johann
Othmar) von 1512 (b) überliefert. Dort heißt es im Prologus (1v/2r): Der
e
wirdig vater und andechtig liebhaber und diener gots der owigen weißhait
o
von dem die materi diss buchs außkomen ist und gesetzt den man nennt seüß
o
[…] Der Erst zunam was / das er hieß Hainrich vom berg Wann sein vater
o
was ain wolgeborner man ainer vom berg aus dem hegow / Den zunamen hat
o
er nit lang behebt Sonder er wolt genant werden nach seiner mutter seüss
e
wann sy was ain andechtige gotzforchtige fraw und hieß seüsserin. Darumb
16 Karl-Ernst Geith u. a., »Der Stricker«, in: 2VL 9, 1995, Sp. 417–449, hier Sp. 430;
Heinrich Seuse Denifle, Taulers Bekehrung, Straßburg 1879 (QuF 36), S. 39; zu
dem Traktat vgl. Kurt Ruh, »›Von den drı̂n fragen‹«, in: 2VL 2, 1980, Sp. 234 f.;
vgl. ferner die Zusammenstellungen bei Günther Schweikle, Neidhart, Stuttgart
1990, S. 23; Eberhard Lämmert, Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Un-
tersuchung der Teichnerreden, Stuttgart 1970, S. 14–17; Berndt Jäger, »Durch
reimen gute lere geben«. Untersuchungen zu Überlieferung und Rezeption Frei-
danks im Spätmittelalter, Göppingen 1978 (GAG 238), S. 215–218.
Autorschaft und Medienwandel 155
wolt er auch iren namen haben und ir in tugenden unnd namen nachuolgen
Also nant man jn Hainrich seüss. In seinen haimlichen offenbarungen habe
man nach seinem Tode gefunden, dass jm got selb den namen Amandus hat
o
auffgesetzt. Es ist unbekannt, woher der buchdrucker, so nennt sich der
Verfasser des Prologus, die Erzählung vom Namen vom berg und seüß hat;
die Identifizierung mit Amandus, so der Name, den der im übrigen dezidiert
namenlose iuvenis oder discipulus sapientae von der Weisheit im ›Horolo-
o
gium‹ erhält,17 konnte der buchdrucker einer Tradition entnehmen, deren
ältester noch erhaltener Repräsentant die Pommersfeldener Hs. 174 ist; eine
noch im 14. Jahrhundert, aber nachträglich angebrachte Notiz besagt: Beatus
Henricus susze frater ordinis predicatorum compilavit horologium eterne
sapiencie librum caritatis. Anno 1366° obiit in die conversionis sancti pauli
(Bl. Ir).18
Damit ist deutlich, dass erst für die handschriftliche Überlieferung jenes
»seit dem 12. Jahrhundert« bestehende »Interesse an der Verknüpfung eines
Textes mit einem [Autor-] Namen« nachzuweisen ist.19 Die Überlieferung
erst bezog die verstreuten Spuren aufeinander, die in verschiedenen Tradie-
rungswegen und in den verschiedenen Texten des deutschen ›Exemplars‹ und
des lateinischen ›Horologium‹ vorhanden waren und eine Reihe von Identi-
o
fikationen zuließen: Die Identifikation zweier Namen, des (einem buch
gegebenen) Namens Seuse und des (einer literarischen Rolle zudiktierten)
Namens Amandus mit einer nur in der Schriftlichkeit und in Andeutungen
greifbaren Autorfigur und die Identifikation von Namen und Autorfigur mit
den verschiedenen Rollen des dieners, des jungers, des discipulus, die die
Texte – und die Bilder – präsentieren. Dies setzt sich bis in die Gegenwart
fort, in der sehr häufig die in allen Bildern des ›Exemplars‹ mit der diener
bezeichnete Figur mit »Seuse« benannt wird.20
Wie die Überlieferung die Angaben von Text und Überlieferung aufge-
nommen und zusätzlich in eine lebensweltliche Sphäre transformiert haben
mag, lässt sich am Beispiel des Verfassers des Vor- und des Nachworts des
›Exemplar‹-Druckes von 1512 (b) demonstrieren. Er schreibt, dass Seuse
sich offt selbs … Seüss genannt habe und man ihn deswegen nit anders
o
nennet dann bruder seüss. Dann aber heißt es weiter: Wiewol etlich sprechen
e e o
er hab gehaissen suss / So aber suss und seüss im buchstaben und in der stym
e
garnach gleichformig seind und er sich selb genennt hat Seüss wie oben
e
berurt / so ist glaublich die schreiber und leser haben geirret / Und
e
suss für seüss gesetzt. Hier ist Kenntnis der Überlieferung vorhanden, in der
gelegentlich – wie für den Münchner Cgm 362 (7,1) zu belegen – sües
geschrieben wird. Textkenntnis, wenn auch nicht sehr präziser Art, zeigt sich
im Wissen um den Namen Amandus; dass sein Träger den Namen von
e
demut wegen verdruckt habe, ist wohl eine Erzählung, die sich an das
Verschwiegenheitsgebot, das in Conversio-Erzählungen des öfteren auf-
taucht,21 angehängt hat. Nicht letztlich ausschließen wird man auch können,
dass ein von der Mutter übernommener Name seüss aus dem Bericht der
›Vita‹ von der widerwertigen unglichheit der Eltern des dieners (DS 142,18)
herausgesponnen worden ist, der dem vater im entsprechenden Zusammen-
hang zuschreibt, er sei der welt vol gewesen, während die Mutter vol gotes
gewesen sei (23,21 ff.; 142,17 ff.).
Frühe Überlieferung, und das gilt im wesentlichen für die älteste Hand-
schrift des ›Exemplars‹, die Straßburger Handschrift, Straßburg, Bibl. natio-
nale et universitaire, Cod. 2929 (A), betonte den Aspekt der spirituellen
Unterweisung und Kontemplation im Konzept der Texte – und der Bilder,
obwohl bereits auch hier erste Ansätze zu beobachten sind, die eher ein
Interesse am Autor berücksichtigen. In den Texten der Straßburger Hand-
schrift, »sie ist die älteste und beste Hs. des ›Exemplars‹ und daher dieser
[Bihlmeyers] Ausgabe zugrundegelegt«,22 präsentieren sich die verschie-
denen Aspekte jener Größe, die im »emphatischen Autorkonzept der Neu-
zeit»23 unter einem Begriff gefasst sind, zunächst in verschiedenen Instanzen
der Autorisierung und Legitimierung.
Durchgängig fehlt, auch in kommentierenden Passus, die Ich-Rolle eines
Erzählers oder Redners, die Rückschlüsse auf ein Verfasser-Ich zuließe. Im
e
prologus zum ›Exemplar‹ erhalten hingegen die vier buchlú, die es enthält,
e
Subjektstatus, die buchlú »sprechen«. So heißt es etwa: Daz erst seit […] von
eim anvahenden lebene und git togenlich ze erkennen (3,2–4); oder es git
o
[…] vil guten underschaid […] und lert (3,16). Das zweite Büchlein, das
›Büchlein der ewigen Weisheit‹ (Bdew) ist ein gemeinú lere, und sait von
e
betrahtung […] (3,19). Das dritte Büchlein, daz da heisset daz buchli der
warheit (Bdw) […], wiset […] den menschen […] uf den rechten weg
e
(4,9,14 f.). Vom vierten Büchlein, dem briefbuchli, wird gesagt, dass es ein
bestimmtes Ziel habe – des mainung ist […] (4,23). Die »Stimme« des
Autors erscheint in den Prologen zu Beginn des ›Exemplars‹ ausschließlich
in einer Metapher, die die Schriftlichkeit und die Materialität des Buches
reflektiert.
Von einem Autor dieser vier Büchlein als einer personal gedachten Größe
e
ist erst beim Bdew die Rede. Es heißt dort: Wan aber daz selb buchli und
e
etlichú me siner bucher nu lange in verren und in nahen landen von
mengerley unkunnenden schribern und schriberin ungantzlich abgeschriben
sind, daz ieder man dur zuo leite und dur von nam nach sinem sinne, dar umb
hat sú der diener der ewigen wisheit hie zuo samen gesezzet und wol gerihtet,
daz man ein gereht exemplar vinde nach der wise, als sú ime dez ersten von
gote in luhten. (4,1ff.)
Die Tätigkeit des dieners der ewigen wisheit, des einen der beiden »Ge-
e
sprächspartner«,24 in bezug auf »seine« bucher wird als »zusammenstellen«
und »einrichten« benannt. Dass der diener sie verfasst habe und damit auch
für deren Text verantwortlich sei, wird nicht gesagt; sie seien ihm ur-
sprünglich von Gott »eingegeben« worden (so übersetzt Georg Hofmann),25
und dies sei von den Schreibern verfälscht worden. Die Tätigkeit des Autors
erscheint allein als Medium für die Inspirationsgeste einer letzten, Autorität
verheißenden Instanz und in der Klage über die Unmöglichkeit, die Schrei-
bertätigkeit anders zu kontrollieren als mit der Einrichtung eines gerehten,
eines »tauglichen«,26 wohl auch »korrekten« Exemplars. Von Erfinden oder
nach Vorgefallenem wiedergeben, von schreiben oder diktieren ist keine
Rede, allein von einer – wie auch immer gefassten – Zuständigkeit des
dieners für »seine« Bücher.
Zum dritten Büchlein, dem ›Büchlein der Wahrheit‹, gibt es keine derar-
tigen Bemerkungen. Doch wird betont, dass in diesem Buch nicht, wie in
anderen Fällen, ungelehrte, jedoch vernunftbegabte Menschen die hohen
sinne der heiligen schrift von den lerern (4,11 f.) falsch (verkerlich) rezipiert
und sie auch dementsprechend aufgeschrieben hätten, sondern dieses Büch-
lein führe mit Unterscheidungsvermögen auf die eine ungeteilte Wahrheit,27
die nach christlicher Wahrnehmung in der Heiligen Schrift von Gott gemeint
sei (dú dar inne von got nach cristanlicher nemung gemeinet ist 4,16 f.). Nur
verdeckt erscheint hier in der Abgrenzung von falscher Rezeption und
falschem Schreiben in der Formel nach cristanlicher nemung so etwas wie
die – mit einer allgemeinen Norm identische – Auffassung eines Autors,
welche der von Gott geoffenbarten Wahrheit entspricht.
Beim vierten Büchlein heißt es hingegen etwas unvermittelt, dass dieses
sog. ›Kleine Briefbüchlein‹ sin geischlichú tohter (4,18 f.) »zusammenge-
stellt« habe (zesamen brachte 4,19). Sin kann sich nur auf den mehrere
Zeilen zuvor (4,5), beim zweiten Büchlein (Bdew), zum ersten Mal erwähn-
ten diener beziehen, von dem im weiteren ausschließlich im Pronomen er die
Rede ist: Zusammengestellt habe die tohter das Büchlein aus allen den
briefen, die »er« ir und andren sinen geischlichen kinden »gesendet« habe.
o
Daraus habe si ein buch […] gemachet (4,20 f.). Aus diesem dann habe er
o
einen Teil dero brieven genomen und habe es, das buch, gekurzet, als man es
hie na vindet (4,21 f.). Die Tätigkeit des dieners besteht allein aus einem
ursprünglichen senden von briefen und aus dem Kürzen auf ein im ›Exem-
o
plar‹ vorhandenes buch hin. Die tohter immerhin hat ein Buch gemachet. Die
o
Verteilung auf mehrere Instanzen von einem vorgegebenen buch, für das die
tohter verantwortlich ist, hin zu einem vom diener gekürzten Buch, ist
ähnlich wie im Falle des ›Büchleins der ewigen Weisheit‹ – wenn auch hier
der diener immerhin zeitlich und ursächlich am Beginn der Reihe steht mit
dem senden einzelner Teile des ersten Briefbuches.
Das gleiche Phänomen, komplexer in seiner Begründung und Ausfaltung,
ist auch in dem zunächst ausgesparten Bericht über Entstehung und Legiti-
mation des ersten Büchleins, der ›Vita‹, zu finden. Für die ›Vita‹, die im
Gegensatz zu den anderen Büchlein in keinem der beiden Prologe einen Titel
erhält, gibt es zwei solcher Berichte, im Prolog zum ›Exemplar‹ (4,29–6,10)
und im Prolog zur ›Vita‹ selbst (7,1–8,3), und sie verfolgen mit variierenden
Mitteln ähnliche Ziele. Sie sollen hier noch einmal diskutiert werden, auch
wenn dies in nahezu jedem Beitrag zur ›Vita‹ geschieht.
Zunächst (4,29ff.) ist von einer Ursprungsversion auch dieses ersten Büch-
leins die Rede. Sie wird in all ihrer Materialität benannt (die quaternen diss
o
ersten sinnenrichen buches) und als Subjekt des ersten Satzes präsentiert,
ohne dass gesagt wird, wie sie entstanden ist: Die quaternen […] lagen vil
jaren und warteten (beiteten) auf den Tod des dieners, weil dieser zu seinen
Lebzeiten sich dur mit […] keinem menschen offenbaren wollte. Erst in
dieser topischen, die Rezipienten einbeziehenden Geste der Bescheidenheit
erscheint die Verantwortung des dieners für die quaternen. Der Unmöglich-
keit, die Rezeption des Büchleins kontrollieren zu können, zumal von Men-
schen, die aus Dummheit oder Böswilligkeit valsch urteil dar úber wurdin
gebende, wird wiederum durch die Berufung auf höhere Instanzen begegnet.
Anders aber als beim Bdew wird die Verantwortung für ein gereht exemplar
nicht auf eine Eingebung (in luhten 4,7 f.) Gottes zurückgeführt. Im Be-
schluss des dieners, das Buch zunächst verschlossen zu halten, es dann doch
gegenüber wenigen zu öffnen und es mit deren Zustimmung in einem dritten
Schritt vielen zugänglich zu machen, zeigt sich des dieners Verfügungsgewalt
über das Produzierte, zumindest in dessen Anfangsstadium. So wählt er denn
ein weiteres Mal aus (súndert) und legt dem Provinzial der Dominikaner in
e
der Teutonia Bartholomäus (aus Bolsenheim) die aller hohsten sinne und die
o
aller úberswenksten materien aus diesem buch vor (5,13 f.), und Bartholo-
mäus billigt es: Den Lesern, denen es nicht – wie vom diener befürchtet –
aus bösem Willen oder Dummheit an Verständnis fehle, sondern den Lesern,
die guten Willens und von genauer Kenntnis seien (allen wolgesehenden
menschen 5,21 f.), würden die ausgewählten Passus so wie ein togenlicher
e
suzzer kerne uss der heiligen schrift sein.28 Danach seien die fehlenden, die
fraglos akzeptierten und gleichwohl die notwendigen Voraussetzungen bie-
tenden Passus (dú gemain lere 5,22) zu diesem súzzen kerne hinzugefügt
worden, ohne dass gesagt wird, wer dies getan habe. Da Bartholomäus
plötzlich verstorben sei29 und der diener nicht gewusst habe, was nun mit
dem Vorhandenen zu tun sei, habe er sich um Hilfe an die ewigen wisheit
gewandt. Sie erscheint hier zum ersten Mal als Personifikation, aber von
einer unmittelbaren Antwort oder Reaktion der höchsten Instanz wird nichts
gesagt: In einer visio begegnet ihm der verstorbene gelehrte Magister (er
wird dreimal als maister bezeichnet). Mit allen Merkmalen der Seligkeit
ausgestattet (in liehtricher gesiht 6,7) verkündet der maister dem diener, dass
o o
es gotes guter wille sei, dass »es«, das buch demnach, auch weiterhin
(fúrbaz) allen Menschen guten Willens zur Verfügung stehe, die »es« mit
rehter meinung und jamriger belangung zu haben wünschten (sin hetin ein
begeren).
Der Bericht von der Entstehung der ›Vita‹ im Prolog zur ›Vita‹ selbst
weicht nur sehr bedingt von der Darstellung im Prolog des ›Exemplars‹ ab.
Ist dort nur vom diener die Rede, so wird hier zwischen einer ungenannt
bleibenden Person und deren Übernamen differenziert: Ein brediger in tút-
schem lande, von geburt ein Swabe habe den Wunsch gehabt, ein diener der
ewigen wisheit zu werden und zu heißen (7, 1–4). Ein mensch, bei dem es
sich nach Ausweis der Pronomina um eine Frau handelt, habe gewünscht,
dass der diener ihr von lidene usser eigenr enpfindunge sage. In diesen
Gesprächen, deren »heimlicher« Charakter zweimal betont wird (mit heinli-
e
chen fragen, in gotlicher heimlichi 7,8ff), erläutert er einen dreigestuften
Weg, berichtet er ihr die Art und Weise sines anvanges und fúrgangs und die
e
etlich ubunge und liden, die er hat gehabt (7,10f).
Davon erfährt sie trost und wisung und schreibt es alles auf, aber ohne
dass er davon weiß, verstoln vor ime. Sie schreibt es auf, ir selb und och
andren menschen ze einem behelfen. »Er« bemerkt diesen geischlichen
dúpstal, und sie muss »es« ihm herausgeben. Er verbrennt alles, daz im do
ward. Eine Himmelsbotschaft untersagt ihm, mit dem ander teil ebenso zu
verfahren. Nicht verbrannt also wurde das, was diesem Prolog in der Hand-
schrift folgt (dis nagende), als si es den meren teil mit ir selbes handen hate
geschriben.
Es ist bekannt, dass dieser Passus des ›Exemplar‹-Prologs zusammen mit
Angaben des 33. und 35. Kapitels der ›Vita‹ und des 3. und 8. Briefs im
›Kleinen Briefbüchlein‹ des ›Exemplars‹ die Basis für die langanhaltende
Diskussion um die »Echtheit«, und d. h. primär um die alleinige Autorschaft
Seuses an der ›Vita‹ geboten hat.30 Davon soll hier nicht noch einmal die
des dieners erzählt, um zugleich über diese Dimensionen hinaus die katego-
riale Differenz wahrer gelassenheit erahnen zu lassen, wie sie im 48. Kapitel
noch einmal in ihren zwei Formen unterschiedlicher Wertigkeit und gegen-
über falscher gelassenheit argumentativ entfaltet wird.
Diese Funktion der erzählenden Partien kann ein bekanntes Beispiel im
›Büchlein der ewigen Weisheit‹ verdeutlichen, das eine Vorstellung von
Ewigkeit, also der Aufhebung aller Zeit, vermitteln soll: »[…] Owe, wir
[Verdammten] gertin nit anders, wan were ein múlistein als breit als alles
o
ertrich und umb sich als groz, daz er den himel allenthalben rurti, und kemi
e
ein kleines vogelli ie úber hundert tusent jar, und bissi ab dem stein als groz,
e
als der zehende teil ist eins hirskornlins, und aber úber hundert tusent jar so
vil, also daz es in zehent stunt hundert tusent jaren als vil ab dem stein
e
geklubeti, als groz ein ganzes hirskornli ist, – wir armen begertin nit anders,
denn, so dez steines ein ende were, daz och únsrú ewigú marter ein ende
hete, – und daz mag nit sin!« (239, 12–20)
Das Beispiel ist auch aus anderen Zusammenhängen bekannt (KHM 152;
AaTh 150, 922); die bereits ins Unermessliche gesteigerten Zeitangaben
können die Differenz zum Un-Endlichen, zur kategorial anderen Dimension
verdeutlichen.
Dass die erzählenden Passus als Exempla dienen, die notwendig erzählt
werden müssen, damit die kategoriale Differenz zum eigentlich Gemeinten
aufscheint, wird in der ›Vita‹ dadurch verdeutlicht, dass die bilde auf ihren
Charakter als bilde hin durchsichtig gemacht werden. Dafür werden mehrere
Verfahren eingesetzt. Es geschieht durch Schriftzitate, die die Rolle des
dieners z. B. mit der Rolle des verfolgten Christus überblenden (z. B. DS
77,3 f. und Mt 26,55), durch die Evokation von bekannten bilden, z. B. der
Christus-Johannes-Gruppe (DS 20, 20–23), der Maria-lactans-Figur (DS
49,25–50,17) oder des Schmerzensmanns (im Bdew, DS 198,25–199,6). Es
geschieht durch die Inszenierung des bildes als das eines Gesehenen, Ge-
schauten – als bekanntestes Beispiel in der Fußtuch-Episode verwirklicht
(DS 58, 3–13).33 Wie diese Szene realisieren auch eine ganze Reihe von
Erzählungen im Rahmen der ›Vita‹ und diese selbst das Modell legendarisch-
spirituellen Erzählens, das in den ›Vitas Patrum‹ entwickelt worden ist.34
Einzelne Szenen und die Struktur der ›Vita‹ sind bezogen auf höfisch-
literarisches Handeln, dessen Merkmale, insbesondere im Bild des Ritters,
als ebenso exemplarisch-vorbildhaft wie defizitär in Hinblick auf das wahre
vingerli der wahren frowe, der ewigen wisheit, präsentiert werden.35 Die
Anlage der ›Vita‹ ist zugleich auf ihre »pastorale Funktion« hin syste-
matisiert, d. h. entgegen einem chronologischen Schema werden bestimmte
Themen und Komplexe gebündelt, blockartig zusammengestellt und in zwei
großen Einheiten geboten, die am »Weg« des dieners und am »Weg« seiner
geischlichen tohter in der dialogischen Begegnung mit dem diener orientiert
sind.36 Dass selbst der Prolog zur ›Vita‹ einem literarischen Modell folgt –
ein Kunstwerk wird durch göttliches Eingreifen gerettet –, darauf hat Jeffrey
F. Hamburger hingewiesen; in der ›Vita‹ selbst findet sich ein Bericht, dass
ein Maler die Bilder in der capell beenden kann (DS 60, 10–29), und im
Prolog wird die Verbrennung auch des anderen Teils der ›Vita‹ abgewie-
sen.37
Diese Skizze mag genügen, um den spezifisch literarischen Charakter der
›Vita‹ noch einmal zu beleuchten. Gleichwohl hat es, sicher nachweisbar seit
dem 15. Jahrhundert, eine Lektüre der ›Vita‹ gegeben, die aus einem ge-
nuinen Interesse an der Vita eines Autors Seuse aus den verschiedenen
Angaben der ›Vita‹ des ›Exemplars‹, insbesondere solchen zu Zeiten und
Zeitfolgen, einen Lebenslauf Seuses zu rekonstruieren verstand, obwohl auch
die Hinweise auf bestimmte Lebensalter und die mit ihnen verknüpften
Geschehnisse ebenso topisch wie »bezeichnend« sind.38
Ablesen lässt sich dieses Interesse nicht zuletzt an der Positionierung und
dem Funktionswandel der Bilder, die den Handschriften des ›Exemplars‹ von
Beginn an mitgegeben worden sind.
35 Julius Schwietering, »Zur Autorschaft von Seuses Vita« [1960], in: Altdeutsche
und altniederländische Mystik, hg. v. K. Ruh, Darmstadt 1964 (WdF 23), S. 309–
323, zugespitzter noch: Walter Haug, »Grundformen religiöser Erfahrung als
epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und
spätmittelalterlichen Differenzmodell« [1992], in: ders, Brechungen auf dem Weg
zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995,
S. 501–530, hier S. 527–530.
36 Am pointiertesten und wohl ein wenig zu schematisch herausgearbeitet von Walter
Blank, »Heinrich Seuses ›Vita‹. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion
seines Schrifttums«, ZfdA 122 (1993), S. 285–311, hier bes. S. 289; zuvor bereits
Christine Pleuser, »Tradition und Ursprünglichkeit in der Vita Seuses«, in: Hein-
rich Seuse. Studien (Anm. 11), S. 135–160.
37 Jeffrey F. Hamburger, »The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns. The Case
of Heinrich Suso and the Dominicans«, The Art Bulletin 71 (1989), S. 20–46, hier
S. 29 m. Anm. 63.
38 Zum Alter von 18 Jahren (DS 8,4; 52,7) vgl. die mancherorts übliche Vorstellung
von Mündigkeit (B. Primetshofer/W. Brauneder, »Alter«, in: LexMA Bd.1, Sp.
470 f.) oder den Hinweis auf ein vor 1265 übliches Alter bei der Profess bei P.
Isnard M. Frank OP, »Zur Studienorganisation der Dominikanerprovinz Teutonia in
der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und zum Studiengang des seligen Heinrich
Seuse OP«, in: Heinrich Seuse. Studien (Anm. 11), S. 39–69, hier S. 48; zum Alter
von 40 Jahren vgl. Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6), S. 447
und Walter Röll, »Der vierzigjährige Dichter«, ZfdPh 94 (1975), S. 377–394.
164 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler
39 Letzte Übersicht bei Rüdiger Blumrich, »Die Überlieferung der deutschen Schrif-
ten Seuses. Ein Forschungsbericht«, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis
(Anm. 34), S. 189–201, hier S. 190–192.
40 Roland Recht, »Strasbourg et Prague«, in: Die Parler und der schöne Stil
1350–1400. Bd. 4: Das internationale Kolloquium vom 5. bis zum 12. März 1979
anlässlich der Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Kunsthalle Köln, hg. v.
A. Legner, Köln 1980, S. 106–117, hier S. 114 Datierung, S. 110 f. Abb.
41 Vgl. Josef Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen
Sprachgebiet, Wiesbaden. 21982, S. 14: ›Johann Otmar 1502–1514‹; H. H. Bock-
witz, »Johann Othmar und sein Sohn Sylvan«, in: Börsenblatt für den deutschen
Buchhandel 4 (1948), S. 858.
Autorschaft und Medienwandel 165
erweitert. Auch die Ikonographie der Bilder ist in den Grundzügen und in
vielen Details identisch.
In der Verteilung der Bilder weicht jedoch die Pariser Hs. P, die wie A aus
Straßburg, aus dem Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis, stammt,
deutlich von der anderen Überlieferung ab. Die Bilder sind nicht in den
fortlaufenden Text eingefügt worden, sondern erscheinen nach ›Vita‹ und
›Briefbüchlein‹ zusammengestellt auf Bl. 118v – 124v, wobei Reihenfolge
und Menge der Bilder jenen von A gleichen, obwohl das Bdew in P fehlt,
dem in A das letzte Bild zugeordnet ist. Ohnehin gleichen die Bilder in P den
Bildern von A in mancher Hinsicht mehr als alle anderen, was angesichts der
auffallenden Schlichtheit der Darstellung um so überraschender ist.
Die Verteilung der Bilder folgt in den anderen Handschriften und Drucken
im wesentlichen dem in A sichtbar werdenden Prinzip; dabei zeichnet sich
eine Gruppe von Hss. ab, die A in der Aufteilung der Bilder und ihrer
Zuordnung zu bestimmten Textstellen präzise entspricht (R, B 1, auch K – zu
deren Aufteilung der Bildseiten s. o.), während W und die beiden Drucke a
und b gegen Ende des Zyklus in Maßen eigene Wege gehen, wie oben
beschrieben.
Die Bilder befinden sich in beiden Gruppen zumeist am Ende eines
Kapitels oder innerhalb eines Kapitels am Ende eines Sinnabschnitts, zu dem
es deutliche inhaltliche Bezüge gibt. Die Bilder beziehen sich jedoch grund-
sätzlich nicht auf jene berühmten Erzählungen der ›Vita‹, die als besonders
anschaulich oder anekdotenhaft eine bildliche Darstellung im Sinne einer
illustrativen Umsetzung anzubieten scheinen, wie etwa das 26. Kapitel ›Von
einem morder‹ (DS 78,21ff.) oder das 44. Kapitel, das von der Begegnung
des dieners mit einem aventúrer in einem schef uf dem bodensew berichtet
(149,2ff.). Von den Bildern Bihlmeyer Nr. 1, 5 und 11 abgesehen, präsentie-
ren die Bilder vielmehr den diener der ewigen wisheit – so die Beischrift für
eine der beiden zentralen Figuren des ersten Bildes – als Visionär oder, in Nr.
4, als zentrale Figur einer Vision einer anderen Figur, die hier mit Anna
bezeichnet wird (Farbtafel 2).45 Dabei wird die Sphäre des Gesehenen,
Geschauten in A nicht als Sphäre einer Imagination mit einem eigenen
Wirklichkeitsstatus von der Sphäre des dieners abgehoben; die Figur des
dieners ist selbst Teil der Vision.
Die Bilder Nr. 1 und 11 sind demgegenüber in anderer Weise funk-
tionalisiert; und in Bild Nr. 5 sind die einzelnen Elemente gegenüber der
Figur des dieners in ein anderes Verhältnis gesetzt. In Bild Nr. 1 (Farbtafel 3),
das in den vollständigen ›Exemplar‹-Handschriften noch vor den Prolog zum
›Exemplar‹ plaziert worden ist und somit als programmatisches »Titelbild«
des gesamten ›Exemplars‹ betrachtet werden kann, erscheint der diener durch
Figurengröße, Blick und Körperhaltung und, nicht zu vergesssen, durch die
der Überlieferung jene feste Ikonographie geschaffen, die von nun an das
Bild Seuses, das Bild des Autors Seuse prägt und die Lektüre der ›Exem-
plar‹-Schriften wenn schon nicht steuert, so doch einer Identifikation des
Namens Súse mit der Figur des dieners und einem biographischen Konstrukt
nicht wehrt, das aus den erzählenden, »bildhaft« gedachten Teilen der ›Vita‹
gewonnen ist.
In Bild Nr. 11 (A: x) erscheint die Figur des dieners nicht (Farbtafel 5); der
sog. »mystische Weg« der Seele ist an einer Frauenfigur demonstriert, und es
sind der Indizien zu viele, als dass diese Figur, die musterhaft den dreifachen
o
Weg, den ersten begin, den ordenlichen durpruch dez zunemens und den al-
o
lerhehsten v́berswank v́berweslicher volkomenheit demonstriert,49 als »Ab-
bild« einer Figur der Lebenswelt begriffen werden könnte.50 In Bild Nr. 5 (A:
v), das nach der entsprechenden Erläuterung den strengen vndergang etlicher
[!] vserwelter gotes frúnden zeigt (A Bl. 57r, DS, S. 48*), ist die zentrale
Figur zwar als Dominikaner präsentiert, die Beischrift der diener fehlt jedoch
konsequenterweise ebenso wie die anderen sonst eingesetzten Indizien (Farb-
tafel 6). Die Identifikation dieser Figur mit dem diener ist also nur möglich,
wenn die Erinnerung aus der Lektüre der gesamten ›Vita‹ die im Bild
fragmentarisiert versammelten und auf »den Dominikaner« konzentrierten
Peinigungen als komprimierte Zeichen für die im Text beschriebenen liden
verstehen lässt. So wird das Nagelkreuz mit dem Christusmonogramm im 16.
und auch im 17. Kapitel erwähnt (DS 41,27; 45,7 u. 21), die Geißeln wieder
im 16. Kapitel (43,4 ff.), der Hund mit dem Fußtuch und der Teufel mit dem
Bohrer im 20. Kapitel (58,3ff.; 61,13), Teufel ob dem diener in den lúften im
37. Kapitel (115,13ff.), ein totes geschunden tierli von den wilden tieren
zerzerret im 38. Kapitel (125,13ff.), Teufel mit feurigem Pfeil und Bogen im
39. Kapitel (131,1ff.).
Die Zeichenhaftigkeit der einzelnen Leidensbilder ist vor allem zu erken-
nen an dem Hiob-Zitat frater eram leonum et socius strucionum (Iob 30,
29),51 der nachfolgenden Übersetzung Min breuder waren mir grimm lewen
vnd min gesellen vngehúr strussen und den Tieren, die entsprechend ins Bild
gesetzt werden. Sie fügen dem Dominikaner ebenso Leid zu wie die ihnen
gegenübergestellte Gruppe der Brüder aus dem Dominikanerorden, denen
der folgende Vers, eine Umkehrung von Ps 68,22, zugeschrieben wird: Mit
essich vnd mit gallen wellen wir in trenken mit schallen. Sie präsentieren dem
Leidenden den Essigschwamm aus den Arma Christi, damit wird zugleich
auf die Christförmigkeit von des dieners Leiden verwiesen.
Sowohl in den Bildern, die den diener in Visionen zeigen, als auch in den
drei Bildern, die das ›Exemplar‹ eröffnen (Nr. 1), das Leiden verdichtet
Layout seiner Vorlage seiten- und zeilengetreu zu wahren.53 Dies kann nur
bedeuten, dass in der Vorlage von A nach dem entsprechenden Textpassus
(DS 20,23) kein Bild vorhanden war. Da nahezu sämtliche Bilder in A auf
Einzelblättern aufgetragen worden und entsprechende Verfahren des Schrei-
bers zu beobachten sind, den Seitenspiegel im Anschluss an das Bild zu
wahren, bedeutet dies, dass die Bilder in der Vorlage von A, die mit Recht als
»originalnah« gilt, sehr wahrscheinlich en bloc zusammengebunden und der
Hs. inseriert gewesen sind, so wie dies noch jetzt in P zu beobachten ist.54 Es
ist zu überlegen, wie dieses – an sich nicht ungewöhnliche Verfahren – mit
dem zitierten Satz von den Bildern, die hie vor und na stand, übereinstimmen
könnte. Sicher ist, dass durch ein solches Verfahren das illustrative Moment
der Bilder, das noch bis in die gegenwärtige Terminologie hinein zu spüren
ist, zurückgedrängt und statt dessen deren reflexives Moment deutlicher
hervorgetreten ist.
Dass die Bilder in den meisten Hss. in den laufenden Text inseriert worden
sind, hat vermutlich nicht unerheblich dazu beigetragen, dass die ›Vita‹ als
Autobiographie und Seuse als ihr Autor begriffen worden sind. Denn Auto-
renbilder, die explizit auf Heinrich Seuse als Verfasser des Werkes hinweisen,
sind in A und in den anderen Handschriften nicht zu finden. Auch die in K
(Farbtafel 8 [I.]) und A (Farbtafel 8 [II.]) enthaltene große Initiale E zu
Beginn der ›Vita‹ (Es waz ein brediger in tútschem lande …), in deren
unterer Hälfte der Kopf bzw. der Oberkörper eines Mönchs erscheint, ist
nicht wie sonst häufig als Autorendarstellung zu verifizieren, sondern ver-
weist auf den diener, der im ersten Satz als brediger vorgestellt ist. Die im
Prolog als geischlichiú tohter (4,19) bezeichnete und möglicherweise im 33.
Kapitel dann – im Gegensatz zu einem Heinrich Seuse – explizit genannte
Elsbeth Stagel erscheint mit Namensbeischrift Elisabet auf dem 10. Bild
(Farbtafel 9); hier erhält sie, offenbar als Zeichen ihrer Teilhabe an der
besonderen Gnade, die dem diener zuteil geworden ist, von diesem einen
Rosenkranz. Sie selbst sitzt dabei auf einem thronähnlichen Stuhl, auf dem
neben ihr ein Buch zu sehen ist, das in W Bild Nr. 10 fehlt. Möglicherweise
wird auf diese Weise – in A – ihre Mitautorschaft in Szene gesetzt, die ihr in
W wieder entzogen ist. Ob die Bilder demnach eine Autorschaft »im Plural«
reflektieren und die jüngeren Handschriften sich demgegenüber auf den
diener als den einen mit »Seuse« identifizierten Autor konzentrieren, muss
53 Ein nahezu identisches Verfahren hat der Schreiber der sog. Kaloscaer Kleinepik-
Handschrift (jetzt Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bo[dmer] 72) bei der
Abschrift seiner Vorlage, des Heidelberger Cpg 341, angewandt; vgl. Konrad
Zwierzina, »Die Kaloscaer Handschrift«, in: Festschrift Max H. Jellinek, Wien/
Leipzig 1928, S. 209–232.
54 Jeffrey Hamburger hat uns in der Diskussion darauf hingewiesen, dass Bl. 9r
ursprünglich beschrieben war, dann aber radiert worden ist und dass dies folglich
auch andere Hypothesen zur Entstehung der Hs. A und zur Verteilung der Bilder in
deren Vorlage zulässt, auch wenn die Umstände der Rasur im einzelnen noch zu
klären sind. Wir danken Jeffrey Hamburger sehr herzlich für die Freundlichkeit
und Offenheit, mit der er uns seine Unterlagen zur Verfügung gestellt und in den
Pausen des Colloquiums auf der Reisensburg diskutiert hat.
Autorschaft und Medienwandel 171
Vermutung bleiben. Gleichwohl zeigt sich auch an diesem Detail, dass die
Bilder trotz eines Grundbestandes an wesentlich identischen Elementen offen
für Modifikationen sind, die ihre Funktionen in Bezug auf den Text und seine
Hauptfigur und für den Leser verändern. Demonstriert werden mag dies an
dem zuvor in anderem Zusammenhang besprochenen Bild Nr. 2 (Farbtafel 7),
einem der Visionsbilder.
Das Bild, Bl. 8v in Hs. A, folgt auf einen Abschnitt im 5. Kapitel der
›Vita‹. Dieser lautet:
o
Und eins males nach einem lidenden zite do geschah eins morgens fru, daz
er och umbgeben waz mit dem himelschen ingesinde in einer gesiht. Do
begert er von ire einem klaren himelfúrsten, daz er im zogti, in weler wise
gotes verborgnú wonung in siner sele gestalt were. Do sprach der engel
zuo im also: »nu tuo einen frolichen
e o
inblik in dich und lug, wie der minneklich
got mit diner minnenden sele tribet sin minnespil.« Geswind sah er dar und
sah, daz der lip ob sinem herzen ward als luter als ein kristalle, und sah
o
enmiten in dem herzen ruweklich sizen die ewigen wisheit in minneklicher
gestalt, und bi dem sass des dieners sele in himelscher senung; dú waz
minneklich uf sin siten geneiget und mit sinen armen umbvangen und an sin
e
gotlich herze gedruket, und lag also verzogen und versofet von minnen under
dez geminten gotes armen (DS 20, 10–23).
Bild Nr. 2 scheint auf den ersten Blick eine genaue Illustration dieses
Textabschnitts zu sein:55 Der diener sitzt auf einer altarähnlichen Bank dem
Betrachter frontal gegenüber. Mit beiden Händen öffnet er das Gewand über
der Brust und gibt so den Blick auf zwei kleine Gestalten frei, die dort in
inniger Umarmung zu sehen sind. Die linke Figur erscheint etwas größer als
die andere und ist mit einem Nimbus versehen; die rechte ist nackt, der Kopf
gesenkt, die Blickführung weist auf die größere Figur. Während der diener
durch die übliche Beischrift gekennzeichnet ist, lassen sich die beiden
kleinen Gestalten nur über den Text als Seele des dieners und als die Ewige
Weisheit bzw. Gott identifizieren. Links und rechts vom diener sind in ganzer
Gestalt zwei Engel zu sehen, die in der Luft zu schweben scheinen; sie
verweisen mit eindeutigem Zeigegestus auf den diener.
Da der diener dem Betrachter frontal gegenübersitzt, wird dieser gleich-
zeitig zu seinem »realen« Gegenüber; beide, der diener und der Betrachter,
treten somit in eine direkte, visuelle Dialogsituation. Die frontale Haltung
des dieners gestattet dem Betrachter einen unverstellten Blick auf das visio-
näre Geschehen. Wie der Engel dem diener den Blick in sein Inneres
ermöglichte und ihm dadurch Trost spendete, steht nun der diener an dieser
Stelle und lädt den Betrachter ein, ebenfalls Zeuge dieser Szene und damit
zum Vertrauten zu werden, was sonst besonders prägnant im Umgang mit
dem Status der Heimlichkeit für das Christus-Monogramm in Text und Bild,
für die Figuren des erzählten Geschehens und für den Leser zum Vorschein
kommt. Der Verzicht auf eine räumlich feste Verortung sowohl der Engel als
55 Vgl. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses. Untersuchungen zu
den illustrierten Handschriften des Exemplars, Diss. Mainz 1987, Bd.1, S. 77–81.
172 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler
auch der »Bank« weist gleichzeitig die Vorstellung ab, dass es sich bei
diesem Bild um die Darstellung einer wirklichkeitsnahen, erlebnishaften
Begebenheit handelt.
In P ist diese Darstellung noch durch eine kleine Abänderung gegenüber A
radikalisiert (Farbtafel 10): Der diener öffnet nicht sein Gewand, wodurch die
Ewige Weisheit und die Seele sichtbar werden, sondern hier hält er die Hände
über seinem durchsichtig erscheinenden Leib, in dem das Paar, das einander
umarmt, zu sehen ist.
Anders wiederum das Verfahren von W (Farbtafel 11): Insgesamt ist der
Bilderzyklus, wahrscheinlich von einem professionellen Illuminator, reicher,
auch kunstvoller ausgestattet als in A und besonders in P. Damit einher
gehen, wie bereits am Eingangsbild zu sehen, auch inhaltliche Veränderun-
gen, die am Ende das Bild als »Illustration« des zuvor Berichteten erscheinen
lassen. Zwar bleiben die Grundzüge des Bildes erhalten, doch statt der
beiden Engel, die in A rechts und links neben dem diener in der Luft zu
schweben scheinen, steht gegenüber dem diener, der nicht durch eine Bei-
schrift als solcher gekennzeichnet ist, ein Engel mit halb ausgebreiteten
Flügeln und verweist mit einem Zeigegestus auf die als Christus dargebotene
Ewige Weisheit, die die »Seele« (eine kleine nackte Gestalt mit Merkmalen
eines Kindes) an sich zieht. Diese beiden befinden sich jedoch nicht »im
Innern« des – hier nimbierten – dieners, sondern sitzen auf dem Schoß des
dieners, der beide leicht mit seinen Händen umfasst. Oberhalb dieser Szene
ist, vielleicht mit erneutem Rückgriff auf den Text, eine aus fünf Engeln
bestehende Gruppe zu sehen, die wie von einer Burgzinne den Abstand von
Erde und Himmel, der durch kräftige blaue Farben gekennzeichnet ist,
markiert. Die untere Szene dagegen ist deutlich auf einem durch grüne Farbe
gekennzeichneten wiesenartigen Untergrund verankert. Dadurch wird eine
räumliche Verortung des Geschehens vorgenommen: Der Bereich des Him-
mels wird als Aufenthaltsort der Engelgruppe deutlich von der Erde, wo sich
der diener aufhält, getrennt. Die dargestellte Vision erhält damit einen festen
räumlichen Bezugspunkt, so dass sie aus der spirituellen Erfahrungswelt in
eine »reale« hereingeholt erscheint. Die Darstellung der Engel am oberen
Bildrand und des einzelnen Engels, der mit dem diener im Dialog steht,
zeigt, dass es hier eher auf den berichteten Kontext der Vision, auf den
detailliert dargestellten Dialog des Engels mit dem diener ankommt. Dem-
gegenüber wird die in der Vision gnadenhaft gestattete Schau der Ewigen
Weisheit und der Seele des dieners zurückgedrängt. Auch die Unmittelbarkeit
der Schau für den Betrachter wird aufgehoben, da der diener nicht in
Frontalposition erscheint, sondern durch eine Körperdrehung auf den Engel
(und dieser mit leicht gebeugten Knien auf den diener) bezogen ist. Das
Geschehen wird in sich geschlossen, der Betrachter wird nicht mehr in die
Reflexion einbezogen, sondern zum distanzierten Außenseiter. Das Bild
erhält einen ornamentalen, erzählenden Charakter, es »illustriert« eine Sta-
tion im Leben des dieners. Während der Druck von 1482 (a) gleichsam eine
Kopie der Wolfenbütteler Handschrift darstellt (Abb. 4), zeigt sich im Druck
von 1512 (b) (Abb. 5), dass hier die in W schon angedeutete funktionale
Autorschaft und Medienwandel 173
Änderung beider Medien endgültig vollzogen wurde. Nicht nur das Vorwort
und seine Hinweise auf das Leben Heinrich Seuses, das im wesentlichen auf
den Angaben des Dominikaners Johannes Meyer beruht, der seine Angaben
wiederum aus der ›Vita‹ entnommen hat, lassen nurmehr den Text der ›Vita‹
als Lebensbeschreibung und Autobiographie des Mystikers erscheinen, son-
dern auch das visuelle Medium erscheint in der konsequenten Ausführung
der in W nur angedeuteten Tendenzen als Illustration eines äußeren Lebens-
weges. Formatverkleinerung, Reduktion der Beischriften, Auflösung der
Text-Bild-Relation lassen die Bilder zu Ornamenten des Textes werden, dem
die Sorge des Verfassers des Vorwortes gilt. Die Bilder, sie werden Hans
Schäufelein zugeschrieben,56 verzichten darauf, die dargestellten Szenen als
visionäre Ereignisse kenntlich zu machen. Verstärkt wird hingegen der Ein-
druck erweckt, dass es sich um Situationen einer alltäglich möglichen Erfah-
rung einer durch Heiligmäßigkeit ausgezeichneten Person handelt: Das
zweite Bild ist konzeptionell der Darstellung im Druck von 1482 sehr
ähnlich, die es seitenverkehrt übernimmt; darüber hinaus verortet sie aller-
dings das Geschehen durch die ausführliche landschaftliche Gestaltung des
Hintergrunds in einen konkreten Raum.
Während die Offenheit der Konzeption für die Figur des dieners und der
Ewigen Weisheit einer eindeutigen Festschreibung im Bild weicht, die Ewige
Weisheit erscheint durchgängig als gekrönter alter Mann, der diener allein
mit dem Rosenkranz, lösen sich die Bilder durch den Verlust der anderen
identifizierenden Merkmale und durch die fehlenden Namensbeischriften
von der Rollenzuschreibung des Dargestellten; der diener ist nicht mehr der
diener, sondern kann auf den im Vorwort präsentierten Autor Heinrich Seuse
bezogen werden. Explizit vollzogen wird dieser Schritt allerdings nicht.
Verglichen mit den Bildern der Handschrift A erscheinen die Bilder in
diesem Kontext nicht als eigenständige Medien, die Andacht inspirieren und
leiten können, sondern als illustrative und ornamentale Beigaben zum Text.
In einer veränderten literarhistorischen Situation – Und ob es darzuokaem
durch schickung gottes / das man jn zuo Ulm auß Baepstlichen gewalt [zur
Ehre der Altäre] erheben wurd, heißt es im ›Prologus‹ – zielen die Bilder auf
eine lebensweltliche, hagiographische Muster bestätigende Darstellung. Sie
erscheinen hier als Stationen einer Biographie und eröffnen die Möglichkeit,
den dargestellten diener mit dem Autor Heinrich Seuse, dessen Leben erst
aus der ›Vita‹ zu gewinnen war, dadurch zu identifizieren, dass sie ihn
einerseits auf allen Bildern gleichbleibend präsentieren und anderseits auf die
Namenszuschreibung und Rollendefinition als diener der ewigen wisheit
verzichten. Festzuhalten bleibt, dass der Medienwandel von der Handschrift
zum Druck bei der Ausbildung und Beschleunigung dieses Prozesses nicht
von zentraler Bedeutung war. Die Ansätze bot bereits die handschriftliche
Überlieferung, auch die in A erhaltene, die dem Autor (?) zeitlich noch sehr
nahe stand. Die im Bildprogramm angelegten Konsequenzen werden wirk-
sam erst im Druck von 1512, der Druck von 1482 bleibt eng an einer
Handschrift, vermutlich an W, orientiert (Farbtafel 12; Abb. 6, 7, vgl. oben
S. 165).
Die letztliche Identifizierung des dieners der ewigen wisheit mit dem
Autor Heinrich Seuse geschieht schließlich in zwei eigenständigen Bildtypen
außerhalb des ›Exemplars‹, in Einblattdrucken mit Holzschnitten zur Vereh-
rung des Seligen und in den sog. Dominikaner-Stammbäumen.
So eröffnet Johannes Meyers ›Liber de illustribus viris O. P.‹ im Autograph
aus dem Dominikanerkloster in Basel (1466) ein Holzschnitt des Beatus
heinricus süsze frater ordinis predicatorum (Farbtafel 13 [II.]).57 Er erscheint
in ganzer Figur, aufrecht stehend im Halbprofil nach rechts gewendet, im
Dominikanerhabit mit Rosenkranz-Nimbus, stigmatisierter rechter Hand und
dem Christusmonogramm, ähnlich dem Muster, wie es in Bild Nr. 1 in W
(Farbtafel 4) vorgegeben und in a wiederholt worden ist. Statt des Schrift-
bandes dort, präsentiert er jedoch hier in der linken Hand in Dedikationsgeste
ein Buch, sein Buch, aus dem eine Rose erwächst. – Ein weiteres Beispiel ist
der bekannte anonyme schwäbische Holzschnitt (vielleicht Ulm, um
1470/80), dessen winzige Reproduktion noch jetzt als Andachtsbildchen in
Kirchen ausliegt (Farbtafel 13 [I.]). Es handelt sich um ein Devotionsbild, in
welchem besonders auffallend Eigenheiten des dieners dem selig hainrich
sus ze costentz geborn zugeschrieben sind. Die Subscriptio des Bildes, zu
dem Bild Nr. 12, oberes Register, in der Gestaltung von W a (Farbtafel 12,
Abb. 6) das Muster geboten hat, gibt in Kurzform eine Lebensbeschreibung
Heinrich Seuses mit Angaben zu den Namen, zu Geburtsort und Ort des
Begräbnisses (ze costentz geborn am bodmersee / Nam die ewig wysshait
o
zum gmahel gaistlicher ee / […] des frödt sich vlm die sein grab vnd hailtum
halt in eren) kombiniert mit Elementen aus ›Vita‹ und ›Horologium‹. Dem
entspricht die Darstellung »Heinrich Seuses«: Er kniet im Dominikanerhabit,
der ewig wysshait zugewandt, die mit Herrscherinsignien in der Gestalt der
Maria rechts oben auf einem Wolkenkranz erscheint; er trägt den Rosen-
kranznimbus und hält in der rechten Hand den Griffel, mit der Spitze auf das
Christusmonogramm auf der Brust gerichtet (Kap. 4). Rechts vor ihm steht
der Hund mit dem Fußtuch (Kap. 20), links von ihm, perspektivisch in
seinem Rücken, wächst ein Rosenbaum, in dessen Ästen sich Christus als
Kind befindet und Rosen auf »Seuse« herabwirft (Kap. 34). Daneben ist
links unten das Wappen der Stadt Ulm zu sehen. Leere »Spruchbänder«,
deren Zuordnung undeutlich bleibt, könnten auf die Autorschaft deuten. Wie
im Vorwort zum Druck von 1512 hat hier eine Identifizierung der ver-
schiedenen Bereiche stattgefunden: Der diener der ewigen wisheit ist Hein-
rich Seuse und zugleich der Autor der bekannten Werke.
57 Zum Codex vgl. Werner Fechter, »Meyer, Johannes OP«, in: 2VL 6, 1987, Sp.
474–489.
Autorschaft und Medienwandel 175
Abb. 1: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. H.B. I. Ascet.15., Bl. 16v, 17r, 17v.
Raumaussparung in Hs. S für nicht ausgeführte Bilder, von denen nur die Über- und Inschriften übernommen wurden.
Autorschaft und Medienwandel 177
Abb. 3: Straßburg, Ms. 2929, photo et coll. de la Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg, Bl. 8r, 8v, 9r.
Anpassung an das Layout der Vorlage durch Ausgleich des Zeilenspiegels in Hs. A.
Autorschaft und Medienwandel
Abb. 4: ›Das Buch genannt Seuse‹, Augsburg: Anton Sorg, 1482. Stutt- Abb. 5: ›Diss buch das da gedicht hat der erleücht vater Amandus,
gart, Württembergische Landesbibliothek, Inc. fol. 15 188 b1, Bl. 14v. genannt Seüß/ […], Augsburg: Johann Othmar, 1512. Köln, Univer-
179
Vision des dieners, Druck 1482 (a), Bild Nr. 2. sitäts- und Stadtbibliothek, GB IV 1952, Bl. 9r. Vision des dieners,
Druck 1512 (b), Bild Nr. 2.
180
Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler
Abb. 6: ›Das Buch genannt Seuse‹, Augsburg: Anton Sorg, 1482. Stutt- Abb. 7: ›Diss buch das da gedicht hat der erleücht vater Amandus,
gart, Württembergische Landesbibliothek, Inc. fol. 15 188 b1, Bl. 59v. genannt Seüß/[…], Augsburg: Johann Othmar, 1512. Köln, Universitäts-
Der diener kniend vor Christus am Kreuz, aus dessen Fuß ein Rosen- und Stadtbibliothek, GB IV 1952, Bl. 40v. Der diener kniend vor Chri-
baum entsprießt, Druck 1482 (a), Bild Nr. 12. stus am Kreuz, aus dessen Fuß ein Rosenbaum entsprießt, Druck 1512
(b), Bild Nr. 12.
Autorschaft und Medienwandel 181
Vorlage Schulze
(3) Möglicherweise ist eine derartige Varianz nur im Medium der Schrift
wahrnehmbar und somit bewusst praktizierbar, so dass die Lizenzen auch ein
genuines Kennzeichen mittelalterlicher Schriftlichkeit wären (Grubmüller).
Allerdings sind aus dem Mittelalter durchaus ›identische‹ Texte überliefert –
sogar in der für ihre Varianz bekannten Heldenepik (Heinzle).
(4) Medienhistorisch wäre zu unterscheiden zwischen dem ›chirographi-
schen‹ Textverständnis der Skriptorien, das Varianzen zulässt, und dem
›typographischen‹ des Buchdruckzeitalters, das auf der Identität verschiede-
ner Exemplare basiert (Mertens).
Vorlage Hausmann
Vorlage Schnell
(Ziegeler): Mystische Texte etwa nehmen punktuell Bezug auf die spirituelle
Biographie ihres Verfassers (Müller).
Fraglich ist, ob der Medienwechsel von der Handschrift zum Buch nicht zu
einem qualitativen Sprung hinsichtlich der Autor-Konstruktion führt (Peters).
Grundsätzlich entstehen durch den Medienwechsel zunächst keine neuen
Konzeptionen, doch die Druckpraxis forciert Entwicklungen, die in der
handschriftlichen Überlieferung bereits angelegt waren, z. B. im Aufhäufen
von Beglaubigungsgesten (Müller). Ein solcher qualitativer Sprung ist in der
Seuse-Überlieferung zu erkennen. Kategorial Neues wird bereits in der
Hs. W deutlich (Ziegeler).
Handschriften und Drucke inszenieren nicht nur Autorschaft, sondern auch
Leserschaft: in der bildlichen Darstellung der Elsbeth Stagel (Hamburger).
Es geht hier um die exemplarische Vorführung einer Rezeptionssituation, die
sich hagiographischer Stilisierungen bedient (Ziegeler).
Die Illustrationen können im Zusammenhang mit zeitgenössischen An-
dachtsbildern gesehen werden; Seuse selbst hatte Andachtsbilder an Elsbeth
Stagel geschickt (Mertens). Für die Werk-Genese wirft dies die Frage auf, ob
nicht möglicherweise die Bilder dem Text vorausgingen, zumal manche der
Illustrationen, die in der gesamten Überlieferung nachweisbar sind, auch als
separate Andachtsbilder benutzbar sind (Mertens). Gegen die zeitliche Priori-
tät der Bilder vor dem Text spricht allerdings der Umstand, dass die meisten
Bilder sehr genaue Referenzen auf den Text aufweisen (Ziegeler): Sie sind
nicht ohne den Text verständlich (Hamburger, Ziegeler).
II.
Kulturtheoretische Konzepte
Einführung
Die Theorie vom Zivilisationsprozess, wie sie Norbert Elias Ende der 30er
Jahre in seinen zwei umfänglichen Bänden »Über den Prozeß der Zivilisa-
tion. Soziogenetische und psychogentische Untersuchungen« entwickelt hat,
ist eines der Paradebeispiele für den in der Vorbemerkung angesprochenen
merkwürdigen Umgang der Mediävistik mit bestimmten Kulturtheorien: Seit
den späten 60ern wird die Zivilisationstheorie in der Mediävistik viel zitiert,
wenn auch höchst kritisch gegenüber den historischen Fallstudien, etwa der
Soziogenese des Minnesangs, aber auch generell gegenüber den spezifischen
Text- und Bildlektüren von Elias. Zugleich wird sie jedoch immer wieder
punktuell eingesetzt als Verständnishorizont, sei es eher terminologisch in
Einblendungen und Adaptationen der Begriffsfelder Selbst- und Fremd-
zwänge, Sozialdisziplinierung und Triebregulierung, sei es genereller als
kulturgeschichtlicher Lektürerahmen bestimmter Texte, in denen man – als
Reaktion auf den fortschreitenden Prozeß der Zivilisation – die Defizite
faktischer oder imaginierter Sozialdisziplinierung thematisiert sieht. Nur
ansatzweise – am dezidiertesten durch Walter Haug – ist jedoch eine sys-
tematische Diskussion über die Leistungsfähigkeit zivilisationstheoretischer
Deutungsmodelle für unser Verständis der mittelalterlichen Literatur eröffnet
worden.
An diesem Punkt setzt Joachim Heinzle an und entwirft auf der Basis von
Norbert Elias’ Zivilisationstheorie Perspektiven einer Literaturgeschichte, die
den charakteristischen Gesellschaftsbezügen mittelalterlicher Literatur in be-
sonderer Weise entspreche. Angesichts eines vormodernen Literaturbegriffs,
der eher von einer programmatischen »Symmetrie« des Text- Kontextbezugs,
eher von einer exemplarischen Repräsentation lebensweltlicher Konflikte
getragen sei als von einer prinzipiellen Offenheit, von Widersprüchlichkeiten
und subversiven Textstrategien, biete sich in besonderer Weise die Eliassche
Zivilisationstheorie als ein historisches Erklärungsmodell an. Denn sie weise
den Texten, nicht nur den spezifisch höfischen, als Träger und Vermittler von
Bewußtseinsinhalten – und zwar Gattungen und regionale wie literarische
Konstellationen übergreifend – eine deutlich gesellschaftsformierende Funk-
tion zu: in Programmen der Triebregulierung, in Postulaten der Internalisie-
rung sozialethischer Friedensappelle, aber auch in der Konstruktion einer
spezifisch auf Selbstzwänge und inneren Frieden ausgerichteten Frömmig-
keitskultur. Zivilisationstheorie könnte demnach zum entscheidenden Deu-
tungsraster für ein funktionsgeschichtliches Verständnis der mittelalterlichen
Literatur werden, die in unterschiedlichen historischen und gattungsspezifi-
Einführung 193
Die Vorlage von Jeffrey Hamburger bietet durch ihre Verschränkung von
mentalitätsgeschichtlichen und gendertheoretischen Überlegungen die Mög-
lichkeit, zwei Forschungsperspektiven auf ihre Valenz zu überprüfen, die in
der Mediävistik der letzten 20 Jahre eine große Rolle gespielt haben.
Am Beispiel eines breiten Text- und Bildmaterials zur Figur des Evangeli-
sten Johannes fragt Jeffrey Hamburger, wie das symbolische System einer
zunehmenden Marienverehrung im Mittelalter reagiere, wenn durch forcier-
tes Insistieren auf der Jungfräulichkeit des Johannes der Platz Marias durch
einen Mann besetzt wird, und inwieweit sich in den vom 12. bis zum 14. Jh.
wechselnden Konzeptualisierungen des Johannes zugleich spezifische Verän-
derungen in den Einstellungen zum Körper, zur Jungfräulichkeit und damit
auch zu dem diffizilen System der Gendersymbolisierungen zeigen. Denn
Johannes werde in Texten, in Kreuzigungsszenen und Textillustrationen ei-
nerseits durch seine Evangelistenrolle auf Christus bezogen, zugleich aber
durch seine Jungfräulichkeit auf Maria und damit im Zuge einer zuneh-
menden religiösen Semantisierung des Körpers, vor allem in der Frauen-
spiritualität des 13. und 14. Jhs., wiederum auf Christus, nun aber im Sinne
einer deutlichen Feminisierung als sponsa Christi oder als Symbol einer über
den Körper vermittelten eucharistischen Frömmigkeit. Mit dieser Ambiva-
196 Ursula Peters
Nicht nur unter Literarhistorikern gehört es heute zum guten Ton, Norbert
Elias’ Theorie vom Zivilisationsprozess2 als obsolet abzutun. Soweit sie mit
Literaturgeschichte zu tun hat, ist sie zuletzt von Walter Haug in Grund und
Boden verdammt worden.3 »Blind« für ihre »historischen Kontexte«, habe
Elias »die literarischen Materialien« seiner »These von der zunehmenden
Selbstdisziplinierung der westlichen Gesellschaft« unterworfen. Damit habe
er die Literatur allegorisiert. Allegorese aber sei »die krudeste Form der
Usurpation des Fremden«, sich ihr kritisch zu verweigern, »für den Literatur-
wissenschaftler erstes Gebot«.4 Ich habe diese Polemik mit gemischten
Gefühlen gelesen. Dass es krude Formen literaturwissenschaftlichen Allego-
risierens gab und gibt, die jede Kritik verdienen, ist ohne Zweifel richtig.
Prominentestes Beispiel in der Mediävistik ist noch immer die Art von
Literatursoziologie, die Erich Köhler einst betrieben und populär gemacht
hat. Sie bringt, wie Sebastian Neumeister pointierte, »die interpretatorische
Bewegung und Beweglichkeit nach dem Gesetz von literarischem Rätsel und
(falscher) historischer Auflösung vorschnell zum Stillstand« und erinnert in
der Tat »an die allegorische Didaktik des Mittelalters«.5 Aber trifft das
generell auch auf literatursoziologische Ansätze zu, die mit der Theorie vom
Zivilisationsprozess operieren? Ich bin nicht dieser Ansicht. Nach den Erfah-
rungen, die ich im Umgang mit dieser Theorie gemacht habe, sehe ich sehr
wohl die Chance, dass sie helfen kann, Texte und Textfelder besser zu
verstehen, als es auf anderem Wege möglich wäre. Das will ich im folgenden
erläutern. Dabei geht es mir nicht um den systematischen Entwurf einer
geschlossenen Theorie, sondern nur darum, die Grundlinien eines literarhis-
torischen Modells an Beispielen zu skizzieren, die mir vertraut sind.
*
Haugs Elias-Kritik ist Teil einer umfassenden Kritik an jeder Art von Litera-
turwissenschaft, die Texte kontextual – als kontextbedingte und kontext-
bedingende Phänomene – begreifen will. Herausgefordert durch die aktuelle
Debatte darüber, ob und wie man Literaturwissenschaft als ›Kulturwissen-
schaft‹ betreiben könne, polemisiert er gegen eine Disziplin, »die immer
wieder etwas anderes zu sein« versuche »als das, was man aufgrund ihrer
Bezeichnung von ihr« erwarte: »nämlich sich als eine Wissenschaft darzu-
stellen, die eine ihrem Gegenstand, der Literatur, entsprechende Methode des
Zugriffs und des Verstehens zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen
vermag«. »Stattdessen« seien »die Fachvertreter geradezu periodisch darauf
aus«, »ihr Fach umzuetikettieren: die Reihe der programmatischen ›Als‹-
Metamorphosen« reiße »nicht ab: Literaturwissenschaft als Geistesge-
schichte, Literaturwissenschaft als Psychoanalyse, Literaturwissenschaft als
Ideologiegeschichte, Literaturwissenschaft als Mentalitätengeschichte – und
nun nach dem neuesten Trend: Literaturwissenschaft als Kulturwissen-
schaft.«6
Der Auslieferung der Literatur ans Nicht-Literarische hält Haug ein Kon-
zept entgegen, das ihr einen Sonderstatus gegenüber allen anderen kulturel-
len Hervorbringungen zumisst. Literatur sei nicht dazu da, Probleme zu lösen
– dies anzunehmen, sei »eines der grundlegendsten Missverständnisse un-
serer Wissenschaft« –, sondern verdanke »ihre Existenz« gerade »der Tat-
sache, daß es unlösbare Probleme gibt«: Literatur finde »ihren eigentlichen
Sinn darin, in Aporien hineinzuführen, sie bewusst zu machen und bewusst
zu halten« – »und wenn sie sie am Ende doch narrativ zu lösen« scheine,
dann seien »dies bei genauerem Hinsehen Scheinlösungen, die sich dem
Interpreten, wenn er nicht blind partout seine Lösung haben will, auch als
solche« enthüllten.7
Unter den Beispielen, die diese These illustrieren, führt Haug den Helm-
brecht an, die Erzählung vom Bauernsohn, der ein Ritter werden will, aber
nur ein Raubritter wird und jämmerlich zugrunde geht: von der Justiz
geblendet und verstümmelt und schließlich von den Bauern, die er als Räuber
und Mörder gepeinigt hatte, getötet. Ältere Forschung hatte den Text als
Propagandaschrift aus der Sicht des Adels gelesen, als Warnung an die
Bauern, ihren Stand zu verlassen.8 Haug wendet dagegen ein, dass der Adel
»sich hier nur als Raubrittertum präsentiert« – »hätte man allein den Auf-
stiegswillen der Bauernschaft verurteilen wollen, so hätte man doch besser
gezeigt, wie Helmbreht gegenüber den Ansprüchen eines idealen Rittertums
scheitert«. So gebe der Text – gemäß einer These von Jacques Le Goff 9- eine
»doppelte Karikatur«, eine des Adels und eine der Bauern, die beide als
Räuber erscheinen. Das verleihe der Erzählung »eine innere Spannung, ja
eine Widersprüchlichkeit, die sich nicht auf einen Nenner hin auflösen«
lasse. Und »dieses Beispiel« mache »besonders deutlich, daß man als Inter-
pret auch bei programmatisch auf Konstanz zielenden Werken mit Spannun-
gen und inneren Widersprüchen zu rechnen« habe: »mit Ausgesprochenem
neben Unausgesprochenem, Tendenziösem neben Gegenläufigem, Bewuss-
tem neben Unterschwelligem« – »Perspektiven nichtliterarischer Systeme
kreuzen ein und bilden mit dem narrativen Gefüge ein nicht harmoni-
sierbares mehrschichtiges Ensemble«.10
Die Interpretation bezieht zwei Ebenen aufeinander, die der sozialen
Wirklichkeit und die des Textes. Für die lebensweltliche Ebene wird ange-
nommen, dass der Aufstiegswille reich gewordener Bauern am Ort und zur
Zeit der Abfassung des Textes ein soziales und rechtliches Problem gewesen
ist, dass er insbesondere die privilegierte Stellung des (niederen) Adels
bedrohte. Für die literarische Ebene wird angenommen, dass der Text zwar
dieses Problem zur Anschauung bringt, aber vermittels einer gewissermaßen
subversiven Erzählstrategie eine Spannung aufbaut, die das vorausgesetzte
System der Wertungen – böse Bauern, guter Adel – unterläuft, ohne eine
Lösung des Problems anzubieten. Daraus, dass die Geschichte nicht aufgeht,
entspringt für Haug ihr literarischer Mehrwert, der sie davor bewahrt, zum
bloßen Exempel zu »verkommen«.11
Wir haben es mit einer klassischen literarhistorischen Hypothesenbildung
zu tun. Ein Satz historischer Befunde, textlicher und außertextlicher, wird in
einen logischen Aussagezusammenhang mit Erklärungsanspruch gebracht.
Die Eigentümlichkeit der Hypothese besteht darin, dass sie eine wahr-
genommene Asymmetrie zwischen den beiden Bezugsebenen nicht zu elimi-
nieren trachtet, sondern als entscheidenden Erklärungsgrund für die Existenz
des Textes in Anspruch nimmt. Wie alle Hypothesen muss sich auch diese
gegenüber konkurrierenden behaupten. Theoretisch sind mehrere sinnvolle
Alternativen denkbar, zweiseitige Modelle, die Text und Lebenswelt (Kon-
text) referentiell verknüpfen, ebenso wie einseitige, die auf die Textualität
auch des Kontextwissens abheben. Ich ziehe als Gegenbeispiel die Hypothese
heran, die ich in meiner Literaturgeschichte skizziert habe.12
Wie die von Haug kritisierte beruht sie auf einem konventionellen zwei-
seitigen Modell, arbeitet aber mit einer differenzierteren Vorstellung von der
Bezugsgröße ›Adel‹. Sie unterstellt (was sich nicht beweisen, aber plausibel
machen lässt), dass der Text auf die politischen Verhältnisse im Österreich
der frühen Habsburgerzeit zielt, die bestimmt sind von einem Gegensatz
zwischen dem landsässigen Adel, den Landherren, und dem Landesherrn,
13 Neben Österreich kommt Bayern als Entstehungsraum des Textes in Frage. Für die
folgende Argumentation ist die Alternative ohne Konsequenz: die politische Kon-
stellation, auf die ich den Text beziehe, gilt im Prinzip hier wie dort. Doch mag ein
Hinweis zur Fundierung der Entstehungshypothesen nicht überflüssig sein: Das
entscheidende Indiz für die Zuordnung zu Österreich ergibt sich daraus, dass wir
dort, nicht aber in Bayern eine politisch-publizistische Szene nachweisen können,
in die sich der Text fügt: er passt wie der fehlende Teil eines Puzzles. Als
Hauptindiz für die Zuordnung zu Bayern gelten die im Text genannten Ortsnamen,
in denen die beiden späten (aus dem 15. bzw. frühen 16. Jahrhundert stammenden)
Handschriften divergieren: »Für die Ortsnamen der Hs. B (Wels, Traunberg,
Leonbach) kann man den Auftraggeber des Codex«, »den reichen Ritter Leonhard
Meurl zu Leonbach im Traungau/Oberösterreich«, »verantwortlich machen,
schwerlich dagegen für die der Hs. A (Hohenstein, Haldenberg, Wanghausen),
welche somit alt sein dürften. Einwandfrei identifizieren ließ sich allerdings bisher
nur das Dorf Wanghausen (v. 897), das auf der Innviertler Seite des Inns der Burg
Burghausen, der zweiten Hauptresidenz des Herzogs von Niederbayern seit der
Mitte des 13. Jh.s, gegenüberliegt. Für dessen Hof könnte das Gedicht zunächst
verfaßt worden sein […]« (Fritz Peter Knapp in 2VL 10, 1999, Sp. 928 – die
Niederbayern-These begründete Ulrich Seelbach, Späthöfische Literatur und ihre
Rezeption im späten Mittelalter. Studien zum Publikum des ›Helmbrecht‹ von
Wernher dem Gartenaere, Berlin 1987 [Philologische Studien und Quellen 115],
S. 23ff.). Die Argumentation ist nicht stichhaltig: ebensogut können die Ortsnamen
in beiden Handschriften sekundär sein; und ebensogut kann Leonhard Meurl
Interesse an dem Text genommen haben, weil er bereits die Ortsnamen seiner
Heimat enthielt.
14 Vgl. Heinzle, Wandlungen (Anm. 12), S. 49ff. und 53 f.; zum Landherren-Exkurs
jetzt auch Joachim Heinzle, Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik,
Berlin/New York 1999, S. 73ff.
15 Seifried Helbling, hg. v. Joseph Seemüller, Halle 1886, XIII, v. 148.
16 Wernher der Gartenaere, Helmbrecht, hg. v. Friedrich Panzer und Kurt Ruh, 10.
Auflage besorgt von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 1993 (ATB 11), vv.
1919ff.
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 203
Das heißt: Es gibt im Helmbrecht zwei Kategorien von ›Adel‹, den, der sich
»als Raubrittertum präsentiert«17, und den, der mittels der ›staatlichen‹
Institution des Richters bzw. Schergen Friede und Recht wahrt: das ist – am
Ort und zur Zeit der Abfassung des Helmbrecht – der Landesherr, dessen
unwiderstehliche Macht die Erzählung vor Augen führt.18 Bei dieser Hypo-
these gibt es keine Widersprüchlichkeit in der Sinnstruktur des Textes – der
Helmbrecht erscheint durchaus als Exempel.
Wenn es nun aber, wie Haug postuliert, das Wesen von Literatur aus-
machte, dass sie das Nicht-Harmonisierbare, die Aporie zur Anschauung
bringt, dann wäre der so, als Exemplum, verstandene Helmbrecht als ein
»verkommener« Text aus dem Kreis der legitimen oder wenigstens würdigen
Gegenstände der Literaturwissenschaft auszuschließen. Verallgemeinert man
das, wird klar, dass ein Begriff von Literatur, der literarische Texte nur als
programmatisch offene oder widersprüchliche, sich selbst in Frage stellende
Konstrukte gelten lässt, die mediävistische Literaturwissenschaft in eine
unhaltbare Lage bringt. Sie wäre genötigt, entweder ihren Fundus an Gegen-
ständen drastisch zu räumen und dabei auch hochkanonische Werke wie
Christines Cité des Dames oder gar Dantes Commedia aufzugeben – oder die
Texte einer interpretatorischen Rosskur zu unterziehen, die sie auf die
postulierte Offenheit oder Widersprüchlichkeit hin auslegte (und damit
durchaus ›allegorisierend‹ verführe, insofern sie die Textstrukturen auf ein
vorgegebenes Modell von generellem Geltungsanspruch reduzierte). Nie-
mand wird der Forschung raten wollen, so zu verfahren. Man muss vielmehr
feststellen, dass Haug einen ästhetischen Typus im Sinn hat, der erst in der
Neuzeit relevant wurde, genauer gesagt: dessen Stunde erst mit dem deut-
schen Idealismus kam.19 Dass es im Mittelalter (wie in anderen Epochen
auch) Texte gegeben hat, die sich diesem modernen Literaturbegriff zu fügen
scheinen wie Wolframs Parzival oder Gottfrieds Tristan, steht auf einem
anderen Blatt. Ich muss auf die Probleme, die das aufwirft, hier nicht
eingehen,20 denn es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich bei der Haupt-
21 Den Begriff der ›traditionsgebundenen Kultur‹ hat Hans Pyritz vor einem halben
Jahrhundert ins Spiel gebracht, um das Unverständnis aufzudecken, mit dem die
ältere Forschung dem Phänomen des geblümten Stils begegnet war. Es ging dabei
um die selbe Frage der historischen Angemessenheit, die uns hier beschäftigt. Und
Pyritz hat im Kern schon alles gesagt, was dazu zu sagen ist. Seine Argumentation,
die auf die historische Relativierung des Konzepts der ›Erlebniskunst‹ mit seinen
bekannten Konnotationen (›innere Wahrheit‹, ›echte Empfindung‹, ›natürlicher
Ausdruck‹) zielt, lässt sich mutatis mutandis leicht auf die aktuelle Debatte
übertragen: »Wir haben verlernt zu glauben, daß ein ewig-unveränderliches Schön-
heitsideal über allen Völkern und Zeiten waltet; daß wir mit unsern durchaus
historisch bedingten Gegenwartsmaßstäben uns in prästabilierter Harmonie mit
jenen angenommenen Urgesetzen der Kunst befinden; daß jede Abweichung von
diesen Normen auf nichts als falschem Wollen, minderem Können oder ver-
dorbenem Geschmack beruht und infolgedessen nichts als Stoff zu kritisch-
zensierender Anklage hergibt […] Begriffe wie ›innere Wahrheit‹, ›echte Empfin-
dung‹, ›natürlicher Ausdruck‹ mitsamt dem dazugehörigen ästhetischen Vokabular
enthüllen sich dem Historiker als Werkzeuge eines aktuellen Selbstbehauptungs-
und Herrschaftswillens, der darauf abzielt, die eigene Sehweise und die ihr
entsprechende Kunstauffassung und Kunstübung zu kanonisieren und zu verab-
solutieren. Befreien wir uns von solcher Selbsttäuschung, so erkennen wir zu-
gleich, wie räumlich begrenzt und wie jung der Geltungsanspruch der uns vertrau-
ten Forderungen an das Kunstwerk als Offenbarung individuellen Lebens und
Ergebnis eines organischen (immanent-wachstümlichen) Bildungsprozesses im
Grunde ist. Dahinter erstreckt sich der weltweite und Jahrtausende umspannende
Zusammenhang traditionsgebundener Kulturen, in denen der Künstler von keinem
anderen Auftrag weiß, als dem, die Lebensinhalte und Lebenswerte einer Gesell-
schaft mit überlieferten, fest geregelten und allgemein anerkannten Kunstmitteln
entweder in ihrem objektiven Ordo-Charakter und ihrer religiösen Verbindlichkeit
aufzuzeigen oder in eine unterhaltsam-fiktive Spielform zu kleiden« (Die Minne-
burg, nach der Heidelberger Pergamenthandschrift (CPG. 455) unter Heranziehung
der Kölner Handschrift und der Donaueschinger und Prager Fragmente hg. v. Hans
Pyritz, Berlin 1950 (DTM 43), S. LXXIIf.). – Einen entsprechenden Problemauf-
riss gibt Gadamer, Wahrheit (Anm. 19): »Wenn man über die Grenzen der
Erlebniskunst hinauszublicken beginnt und andere Maßstäbe gelten läßt, öffnen
sich neue weite Räume innerhalb der abendländischen Kunst, die von der Antike
bis zum Zeitalter des Barock von durchaus anderen Wertmaßstäben beherrscht war
[…] Unsere Wertbegriffe von Genie und Erlebtheit sind hier nicht adäquat. Wir
können uns auch ganz anderer Maßstäbe erinnern und etwa sagen: Nicht die
Echtheit des Erlebnisses oder die Intensität seines Ausdrucks, sondern die kunst-
volle Fügung fester Formen und Sagweisen macht das Kunstwerk zum Kunstwerk«
(S. 67).
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 205
*
die varent alle nû mit fride: mit dem Stichwort ›Frieden‹ ist der Punkt
markiert, an dem die Theorie greift. Ihre Grundannahme lautet bekanntlich,
dass sich in der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft seit dem
Mittelalter durch eine immer stärkere »Interdependenz« immer »größerer
Menschengruppen voneinander und durch die Aussonderung der physischen
Gewalttat« in diesen Gruppen »eine Gesellschaftsapparatur« hergestellt hat,
»in der sich dauernd die Zwänge der Menschen aufeinander in Selbstzwänge
umsetzen«.22 Die Zeit des Helmbrecht, das fortschreitende 13. Jahrhundert,
erlebte eine Umstrukturierung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung, die
auf eine Entwicklung reagierte und sie zugleich vorantrieb, in der die
gesellschaftliche Interdependenz offenbar dramatisch zunahm und das Zu-
sammenleben der Menschen immer stärker reguliert werden musste. Die
Ausbildung dieser ›Neuen Staatlichkeit‹, deren Träger in Deutschland in
erster Linie die Landesfürsten waren, wurde begleitet von einer Literatur –
von Rechtsbüchern, Chroniken, Predigten, Sangsprüchen, Reimpaartexten –,
die darauf abzielte, den ›Gemeinsinn‹ zu propagieren, der die Voraussetzung
für den ›Frieden‹, für den gewaltfreien Umgang der Menschen miteinander
war.23 Ein Exempel von der Gefährdung und Wiederherstellung des gesell-
schaftlichen Friedens, lässt sich der Helmbrecht als ein Stück ›Friedens-
publizistik‹ diesem historischen Feld zuordnen: er malt in grellen Farben aus,
was der Bruch des Friedens für die Menschen bedeutet, und er demonstriert,
dass die neue Herrschaftsordnung in der Lage ist, ihn zu garantieren.
Diese Publizistik zielte auf eine Internalisierung der sozialethischen Frie-
densappelle, auf jene Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge also,
die die Theorie vom Zivilisationsprozess beschreibt. Internalisierung war das
Ziel all der Ermahnungen, Warnungen, all der guten und abschreckenden
Beispiele. Es gibt im Helmbrecht einen Handlungszug, der die Internalisie-
rung als quasi magischen Umstand explizit vor Augen führt. Als der Scherge
die Banditen aufgespürt hat, sind diese wie gebannt, unfähig sich zu weh-
ren:
slüege ein ein diep al eine ein her,
gein dem schergen hât er keine wer:
als er den von verren siht,
zehant erlischet im daz lieht,
sîn rôtiu varwe wirt im gel;
swie küene er waere und swie snel,
in vaeht ein lamer scherge.
sîn snelheit und sîn kerge
die sint im alle gelegen,
sô got der râche wil selbe phlegen.24
Wenn Gott selber Rache nehmen will, versetzt er den Bösewicht in einen
Zustand psychischer Lähmung: das ist, wenn man so will, für einen be-
sonderen Fall die christliche Formulierung des Selbstzwang-Theorems.25
Die zeitgenössischen Theoretiker, und das heißt: die Theologen, allen
voran die Franziskaner, haben das Theorem in den Gedanken gefasst, dass es
äußeren Frieden nicht ohne inneren Frieden geben könne, dass »friedfertiges
Verhalten gegenüber anderen« eine »innere Harmonie des einzelnen«26 vor-
aussetze. Der Gedanke begegnet nicht erst im 13. Jahrhundert. Er hat
Theologie und Seelsorge seit der Väterzeit beschäftigt. Doch beherrscht er
die hier anvisierten Schriften des 13. Jahrhunderts – die Rechtsbücher und
Geschichtswerke, die Predigten, die mystisch-aszetischen Texte einer ›Neuen
Frömmigkeit‹ aus dem Geist des Evangeliums, die vor allem von den
Bettelorden getragen wurde – in einem Maß, das eine spezifische historische
Erklärung erfordert. Die Theorie vom Zivilisationsprozess, die Soziogenese
und Psychogenese, ›außen‹ und ›innen‹, in einen Wirkungszusammenhang
bringt, liefert ein Modell für eine solche Erklärung. Ob es sich gegenüber
anderen Modellen behaupten kann, ist solange nicht abzusehen, als es in der
Literaturwissenschaft keine fundierte Elias-Debatte gibt.27
*
24 Wernher der Gartenaere, Helmbrecht (Anm. 16), vv. 1641ff.; vgl. auch vv.1261ff.
und 1623ff.
25 Zur Vorstellung vom ›Schergenbann‹ im Volksglauben vgl. Friedrich Keinz,
»Nachträge zum Meier Helmbrecht«, in: Sitzungsberichte der kgl. bayer. Akademie
der Wissenschaften zu München 1865/I, S. 316–331, hier S. 324 f.; Ulrich Seel-
bach, Kommentar zum ›Helmbrecht‹ von Wernher dem Gartenaere, Göppingen
1987 (GAG 469), S. 190 f.
26 Alfred Hagenlocher, Der guote vride, Berlin/New York 1992, S. 75.
27 Vgl. den sehr kritischen Forschungsabriss von Rüdiger Brandt: »Die Rezeption
von Norbert Elias in der Altgermanistik. Ein Theoriedefizit und sein Erfolg«, in:
Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wir-
kungsgeschichte seines Werkes, hg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1996, S. 172–
193. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Brandt einiges übersehen und
verzeichnet hat, bleibt das Bild, das die Altgermanistik in Sachen Elias bietet, im
ganzen trostlos.
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 207
28 Elias hat seine Theorie für diesen Komplex entwickelt. Seine Darstellung kann den
Anschein erwecken, als sehe er im Zivilisationsprozess ein exklusiv abendlän-
disches Phänomen. Dass es sich nicht so verhält, dass er in seinen Arbeiten
Zivilisation zunehmend als anthropologische Größe verstanden hat, konnte Mi-
chael Schröter in der Auseinandersetzung mit der Elias-Kritik des Ethnologen
Hans Peter Duerr deutlich machen: »Scham im Zivilisationsprozeß. Zur Diskus-
sion mit Hans Peter Duerr«, in: Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis.
Bochumer Vorlesungen zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, hg. v. H. Korte,
Frankfurt a. M. 1990, S. 42–85.
29 Vgl. dazu etwa Richard van Dülmen. »Norbert Elias und der Prozeß der Zivilisa-
tion. Die Zivilisationstheorie im Lichte der historischen Forschung«, in: Men-
schenwissenschaften (Anm. 27), S. 264–274, hier S. 271 f.
30 Einen Versuch dazu hat Schröter, Scham (Anm. 28), unternommen. Seine Hypo-
these einer »Dreistufenfolge der sozialen Entwicklung vom 12./13. zum 15. und
dann wieder zum 16. Jahrhundert« (S. 79) ist in der vorgetragenen Form nicht
haltbar, weil sie mit zu groben, teilweise auch falschen Vorstellungen von der
Staatsbildung im fraglichen Zeitraum operiert.
208 Joachim Heinzle
verhalte sich »umgekehrt: Die Religion ist jeweils genau so ›zivilisiert‹, wie
die Gesellschaft oder die Schicht, die sie trägt«.37 Elias widerspricht damit
Max Weber, dem er in seiner Systembildung nicht weniger verpflichtet ist als
Freud. »Die Kategorien, die Elias zur Beschreibung der Zivilisiertheit ver-
wendet, Selbstkontrolle, Affektbeherrschung, systematische Dämpfung der
Spontaneität, also das eigentliche explanandum, tauchen alle bereits bei
Weber auf«, sind bei diesem aber genuin religiöser Natur: den »gleichsam
›von außen nach innen‹ verlaufenden Selbstdomestikationsbahnen«, die für
Elias das Primäre sind, geht nach Weber eine »von ›innen nach außen‹
dringende Form der Selbstdisziplinierung«38 voraus. So beschreibt es die
klassische Abhandlung Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapita-
lismus, die bekanntlich zu ermitteln suchte, »in welchem Maße moderne
Kulturinhalte in ihrer geschichtlichen Entstehung« dem Motivkomplex re-
formatorischer Theologie und Frömmigkeit »zuzurechnen sind«:39 »Wenn
das Heil nicht mehr von einzelnen Werken abhängt, wenn die erlösende
Gnade nicht ständig durch Sünden verloren und und durch Beichten zurück-
gewonnen werden kann, dann kann auch die individuelle certitudo salutis
nicht aus einzelnen verdienstlichen Taten gewonnen werden, sondern muss
sich im System der Gesamtbiographie spiegeln. Die Frage kann dann nicht
lauten: Mit welchen Taten, Worten und Gedanken habe ich Gott beleidigt?
Sie muss jetzt heißen: Ist mein Leben als Ganzes so, daß es als das eines
Erwählten erscheint? Folglich muss es als Ganzes systematischer Kontrolle
unterzogen werden.«40 Die Analyse der beiderseitigen Modellbildung hat
ergeben, dass sich in diesem entscheidenden Punkt Elias ebenso trefflich von
Weber wie Weber von Elias her kritisieren lässt. Man kann aus der unabseh-
baren Debatte, die über diesen Punkt geführt worden ist und geführt wird,41
nur den einen Schluss ziehen, dass beide Präferenzen prinzipiell theoriefähig
sind. Für die Literaturwissenschaft bedeutet das, dass sie berechtigt, ja
gehalten ist zu erkunden, inwieweit Texte als Träger und Vermittler von
Bewusstseinsinhalten formende Kräfte in der Entwicklung sozialer Struk-
turen gewesen sein können.
*
Mein Versuch, die Schriftproduktionen der ›Neuen Staatlichkeit‹ und der
›Neuen Frömmigkeit‹ unter dem Aspekt des Zusammenwirkens von Sozio-
genese und Psychogenese zusammenzusehen,42 setzte die erläuterten Modifi-
kationen der Theorie voraus: er nahm einen Zeitraum von wenigen Jahrzehn-
ten in den Blick und er unterstellte, dass die Texte mit ihren handlungs-
steuernden Funktionen der Unterweisung, des Appells, der Katalyse von
Meditation etc. Strukturveränderungen hervorbrachten, die es ohne sie nicht
gegeben hätte. Es reizt mich nun zu erproben, ob sich der Prozess, den ich da
zu erkennen glaube, nach rückwärts und vorwärts weiter verfolgen lässt.
Dazu ein paar Überlegungen.
Soweit sie sich auf Weber beziehen, gehen die sozialwissenschaftlichen
Modernismus-Theorien gewöhnlich davon aus, dass die Puritaner des 16. und
17. Jahrhunderts die ersten waren, bei denen »die systematische Affektkon-
trolle […] von einem außerweltlichen Lebensideal für Mönche oder religiöse
Sondergruppen in eine jeden Laien verpflichtende Lebensform umgeschmol-
zen«43 wurde. Die neueren Forschungen zur Entstehung der höfischen Kultur
des hohen Mittelalters zeigen, dass das so nicht richtig ist. »Wesentliche
Aspekte der höfischen Erziehungslehre«, die auf Affektkontrolle in Bezug
auf Sprache, Gestik, Tischsitten etc. abzielt, sind »von gebildeten Geistlichen
formuliert worden«44 und hatten ihren ursprünglichen Ort in der Lebens-
sphäre eben der Geistlichen, nicht zuletzt der Mönche. Die einschlägigen
Erziehungsprogramme, die geistlichen wie die weltlichen, korrelieren in
bezeichnender Weise wiederum ›innen‹ und ›außen‹, psychische Struktur und
soziales Verhalten. Integritas ergo virtutis est, quando per internam mentis
custodiam ordinate reguntur membra corporis – »Die Vollkommenheit der
Tugend ist gegeben, wenn die Glieder des Körpers durch die innere Kontrolle
des Verstandes auf geordnete Weise gelenkt werden«: so liest man es in
Hugos von St. Victor Abhandlung De institutione novitiorum, die hier als
Schlüsseltext gilt.45
Die geistlich-klerikale Fundierung der höfischen Kultur mit ihrem Modell
der psychischen Verankerung der Verhaltensnormen legt es nahe, sie mit
jener Friedensprogrammatik der ›Neuen Staatlichkeit‹ in Verbindung zu
bringen, die ja von der selben Herrschaftselite getragen wurde. Soweit diese
Elite selbst angesprochen ist, sollte sich die Friedensprogrammatik als Mani-
festation ein und desselben Kulturzusammenhangs ohne größere methodi-
sche und sachliche Schwierigkeiten mit dem höfischen Kulturmuster von
»Selbstbeherrschung, Affektkontrolle, Gewaltverzicht« vermitteln lassen, das
Rüdiger Schnell überzeugend als Ausdruck einer spezifischen Auffassung
von Herrschaft und als Instrument zu ihrer Legitimierung interpretiert hat.46
Die auf Breitenwirkung zielende Friedenspublizistik des 13. Jahrhunderts –
vor allem die Massenpredigt der Franziskaner, die alle Bevölkerungsschich-
ten erreichte – könnte dann als Versuch beschrieben werden, das adlige
47 Elias, Prozeß (Anm. 2), I, S. 137ff. – Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Hahn,
Differenzierung (Anm. 36), der für die »langfristige Psychogenese des modernen
Menschen eher […] bürgerliche als adlige Wurzeln verantwortlich« macht
(S. 226).
48 Horst Wenzel, »Zur Deutung des höfischen Minnesangs. Anregungen und Grenzen
der Zivilisationstheorie von Norbert Elias«, in: Menschenwissenschaften (Anm.
27), S. 213–239, hier S. 218.
49 Vgl. Wenzel, Deutung (Anm. 48), S. 239.
212 Joachim Heinzle
Auf der anderen Seite ist es verlockend, die Entwicklung der mystischen
Frömmigkeit im Wechselspiel mit der Entwicklung der staatlich-gesellschaft-
lichen Ordnung (mit der wachsenden Bedeutung von Stadt und Stadtkultur)
ins 14. Jahrhundert hinein weiter zu verfolgen. Im Rahmen dieses Diskus-
sionsbeitrags kann ich das nicht näher ausführen. Ich will nur ein me-
thodologisches Problem zur Sprache bringen, das sich hier auftut. Es sei am
Beispiel des Einsiedler Seuse-Codex 710 erläutert, dem Niklaus Largier
soeben eine eindrucksvolle Analyse gewidmet hat.50
Der Codex ist im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts für eine Konstanzer
Patrizierin hergestellt worden. Mit seiner Verbindung von Text und Minia-
turen steht er in einer Tradition erbaulicher Bücher, die schon im 12.
Jahrhundert einsetzt. Largier erinnert an Gebetbücher wie den ›Liber precum
von Schlettstadt‹ oder das sog. ›Gebetbuch der Hildegard von Bingen‹, in
deren Illustrationen »narrative Bildtypen neben das tradierte Repertoire
(Autor- und Gönnerportraits, Christus, Heilige)« treten und »Text und Bild
[…] als materia meditandi eine narrativ erschlossene Einheit bilden«.51
Jeffrey Hamburger, dem wir wichtige Einsichten in die medien- und fröm-
migkeitsgeschichtliche Bedeutung dieser Gebetbücher verdanken, hat ihre
Illustrationen als »protodevotional images«52 in die Vorgeschichte des ›An-
dachtsbildes‹ gestellt, das seinerseits fest eingebunden ist in eine – nament-
lich weibliche, namentlich dominikanische – Frömmigkeit, die wesentlich auf
Bilder rekurriert.53 Damit sind wir in der kulturellen Szene des 14. Jahr-
hunderts. Die Entfaltung der Frömmigkeitskultur mit ihren spezifischen
psycho- und soziogenetischen Implikationen, die sich an der Enwicklung
dieses Texttyps verfolgen lässt, könnte so zu einer Leitlinie in einem zivilisa-
tionstheoretisch fundierten literaturgeschichtlichen Modell werden, das die
volkssprachige Literatur vom 12. bis eben ins 14. Jahrhundert in ihrer
Gesamtheit systematisch erfasste.
Doch dürfte man hier abbrechen? Müsste man nicht ins 15. Jahrhundert
weitergehen? Der Einsiedler Codex stammt ja von dessen Ende, und er
verweist ganz nachdrücklich auf den in Frage stehenden Kulturzusammen-
hang, indem seine Ikonographie jene charakteristische Konvergenz des geist-
lichen und des weltlichen Liebes-Diskurses zeigt – da sieht man etwa die
»Seele und Christus«, wie sie »sich gegenseitig in dem aus der Minnesang-
ikonographie bekannten Umarmungsgestus der Liebenden halten«: »Christus
und die Nonne halten sich die linken Hände, während sie seine Schulter
umfängt und er mit der Rechten als Zeichen der Minne an ihre Brust
50 Niklaus Largier, »Der Körper der Schrift. Bild und Text am Beispiel einer Seuse-
Handschrift des 15. Jahrhunderts«, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten
Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 241–271
51 Vgl. Largier, Körper (Anm. 50), S. 263.
52 Jeffrey Hamburger, »Before the Book of Hours: The Development of the Illu-
strated Prayer Book in Germany«, in: ders., The Visual and the Visionary. Art and
Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 149–195, hier
S. 172.
53 Dazu grundlegend die einschlägigen Kapitel bei Hamburger, Visual (Anm. 52).
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 213
*
Der Einsiedler Codex ist in unserem Zusammenhang noch in anderer Hin-
sicht von methodologischem Interesse: als Paradigma für die Beurteilung des
intrikaten Verhältnisses von Psychogenese und Soziogenese. An die Arbeiten
Hamburgers und anderer anknüpfend, konnte Largier zeigen, dass in solchen
Text-Bild-Ensembles den Bildern nicht nur eine didaktische oder illustrativ-
mnemotechnische Funktion zukommt, sondern dass sie mit dem Text eine
komplexe Verbindung eingehen, die als Vehikel einer spezifischen spirituel-
len Erfahrung fungiert. Das eröffnet differenzierte Einsichten in Vorgänge
der Intensivierung, Erweiterung, Prägung von Bewusstsein durch den Um-
gang mit Literatur. Und dabei ergibt sich, dass es schlechterdings unmöglich
ist zu entscheiden, ob die mentale Disposition, der spirituell geformte psy-
chische Habitus der Leserin (ihr ›Innen‹) Folge oder Ursache der Be-
dingungen ihrer sozialen Praxis (ihres ›Außen‹) ist. Wenn es eines Beweises
dafür bedürfte, dass die Frage nach der Priorität von Psychogenese oder
Soziogenese nicht ein für allemal zu beantworten und insoweit sinnlos ist,
dann wäre er hier zu finden. Und das heißt eben, dass bei der Konstruktion
historischer Modelle beide Prozesslinien als prinzipiell gleichberechtigte
Wirkungsfaktoren eingesetzt werden können und müssen.
So ist denn noch einmal nachdrücklich festzuhalten, dass der Literarhis-
toriker, der mit einem Forschungsprogramm auf der Grundlage der Zivilisa-
tionstheorie arbeitet, keineswegs dazu verdammt ist, seine Texte als bloße
›Allegorien‹ des Gesellschaftsprozesses zu dechiffrieren. Seine wichtigste
Aufgabe besteht vielmehr darin, Hypothesen darüber zu entwickeln, wie
Literatur bewusstseins- und also auch gesellschaftsbildend gewirkt hat, und
zwar gerade in ihrer medialen Eigentümlichkeit: in ihrer sprachlichen Ver-
fasstheit, die das weite Feld der rhetorischen Praktiken und Formen ebenso
umfasst wie die Prozeduren der Fiktionalisierung. Was diese betrifft, hat
Ursula Peters soeben die »Kontextanalyse« als »fast« eine »Art Königsweg
für die Analyse der spezifischen Differenzqualität« von Texten bezeichnet,
die sich im ›Akt des Fingierens‹ (Iser) konstituiere.55 Ursula Peters argu-
mentiert am Beispiel der Lieder Neidharts. Zieht man in Betracht, dass die
Referenzialität in der großen Menge mittelalterlicher Texte noch viel weniger
vermittelt ist als in dieser Lyrik, dann kann man die Einschränkung getrost
fallen lassen: Kontextanalyse ist der Königsweg der (mediävistischen) Litera-
turwissenschaft. Der Literarhistoriker, der ihn beschreitet, usurpiert nicht
Fremdes – er bewegt sich im Ur-Eigensten.
Die Mediävistik hat den Körper entdeckt.1 Sie trägt damit einer Entwicklung
in den historischen Kulturwissenschaften Rechnung, bei vormodernen Ge-
sellschaften die sinn- und gemeinschaftsstiftenden Elemente in den Aus-
drucksformen einer nicht-cartesianischen Ontologie zu suchen. Ihr For-
schungsinteresse verschiebt sich von den Strukturen auf die Praxis, von der
Überlieferung auf die Form der Kommunikation, die Ritualität und den
Gebrauch nicht-sprachlicher Zeichen. Im Rückgriff auf die Ergebnisse der
historischen Anthropologie und der Ethnologie wird dabei dem Körper eine
›Realpräsenz‹ zugeschrieben, er erscheint als Quelle der Erinnerung und
Produzent eines eigenen Lebenssinns, der mitunter quer zur Rationalität
steht. Tendenziell führen derartige Theorien, die man einer ›grünen Medi-
ävistik‹ zuschlagen kann, allerdings zu einer Idealisierung und Autonomisie-
rung des Körpers auf Kosten seiner historischen und sozialen Bedingtheiten
und sind damit nur eine Umkehrung der bisherigen Verabsolutierung des
Geistes oder der Gesellschaft. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass derar-
tige Ansätze die objektivistischen Theorien der Geistes- oder Mentalitätsge-
schichte im Grunde auf die Körperthematik übertragen und das Leitpara-
digma der scholastischen Rhetorik durch das der höfischen Körperkontrolle
ersetzt worden ist. Dabei erscheint ausgerechnet die Körperkommunikation
per se wesentlich weniger standardisierbar zu sein als die literarische, wenn
man einmal von den eng begrenzten Gebieten des Hofzeremoniells oder der
Liturgie absieht. Auch blieb bei der Erforschung der Regeln der Körperkom-
munikation die Frage ausgespart, in welchem Verhältnis die hypostasierte
Norm zum Körper des Interpreten und seinem in der Auseinandersetzung mit
1 Einführungen in die Forschung bieten die Arbeiten von Ursula Peters, »Historische
Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären
Forschungsdiskussion«, in: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger, hg.
v. J. Janota u. a., Tübingen 1992, Bd.I, S. 63–86; dies: »Zwischen New Historicism
und Gender-Forschung. Neue Wege der älteren Germanistik«, DVjs 71, 1997,
S. 363–396 und Christian Kiening, »Anthropologische Zugänge zur mittelalterli-
chen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven«, in: Forschungsberichte zur Ger-
manistischen Mediävistik, Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe C, Abt. 5,
Bd. 1, hg. v. H.-J. Schiewer, Bern 1997, S. 11–129, hier S. 64–76.
216 Gerhard Wolf
2 Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris
1992; dt., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes,
Frankfurt a. M. 1999.
3 Eine Forschungsübersicht zu Bourdieus Werk wäre eine Arbeit für sich, bereits 1994
umfasste seine Bibliographie ca. 650 Veröffentlichungen. Einen »Leitfaden durchs
Labyrinth der Gelehrsamkeit Pierre Bourdieus« bieten Gerhard Fröhlich und Ingo
Mörth, Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne
nach Pierre Bourdieu, hg. v. I. Mörth/G. Fröhlich, Frankfurt a. M./New York 1994,
S. 271–311.
4 Dies mag sich ändern, nachdem Joseph Jurt (Das literarische Feld. Das Konzept
Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995) Bourdieus Werk über die
Regeln der Kunst für die deutsche Literaturwissenschaft erschlossen hat.
5 Zur Rezeption der Bourdieuschen Schriften vgl. Gerhard Fröhlich und Ingo Mörth,
»Lebensstile als symbolisches Kapital« in: Kapital (Anm. 3), S. 9.
6 Hier sind die Ausnahmen von der Regel: Horst Wenzel, »Höfische Repräsentation«,
in: Kultur und Alltag, hg. v. H.-G. Soeffner, Göttingen 1988, S. 105–120; Silvia
Schmitz, »Das Ornamentale bei Suchenwirt und seinen Zeitgenossen. Zu struk-
turellen Zusammenhängen zwischen Herrschaftsrepräsentation und poetischem Ver-
fahren«, Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. H.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 217
Ragotzky/H. Wenzel, Tübingen 1990, S. 279–302. An der Arbeit von Silvia Schmitz
zeigt sich, warum der Habitus-Begriff Bourdieus für eine Mediävistik ungeeignet
ist, die ihre Texte aus einer Zuordnung zu gesellschaftlichen Gruppen erklären
möchte. Denn der Begriff ist viel zu weit angelegt, als dass er sich auf das Rationale
oder das Ornamentale als Distinktionsmerkmal einer gesellschaftlichen Gruppe
einengen ließe. (Vgl. ebd., S. 301 f., Anm. 82). Zur Anwendung des Habitus-
Begriffs auf das Nibelungenlied vgl. Hans-Jürgen Bachorski, »Krimhilt verschenkt
Sigfrieds Leben« (Schr. Manuskript 1993).
7 Bourdieu, Regeln (Anm. 2), S. 285 f. Panofsky sieht im Habitus diejenige Institu-
tion, die den Künstler als Individuum mit der Kollektivität seiner Zeit verbindet.
Vgl. auch Jurt, Feld (Anm. 4), S. 80.
8 Das Faszinosum dieser Ansätze für die Mediävistik liegt vor allem darin, dass hier
scheinbar die dem Mediävisten fehlende Empirie durch die Feldforschung in semi-
oralen Kulturen ersetzt wird.
9 Vgl. dazu Walter Haug, »Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?«, DVjs 73,
1999, S. 69–93, hier S. 86–92 und die Kritik von Gerhart von Graevenitz, »Litera-
turwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung«, ebd., S. 94–115, hier
S. 105–107.
218 Gerhard Wolf
10 Bourdieu ist immer der Typ des politisch engagierten Intellektuellen gewesen, der
in der deutschen Wissenschaftslandschaft nicht sehr verbreitet ist. Wie die Bio-
graphie Bourdieus zeigt, ist seine Arbeit von einer zunehmenden Einmischung (La
misère du monde, Paris 1993) in die Politik geprägt, eine Haltung, die der
Generation der Nach-68er-Ära eher fremd ist.
11 Vgl. Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M.
1996, S. 102ff.
12 Vgl. ebd., S. 62 f.
13 Ebd., S. 79.
14 Der Feldbegriff ersetzt in gewisser Weise den der Gesellschaft, den Bourdieu
deswegen aufgibt, weil er von den strukturalistisch arbeitenden Soziologen als
ontologische Entität verwendet wird, die keinerlei Distinktionsqualität mehr hat.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 219
15 ›Feld‹ und ›Habitus‹ sind nicht präzis definiert, wie die Klärung terminologischer
Fragen generell nicht zu Bourdieus bevorzugter Strategie gehört. Vielmehr ver-
wahrt er sich gegen das endlose Jonglieren mit Begriffen, die für ihn eher einen
funktionalen Stellenwert haben.
16 Vgl. Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 262.
17 Vgl. Markus Schwingel, Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der
Soziologie Bourdieus, Hamburg 1993, S. 79.
18 Vgl. Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 266.
19 Jurt, Feld (Anm. 4), S. 89.
20 Vgl. Ebd. S. 78.
21 Unter symbolischem Kapital versteht Bourdieu jene Kapitalsorten, die – anders als
das Geld – auf Bekanntheit und Anerkennung beruhen (Lebensstil, Wissen, Bil-
dungsabschlüsse, Renommee, Ehre, Geschmack), aber genau wie das Geld für den
Inhaber einen konkreten Nutzen hervorbringen, selbst wenn dieser nur in Form
einer Aussicht auf künftige Hilfe bestehen mag.
220 Gerhard Wolf
die Erringung der Macht in einem Feld zu erreichen. Das Streben nach
Macht liegt nicht in einem anthropologisch begründeten Willen zur Macht
(Nietzsche) oder weil Macht ein ontologisches Prinzip wäre (Foucault),22
»sondern in realen, durch Eintritt in das Feld sich konstituierenden feld-
spezifischen Interessen begründet«.23 Das Feld der Macht kann deswegen die
(relative) Autonomie der anderen Felder beeinflussen und limitieren, weil die
verschiedenen Felder eine homologe Struktur besitzen, in allen also der
gleiche Konkurrenzkampf herrscht und der Wert eines Feldes durch die
Position bestimmt ist, die es innerhalb des Feldes der Macht einnimmt.24
Diese Regeln gelten auch und besonders für das intellektuelle, das künst-
lerische und literarische Feld, obwohl sie sich selbst als autonom gegenüber
dem Feld der Macht definieren und ihre interne Legitimität und Ökonomie
»in einem chiastischen Verhältnis zu den fundamentalen Prinzipien des
Feldes der ökonomischen und politischen Macht« stehen.25 Bourdieus Feld-
theorie hat demnach den Vorteil, dass sie weder auf ein ontologisches Prinzip
rekurriert, noch die Kunst im Sinne des ›l’art pour l’art‹ in das Abseits
gesellschaftlicher Autonomie stellt. Das Verhältnis zwischen literarischem
Feld und dem Feld der Macht wird als permanentes Wechselspiel von
Heteronomie und Autonomie gesehen, und dies beruht darauf, dass die
Grenzen des Feldes nie eindeutig festgelegt sind.26 Für das literarische wie
das intellektuelle Feld gilt dasselbe Prinzip: Je höher der Grad an Autonomie,
desto größer der symbolische Stellenwert (›bien symbolique‹). Aus dieser
Konstellation leitet Bourdieu seine Erklärung des Wandels ab: »Veränderun-
gen im System der Werke und der Theorien gehen zurück auf Modifikationen
des Systems der Positionen, die dann möglich werden, wenn die subversive
Kraft einer Fraktion des Feldes die Erwartungen des Publikums trifft.«27
Veränderungen eines Feldes gehen demnach nicht von feldexternen Vor-
gängen aus, sondern geschehen in ihm. Der Prozess des Wandels auf dem
literarischen Feld beruht auf Innovationen, nicht auf Konformität, er führt
damit zur wachsenden Selbstreflexivität und dadurch zur Autonomisierung.
Auch der Habitus-Begriff ist weitgefasst,28 Bourdieu umschreibt ihn im
Gegensatz zum Feld mit dem Begriff der ›Leib gewordenen Geschichte‹,29 es
ist ein »strukturierender Mechanismus, der von innen heraus in den Akteuren
wirkt, obwohl er genaugenommen weder strikt individuell ist noch an sich
das Verhalten bereits völlig determiniert.« Habitus ist »das Erzeugungs-
prinzip von Strategien, die es ermöglichen, unvorhergesehenen und fort-
während neuartigen Situationen entgegenzutreten, [weil es] alle vergangenen
Erfahrungen integrierend, wie eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denk-
matrix funktioniert […]«30 Der Habitus ist demnach »eine Instanz zur
Vermittlung von Rationalität, […] die einem historischen System von sozia-
len Verhältnissen immanent ist und damit den Individuen transzendent. Die
von ihm ›gemanagten‹ Strategien sind systematischer Natur und doch inso-
fern Ad-hoc-Produkte, als ihr ›Auslöser‹ immer erst das Zusammentreffen
mit einem bestimmten Feld ist. Der Habitus ist schöpferisch und erfinde-
risch, aber in den Grenzen seiner Strukturen«31, in ihm haben sich die
historischen Wahrnehmungsschemata niedergeschlagen. Er trifft auf ein Feld,
das keine einheitliche Gesellschaft oder Kultur darstellt, sondern aus relativ
autonomen Spiel-Räumen32 besteht, und in dem die Akteure um das Mono-
pol »auf die in ihm wirksame spezifische Kapitalsorte«33 und damit um die
Macht kämpfen. Mit dem Habitus-Feld-Konzept sind somit die starren Gren-
zen zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben, denn weitgehend unbewusst
nimmt das Individuum die Elemente des Feldes auf bzw. arbeitet sich das
Individuum am Feld ab und verändert es dadurch.
Da sich für Bourdieu Theorien in der Praxis zu bewähren haben, hat er
anhand von Flauberts Education sentimentale das Habitus-Feld-Konzept an
einem konkreten Text erprobt34 und die Relationen zwischen dem künst-
lerischen, literarischen, sozialen Feld und dem der Macht beschrieben. Ent-
sprechend seiner Theorie von den homologen Strukturen der einzelnen Felder
sieht er »in der Struktur des Romans nicht nur die Struktur des sozialen
Feldes eingeschrieben, sondern in noch vermittelterer Form diejenigen des
literarischen Feldes«.35 Indem sich Flaubert mit den relevanten Standpunkten
im literarischen Feld auseinandersetze, tritt der Roman hier ins »Stadium der
Reflexivität […], die für Bourdieu ein untrügliches Zeichen der Autonomie
des Feldes darstellt«.36 Außerdem nähere sich Flaubert mit seiner ambivalen-
ten Haltung gegenüber seinen Figuren, dem »steten Hin und Her zwischen
Da Bourdieu sich nur am Rande zur Stellung der Literatur in den vor-
modernen Epochen äußert,42 kann sein Ansatz nicht unbesehen auf die
mittelalterliche Literatur übertragen werden. Allerdings gibt es zwischen
Bourdieu und der aktuellen mediävistischen Forschungsdiskussion wichtige
Konvergenzen. Um dies transparent zu machen, konfrontiere ich zunächst in
einem ersten Schritt seinen Ansatz mit einigen zentralen Forschungsposi-
tionen innerhalb der Altgermanistik. In einem zweiten Schritt soll dann
versucht werden, diesen Ansatz mittels einer exemplarischen Analyse einiger
Schlüsselpartien aus den Hartmannschen Artusromanen texthermeneutisch
fruchtbar zu machen.
Mit gutem Grund könnte man behaupten, dass Bourdieu nur das theo-
retisch ausformuliert hat, was spätestens seit der sozialgeschichtlichen
Wende Gegenstand und Ergebnis der altgermanistischen Forschung war. So
hat gerade die Diskussion um die sogenannte Ministerialentheorie gezeigt,
wie eng Literatur und Macht miteinander verbunden sind, ganz im Sinne
Bourdieus könnte man sogar von der fehlenden Ausdifferenzierung eines
eigenen literarischen Feldes, von dem der Macht, sprechen. Ein um 1200
entstandener Text – lehrt die ›Repräsentationstheorie‹ – ist »nicht Ausdruck
der Weltsicht eines Autors, sondern Zeugnis des Repräsentationswillens des
Auftraggebers und der entsprechenden Hofgemeinschaft«, in ihm doku-
mentieren sich »Verständigungsprozesse des höfisch lebenden Adels«.43 In
einer solchen Perspektive ist Literatur eine Funktion von Macht, die – hier
verknüpft sie sich mit anderen Zeichen politischer Repräsentation – vorran-
gig als mündliche Inszenierung in den »geselligen Momenten des Fest-
geschehens« aufgeführt wird.44 So griffig diese These auch ist, würde man
Bourdieus Theorie darauf anwenden, dann dürfte es streng genommen die
höfische Literatur des 12. Jahrhunderts gar nicht geben, denn reflexive
Literatur wäre ein Kriterium für die Ausdifferenzierung der Felder. Wenn
man zudem von einer nicht widerspruchsfreien Gestaltung der Protagonisten
des höfischen Romans ausgeht, dann käme man über die Bourdieusche
Homologie der Felder sehr schnell von der altgermanistischen Kontroverse
über die Identität und Nicht-Identität der Figuren auf die Frage nach der
Identität von Literatur und Machtinteressen. Diese Kontroverse, die letztlich
in jenen bekannten Dichotomien Subjektivismus vs. Objektivismus, Indivi-
duum vs. Gesellschaft45 mündet, kann hier nicht grundsätzlich diskutiert
werden, ich will nur anhand eines pointierten Gegenentwurfs zur Repräsenta-
42 Das Mittelalter behandelt Bourdieu nicht, allerdings sieht er Ansätze für eine
Ausdifferenzierung der Felder bereits in der Renaissance. Vgl. Jurt, Feld (Anm. 4),
S. 130, Anm. 1.
43 Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr
historischer Erkenntniswert, hg. v. G. Hahn/H. Ragotzky, Stuttgart 1992, S. X.
44 Ebd. S. IX. Die Mündlichkeitstheorie stützt sich wechselweise mit der Repräsenta-
tionsthese: Nur die große Öffentlichkeit sichert ein Forum für die Austragung einer
Debatte über adlige Normen. Auch aus diesem Grund kommt dem Mainzer
Hoffest von 1184 in diesen Ansätzen ein solch entscheidender Belegcharakter zu.
45 Vgl. oben S. 218.
224 Gerhard Wolf
tionstheorie zeigen, wie sehr die jeweiligen Thesen vom Geschichts- und
Menschenbild des Interpreten, der ja nicht auf eine außerhalb seiner selbst
stehende Faktizität zurückgreifen kann, abhängen. So ist für Walter Haug
große Literatur »allemal ein Erzählen gegen die Versuchung einer in sich
geschlossenen Identität«; sie nimmt auch nicht einfach »am Prozeß der
Rationalisierung und Disziplinierung teil […]. Verweigerung aber heißt Pro-
test gegen eine dichotome Auflösung der Widersprüche des Lebens, Protest
gegen eine Begründung der menschlichen Autonomie in einer in sich ge-
schlossenen Identität, zu der es dann aber in der rückhaltlosen kulturtheo-
retischen Selbstsetzung und mit der entsprechenden Geschichtsfälschung
doch gekommen ist«.46 Angesichts solcher wissenschaftstheoretischer Ge-
gensätze empfiehlt es sich, den wissenschaftlichen Habitus, der sich in
solchen Ansätzen verbirgt, in die Suche nach der ›Wahrheit‹ miteinzubezie-
hen, und dies würde eine Antwort darauf geben, warum ausgerechnet heute
der Chrétiensche Roman als ein Medium gesehen wird, in dem der »Zusam-
menbruch des Rationalisierungs- und Zivilisierungsprozesses zum Bewusst-
sein kommt«.47
Das ungeklärte Verhältnis zwischen Subjekten und Objekten ist im übrigen
auch für ein weiteres prominentes Forschungsparadigma der jüngeren Medi-
ävistik, der histoire des mentalités ein theoretisches Dilemma geblieben. Das
Mentalitätskonzept berührt sich mit dem des Habitus dort,48 wo eine (kollek-
tive) Disposition erklärt werden soll, mit der Menschen auf ihre Umwelt
gestaltend reagieren. Bourdieu hat es aber immer als ein prinzipielles Manko
der Mentalitätsgeschichte gesehen, dass sie angesichts ihrer Fixierung auf die
Wirkung der longue durée geschichtlichen Wandel nicht erklären kann und
so ein ahistorisches Modell (›archetypische Denkmuster‹ und ›Verhaltensre-
geln‹) entwirft. Sein Habitus-Feld-Modell ist hier wesentlich flexibler, weil es
aufgrund der konsequenten Relationierung zwischen Habitus und Feld ein
Modell permanenter Dynamik ist. Auch entgeht er als relational denkender
Soziologe der Gefahr, in den Mentalitäten nach einer historischen Wahrheit
zu suchen. Bourdieu bringt die »leibhaftigen Akteure« wieder in die Analyse
ein, weil er weiß, dass die Institutionen Akteure benötigen, »die sie in
Funktion halten, und zwar Akteure mit jeweils passenden Dispositionen, mit
ökonomischer und psychischer Besetzung der jeweiligen Spiele, mit Glauben
an deren Wichtigkeit (illusio).«49 Andererseits kommt Bourdieu mit seinem
50 Ebd., S. 34.
51 In gewisser Weise eifern die Mentalitätshistoriker den traditionellen Historikern
nach, die sich immer als Politikberater verstanden haben. Auch bieten die weitge-
spannten Überblicke eines Philippe Ariès oder Jacques Le Goff, mit ihrer trotz des
kulturgeschichtlichen Anspruchs großen Affinität zur Geistes- und Sozialge-
schichte, vielfältigere Anschlussmöglichkeiten als die spröden Überlegungen
Bourdieus.
52 Die relativ eingeschränkte Rezeption Bourdieus in Deutschland verhält sich umge-
kehrt proportional zur allgemeinen Berufung auf Foucault, und auch dies über-
rascht, da es zahlreiche Berührungspunkte zwischen beiden Autoren gibt, beide
sich einer relationalen Sicht bedienen. Prima vista ist der Reiz der Foucaultschen
Theorie für ein spezifisch deutsches Publikum deswegen höher zu veranschlagen,
weil die Ontologisierung der Macht einem deutschen Habitus entspricht, wohin-
gegen die Verantwortlichkeiten in Bourdieus Ansatz zum Teil bei den Akteuren
verbleiben.
53 Vgl. Jan-Dirk Müller, »Mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht«, Didaktik
Deutsch 1, 1996, S. 53–62.
226 Gerhard Wolf
Werkes54 (die auch immer die Individualität des Interpreten treffen würde)
und seine Reduzierung auf ein relativ bedeutungsloses Zeichen in einem von
anderen Zeichen überschwemmenden Meer an Kulturgütern. Damit wäre
dann auch das Kriterium der Autonomie des (literarischen) Kunstwerks bzw.
seines gegenüber anderen kulturellen oder sozialen Bedingungen höheren
Grades an Selbstreflexivität gefährdet. Die Auflösung der Hermeneutik in
eine interdisziplinäre Beliebigkeit der Fragestellungen, gar die Verabschie-
dung literaturwissenschaftlicher Themen zugunsten einer sich jeder Nach-
prüfbarkeit entziehenden Anthropologie, wird hier ebenso perhorresziert wie
die Absage an geschichtliche Kohärenz. Eine solche Dekonstruktion trifft
jenen Teil der Mediävistik, der die Legitimität des Fachs noch immer in der
Suche nach den geschichtlichen Konstanten und sein Ziel in der Konstruk-
tion literaturgeschichtlicher Zusammenhänge sieht.55
Einer solchen Haltung hat Gerhart von Graevenitz in der jüngsten De-
batte56 um das Verhältnis von Kultur- und Literaturwissenschaft den Cha-
rakter eines nie zu Ende geträumten Traums nach einem wissenschaftlichen
Monismus bescheinigt,57 der auch diametral Bourdieus Plädoyer für einen
methodologischen Polytheismus widerspricht. Damit steht nicht etwa jene
von Walter Haug befürchtete postmoderne methodologische Unverbindlich-
keit ins Haus, sondern die Forderung, dass »die Palette der angewendeten
Methoden dem behandelten Problem adäquat sein muß und […] diese
Methoden im Prozeß der Anwendung selbst, im Zuge mit ihrer Anwendung
zur Lösung einer bestimmten Frage, ständig reflektiert werden müssen.«58
Bourdieu will keineswegs auf Objektivität verzichten,59 sondern der Stand-
punkt der Relativität bedeutet für ihn »das Privileg des erkennenden Subjekts
in Frage zu stellen, das als ein rein noetisches von der Objektivierungsarbeit
willkürlich ausgenommen bleibt. […].«60 Für Bourdieu ist dies der Mittel-
54 Siehe dazu die Debatte zwischen Walter Haug und Gerhart von Graevenitz. (Anm.
9).
55 Zur Konstanz des Dichterischen vgl. Haug, Literaturwissenschaft (Anm. 9),
S. 86 f.
56 Bei der Debatte zwischen Haug und von Graevenitz (Anm. 9) drängt sich mir die
Frage auf, ob es tatsächlich um die Frage Literaturwissenschaft als Kulturwissen-
schaft geht. Denn letztlich will Haug gar nicht bestreiten, dass die Altgermanistik
schon immer kulturwissenschaftlich gearbeitet hat und im Grunde führt er hier
denn auch eher die Debatte um die Postmoderne und die cultural poetics weiter.
Was Haug den amerikanischen Ethnologen vorhält, ist deren impliziter Anschlag
auf das Konzept einer Individualität, die den Sinn von Handlungen nicht dem
Subjekt, sondern jenen unbewussten Beziehungssystemen, in denen das Subjekt
steht, zuschreibt. Dies kann für den Konstrukteur einer geschichtlichen Entwick-
lung von der Kollektivität zur Individualität nur eine Provokation sein. Haug
verteidigt also nicht die Ästhetik vor dem Zugriff einer Mentalitätsgeschichte oder
der kulturwissenschaftlichen Empirie, sondern seinen Mythos der Individualität.
57 Vgl. von Graevenitz, Erwiderung (Anm. 9), S. 103.
58 Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 54.
59 Bourdieu sieht die Konsequenz eines solchen Verzichts in einem hemmungslosen
Narzissmus. Vgl. o. S. 218 und Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11),
S. 66
60 Ebd., S. 248.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 227
67 Bourdieu war sich immer der Widerstände bewusst, die in den Geistes- und
Sozialwissenschaften gerade von denjenigen ausgehen, denen er ein reflexives
Verfahren zumutet. Dabei war es nicht die Vorstellung einer psychologischen
Selbstentblößung, die einem als latent narzisstisch eingestuften Typus ohnehin
weniger Probleme bereitet, als vielmehr die Aufgabe jenes »geheiligten Gefühls
[…] der uns allesamt so am Herzen liegenden Individualität« (Ebd., S. 73).
Bourdieu erkennt gerade in der Verabschiedung einer naiven Individualitätsvor-
stellung und der Erkenntnis der Abhängigkeit des eigenen Denkens und Handelns
von den umgebenden Bedingungen eine Chance der Befreiung von einen wissen-
schaftlichen Habitus, der in diesem Sinne als Korsett empfunden wird.
68 Ebd., S. 78, Anm. 84.
69 Ebd., S. 83.
70 Ebd., S. 92 f. Von dieser Position aus lassen sich Verbindungslinien zurück zu dem
Anspruch der gesellschaftlichen Relevanz von Forschung in den 60er Jahren
ziehen, und nicht zufällig bezeichnet mit larmoyantem Unterton die französische
linke Intelligenz Bourdieu »als den letzten, der uns noch geblieben ist«.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 229
die Arbeit von Eckart Conrad Lutz über die rhetorischen Strategien im Erec
erwähnt, dessen ›harter‹ Ansatz völlig der traditionellen Quellen-, Einfluss-
und Toposforschung verpflichtet ist.71 Lutz vermeidet aber auch jeden Ge-
danken an die Restriktionen eines solchen Ansatzes72 und dessen unbe-
weisbaren, letztlich subjektivistischem Verstehen geschuldeten Prämissen.73
Diese Isolierung der Methodologie zu einem eigenen Diskussionsfeld lässt –
überblickt man etwa die Forschung zu Hartmanns Erec in den letzten 15
Jahren74 – am Diktum von der ›Herrschaft der Kommentare‹ bzw. an der
Machttheorie Bourdieus zweifeln. Denn wo jeder Herrscher über sein eige-
nes Feld ist und die methodologische Diskussion (oder auch die Macht auf
dem gesamten Feld) wenig zu interessieren scheint, kann sich ein Feld auch
auflösen. Implizite Folge ist die Diffundierung des wissenschaftlichen Dis-
kurses, die Separierung der Interpreten (in ihrem jeweiligen wissenschaftli-
chen Biotop) und ein Verlust an öffentlicher Wirkung. Man könnte geradezu
meinen, die Altgermanistik sei auf dem von Ulrich Beck75 prognostizierten
Helden vor der Gesellschaft enthält, nach der Krise seinen Wiederaufstieg
und neue Profilierung für die Gesellschaft mittels helfe-Aventiuren.86 Von
einem neutralen Ausgangspunkt führt der Weg des Helden zu einem ersten
(relativen) Höhepunkt mit dem Gewinn von êre, Land und Dame, nach einem
Absturz unterhalb des Ausgangsniveaus in der Krise erfolgt ein zweiter,
kontinuierlicher Aufstieg, der ihm das Verlorengegangene zurückbringt und
ihn zu einem zweiten absoluten Höhepunkt führt. Bekanntlich enthält dieses
idealtypische Konzept87 eine Reihe von Widersprüchen, von denen ich hier
nur einige herausgreife: Zugunsten der Stringenz eines solchen ethischen
Programms müssen Inkompatibilitäten, wie sie sich etwa aus dem Erbstreit
der beiden Grafentöchter im Iwein ergeben, mit erzähltechnischen Not-
wendigkeiten erklärt werden,88 die List, mit der Iwein seine Gattin wieder-
gewinnt, darf nicht unter moralischen Prämissen gesehen werden, sondern
wird einer Unterhaltungsintention zugerechnet.89 Auch sind die angeblichen
helfe-Aventiuren unter Umständen gar nicht aus erbermde, sondern aus
einem an der êre orientierten Kalkül (Erec: 2. Guivreiz-Kampf, Joie-de-la-
curt; Iwein: Burg zum Schlimmen Abenteuer) unternommen worden oder
lassen sich wie Iweins Eingreifen zugunsten des Löwen weder aus dem einen
noch dem anderen Motiv erklären. Die höchst irrationalen Kampfentschei-
dungen in diesen Aventiuren sprechen gegen einen rationalen Zugewinn im
Kampf für die Gesellschaft und gegen eine Abkehr vom Zwang der costume,
die den ersten Wegteil dominiert.
Ein Versuch, Bourdieus Soziologie auf den Artusroman anzuwenden, liegt
bereits vor. In ihrer Arbeit über archaische Momente des Ehrbegriffs in der
Moderne untersucht Ludgera Vogt,90 ob mittels der Bourdieuschen Theorie
des symbolischen Kapitals das Verhalten der Protagonisten zu erklären ist.91
Nach Vogt geht es im Iwein um die Funktionsweise des symbolischen
86 Zu Hartmanns Erec vgl. Hugo Kuhn, »Erec«, in: ders., Dichtung und Welt im
Mittelalter. Kleine Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1959, S. 133–150 und Kurt Ruh,
Höfische Epik des deutschen Mittelalters. I. Von den Anfängen bis zu Hartmann
von Aue, Berlin 21977 (Grundlagen der Germanistik 7), S. 141–163.
87 Zur Kritik am Doppelwegschema vgl. jetzt Elisabeth Schmid, »Weg mit dem
Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusfor-
schung«, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue
Ansätze, hg. v. F. Wolfzettel, unter Mitwirkung v. P. Ihring, Tübingen 1999, S. 69–
85.
88 Vgl. Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk
– Wirkung, München 1995, S. 215.
89 Vgl. ebd., S. 217.
90 Ludgera Vogt, »Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften. Eine sozio-
logische Analyse des ›Imaginären‹ am Beispiel zweier literarischer Texte«, in:
Ehre, hg. v. L. Vogt/A. Zingerle, Frankfurt a. M. 1994, S. 291–314.
91 Vgl. Fröhlich, Kapital (Anm. 3), S. 35. »Der Kapitalbegriff Bourdieus liegt teil-
weise quer zum Habitus- und Feld-Konzept, hat aber den Vorteil, daß er mit ihm
sowohl ›subjektive‹ bzw. körperliche (in Form des einverleibten Kulturkapitals),
vergegenständlichte wie institutionalisierte Formen (Dinge, Titel), als auch Bezie-
hungsnetze umfaßt, Handlungsressourcen der Akteure ebenso wie die ›Schwer-
kraft‹ der Strukturen, und so konsequent die traditionelle Subjektivismus-Objek-
tivismus-Dichotomie hinter sich läßt.« (ebd., S. 34.)
234 Gerhard Wolf
Kapitals der êre, im Verlauf der Handlung würde die ritterliche Ehre »vom
bloßen Kampfprodukt zu einer euphemisierenden Synthese von ritterlicher
und christlich-sozialer Tugend«92 transformiert. Das symbolische Kapital,
das, ähnlich dem ökonomischen, beständig arbeiten muss, ist im ersten
Wegteil moralfrei, nur auf Akkumulation ausgerichtet. Der hier von Iwein
erworbene Habitus »rücksichtslosen, moralfreien Ehrverhaltens«93 kollidiert
in der Krise mit den Feldern Herrschaft, Minne und Treue. Innerhalb des
zweiten Wegteils erfolgt eine »semantische Umstellung«, die ritterliche Ehr-
semantik ist jetzt durch »Sozialität und Dienstgedanken« geprägt. »Ehre als
symbolisches Kapital«, so resümiert Vogt, »unterliegt folgender Logik: sie ist
akkumulierbar und erfordert der Logik aller Kapitalien gemäß, Akkumula-
tion. Mit Ehre wird nutzenorientiert kalkuliert […].«94 Die Funktion der
dichotomen Struktur interpretiert sie aus einer im Iwein entworfenen Regel
zur Verschleierung der Nutzenkalküle. Während der Held im ersten Wegteil
seine Interessen auf maximale Ehrakkumulation noch ohne Rücksicht auf die
Gesellschaft – zu der dann wohl auch Laudine zu zählen wäre – verfolgt und
deswegen im Wahnsinn endet, verschleiert er im zweiten Wegteil diese
Kalküle mittels euphemisierender Mittel. Im Grunde sieht Vogt also Bour-
dieus Habitus-Konzept bloß als komplementäre soziologische Ergänzung zur
literaturwissenschaftlichen Deutung des Iwein, wie sie Kurt Ruh für die
Struktur, Helmut Fischer und Peter Czerwinski für den Inhalt vorgelegt
haben:95 Iweins Lernprozess auf seinem Doppelweg besteht demnach in der
Camouflage seiner egoistischen Interessen mittels karitativer Handlungen.
Iwein erscheint als ein Held, der in jeder Situation auf den größtmöglichen
eigenen Nutzen spekuliert. Kritisch wäre dagegen einzuwenden, dass ein
solcher utilitaristischer Ansatz jeder noch so zufälligen oder belanglosen
Handlung irgendeinen Nutzen zuschreibt, damit aber das Nutzenargument
seine distinktive Qualität verliert. Teilweise argumentiert Vogt auch gegen
den Text: So kämpft Iwein gegen die beiden Riesenritter nicht aus Mitleid
gegenüber den 300 gefangenen Edelfräulein oder um weiteren Ehrerwerb
willen, sondern weil er gar nicht anders kann. Auch die »karitative Seman-
tik[…]«96 fehlt in dieser Aventiure. Aus der ökonomischen Metaphorik des
Iwein-Gawan-Kampfes am Ende des Romans auf eine Abwehr »bürgerlich-
händlerischer Knausrigkeit« zu schließen, geht gleichfalls am Text vorbei,
denn der Autor ridikulisiert nicht die Ökonomie, sondern unterstreicht, dass
auf dem Feld des symbolischen Kapitals Ehre nur angehäuft werden kann,
indem man sie ständig unter Beweis stellt – und dies geschieht gemäß der
Logik der Ökonomie, wenn die eigenen Investitionen immer größer sind als
die des Gegners.97 Indem Vogt das gesellschaftliche Ansehen als alleinige
Triebfeder für Iweins Handlungen versteht und sein Verhalten im zweiten
Wegteil als »Reaktion auf Veränderungen der sozialen Feldbedingungen«
interpretiert,98 reduziert sie die Bourdieusche Theorie auf einen voluntaristi-
schen Utilitarismus. Iweins ›Verschleierungsstrategie‹ ist demnach die freie
Wahlentscheidung eines Individuums. Demgegenüber schätzt jedoch Bour-
dieu die Sphäre des Nutzen und des Bewusstseins gerade geringer ein als die
eines Interesses (illusio oder libido),99 das weniger auf künftige Resultate
bedacht ist, als auf die unmittelbare Gegenwart. Wenn man Bourdieus These
von der Strukturhomologie von Text und außerliterarischem Kontext folgt,
dann wären auch ›spontane Reaktionen‹, die in einer utilitaristischen Sicht
keinesfalls ultima ratio sind, zu berücksichtigen.100 Ein solches Handeln ist
nicht von normativen Vorgaben abhängig, sondern vom jeweiligen Habitus,
den sich die Akteure erworben haben. Mit einer anderen Option der Theorie
Bourdieus hat sich Vogt nicht befasst. Geht man nämlich von einer Struk-
turhomologie zwischen Held und Autor aus, dann hätte Hartmann in seinen
Werken auch den Konkurrenzkampf beschrieben, der auf dem literarischen
Feld herrscht.101 Dementsprechend könnte man Hartmanns Neuakzentuie-
rungen des Stoffes geradezu als Abgrenzungsversuche gegen ein (schola-
stisch-normatives) Meinungsmonopol, welches eine Verbindung von Ehre
und Caritas anstrebt,102 verstehen.
Zentrales Gewicht in Vogts Argumentation hat die Aventiure der ›Burg
zum Schlimmen Abenteuer‹ (bei Chrétien: ›Le chastel de Pesme Avan-
ture‹)103 und darin insbesondere Iweins Verhalten gegenüber dem Burg-
herren. Nach seinem Sieg über die Riesenritter hat Iwein nicht nur das Recht,
sondern die Pflicht, die Tochter des Burgherren zu heiraten. Er lehnt dies
jedoch ab und verlangt stattdessen die Freilassung der 300 adligen Frauen
aus dem Arbeitshaus. Vogt sieht darin eine »den Erfordernissen der Ehröko-
97 Es handelt sich demnach um keine Frage der Verschwendung, wie Vogt meint
(ebd. S. 303), sondern sehr wohl um ein rationales Kalkül. Dieser Akkumula-
tionsmechanismus zeigt sich am besten bei Erecs Kampf gegen das Heer des
Guivreiz.
98 Andreas Dörner und Ludgera Vogt, »Kultursoziologie, Bourdieu – Mentalitätsge-
schichte – Zivilisationstheorie«, in: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, hg.
v. K.-M. Bogdal, Opladen 1990, S. 131–153, hier S. 148, Anm. 5.
99 Vgl. Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 48.
100 Zu einem solchen Spontanhandeln, das sich einer rationalen Logik entzieht, zähle
ich im Erec das Verhalten des Protagonisten bei der unüberlegten Heraus-
forderung des Guivreiz und seine Wahl des ›richtigen‹ Weges vor Brandigan. Vgl.
u. Anm. 122.
101 Vgl. Dörner/Vogt u. a., Kultursoziologie (Anm. 98), S. 145.
102 Auf diese analogia entis hat bereits Hugo Kuhn (Erec, Anm. 86, S. 150) hinge-
wiesen.
103 Chrestien de Troyes, Yvain, übersetzt u. eingeleitet v. Ilse Nolting-Hauff, Mün-
chen 1983 ( Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen
Ausgaben), vv. 5109.
236 Gerhard Wolf
104 Vogt, Ehre (Anm. 90), S. 301. Ähnlich versucht Hans-Jürgen Bachorski (Krim-
hild, Anm. 6) die merkwürdige Tatsache zu erklären, dass Krimhild Hagen die
ungeschützte Stelle verrät. Aus der Pflicht der Gabe, in diesem Fall des geschenk-
ten Vertrauens, könne sie zwingend als Gegengabe den Schutz von Siegfrieds
Leben erwarten.
105 Diese These hat Bourdieu aufgrund seiner ethnologischen Feldforschungen bei
dem algerischen Stamm der Kabylen Ende der 50er Jahre formuliert. Vgl.
Fröhlich/Mörth, Lebensstile (Anm. 5), S. 8.
106 Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. v. Georg F. Benecke/Karl
Lachmann, neu bearb. v. Ludwig Wolff, 7. Ausg. Bd. 1: Text, Berlin 1968.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 237
107 Die beiden Ritter sind bei Chrétien einerseits Teufelssöhne, da sie von Kobolt und
Menschenfrau abstammen (Chr 5273), andererseits aber auch Gerichtskämpfer (li
dui champion Chr 5575).
108 Hugh Sacker (»An Interpretation of Hartmanns ›Iwein‹«, GR 36, 1961, S. 5–26)
hat die Überlegung angestellt, dass Iwein mit dem Löwen »his animal nature«
(S. 24) akzeptiere. Abgesehen davon, dass Sacker sich hier auf eine moderne
Diskrepanz zwischen Natur und Kultur bezieht, kann ich keinen Beleg dafür
finden, dass Iwein diese kreatürliche Seite in sich unterdrückt hat.
238 Gerhard Wolf
kann dies als Hinweis auf eine Kraft verstanden werden109, die nicht rational
kalkulierbar ist. Wenn man die Ebene der costume mit dem Feld der Macht
identifiziert, dann wäre Iweins Agieren gegenüber den Riesenrittern ein
Beleg für deren implizite Begrenzung.
Ich überprüfe diese Beobachtungen anhand zweier Szenen aus Hartmanns
Erec und befasse mich zunächst mit dem 2. Guivreiz-Kampf und der schein-
bar ebenfalls gegen jede Vernunft gefällten Entscheidung Erecs, sich nicht
vor dem herangaloppierenden fremden Heer zu verbergen, sondern sich ihm
in den Weg zu stellen. Erecs Verhalten wäre aus einem Habitus zu erklären,
der immer noch geprägt ist vom verligen in Karnant und der Angst, wieder in
diese Situation zurückzufallen. Aufgrund dieser Erfahrung empfindet er eine
latente Herausforderungspflicht. Seine Ehre bedarf der ständigen Akkumula-
tion, und auf diesem Feld zählen weniger die Siege als jene selbstgewählten
Aventiuren,110 deren Wert in der offensichtlichen Unmöglichkeit ihrer Be-
wältigung liegt. Aber genau mit diesem Habitus, seiner Gestalt gewordenen
Geschichte, scheitert Erec, nur das Eingreifen Enites bewahrt ihn vor dem
Tod. Trotz der Niederlage hat dies jedoch keine Konsequenzen für Erecs
Habitus, Erec wagt vielmehr in der nächsten Station eine Aventiure, die von
vornherein als genauso aussichtslos erscheint (H 7952–7981). Ist daraus die
Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Feld der êre stärker ist als jede
Erfahrung, und Erec dem Prinzip des »mehr desselben« folgt, ist der höfi-
sche Held ein hilfloser »Gefangene seiner Ehre«?111 Demnach wäre die
angebliche Harmonie von Ich und Gesellschaft, die der Autor mit dem
Roman angeblich anstrebt, noch nicht einmal als Utopie in dem Text ent-
halten: Denn auf dem Feld der êre gibt es weder Mitleid noch Stillstand, und
Erec würde sich auch als neuer ›Friedensherrscher‹ weiterhin im ständigen
Kampf messen müssen.
Für eine Antwort ziehe ich den französischen Roman des Chrétien de
Troyes vergleichend heran. Das Verhältnis zwischen den beiden Texten ist
nicht eindeutig zu bestimmen. Chrétien kann für Hartmann Vorbild oder
Konkurrent gewesen sein, möglich ist auch, dass Hartmann sich mit seinem
Text von einer deutschen, näher bei Chrétien liegenden Fassung abgrenzt.112
109 Viel stärker als Hartmann betont Chrétien den Aspekt der kreatürlichen Kraft des
Löwen (Chr 5606–5609), die ihn befähigt, aus seinem Gefängnis auszubrechen.
Hartmann nimmt diesen Aspekt gegenüber der Vorlage zurück und zeichnet ein
höfisch-zivilisiertes Verhalten des Tieres.
110 Im Gegensatz dazu versucht er im ersten Guivreiz-Kampf dem Konflikt auszu-
weichen. Es ist ein Unterschied, ob man sich zur Wehr setzt, weil man selbst
herausgefordert wird, oder ob man diesen Kampf selbst sucht. Offenbar sind es
die selbstgesuchten Aventiuren, die im zweiten Wegteil allein noch für Erec
zählen, während er allen Formen der Bewährung, wie sie der erste Wegteil bereit
hielt, aus dem Weg geht. Der wahre Schutz vor dem verligen wäre demnach nur
das selbstgesuchte, unmögliche Abenteuer, nicht etwa die Annahme einer Her-
ausforderung.
111 So argumentiert Fischer, Ehre (Anm. 95), S. 112ff. im Hinblick auf Iweins
Verhalten.
112 Vgl. Cormeau/Störmer, Hartmann (Anm. 88), S. 19.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 239
113 Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide, übersetzt und hg. v. Albert
Gier, Stuttgart 1987.
114 Hartmann von Aue, Erec, hg. v. Albert Leitzmann, fortgeführt v. Ludwig Wolff,
6. Aufl. besorgt v. Christoph Cormeau/Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39).
115 Vgl. ebd., S. 188.
240 Gerhard Wolf
116 Auf der Ebene des Habitus ist der Vergleich zwischen dem Baumgarten und
Karnant schief. Mabonagrin verligt und ›verrittert‹ gleichzeitig, wenn er einer-
seits an die Minnedame gefesselt bleibt, andererseits sich ständig im Kampf
bewähren muss.
117 Vgl. dagegen Fischer, Ehre (Anm. 95), S. 125–128 u. pass.
118 S. o. S. 235.
119 Die abrupte Antwort des Königs Îvreins (H 8576ff.) auf diese Argumentation
lässt darauf schließen, dass sich Hartmann des Bruchs bewusst war.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 241
– wie Karnant beweist – zur Inflexibilität120 und zur Orthodoxie führt, also
latent darauf angelegt ist, die Dynamik des Feldes außer Kraft zu setzen. Dies
aber führt – wie bereits dargelegt – zum Stillstand in der Gesellschaft, und
deswegen zeigt Hartmann an der Figur Erecs, der am Ende des zweiten
Wegteils schon lange wieder im Besitz der Ehre ist, dass symbolisches
Kapital immer rasch verdirbt. Umgekehrt bestätigt Mabonagrins Verhalten
die Lehre des 2. Guivreiz-Kampfes, wonach der Habitus ein Hemmnis sein
kann, um auf die wechselnden Anforderungen des Feldes zu reagieren.121
Wenn Erec über Mabonagrin siegt, dann besiegt er eigentlich nicht allein sein
früheres Selbst, sondern es stehen zwei Habitus gegeneinander, die beide den
Regeln auf dem Feld der êre noch verpflichtet sind. Der entscheidende
Wandel vollzieht sich erst am Ende des Mabonagrin-Kampfes, als Erec die
Regeln der costume durchbricht und als erster seinen Namen nennt und damit
auch die Tötung des Gegners vermeidet. Wenn man die Akkumulation der
Ehre als obersten Wert ansetzt, dann hätte er auch hier auf die Unter-
werfungsgeste der ersten Namensnennung nicht verzichten dürfen. Im Aska-
lon-Kampf des Iwein mit seinem katastrophalen Ausgang wird dann diese
Thematik aufgegriffen und in ihren Konsequenzen weitergeführt. Hier sehe
ich denn auch den Sinn von Hartmanns Wortspiel zwischen dem rechten und
dem besseren Weg im Erec.122 Der falsche ist deswegen der bessere, weil er
die Aufgabe des ursprünglichen Plans beinhaltet, eine erneute Fixierung des
›Lebenswegs‹ wie in Karnant ausdrücklich dementiert und ein sich Auslie-
fern an nicht-kontrollierbare Situationen empfiehlt. Allerdings legt Hartmann
im Gegensatz zu Chrétien das Gewicht auf die Rationalität der Entschei-
dungen. Die war im 2. Guivreiz-Kampf nicht gegeben, aber sie wird es – wie
das Gespräch mit König Îvreins belegen soll – im Kampf gegen Mabonagrin
sein. Auf der Ebene des literarischen Spiels zeigt der Erec, wie verabsolu-
tierte êre (und minne) die Gesellschaft zerstört, und deswegen darf beides
nicht der Endzweck der höfischen Gesellschaft bleiben. Hartmann wendet
sich gegen die reine Hypostasierung der êre, da dies zu einer Fessel wird
(vgl. H 9584). Die Lösung, die er anbietet, belässt zwar dem Ehrverständnis,
als zentralem symbolischen Kapital auf dem Feld der Macht, sein Recht, aber
der Zwang der permanenten Akkumulation wird dekonstruiert. Wenn Erec
gegenüber Mabonagrin (wider die sîte, H 9370) zuerst seinen Namen nennt,
dann hat er die Spielregeln zumindest partiell verändert, und auch dies ist
eine Voraussetzung für die Wiederkehr der Joie.
Gegen Chrétien nimmt Hartmann seinen Protagonisten vor dem Verdacht
eines bloßen Reagierens auf die Anforderungen des Feldes in Schutz und
verleiht mit der Einführung der 80 Witwen (H 9799) seinen Handlungen
noch eine moralische Aura. Bei Hartmann strahlt die Niederlage Erecs im 2.
120 Wenn Hartmann dies tatsächlich zum Ausdruck bringen wollte, dann ist ihm dies
darstellerisch durch den Kampfausgang hervorragend geglückt: Der kleine Erec
besiegt den Großen, weil er flexibler ist.
121 Dieses Kontrollbedürfnis wird in extremer Form anhand der Freundin Mabona-
grins thematisiert.
122 die rehten strâze si vermiten: / die baz gebûwen si riten (H 7816 f.).
242 Gerhard Wolf
Guivreiz-Kampf in der Weise auf die folgende Aventiure aus, dass Erec nun
unter einem ›Rationalisierungszwang‹ steht. Das Scheitern der Konstruk-
tionen des Protagonisten verändert hier sichtbar die Vorwegannahmen, ver-
mittels derer er den Sinn der Welt konstruiert.123 Hartmann ›arbeitet‹ an der
mangelnden Rationalität Erecs und nimmt sie in einer bewältigten Form in
den Habitus des Protagonisten auf. Die entsprechenden Passagen124 wirken
eindeutig überdeterminiert, da die Überlegungen hinsichtlich eines rationalen
Handelns dem Handlungsverlauf gegenüber äußerlich bleiben. Während
Chrétien diese Thematik nur kommentierend streift, er innerhalb des literari-
schen Spiels bleibt, geht Hartmann quasi von Homologien zwischen dem
Feld der Literatur und dem der Macht aus. Erecs ›Entscheidungen‹ müssen
bei Hartmann einen Doppelcharakter tragen, den literarischen (d. h. der
Quelle) wie auch den politischen Regeln gerecht werden – und hier wäre eine
Verabsolutierung des Ehrbegriffs, der mit einem reinen Kampfautomatismus,
mit einer irrationalen Akkumulation des symbolischen Kapitals einhergeht,
gesellschaftszerstörend. Die Diskrepanz zwischen Chrétien und Hartmann
ließe sich demnach folgendermaßen beschreiben: Chrétien zeigt die Regeln
auf dem Feld der Macht in Form eines literarischen Spiels, er setzt Signale
(1000 Mann starkes Heer des Guivreiz), die die Parallele zur historischen
Wirklichkeit ausschließen. In der Spielrealität ist das Scheitern ebenfalls
integriert, aber es wird dort nicht zum Problem, weil es allein um die Logik –
oder eine Archäologie – der Ehre auf einem literarisch-ästhetischen Niveau
geht. Gegenüber einer solchen, auf das literarische Feld beschränkten Posi-
tion geht Hartmann einen Schritt weiter, und dies wäre nach Bourdieu seiner
anderen Position im literarischen Feld zuzuschreiben: Der Autor kann gegen-
über Chrétien oder dessen deutscher Übersetzung nur dann an ›symbo-
lischem Kapital‹ gewinnen, wenn er eine Anbindung des Stoffes an die
›Lebenswelt‹ seines Publikums leistet. Dies erreicht er durch die unmittel-
bare Adaptation des Stoffs an das Feld der Macht.
Bourdieu hat in seinen Arbeiten immer wieder den sozialen Charakter von
Kunst, Literatur und Wissenschaft betont, und deswegen spiegeln sich für ihn
die Kämpfe auf dem Feld der Macht auch in diesen Bereichen wider.125 Für
das Feld der Wissenschaft ist der Kampf um die Wahrheit maßgebend. Da
diese immer kontextgebunden ist, sollte es nicht die Aufgabe der Wissen-
schaft sein, nach letztgültigen Wahrheiten oder sicheren historischen Er-
kenntnissen zu suchen. Stattdessen sei es für Effizienz und Aktualitätsgehalt
von Forschung viel ertragreicher, die Wahrheit der Kämpfe, die in Vergan-
genheit und Gegenwart ausgetragen werden, herauszuarbeiten. Bourdieu
grenzt sich damit auf dem Feld der Literaturwissenschaft gleichermaßen ab
gegen die Rezeptionstheorie, bei der der Theoretiker stillschweigend »seine
130 Über die Elemente der Kontingenz in den Texten könnten auch jene Facetten der
Werke besser erschlossen werden, in denen eine Gegenbewegung gegen Effizienz
und Logik verankert ist.
131 Vgl. Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der
Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 378.
Der Ritter und sein Pferd
Semantisierungsstrategien einer
Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter
1 Fokus einer semiotisch orientierten Kulturwissenschaft ist daher primär der Kontext.
Carsten Lenk, »Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur«, in:
Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, hg. v.
R. Glaser/M. Luserke, Opladen 1996, S. 116–128.
2 Sprache, Mythos und Lebenswelt werden als eigenständige Symbolsphären neben
dem rationalen Diskurs etabliert (Cassirer); die semiotische Funktion wird als
genuin symbolische entworfen (Ricœur); selbst die Soziologie schreibt den zweck-
rational handelnden Menschen eine kalkulierte Rivalität an symbolischen Praktiken
zu (Bourdieu), die kulturtheoretisch orientierte Psychoanalyse schaltet die Ebene
der ›Symbolischen Ordnung‹ als sinnstiftende Struktur zwischen das Reale und das
Imaginäre (Lacan). Und auch die verstehende Ethnologie widmet sich dem selbst-
gesponnenen Bedeutungsgewebe als spezifisch symbolischer Dimension gesell-
schaftlichen Handelns (Geertz).
246 Udo Friedrich
3 Pierre Bourdieu, Roger Chartier und Roger Darnton, »Dialog über die Kultur-
geschichte«, Freibeuter 26, 1985, S. 22–37, 43.
4 Joachim Bumke, Die höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im Mittelalter, 2
Bde., München 1986.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 247
1. Der Ritter:
Index eines sozialhistorischen Wandels
Der Ritter kann als zentrale Chiffre einer kulturhistorischen Symbiose von
Mensch und Tier interpretiert werden.6 Im Rahmen einer kulturwissen-
schaftlichen Analyse ist dieser weniger eine literarische Figur, d. h. Funktion
eines Textzusammenhanges, als eine reale soziale Erscheinung, eine »kultu-
relle Form«, die erst unter besonderen historischen Voraussetzungen in
Erscheinung tritt.7 Als »kulturelle Form« verstanden, wird das Gefüge Ritter-
Pferd mit symbolischem Gehalt aufgeladen und wirkt in die verschiedenen
Felder sozialer Interaktion hinein. Nachweislich hängt die Genealogie des
Rittertums mit dem Pferd zusammen.8 Das Aufkommen des berittenen Krie-
gers, des Panzerreiters (dextrarius), zur Zeit der Karolinger gilt sozial-
historisch als Katalysator einer wirkungsmächtigen Umschichtung innerhalb
der Feudalstruktur, die zur Differenzierung von milites und pauperes inner-
halb der militia führt.9 Auch wenn der Panzerreiter nicht notwendig aus
militärischer Notwendigkeit entsteht, zieht seine Erscheinung im sozialen
Feld ungeahnte strukturelle Veränderungen nach sich, die letztlich in einer
elitären Gruppenideologie münden. Dieser Wandel wird in der Gegenüber-
stellung zweier Ereignisse aus dem Reichsgebiet deutlich: Während Widu-
kind anlässlich der Errichtung der Heinrichsburgen im 10. Jahrhundert noch
von agrariis militibus, freien Bauernkriegern, spricht, die sich zwar bereits
arbeitsteilig ausdifferenzieren, doch wohl noch dem unberittenen Heerbann
angehören, erhalten seit dem 12. Jahrhundert selbst die Ministerialen das
verbriefte Recht auf berittenen Kriegsdienst.10 Mehr denn je wird Reiten zum
6 Max Jähns, Ross und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der
Deutschen. Eine kulturhistorische Monografie, 2 Bde. Leipzig 1872. I, S. 162.
Heinz Meyer, Mensch und Pferd. Zur Kultursoziologie einer Mensch-Tier-Assozia-
tion, Hildesheim 1975.
7 Lenk, Kultur als Text (Anm. 1), S. 117.
8 Seit dem 11. Jahrhundert markiert die Durchsetzung des miles-Begriffs auch
sprachgeschichtlich den sozialen Wandel. Joachim Bumke, Studien zum Ritterbe-
griff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 1964 (Beihefte zum Euphorion 1),
S. 28 f., 35–40. Georges Duby, »Die Ursprünge des Rittertums«, in: Das Rittertum
im Mittelalter, hg. v. A. Borst, Darmstadt 1989 (WdF 349), S. 349–369 [zuerst
1968], S. 354.
9 »Es ist ferner 3. eine allgemeine und, wie mir scheint, wohlbegründete Annahme,
daß das Vordringen des Reiterdienstes ein zuvor nicht gekanntes Problem ge-
schaffen hat, das sich in den Quellen seit Karl dem Großen deutlich widerspiegelt:
das Problem der pauperes im Heer.« Josef Fleckenstein, »Adel und Kriegertum
und ihre Wandlung im Karolingerreich«, in: ders., Ordnungen und formende
Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge, Göttingen 1991, S. 287–306,
S. 299.
10 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae I,35. Die Sachsengeschichte des
Widukind von Corvey. Fünfte Auflage. In Verbindung mit H. E. Lohmann neu
bearbeitet v. P. Hirsch, Hannover 1935 (Script. rer. germ. in usum scholarum). Vgl.
Josef Fleckenstein, »Zum Problem der agrarii milites bei Widukind von Corvey«,
in: Ordnungen (Anm. 9), S. 315–332, 329–332.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 249
2. Instrumentalisierung:
Kompensation physischer Mängel
Im theologischen Kontext wird das Verhältnis zum Tier primär unter bibli-
schen Vorgaben abgehandelt bzw. unter textsortenspezifischen Gesichts-
punkten. In exegetischen Schriften, Moraltraktaten und Abhandlungen über
die Seele ist das Pferd vor allem Allegorie, und allenfalls in Bezug auf den
sensus historicus finden sich Hinweise für eine nicht metaphorische, funk-
tionale Einschätzung. Demgegenüber wird im De anima-Traktat des Wilhelm
von St. Thierry das Verhältnis von Mensch und Pferd unter einer zivilisa-
tionsgeschichtlichen Perspektive gelesen, durch die der Mensch seine instru-
mentellen Fertigkeiten potenziert und seine Überlegenheit über die Natur
demonstriert.16 Im Domestizierungsakt zähmt der Mensch das Pferd und
eignet sich dessen physische Eigenschaften an, steigert Geschwindigkeit und
Gewaltpotential und kompensiert mithin sein körperliches Defizit als Män-
gelwesen. Wenn der mittelalterliche Krieger in der Regel mit Reitpferd,
Streitross und Packpferd ein ganzes Ensemble von Pferden um sich ver-
14 Jähns, Ross und Reiter (Anm. 6); Bumke, Höfische Kultur (Anm. 4), I, S. 236–
240.
15 Bourdieu u. a., Dialog (Anm. 3), S. 36.
16 Tarditas namque corporis nostrae et ad movendum difficultas, equumque sibi
servire imperavit et edomuit! Wilhelm von St. Thierry, De natura corporis et
animae libri duo, PL 180, Sp. 716.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 251
3. Ethische Codierung:
Natürliches Komplement feudaler Tugenden
17 Lutz Fenske, »Der Knappe: Erziehung und Funktion«, in: Curialitas. Studien zu
Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hg. v. J. Fleckenstein, Göttingen 1990
(Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), S. 75–160,
S. 105 f.
18 Radulfus Niger, De re militari et triplici via peregrinationis Ierosolimitane
(1187/88). Einleitung und Edition v. L. Schmugge, Berlin/New York 1977 (Bei-
träge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 6) I,13.
19 Egidio Colonna (Aegidius Romanus). De regimine principum libri III, recogniti et
una cum vita auctoris per F. Hieronymum Samaritanium, Aalen 1967 [Neudruck
der Ausgabe Rom 1607], III,3, 5, S. 568.
20 Udo Friedrich, »Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und der
Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert«, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen
alten Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 149–179,
S. 157–160.
252 Udo Friedrich
tion. Die Aufladung des Tiers mit Bedeutung vollzieht sich dabei sichtbar
kontrovers. Während die Klerikerkultur die kulturhistorische Unterwerfung
des Pferdes zugleich als Metapher der Selbsterhebung der ratio über das
Animalische deutet, indem das Pferd zum Negativindex körperlicher Affekte
stilisiert wird, die der Reiter (ratio) zu ›zügeln‹ hat,21 akzentuiert die feudale
Perspektive vor allem die Körperdynamik des Pferdes, so dass dieses zum
zentralen Index seiner kriegerischen Tugenden wird. Insbesondere die heroi-
sche und höfische Epik sind der Ort für solch eine zeichenbezogene Annähe-
rung von Ritter und Pferd.
Wenn dem Pferd etwa aggressive Attribute zugeschrieben werden, proji-
ziert der Adel nurmehr sein kriegerisches Selbstverständnis auf das geborene
Fluchttier: Equus animal erectum est atque exultans, in certando animosum,
victoriae cupidum, non impatiens laboris.22 Theologische Disziplinierung
und feudale Körperdynamik erfahren am Pferd ihre entgegengesetzte Wert-
schätzung. Wenn aus moralischer Perspektive das Pferd die negativen Atti-
tüden der stürmischen Jugend repräsentiert,23 so markiert die positive Lesart
indes präzise das Ethos des Adels. Eine metaphorische Analogisierung in
Konrads von Würzburg Trojanerkrieg macht genau diese Inversion des Dis-
ziplinierungsmodells sichtbar. Der in Frauenkleider gesteckte Achill emp-
findet sich als wildes Fohlen, dem wider siner art Zaumzeug angelegt
wurde.24 Das zielt nicht auf unbändige Jugendlichkeit im besonderen, viel-
mehr auf essentielle Zeichnung adeliger Art, die sich jeglicher Unterwerfung
widersetzt.25 Die höfische Literatur nutzt auch ihre besonderen sprachlichen
21 Equus noster est iumentum nostre carnis, cui insidemus cum sensualitas ob-
temperat rationi. Radulfus Niger, De re militari (Anm. 18), I,13. Vgl. Alanus ab
Insulis, Anticlaudianus IV,2–4, PL 210, Sp. 521–525. Friedrich Ohly, »Die Pferde
im Parzival Wolframs von Eschenbach«, in: L’Uomo (Anm. 11), S. 849–927,
S. 853.
22 Anonymi de physiognomonia liber latinus, in: Scriptores physiognomonici Graeci
et Latini, recensuit R. Forster, 2 Bde., Leipzig 1893, I, S. 1–145, Cap. 118, S. 137.
Vincenz von Beauvais rekurriert gar auf einen biblischen Kontext: De vsu equorum
in praeliis. AVctor. Equus autem (vt ait Salomon) ad diem belli paratur, cuius
videlicet nobilitatem, & audaciam describit Dominus ad Iob, ita loquens. Vincen-
tius Bellovacensis (Vincent de Beauvais), Speculum naturale. Photomechanischer
Nachdruck der Ausgabe Dvaci 1624, Graz 1964, XVIII,54.
23 Sicut superbia equi indomiti praecipitio prona est, ita lascivia adolescentis indis-
ciplinati, peccati ruinae proxima est. Pseudo-Bernhard, De ordine vitae Cap. V, PL
184, Sp. 573.
24 im was als einem wilden voln, / der gêt in sîner vrîheit. / daz dem ein zoum wirt an
geleit / unde ein satel ûfe sich, / daz dunket in sô kumberlich, / daz er beswaeret
drumbe wirt, / wan er der sprünge sîn enbirt / ungerne bi den stunden. / vil kûme
er wirt gebunden, / wan er sîn ê was ungewon. / sus tete Achille diz gedon, / daz er
dâ wider siner art / betwungen von der minne wart, / daz er wîbes bilde truoc.
Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, nach den Vorarbeiten K. From-
manns/F. Roths zum erstenmal hg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858
(BLVS 44), V. 15 074–15087.
25 Vgl. Lancelot, hg. v. R. Kluge, Berlin 1948 (DTM 42), S. 277 f., 292 f., Alexanders
Onkel (Straßburger Alexander, V. 112–124).
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 253
Möglichkeiten, um die Nähe von Ritter und Tier zu evozieren. Wolfram etwa
zeigt mitunter die Möglichkeit dieser Spiegelung syntaktisch geschickt da-
durch an, dass er den Bezug der Eigenschaften symmetrisch lesbar macht:
dô reit der künec Purrel
starc, küene und snel
ein ors, gewâpent ûf den huof.26
26 Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbiblio-
thek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. v. Joa-
chim Heinzle, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9), V. 429, 9–11.
Da er ryten mocht, da gab im die jungfrauw ein schon pfert, schnell und starck,
[…] heißt es von Lancelot. Lancelot (Anm. 25) I, S. 34. Beate Ackermann-Arlt,
Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen ›Prosa-Lancelot‹,
Berlin/New York 1990 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 19), S. 290.
27 Lancelot (Anm. 25), I, S. 35. Ackermann-Arlt, Pferd (Anm. 26), S. 293.
28 Dietmar Peschel-Rentsch, »Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein
eines Ritters«, in: ders., Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre
Wirkungen in mittelalterlicher Literatur, Erlangen/Jena 1998 (Erlanger Studien
117), S. 12–47, S. 12–31. Ector vf ein ros saz / Harte gut man saget daz / Ez hieze
galathea / Ez sante im pentesilea / Ein hubische iuncfrovwe / Mit slegen noch mit
drouwe / Mochte man ez betwingen / Swa ez quam zv springen / Da enkvnde niht
vor bestan / Ez enwolde follen sprunc han / Ez enwart nie dehein noz / Daz phert
were so groz / So hoch noch so wol getan / So daz selbe kastellan. Herbort von
Fritzlâr, Liet von Troje (Anm. 13), V. 4791–4804. Vgl. über Peleus’ Pferd Konrad
von Würzburg, Trojanerkrieg (Anm. 24), V. 3851–3857.
29 Tam velox autem factus est, ut equorum terga facili saltu transvolaret, heißt es von
Gerald von Aurillac. Odo von Cluny, De vita sancti Geraldi, PL 133, Sp. 645. Vgl.
Fenske, Der Knappe (Anm. 17), S. 90.
254 Udo Friedrich
site und ebenso Achill bei Chiron: sîn meister lêrt in allez daz.30 Im
Gegenteil, dort, wo aus einer pädagogischen Perspektive der richtige
Zeitpunkt in der Jugend verpasst wird, vermag Erziehung nichts mehr:
sô man dich danne gesiht / unbehendeclîchen rîten, / sô muostû zallen zîten /
dulden ander ritter spot.31 Zwar wird Reiten sichtbar an Erziehung ge-
bunden, doch dadurch, dass es der frühzeitigen Übung bedarf, wird die
Gewohnheit als natürlicher Faktor (consuetudo altera natura) bereits ins
Spiel gebracht.32
Adelige Art rekurriert aber in Bezug auf das Reiten auf noch tiefer
liegende, natürliche Ressourcen. Bereits Chrétien zeichnet die Verbindung
des jungen Perceval zu seinen ritterlichen Übungen zu Pferd als Effekt
natürlicher Anlage.33 Dort, wo die art des Adeligen gegen alle Versuche der
Verdrängung schließlich durchbricht, manifestiert sie sich außer durch Jagd-
techniken auch durch eine angeborene Beherrschung des Pferdes. In diesem
Sinn imaginiert Gregorius gerade gegen seine vergangene Sozialisation
durch Bücher und gegen das Erziehungspostulat der Kleriker, Ritterschaft
bedürfe vil wol gewizzenheit, seinen Geblütsadel nicht zufällig am Beispiel
des Reitens: mit guoter gehabe ich reit / ânes lîbes arbeit: / ich gap im
senften gelimph / als ez waere mîn schimph.34 Wie für den Kleriker Lesen
und Schreiben ist für den Adeligen Reiten die zentrale kulturelle Basis-
technik.35 Insofern die Verbindung von Ritter und Pferd aber nicht nur
30 Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. v. K. Marold. Dritter Abdruck mit einem
durch Friedrich Rankes Kollationen erweiterten und verbesserten Apparat besorgt
und mit einem Nachwort versehen v. Werner Schröder, Berlin 1969, V. 2103–2111,
2111. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg (Anm. 24), V. 6244.
31 Hartmann von Aue, Gregorius, hg. v. H. Paul, 11. Auflage besorgt v. Ludwig Wolff,
Tübingen 1966 (ATB 2), V. 1538–1541. Fenske, Knappe (Anm. 17), S. 93. In
diesem Sinn wird denn auch Lanzelets Erziehungsdefizit im Feenreich (wan er ûf
ros nie gesaz) sogleich an seiner Reithaltung sichtbar. Ulrich von Zatzikhoven,
Lanzelet. Eine Erzählung, hg. v. Karl A. Hahn. Mit einem Nachwort und einer
Bibliographie v. Frederick Norman, Berlin 1965, [Neudruck der Ausgabe Frankfurt
1845], (Texte des Mittelalters), V. 298; 404–412, 461–499. […] daz er sô kintlîche
reit. Ebd., V. 477. Vgl. Ackermann-Arlt, Pferd (Anm. 26), S. 288–290.
32 Technische und ethische Kultivierung folgen dem gleichen Prinzip: So verwandelt
auch der Asket seine Natur durch Gewöhnung, wie etwa Bernhard von Clairvaux:
consuetudo ei et ipsa quodammodo vertebatur in naturam. Acta Bollandiana de
Sancto Bernardo, PL 185, Sp. 662.
33 […] Car il li venoit de nature, / Et quant nature il aprant / Et li cuers del toi i
antant, / Ne li puet estre riens grevainne / La ou nature et cuers se painne.
Chrétien de Troyes, Der Percevalroman (Le Conte du Graal), übersetzt und
eingeleitet v. Monica Schöler-Beinhauer, München 1991 (Klassische Texte des
Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 23), V. 1480–1484.
34 Hartmann von Aue, Gregorius (Anm. 31), V. 1564, 1609–1612; vgl. 1582–1624.
Peschel-Rentsch, Pferdemänner (Anm. 28), S. 12–47, S. 20 f.
35 Curschmann hat auf eine Illustration im Vogeltraktat (De avibus) des Hugo de
Folieto in der Handschrift Heiligenkreuz aufmerksam gemacht, in der nicht nur
Taube und Falke gegenübergestellt werden, sondern darunter der lesende Kleriker
und der reitende Ritter mitsamt dem ihm zugehörigen Ensemble adeliger Tiere.
Michael Curschmann, »Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis
von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 255
Block aus Eisen, gegen den alle Schläge wirkungslos sind […]«.40 Kultur-
anthropologisch gesprochen ist das Pferd weniger ein bloßes Instrument oder
eine Metapher, vielmehr verweist es als ein konstitutiver Faktor feudaler
Lebenswelt auf die körperliche Repräsentanz des Adels. Wie die Waffe mit
ihren Einschreibungen an Namen und Zeichen wird das Pferd vielfältig
codiert und offenbar in das Körperschema des Ritters integriert, gewisserma-
ßen eine Verlängerung adeliger Signifikanz in die Außenwelt, sichtbar ver-
schobene Grenze seines naturverhafteten Selbstverständnisses:
dô stuont daz ors, dô stuont der man
sô rehte wol ein ander an,
als ob si waeren under in zwein
mit ein ander und inein
alsô gewahsen unde geborn.41
Dass das Pferd konstituierendes Element des Rittertums ist, lässt sich be-
sonders an Situationen des Mangels erkennen: an der Schmach, wenn der
Ritter vom Pferd gestochen wird oder er nach dem Verlust desselben zu Fuß
gehen muss.42 Immer wieder kommen die Epen auf dieses Szenario ritter-
licher Hilflosigkeit zurück. Verschiedene historische Indizien belegen, dass
Schmähungen des Feindes etwa durch die Praxis des schandhaften Reitens
oder durch Verstümmelung des Pferdes kenntlich gemacht wurden.43 Die
literarischen Inszenierungen solcher Demütigungen, wie die ausführliche
Beschreibung des Schandmäres, auf das Gawein im Parzival und gesteigert
noch in der Crône angewiesen bleibt, basieren auf dieser engen Prestigever-
40 Abu Shama, Le livre des deux jardins, S. 271 zur Schlacht von Hattin 1187. Zitiert
nach Rudolf Hiestand, »Der Kreuzfahrer und sein islamisches Gegenüber«, in: Das
Ritterbild in Mittelalter und Renaissance, hg. v. Forschungsinstitut für Mittelalter
und Renaissance, Düsseldorf 1985 (Studia humaniora 1), S. 51–68, S. 55 f.
41 Gottfried von Straßburg, Tristan (Anm. 30), V. 6711–6715. Baum, Das Pferd als
Symbol (Anm. 37), S. 57.
42 Jähns, Ross und Reiter (Anm. 6), II, S. 51. Schneider, Animal laborans (Anm. 11),
S. 526. Nach Helmold von Bosau enthält die Demütigung Heinrichs IV. durch den
Papst die Auflage, sich ein Jahr lang nicht aus Rom zu entfernen und kein Pferd zu
besteigen: equum non ascenderet. Helmoldi presbyteri Bozoviensis Cronica Sla-
vorum. Editio tertia. Post Johannem M. Lappenberg iterum recognovit Bernhardus
Schmeidler. Accedunt versus de vita Vicelini et Sidonis epistola, in: MGH Scripto-
res rerum Germanicarum in usum scholarium 32, Hannover 1973, Cap. 28. Die
von den Arabern bestaunte eiserne Einheit von Ritter und Pferd schlägt denn auch
im Augenblick der Trennung in Hilflosigkeit um: […] wenn sein Pferd tot ist, wird
er eine leichte Beute. Hiestand, Kreuzfahrer (Anm. 40), S. 55 f.
43 Aber darnach wem man schande oder laster thun wolt, den satzt man uff ein pfert
dem der zagel und die oren abe gesneden waren, und der pferde hatt man in
iglicher stat, an allen Porten eins, das daruff wartet, heißt es im Lancelot (Anm.
25), Bd. 2, S. 13. So können die alemannischen Fürsten Berchtolt und Erchanger
den von ihnen gefangen gesetzten Bischof Salomon von Konstanz allein durch ein
schlechtes Pferd demütigen. Sternitur viro Dei vilior interea equus. Ekkeharti (IV.)
Casus sancti Galli, hg. v. G. Meyer von Knonau, St. Gallen 1877 (St. Gallische
Geschichtsquellen, Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte N. F. XV, XVI,
H. 5/6 ), Cap. 18. Klaus Schreiner, »Gregor VIII., nackt auf einem Esel. Enteh-
rende Entblößung und schandhaftes Reiten im Spiegel einer Miniatur der Säch-
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 257
sischen Weltchronik«, in: Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche,
Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für Franz-Josef Schmale zu seinem 65.
Geburtstag, hg. v. D. Berg/H.-W. Goetz, Bochum 1989, S. 155–202, S. 155–202.
Das Verbot, Pferde zur Schmähung des Gegners zu verstümmeln (z. B. durch
Nasenschnitt), findet sich in den Volksrechten; Schneider, Animal laborans (Anm.
11), S. 528 f.
44 Wolfram von Eschenbach, Parzival (Anm. 38), V. 529,17ff. Heinrîch von dem
Türlîn, Diu Crône. Zum ersten Male hg. v. Gottlob Heinrich Friedrich Scholl,
Stuttgart 1852 (BLVS 27), V. 19 787–19948.
45 Hartmann von Aue, Erec (Anm. 38), V. 7264–7766. Franz Josef Worstbrock,
»Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue«, FMSt 19, 1985,
S. 1–30, S. 22 f. Heinrîch von dem Türlîn, Diu Crône (Anm. 43), V.
19 787–19948.
46 Ein Korrespondenzverhältnis von Reiter und Reittier gestaltet wiederholt auch
Wolfram: sowohl im Verhältnis Gaweins zu Gringuljete wie auch in den Zerr-
formen von Kundrie und ihrem Maultier (vgl. Malcrêatiure). Während Gawein und
Gringuljete »wie eine Einheit, eine sich wechselseitig stützende Vollkommenheit«
leben, sind letztere nach Auskunft des Textes sichtbare Folgen einer Animalisie-
rung des Menschen als Folge des Sündenfalls. Ohly, Pferde im Parzival (Anm. 21),
S. 882–885, 886.
47 Ir ros waren wol bedacht / Vf couverture / Riche vnd ture / Phellil vnd cindat / Arne
Lewen dar in genat / Vnd ander zeichen da mite /Als ez noch ist site. Herbort von
Fritzlâr, liet von Troye (Anm. 13), V. 4438–4444. Die Beschreibung von Enites
Pferd, von Körper, Zaumzeug und Sattel, wird zum Dokument einer kleinen
ritterlichen Kulturgeschichte, das Pferd selbst zum ›vollkommenen Kunstwerk‹,
seine Darstellung zum Spiel mit Fiktionalisierungsstrategien. Worstbrock, Dilata-
tio materiae (Anm. 45), S. 20–27, 25–27. Vgl. Konrad von Würzburg, Trojaner-
krieg (Anm. 24), V. 25 950–25955. Wolfram von Eschenbach, Willehalm (Anm. 26),
V. 33,16 f.
48 In seiner Minnekrise gelähmt, ist es das Pferd Partonopiers, das sich erfolgreich
gegen einen Löwen zur Wehr setzt und die Rettung des Protagonisten betreibt.
Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. v. Karl Bartsch, Wien 1871, V.
10 516–10555. Susanne Rikl, Erzählen im Kontext von Affekt und Ratio. Studien zu
Konrads von Würzburg ›Partonopier und Meliûr‹, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 1996
(Mikrokosmos 46), S. 153 f. Willehalms Pferd Puzzat wird zum Stellvertreter von
Willehalms Leiden auf dem Weg zum Königshof. Wolfram von Eschenbach,
Willehalm (Anm. 26), V. 88,22 f. Vgl. zum Parzival Ohly, Pferde im Parzival (Anm.
21), S. 916.
258 Udo Friedrich
5. Pferdemänner
49 Sî hiez im ziehen dar zehant / daz beste ros übr alliu lant, / daz im diu wâfen
trüege. / er sprach ›daz ros sol hie bestân, / ich mac ze fuoze vil wol gân. / jô bin
ich ze ungefüege: / ez treit mich doch die lenge niht / mit aller sîner krefte. / nu
wizzent, vrowe, swaz mir beschiht, / daz ich mich niht behefte / mit rosse: ich gân
vierzehen naht, / daz mir hunger noch müede / benimt wol mîne maht.‹ / Sie sprach
›Ecke, lâ dich erbiten. / durch mînen willen wis geriten: / jô schiltet man mich sêre.
/ swar sô du nu der lande verst, / mîn lop du gânde mir verzerst. / wan sprichet mir
kein êre, / wan ›daz er gar verwazen sî, / der dir gap die brünne / und dir niht
rosses gap dâ bî. / phî im und sînem künne.‹ Ecken Liet, in: Deutsches Heldenbuch.
Fünfter Teil. Dietrichs Abenteuer, von Albrecht von Kemenaten nebst den Bruch-
stücken von Dietrich und Wenezlan, hg. v. Julius Zupitza, Dublin/Zürich 1968
(Deutsches Heldenbuch 5), S. 217–264 [Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage
1870], Str. 34,1–35,10.
50 ›erkennet mînes herren site: / er viht mit den die sint geriten, / ir varent êrst von
sprungen‹. Ebd., Str. 44,9–46,6.
51 Ebd., Str. 52,1–55,3.
52 Zur Szene allgemein bereits Jähns, Ross und Reiter (Anm. 6), II, S. 279. Zur
Deutung: Peschl-Rentsch, Pferdemänner (Anm. 28), S. 24.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 259
53 Roger Bartra, Wild Men in the Looking Glass. The Mythic Origins of European
Otherness, translated by Carl T. Berrisford, Ann Arbor 1994, S. 11–18.
54 Herbort von Fritzlâr, liet von Troye (Anm. 13), V. 7685–7758. Herbort verzichtet
dagegen darauf, Chiron, den Erzieher Achills als Kentauren zu kennzeichnen.
Vincenz zieht den Vergleich mit perfekten Reitern: Quos quidam fuisse equites
Thessalorum dicunt, sed pro eo quòd discurrentes in bello velut vnum corpus
equorum & hominum viderentur, inde centauros fictos assuerunt. Vincenz von
Beauvais, Speculum naturale (Anm. 22), XXXI,121, Sp. 2389. Vgl. zum Ken-
tauren: Jacques Le Goff, »Lévi-Strauss in Brocéliande. Skizze zur Analyse eines
höfischen Romans«, in: ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart
1990, S. 171–200 [zuerst Critique 1974], S. 176–179, 178 f.
55 Wirnt von Grafenberg, Wigalois (Anm. 38), V. 6931–6962.
56 Ioannis Saresberiensis episcopi Carnotensis, Policratici sive de nugis curialium et
vestigiis philosophorum libri VIII, recognovit […] Clemens C. I. Webb, tomus 1/2,
Frankfurt a. M. 1965 [ Nachdruck der Ausgabe London/Oxford 1909], I,4.
260 Udo Friedrich
offenbart sich an dieser Kunstfigur letztlich doch der Traum einer symbio-
tischen Beziehung des Adels mit seinem wichtigsten Standesattribut.
Der soziale Abstand des Adels von der untergebenen Bevölkerung wird
durch das Pferd auch räumlich sichtbar, der Standesunterschied manifestiert
sich in der Erhöhung des Reiters: ir sult riten, ich sol gan, mit diesen Worten
insistiert der Kaufmann trotz adeliger Abkunft gegenüber dem Herrscher
Willehalm auf der Wahrung der etablierten Rangunterschiede.57 Ließ sich
das Pferd für das feudale Körperkonzept als überlegenes Kraft- und Affekt-
potential in Anspruch nehmen, so nähert sich die Zeichenfunktion auf der
politischen Ebene wieder dem Disziplinmodell der Kleriker an, verschoben
indes vom inneren zum äußeren Tier: Der Reiter als reale Chiffre der
Herrschaft über das Animalische. Diesen Horizont feudaler Herrschaftsauf-
fassung entfalten vor allem historiographische Texte in einer Reihe von
historischen Fallbeispielen. Sie legen nicht nur Zeugnis ab vom Bildreservoir
mittelalterlicher Herrschaftsauffassung, sondern geben zugleich Einblick in
konkrete Praktiken und ihre institutionellen Rahmungen.
Die politische Metaphorik zehrt von einer Semantik der Zähmung. Wenn
es von Herzog Heinrich dem Löwen heißt, dass dieser ›mit dem Zügel seiner
Herrschaft die Slawen gelenkt habe‹,58 so realisiert die Metapher für den
Umgang mit dem Feind nur ein allgemeines Herrschaftsprinzip. Der Einritt
Barbarossas in die eroberte Stadt Pavia wird repräsentativ von berittenen
Kriegern begleitet, die noch einmal die Domestizierung widerständiger Un-
tertanen politisch inszenieren, indem sie ihre fauchenden Pferde zügeln und
in eine sanfte Gangart zwingen.59 Die literarische Inszenierung des politi-
57 Wolfram von Eschenbach, Willehalm (Anm. 26), V. 131,23. sy gen selten zu fusz
über feldt, ist ouch yrm stand schendlich, so lässt sich noch im Spätmittelalter die
herausgehobene soziale Stellung des Reitens belegen. Wolfgang Brückner, »Roß
und Reiter im Leichenzeremoniell. Deutungsversuche eines historischen Rechts-
brauchs«, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 15/16, 1965, S. 144–209,
S. 181. Ohly, Pferde im Parzival (Anm. 21), S. 888. Zur Spaltung des Heeres in
Ritter und fuozgenger und zur sozialen Disqualifizierung der letzteren in Ulrich
von Etzenbach, Alexanderroman, hg. v. Wendelin Toischer, Tübingen 1888 (BLVS
183) V. 2447, 2455, 2459, 2465, 3680.
58 […] freno dominii sui maxillas eorum constrinxerat. Arnoldi, Chronica Slavorum,
in: MGH Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separati editi.
Unveränderter Druck der Ausgabe von 1868, Hannover 1978, III, 5, S. 148; vgl.
III,1. Wie die Herrschaft über die Slaven auszusehen hat, beschreibt Helmold am
Beispiel des Dänenherzogs Waldemar, der die Kraft der Slaven (robur Slavorum)
bricht: et misit frenum in maxillas eorum et quo voluerit declinat eos. Helmold von
Bosau, Cronica Slavorum (Anm. 42), Cap. 109, S. 217.
59 Signa crucis textusque sacros turisve vaporem / Prodierint, ut purpureo velamine
passim / Belligeros instratus equos fulgencia late / Signa ferens faleratus eques
fremebunda lupatis / Ora terat cogatque leves subsistere cursus. Guntheri Poetae
Ligurinus, hg. v. Erwin Assmann, Hannover 1987, (MGH SS 63), III, V. 195–199.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 261
von seiner Fähigkeit abhing, in Waffen ein Pferd zu besteigen.64 Nicht eine
geistige Kompetenz entscheidet, wie in der Moderne, sondern eine körper-
liche Fertigkeit.
Auch die Konstruktion von Geschichte (Sagen) folgt offenbar diesem
Inszenierungstyp. Wie sehr sich gerade auf höchster Ebene Herrschaft an den
Akt des Reitens bindet, belegt die Sage von Heinrich dem Vogler. Nach der
Überlieferung Arnolds von Lübeck überraschen anlässlich der Königserhe-
bung Heinrichs I. die Boten den Prätendenten beim Vogelstellen in der
Scheune. Seine Frau bewirtet die Gäste und lässt nach ihrem Mann schicken:
illa clam misit equos marito, ut equitando domum intraret, quasi de via
venisset.65 Bereits vor der anstehenden Erhebung bedarf es der adäquaten
Statusdemonstration. Geradezu als Wechsel einer Kulturstufe beschreibt Cos-
mas von Prag den politischen Gründungsakt des böhmischen Volkes, das
wild und gewissermaßen im Einklang mit der Natur lebt bis zu dem Zeit-
punkt, als ihnen mit Hilfe von Auguren ihr Herrscher zugewiesen wird, der
als Ackerbauer auf dem Land lebt. Der überraschte Primyl wird noch an Ort
und Stelle mit verschiedenen Herrschaftsinsignien ausgestattet und besteigt
gewissermaßen als Inthronisationsakt ein Pferd: Post hec indutus veste prin-
cipali et calciatus calciamento regali acrem ascendit equum arator.66 Deutli-
cher noch als im ersten Fall wird erkennbar, dass mit der Erhebung ein
Statuswechsel sich vollzieht, durch den die Nähe zum bäuerlichen Milieu
sichtbar abgewiesen wird.
Die aufgeführten Fälle aus dem Feld mittelalterlicher Historiographie
bezeugen deutlich den Statusindex des Pferdes. Im literarischen Kontext wird
diese Form zum frei verfügbaren Darstellungsmittel. Gerade weil es ein
zentraler Index von Herrschaft ist, ist das Pferd auch Erkennungszeichen für
vorbildliche Herrscher. Die Fähigkeit, ein Pferd in seine Gewalt zu be-
kommen, wird zum Ausweis von Herrschaftstauglichkeit, wenn, im Herzog
Ernst der König der Cyklopen seinen Standesgenossen mit Hilfe einer
Pferdeprobe erkennt.67 In Konrad Flecks Flore und Blanscheflur ist die
greif. / er spranc dar ûf ân stegereif / und reit ez ritterlîche. Herzog Ernst, hg. v.
Karl Bartsch, Hildesheim 1969 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Wien
1869], V. 4601–4611. Zu Belegen aus der Heldenepik vgl. Jähns, Ross und Reiter
(Anm. 6), II, S. 24. Zum Heldenross vgl. Baum, Das Pferd als Symbol (Anm. 38),
S. 57–65.
68 Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur, hg. v. Emil Sommer, Quedlinburg/Leipzig
1846 (Bibliothek der gesammten Deutschen National-Literatur von der ältesten bis
auf die neuere Zeit Abt. 1, 12), V. 2776 f.; 2774 f.
69 Thidrek legt seine Rüstung ab, um Hertnits Pferd zu fangen: Da faßt der
e
Konig das Roß mit der Hand so fest, daß es fiel. Die Geschichte Thidreks von
Bern, übertragen v. Fine Erichsen, Weimar 1942, S. 439. Auch Reinolt überwindet
ein wildes Pferd: Und warff ine [Beyart] wider uff die erde, / Das er die füß uff
kerte […]. Reinolt von Montelban oder die Heimonskinder, hg. v. Fridrich Pfaff,
Tübingen 1885 (BLVS 174), V. 855 f.
70 Auch zwischen Reinald und seinem Pferd Bayart ist der Blick das entscheidende
Band: Da sprach Karle, der degen fyn: / »Reynolt, ir ensolt nit umbsehen; / solang
als uch der frene sicht, / so erdrynket er nicht.« Reinolt von Montelban (Anm. 69),
V. 13206–09. Vgl. V. 13 236–13241.
71 Alexander ergreift das Pferd bei den Ohren und stößt ihm seine Hand ins Maul.
Ulrich von Etzenbach, Alexander (Anm. 57), V. 1680–1683; 1693–1703.
72 Das kann bis zur sexuellen Vereinigung gehen. Gerald von Wales beschreibt einen
irischen Krönungsritus mit vermutlich indogermanischen Wurzeln (Hierogamie),
nach dem ein König in Anwesenheit seines Stammes ein weißes Pferd sodomisiert,
sich selbst als Tier deklariert und anschließend gemeinsam mit seinem Stamm das
Tier verzehrt. Gerald von Wales, Topographia Hibernie. Text of the First Version,
ed. by John J. O’Meara, Proceedings of the Royal Irish Academy 52. Sec, Dublin
1948/50, III, S. 168; Vgl. Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Gesamtdar-
stellung ihrer Kultur, Wien 1997, S. 537–542.
264 Udo Friedrich
zumindest die Allegorese des Pferdes nicht ohne reale Fundierung im Herr-
schaftsverständnis jener Zeit:
Das roß da der ritter off siczt das muß yn tragen wo er hien wille. Das bezeichent
das volck. Als glich als er das roß fúret war er will, also glich múßen sie yn tragen
und muß er sie leyten war er wil zu allen nöten, umb das er sie beschirmen muß,
und sie múßen im gewinnen alles das er bedarff.73
Hier hat die christliche Codierung die politische Semantik usurpiert. Statt als
Index wilder Energien fungiert das Pferd als Repräsentant der Schwachen,
die eine christlich-feudale Fürsorge zu schützen und zu lenken hat, aber auch
als Ressource zu nutzen versteht: die feudale Adaptation der Mängelwesen-
these.
So wie der Ritter sich wortgeschichtlich vom Pferd ableitet, wird die Instru-
mentalisierung des Pferdes standesspezifisch lesbar: Omnis nobilitas ab
equo.74 Die privilegierte Verbindung von Adel und Pferd lässt sich dadurch
als feudaler Ursprungsmythos konstruieren, als ein historisch festmachbarer
Gründungsakt des Rittertums. Jenseits der klassischen translatio imperii-
Theorie, nach der auch der Transfer des Rittertums gedacht wird, entsteht ein
Ursprungsmodell, das weit früher ansetzt.75 Der Prosa-Lancelot erzählt nicht
nur die Geschichte vom Untergang des Artusrittertums, er bietet zu Beginn
auch seinen Ursprungsmythos. Die Erzählung der Fee ist eine Hybridbildung
christlicher und feudaler Standpunkte. In deutlicher Anspielung auf die Bibel
o
– Wir hetten allesampt einen vatter und ein mutter von allererst – entwirft sie
eine Art säkularen Sündenfall, nach dem das Rittertum als Ordnungsinstanz
zu der Zeit notwendig wurde, als die ursprünglich gleichen Menschen
begannen, durch Gewalt einander zu unterdrücken. Dem christlichen Autor
wird nicht Gewalt zum genuinen Kennzeichen des Rittertums, wie manchem
Kleriker, sondern eine ethische Haltung. Damit projiziert der Text das Ethos
des miles christianus, wie es im 12. Jahrhundert aufkommt,76 in einen
urzeitlichen Ursprung zurück.
Christliche und feudale Argumentation werden sichtbar aufeinander abge-
stimmt. Indem sich einerseits nur Edelleute als Ritter eignen, andererseits ein
plebiszitäres Wahlverfahren über die Eignung bestimmt, werden feudale und
christlich-kommunitäre Anforderungen harmonisiert. Entscheidend sind ent-
Nicht das Pferd wird zur Ursache des Ritters, wie es der Ursprungsmythos
des Prosa-Lancelots entwirft und wie es auch den historischen Voraus-
setzungen entspricht, sondern umgekehrt die Existenz des Adeligen wird
zum Daseinsgrund des Pferdes. Ritter und Pferd lassen sich wechselseitig
81 Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob aus der Handschrift des
Königlichen Staatsarchivs zu Königsberg, hg. v. Torsten E. Karsten, Berlin 1910
(DTM 21), V. 14 547–14588.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 267
nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft bzw. von Literatur und
Geschichte.3 Gehörte die Bestimmung von literarischem Text und histo-
rischem Kontext seit den Anfängen der Mediävistik zu ihrem Métier, so
wurde die Erschließung der Literatur aus ihren gesellschaftlichen Hinter-
gründen zum besonderen Anliegen der sozialgeschichtlichen Forschungen
der 70er und 80er Jahre. An seine Grenzen stieß das Projekt der Sozialge-
schichte dort, wo man literarische Texte als Spiegel der historischen Wirk-
lichkeit verstand, als Dokumente historisch-gesellschaftlicher Faktizität.4
Mentalitätsgeschichtliche Forschungen5 und insbesondere die neueren Bei-
träge zur historischen Anthropologie6 versuchen daher von einer direkten
Referenzialisierung der Literatur auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ab-
zusehen. Sie verstehen Texte vielmehr als Repräsentationen, die bereits
Erfahrungen, Wahrnehmungen, Deutungen, ›Verarbeitungen‹ von Wirklich-
keit voraussetzen7 und die insofern – wie Georges Duby es einmal formuliert
hat – als Bilder der sozialen und historischen Gegebenheiten zu nehmen
sind.8 Da der Akzent dieser Richtungen auf der Erhebung anthropologischen
Materials vergangener Epochen liegt, droht allerdings die ästhetische Dimen-
sion der Literatur, ihre spezifische materielle und mediale Form auch hier aus
3 Ursula Peters sieht darin eine der Hauptlinien der gegenwärtigen Diskussion: Vgl.
Ursula Peters, »Zwischen New Historicism und Gender-Forschung. Neue Wege der
älteren Germanistik«, DVjs 71, 1997, S. 363–396, hier S. 365, S. 370–379.
4 Vgl. etwa die Kritik von Jan-Dirk Müller, »Aporien und Perspektiven einer Sozial-
geschichte mittelalterlicher Literatur. Zu einigen neueren Forschungsansätzen«, in:
Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung – zwei Königs-
kinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, Kontroversen alte
und neue, hg. v. W. Vosskamp/E. Lämmert, Tübingen 1986, (Akten des VII.
Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 11), S. 56–66; vgl.
Peters, Zwischen New Historicism (Anm. 3), S. 370–373.
5 Vgl. zur Position der Literatur innerhalb der Mentalitätsgeschichte etwa Ursula
Peters, »Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problema-
tik einer neueren Forschungsrichtung«, in: Germanistik – Forschungsstand und
Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, hg. v. G. Stötzel, Bd.
II, Berlin/New York 1985, S. 179–198.
6 Vgl. dazu besonders folgende Forschungsberichte: Ursula Peters, »Historische An-
thropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären
Forschungsdiskussion«, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. v.
J. Janota/P. Sappler/F. Schanze u. a., 2 Bde., Tübingen 1992, Bd. 1, S. 63–86;
Christian Kiening, »Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Kon-
zepte, Ansätze, Perspektiven«, in: Forschungsberichte zur Germanistischen Medi-
ävistik, hg. v. H.-J. Schiewer, Bern/Berlin/Frankfurt a. M. u. a. 1996 (Jahrbuch für
internationale Germanistik C, 5/1), S. 11–129.
7 Im Zusammenhang mentalitätsgeschichtlicher Forschungen wurde hier von einer
»dritten Ebene« gesprochen. Vgl. die Diskussion bei Hagen Schulze, »Mentalitäts-
geschichte – Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichts-
wissenschaft«, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36, 1985, S. 247–270,
hier S. 250–263; Sabine Jöckel, »Die ›histoire des mentalités‹: Baustein einer
historisch-soziologischen Literaturwissenschaft«, Romanistische Zeitschrift für Li-
teraturgeschichte 11, 1987, S. 146–173.
8 Georges Duby, »Histoire sociale et idéologie des sociétés«, in: Faire de l’histoire,
Bd. 1, hg. v. J. Le Goff/P. Nora, Paris 1974, S. 147–168, hier S. 148.
270 Beate Kellner
9 Peters, Zwischen New Historicism (Anm. 3), S. 375, äußert Verwunderung darüber,
dass etwa der New Historicism im Bereich der Mediävistik noch kaum rezipiert
worden ist.
10 Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übersetzt v. U. Köppen, Frankfurt
a. M. 19946, S. 113–190.
11 Vgl. ebd., S. 31–112.
Melusinengeschichten im Mittelalter 271
sich nicht mehr einsinnig als Bezug zwischen dem literarischen Text und
seinem historischen Hintergrund verstehen. Versuchten die alte Kulturge-
schichte und die Sozialgeschichte die literarischen Texte kausal aus ihren
soziokulturellen Rahmenbedingungen abzuleiten, also zu erklären, indem sie
den Hintergrund zum nicht mehr weiter befragbaren Fixum deklarierten, so
erweist sich jener in der Perspektive der Diskursanalyse und des New
Historicism selbst als ein Geflecht aus Texten, Bildern und Denkmälern, aus
diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken: Der Hintergrund des Textes
wird zum Kon-Text. Die methodische Folgerung daraus ist zunächst eine
Deprivilegierung der literarischen Texte, sie werden gleichrangig mit histori-
schen und anderen Texten verhandelt.12 Dabei geht es insbesondere um
Übersetzungsvorgänge, Umcodierungsprozesse zwischen den verschiedenen
Diskursen, im Blick auf die Literatur also etwa um Transaktionen zwischen
Literatur und Historiographie, Literatur und Recht, Literatur und Theologie /
Philosophie, Literatur und Medizin / Naturkunde.
Der skizzierte Verzicht auf eine Hierarchisierung der Textfelder, welche
der Literatur von vorne herein einen Sonderstatus zuschriebe, kann nun –
ähnlich wie in der Mentalitätsgeschichte – dazu führen, dass die Literarizität
der literarischen Texte, ihre spezifischen ästhetischen Überschüsse, die ihr
eigene Form der symbolischen Verdichtung, vernachlässigt wird. Dies
scheint mir insbesondere bei jenen Analysen der Fall zu sein, welche Texte
nicht mehr als syntagmatische Einheiten untersuchen, deren Geflecht vom
Anfang bis zum Ende zu entziffern und zu interpretieren ist, sondern sie in
Partikel auflösen, die stets sogleich in diskursiven Aussageformationen, in
Konstellationen von Macht und Wissen zu perspektivieren sind. Ein solcher
streng wissensgeschichtlicher Zugang droht die rhetorisch-stilistische Mach-
art der Texte, ihre Formprinzipien und ihre strukturellen Anlagen zu über-
springen. Dies führt zu einer die Spezifika von Gattungen und Textsorten
nivellierenden Betrachtung, welche letztendlich keinen Unterschied mehr
macht zwischen der Analyse von wissenschaftlichen, historiographischen,
literarischen und anderen Texten. Oder anders formuliert: Hier geht es
weniger um die je besonderen Sprechweisen der verschiedenen Diskurse,
sondern eher um eine Erhebung von Wissen in Form von Materialien, Daten,
Fakten.13
Versucht man demgegenüber, den spezifischen ästhetischen Qualitäten der
Literatur Rechnung zu tragen, bietet es sich an – und dies wäre mein
12 In seinen frühen Arbeiten weist Foucault der Literatur noch eine Sonderrolle zu,
indem er sie als ›Gegendiskurs‹ bestimmt, welcher die in den anderen Diskursen
festgeschriebenen Ordnungen des Wissens konterkariert. Vgl. Michel Foucault,
Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, darin besonders S. 130–156. In
seinen späteren Schriften ist von einem solchen Status dagegen nicht mehr die
Rede. Zum Literaturbegriff Foucaults in den verschiedenen Schaffensphasen vgl.
etwa Detlev Kremer, »Die Grenzen der Diskurstheorie Michel Foucaults in der
Literaturwissenschaft«, in: Vergessen. Entdecken. Erhellen. Literaturwissenschaft-
liche Aufsätze, hg. v. J. Drews, Bielefeld 1993 (Bielefelder Schriften zur Linguistik
und Literaturwissenschaft 2), S. 98–111, hier S. 98–106.
13 Vgl. Foucault, Archäologie (Anm. 10), prägnant S. 182, S. 261.
272 Beate Kellner
II
14 Foucaults Frontstellung gegen die Hermeneutik, die er selbst bei der konkreten
Analyse von Texten und Bildern immer wieder zu suspendieren scheint (ich
erinnere z. B. an die berühmte Interpretation der ›Hoffräulein‹ oder die Ein-
lassungen zu Don Quichotte in der Ordnung der Dinge; vgl. Michel Foucault, Die
Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übersetzt v. U.
Köppen, Frankfurt a.M. 1971, S. 31ff.; S. 78ff.) und die man heute wohl wissen-
schaftsgeschichtlich als Frontstellung gegen eine bestimmte einsinnige Form der
Hermeneutik einordnen müsste, möchte ich daher gerade nicht übernehmen. In
solchem Sinne nähert sich auch der New Historicism der Hermeneutik wieder an.
Melusinengeschichten im Mittelalter 273
15 Vgl. dazu, um ein Beispiel aus dem in Frage stehenden Kontext zu bringen, etwa
die Verweise auf Merlin, Schwanritter und Melusine in der Naturkunde des
Vincenz von Beauvais. Näheres dazu unter Abschnitt IV.
274 Beate Kellner
III
Der Mythos von der Meerfee Melusine16, die sich mit einem sterblichen
Mann verbinden kann, aber – magischem Zwang gehorchend – schließlich in
ihr Reich zurückkehren muss, erfährt im Mittelalter eine Reihe von la-
teinischen und volkssprachlichen Konkretionen: Diese weisen zwar ähnliche
Motivbestände und strukturelle Gemeinsamkeiten auf, sind jedoch – bedingt
durch wechselnde soziale und institutionelle Kontexte und damit verbunden
verschiedene Gebrauchsfunktionen – durchaus unterschiedlich mit den Ord-
nungen des mittelalterlichen Wissens verknüpft. So können die Melusinenge-
schichten – um die beiden wichtigsten diskursiven Vernetzungen vorab zu
benennen – einerseits unter theologisch-naturkundlicher Perspektive erörtert
werden, während sie andererseits durch die Akzentuierung ihrer genea-
logischen Aspekte als Formen adliger Geschlechtermythologie und Elemente
adliger Haushistoriographie hervortreten. Beide Problemstellungen überla-
gern sich nicht selten und sind in den jeweiligen Texten je anders akzentuiert
und konfiguriert. Theologische und naturkundliche Fragen dominieren und
kontextualisieren die lateinischen Erzählungen von Walter Map, Gervasius
von Tilbury, Gaufredus von Auxerre und Vincenz von Beauvais. Für die
spätmittelalterlichen Melusinenromane von Jean d’Arras, Couldrette und
Thüring von Ringoltingen sind dagegen – wiederum in unterschiedlichen
sozialgeschichtlichen Formationen – Fragen der Genealogie und Dynastie
leitend.
Die folgenden Ausführungen wollen diesen verschiedenen diskursiven
Verknüpfungen in detaillierten Analysen nachgehen und das Augenmerk
dabei besonders auf Umcodierungsprozesse zwischen dem gelehrten la-
teinischen Diskurs und jenem der volkssprachlich späthöfischen Literatur
richten. Zu fragen ist, wie sich die genealogische Thematik in den spätmittel-
17 Mertens, Melusinen (Anm. 16), S. 202, differenziert den ›Melusinentyp‹, bei dem
es um die Einhaltung eines Tabus als Aufgabe für den menschlichen Partner geht,
vom ›Undinentyp‹, der die Wahrung einer Treuebindung thematisiert.
18 Grundlegend dazu: Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfen-
berg, in der Bearbeitung Ulrich Füetrers hg. v. Friedrich Panzer, Tübingen 1902
(BLV 227), darin das Vorwort S. VII-CXXXIII, hier S. LXXIII-CIX; vgl. Stith
Thompson, Motif-Index of Folk-Literature, 6 Bde., Kopenhagen 1955–1958, B 29,
C 30 f., C 932, F 302, G 245; Lutz Röhrich, Erzählungen des späten Mittelalters
und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart, Bd. 1, Bern/
München 1962, S. 27–61, S. 243–253; ders., »Mahrtenehe: Die gestörte Mahrten-
ehe«, EM 9, 1997, Sp. 44–53.
19 Vgl. Mertens, Melusinen (Anm. 16), S. 202.
20 Vgl. Jacques Le Goff und Emmanuel Le Roy Ladurie, »Mélusine maternelle et
défricheuse«, Annales ESC 26, 1971, S. 587–622; Le Goffs Mittelalterteil findet
sich deutsch in: Jacques Le Goff, Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und
Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts, Weingarten 1987, S. 147–174; Claude
Lecouteux, »La structure des légendes mélusiniennes«, Annales ESC 33, 1978,
S. 294–306; ders., »Zur Entstehung der Melusinensage«, ZfdPh 98, 1979, S. 73–
84; ders., »Das Motiv der gestörten Mahrtenehe als Widerspiegelung der mensch-
lichen Psyche«, in: Vom Menschenbild im Märchen, hg. v. J. Janning, Kassel 1980
(Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft 1), S. 59–71; ders.,
Mélusine et le Chevalier au Cygne, Paris 1982; Françoise Clier-Colombani, La Fée
Mélusine au Moyen Age. Images, Mythes et Symboles, Préface de Jacques Le Goff,
Paris 1991, bes. S. 85–150.
276 Beate Kellner
kern‹, der gewissermaßen hinter den aktuellen Versionen liege und der als der
›eigentliche‹ Baustein einer ›kollektiven Mentalität‹ zu erheben sei. Rekon-
struktionen dieser Art gehen zweifellos zu Lasten der literarischen Eigenart
der Texte, ihrer ästhetischen und medialen Dimensionen sowie ihrer jewei-
ligen historisch-sozialen Funktionen und Gebrauchsformen. In den folgenden
Analysen ist der Fokus daher auf die historische Besonderheit der jeweiligen
Texte zu legen,21 ihre Redestrategien, narrativen Kontexte, intertextuellen
Bezugsfelder, situativen Bindungen und kommunikativen Funktionen. Das
strukturale Gerüst, auf das man die Erzählungen reduziert hat, entfaltet sein
jeweiliges Sinnpotential, so die These, erst in der Bindung an den konkreten
historischen Kontext und als Knoten verschiedener, sich in ihm kreuzender
Wissensformen.
IV
Nimmt man nun zunächst die lateinischen Traditionen in den Blick, so ist bei
Walter Maps Sammlung De nugis curialium (1181/1193) anzusetzen, denn
hier werden eine Reihe von Geschichten präsentiert, denen das Struktur-
schema der gestörten Mahrtenehe zugrunde liegt und die sich zumindest in
einem weiteren Sinne dem ›Melusinentyp‹ zuordnen lassen.22 Da die Erzäh-
lungen im Rahmen der christlichen Dämonologie funktionalisiert sind,23
gerät die Wertung der Mahrtenehen entsprechend negativ, wie exemplarisch
an der Erzählung von Henno cum dentibus (Dist. IV, c. 9) vor Augen geführt
werden soll: Inmitten eines Waldes trifft dieser, dessen Name sich von seinen
großen Zähnen ableitet – und der insofern immer wieder mit der Figur des
Geoffroy aus den Melusinenromanen verglichen wurde – auf ein wunder-
schönes Mädchen, in das er sich auf der Stelle verliebt. Als sich nach der
21 Diese gerät auch in den feministisch orientierten Arbeiten öfter aus dem Blick,
insofern hier – mehr oder minder offensichtlich – versucht wird, die moderne
Geschlechter- und Beziehungsthematik auch in den mittelalterlichen Texten wie-
derzufinden, oder diese – ebenfalls enthistorisierend – im Sinne eines überzeit-
lichen Liebesmodells zu verstehen. Hier sei nur verwiesen auf: Bea Lundt, Melu-
sine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher Existenz im
Beziehungs-Diskurs der Geschlechter, München 1991, S. 41–184; dies., »Schwe-
stern der Melusine im 12. Jahrhundert. Aufbruchs-Phantasie und Beziehungs-
Vielfalt bei Marie de France, Walter Map und Gervasius von Tilbury«, in: dies.,
Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München
1991, S. 233–253.
22 Walter Map, De nugis curialium, revised by Christopher N. L. Brooke and Roger
A. B. Mynors, ed. by M. R. James, Oxford 1983 (Oxford Medieval Texts), Dist. II,
c. 11–13; Dist. IV, c. 8–11. Zu den Varianten siehe Lecouteux, Entstehung (Anm.
20), S. 76 f.; vgl. Laurence Harf-Lancner, Les fées au moyen âge. Morgane et
Mélusine. La naissance des fées, Genève 1984, S. 119–143.
23 Besonders deutlich wird dies an folgender Bemerkung Maps: De nugis curialium
(Anm. 22), Dist. II, c. 12: Audiuimus demones incubos et succubos, et concubitus
eorum periculosos; heredes autem eorum aut sobolem felici fine beatam in
antiquis hystoriis aut raro aut nunquam legimus […].
Melusinengeschichten im Mittelalter 277
Ausdruck, indem sie den Fall der Burgherrin zur Mahnung funktionalisieren,
der Christ dürfe die Kirche nicht vor dem Ende der Messfeier verlassen.
Ganz entsprechend wird eine weitere Erzählung des ›Melusinentyps‹ von
Gervasius im christlichen Rahmen der Sünden- und Bußlehre situiert: So
kommt er im Kontext von Reflexionen über den Sündenfall und die Para-
diesesschlange auf die Frage nach Mischwesen zwischen Mensch und Tier zu
sprechen,26 denn um Eva verführen zu können, habe der Teufel die Gestalt
einer Schlange mit weiblichem Antlitz gewählt: Elegit enim diabolus quod-
dam genus serpentis fœmineum vultum habentis […] (Prima decisio, c. XV).
In Anlehnung daran sei es möglich, dass bestimmte Frauen die Gestalt von
Schlangen annehmen könnten, was zwar skandalös sei, aber durch das
Vorkommen von anderen Mischwesen in der Welt, wie z. B. von Werwölfen,
beglaubigt werde.
Das Exempel des Burgherrn Raimundus (Raymond de Château Rousset)
soll nun demonstrieren, dass die Verbindung von Menschen mit solchen
Mischwesen Unheil bringe, denn, vom Affekt der concupiscentia getrieben,
überstürzt der besagte die Heirat mit einer Unbekannten und willigt in ihre
Bedingung ein, sie niemals nackt sehen zu dürfen. Als er dieses Tabu Jahre
später bricht, entweicht die Dame, in eine Schlange verwandelt, und es erfüllt
sich an ihm ihre Prophezeiung seines Niedergangs: Sanè miles pro maxima
parte felicitate ac gratiâ minoratus […] (Prima decisio, c. XV). Nach dem
Tabubruch sind Raimundus also die Augen für sein Vergehen, die sündhafte
Verbindung mit einer Fee, geöffnet, und es erweist sich an ihm der intrikate
Zusammenhang von Sünde aus concupiscentia, Erkenntnis und Strafe.27
Gervasius’ Ausführungen zur Dämonologie erhellen, wie ungewiss der
Status der beschriebenen Mischwesen und feenhaften Gestalten in der Welt-
ordnung ist: Handelt es sich bei den phantastischen Erscheinungen um
nächtliche Einbildungen, quæ ex grossitie humorum animas dormientium
turbant (Tertia decisio, c. LXXXVI), um Dämonen mit einem Körper aus
Luft, um Kreaturen, die wie Menschen aussehen, aber keine sind, cum non
sint homines, sed divina quadam & secretâ permissione hominum illusiones
(Tertia decisio, c. LXXXVI)? Jedenfalls sind es Wesen, die sowohl zur
göttlichen wie zur menschlichen Sphäre Zugang haben und die sich gerade
durch diesen Zwischenstatus als besonders unberechenbar erweisen.
Vor den Gefahren, die in der sündhaften Verbindung von Mensch und
Dämon liegen, möchte auch Gaufredus von Auxerre28 warnen. Nur um den
Affekt der libido zu bekämpfen, in welcher er die Wurzel der schädlichen
29 Ebd., Sermo XV, S. 187: Odibilem, fateor, reddere velim libidinem, cuius angeli
Satanae sordibus delectantur involvi, ut luxuriam velut amicam daemonum merito
fugiat christianus, et idolatriae sociam detestetur.
30 Ebd., Sermo XV, S. 183–187.
31 Ebd., Sermo XV, S. 183.
32 Vincentius Bellovacensis, Speculum Quadruplex, 4 Bde., Reprint der Ausgabe
Douai 1624, Graz 1965, Bd. 4: Speculum naturale, lib. 2, c. 126–128.
33 Vgl. Christoph Daxelmüller, »Dämonologie«, EM 3, 1981, Sp. 237–259, hier
Sp. 243–246; Otto Böcher, Gunther Wanke, Günter Stemberger u. a., »Dämonen«,
TRE 8, 1981, S. 270–300, hier S. 293–296; Walter Kirchschläger, Leo Scheffczyk,
Christoph Daxelmüller u. a., »Dämon«, LThK3 1, 1995, Sp. 1–6; Leo Scheffczyk,
»Dämologie«, LThK3 1, 1995, Sp. 6 f.
280 Beate Kellner
sunt & coire cum mulieribus, & generare (lib. 2, c. 127).34 Dennoch würden
jene Exempla, so argumentiert Vincenz weiter, von der Autorität der Ge-
lehrten widerlegt,35 da nach ihrer naturkundlich-medizinischen Erklärung
niemals Menschen aus der Mischung von dämonischem und weiblichem
Samen entstehen könnten (lib. 2, c. 128).
Implizit wird hier auf mittelalterliche Zeugungslehren rekurriert, denn
nach den seit Hippokrates und Galen gültigen physiologischen Theorien ist
der actus generationis als Mischung von männlichem und weiblichem Samen
bestimmt. Die Mischungsverhältnisse entscheiden darüber, welches Ge-
schlecht das neu entstehende menschliche Wesen erhalten wird, welche
physische Konstitution und welche Eigenschaften es prägen werden. Da der
Samen im Rahmen der Humoreslehre als erhitztes Blut verstanden wird, ist
letztendlich das Blut mit seinen Eigenschaften für die Vererbung entschei-
dend. Im Paradigma dieser Lehren stellt sich das Problem der Zeugungsfä-
higkeit von Dämonen, um darauf nun zurückzukommen, sozusagen doppelt:
Aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit aus Luft fehlt mit dem Blut zum
einen die substantielle Grundlage zur ›normalen‹ Samenbildung,36 das
zweite Problem, und darauf will Vincenz von Beauvais ganz besonders
hinaus, liegt in der Mischung von dämonischem und menschlichem Samen.
Im Hintergrund wird hier das aristotelische Diktum stehen, nach dem es
keine Mischung von Arten geben kann.37
Sententia prudentum und Fallbeispiele konfligieren und müssen als ver-
schiedene Wissensformen hierarchisiert werden. Vincenz schließt sich letzt-
lich der Meinung der Autoritäten an, welche mit naturkundlichen Argumen-
ten auf der strikten genealogischen Trennung von Menschen- und Dämonen-
welt bestehen. Und dennoch deuten sich zwei Perspektiven auf die Frage
nach der Genealogie von Dämonen an. Als narrative Geschichten bringen die
Exempla eine eigene Dynamik ins Spiel, sie drohen, den theologischen und
naturkundlichen Diskurs, in den sie eingebunden sind, zu sprengen – und
gerade deshalb müssen sie gewissermaßen im Nachgang in den gelehrten
Diskussionszusammenhang der Autoritäten zurückgebunden werden.
Eine im Vergleich zu den bisher besprochenen Melusinensagen grund-
legende Verschiebung findet statt, indem der genealogisch-dynastische Dis-
kurs in den Texten dominant wird:38 Die Mahrtenehe wird dezidiert zur
Erklärung der Herkunft adliger Familien herangezogen. Sie kann dabei
sowohl positiv wie negativ instrumentalisiert sein, worin sich noch einmal
bestätigt, dass das strukturale Gerüst erst in der konkreten situativen Bindung
sein spezifisches Erklärungspotential entfaltet.39 Als Kontext der im folgen-
den zu diskutierenden spätmittelalterlichen Romane ist besonders jene kurze
Notiz bei Petrus Berchorius von Bedeutung, in welcher die ›Melusinenge-
schichte‹ unserer Quellenlage nach erstmals mit den Lusignans verbunden
wird: Die namenlose Fee erscheint hier, positiv akzentuiert, als Ahnfrau des
berühmten und blühenden Geschlechts der Lusignans, auf dessen erfolg-
reiche genealogische Verbreiterung bis hin zu den Königen von Cypern und
Jerusalem, den Grafen von der Marche und von Parthenay verwiesen wird.
Die Genealogie des Hauses Lusignan erscheint als aufsteigende Linie, deren
Glück sich der Herkunft von der Fee verdankt.40