Sie sind auf Seite 1von 672

Text und Kultur

Germanistische Symposien
Berichtsbände

Im Auftrag der Germanistischen Kommission


der Deutschen Forschungsgemeinschaft und in Verbindung
mit der »Deutschen Vierteljahrsschrift
für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte«

Herausgegeben von
Wilfried Barner
XXIII
Text und Kultur
Mittelalterliche Literatur
1150–1450

Herausgegeben
von Ursula Peters

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Germanistische Symposien
Berichtsbände, XXIII

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Text und Kultur:


mittelalterliche Literatur 1150 – 1450 / hrsg. von Ursula Peters. – Stuttgart;
Weimar ; Metzler, 2001
(DFG-Symposion ... ; 2000)
(Germanistische-Symposien-Berichtsbände ; 23)

ISBN 978-3-476-01854-0
ISBN 978-3-476-05567-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05567-5

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbe-
sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

© 2001 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Urspr ünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2001
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
Inhalt

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Ursula Peters (Köln): Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

I.
Textkonstitution und Vermittlung

Jan-Dirk Müller (München): Einführung . . . . . . . . . . . . . . . 3


Klaus Grubmüller (Göttingen): Verändern und Bewahren.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter . . . . . . . . . . 8
Bruno Quast (München): Der feste Text. Beobachtungen
zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten . . . . . . . . 34
Ursula Schulze (Berlin): Varianz und Identität in rechtssprachlichen
und dichterischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Albrecht Hausmann (Göttingen): Mittelalterliche Überlieferung
als Interpretationsaufgabe. »Laudines Kniefall« und das Problem
des »ganzen Textes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Rüdiger Schnell (Basel): Vom Sänger zum Autor. Konsequenzen
der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs . . . . . . . . . . . . . . 96
Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler (Köln):
Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse.
Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften
und Drucken von Heinrich Seuses ›Exemplar‹ . . . . . . . . . . . . . 150
Armin Schulz (München): Diskussionsbericht . . . . . . . . . . . . 182

II.
Kulturtheoretische Konzepte

Ursula Peters (Köln): Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191


Joachim Heinzle (Marburg): Usurpation des Fremden? Die Theorie
vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell . . . . . . . . . 198
VI Inhalt

Gerhard Wolf (Bayreuth): Verborgene Kalküle. Pierre Bourdieus


›Reflexive Anthropologie‹, Erecs und Iweins Habitus
und die Conditio humana des Interpreten . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Udo Friedrich (Greifswald): Der Ritter und sein Pferd. Semantisie-
rungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter . . . . . 245
Beate Kellner (Dresden): Melusinengeschichten im Mittelalter.
Formen und Möglichkeiten ihrer diskursiven Vernetzung . . . . . . . . 268
Jeffrey F. Hamburger (Harvard University): Brother, Bride and alter
Christus: The Virginal Body of John the Evangelist in Medieval Art,
Theology and Literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
Volker Mertens (Berlin): Der Sänger geht baden … Oswald in
seinen ›Margarethen‹-Liedern: poetologisch, performativ, kultur-
wissenschaftlich in ›fröhlicher Pluralität‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Lorenz Deutsch (Köln): Diskussionsbericht . . . . . . . . . . . . . 345

Abendvortrag
Joachim Bumke (Köln): Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival
Wolframs von Eschenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

III.
Alterität: Institutionelle Bedingungen

Andreas Kablitz (Köln): Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 373


Timo Reuvekamp-Felber (Köln): Fiktionalität als Gattungsvoraus-
setzung. Die Destruktion des Authentischen in der Genese
der deutschen und romanischen Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
Stephen G. Nichols (Johns Hopkins University): Urgent Voices:
The Vengeance of Images in Medieval Poetry . . . . . . . . . . . . . 403
Glenn Ehrstine (The University of Iowa): Das figurierte Gedächt-
nis: Figura, Memoria und die Simultanbühne des deutschen Mittel-
alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
Sarah Kay (University of Cambridge): The Didactic Space.
The City in Christine de Pizan, Augustine, and Irigaray . . . . . . . . 438
Pia-Elisabeth Leuschner (Köln): Diskussionsbericht . . . . . . . . 467

IV.
Poetologische Konzepte

Christoph Huber (Tübingen): Einführung . . . . . . . . . . . . . . . 477


Peter Strohschneider (Dresden): Der Oberkrieg. Fallskizze
zu einigen institutionellen Aspekten höfischen Singens . . . . . . . . 482
Ludger Lieb (Oxford): Eine Poetik der Wiederholung.
Regeln und Funktionen der Minnerede . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
Inhalt VII

Matthias Meyer (Berlin): Der Weg des Individuums.


Der epische Held und (s)ein Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Elke Brüggen (Bonn): Fiktionalität und Didaxe. Annäherungen
an die Dignität lehrhafter Rede im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . 546
Frank Bezner (Tübingen/London): Latet Omne Verum?
Mittelalterliche ›Literatur‹-Theorie interpretieren . . . . . . . . . . . . 575
Mark Chinca / Christopher Young (University of Cambridge):
Literary theory and literary field in the German romance c.1200 . . . 612
Sandra Linden (Tübingen): Diskussionsbericht . . . . . . . . . . . . 645

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
Abkürzungen

ASNS Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen
ABäG Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik
AfdA Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur
AFP Archivum Fratrum Praedicatorum
AfK Archiv für Kulturgeschichte
ATB Altdeutsche Textbibliothek
BLVS Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart
DTM Deutsche Texte des Mittelalters
DU Der Deutschunterricht
DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-
geschichte
EM Enzyklopädie des Märchens
FMSt Frühmittelalterliche Studien
Frank István Frank, Répertoire métrique de la poésie des troubadours,
2 Bde, Paris 1966
GAG Göppinger Arbeiten zur Germanistik
GQ The German Quarterly
GR German Review
GRLM Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters
GRM Germanisch-romanische Monatsschrift
GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Hist. Jb. Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft
HMS Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahr-
hunderts, aus den bekannten Handschriften und früheren Drucken
gesammelt […] von Friedrich Heinrich von der Hagen, T. 1–5,
Leipzig 1838–1856
HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie
IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
JEPG Journal of English and German Philology
JOWG Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft
LexMa Lexikon des Mittelalters
LiLi Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik
X Abkürzungen

LJb. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch


LThK Lexikon für Theologie und Kirche
MGG Musik in Geschichte und Gegenwart
MGH Monumenta Germaniae Historica
MIÖG Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung
MMS Münstersche Mittelalter-Schriften
MTU Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des
Mittelalters
PBB Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur
PhQ Philological Quarterly
PMLA Publications of the Modern Language Association of America
P-C Alfred Pillet, Bibliographie der Troubadours, ergänzt, weitergeführt
und hg. von Henry Carstens, Halle 1933.
PL Migne, J.-P.: Patrologia Latina (Patrologiae cursus completus. Series
latina). Paris 1844 ff.)
QuF Quellen und Forschungen
RL Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte
RF Romanische Forschungen
RPh Romance Philology
RR Romanic Review
VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, begründet
von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite,
völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von Kurt Ruh zusammen mit
Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef
Worstbrock, Bd. 1ff. Berlin, New York 1978ff.
TRE Theologische Realenzyklopädie
WdF Wege der Forschung
WW Wirkendes Wort
ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur
ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie
ZfrPh Zeitschrift für romanische Philologie
Vorbemerkung

Ursula Peters (Köln)

Vom 24. bis zum 28. September 2000 hat auf Schloß Reisensburg das 23.
von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Germanistische Sym-
posion stattgefunden, in dem unter dem sehr allgemeinen Titel »Text und
Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 bis 1450« Mediävisten in einer Kom-
bination von Theoriediskussion, forschungskritischer Bilanz und Fallstudien
grundlegende Fragen des Faches verhandelt haben. Ausgangspunkt dieses
Treffens war ein Unbehagen angesichts der augenblicklichen mediävistischen
Methoden-Diskussionen, die sich in bestimmten Bereichen und auf den
verschiedensten Ebenen in die neueren texttheoretischen und kulturwissen-
schaftlichen Positionsbestimmungen und Gefechte anderer Disziplinen ein-
klinken, vor allem im Umkreis des Stichwortes Kulturwissenschaft dezidiert
das Neue, das Innovative von Fragestellung, Arbeitsweise und – nicht zuletzt
– der vermuteten Ergebnisse und Einsichten betonen, ohne dass in vielen
Fällen die jeweils in die Debatte eingebrachten Theorieangebote auch nur
ansatzweise in ihrer terminologischen wie sachlichen Leistungsfähigkeit aus-
diskutiert und auf einer breiteren Basis textanalytisch umgesetzt und erprobt
worden wären. Es wechseln allzu schnell die Richtungen, die Begriffe und
disziplinären Ausgriffe, so dass diese auf eine sachliche wie methodische
Neupositionierung des Faches bezogene Diskussion vornehmlich im kon-
zeptionellen Bereich beliebig zu werden droht. Diese Schnellebigkeit der
Theoriediskussion hat allerdings zugleich dazu geführt, dass auch die schein-
bar ausgeloteten Problemkreise im Umfeld von Texttheorie und Kultur-
wissenschaft noch keineswegs ausdiskutiert sind. Im Gegenteil: viele Fragen
sind unbeantwortet geblieben, viele Vorschläge sind nicht weiter verfolgt
worden und viele Theoriekonzepte ohne Reaktion, aber eben auch ohne
Textbezug ins Leere gelaufen. Forschungskritik und Defizitbilanzierung, eine
Art Standortbestimmung, eine fachlich-methodische Vergewisserung des Er-
reichten wie auch des Ausgeblendeten in diesem etwas diffusen, kaum mehr
zu überschauenden Feld mediävistischer Text- und Kulturtheorie, von Text
und Kultur schienen uns deshalb angezeigt zu sein.
Prominente Vorläufer für diese Fragen sind die beiden letzten mediävisti-
schen Veranstaltungen in der Reihe der bisherigen Germanistischen DFG-
Symposien.
XII Vorbemerkung

So werden in dem von Joachim Heinzle im Jahr 1991 in Schloß Maurach


organisierten Symposion »Literarische Interessenbildung im Mittelalter«1
unter diesem Leitbegriff die literarhistorische Grundproblematik von Text
und Kontext und damit auch die zentralen Fragen einer literarhistorischen
Funktionsgeschichte in einer spezifisch historisch-empirischen Perspektive
ausgeleuchtet und zugleich in hoch- und spätmittelalterlichen Fallstudien
verschiedene konkurrierende bzw. ergänzende funktionsgeschichtliche Mo-
delle erprobt. Und drei Jahre später standen in dem im Kloster Seeon unter
der Leitung von Jan-Dirk Müller stattfindenden Kolloquium »›Aufführung‹
und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit«2 die besonderen Bedingun-
gen für Literatur in einer semioralen Gesellschaft im Zentrum der Diskussion
und damit zugleich die Konsequenzen, die dieser Blick auf die spezifische
Medialität mittelalterlich-frühneuzeitlicher Literatur für den Textbegriff, den
Literaturbegriff, den Fiktionsbegriff, aber auch für die hermeneutische Pro-
blematik des Verhältnisses von Körper und Text im sprachlichen Medium hat.
Beide Veranstaltungen haben mit ihren Themen Funktionsgeschichte bzw.
Medialität der mittelalterlichen Literatur entscheidende, in den 80er und
frühen 90er Jahren in der Mediävistik intensiv diskutierte, von ihr aber auch
auf andere Disziplinen ausstrahlende Problemfelder des Verhältnisses von
Text und Kultur weit ausgreifend vermessen.
Inzwischen sind allerdings die Diskussionen gerade in den hier verhandel-
ten Fragen weiter gegangen: So sind in dem Bereich der Medialität mittel-
alterlicher Literatur unter dem Stichwort Materialität der literarischen Kom-
munikation in einer Manuskript-Kultur, in teilweiser Überschneidung mit der
New Philology-Diskussion, inzwischen eine Reihe von Korrekturen und
Differenzierungen vorgeschlagen worden, die unsere Vorstellungen von
Schriftlichkeit und Performanz, von Text und Autor, von der spezifisch
literarischen Bedeutung der Überlieferung noch einmal nachhaltig verändern.
Sie sind jedenfalls in ihren Konsequenzen für unser Verständnis der mittel-
alterlichen Literatur noch keineswegs abzusehen. Ebenso in dem Feld von
Text und Kontext: Hier wechseln gerade in den letzten Jahren unter dem
Label Kulturwissenschaft die verschiedensten neu aktivierten Konzepte funk-
tionsgeschichtlicher Lektüren einander ab und bemühen sich um eine ad-
äquate Verortung mittelalterlicher Literatur in ihrem kulturellen Umfeld.
Daran anknüpfend hat auch die scheinbar erschöpfte Diskussion um das so
umstrittene Verstehenskonzept der Alterität mit seinem Insistieren auf den
spezifischen institutionellen Bedingungen der Entstehung und Rezeption
mittelalterlicher Literatur neue Anstöße erfahren, da der inzwischen erreichte
Standard diskursanalytischen Fragens vielversprechende Perspektiven institu-
tionenbezogenen Textverstehens eröffnet. Und schließlich der Umkreis poe-
tologischer Modelle: auch hier hat inzwischen die kritische Auseinander-

1 Literarische Interessenbildung im Mittelalter, DFG-Symposion 1991, hg. v. Joachim


Heinzle, Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14).
2 ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit, DFG-Symposion
1994, hg. v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien.
Berichtsbände 17).
Vorbemerkung XIII

setzung mit einem Konzept mittelalterlicher Literatur, wie es am profilier-


testen und wirkungsmächtigsten Walter Haug in seiner »Literaturtheorie im
deutschen Mittelalter«3 vorgeführt hat, zu diffizilen Versuchen einer spezifi-
schen Historisierung poetologischer Bestimmungen wie Fiktionalität, In-
dividualität, Autonomie oder Zweckpoetik geführt, ohne dass sich schon ein
Konsens über die Verbindlichkeit und Trennschärfe dieser neueren Ab-
grenzungs- und Definitionsversuche erkennen läßt.
Es bot sich deshalb an, die von den beiden vorangegangenen mediävisti-
schen DFG-Symposien bereits erarbeiteten Problemkreise noch einmal auf-
zugreifen und – vielleicht als Zwerg auf den mächtigen Schultern dieser
Vorgängerveranstaltungen – im Blick auf die kulturwissenschaftlich ge-
wendete Diskussion der letzten Jahre zugleich forschungsgeschichtlich eine
Art Bilanz zu ziehen. Gemeinsame Basis, ja der bindende Rahmen sollten die
inzwischen breit und kontrovers diskutierten Vorstellungen des Verhältnisses
von Text und Kultur im Mittelalter sein, und zwar nicht im Sinne einer
Archäologie der Kulturgeschichte oder gar des Kulturbegriffs, wie es seit
einigen Jahren die Geschichtswissenschaft, vor allem in den Arbeiten von
Otto Gerhart Oexle vorführt. Im Vordergrund des Interesses sollte die Ein-
sicht stehen, dass und wie sehr die verhandelten Probleme von bestimmten
Kultur- und Textkonzepten getragen sind. Auf diese Weise könnte vielleicht
angesichts und trotz der in den letzten Jahren so bedenklich auseinander-
driftenden, sich teilweise sogar gegenseitig ausblendenden mediävistischen
Forschungspositionen und Theoriediskussionen in dieser forcierten Kultur-
Text-Orientierung doch wieder die gemeinsame Basis deutlich werden.
In diesem Sinne haben die Kuratoren Christoph Huber, Andreas Kablitz,
Jan-Dirk Müller und Ursula Peters folgenden Ausschreibungstext konzipiert
und in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geis-
tesgeschichte wie auch verschiedenen mediävistischen Zeitschriften plaziert:
Seit einigen Jahren ist in der Mittelalter-Philologie eine methodische Neuorientie-
rung zu beobachten, die sich in den pointiert das fachwissenschaftlich ›Neue‹
herausstellenden programmatischen Titeln wie New Philology, Modernes Mittel-
alter, New Medievalism, Neue Altgermanistik ausdrückt. Sie zielen auf eine Öff-
nung des Fachs gegenüber Text- und Kulturtheorien, die in den angrenzenden
Disziplinen, vor allem den neueren Philologien, der Geschichtswissenschaft und der
Ethnologie bzw. Kulturanthropologie, diskutiert werden und die für die Mediävistik
eine ihre Grundlagen tangierende Neubestimmung bedeuten können.
Und tatsächlich beteiligt sich die Mittelalter-Philologie gerade in den für sie
zentralen Bereichen der philologischen Texterschließung und literarhistorischen
Funktionsgeschichte inzwischen verstärkt an diesen neueren, interdisziplinär ausge-
richteten kulturwissenschaftlichen Theoriediskussionen mit tiefgreifenden Folgen
für Textkonstitution und Werkverständnis. Teilbereiche dieser Folgen sind bereits in
zwei DFG-Symposien verhandelt worden. So hat die für die Mittelalter-Philologie
seit ihren kulturgeschichtlichen Anfängen bestimmende literarhistorische Grund-
problematik von Text und Kontext in den letzten 30 Jahren unter wechselnden

3 Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum
Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985. 21992.
XIV Vorbemerkung

theoretischen Perspektiven die verschiedensten Modellierungen erfahren. Eine aus-


geprägt empirisch-historische Variante eines funktionsgeschichtlichen Literaturver-
ständnisses ist im Jahre 1991 unter dem Leitbegriff »Literarische Interessen-
bildung« erprobt worden. Neben dieser engeren historisch-gesellschaftlichen Ebene
hat die Text-Kontext-Diskussion aber schon immer auch ganz andere kulturtheo-
retische Dimensionen umfaßt, die neuerdings wieder verstärkt – und zwar im
Rekurs auf die verschiedensten Ansätze kulturanthropologischer Hermeneutik – in
den Blick rücken und zugleich auf ein bislang in seinen thematischen Akzentuie-
rungen und methodischen Implikationen erst in Ansätzen erprobtes historisch-
anthropologisches Verständnis mittelalterlicher Literatur zielen. Das Themenumfeld
der Medialität der mittelalterlichen Literatur, das zunächst in Auseinandersetzung
mit der fächerübergreifenden Oralitätsforschung, dann aber auch mit vor allem in
Frankreich und Amerika diskutierten Text- und Kulturtheorien neu vermessen
worden ist, wurde unter der Frage »›Aufführung‹ und ›Schrift‹« im Jahre 1994
untersucht. Auch hier sind weitere Problemkomplexe philologischer Texterschlie-
ßung von dieser neueren Medialitäts-Diskussion betroffen und – etwa unter den
Stichworten Handschriftenkultur, New attitudes to the page, the whole book – auf
einer ausgreifend kulturhistorischen Grundlage neu diskutiert worden, ohne daß
sich bereits klar konturierte Arbeitsfelder abzeichnen.
Eine andere Ebene visieren Modelle an, die Voraussetzungen der auktorialen
Sinnbildung, der »poetologischen« Bindung, der rezeptiven Bedeutungskonstitution
mittelalterlicher Texte im Blickfeld haben. Sowohl das Konzept der Fiktionalität wie
die rezeptionstheoretische Ansätze ablösende Intertextualitätsdebatte wurde in den
letzten Jahren an mediävistischen Gegenständen erprobt und kontrovers diskutiert.
Hiermit verbinden sich Fragen der Legitimierung literarischer Wahrheit, der Span-
nung von Autoritätsbindung und Innovation, der Freisetzung ästhetischer Auto-
nomie. Als Aufgabe zeigt sich dabei hier immer wieder die Historisierung (post-)
moderner Texttheorien, ihre Rückführung auf die mittelalterliche Literaturpraxis
und sie reflektierende poetologische Theorieansätze, wobei Fragen literaturge-
schichtlicher Umbrüche, der Entwicklung in Richtung ›Moderne‹ eine Rolle spie-
len. Dies sind punktuelle Versuche einer mediävistischen Anknüpfung an neuere
Text- und Kulturtheorien, deren Auswirkungen auf Fragen von Textkonstitution,
literarischer Funktionsgeschichte, von Epochenbestimmung und Werkverständnis in
ihren möglichen Perspektiven noch nicht ausgelotet sind.
Durch diese Programmatik einer ›neuen‹ Mediävistik vergrößert sich allerdings
die (für das Fach ohnehin kennzeichnende) Kluft zwischen Philologie und Theorie-
bildung. Im Vordergrund stehen bei den Neuansätzen besonders die konzeptionelle
Ebene, das Ausgreifen auf wechselnde Konzepte kulturwissenschaftlichen Verste-
hens, die Einführung neuer Begriffe, das Erproben kulturtypologischer Bestimmun-
gen. Es fehlt jedoch die Kontinuität einer abwägend-bilanzierenden Diskussion, die
die losen Fäden dieser z. T. sich überschneidenden Theorievorschläge zusammen-
bindet und in einer Kombination von Theoriediskussion und philologischer Analyse
die Voraussetzungen für eine gemeinsame Ebene der Diskussion schafft.
Deshalb soll im Jahr 2000 eine mediävistische Standortbestimmung das Thema
eines Symposiums sein. Dabei sollten auf der Basis eines auf die Eckdaten 1150
und 1450 begrenzten, d. h. eines einigermaßen vergleichbaren Textcorpus hand-
schriftlicher Überlieferung die den unterschiedlichsten Disziplinen entstammenden
Anstöße text- wie kulturtheoretischer Orientierung in ihren Auswirkungen sowohl
auf der Ebene der philologischen Textsicherung als auch der literarischen Funk-
tionsgeschichte, der epochenspezifischen Kategorienbildung und ihrer poetologi-
Vorbemerkung XV

schen Implikationen erörtert werden. Damit sind bereits die thematischen Schwer-
punkte der vier Sektionen bezeichnet, die die Kuratoren dieses Symposiums, Jan-
Dirk Müller, Ursula Peters, Andreas Kablitz und Christoph Huber, für die gemein-
same Arbeit vorschlagen.

1. Textkonstitution und Vermittlung


Leitung: Jan-Dirk Müller, München

Neue Philologie? – Prozeß der Textentstehung (Diktat, Aufzeichnung, Kopie, Kolla-


tion, Exzerpt, Kommentar) – Dilatatio und Abbreviatio – Werk, Text, Fassung,
Variante – Beweglichkeit von Texten/Spielräume und Grenzen für Varianz – Ver-
schriften und Verschriftlichen – Formen der Schriftlichkeit (Codex, Rotulus, Faszi-
kel, Schedula, Sammelhandschrift) – Instrumente der Texterschließung (Register,
Paragraphen, Kapitel, Kolumnentitel usw.) – Gestaltung der Manuskriptseite (Text
und Kommentar, Marginalien, Text und Bild).

2. Kulturtheoretische Konzepte
Leitung: Ursula Peters, Köln

Stationen und Modelle funktionsgeschichtlicher Lektüren (Von der Gesellschafts-


geschichte zur Mentalitätshistorie) – Habitus (Panofsky/Bourdieu) als textana-
lytisches Konzept – mittelalterliche Literatur im Kontext einer »histoire de l’
imaginaire médiéval« (Le Goff), einer Geschichte des ›Wissens‹ (Oexle) – mittel-
alterliche Literatur und der ›Prozeß der Zivilisation‹ (literarhistorische Positionen
einer Elias-Kritik) – mittelalterliche Literatur und die Geschichte kulturell kon-
struierter Geschlechterdichotomien/Geschlechterhierarchisierungen (gattungsspezi-
fische Figurationen mittelalterlicher sex-gender-Systeme) – Textualisierung vs.
Ethnologisierung des Kontextes (Karnevalisierung und Kultursemiotik, Cultural
Poetics, New Cultural Materialism, Writing Culture-Konzepte) – historisch-an-
thropologische Lektüren (mittelalterliche Texte im Spannungsfeld von Elite- vs.
Volkskultur; Natur vs. Kultur; Performanz vs. Literalität).

3. Alterität: Institutionelle Bedingungen


Leitung: Andreas Kablitz, Köln

Literatur und Ritual/Ritus – Spiel und Repräsentation – Gebrauchsfunktion und


-situation (Schriftlichkeit/Mündlichkeit, Literatur als Instrument sozialer Repräsen-
tation, Literatur als pädagogischer Diskurs) – Ordnungen des Wissens (Literatur als
kollektive Memoria, Literatur als enzyklopädischer Diskurs) – Literatur und ihr
Verhältnis zu anderen Diskursen (Literatur und Mythos, Literatur und Theologie/
Philosophie, Literatur und Recht, Literatur und Historiographie) – Literatur als
Instanz der Ichrepräsentation und -konstitution; Autonomie des Ästhetischen?

4. Poetologische Konzepte
Leitung: Christoph Huber, Tübingen

Historische und systematische Fundierung poetologischer Terminologie – imma-


nente Poetik – poetologische Konzepte im historischen Prozeß – Wahrheitsin-
stanzen, Wahrheitsanspruch, Legitimationsstrategien, Legitimationswandel – fa-
bula, integumentum, Fiktionalität – Formen der Fiktionalisierung im Roman –
Fiktionalität im Minnesang und in der Didaxe? – Autoreferentialität – Autono-
XVI Vorbemerkung

mietendenzen und Zweckpoetik – Selbstreflexion der lehrhaften Dichtung – Autor-,


Erzählerkonzepte, Ich-Figurationen – Publikumsentwürfe – Textsinn und Text-
gebrauch.
Im September 1999 wählten die Kuratoren aus 51 Vorschlägen 23 Teilnehmer
aus, in der Mehrzahl germanistische Mediävisten, die sich mit ihren Fall-
beispielen eher auf deutsche Überlieferungs- und Texttraditionen beziehen.
Für den Abendvortrag am 26. September, als Abschluß der zweiten Sektion,
konnte Joachim Bumke gewonnen werden, der unter dem Titel »Wahr-
nehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach« eine Fall-
studie kontextanalytischen Diskursvergleichs präsentiert und damit zugleich
ein neues Kapitel in der Parzival-Deutung aufgeschlagen hat. Die angestrebte
interdisziplinäre Orientierung des Symposions schien durch zwei Roma-
nisten (Sarah Kay und Stephen G. Nichols), einen Mittellateiner (Frank
Bezner), einen Historiker (Gert Melville) und einen Kunsthistoriker (Jeffrey
Hamburger) garantiert zu sein. Leider hat sich diese gewünschte Weite des
fachlichen Spektrums nicht ganz verwirklichen lassen, da mit der kurz-
fristigen Absage von Gert Melville nicht nur in der zweiten Sektion eine für
alle kulturwissenschaftlichen Diskussionen der Mediävistik wichtige Position
der Annales-Historiographie, die des Konzepts des imaginaire médiéval von
Jacques Le Goff, fehlte, sondern auch in den übergreifenden Diskussionen
um den Text- und Kulturbegriff auf die charakteristische Stimme eines
Historikers verzichtet werden mußte. Auch Andreas Kablitz, der romanisti-
sche Kurator, konnte leider wegen einer Erkrankung an dem Symposion nicht
teilnehmen, so dass seine Sektionseinführung zwar verlesen wurde, aber die
Diskussionsleitung der einzelnen Vorlagen, bei denen romanistische und vor
allem außerdeutsche Forschungspositionen verstärkt zu Wort kamen, von den
anderen Kuratoren übernommen wurden.
Dass dieses Symposion mit den im Folgenden versammelten Einführun-
gen, Vorlagen und Diskussionen im September des Jahres 2000 erfolgreich
stattfinden konnte, verdankt sich vielen Beteiligten: Die DFG, die seit dem
Jahre 1974 jährlich ein Germanistisches Symposion fördert, bei dem in
einem strikten Organisationsrahmen vier Tage lang grundlegende Fragen von
Textphilologie, Literaturgeschichte wie auch literaturwissenschaftlicher
Theorie in einer interdisziplinären Perspektive erörtert werden, hat im Jahre
1999 auch diesem mediävistischen Vorhaben grünes Licht gegeben. Die Idee,
im Jahre 2000 die Organisation dieses Germanistischen Symposions der
Mediävistik zu übertragen, hatte Wilfried Barner, der von Anfang an –
ebenso wie Manfred Briegel von der Seite der DFG – die Planungen in
sachlicher wie organisatorischer Hinsicht mit seinem Rat unterstützt hat. Die
fachliche Konkretisierung verdankt sich im wesentlichen der inspirierend-
freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Christoph Huber, Andreas Kablitz
und Jan-Dirk Müller. Bei der organisatorischen Planung im Vorfeld und ihrer
Umsetzung vor Ort war die selbstverständliche Präsenz von Lorenz Deutsch
eine große Hilfe. Er wie auch Pia-Elisabeth Leuschner, Sandra Linden und
Armin Schulz haben als Redaktoren die nicht immer geradlinigen Dis-
kussionen in ihren Grundzügen aufgezeichnet und damit noch einmal zur
Vorbemerkung XVII

Präzisierung und fachlichen Positionierung der Diskussionsrunden beige-


tragen. Frau Reck, die Leiterin des inzwischen eindrucksvoll renovierten
Wissenschaftszentrums Schloß Reisensburg, ist mit ihrem Team bereitwillig
allen Wünschen der Tagungsteilnehmer entgegengekommen und hat auf
diese Weise für eine unkomplizierte Atmosphäre gesorgt. Da die Gruppe mit
33 Personen zu groß für die lichtdurchfluteten Räume des Turms der Rei-
sensburg war, haben sich die Teilnehmer im eher asketischen Ambiente des
fensterlosen »Roten Saals« vier Tage lang – in strikter Konzentration, be-
wundernswerter Disziplin und hoher Frustrationstoleranz – auf grundlegende
Fragen des Themenfeldes Text und Kultur im Mittelalter eingelassen und
versucht, in der gemeinsamen Diskussion von Fallstudien, von Forschungs-
kritik und Theorieansätzen Positionen einer kulturwissenschaftlichen Medi-
ävistik abzustecken. Ihnen allen möchte ich sehr herzlich danken.
I.
Textkonstitution und Vermittlung
Einführung

Jan-Dirk Müller (München)

Die Beiträge der ersten Sektion sind alle mehr oder weniger deutlich Pro-
blemen gewidmet, die von der sog. New Philology aufgeworfen wurden. Die
Diskussion um diesen Ansatz ist im Jahrzehnt seit Erscheinen von Bernard
Cerquiglinis ›Éloge de la variante‹ und dem Speculum-Heft von 1990 in
ruhigere Bahnen gekommen. Der Auffälligkeitswert der Provokation ist
längst verbraucht; das Prädikat ›neu‹ wurde inzwischen selbst von den
Vertretern der New Philology relativiert; das Phantasma einer elektronischen
Edition, die sämtliche Handschriften-Zeugen zugleich vollständig verfügbar
hält, harrt noch praktikabler Vorschläge zur Umsetzung. Unübersehbar aber
beginnen die Anstöße, die von der Provokation ausgingen, ihre Wirkung zu
zeigen.
Stephen Nichols’ Vorschlag, das Epitheton ›new‹ durch ›material‹ zu
ersetzen, pointiert den Erkenntnisgewinn einer Mediävistik, die nicht den
abstrakten, oft aus vielen Überlieferungsträgern rekonstruierten, gedruckten
Text in einer modernen Edition zu ihrem Gegenstand macht, sondern die
Materialität seiner Überlieferung selbst thematisiert: die Handschrift, ihre
Zusammensetzung, ihr Layout, die Mittel der Texterschließung, die Rezep-
tionsanleitungen, die Illustrationen usw. Natürlich war all dies seit langem
Gegenstand mediävistischer Untersuchungen, doch nicht selten abgedrängt in
sog. Hilfswissenschaften und ohne Einfluß auf die Interpretationspraxis. Die
›Material Philology‹ hat dagegen gezeigt, wie wichtig die konkrete Erschei-
nungsform eines Textes in Schrift für dessen Verständnis und für seine
Funktion ist. Statt ›Philologie‹ von theoriegeleiteter Literaturwissenschaft
abzuspalten, regt sie im Gegenteil zu neuen philologischen und literatur-
wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Texten an. Ist einmal die
Aufmerksamkeit auf den konkreten Überlieferungsträger gelenkt, dann las-
sen sich Abweichungen zwischen Handschriften nicht mehr ohne weiteres als
›Fehler‹ eliminieren und in einem ›gereinigten‹ Text nur mehr in den text-
kritischen Apparat verbannen. Die Materialität des Artefakts erklärt sich aus
den Bedingungen seiner Herstellung, und da zeigt sich, daß die mittel-
alterliche Kopierpraxis nicht nur faktisch die Annäherung an einen au-
tornahen Archetypus unmöglich macht, sondern in vielen Fällen schon die
Leitvorstellung eines Archetyps, die Vorstellung einer und nur einer verbind-
4 Jan-Dirk Müller

lichen Textgestalt, auf die dann alle anderen mehr oder minder fehlerhaften
zurückzuführen sind, in Frage stellt.
In der mediävistischen Editorik ist das Problem seit langem bekannt.
Cerquiglinis ›Lob der Variante‹ war gegen eine bestimmte Editionspraxis
gerichtet gewesen, der Abweichungen nur als Fehler denkbar waren. Daß
andere Editionsschulen diesem Konzept nicht folgten, wurde übersehen.
Auch schoss der Impetus über das Ziel hinaus, wenn mittelalterliche Texte in
jeder Hinsicht als ›unfest‹, von Realisierung zu Realisierung sich wandelnd,
angesehen wurden und alles und jedes in einer Handschrift – offenkundige
Fehler wie belanglose Schreibvarianten – die Dignität der bedeutsamen
Variante erhielt. Auf der anderen Seite zeigte sich – etwa in Karl Stackmanns
Überprüfung der Konstituierung eines Frauenlob-Gedichtes – wie fruchtbar
für die Editionspraxis die Aufwertung der Varianz bei einer Unterscheidung
von Variantentypen unterschiedlicher Relevanz sein kann.
Wenn der mittelalterliche Text in unterschiedlichen, untereinander gleich-
wertigen Fassungen existiert, wird damit die Vorstellung vom Text als ge-
schlossenem Gebilde, dem dann eine ebenso geschlossene Interpretation zu
antworten habe, verabschiedet. Bei näherer Betrachtung zeigte sich aller-
dings, daß je nach Produktions- und Rezeptionsbedingungen, je nach Gat-
tung und Gebrauchszusammenhang und je nach Geltungsanspruch Texte von
ganz unterschiedlicher Festigkeit nebeneinander stehen. Der Verzicht des
Editors auf eine vorgängige Entscheidung, die die eine Version zugunsten der
anderen abwertet, hat auch hier den Blick auf unterschiedliche Interpreta-
tions- und Aneignungsmöglichkeiten geöffnet. Demonstriert wurde dies etwa
von Joachim Bumke in seiner überlieferungsgeschichtlichen Analyse und
anschließenden Edition der Nibelungenklage, eines Textes also, der, wenn
auch nicht zum Kanon gehörig, mit einem Kanontext eng verbunden ist.
Unter interpretatorischem Aspekt stellt sich hierzu die Diskussion um den
alternativen Schluß im Iwein von Hartmann von Aue. ›Unfest‹ bedeutet hier
nicht richtungsloses Oszillieren, sondern das Nebeneinander zweier gleich-
berechtigter, konkurrierender ›Fassungen‹.
Damit ist das Problem des Autors aufgeworfen. Auch hier ist man über die
vorschnelle Übertragung moderner Vorstellungen vom ›Verschwinden des
Autors‹ rasch hinausgekommen, indem man jedoch andererseits das häufig
bedenkenlos ins Mittelalter projizierte moderne Bild vom selbstmächtigen
Autor, der alle Parameter seines Textes kontrolliert, verabschiedete. Die
Gesamtheit der Funktionen, die man dem Autor seit etwa 200 Jahren zu-
schreibt, ist nicht auf das Mittelalter übertragbar, wohl aber einzelne ihrer
Komponenten. So trifft man im Mittelalter auf Vorstellungen von Autor-
schaft, wenn auch anderen Typs. Für das besondere Profil des Autors im
Mittelalter sind vor allem von Bedeutung der seit dem 12. Jahrhundert sich
langsam in der Volkssprache vollziehende Übergang von Mündlichkeit zur
Schriftlichkeit, die Reproduktionspraxis innerhalb der Manuskriptkultur, die
dem Verfasser eines Werks keine dauernde Aufsicht über dessen Verbreitung
erlaubt, schließlich die Lizenzen, die dem Abschreiber eines Werks für den
eigenen oder fremden Gebrauch gegenüber dem vorgefundenen Wortlaut
Einführung 5

eingeräumt werden. So wenig jeder Schreiber schon ein Autor ist, so wenig
kann der Verfasser eines Textes verhindern, daß andere diesen Text für ihre
besonderen Bedürfnisse bearbeiten.
An Probleme dieser Art knüpften die Vorlagen für diese Sektion an. Klaus
Grubmüller und Bruno Quast setzen dem Konzept des ›unfesten Textes‹ das
Bemühen mittelalterlicher Autoren um den festen Text entgegen. Quast
konzentriert sich dabei auf die Urstende des Konrad von Heimesfurt, der sich
in seltener Explizitheit dagegen verwahrt, daß jemand die von ihm erarbeitete
Textgestalt korrigiert. Konrad spricht von seinem werc, wählt einen in der
neueren Ästhetik zentralen Begriff, von dem Quast jedoch nachweist, daß
damit nicht eine abstrakte Textgestalt gemeint ist, unabhängig von ihrer
materiellen Realisierung, sondern darin drei Komponenten zusammenkom-
men: die materia, von der die Rede ist, die besondere Gestalt, die ihr der
Dichter gegeben hat, und schließlich die konkrete Handschrift. Weitere
Beispiele belegen, daß insbesondere Texte mit normativem Geltungsanspruch
(häufig geistlichem Gehalt) auf diese Weise vor willkürlichen Eingriffen
geschützt werden sollen. Die Vorstellung einer gültigen Gestalt eines gültigen
Gegenstandes kann allerdings auch implizieren, daß zwecks Annäherung an
die Idealgestalt Verbesserungen geradezu gefordert und dem Rezipienten
aufgegeben werden. »Textoffenheit und Textfestigkeit« schließen einander
nicht aus. Insofern kann auch »Offenheit … als eine Funktion des idealen
Textes firmieren«.
Grubmüller argumentiert in eine ähnliche Richtung. Sein Ausgangspunkt
ist zunächst die Kindheit Jesu des Konrad von Fußesbrunnen, dann eine
größere Anzahl weiterer Textstellen aus unterschiedlichen Gattungen. Zwi-
schen dem Insistieren des Verfassers auf der Integrität seines Textes und
dessen tatsächlicher Überlieferungsgeschichte klafft ein Widerspruch, der für
die mittelalterliche Manuskriptkultur typisch zu sein scheint. Die Bewahrung
des Wortlautes ist insbesondere dort gefordert, wo die Heilswirkung des
Textes zur Debatte steht. Aufrufe zu korrigieren und zu verbessern finden
sich dagegen in größerer Anzahl erst in spätmittelalterlicher Prosa, wobei
auch hier die Lizenzen unterschiedlich weit gehen und sich auf Unter-
schiedliches richten. Grubmüllers breites Belegmaterial macht deutlich, daß
es im Mittelalter durchaus ein explizites Autorbewußtsein gibt, das das
Bemühen um inhaltliche, vor allem dogmatische Korrektheit ebenso ein-
schließt wie die formale Gestaltung. Die Veränderung von Texten ist eine
Folge der Abschreibpraxis, also ein Phänomen der Schriftlichkeit, so daß sie
für die Vortrags- oder Aufführungssituation nicht in Anspruch genommen
werden kann.
Ursula Schulze ergänzt das Textspektrum durch Rechtstexte. Hier könnte
der normative Anspruch Bemühen auf Wortwörtlichkeit erwarten lassen,
doch führt Schulze vor, wie selbst dort, wo die wörtliche Wiedergabe von
Rechtsnormen behauptet wird, eine erhebliche Beweglichkeit im Wortlaut
herrscht. Sie betrifft »einzelne Wörter, Wortgruppen und deren Reihenfolge«,
auch Doppelformeln (denen man rechtsverbindlichen Charakter zuzuschrei-
ben geneigt ist) und selbst unmittelbar rechtsrelevante Sachverhalte. Auch wo
6 Jan-Dirk Müller

Wortwörtlichkeit behauptet wird, gibt es zahlreiche Abweichungen. Entschei-


dend ist die Identität des Inhalts, die jeweilige Rechtsnorm, jenseits ihrer
Realisierung auf der sprachlichen Oberfläche. Varianz ist eine »Begleiter-
scheinung einer sinngemäßen Textreproduktion«. Die volkssprachig abge-
wickelte Rechtspraxis scheint in gewissem Umfang immun gegenüber For-
mulierungsvarianten gewesen zu sein.
Das editionstheoretische Instrumentarium, das in Auseinandersetzung mit
der New Philology entwickelt wurde, ist Gegenstand im ersten Teil des
Beitrags von Albrecht Hausmann. Insbesondere befaßt er sich mit Problemen
des Begriffs Fassung, der ein Rezeptionsphänomen meine, obwohl er produk-
tionsästhetisch begründet werde. Hausmann exemplifiziert die mit dem Fas-
sungsbegriff zusammenhängenden Probleme an Hartmanns Iwein, näherhin
an den konkurrierenden Schlüssen mit bzw. ohne den Kniefall Laudines vor
Iwein. Er zeigt, daß es keine objektivierbaren textkritischen Kriterien dafür
gibt, die Plusverse in B als Ergebnis einer planmäßigen Erweiterung des
Textes bzw. die Minusverse in A als Ergebnis einer Reduktion zu erweisen.
Um aus dieser Aporie herauszukommen, schlägt Hausmann vor, die ab-
weichenden Schlüsse jeweils am »Kerntextbestand« des Iwein zu messen und
ihre Konsequenz für diesen »Kerntextbestand« zu bedenken. In dieser Per-
spektive antworten beide Schlüsse in unterschiedlicher Weise auf eine Aporie
des Textes und sind insofern »Symptome einer Textidentität«, »welche jen-
seits des Wortlauts in einer prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Textes«
liege. Hausmann schlägt damit einen dynamischen Textbegriff vor, der offen
ist für Bearbeitungen durch Autor wie Überlieferung.
Rüdiger Schnells plakativ ›Vom Sänger zum Autor‹ betitelter Beitrag
untersucht mittelhochdeutsche Minnelyrik als Phänomen zwischen Münd-
lichkeit und Schriftlichkeit. Im Liedvortrag erscheine der reale Sänger als
Bezugspunkt des Text-Ichs. Der Sänger kann, muß aber nicht mit dem
Verfasser des Liedes identisch sein. Die Sprecherrolle kann sich in unter-
schiedliche Funktionen aufspalten, die des Sängers und die des Liebenden.
Beide können zusammenfallen, auseinandertreten, in ihrer Relation reflek-
tiert werden. Mit der Verschriftlichung beginnt sich gegenüber diesen vielfäl-
tigen Referentialisierungsmöglichkeiten ein Interesse an dem einen Autor als
dem Referenzpunkt des textinternen Ichs durchzusetzen: in Autorenbildern,
in razos und vidas, dazu in Beglaubigungsmitteln wie Wappen und Namen.
Während der Bezug auf den vortragenden Sänger vielfach offen bleiben
kann, wird jetzt eine enge Beziehung zwischen der Ich-Instanz des Textes
und seinem Verfasser angestrebt.
Die New Philology rückte auch die Illustrationen mittelalterlicher Hand-
schriften ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Eines der interessantesten Bei-
spiele im deutschen Mittelalter sind die illustrierten Handschriften des sog.
›Exemplars‹ Heinrich Seuses mit ihrem Bilderzyklus vor allem zur Vita.
Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler diskutieren zunächst das Ver-
hältnis von Autornamen und Buchtiteln und das Zurücktreten des Autors
hinter sein Buch, seine Inszenierung als bloßes Medium der Inspiration durch
Gott. Autorität wird nicht dem Verfasser, sondern seinem Buch zugeschrie-
Einführung 7

ben und diese Autorität wird durch Approbationsinstanzen verbürgt. In der


Rezeptionsgeschichte nun verschiebt sich das Interesse auf die Person des
Verfassers, der hinter dem Buch steht. Dies wird wesentlich durch das
Bildprogramm zur Vita gestützt, in dessen Zentrum der diener der ewigen
wisheit steht. Durch die Bilder wird der Text als Autobiographie rezipierbar.
Mit dem Druck verstärkt sich die Fokussierung auf den Autor noch einmal.
Auch hier also ist ›Autor‹ das Ergebnis eines überlieferungsgeschichtlichen
Prozesses.
Die Beiträge setzen also exemplarisch an Problemen an, die im Rahmen
der New Philology diskutiert werden. Wenn mit exemplarischem Vorgehen
immer auch Lücken verbunden sind, so gelang es doch, wesentliche Eck-
punkte zu thematisieren: der Gattungsgeschichte (Bibeldichtung, höfischer
Roman, Rechtstexte, Lyrik, religiöse Mystik), der Materialität der Kom-
munikation (Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Bild), der Ebenen von Varianz
(Textoberfläche, thematischer Kern, Werkkonzeption), der Ich-Instanzen der
Rede (Sänger, autobiographisches Subjekt, Autor).
Verändern und Bewahren
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter

Klaus Grubmüller (Göttingen)

Dâ disiu rede geschriben was


an ein buoch unt ich si las,
hêt ich ir mêre funden dâ
od in ander buochen anderswâ
od in gewæren mæren vernomen,
ich wær ir noch niht ze ende chomen.
ich hête gern dar an geleit
mînen flîz unt mîn arbeit:
swer sich nu dar an richet
unt ez baz oder anders sprichet
unt sezzet sîniu spel dar zuo,
des dunchet mich, er missetuo,
wan er entêrt selbe sich.
der ir begunde, daz bin ich
von Fuozesbrunnen Chuonrât,
unt ez ouch volendet hât.
swelch mîn vriunt mich âne haz
nu meldet, dem enphâhe ich daz
ze guote, ob er mir etwaz
zeiget, dar an ich ze laz
bin gewesen unt vergaz
der mâze unt ez unrehte maz:
sô snüer ich gern ein anderz baz.
(Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu,
Vv. 3005–3027).1

Konrad von Fußesbrunnen, der hier so selbstbewusst die Autorschaft an


seiner Dichtung beansprucht und daraus das Recht ableitet, sie in der von
ihm geschaffenen Form bewahrt, sie ohne Eingriffe durch Dritte weiter-
gegeben zu sehen, der sich sogar vorbehält, über Änderungsvorschläge selbst
zu entscheiden, stellt sich auf geradezu verstockte Weise gegen die Erkennt-
nisse der neueren Forschung. Von ihr hätte er lernen können, dass er anderes

1 Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu, Kritische Ausgabe von Hans Fromm
und Klaus Grubmüller, Berlin, New York 1973.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 9

als Veränderung nicht erwarten durfte: »L’écriture médiévale ne produit pas


de variantes, elle est variance. […] La variance de l’Œuvre médiévale est son
caractère premier, altérité concrète de la mobilité discursive, figure d’un écrit
prémoderne […].«2 »Wenn es zum Prinzip mittelalterlicher Texte gehört, daß
sie variabel sind«3, dann gibt es also zumindest einen Autor, der sich diesem
Prinzip nicht fügt, dann ist nicht nur für uns, die wir angeblich aus der
»moderne[n] Schriftlichkeit […] nur noch feste Texte« kennen,4 »der Ge-
danke, daß Texte prinzipiell variabel« sind, »schwer zu realisieren«.5 Wenn
aber, wie leicht zu zeigen ist, Konrad von Fußesbrunnen mit seiner sperrigen
Haltung gegenüber dem vermeintlichen Zeitgeist nicht alleine steht,6 dann
müssen sich Zweifel gegenüber der Diagnose dieses Zeitgeistes einstellen,
dann muss z. B. danach gefragt werden, wie sich variance als Kategorie der
Textverbreitung zu variance als Kategorie der Textproduktion und damit auch
des Autorbewusstseins verhält, ob die seit langem beobachtete7 Veränderlich-
keit von Texten und ihre ausdrückliche Hinnahme auf der einen, der Protest
gegen sie auf der anderen Seite etwa auf bestimmte Gestaltungsschichten
bezogen sind (vereinfacht z. B.: stoffliche vs. formale Korrektheit), wie sie
sich im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit anordnen, ob es

2 Bernard Cerquiglini, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris


1989, S. 111 f.
3 Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen zur
Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert,
Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kultur-
geschichte 8), S. 54.
4 Damit ist der Realität der modernen Schriftlichkeit in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts nicht Rechnung getragen, wie sie in der medienkritischen Literatur seit
Marshall McLuhan (Understanding Media. The Extensions of Man, New York u. a.
1964) und in der Kulturtheorie der Postmoderne vielfach diskutiert worden ist. Die
neue Aufmerksamkeit der Forschung auf die medialen Grundlagen der mittel-
alterlichen Literatur dürfte im Gegenteil gerade von der Auflösung einer verbindli-
chen Schriftkultur in der Medienvielfalt der Gegenwart ausgelöst sein, auch wenn
das in der Regel nicht bewusst wahrgenommen wird.
5 Bumke, Nibelungenklage (Anm. 3), S. 54.
6 Dazu mit einigen Beispielen schon Rüdiger Schnell, »›Autor‹ und ›Werk‹ im
deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven«, Wolfram-
Studien 15, 1998, S. 12–73. Einschlägige Äußerungen mittelalterlicher Autoren
finden sich besonders im Zusammenhang von Julius Schwieterings Sammlungen
zur Demutsformel (»Die Demutsformel mittelalterlicher Dichter« [1921], in: Julius
Schwietering, Philologische Schriften, hg. v. F. Ohly und M. Wehrli, München 1969,
S. 140–215) und bei Helga Unger, »Vorreden deutscher Sachliteratur des Mittel-
alters«, in: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der
älteren deutschen Literatur, hg. v. I. Glier u. a., Stuttgart 1969, S. 217–251.
7 Knapper Überblick dazu bei Joachim Bumke, »Untersuchungen zur Überlieferungs-
geschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die Herbort-Fragmente aus
Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane«, ZfdA 120,
1991, S. 257–304, hier S. 286–288. Wie variabel sich die Verhältnisse im Detail
darstellen können, zeigt z. B. mein Aufsatz: »Die Viten der Schwestern von Töss
und Elsbeth Stagel. Überlieferung und literarische Einheit«, ZfdA 98, 1969, S. 171–
204. Zum Forschungszusammenhang Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Histori-
sche Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahr-
hunderts, Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), S. 233–258.
10 Klaus Grubmüller

sektorale Verteilungen der Variabilität von Texten etwa nach Stoffen, Gattun-
gen, Lebensbereichen, Sprachen und Sprachniveaus oder auch Autorentypen
gibt, ob z. B. die Vorstellung richtig ist, dass es die Ich-Proklamationen der
Autoren seien, die die Integrität der Texte sicherten und dann deren »ästhe-
tischer ›Überschuß‹«,8 oder ob der Aufruf zur Korrektur und Bereitschaft zur
Veränderung sich auf die ›Sachliteratur‹ konzentriere und dort aus dem
Zurücktreten der Verfasser hinter die zu vermittelnden Fakten folge.9 Wenn
diese Fragen geprüft sind, dann wird vielleicht auch zum Vorschein kommen,
dass Literatur und Kultur des Mittelalters nicht nur aus der Präsenz des
Zeichens, der Geste, der Aufführung zu verstehen sind,10 der Text nicht nur
als ›event‹ zu begreifen, sondern dass die historische Signatur der Epoche im
Gegeneinander, vielleicht in der Durchdringung dieser Kultur der Performanz
mit einer etablierten und geschichtsmächtigen Schriftkultur zu sehen ist. Von
diesem Prozess wissen wir noch viel zu wenig. Seine Erforschung verspricht
mehr historische Erkenntnis als der einfache Austausch des einen Paradigmas
gegen das andere.

Unbestritten ist, dass Äußerungen wie die Konrads von Fußesbrunnen auf die
Veränderung von Texten durch Schreiber oder Bearbeiter als gängige Praxis
verweisen. Unbestreitbar ist auch, dass Konrads Protest dagegen wenig
Erfolg hatte: Die Kindheit Jesu variiert in Textbestand und Formulierung
erheblich zwischen den einzelnen Textzeugen; dass sich dabei Gruppierun-
gen ergeben (z. B. häufige Allianzen zwischen den Haupthandschriften AC
und dem umfangreichen Fragment L gegenüber Hs. B und den Fragmenten H
und I) tut wenig zur Sache, weil keine Konsequenz herrscht und andere
Konstellationen jederzeit möglich sind.
Die Veränderungen betreffen auch den Gesamtaufbau des Werkes: gleich
zu Beginn ist im gemeinsamen Text aller Textzeugen auf ein vorausliegendes
liet eines meister Heinrîch verwiesen, in dem die Jugendgeschichte Mariens
und die Erwählung Josephs zu ihrem Gemahl erzählt werde. In den Hand-
schriften B und L erklärt der Erzähler, dass er die Verlobungsgeschichte
überspringen werde:

8 Schnell, Autor und Werk (Anm. 6), S. 63.


9 So Unger, Vorreden (Anm. 6), auch Schnell, Autor und Werk (Anm. 6), S. 63 f.
10 Die Literatur dazu ist inzwischen uferlos. Hier möge der Hinweis auf eine
Programmschrift (Peter Czerwinski, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zykli-
sche Zeiten: Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter, München
1993) und auf einen Vorgängerband genügen: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittel-
alter und Früher Neuzeit, DFG-Symposion 1994, hg. v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart,
Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17).
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 11

Daz verswîge ich hie durch einen list,


want ez vor mir getihtet ist.
ich velschet mîne chunst dar an,
swelch matêrie ein ander man
den liuten hât gemachet chunt,
wold ich die tihten anderstunt11. (Vv. 129–134)
Handschrift C hingegen gibt eine Zusammenfassung dieser Episode in 102
Versen, Handschrift A aber verzichtet mit dem ausdrücklichem Hinweis, dass
man dies an dem ersten getihte (damit muss das des unbekannten meister
Heinrîch gemeint sein) suchen solle, gleich auf die gesamte Geburtsge-
schichte Christi (Vv. 139–1316, das ist fast ein Drittel des Werkes) und setzt
erst mit dem bethlehemitischen Kindermord wieder ein.
Konrad von Fußesbrunnen, so könnte man sagen, wusste also sehr wohl,
wogegen er sich verwahrte: gegen eine ›Verstümmelung‹ seines Werkes aus
Gründen der Stoffökonomie. Dabei steht allerdings durchaus in Frage, ob
derjenige, der sich im Epilog (s. o.) so selbstbewusst mit Namen nennt und
auf die Integrität seines Werkes pocht, auch der ist, der das Überspringen der
Verlobungsgeschichte auf künstlerische Gründe zurückführt (ich velschet
mîne chunst dar an, s. o.). Dafür spricht freilich, dass beide Passagen mit
dem gleichen Ich-Pathos des Künstlers vorgetragen sind, während die Ergän-
zung in C ebenso wie die Auslassungsbegründung in A ganz unpersönlich
formuliert sind und damit ein Erzähler gar nicht in Erscheinung tritt. Ob
dieser Konrad von Fußesbrunnen nun der ›Autor‹ des ›Werkes‹ ist oder nicht,
kann getrost dahingestellt bleiben. Mag er der Redaktor der BC-Fassung sein
(beide enthalten seinen Epilog) oder auch nur der der C-Fassung (nur sie
enthält die ›persönliche‹ Überleitung): in jedem Falle gibt er sich als Person
zu erkennen, die auf ihre Autorschaft pocht, den Anspruch auf die Unantast-
barkeit eines literarischen Produktes erhebt und dies aus seiner Integrität als
›Künstler‹ begründet. Diese Integrität ist – selbstverständlich – nicht einfach
ästhetisch fundiert, sie ist vielmehr dreifach verankert:
– sie stützt sich auf die sorgfältige und pflichtgemäße Wahrnehmung der
Aufgabe des Dichters als Überlieferers des Wahren nach sorgfältigem
Quellenstudium und Legitimierung aus schriftlicher (!) Tradition (Vv.
3005 f.: Dâ disiu rede geschriben was / an ein buoch unt ich si las),
– sie stützt sich auf die Entscheidung des Autors über den Gegenstand, auf
den er sein künstlerisches Vermögen richtet (das noch nicht – volks-
sprachig – Erzählte: ich velschet mîne kunst dar an, / swelch matêrie ein
ander man / den liuten hât gemachet chunt / wold ich die tihten anderstunt
[Vv. 131–134]),
– sie stützt sich auf die Beherrschung der Kunstregeln durch den Autor, aus
der die Kompetenz folgt, über Verbesserungsvorschläge und Kritik zu
entscheiden (Vv. 3027: sô snüer ich gern ein anderz baz).

11 In der Ausgabe schreiben wir an der stunt. Das trifft den Sinn nicht; es geht hier
um die überflüssige Wiederholung: ›ein zweites Mal, erneut‹.
12 Klaus Grubmüller

II

Konrads poetologische Reflexionen über die Integrität des Werkes richten


sich auf Konzeption und Kunstform; sie nehmen die gewöhnlichste Form der
Textveränderung gar nicht in den Blick: die gewissermaßen ›unbedachte‹,
d. h. ohne eigentliche Gestaltungsabsicht sich ereignende Veränderung beim
Abschreiben, wie wir sie alle kennen und wie sie auch im Mittelalter immer
wieder konstatiert und korrigiert worden ist:
sô der tôt her gêt, sô fleucht er sein pein in dem hirn und singt alsô süezicleich unz
er stirbt. aber daz puoch hât ze latein: instante morte figit pennam in cerebro. daz
spricht: wenne der tôt kümt, sô stekt er ain federn in daz hirn. daz hât niht sinnes,
dâ von hât der schreiber gevaelt und schol sprechen: fugit penam in cerebro, daz
spricht: er fleuht des tôdes pein in dem hirn mit seinem süezem gesang, wie daz sei,
daz daz herz indes leid.
(Konrad von Megenberg, Buch von den natürlichen Dingen,
III,14, zum Schwan)12
Da die ›Willkür‹ der Schreiber keine Frage der Berufsmoral ist, sondern eine
der Einstellung zur Vorlage (und gewiss auch eine der praktischen Möglich-
keiten und der Umstände: dass sie zu Verlesungen, Unaufmerksamkeiten,
Missverständnissen, also zu nicht tolerierten ›Fehlern‹ führen, braucht man
nicht zu leugnen), scheint gerade die ›unwillkürliche Willkür‹ beim Ab-
schreiben die unbestreitbarste, weil der bewussten Reflexion entzogene Spur
zum ›offenen Text‹ des Mittelalters zu legen. Allerdings: sie ist bereits im
Mittelalter alles andere als unbestritten.13
Mit rimen schon zwigenge sint disiu lieder worden
gemezzen rechter lenge, dar in ein don nach meister sanges orden.
ze vil, zeklein, des werdents liht verswachet.
her Wolfram si unschuldic, ein schriber dicke recht unrihtic machet.
(Albrecht, Jüngerer Titurel, Str. 499A)14
Ouch sült ir mir durch zuht vergeben,
Ob etslich rîm niht stê gar eben!
Swer tihten künne, der snîde si baz
Mit mînem dienst ân allen haz:
Wenne schrîber unverstandenheit
Hât getân mir manic leit,

12 Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg. Die erste Naturgeschichte in
deutscher Sprache, hg. v. Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861, S. 174.
13 Vgl. dazu auch unten S. 26 zur Klage Heinrichs von Hesler in seiner Apokalypse:
Sterbe ich, so wirt lichte / Vorkart min getichte, / Daz der schriber misseschribet /
Unde immer also blibet (Vv.1349–1352).
14 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Nach den ältesten und besten Hand-
schriften kritisch hg. v. Werner Wolf, Bd. I (Strophe 1–1957), Berlin 1955 (DTM
45). Diese Strophe zitiert Jakob Püterich von Reichertshausen unmittelbar nach
seiner Klage um die verdorbenen Titurel-Exemplare, die ja ebenfalls in diesen
Zusammenhang gehört (Der Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen, hg. v.
Fritz Behrend und Rudolf Wolkan, Weimar 1920, Str. 142 f.).
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 13

Swenne si mir niht volgen wollten


Und anders schriben denne si solten:
Uf erden ist niht sô gar volkumen,
Daz ez dem wandel sî benumen.
(Hugo von Trimberg, Der Renner, Vv. 24 516–24525)15
ouch hân dî rîmen recht gebint:
ist daz man andirs icht dâ vint,
dî schrîber daran schuldic sint
und ich sal blîben unbehônt.
(Nikolaus von Jeroschin, Deutschordenschronik, Vv. 26 663–26666)16
Albrechts entschuldigender Vermerk zur Zerstörung der Versstruktur durch
Schreiberfehler in den nachträglich eingeschobenen Hinweisstrophen auf
Wolframs Fragment und Hugos von Trimberg Klage über das Unverständnis
der Schreiber am Ende des Renners (die übrigens von einigen Schreibern –
den aufmerksameren? – weggelassen wurde)17 sind nur zwei besonders
prominente Zeugnisse dafür, dass man sich den Schreibern keineswegs
klaglos ausgeliefert hat; Nikolaus von Jeroschin mag belegen, dass diese
Haltung nicht etwa auf Werke von besonderer Artifizialität oder heraus-
ragender Gelehrsamkeit beschränkt war.
Es werden also durchaus Sorgfalt und Genauigkeit eingefordert, ohne dass
freilich ganz deutlich würde, was das Maß abgibt für den hier erhobenen
Anspruch auf Texttreue. In erster Linie ist es offenbar die korrekte formale
Gestalt des Werkes, also der Nachweis der Beherrschung der Kunstregeln in
Vers- und Strophengestaltung, um den es den drei Autoren (und neben
anderem auch Konrad von Fußesbrunnen, Vv. 3024–3026) geht. Nicht aus-
drücklich thematisiert ist hier jedenfalls die Frage, wie weit die Beschädi-
gung der Kunstform auch den Sinn beeinträchtigt, auch wenn Albrechts
Generalisierung das nicht ausschließt: ein schrîber dicke recht unrihtic
machet.
Zusätzliche Dimensionen gewinnt die Forderung nach Bewahrung des
Wortlautes dort, wo Heilswirkungen an die Texte gebunden sind. Der Ver-
fasser der ostmitteldeutschen Judith von 1254 (so die in den Vers ein-
formulierte Datierung)18 will durch sein Buch den Leser zur rechten, d. h.
geistlichen, Weisheit führen und ihm die Erfahrung der Seligkeit in der Liebe
zu Gott zuteil werden lassen. Zu diesem Zweck solle es eifrig und sorgfältig
(vlizeclich) gelesen werden:

15 Der Renner von Hugo von Trimberg, hg. v. Gustav Ehrismann, Tübingen
1909–1911.
16 Ernst Strehlke, »Di Kronike von Pruzinlant des Nicolaus von Jeroschin«, in:
Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis
zum Untergange der Ordensherrschaft, Leipzig 1861, Bd.1, S. 303–624.
17 Die Verse 24 520–24523 fehlen in den Handschriften JBU, die in Ehrismanns
Ausgabe die Klasse I repräsentieren.
18 Judith. Aus der Stuttgarter Handschrift HB XIII 11, 2. Aufl. besorgt von Hans-
Georg Richert nach der Ausgabe von Rudolf Palgen, Tübingen 1969 (ATB 18), zur
Datierungsfrage p.VII-XI.
14 Klaus Grubmüller

du und alle die da mite,


die in geistlichem site
lesen vlizeclich diz buch,
die ouch rechet der gotes ruch
mit gnaden verre uber mich,
die mugen vil wol geistlich
werden von rechter wisheit,
die geistlich diz buch in seit.
ez hat sinnenriche wort.
swer rechte merket sinen hort,
den brenget wol die wisheit
zu gotes minne suzekeit,
die ez bezeichenlichen treit
und manigem toren ist verseit,
der da leit sine sinne
an irdische minne
und nie bevant zu keiner zit,
waz suze an gotes minne lit. (Vv. 2725–2742)

Wenn, wie an anderer Stelle (Vv. 669–671) gesagt ist, das Erzählte nicht als
fabula und damit nicht nach dem bloßen Buchstabensinn (V. 670: blozlich)
verstanden werden darf wie irgendeine Geschichte (V. 671: als ich dir schribe
ein mere), wenn die Heilserfahrung an die zeichenhafte Bedeutung des
Buches gebunden ist und an seine sinne[n]richen wort, dann wird das
korrekte Abschreiben mehr als ein Akt des Respekts vor Autor und Werk,
dann wird es zur notwendigen Voraussetzung für die Bewahrung der geist-
lichen Potenz des Gedichts und kann seinerseits ein Akt der Heilsgewinnung
werden; die Sorge um den sin möge nach dem Wunsch des Verfassers die
Vergebung der Sünden und die Aufnahme in das Buch des Lebens be-
wirken:

ich bit ouch vlizeclich hie na,


swer diz buch im schriben la,
daz er vlizic blibe,
daz man ez rechte schribe:
man mac verkeren in kurtzer zit,
daz manic sin dar nider lit.
da von so bit ich sere,
daz man ez icht verkere.
swer des mit vlize neme war,
dem tilie got sine sunde gar
und vure von im den ewigen vluch
und schribe in in der lebenden buch. (Vv. 2753–2764)

So ist korrektes Abschreiben nicht nur Voraussetzung für die Erfahrung


Gottes in der Schrift, es wird auch selbst zum Dienst an Gott. Aus dieser, vor
allem von den Kartäusern vertretenen Haltung kritisiert ein anonymer, wohl
diesem Orden angehörender Schreiber am Ende seiner Abschrift von Thomas
Peuntners Büchlein von der Liebhabung Gottes ganz generell die Tendenz
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 15

zum gedankenlosen Abschreiben und ruft zum sorgfältigen Korrekturlesen


auf:
Item es ist gar kuntlichen vnd offenbar das die abschreiber der pücher zu stunden
etlich wortter v"ber hüpffen vnd nicht schreiben von eylens wegen oder von v"berse-
hung wegen vnd besunder von vnfleißigkeit wegen dorumb beger ich durch gots
willen von den die diß puchlein werden abschreiben das sie es fleißigleichen allein
oder mit ymant wöllen v"berlesen noch dem vnd sie es haben abgeschriben dorumb
das es nicht gefelscht werd vnd wo sie denn etwas zu vil haben geschriben das sie
das selb sein abtilgen vnd wo sie etwas außgelaßen oder vberhupft oder falsch
geschriben haben das sie das selb erfüllen vnd rechtuertigen vnd wider schreiben
sein.19

III

Über Sorglosigkeit und Unachtsamkeit als die übliche, aber durchaus zu


beklagende Haltung der Schreiber geht die bedachte, jedenfalls nicht zu-
fällige Textveränderung hinaus. In der Einstellung dazu scheiden sich die
Geister. Denn nicht selten rufen die Autoren ausdrücklich zur Verbesserung
auf, andere wiederum, z. B. Konrad von Fußesbrunnen (s. o. S. 8), verwahren
sich gegen jede Korrektur durch andere. Wie verteilen sich Korrekturaufruf
und Protest?
1. Pauschale, allenfalls Sachkenntnis voraussetzende Korrekturaufrufe er-
scheinen erst in der – geistlichen wie weltlichen – Prosaliteratur des späten
Mittelalters häufiger. Sie reichen von der Ermächtigung zur Detailkorrektur
bis zur sprachlichen oder inhaltlichen Überarbeitung im Ganzen:
Der siechtag haisset inlatin podagra. (Ich waiß nit wie er in tútsche haisset; ob man
es haisset den tropffen, das waiß ich nit, wann wer es wisse, der setze es in das
o
buch)
(Michel Velser, Mandevilles Reisebeschreibung, S. 178, Z. 15–17)20
Wo aber jch geirret hab bitt jch zuo bessern. die dz lesen. oder abschreybent.
(Tristrant und Isalde, Z. 5190 f.)21
e
Ich han das mein getan unverfenclichen, wer das lißt und hort pesser es, und bitte
got auch fleissiclichen und ernstlich für mich.
(Meister Ingold, Goldenes Spiel, S. 84 Z. 19–21)22

19 Bernhard Schnell, Thomas Peuntner, Büchlein von der Liebhabung Gottes. Edition
und Untersuchung, München 1984 (MTU 81), S. 216.
20 Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel
Velser. Nach der Stuttgarter Papierhandschrift Cod. HB V 86 hg. v. Eric John
Morrall, Berlin 1974 (DTM 66).
21 Tristrant und Isalde. Prosaroman. Nach dem ältesten Druck aus Augsburg vom
Jahre 1484, versehen mit den Lesarten des zweiten Augsburger Druckes aus dem
Jahre 1498 und eines Wormser Druckes unbekannten Datums hg. v. Alois Brand-
stetter, Tübingen 1966 (ATB, Erg. 3).
22 Meister Ingold, Das Goldene Spiel, hg. v. Edward Schröder, Straßburg 1882
(Elsässische Literaturdenkmäler aus dem 14.–17. Jahrhundert 3).
16 Klaus Grubmüller

Vnde so wer dyt liest vnde mit vlysse besynnet der mach gunstlichen myrcken die
meynunge vnde besseren den synn deser materien.
(Der doernen krantz van collen, Köln: Johann Koelhoff 1490, Kolophon)23
Ist der drāme nit recht gedremet, so biedē ich daz er zu recht gekorigieret vnd
gestraft werde vō den die baß dremē konnen vnd baß gemachē mogen.
(Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, S. 333)24
So ich aller eigenlichest kund, so han ich des begunnen vnd gnumen von dem lattin
v e
einvaltiklich vnd och gar blossiklich die wort oder den sinn. Wer daz besseren will,
des bin ich gar fro vnd wùnsch im gottes lon, won mitt gebett vnd mit begierde, so
manen ich, fil vnwirdiger, daz es werde gerichtet von denen, die es bas an kùnsten
hand. Vnd als es mich geheissen ist, so wirt es gerichtet und ist.
(Sibilla von Bondorf, Legenda Sancti Francisci, Vorrede, S. 38, Z. 12–19)25
Wenn die Sachkunde in den Vordergrund gerückt wird, dann können solche
Verbesserungsappelle auch zu Huldigungsadressen genutzt werden,26 etwa
bei Thüring von Ringoltingen, der neben einem jegelichen, der sich des baß
wüsse zuo behelffen den ich, ganz besonders seinen Markgrafen auffordert, das er es
besseren, reformieren und corrigieren welle: wan er die sprache baß kann dan ich,27
oder bei Johann Hartlieb, der in der Vorrede zu seiner Andreas-Capellanus-Über-
setzung Herzog Albrecht VI. von Österreich auffordert:
wo ich darin uerhanndel, daz enpfilch ich ewren genaden ze pesseren, als ich dann
aller weishait vnd verstentnüss v"berfluzzigkait wol bey ewren fürstlichen genaden
wais vnd erkenne.28

2. In vielen Fällen richtet sich die Bitte um Verbesserung auf die sprach-
liche Gestalt des Werkes. Selten geht es dabei um Formulierungsfragen der
Prosa, obgleich auch dort die Sprachgestalt als verfügbarer Bereich gegen
den unverfügbaren Sinn gesetzt werden kann:

23 Dietrich Schmidtke, Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spät-


mittelalters. Am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982, S. 213 (Anm. 84).
Vgl. dort (S. 213) auch das Versbeispiel: kann nu ymant pessern dy lere, / der thu
es frolichen in gotes ere (Krautgartengedicht, 2. Fassung).
24 Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, aus der Berleburger Handschrift hg. v.
Aloys Bömer, Berlin 1915 (DTM 25).
25 Bonaventuras Legenda Sancti Francisci in der Übersetzung der Sibilla von Bon-
dorf, hg. v. David Brett-Evans, Berlin 1960 (Texte des späten Mittelalters 12).
26 Vgl. dazu auch die Dedicatio von Bernhards von Breydenbach Reise ins Heilige
Land an den Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg (Barbara Weinmayer,
Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffent-
lichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken, München 1982 [MTU 77]).
27 Thüring von Ringoltingen, Melusine, nach den Handschriften kritisch hg. v. Karin
Schneider, Berlin 1958 (Texte des späten Mittelalters 9), S. 128.
28 Alfred Karnein, De Amore deutsch. Der Tractatus des Andreas Capellanus in der
Übersetzung Johannes Hartliebs, München 1970 (MTU 28), S. 65, Z. 12–15.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 17

darumb hat ein yegklicher der soliches weyßt zuo besseren. macht vnd gewalt die
worte zuo verenderen vnnd zuouerseczen auff ander form wie jm geuelt. vnd doch
den sin der histori beleyben lassen. die dan als mich bedunckt gerecht ist.
(Wigoleis vom Rade, S. 235, Z. 2–5)29
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht aber – korrespondierend der Sorge um
die Bewahrung der Versgestalt bei Albrecht, Hugo von Trimberg und Niko-
laus von Jeroschin (s. o.) – die metrische Form; sie variiert den Bescheiden-
heitstopos von der unzulänglichen Beherrschung der Kunstregeln durch den
Verfasser:
o
Die guten tichtære
Pit ich durch ir ere
Und durch got michels mere
Daz si dez rechte nemen war
Swar ich dar an misse var
Von swaches sinnes chreft
Daz si es mit meisterscheft
o
Mir helfen vol furen
o o
Richtun und sturen
Behowen unde besniden.30
Daz sulen si nicht vermiden
Unde haben ez zeeinem spote.
(Otte, Eraclius, Vv. 128–139)31
Sît nu menglich niht enkan
latîn, dâvon nam ich mich an,
e
das ich es gerne brahte
e
ze tutsche, ob ich mehte
oder künde den rîmen eben
ir mes nâch rechtem loufe geben.
ob aber ich des nicht enkan,
sô sî erloubet iedem man,
das er âne mînen has
die rîmen zsemen rüege bas,
ob in kein rîme dunk zelank,
dâ wider ze kurz oder ze krank
villîht ir etlicher ist,
sô neme er im stunde unde vrist,
das er die zsemen messe.
ob ouch ich iht vergesse
mîn selbes an den worten,

29 Zitiert nach Alois Brandstetter, Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfi-
schen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Frankfurt a. M. 1971.
30 behouwen und besniden sind vers- und reimtechnische Termini, die den richtigen
›Zuschnitt‹ des Verses betreffen. Vgl. dazu neben den hier folgenden Textstellen
oben S. 12 Hugo von Trimberg, Renner, V. 24517 f., und unten S. 23 zu Konrads
von Heimesfurt Urstende, V. 13, und BMZ II, 2, S. 439.
31 Otte, Eraclius, hg. V. Winfried Frey, Göppingen 1983 (GAG 348), S. 4 (Fassung
B). In V. 139 schreibt Frey mit der Handschrift zedeinem.
18 Klaus Grubmüller

das sue niht ze allen orten


sint besniten nâch hovelichem site,
sô erzürnet nieman mich dâmite
ob er due wort besnîdet bas:
das will ich lâssen âne has;
wan mir wonet lüzel künste bî.
(Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch, Vv. 31–53)32
ein wil ich sîn der lîdent
und wil des flîziclîch begern,
daz mich sîn die besinten wern,
ob sî diz buoch mit flîze lesent
und die materje reht erlesent,
ob dann iender dhein mîn spruch
hab valschen buoz, unwirdgen bruch,
daz sî den tilgen unde schaben
und haben von mir jungen knaben
gunst und willen für diu werc.
(Heinrich von Beringen, Schachbuch, Vv. 10 696–10705)33
Zweifellos darf man solche Bekenntnisse zur eigenen Fehlbarkeit im künst-
lerischen Handwerk als ›berufsspezifischen‹ Ausdruck der grundsätzlichen
Mangelhaftigkeit des Menschen sehen. Damit steht allerdings nicht auch
schon fest, wem die Befugnis zur Korrektur zugestanden wird. Jedermann
darf das nur bei Konrad von Ammenhausen, bei Rudolf von Ems dürfen es
die Freunde:
e
Durch die wil ich min arbait
An dis getihte han gelait,
e
Das si mir genadic sint
e
Und mir gute machen schin
e
Und mine unkunst wol fugen
e
Und frúntlichen rugen,
Ob ich unkúnstliche han
e
Disen maren her getan:
Swas min frúnt mir fruindes rat
e
Ir zaiget an missetat,
Ob mir der rat ze staten stat
Unde mich niht under wegen lat,
Der lait an mich der trúwen wat
o
Und tut mir wol, swie ez ergat.
(Wilhelm von Orlens, Vv. 15 673–15686)34

32 Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen: nebst den Schachbüchern des


Jakob von Cessole und des Jakob Mennel, hg. v. Ferdinand Vetter, Frauenfeld 1892
(Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz 9).
33 Heinrich von Beringen, Das Schachgedicht, hg. v. Paul Zimmermann, Tübingen
1883 (BLVS 166).
34 Rudolf von Ems, Wilhelm von Orlens, hg. aus dem Wasserburger Codex der
fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk,
Berlin 1905 (DTM 2)
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 19

Sonst aber wird Kompetenz eingefordert: die guoten tihtaere sind bei Otte
zur Korrektur aufgerufen, die Verständigen (die besinten) bei Heinrich von
Beringen, und Heinrich von Kröllwitz trifft in seiner gereimten Vaterunser-
Auslegung aus den Jahren 1252–1255 sehr präzise Unterscheidungen: nur
diejenigen haben die Erlaubnis zum Eingriff in das Werk, die dies in guter
Absicht tun, es nicht zerstören (verkêren) wollen und vor allem über die
nötigen verstechnischen Fähigkeiten verfügen (Vv. 3978f.):
Sô nemach mich niht irvêren,
ob mir wol ist worden bruch35,
daz ich lîhte einen spruch
unrehte hân gesprochen;
sî ihtes dâ gebrochen,
dez muget ir iuch irgezzen
unde anders dar sezzen,
alsô daz ir sô sprechet,
daz ir die rîme icht brechet,
sô will ich lâzen âne haz,
ob ir kunnet gereden baz;
o
enkunnet ir aber des niht getun,
o
daz ir iuch niht wollet mun
sô lât die rede alsô beste
unde machet ir minner, noh mê,
dan als ich gesaget hân.
(Vaterunser-Auslegung, Vv. 3971–3986)36
3. Der Aufruf zu inhaltlicher Korrektur, so häufig er sich in der Prosa
findet, ist in Versepen selten. Er konzentriert sich auf die Marienleben:
Ouch sô bite ich alle, die
Sîn gelêret, swaz si hie
Ungewaeres vinden,
Daz sie daz widerwinden
Und ze rehte wellen staben
Alder von dem buoche schaben
Ald verbrennen ez gar,
Sô hât der nîdaere schar
Ze nîde kein ursuoche
Gägen disem buoche,
Wan ielîchem ist der gewalt
Diz buoch ze rihtenne bezalt

35 bruch meint hier ›Schade, Mangel‹ (Lexer I, Sp. 362): Die Bedeutung ›schadhafter
Vers‹ ergibt sich aus V. 3979, wo rîme brechen zweifellos für ›Verse zerstören‹
steht (vgl. dazu auch Lexer I, Sp. 344).
36 Heinrich’s von Krolewiz ûz Mîssen Vater Unser, hg. v. Georg Chr. Fr. Lisch,
Quedlinburg, Leipzig 1839 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Lite-
ratur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 19).
20 Klaus Grubmüller

Und, ob er will, daz er dar abe


Sînen valsch genôte schabe.
(Walther von Rheinau, Marienleben, Vv. 7280–7293)37
ouch bite ich al und tuon daz kunt,
den ditz buoch ze handen kumt,
ob sî vindent iht an deme
daz der wârheit widerzaeme
sî und den gelouben swache
und ouch valsche lêre mache,
daz si gar daz abe schaben
und daz niht langer bî in haben,
wand ich anders niht enger
dan Marîen lop und êr.
[…]
swer doch wil ditz büechelîn
bezzern mit den sinnen sîn
und mit getihte daz gemêren
ze lobe Marîen und ze êren,
dem wil ich gerne erlouben daz:
ich kann ez niht gemeistern baz.
(Philipp der Kartäuser, Marienleben, Vv. 10 094–10103, 10 110-10115)38
Die Formulierungen stehen ersichtlich in Zusammenhang mit der Haupt-
quelle der oberdeutschen38 Marienleben aus dem 13./14. Jahrhundert, der um
1230 entstandenen Vita beatae Mariae virginis et salvatoris rhythmica39, bei
Walther von Rheinau scheint sie als Übersetzungsvorlage unmittelbar
durch40:
Illud autem deprecor a viris litteratis,
Ut hec sique repererint que viam veritatis
Excedant, illa corrigant vel penitus abradant,
Vel si placet totum librum combustioni tradant.
Sic invidus non habet hic locum detrahendi,
Nec emulus inveniet causam hic mordendi;

37 Walther von Rheinau, Das Marienleben, hg. v. Edit Perjus, Åbo 1949.
38 Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben, hg. v. Heinrich Rückert, Quedlin-
burg, Leipzig 1853 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von
der ältesten bis auf die neuere Zeit 34).
39 Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica, hg. v. Dr. Adolf Vögtlin,
Tübingen 1888 (BLVS 180). Es handelt sich hier um den Prolog zum 3. Buch.
Walther wiederholt die Passage mit geringfügigen, aber charakteristischen Abwei-
chungen im Prolog zum 1.Buch (dort fehlt z. B. die Aufforderung zum Verbrennen)
und im Epilog (mit der Aufforderung zum Ergänzen, Korrigieren, Ausschaben oder
Verbrennen).
40 Walther übernimmt die Passage auch an den anderen Stellen (Vv. 5,6–24 und
Vv. 215,21–34) aus der Vita rhythmica. Philipp der Kartäuser hat an der zitierten
Stelle wohl die Prologpassage der Vita im Sinn; dafür spricht auch die Beteuerung,
dass alles dem Lobe Gottes diene.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 21

Nam cuilibet conceditur potestas corrigendi


Librum istum, vel si placet totum abradendi. (Vv. 3654–3661)

Dass sich die Aufforderungen zur Richtigstellung dessen, was als Wider-
spruch zur Wahrheit empfunden werde, im Bereich der apokryphen bibli-
schen Erzählungen häufen, wird kein Zufall sein. Es hat ganz offensichtlich
mit der besonderen ›Glaubwürdigkeitslücke‹ zu tun, wie sie schon in der Vita
rhythmica in der ausdrücklichen Berufung auf die authentischen Schriften
(V. 8: in autenticis scriptis) und damit in der Abweisung eines zu leichtfertig
ausgesprochenen Apokryphen-Verdikts sichtbar wird:
Si quis ut apocrifum hoc velit reprobare,
Caveat, ne veritatem presumat condempnare.
Et in locis singulis ponendi sunt auctores,
Qui sunt huius carminis verissimi doctores
Si qua tamen hic fortassis apocrifa ponantur,
Non idcirco perprudenter ut falsa condempnantur. (Vv. 33–38)41
In den deutschen Epen zeigt sich diese ›Glaubwürdigkeitslücke‹ darin, dass
die Autoren sich ganz besonders intensiv um die Absicherung ihrer Erzählun-
gen in konkreten Tradierungs-Konstruktionen bemühen:
– Walther von Rheinau versichert, weder Eigenes hinzugefügt, noch andere
Überlieferungen berücksichtigt zu haben (Vv. 5,16–24).
– Philipp der Kartäuser teilt mit (Vv. 10–15), alles zu künden, was diu schrift
uns sagt und was er in der weiten Welt erfahren habe (swaz ich gehôrt hân
und gelesen / von dir, swâ ich pin gewesen).
– Der Schweizer Wernher, der gleichfalls auf der Vita rhythmica fußt,
Dionysius Areopagita als fingierte Quelle übernimmt und auch auf das
Zeugnis der Evangelisten verweist (Vv. 47–51), setzt sich in einem langen
Einschub mit dem Vorwurf der fehlenden Verankerung seines Stoffes in
den Evangelien auseinander und verweist auf die Bücher der Lehrer:
Ob ir dar umb hie vindent út
Da von kain ewangelium nút
Seit noch úns bewiset,
Kainer sage priset,
Dar umb ist es doch nit gelogen,
Das iemant si da mit betrogen
Und es dúrfe han fúr spot:
Ich will die warhait hie von Got
Sprechen a(v)n liegen,
Niement da mitte triegen;
Und wer es wil fúr lugi han,
Der sol fúro selber gan
o
Es fragen und suchen
o
An der lerer buchen
Di zem ersten geschriben hant

41 Vgl. auch die Beiziehung angesehener Autoren als Gewährsleute (Vv. 25–30), z. B.
des Dionysius Areopagita als Verfasser des Transitus Mariae.
22 Klaus Grubmüller

Und och mit namen hie genant.


Doch vindet dar an iement út
Geschriben das im gevallet nút,
Das sprech er mit der warhait bas:
Dar umb bin ich im nút gehass;
o
Ich will es haben wol vergut
o
Wer es bas mit warhait tut;
o
Wan ich hie tun das min. (Vv. 6669–6691)42

– Auch Konrad von Fußesbrunnen hatte sich auf seine Quellenstudien be-
rufen (Vv. 3007–3010), und Konrad von Heimesfurt43 stützt sich in der
Urstende auf ein latînisch buoch, das er ins Deutsche übertragen wolle und
das auf einen Juden mit Namen Enêas zurückgehe, der als Augenzeuge die
Ereignisse bei der Kreuzigung Christi und seiner Auferstehung nieder-
geschrieben habe (Vv. 67 f.: daz tete er allez geschriben; / des sint diu
maere her beliben).44 Für Unser vrouwen hinvart konstruiert er eine lange
und ununterbrochene Überlieferung (Vv. 79–134), die gleichfalls bei ei-
nem Augenzeugen des Lebens und der Himmelfahrt Mariens, dem Apostel
Johannes, beginnt, über seine Aussendung nach Asien, die Gründung des
Bistums Sardiâ und die Inthronisierung des Fürsten Milito zu Konrads
Quelle Ps.-Melito von Sardes45 führt und auch den Akt der Übermittlung
noch rekonstruiert: Chorherren aus Laodicîa hätten bei Milito nach der
Wahrheit über Leben und Tod Mariens fragen lassen; er solle sie an einen
brief schribe[n]:
der vil heilige Militô
schreip in hin wider alsô
diu bescheidenlîchen maere,
als im ir phlegaere
sant Jôhannes seite,
wie ez ze ir hinleite
und ze ir antvange ergie.
alsô tuon ich iu, gebietet irz hie. (Vv. 127–134)

42 Das Marienleben des Schweizers Wernher, aus der Heidelberger Handschrift hg. v.
Max Päpke, zu Ende geführt von Arthur Hübner, Berlin 1920 (DTM 27).
43 Konrad von Heimesfurt, ›Unser vrouwen hinvart‹ und ›Diu Urstende‹. Mit Verwen-
dung der Vorarbeiten von Werner Fechter hg. v. Kurt Gärtner und Werner J.
Hoffmann, Tübingen 1989 (ATB 99).
44 Gemeint ist das apokryphe Evangelium Nicodemi, hg. v. Konstantin Tischendorf,
Evangelia apocrypha, 2. Aufl., Leipzig 1876, S. 333–432. Der jüdische Gewährs-
mann Enêas findet sich in dessen erstem Teil, den Gesta Pilati.
45 Es handelt sich um die von Monika Haibach-Reinisch (Ein neuer ›Transitus
Mariae‹ des Pseudo-Melito von Sardes. Textkritische Ausgabe und Darlegung der
Bedeutung dieser ursprünglicheren Fassung für Apokryphenforschung und la-
teinische und deutsche Dichtung des Mittelalters, Rom 1962) entdeckte Fassung
des apokryphen Transitus Mariae. Kurze Zusammenfassung zur Quellenfrage bei
Gärtner/Hoffmann (Anm. 43), S. XX-XXII.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 23

Bei allem Bemühen um Legitimierung durch Augenzeugenschaft und eine


ununterbrochene Traditionslinie reichen diese Überlieferungskonstruktionen
aber offensichtlich nicht aus, die Bedenken gegen die zweifelhafte Grundlage
dieser Geschichten nachhaltig zu zerstreuen. Die Konsequenzen, die die
Autoren daraus ziehen, sind allerdings ganz unterschiedlich.
– Diejenigen, die in der Nachfolge der Vita rhythmica stehen, sichern sich
bei ihren Lesern durch die Aufforderung zur Korrektur des Anstößigen ab;
die Vita rhythmica scheint als erste diesen Weg gewiesen zu haben.
– Die beiden anderen, Konrad von Fußesbrunnen und Konrad von Heimes-
furt, die die Vita rhythmica noch nicht kennen konnten, berufen sich auf
Instanzen von sehr unterschiedlicher Art.
Konrad von Heimesfurt immunisiert sich durch die Beistandsbitte an den
Heiligen Geist gegen jegliche Art von Unvollkommenheit, auch solche
metrischer Art (zu besnîden als verstechnischem Terminus s. o. Anm. 30),
die irgendeinen Eingriff in sein Werk auslösen könnte:
Chum herre heiliger geist
ze helfe, wan dû wol weist
mînen willen und mîn chraft,
daz ich niht sô redehaft
noch sinnes alsô wîse bin
daz ich disen begin
âne dich verenden müge,
daz er wîsen liuten tüge
ze erhœren und in wol behage,
swenne ich daz werc ze liehte trage
und ich ez an der strâze
sehen und hœren lâze,
daz ich ez sô besniten habe
daz mir iemen iht dar abe
mit pumz oder mit mezzer
schabe und mir bezzer
in dem margine dâ bî
des in dem blate vergezzen sî.
(Urstende, Vv. 1–18)
Konrad von Fußesbrunnen aber beansprucht die Autorität verantwortungs-
bewussten Künstlertums und steht mit seinem Namen für die formale (Vv.
3024–3026) wie für die inhaltliche (Vv. 3013–3017) Korrektheit seines
Werkes ein (Vv. 3018–3020):
der ir begunde, daz bin ich
von Fuozesbrunnen Chuonrât,
unt ez ouch volendet hât.
24 Klaus Grubmüller

IV

Mit dem Weg, den er einschlägt, ordnet sich Konrad von Heimesfurt in ein
wohl etabliertes Muster ein: die Inspiration des Dichters durch den Heiligen
Geist. Nur ist sie im Zusammenhang mit biblischen Stoffen strikter zu
verstehen als sonst. Sie verschafft Teilhabe an den Traditionsmaßstäben des
Wortes Gottes. Deren immer wieder eingeforderte wörtliche Tradierung hat
für die Bewahrung ihrer Authentizität zu sorgen; das Bemühen um die
Sicherung des Überlieferungs- und Auslegungsmonopols durch das Lehramt
der Kirche hat hierin seine Wurzel. In der Apokalypse des Johannes ruft
Jesus selbst zur Bewahrung seiner Worte auf:

Et dixit mihi: haec verba fidelissima et vera sunt et Dominus Deus spirituum
prophetarum misit angelum suum ostendere servis suis quae oportet fieri cito et
ecce venio velociter. Beatus qui custodit verba prophetiae libri huius (22, 6 f.)

und Johannes greift die Warnung auf:

Contestor ego omni audienti verba prophetiae libri huius: si quis adposuerit ad
haec, adponet Deus super illum plagas scriptas in libro isto, et si quis deminuerit de
verbis libri prophetiae huius, auferet deum partem eius de ligno vitae et de civitate
sancta (22,18 f.).

Diese Mahnung ist selbstverständlich auch im Deutschen – und auch außer-


halb der Bibelübersetzung – bekannt, spät wird sie z. B. in einem Meisterlied
des Hans Folz zitiert, früher im größeren Zusammenhang seiner Apokalyp-
sen-Übersetzung bei Heinrich von Hesler:

An dis gedicht pringt worlich mich Des halb gepeut er im ein zeyt
Ein tumer mit eim parat haw, Nach zu lossen, er gründ zu tiff,
Der über ser hochferticlich Ein weil er ym vil mer zu geit
Appocalipsim so genaw Dan ye Johannes geist durch liff.
Durch gründen meint uber die moß O herre Got, was narret groß,
Mer dan Johanes sach. Herczliches leits und ach,
Du tumer tichter, dir zeuchst zu!
Lernstu das a b c vor pas,
Tichtest ein tanczlidlein dar fur,
Das denoch do in dir kaum was,
Do du furnamst die hoen kür,
Hestu gehapt dein ru.
Sag: spurstu nicht
Was clerlich spricht
Der adelar
Do selbst fur war
Do er lauter vergicht:
»Wer hie vor meynen worten dut
Oder zu gipt, der ist verdampt.«
Hie all schrifft weis und hoch gelert
Über erschröcklich allesampt
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 25

Forchten das do icht wird verkert.


Dar um, ley, pis behut!
(Hans Folz, Meisterlied 9, Str. 5)46
Ich Johannes bezuge gar
Di prophecie wesen war
Beschriben in disme buche
Allen den di si mit ruche
Horen lesen und in gezimt.
Swer dar zu mer rede nimt
Wan hi inne stent beschreben,
Uf den werde getriben
Der plage serde di dort
Hie inne si und ouch vort;
So werde deme abziere
Got gehas, machinde lere
En des lebinden buches teil;
Nimmer werde her vreuden geil
Dort in der hemilischen stat
(Jerusalem si namen hat),
Dar zu im muze entwichen
Vroide, wunne, di hi strichen
Mit schrifte in dirre carten.
(Heinrich von Hesler, Apokalypse, Vv. 23 229–23247)47
Heinrich von Hesler nimmt diese von ihm übersetzte Aufforderung seines
Gewährsmannes zur Textbewahrung für sich selbst sehr ernst. In einem
ausführlichen Prolog stellt er die Notwendigkeit der buchstäblich genauen
und unveränderten Weitergabe dar. Dabei übernimmt er zunächst die Tradie-
rungs- und Konservierungsaufgabe des Johannes, aber nicht etwa nur dem
Sinne nach, sondern in der von ihm geschaffenen Form:
Und bittet uwer nachvarn
Daz sie diz wol bewarn
Vor wassere, vor brande.
Min sele stez zu pfande:
Got wil in den letzten valden
Der werlt diz buch wol behalden
Als gantz, als unzubrochen,
Als ich iz han gesprochen. (Vv. 1279–1286)
Nur unverändert könne es seine Heilswirkung, den Schutz vor dem Anti-
christ, entfalten:
So kan sie nicht vorleiten
Mit sinen trugenheiten
Der lugenspreche Endecrist
Uzer der ewigen genist. (Vv. 1299–1302)

46 Meisterlieder des Hans Folz. Aus der Münchener Originalhandschrift und der
Weimarer Handschrift Q. 566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen hg. v. August
L. Mayer, Berlin 1908 (DTM 12), S. 45 f.
47 Die Apokalypse Heinrichs von Hesler, hg. v. Karl Helm, Berlin 1907 (DTM 8).
26 Klaus Grubmüller

So muss Heinrich dafür Sorge tragen, dass diz buch uz allen buchen (V.
1304), das die ware urkunde (V. 1305) zu verbreiten hat, unde ist gerecht und
ist war (V. 1307), vor Eingriffen jeder Art geschützt bleibt. Er fordert
diejenigen auf, die die Absicht hätten, nach seinem Tode dise warheit mit
lugene (V. 1311) zu brechen, sich im Alten Testament, bei den Propheten und
bei Job, dann im Neuen Testament zu versichern, dass alles seine Richtigkeit
habe. Wer aber doch etwas Fehlerhaftes (Vv. 1324 f.: icht […] wandelberiger
sache) finde, der möge sich darum doch zu Lebzeiten des Verfassers be-
mühen:
Durchsuchet wort, durchsuchet sin
Und durchsuchet mine rime,
Swen ich wort zu worte lime;
Durchpruvet die materien
Und mit den ewangelien
Die sich hir in diz buch tragen –
Daz selbe tuent die wissagen –
So durchpruvet dan die glosen,
Als ich knoten muz zu losen
Uz tief gesprochem sinne.
Vint iemant icht dar inne
Dar an ich missespreche,
Rim oder sin zubreche,
Materien vorkere
Von unkunstiger lere,
Daz wider den gelouben si,
Daz sprich ich bie den namen dri,
Die ein war got sint unzuscheiden
Uber juden, cristen, heiden,
Al die wile daz ich lebe,
Daz ich des antworte gebe. (Vv. 1328–1348)
Wie Konrad von Fußesbrunnen besteht Heinrich von Hesler darauf, dass
Änderungen nur von ihm selbst vorgenommen werden, weil er für den Text
verantwortlich sein will. Seine Sorge gilt den Entstellungen nach seinem
Tode durch unaufmerksame Schreiber, die ihm zur Last gelegt werden
könnten; davon distanziert er sich vorsorglich mit einer vorweggenommenen
›Ehrenerklärung‹ (V. 1354: lumen = liumunt):
Sterbe ich, so wirt lichte
Vorkart min getichte,
Daz der schriber misseschribet
Unde immer also blibet.
Die rede vorchte ich vorsumen;
Dar von ticht ich disen lumen,
Ob einer durch itewiz
Oder lichte durch vorgiz
Eines rimes dar an vormisse,
Daz man hir vinde gewisse
Daz ich den rim nie valsch gesprach
Noch satz des rimes nien zubrach,
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 27

Und tun iz ouch durch den beruch


Daz lange stete sie min buch
Und mine kunst lange schine. (Vv. 1349–1363)

Es geht also ganz offensichtlich nicht nur um Änderungen dogmatischer Art


(daz wider den gelouben si), sondern auch um Verstöße gegen die Kunst-
regeln (daz ich den rim nie valsch gesprach …). An ihnen hängt sein Ruhm
als Dichter, und deshalb fordert er (nach einer ausführlichen Darstellung
seiner vers- und reimtechnischen Prinzipien, Vv. 1364–1465) auch die Kri-
tiker in diesem Punkte auf, sich sogleich (nu) zu äußern, so dass er selbst in
der Lage sei, über die Kritik zu befinden und allfällige Änderungen durch-
zuführen:
Swelch meister scharf gesune
Sinnes habe, der spreche nu,
Siet her daz ich unrechte tu,
Daz her mich des begruze,
Weder ich zu vil der vuze
Setze dar oder zu cleine. (Vv. 1466–1471)
Es ist nicht explizit gemacht, aber nach dem Argumentationsablauf liegt es
nahe, dass Heinrich von Hesler die in der Beglaubigung durch Gott und
durch den Evangelisten Johannes begründete Autorität seiner ›Vorlage‹ über-
trägt auf sein eigenes Werk, das ja nichts weiter sein will als deren Stellver-
treter für die dutsche zunge (V. 1295), und ausdehnt auf alle Gestaltungs-
ebenen, auf inhaltliche wie auf sprachliche Korrektheit. Beides ist offenbar
nicht von einander zu trennen, so wenig wie das Seelenheil und der Nach-
ruhm als Dichter.
Gott spricht als Autor nicht nur in der Bibel. Er kann sich den Gläubigen
auch direkt mitteilen. Die Visionsliteratur ist voll von ›Auditionen‹ unter-
schiedlichster Art, für deren Niederlegung in Schrift wiederum sehr vielfäl-
tige Konstruktionen gesucht werden.48 Sie haben alle den Sinn, die Au-
thentizität des Aufgezeichneten zu demonstrieren. Die verwirrende Über-
blendung von schreibendem Ich und göttlichem Autor, die Mechthild von
o gemachet?« »Ich han es
Magdeburg wählt (»Eya herre got, wer hat dis buch
49
gemachet an miner unmaht«) , ist sicherlich die anspruchsvollste Verarbei-
tung dieses spannungsreichen Verhältnisses, der Schreibbefehl durch den sich
offenbarenden Gott selbst die plakativste. Wörtlichkeit versteht sich dabei
gewissermaßen von selbst; eingefordert werden muss sie nur, sofern die
Weiterverbreitung des Aufgeschriebenen in den Blick genommen wird, so
z. B. – mit der sehr bezeichnenden Einschaltung eines männlichen Schreibers

48 Vgl. Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorge-
schichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tü-
bingen 1988 (Hermaea N.F. 56) und Susanne Bürkle, Literatur im Kloster (Anm.
7), bes. S. 294–301 zu Christine Ebners Offenbarungen.
49 Prolog zu Buch I. Genaueres dazu in meinem Aufsatz: »Sprechen und Schreiben.
Das Beispiel Mechtild von Magdeburg«, in: Festschrift Walter Haug und Burghart
Wachinger, hg. v. J. Janota u. a., Tübingen 1992, Bd. I, S. 335–348.
28 Klaus Grubmüller

– in der ja als ›öffentliches‹ Dokument zu verwendenden Regel des Birgitten-


ordens, die Gott selbst der Hl. Birgitta geoffenbart hat:
Ich wil dich underweisen und dir czaigen, was regeln und ordenunge in meiner
muter münster und closter czu halten ist, das wissentlichen sey, das vil heiliger
ainsidel und altveter von meinem gaist mangerley eingießung gehabt haben. Dar-
ümb alles, das du hörest in meinem gaist, daz bringe czu einem schreiber. Aber hüte
und beware dich in alle weise, das du kein eynniges wort deines gaistes seczest czu
meinen worten.
(Regel des Birgittenordens, adaptierte Fassung, S. 216, Z. 11–16)50
Andererseits kann Gottes Autorität auch geborgt werden:
Grot angest geit mek an;
ek vorchte, dat manich man
Dit buk wille meren
unde beginne recht verkeren
Unde te des an mich;
so wet mek Got unsculdich,
Den dar neman kan bedregen,
de wete ok, dat se legen,
Des ne kan ek nicht bewaren.
alle de unrechte varen
Unde werven an disseme buke,
den sende ek disse vluke,
Unde de valsch hir to scriven:
diu meselsucht mut en bekliven,
Alse siu Jezi gedede
van Heliseus gebede,
Dar ave Naaman wart irlost.
(Eike von Repgow, Sachsenspiegel, Reimpaarvorrede, Vv. 221–237)51
Die Integrität seiner Niederschrift des Rechts der Sachsen, die Eike von
Repgow hier in Anspruch nimmt und deren Beschädigung durch Zusatz oder
Veränderung er mit seinem Fluch belegt, gilt nicht einfach einer abstrakten
Rechtsnorm; denn ›sein‹ Recht ist das von Gott gesetzte Recht. Gott selbst
hat es den Menschen durch seine Propheten und geistlichen Lehrer (Textus
prologi: dat uns sine wissagen gelart hebben unde gude geistleke lude)
geschickt: Got is selve recht, dar umme is em recht lef (Prolog). Jede
Beschädigung ist also, wie bei der Bibel und bei anderen unmittelbaren
Kundgaben Gottes, Beschädigung seiner Botschaft, die den Verlust des
Seelenheils nach sich zieht:
Got heilant unde trost
De wreket an en also,
dat is diu sele unvro

50 Ulrich Montag, Das Werk der heiligen Birgitta von Schweden in oberdeutscher
Überlieferung. Texte und Untersuchungen, München 1968 (MTU18).
51 Sachsenspiegel, Landrecht, hg. v. Karl August Eckhardt, 3. Aufl., Göttingen 1973
(MGH. Fontes iuris Germanici antiqui. Nova series I, 1).
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 29

Werde mit sament deme live;


des duveles hantveste blive
Er scrift, dat he se have gewis,
de wile se unverdelget is.
(Reimpaarvorrede, Vv. 238–244)
Auch die im Dienste Gottes stehenden geistlichen Lehrer haben Anteil an
seiner Autorität. Ihr Zeugnis, das ist im Sachsenspiegel zu sehen, das hatte
aber auch schon Walther von Rheinau ausgesprochen, unterstützt das Wort
Gottes. Da es aber niemals mit ihm identisch sein kann, bedarf es der
besonderen Beglaubigung (z. B. durch die Offenlegung der Überlieferungs-
wege wie bei den apokryphen Stoffen) und des besonderen Schutzes. Bei-
spielhaft zeigt sich das in der Umdeutung der Klage des biblischen Job (Iob
19, 23–25) über seine unvorstellbaren und deshalb der Dokumentation be-
dürftigen Leiden
quis mihi tribuat, ut scribantur sermones mei? Quis mihi det ut exarentur in libro
stilo ferreo et plumbi lammina vel certe sculpantur in silice?

in die Sorge um die dauerhafte Bewahrung seiner Prüfungen (getwede):


Wer hilfet mir daz di getwede,
Di mine mercliche rede,
Geschriben werde mit vlize,
So daz sy nimant geryze
Uz dem gehugde der lute ?«
Vort aber gyt Job zu dute:
»Wer gibt mir das di rede min
Gar sunder allen valschen schin
Werde geschriben ineyn buch
Wol al der werlde zu gesuch,
In eyn perminte vlizeclich?
Und ist das nicht genugelich,
Di mine rede man schribe,
Also das si stete blibe,
Mit eynem gryffel yserin
In eyn blyen blechelin.
Ab nicht genugt eyn blyen blech
(Wan bly ist weich und hat gebrech,
Da von waz man uf bly schribet,
Nicht veste stet noch blibet),
Da von mine wort, der man darf,
Man wol mit eynem meyzel scharf
Grabe ineynen kyseling.
(Mitteldeutscher Hiob, Vv. 7781–7803)52

52 Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob aus der Handschrift des
Königlichen Staatsarchivs zu Königsberg, hg. v. Torsten Evert Karsten, Berlin
1910 (DTM 21).
30 Klaus Grubmüller

Der Schutz, den die Lehrer beanspruchen können, richtet sich nach ihrem
Rang. Wer, wie Hiob, gewissermaßen unmittelbar zu Gott ist, und in seinen
Prüfungen ein Dokument von Gottes Einwirken in die Welt vorzuweisen hat,
kann sich auf dessen Autorität stützen. Wer geistliches Recht weitergibt, darf
auf dessen Unantastbarkeit pochen, zumal dann, wenn er zur Überprüfung
und zur Richtigstellung von Verderbnissen und Zutaten der Schreiber auch
noch auf seine Vorlage oder gar auf die gelehrte Rechtsautorität Gratian
(decret) verweisen kann:
o
Vnd pit alle die di daz puch lesend oder schreibent, daz si nit da zü noch da von
seczen, dann daz not ist zeton, durch daz der recht syn der heyligen lerer nicht
gefelscht werd jn dem püch. Vnd wer zwyffel hat an dem puch oder an dem synn
oder an der zal der quoten vnd der capitel des decrets püch, die etwen vnrecht von
e
den schreyberen geseczt werden vnd vber sehen, der mag gen zue der Summen
o
Johannis oder zu dem decret vnd lesen nach seyner begir seiner sel sälichait.
(Bruder Berthold, Rechtssumme, Prolog, Bd. 1, S. 130, Z. 79–132, Z. 93,
hier Fassung B)53
Wer sich freilich nur auf sich selbst berufen kann oder berufen mag, der bittet
(zu seinem eigenen Schutz vor dogmatischen Irrtümern) um Korrektur:
Darumb pit ich in Christo Jhesu alle die, die es lesen oder hören lesen, ob ich
darinnen ichtes geseczet hiet, daz der warhait christenleiches gelaubens nicht
geleich we(a)r, des ich ye mit nichte mayn vnd beste(a)tt auch daz vor got, oder des
zeuil oder zu wenig we(a)r, daz si daz icht vnwirdichleich vnd neydichleich peyssen
vnd fraisleich reissen, sunder liepleich vnd prüderleich straffen vnd in ainen pessern
sinn bringen denn der ist, den ich geseczt han.
(Ulrich von Pottenstein, Vorrede zum katechetischen Gesamtwerk,
S. 2, Z. 24–30)54
Der Grad an demütiger Unterwerfung unter die Einsichtsfähigkeit und damit
die Kontrolle einer anonymen Öffentlichkeit von Schreibern und Lesern ist
freilich durchaus abhängig vom Selbstbewusstsein und der Selbsteinschät-
zung, sicher auch vom Bildungsstand und der Amtskompetenz der Autoren.
Ein an den besten Schulen und Studien ausgebildeter, als Lektor im Domini-
kanerorden tätiger, in der geistlichen Betreuung zahlreicher Frauenklöster
erfahrener Ordenslehrer wie Heinrich Seuse versucht, die Kontrolle über sein
Werk zu behalten. Die Zusammenstellung des ›Exemplars‹, seiner ›Ausgabe
letzter Hand‹, begründet er mit der Willkür, mit der unfähige und kennt-
nislose Schreiber und Schreiberinnen sein Werk, das (s.o) auch Wort Gottes
ist, behandelt haben:

53 Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung


der ›Summa Confessorum‹ des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der
Fassungen B, A und C, hg. v. Georg Steer u. a., Tübingen 1987–1991 (Texte und
Textgeschichte 11–17).
54 Ulrich von Pottenstein, Dekalog-Auslegung: Das erste Gebot. Text und Quellen,
hg. v. Gabriele Baptist-Hlawatsch, Tübingen 1995 (Texte und Textgeschichte 43).
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 31
e e
Wan aber daz selb buchli und etlichú me siner bucher nu lange in verren und in
nahen landen von mengerley unkunnenden schribern und schriberin ungantzlich
abgeschriben sind, daz ieder man dur zuo leite und dur von nam nach sinem sinne,
dar umb hat sú der diener der ewigen wisheit hie zuo samen gesezzet und wol
gerihtet, daz man ein gereht exemplar vinde nach der wise, als sú ime dez ersten
von gote in luhten.
(Heinrich Seuse, Prolog des Exemplars, S. 4, Z. 1–8)55
Und nicht nur, weil er den spekulativen und visionären Gehalt seiner Schrif-
ten, für dessen Absegnung er großen Aufwand getrieben hatte (Prolog zum
Exemplar, * S. 4, Z. 29 – S. 5, Z. 22), nicht erneut der Gefahr der Fehl-
deutung aussetzen will, gibt er in einer gesondert überlieferten Nachbemer-
kung zu den Büchlein der Ewigen Weisheit genaue Anweisungen für das
richtige Abschreiben und den richtigen, d. h. nicht willkürlich zerteilten,
Gebrauch des Werkes; es geht ihm auch um die Anerkennung und Bewah-
rung seiner geistigen Leistung, siner arbeit:
e
Swer dis buchli, daz mit fliss geschriben und geriht ist, well ab schriben, der sol es
alles sament eigenlich an worten und sinnen schriben, als es hie stat, und nút dar
zuo noh dur von legen noh dú wort verwandlen, und sol es denne einest oder zwirunt
hier ab durnehtklich rihten, und sol nút sunders dar us schriben, denne die hundert
o
betrahtung ze hindrost; die schrib dar us, ob er well. Wer im út anders tut, der sol
u
vúrchten gottes rach, wan er berobet got des wirdigen lobes und dú menschen der
bessrung und den, der sich dar zuo gearbeit hat, siner arbeit. Und dar umb, wer es
e
hier umb nit well lassen, das muss gerochen werden von der EWIGEN WISHEIT.
(ebd., S. 325, Z. 18–28)

In der Zusammenschau der verschiedenen Positionen und Aspekte ist – für


die deutsche Literatur des Mittelalters – festzuhalten:
1. Es gibt eine nicht geringe Zahl von Autoren, denen die Behandlung
ihrer Werke im Zuge von deren Weitergabe und Verbreitung nicht gleich-
gültig ist. Sie widmen ihr ihre Aufmerksamkeit, geben Anweisungen zum
richtigen Überliefern und warnen vor dem falschen. Das bestätigt zunächst –
selbstverständlich – die grundsätzliche Verfügbarkeit von Texten in einer
Manuskriptkultur und ihre Ablösung vom Autor. Aber: Veränderung und
Veränderlichkeit werden – unter jeweils zu beschreibenden Bedingungen –
nicht als selbstverständlich hingenommen.56 Jedenfalls gibt es keine Äuße-
rungen, die dies zu erkennen gäben.

55 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, im Auftrag der Württembergischen Kommis-


sion für Landesgeschichte, hg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, Nachdruck:
Frankfurt 1961.
56 In diesen Zusammenhang gehörte auch Bonaventuras berühmte Bestimmung des
Schreibers (scriptor) in Absetzung von compilator, commentator und auctor:
scribit alliena nihil addendo vel mutando. (Doctoris seraphici S. Bonaventurae
opera omnia. Commentarius in quatuor libros sententiarum magistri Petri Lom-
32 Klaus Grubmüller

2. Nirgendwo wird im Zusammenhang mit der Veränderung von Texten


Bezug genommen auf Vortrags- oder Aufführungssituationen. Wo immer von
Veränderung die Rede ist, handelt es sich um Veränderung beim Abschrei-
ben. Dass anderes bei Schriftzeugnissen nicht zu erwarten sei, kann kein
seriöser Einwand sein, wo doch einerseits das mouvance-Konzept gerade aus
den Vorstellungen zu Performanz und Mündlichkeit heraus entwickelt wor-
den ist (Zumthor) und andererseits ja auch die ›aufgeführten‹ Texte in Schrift
überführt oder von ihr ausgegangen sind – jedenfalls soweit sie uns zugäng-
lich sind.
3. Nirgendwo werden Schreibereingriffe akzeptiert, die auf nichts weiter
als auf Unaufmerksamkeit, Unkenntnis oder Willkür beruhen. Sofern Ein-
griffe zugestanden werden oder gar zu ihnen aufgerufen wird, sind sie immer
gemeint als Korrektur von sprachlichen und formalen Schwächen oder
inhaltlichen Irrtümern; im Bewusstsein der Autoren haben sie immer der
Verbesserung des Textes zu dienen.
4. Deutlich im Vordergrund steht die Sorge der Autoren um die Bewahrung
oder auch nachträgliche Herstellung einer korrekten Kunst- und Sprachform.
Das gilt ebenso für Verswerke wie – in freilich geringerem Maße (Wigoleis
vom Rade, Sibilla von Bondorf) – für Prosatexte, ebenso für weltliche wie für
geistliche Literatur (z. B. für Heinrichs von Kröllwitz gereimte Vaterunser-
Auslegung). Gerade diese bindet an die Bewahrung der korrekten Form
gelegentlich sogar die Heilswirkung der Texte (Judith, Heinrich von Hesler,
auch Konrad von Heimesfurt).
5. Sinn wird vor allem durch Zusätze und Auslassungen gefährdet. Die
Sorge um die Bewahrung oder auch die nachträgliche Herstellung des
korrekten Sinnes durch die Beseitigung von Irrtümern konzentriert sich vor
allem auf dogmatisch anfechtbare Überlieferungen, insbesondere auf die
Apokryphen. Ersatzweise werden hier zur Stützung der zweifelhaften Autori-
tät kontinuierliche schriftliterarische Traditionen konstruiert, für deren Gel-
tungskraft wiederum unveränderte Tradierung vorausgesetzt werden muss.
Wo dies nicht als ausreichend erachtet wird, steht – im Ausnahmefall Konrad
von Fußesbrunnen – die Kunstautorität des Autors für die Wahrheit ein.
6. Unbestreitbare Basis für die Forderung nach bewahrender Überlieferung
ist das Wort Gottes, sei es in der Botschaft der Bibel oder auch durch
unmittelbare Kundgabe. Daran kann angeschlossen werden z. B. durch die
Berufung auf göttliche Inspiration oder auch auf die Lehrautorität der Kirche.
Sie kann sich im Einzelfall verbinden mit dem autoritativen Selbstbewusst-
sein des Lehrers (Seuse).
7. Die Figur des Autors konstituiert sich in der Sorge um den richtigen
Text: in der Erfüllung der Kunstregeln und in der inhaltlichen, zumal dogma-
tischen Korrektheit. Diese Sorge kann zur Freigabe des Textes führen, aber
auch zur Übernahme der Verantwortung für den Text und damit zur Forde-

bardi, T. 1, Quaracchi 1882, S. 14 f. Zu dieser Stelle im Zusammenhang Alastair J.


Minnis, Medieval Theory of Authorship. Scholastic literary attitudes in the later
Middle Ages, London 1984, S. 94–103.
Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter 33

rung nach Bewahrung. In diesem (nicht in einem genieästhetischen Sinne)


gibt es auch im Mittelalter ›emphatische Autorschaft‹.57
Die hier vorgetragenen Beobachtungen müssten mit den Befunden zu
anderen volkssprachlichen Literaturen und vor allem zur lateinischen Lite-
ratur des Mittelalters verglichen werden. Sie sind auch gegen die Über-
lieferungsbilder der herangezogenen Texte zu halten. Was immer aber in der
Überlieferung geschieht, es kann das, was die Autoren wollen, nicht wider-
legen.

57 Anders akzentuiert Jan-Dirk Müller, »Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen


blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion«, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst
im Spannungsfeld von Hof und Kloster, hg. v. N. F. Palmer und H.-J. Schiewer,
Tübingen 1999, S. 149–166.
Der feste Text
Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes
aus Sicht der Produzenten

Bruno Quast (München)

Die gegenwärtige Diskussion um Begriff und Status des mittelalterlichen


volkssprachlichen Textes hat den Textproduzenten wenn nicht verabschiedet,
so doch weitgehend aus dem Blick verloren. Bernard Cerquiglini unterbreitet
in seinem mittlerweile berühmt-berüchtigten Buch ›Éloge de la variante‹1
eine Sicht auf den mittelalterlichen Text, nach der mittelalterliche Textualität
als prinzipiell im Fluss befindlich vorgestellt werden müsse. Text sei unter
den Kommunikationsbedingungen der mittelalterlichen Manuskriptkultur nur
als Varianz greif- und denkbar. Joachim Bumkes Konzept des offenen oder
unfesten Textes setzt ausweislich der applizierten Nomenklatur implizit zwar
Geschlossenheit als dem Denken des Textes angemessene Figur nach wie vor
voraus, doch muss Bumke für die Epenüberlieferung des späten 12. und 13.
Jahrhunderts eine die Vorstellung vom authentischen Autortext über Bord
werfende Gegebenheit sogenannter autornaher gleichwertiger Parallelver-
sionen registrieren.2 Die Irritationen, die von Bumkes Untersuchungen aus-
gingen und die auf der einen Seite zur Erschütterung etablierter Vorstellun-
gen von mittelalterlicher Autorschaft und Textualität geführt haben, auf der
anderen Seite aber eine wünschenswerte und längst überfällige strikte His-
torisierung dieser Kategorien auf die Tagesordnung riefen, solche fruchtbaren
Irritationen also entzündeten sich am Überlieferungsbefund, an der Autor-
nähe einer Überlieferung, die sich bereits im frühesten Stadium als different
erwies. Peter Strohschneiders Konzeptualisierung des mittelalterlichen Textes
als Wiedergebrauchsrede schließlich fixiert unter dem Stichwort der Situatio-
nalität des Textes ein Textualitätsmodell, das, gemessen an den Kommuni-
kationsparametern einer semioralen Gesellschaft, eine relative Situationsab-

1 Bernard Cerquiglini, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris


1989.
2 Vgl. Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen
zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert,
Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturge-
schichte 8); ders., »Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfi-
schen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift Gd«, ZfdPh
116, 1997 (Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte,
hg. v. H. Tervooren/H. Wenzel), S. 87–114.
Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten 35

straktheit des Textes ansetzt.3 Strohschneider denkt den mittelalterlichen Text


im Spannungsfeld von idealer Situationsabstraktheit und okkurrenten situa-
tionalen Manifestationen. Die hier schlaglichtartig ins Feld geführten Posi-
tionen einer mediävistischen Texttheorie argumentieren nahezu ausschließ-
lich von einem überlieferungsbezogenen Standpunkt aus. Durch eine histo-
risch adäquate Modellierung des volkssprachlichen Autors im Mittelalter als
Überlieferer oder Vermittler einer materia, dem es ausschließlich um die
Ausgestaltung eines bereits zuhandenen Stoffes zu tun ist, rückte die einem
neuzeitlichen Textualitätsverständnis vertraute binäre Konstellation von Pro-
duktions- und Rezeptionsästhetik in den Hintergrund, ja sie schien historisch
unangemessen. Die feste Textgestalt, die ein Produzent einfordert und die er
vom Leser oder Hörer gewahrt wissen will, schien auf das Konto einer
Projektion zu gehen, die neuzeitliche Textualitätsparameter auf mittelalter-
liche Verhältnisse übertrug.
In meinen Überlegungen geht es mir darum, die scheinbar begründet
vernachlässigte Frage nach den Produzenten erneut aufzuwerfen, genauer
nach deren Bewusstsein von der zu wahrenden Integrität des eigenen Textes.
Dabei soll hier mit Bedacht exklusiv das Anspruchsprofil dieser Textprodu-
zenten im Vordergrund stehen. Von solchem Profil ist der Umgang der
Überlieferung mit Texten, deren Materialität von ihren Produzenten in Schutz
genommen wird, kategorial zu trennen. Mag man bestimmten Formeln, die
auf Textsicherung und Korrektur abzielen, auch eine topische Qualität bei-
messen4, so scheinen individuelle Ausgestaltungen dieser Formeln doch
spezifische Interessenlagen der Textproduzenten zu spiegeln. Die Beobach-
tungen zum Status des mittelalterlichen volkssprachlichen Textes beschränk-
ten sich bislang weithin auf Literatur im engeren Sinne. Es ist diese Be-
schränkung, die m.E. wesentlich verantwortlich zeichnet für das unscharfe
Bild einer unter Umständen auch intentional verortbaren ubiquitären Text-
mouvance. Daher gehe ich im Folgenden von einem erweiterten Literaturbe-
griff aus, ziehe also auch sogenannte gebrauchsliterarische Texte in Betracht,
um mich auf diesem Hintergrund einmal mehr dem Spezifikum sogenannter
poetischer Literatur zu nähern. In einem ersten Schritt sollen ausgewählte
Einlassungen von Textproduzenten, die die Frage der Textfestigkeit betreffen,
nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden befragt werden. Es wird hier
darauf ankommen, die Lizenzen, die den Rezipienten im Umgang mit der
konkreten Textgestalt eingeräumt werden, genau zu bestimmen. In einem

3 Peter Strohschneider, »Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ›New


Philology‹«, ZfdPh 116, 1997 (Anm. 2), S. 62–86; ders., »Textualität der mittel-
alterlichen Literatur. Eine Problemskizze am Beispiel des Wartburgkrieges«, in:
Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel,
Stuttgart/Leipzig 1999, S. 19–41.
4 Vgl. zum (spät)antiken Hintergrund Tore Janson, Latin Prose Prefaces. Studies in
Literary Conventions, Stockholm/Göteborg/Uppsala 1964, S. 143 f. (Prohibition
against changes); für die mittelalterliche Geschichtsschreibung Gertrud Simon,
»Untersuchungen zur Topik der Widmungsbriefe mittelalterlicher Geschichtsschrei-
ber bis zum Ende des 12. Jahrhunderts«, 2. Teil, Archiv für Diplomatik 5/6,
1959/60, S. 73–153, hier S. 125–129.
36 Bruno Quast

zweiten Schritt soll die Verteilung dieser Einlassungen im Gesamtspektrum


mittelalterlicher volkssprachlicher Literaturproduktion ins Auge gefasst und
einer Deutung zugeführt werden. Abschließend wird zu zeigen sein, dass
Forderungen von Textproduzenten nach einer festen Textur in einer spezifi-
schen Normativität der vermittelten Wissensbestände gründen. Je verbindli-
cher der Wahrheitsanspruch der vermittelten materia, so scheint es, um so
häufiger und eindringlicher erhebt sich die Forderung nach dem festen Text.

Joachim Bumke hat gemeint, dass es sich um eine »Ausnahme« handele,


wenn ein volkssprachlicher Autor sich gegen Eingriffe in den Text verwahre,
als einzigen Fall für das 13. Jahrhundert zieht er in seiner Studie zur
Nibelungenklage Konrad von Heimesfurt heran.5 Doch lohnt der Blick auf
die Ausnahmen, die im übrigen zahlreicher aufzutreten scheinen, denn sie
werfen bekanntlich ein erhellendes Licht auf den Regelfall. Eine erste
Sichtung des Materials – es ist hier, ohne Vollständigkeit beanspruchen zu
können, an Zeugnisse gedacht, die vom späten 12. bis ins 14. Jahrhundert
reichen – fördert zutage,6 dass Textproduzenten angesichts situationeller
Varianz, die sowohl die primäre Materialisierung des Textes durch den
Schreiber als auch Formen körper- und schriftgebundener Vermittlung um-
fasst, die Integrität ihres Textes bis auf den Buchstaben gewahrt wissen
wollen.7 Es ist hier allerdings bereits vorab von Bedeutung festzuhalten, dass
mittelalterliche Vorstellungen von Buchstäblichkeit zumindest in bestimmten
Gattungen gewisse Lizenzen nicht ausschließen. In solchen Fällen kann

5 Bumke, Fassungen (Anm. 2), S. 19.


6 Vgl. hierzu die notgedrungen unvollständigen Übersichten bei Manfred Günter
Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und
13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, S. 135–139 (Die Bitte um Korrektur – Der
Gedanke an Abschrift); Julius Schwietering, »Die Demutsformel mittelhochdeut-
scher Dichter«, in: ders., Philologische Schriften, hg. v. F. Ohly/M. Wehrli, München
1969, S. 140–215, hier S. 182 f.; Friedrich Ohly, »Wolframs Gebet an den heiligen
Geist im Eingang des Willehalm«, ZfdA 91, 1961/62, S. 1–37, hier S. 15–19;
Friedrich Wilhelm, Zur Geschichte des Schrifttums in Deutschland bis zum Ausgang
des 13. Jahrhunderts. II. Der Urheber und sein Werk in der Öffentlichkeit, München
1921, S. 118–123.
7 An dieser Stelle seien aus dem Bereich der lateinischen Literatur zwei prominente
Fälle angeführt, denen es um eine Wahrung des authentischen Textes zu tun ist,
Gregor d. Gr. und Caesarius von Heisterbach. Zu Gregor d. Gr. vgl. Georg
Pfeilschifter, Die authentische Ausgabe der 40 Evangelienhomilien Gregors d. Gr.
Ein erster Beitrag zur Geschichte ihrer Überlieferung, München 1900, S. 91–110,
hier bes. S. 104 (In der päpstlichen Bibliothek »lag ein Originalexemplar der
Erklärung des Buches Job, auf welches sich der Papst als Normalexemplar für
verunächtete Codices berufen hat. Hier hatte Gregor auch ein Exemplar der au-
thentischen Ausgabe seiner Evangelienhomilien eigens zu dem Zwecke niederlegen
lassen, dass nach demselben die vorhandenen Exemplare der ersten Redaktion
korrigiert würden«). Zu Caesarius von Heisterbach vgl. Wilhelm, Schrifttum (Anm.
6), S. 118–121.
Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten 37

immer nur von einer relativen Textfestigkeit die Rede sein. Beginnen wir mit
jenem von Bumke angeführten prominenten Fall. Konrad von Heimesfurt,
der sich als Geistlicher vorstellt, schreibt im zweiten Viertel des 13. Jahr-
hunderts im Prolog zu seiner Urstende8, einer aus dem apokryphen Material
des Evangelium Nicodemi gespeisten Verserzählung, die Ereignisse zwischen
Jesu Einzug in Jerusalem und Pfingsten schildert:
[…]
swenne ich daz werc ze liehte trage
und ich ez an der strâze
sehen und hœren lâze,
daz ich ez sô besniten habe
daz mir iemen iht dar abe
mit pumz oder mit mezzer
schabe und mir bezzer
in dem margine dâ bî
des in dem blate vergezzen sî. (Vv. 10–18)
Hier ist von Techniken die Rede, den Text in seiner Lautgestalt zu verändern,
vom Abschaben des Pergaments und Eintragen von Zusätzen auf dem Rand.
Um diese Veränderungen von vornherein zu unterbinden, werden Maß-
nahmen ins Feld geführt, das werc, wie es bei Konrad von Heimesfurt heißt,
in seiner vom Dichter erarbeiteten Gestalt zu schützen: daz ich ez sô besniten
habe / daz mir iemen iht […] bezzer in dem margine dâ bî. Es bleibt zu
fragen, ob die auffällig seltene Bezeichnung werc, die hier gewählt wird,
bereits eine Vorstellung fester Textualität voraussetzt, wie sie historisch
gesehen wohl erst mit dem humanistischen Textverständnis bleibend Geltung
erlangt. Demzufolge umfasst Konrads werc zum einen den vorgegebenen
Stoff, die materia vom Descensus und der Auferstehung, zum zweiten die
individuelle Gestalt, in der der Stoff die Rezipienten erreicht, zum dritten
schließlich die konkrete Handschrift, die Konrad ans Licht bringt. Das Werk
existiert also nicht als abstrakte Größe, sondern ist material an das Medium
der Überlieferung gebunden, den Kodex. Zumindest suggeriert Konrad von
Heimesfurt, dass es nichts geben könne, was er hätte vergessen haben können
– des in dem blate vergezzen sî -, denn nach Gehalt und Gestalt handelt es
sich bei seinem Text, den er ans Licht bringt, um einen idealen Text, den er in
einem absoluten Sinne, also auch und gerade hinsichtlich seines Wortlauts,
vor situationeller Varianz geschützt wissen will. Joachim Bumke hat den
frühen Zustand volkssprachlicher Schriftlichkeit dahin gehend charakteri-
siert, dass die Texte noch prinzipiell variabel gewesen seien. »Man konnte
einzelne Szenen und Abschnitte oder auch den gesamten Text länger oder
kürzer gestalten, konnte einen Ausdruck durch einen andern, einen Gedanken
durch einen anderen, eine Szene durch eine andere ersetzen, ohne daß der

8 Konrad von Heimesfurt, ›Unser vrouwen hinvart‹ und ›Diu urstende‹. Mit Verwen-
dung der Vorarbeiten von Werner Fechter hg. v. K. Gärtner/W. J. Hoffmann, Tü-
bingen 1989 (ATB 99).
38 Bruno Quast

Text seine Identität verlor.«9 Konrads Prologäußerungen passen nicht in


dieses Bild von der variablen Textgestalt. Zwar ist Konrad Überlieferer,
Überlieferer eines Stoffes, der nicht sein eigener ist, zugleich jedoch re-
klamiert er eine Urheberschaft, die die Einmaligkeit seiner Textgestalt be-
trifft, in die er den Stoff kleidet. Textidentität wird hier gerade nicht oder
zumindest nicht nur über die materia, also gewissermaßen tiefenstrukturell
über eine materialiter irreduzible Stoffbasis sichergestellt, sondern manifes-
tiert sich durchaus an der Textoberfläche im invariablen Wortlaut. So spricht
Konrad in der Tat vom authentisch fixierten Autortext und seine Sorgen
richten sich auf potentielle Depravierungen seiner Leistungen als artifex
durch die Rezipienten. Als einem verbrannten Kind solle man ihm seine
Befürchtungen nachsehen.
ich fürhte als ein verbrantez chint,
wande nû bî disen zîten sint
die liute sô chünstic
und sô genuoge überünstic,
daz niemen niht erdenchen chan
dâne welle ir ieglîcher an
sîne chunst lâzen sehen
und deheiner meisterschefte jehen,
ê si geslahen ir valsch dar zuo. (Vv. 23–31)
Da ist von einer Rivalität der Kunstansprüche wie vom haz (V. 35) der liute,
der Feindschaft der Leute also die Rede, die ihr valsch (V. 31) den Worten
des Konrad hinzufügen wollen. Hier beabsichtigt also ein Autor, indem er
zwischen Falschem und Richtigem unterscheidet, das von ihm zu Pergament
Gebrachte zu sichern. Die Urheberschaft Konrads indes, dies sei noch einmal
betont, bezieht sich nicht auf den Gehalt des Erzählten, sondern auf die von
ihm hervorgebrachte und zu verantwortende Gestalt. Konrad von Heimesfurt
versteht sich wie alle mittelalterlichen Autoren als Wiedererzähler eines
bereits vorliegenden Stoffes,10 doch beansprucht er für sich eine Original-
leistung, nämlich eine auktorial verantwortete ideale Textgestalt.
Gewiss, solche Abschirmung des produzierten Textes vor jeglichem Ein-
griff stellt für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters eine in ihrer
Entschiedenheit kaum zu überbietende Maßnahme dar. Häufiger treten mo-
deratere Problemlösungen auf den Plan, wenn es darum geht, den idealen
Text zu gewährleisten. So können mittelalterliche Autoren etwa – gewisser-
maßen als Kompromisslösung, um den unkontrollierbaren Eingriff eines
Schreibers oder Rezipienten abzuwehren – ein auktoriales Verbesserungs-
monopol beanspruchen. Als Beispiel sei hier Konrads von Fußesbrunnen
Kindheit Jesu11 angeführt, eine auf das spätantike sogenannte Pseudo-Mat-

9 Bumke, Fassungen (Anm. 2), S. 389.


10 Vgl. hierzu Franz Josef Worstbrock, »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Mittel-
alter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. W. Haug,
Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 128–142.
11 Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu. Kritische Ausgabe v. Hans Fromm/
Klaus Grubmüller, Berlin/New York 1973.
Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten 39

thäusevangelium rekurrierende Verserzählung, die zwischen 1200 und 1220


für ein wohl höfisches Publikum gedichtet wurde. Auf das Stichwort der
Feindschaft zurückgreifend, dem wir schon bei Konrad von Heimesfurt
begegnet sind, begrüßt er die Kritik seiner Freunde, die ihm die Möglichkeit
an die Hand gibt, seinen Text eigenhändig zu verbessern.

swelch mîn vriunt mich âne haz


nu meldet, dem enphâhe ich daz
ze guote, ob er mir etwaz
zeiget, dar an ich ze laz
bin gewesen unt vergaz
der mâze unt ez unrehte maz:
sô snüer ich gern ein anderz baz. (Vv. 3021–27)

Die Erwähnung der mâze indiziert ein ästhetisches Ideal, dem sich Konrad
zutiefst verpflichtet weiß. Der auktorial gesteuerten Annäherung an dieses
Ideal dient die Aufforderung an die Freunde, ihn auf schwache Stellen
aufmerksam zu machen.
Auf der anderen Seite – und hier könnte sich prima vista die These einer
prinzipiellen Variabilität des volkssprachlichen Textes um 1200 gestützt
sehen – richtet sich eine Anzahl von Appellen an potenzielle Leser oder
Hörer, Verbesserungen – wohl überwiegend formaler Art, häufig ist vom
Parameter des Reims die Rede – am Text selbstständig vorzunehmen. So
bittet Walther von Rheinau, der angibt, seinen Lebensunterhalt als Berufs-
schreiber zu verdienen, in einem wohl ins letzte Viertel des 13. Jhs. zu
datierenden Marienleben12 seine Kritiker, Fehler eigenständig zu korrigie-
ren.

Swâ ich nu dise rîme


Nit wol ze sämen lîme
An dis werkes beginne,
Diu schulde ist mîner sinne
Und der unvernünste
Mîner kranken künste,
Unde bitte ich dâ van
Beidiu frouwen unde man,
Die diz buoch hoeren ald lesen
Und dâ bî der witze wesen,
Daz getihte in ist bekant,
Wannan und wie si sint genant,
Daz ir künste vîle
Bestôze und vîle
Diz rûhe getihte
Und füege unde rihte
Ûf ebenes getihtes stan,

12 Das Marienleben Walthers von Rheinau, hg. v. Edit Perjus, 2., verm. Aufl., Åbo
1949.
40 Bruno Quast

Swâ ichz nit gerihten kan,


Wan ich ez gerne taete,
Ob ich die state haete
An künstigem sinne. (Vv. 59–79)
Doch auch solche Verbesserungsappelle an koproduzierende Bearbeiter zeu-
gen davon, dass ein Bewusstsein für die ideale Textgestalt existiert, und dies
auch gerade im materialen Sinne: Produzent und koproduzierender Bear-
beiter, seien es nun Leser, Schreiber oder Hörer, stehen ausweislich solcher
Zeugnisse, denen das Ebenmaß des dichterischen Artefakts als höchstes Ziel
vor Augen liegt, im Dienst einer angestrebten situationsabstrakten Idealität
des Textes. Der bewegliche Text wäre aus Sicht dieser Textproduzenten als
Vorstufe einer idealen Gestalt zu verstehen. Mit Blick auf die Textgestalt sind
in solchen Fällen allerdings tatsächlich Entstehung und Überlieferung kate-
gorial kaum mehr streng zu scheiden.
Was folgt aus den bislang angestellten Beobachtungen für die historische
Modellierung eines mittelalterlichen Textverständnisses? Anders als dieje-
nigen Thesen vermuten lassen, die einer prinzipiellen Variabilität volks-
sprachlicher Texte das Wort reden und gar die Überlieferungsvarianz mit
einer auf Produzentenseite intendierten textuellen Variabilität kurzschließen,
begegneten uns drei Formen der Annäherung an den idealen, in seiner Gestalt
festen Text: 1. der vom Autor publizierte Text, der nach keinerlei Korrektur
verlangt, ja diese sogar unter keinen Umständen verträgt, 2. der Text, der
allenfalls die Korrekturen des Autors zulässt und 3. schließlich eine Kon-
stellation aus Textproduzent und koproduzierendem Rezipient, der als Bear-
beiter fungiert. In den beiden letzten Fällen scheinen Textoffenheit und
Textfestigkeit, weit davon entfernt, einander auszuschließen, eher komplex
vermittelt zu sein. Der offene Text wäre hier als Funktion einer zumindest
intentional greifbaren Textidealität zu sehen, die den Text als material ge-
schlossenes Artefakt vor Augen hat. Für mittelalterliches Erzählen wäre
generell festzuhalten, dass die maßgebliche Kategorie des Wiedererzählens –
der Autor als Vermittler einer materia, die der erneuten Ausgestaltung und
Formgebung harrt – nichtsdestotrotz eine vom Wiedererzähler beanspruchte
zumindest relativ feste Textgestalt implizieren kann. In einem zweiten Schritt
unternehme ich nun den Versuch, meine bisherigen Überlegungen zum festen
Text auf das Gesamtspektrum mittelalterlicher Literaturproduktion zu proji-
zieren, indem ich, soweit das Material dies zulässt, die Verteilung der
textsichernden Einlassungen einer Deutung zu unterziehen suche. Dass auf
diesem Weg lediglich Tendenzen in den Blick genommen werden können, sei
vorab eigens vermerkt.

II

Ein sich in Vorreden und Einschüben explizit niederschlagendes Bewusstsein


für textuelle Störanfälligkeit, wobei die zur Disposition stehenden Textpara-
meter nicht immer eindeutig zu identifizieren sind, lässt sich nachgerade
Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten 41

ausschließlich in Textsorten konstatieren, die mit einem normativen Gel-


tungsanspruch behaftet sind. Für die Bibelepik sind hier bereits Konrads von
Heimesfurt Urstende, Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu und Wal-
thers von Rheinau Marienleben angeführt worden. Für den Bereich des
Rechtsschrifttums sei auf den Sachsenspiegel verwiesen, für dessen mehr-
jährige Entstehung wohl der Zeitraum zwischen 1224 und 1235 zu ver-
anschlagen ist. In der zweiten Vorrede des Sachsenspiegel13 protestiert Eike
von Repgow aufs Schärfste gegen Zusätze und warnt mit der Kanonformel
aus der Offenbarung des Johannes (22, 18 f.). Eike belegt denjenigen, der es
wagt, in seinen Text einzugreifen, mit eben jenen aus der Apokalypse
bekannten Flüchen.
alle de unrechte varen
Unde werven an disseme buke,
den sende ek disse vluke,
Unde de valsch hir to scriven:
diu meselsucht mut en bekliven,
Alse siu Jezi gedede
van Heliseus gebede,
Dar ave Naaman wart irlost. (Vv. 230–237)
Im Fall des Sachsenspiegel wird beispielhaft eine mehrfach beobachtbare
Uneindeutigkeit der Formulierung greifbar, die nämlich nicht erkennen lässt,
ob die Sicherungsvorkehrungen, die der Produzent trifft, sich entweder auf
die materia oder die Lautgestalt des Textes oder aber auf beide beziehen.
Eine Art Defätismus begegnet bei Hugo von Trimberg. Er tröstet sich im
1300 vollendeten Renner14, der umfangreichsten mhd. Lehrdichtung, die,
wie Hugo ausgibt, der heiligen lêre, aber auch der heiden sprüche
(Vv. 24508 f.) umfasse, über das nicht selten anzutreffende mangelnde Text-
verständnis der Schreiber mit der Einsicht hinweg, dass es eine der Wandel-
barkeit enthobene Vollkommenheit auf Erden nicht geben könne. Er fügt sich
gezwungenermaßen dem Schicksal des offenen Überlieferungsprozesses,
nicht ohne das Leid zu betonen, das solch widrige Kommunikationsbe-
dingungen ihm bereits zugefügt haben.
Wenne schrîber unverstandenheit
Hât getân mir manic leit,
Swenne si mir niht volgen wolten
Und anders schriben denne si solten:
Ûf erden ist niht sô gar volkumen,
Daz ez dem wandel sî benumen. (Vv. 24520–24525)

13 Sachsenspiegel. Landrecht, hg. v. Karl August Eckhardt, 2., neubearbeitete Aus-


gabe, Göttingen/Berlin/Frankfurt 1955 (Germanenrechte, N. F.: Land- und Lehn-
rechtsbücher 1).
14 Der Renner von Hugo von Trimberg, hg. v. Gustav Ehrismann. Mit einem Nach-
wort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Bd. III, Berlin 1970 (Deutsche
Neudrucke).
42 Bruno Quast

Auch in Bruder Bertholds um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschriebener


Rechtssumme, einem im Spätmittelalter weit verbreiteten, alphabetisch ge-
ordneten Handbuch für die im Beichtstuhl zu verhängenden Strafen, findet
sich eine bezeichnende einschlägige Passage. Im Prolog der Fassung A heißt
es:
o
Ich pit auch all die, die daz puch lesen oder schreiben, daz si niht dar zuo noch von
o
setzen dann daz not ist ze tun, auf daz der recht sin der heiligen lerer niht gefelschet
o 15
werd in disem puch.

Hier bleibt freilich offen, nach welcher Maßgabe der Leser einen Eingriff
vornehmen darf. Immerhin wird deutlich, dass selbst in ihrem Bestand
geschützte Texte nicht nur verändert werden können, sondern erweitert oder
gekürzt werden müssen, um gewandelten Rahmenbedingungen Rechnung zu
tragen. Textsicherung und Situationalität des Textes im Sinne einer Anpas-
sung an spezifische Gegebenheiten müssen sich also keineswegs ausschlie-
ßen.
Bisherige Versuche einer historisch angemessenen Differenzierung mittel-
alterlicher Textualität leiden, wenn ich recht sehe, unter einer dichotomisie-
renden Perspektive: Auf der einen Seite findet sich da der feste, auf der
anderen der offene Text. Offenheit kann indes, wie wir sehen konnten, als
eine Funktion des idealen Textes firmieren. Darüber hinaus greift ausweislich
des hier dargelegten Befunds eine naheliegende Unterscheidung entlang
profan-offenen und heilig/rituell-festen Texten zu kurz. Denn versucht man
die Verteilung der zu Gehör gebrachten Einlassungen zur Textidentität im
Gesamtspektrum mittelalterlicher volkssprachlicher Texte einer Deutung zu
unterziehen, gelangt man zu dem Schluss, dass eine Fixierung der Produzen-
ten auf Textsicherung mit einer Normativität der dargelegten Wissensbe-
stände korreliert.16 Und hier erweist sich die Unterscheidung in Profanes und
Rituelles als zu holzschnittartig. Betroffen vom Schutzgestus der Produzen-
ten sind auch profane Texte wie poetisch geformte Lehrdichtungen oder
Sammlungen von Rechtssätzen. Die Normativität dieser profanen Textsorten

15 Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung


der ›Summa Confessorum‹ des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der
Fassungen B, A und C, hg. v. Georg Steer u. a., Tübingen 1987, Bd. I: Einleitung,
Buchstabenbereich A–B, S. 130, Vv 79–83 (Texte und Textgeschichte 11–17).
16 Dies trifft auch auf Schriften zu, die der universitären Unterweisung zugrunde
lagen. Universitäre Lehrschriften, deren an den Wortlaut gebundenen Verbindlich-
keitscharakter es sicher zu stellen galt, konnten durch institutionalisierte Verfahren
der Textsicherung geschützt werden. So hatten die stationarii der Pariser Universi-
tät die Korrektheit der von ihnen verwalteten und in Umlauf gebrachten Exemplare
durch einen Eid zu bekräftigen. Vgl. hierzu Richard H. Rouse/Mary A. Rouse,
»The Book Trade at the University of Paris, ca. 1250 – ca. 1350«, in: La
production du livre universitaire au moyen âge. Exemplar et pecia. Actes du
symposium tenu au Collegio San Bonaventura de Grottaferrata en mai 1983,
Textes réunis par L. J. Bataillon/B. G. Guyot/R. H. Rouse, Paris 1991, S. 41–114,
hier S. 47. – In Bologna kontrollierten sogenannte peciarii die Korrektheit der von
den stationarii zur Abschrift verliehenen Exemplare. Vgl. hierzu Wilhelm, Schrift-
tum (Anm. 6), S. 121.
Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten 43

lässt sich von der auctoritas ihrer materia ableiten. Die bibelepischen Texte
nehmen dabei eine aussagekräftige Sonderstellung ein. Sie gelten zwar
einerseits als profan. So wird etwa Konrads von Fußesbrunnen Kindheit
Jesu, eine Erzählung, der es auch darum zu tun ist, biblische Szenen wie
etwa die Umstände der Geburt Jesu in höfischer Einkleidung erscheinen zu
lassen, in der Hs. C zusammmen mit höfischen Epen überliefert.17 Anderer-
seits jedoch scheinen bibelepische Texte an einer besonderen auctoritas,
nämlich der des heiligen Geschehens, zu partizipieren, was dazu führt, dass
im Unterschied zu anderen höfischen Epen des 12. und 13. Jahrhunderts ihre
feste Gestalt zumindest in einigen Fällen eingeklagt werden kann. Die
Produzenten normativ verankerter Texte definieren sich offenbar über die
Autorität der materia, die wie im Fall sogenannter poetischer Texte ebenso
zur Darstellung gebracht werden soll. Feste Gestalt der Vertextung und
auctoritas der materia sind nicht zu trennen. Was könnte daraus für im
engeren Sinne literarische Texte folgen? Dass Aufrufe zur formalen Ver-
besserung hier fehlen, versteht sich, denn es stehen Formkunst und Virtuosi-
tät des Dichters auf dem Spiel. Doch warum sichern sich Produzenten
poetischer Texte – von impliziten Verfahren, Textidentität sicherzustellen, wie
Akrostichon, Metrum, Strophenform etc. soll hier bewusst abgesehen werden
– nicht gegen Eingriffe ab? Wenn es zutrifft, dass ein zwingender Zusam-
menhang zwischen fester Textgestalt und der auctoritas der materia besteht,
wäre es immerhin denkbar, die fehlende explizite auktorielle Absicherung
mit einem unsicheren Wahrheitsanspruch des Poetischen,18 aller topischen
Berufung auf mündliche Tradition oder das buoch als wahrheitsverbürgende
Instanz zum Trotz, in Verbindung zu bringen. Die Offenheit des poetischen
Textes als auf Produzentenseite zu verortendes Phänomen, insofern die
explizite Abwehr eines möglichen Eingriffs ausbleibt, wäre, überträgt man
die den sogenannten Ausnahmen zugrunde liegende Logik auf den sogenann-
ten Regelfall, auf die prekäre Wahrheit des Poetischen, auf die prekäre
Wahrheit der poetischen materia zurückzuführen. Die Beweglichkeit des
mittelalterlichen poetischen Textes ließe sich dann kaum allein durch die
offenbar nicht vollends kontrollierbare primäre Verschriftungspraxis oder die
Kommunikationsparameter einer semioralen Gesellschaft erklären. Für die
Textualität mittelalterlicher Literatur würde dies bedeuten, dass die Norma-
tivität der materia den auktorialen Anspruch auf Textintegrität und -identität
maßgeblich begründen würde. Wo von einer breiten Akzeptanz der Wahrheit
des Poetischen noch keine Rede sein kann, stellt sich die Frage nach
auktorialer Sicherung der Textgestalt nicht. Es wäre allerdings naiv, daraus zu
schließen, dass Dichter als vermittelnde Gestalter einer poetischen materia

17 Vgl. Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu (Anm. 11), S. 11 f.


18 Vgl. zum fictio-Problem Peter von Moos, »Poeta und Historicus im Mittelalter.
Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan«, PBB 98, 1976,
S. 93–130; Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gat-
tungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, hier bes. S. 9–64
(Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre
theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter).
44 Bruno Quast

für sich keine feste Textgestalt vor Augen gehabt hätten. Dass sie die
Konservierung dieser Textgestalt aus dargelegten Gründen nicht explizit
einfordern, bedeutet mitnichten, dass der material feste poetische Text eine
intentional zu vernachlässigende Größe sei. Auf der anderen Seite freilich
käme es einem anachronistischen retour à gleich – und hier renne ich offene
Türen ein –, einen authentischen Autortext aus dem Überlieferten herausdes-
tillieren zu wollen. Man würde damit einem modernen Autor- und Werkkon-
zept Rechnung tragen, nicht aber einem Dichtungsverständnis, dem die
explizite Sicherung der eigenen Textgestalt offenbar fern lag.

III

Wenn Erasmus von Rotterdam, um eine wenn auch nicht mehr frühe, so doch
unbestritten maßgebliche humanistische Stimme um 1500 zu Gehör zu
bringen, in seinen Adagia ein düsteres Bild von der mittelalterlichen Manu-
skriptkultur malt, hat er den schreibenden Mönch vor Augen, der aus Un-
kenntnis für die Verderbnis der antiken Autoren verantwortlich zeichne. Die
Drucker, meint Erasmus im Kommentar zum Sprichwort Festina lente, stün-
den den unwissenden Mönchen in nichts nach, sie machten die Sache indes
nur noch schlimmer.19 Erasmus geht in diesem Kommentar bereits mit einer
verblüffenden Selbstverständlichkeit von einem buchstäblich festen Autortext
aus,20 es ist jeweils die Überlieferung, sei es in Gestalt des Manuskripts oder
des Drucks, die für Depravierungen in Form varianter Fassungen einzustehen
hat. Um 1500 ist der in seiner Buchstäblichkeit feste Text für den Editor wie
den Autor Erasmus bereits eine in der Tat feste Bezugsgröße, und zwar
unabhängig von der Normativität des dargelegten Stoffes. Vom 12. bis zum
14. Jahrhundert dagegen, so konnten wir sehen, war der feste Text noch lange
keine Selbstverständlichkeit, er musste, um der auctoritas des Vermittelten
Rechnung zu tragen, vom Produzenten eigens angemahnt werden, ohne
jemals sicher gehen zu können, dass Schreiber, Leser oder Hörer sich dieser
Anweisung fügten. Für meine Überlegungen war es heuristisch unabdingbar,
von einem erweiterten Literaturbegriff auszugehen, also neben den sogenann-

19 Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. La-


teinisch und Deutsch, hg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1972, Bd. 7, S. 464–512
[Adagia II,1,1]; vgl. hierzu auch Thomas M. Greene, The Vulnerable Text. Essays
on Renaissance Literature, New York 1986, S. 1–17 (Erasmus’ Festina lente:
Vulnerabilities of the Humanist Text).
20 Solche Festigkeit, die für die antiken Autorentexte postuliert wird, schließt jedoch
eine auktorial kontrollierte Textoffenheit bei eigenen Texten nicht aus. Auf letz-
teren Aspekt hat etwa auch Sebastian Brant in seiner Narrenschiff-Ausgabe von
1499 hingewiesen. Vgl. zu den Erweiterungen von Sebastian Brants Narrenschiff
Christoph Huber, »der werlde ring und was man tuon und lassen schol. Gattungs-
kontinuität und Innovation in moraldidaktischen Summen: Thomasin von Zer-
klaere – Hugo von Trimberg – Heinrich Wittenwiler und andere«, in: Mittelalter
und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. W. Haug,
Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 187–212, hier S. 202 f.
Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten 45

ten poetischen auch die sogenannten gebrauchsliterarischen Texte einzubezie-


hen, weil nur auf diesem Wege die Forderung nach einer festen Gestalt in
adäquater Weise kontextualisiert werden konnte. Um die Historisierung mit-
telalterlicher volkssprachlicher Textualität voranzutreiben, scheint es uner-
lässlich, die Perspektive der Textproduktion, soweit greifbar, gebührend in
Rechnung zu stellen. Die grundlegende Einsicht in die relative Situationsab-
straktheit von Texten, hinter die es insofern kein Zurück gibt, als dass man
sich wohl ein für allemal von der Vorstellung eines im klassischen Sinne
werkmächtigen mittelalterlichen volkssprachlichen Autors wird verabschie-
den müssen, gilt es, aus der Perspektive der Textproduzenten betrachtet,
zumindest in gattungstypologischer Hinsicht zu modifizieren. Dabei kann es,
wie wir am Beispiel von Bertholds Rechtssumme sehen konnten, zu einer
paradox anmutenden Koinzidenz von Textsicherung und Varianzgebot kom-
men. Für das in der Regel dichotomisch gezeichnete Verhältnis von Textbe-
weglichkeit und Textfestigkeit habe ich zu zeigen versucht, dass Textmou-
vance als Funktion einer textlichen Idealgestalt auftreten kann. In solchen
Fällen müssen Textdynamik und Textstatik, écriture und écrit, dialektisch
vermittelt gedacht werden.
Zuletzt möchte ich eine eher spekulative Überlegung zur Forderung nach
Textfestigkeit und ihrem Verhältnis zum Verbindlichkeitsanspruch der mate-
ria in den Raum stellen. Zwischen Textfestigkeit und Verbindlichkeit der
materia besteht, wie es scheint, eine proportionale Relation. Je verbindlicher
der Wahrheitsanspruch einer materia, um so intensiver erhebt sich die
Forderung nach einer bis in den Buchstaben hinein festen Textgestalt. Nimmt
bei poetischen Texten wie im Fall der mittelalterlichen Epenproduktion ein
eher prekärer Wahrheitsanspruch der materia allein den Textproduzenten in
die Pflicht, der sich der subjektiv für maßgeblich erachteten Stoffdisposition
eines bestimmmten Prätextes fügt, braucht man die Forderung nach Text-
festigkeit offenbar nicht zu erwarten. Anders sieht es bei normativen Texten
aus, die soziale Identitäten konstituieren, indem sie präskriptiv, jedenfalls
unmittelbarer und weniger reflexiv als im engeren Sinne poetische Texte,
Werte und Normen transportieren. Die als gesichert vorausgesetzte Norma-
tivität der materia solcher Texte verlangt, wenn auch nicht regelmäßig, im
Unterschied zu poetischen Texten die Forderung nach dem in seiner Mate-
rialität geschützten Text. Für heilige Texte, um eine dritte Gruppe anzuführen,
ist Textfestigkeit ein schlechterdings konstitutives Merkmal. Die universale
Geltung reklamierende göttliche materia ist hier vom Buchstaben nicht zu
lösen.21 Das geltend gemachte Differenzkriterium, das eine idealtypische
Unterscheidung zwischen im engeren Sinne poetischen, normativen und

21 Dies scheint insbesondere für »fetischistische« heilige Texte zu gelten, die in ihrer
Materialität, ihrer dinghaften »Substanz« für sakrosankt erachtet werden. Die
Unterscheidung zwischen ›fetischistischen‹ und ›kommunikatorischen‹ heiligen
Texten, wobei die Heiligkeit sich bei letzterem Typus erst im »Ereignis« der
Auslegung konstituiert, findet sich bei Aharon R. E. Agus, Heilige Texte, München
1999, bes. S. 43–46. – Zum mittelalterlichen Gebetsritualismus vgl. Arnold An-
genendt, »Libelli bene correcti. Der richtige Kult als ein Motiv der karolingischen
46 Bruno Quast

heiligen Texten als zumindest heuristisch sinnvoll erscheinen lässt, liegt also
im Grad der implizit wie explizit geforderten Textfestigkeit, die mit dem
Normativitätsanspruch der vermittelten materia korreliert. So gesehen
könnte die Frage nach dem buchstäblich festen Text vielleicht ein geeignetes
Instrument sein zu einem besseren und das meint gleichermaßen historisch
wie typologisch differenzierten Verständnis mittelalterlicher volkssprachli-
cher Textualität.

Reform«, in: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Vorträge
gehalten anläßlich des 26. Wolfenbütteler Symposions vom 11. bis 15. September
1989 in der Herzog-August-Bibliothek, hg. v. P. Ganz, Wiesbaden 1992, S. 117–
135; Giles Constable, Culture and Spirituality in Medieval Europe, Aldershot/
Hampshire 1996, XII, S. 17–30 (The Concern for Sincerity and Understanding in
Liturgical Prayer, Especially in the Twelfth Century).
Varianz und Identität in rechtssprachlichen
und dichterischen Texten

Ursula Schulze (Berlin)

Einleitung

Die Beurteilung von Überlieferungsvarianten mittelalterlicher deutscher


Texte als Korruptele, Versehen oder Missverständnisse von Schreibern, als
bewusst vorgenommene Änderungen, die vom Autor selbst oder von späteren
Rezipienten stammen, als Ausdruck eines an sich instabilen Textes in einer
Zeit, der die Kategorie Autor fremd gewesen sei, das sind Positionen, die in
der ›alten‹ und ›neuen‹ Philologie mit unterschiedlichen Akzenten vertreten
werden,1 und zwar überwiegend auf nicht pragmatische Literatur bezogen.2
Meist soll die Diskussion klären, welcher Wert den Veränderungen in Rela-
tion zu einem vorangehenden Ausgangstext zukommt und welche Bedeu-
tungsverschiebungen sie bewirken. Kaum bedacht wird, worin die Voraus-
setzungen für die Beweglichkeit der Texte bestehen und wie sich die Varianz
in die mittelalterlichen Wertmaßstäbe einordnen lässt. Diesen Fragen gelten
die folgenden Überlegungen. Dabei soll die Betrachtung von Texten aus dem
rechtssprachlichen Bereich zeigen, dass die angesprochenen Überlieferungs-

1 Als Beispiele für die Diskussion mit Zusammenfassung verschiedener Positionen


nenne ich: Joachim Bumke, »Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsge-
schichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert«, in: ›Aufführung‹
und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit, DFG-Symposion 1994, hg. v. J.-D.
Müller, Stuttgart/Weimar 1994 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17),
S. 118–137. – Karl Stackmann, »Neue Philologie?«, in: Modernes Mittelalter. Neue
Bilder einer populären Epoche, hg. v. J. Heinzle, Frankfurt a. M./Leipzig 1994,
S. 398–427. – Alte und neue Philologie, hg. v. M.-D. Gleßgen/F. Lebsanft, Tübingen
1997 (Beihefte zu editio 8). – Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue
Horizonte, hg. v. H. Tervooren/H. Wenzel, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft.
2 Zur Definition »pragmatischer Schriftlichkeit« vgl. Hagen Keller, »Pragmatische
Schriftlichkeit im Mittelalter«, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Er-
scheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. H. Keller/K. Grubmüller/N.
Staubach, München 1992 (MMS 65), S. 1–7. – Die Problematisierung des Pragma-
tikbegriffs durch Peter von Moos, »Über pragmatische Mündlichkeit und Schrift-
lichkeit«, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. v. B. Frank/T. Haye/D.
Tophinke, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 313–321, hebt die hier vorgenom-
mene Zuordnung von Texten nicht auf.
48 Ursula Schulze

probleme pragmatische wie nicht pragmatische Literatur gleichermaßen be-


treffen.
Der Status der Rechtssprache im 13. Jahrhundert, als die Verschriftlichung
des Rechts in deutscher Sprache beginnt, legt einen solchen literaturüber-
greifenden Blick durchaus nahe; denn in der Schriftlichkeit des 13. Jahr-
hunderts existiert ebensowenig wie in der vorangehenden mündlichen Praxis
eine Fachsprache, die sich als Idiom einer bestimmten Berufsgruppe von der
allgemeinen Sprache abhebt.3 Die »Sprache des Rechtslebens«4 baut nicht
nur auf der Grundlage der Gemeinsprache auf,5 sondern sie bewegt sich
selbstverständlich generell in den verfügbaren syntaktischen Strukturen und
Gestaltungsmöglichkeiten des Gesamtsystems.6 Spezifische Züge besitzt im
rechtsbezogenen Gebrauchszusammenhang allein der Wortschatz, allerdings
machen spezielle Rechtstermini auch nur einen sehr kleinen Teil des Wort-
bestandes aus, z. T. erhalten allgemein gebräuchliche Wörter im rechtlichen
Kontext besondere semantische Aspekte. Eigenarten in der Auswahl syn-
taktischer und stilistischer Mittel treten erst bei bestimmten Textsorten der
Rechtsliteratur hervor, die seit dem 13. Jahrhundert entstehen: Landfrieden,
Stadtrechte, Rechtsbücher sowie diverse Inhaltstypen von Urkunden. Sie
bilden die Materialgrundlage der anschließenden Untersuchung.
Die Überlegungen erfolgen in drei Schritten: Zunächst soll am Beispiel
von Doppel- und Mehrfachausdrücken Variation als ein allgemeines Prinzip
mündlicher und schriftlicher Sprachproduktion aufgewiesen werden. Dass
dieses Prinzip in der Textüberlieferung fortwirkt, wird dann anhand der
Beweglichkeit des Wortlauts von Urkunden und eines Rechtsbuchs dargelegt.
Die Schlussfolgerungen aus den Beobachtungen führen zu der Einsicht, dass
die Varianzphänomene, die denen in anderen Textsorten entsprechen, auf
bestimmten Abstraktionsprozessen des menschlichen Erkennens beruhen und
überwiegend als sinngemäße Identität wahrgenommen wurden.

Variation als sprachliches Gestaltungsprinzip

Jacob Grimm hat in seinem viel zitierten Aufsatz »Von der Poesie im
Recht«7 zum Ausdruck gebracht, dass der Rechtsbereich ursprünglich nicht
als eigener Sektor ausgrenzbar, sondern im größeren kulturellen Zusammen-
hang aufgehoben war. Die Gemeinsamkeit von Poesie und Recht bestimmt er

3 Ruth Schmidt-Wiegand, »Rechtssprache«, in: HRG 4, 1990, Sp. 344–360, bes. Sp.
344.
4 Eberhard von Künßberg, »Die deutsche Rechtssprache«, Zs. f. Deutschkunde 44,
1930, S. 379–389.
5 Schmidt-Wiegand, Rechtssprache (Anm. 3), Sp. 344.
6 Wolfgang Raible, »Rechtssprache. Von den Tugenden und Untugenden einer Fach-
sprache«, in: Die Sprache des Rechts und der Verwaltung, hg. v. I. Radtke, Stuttgart
1981, S. 20–43 passim.
7 Jacob Grimm, »Von der Poesie im Recht«, Zs. f. geschichtl. Rechtswiss. 2, 1815,
S. 25–99, Nachdr. Darmstadt 1972.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 49

auf Grund ihres Ursprungs in mythischer Urzeit, in der alles innerlich


miteinander verwandt gewesen sei, und weist damit in die vorliterale Kom-
munikation zurück.8 Vor allem aus der Sprache – und d. h. aus ihrem
Fortleben in literalen Zeugnissen – meint er die Verwandtschaft von Poesie
und Recht ablesen zu können. Als besonders wichtiges Zeichen wertet er die
tautologische Redeweise in beiden Bereichen.9 (Damit sind durch eine Kon-
junktion verbundene Wörter der gleichen Wortart gemeint, für die sich im
Anschluss an Grimms Ausführungen in der Forschung die Bezeichnung Paar-
oder Zwillingsformel eingebürgert hat.)10 Die Wiederholung von etwas be-
reits einmal Ausgesprochenem gilt Grimm als »poetisch«, und er findet
dieses Verfahren in den »alten epischen liedern, rechtsformeln und ur-
kunden« der deutschen Sprache reichlich belegt.11 Unter dem Begriff Tauto-
logie fasst er Wortkombinationen mit verschiedenen semantischen Bezügen
zusammen: synonyme Ausdrücke (z. B. ganz und gar, hindern und irren),
aber auch solche, die sich semantisch nicht decken (z. B. mögen und sollen,
ernstlich und festiglich); insbesondere bei den alliterierenden Verbindungen
(z. B. hauset und hofet, gut oder gelt, schult und schaden, mage und man)
überwiegen summierende, einander ergänzende Glieder aus einem Wort-
oder Bedeutungsfeld mit verschiedenen Aspekten. Was Grimm Tautologie
nennt, meint variierende Wiederholung, Variation. Das wird noch deutlicher,
wenn er Erweiterungen zur Dreigliedrigkeit und die Wiederholung von etwas
positiv Gesagtem in negativer Version mit einbezieht (jung niht alt; ein magt
und nit ein wip). Die aufgelisteten Beispiele kommen sowohl aus rechts-
bezogenen wie aus dichterischen Texten. Es handelt sich nicht nur, und nicht
einmal überwiegend um Doppelausdrücke, die besondere Rechtsrelevanz
besitzen. Vielmehr wird hier auf ein allgemeines Gestaltungsmittel der Spra-
che aufmerksam gemacht.
Die von Jacob Grimm konstatierten Übereinstimmungen zwischen der
Sprache des Rechts und der Dichtung, insbesondere das von ihm entdeckte
Variationsprinzip sind durch die Bindung an die romantische Ursprungsthese
in Misskredit geraten. Grimms Aufsatz hat zwar auf rechtshistorischer und
sprachhistorischer Seite Forschungen über die Paarformeln angeregt, die
notwendige Differenzierungen und Funktionsbestimmungen gebracht ha-
ben,12 aber sie tendieren zu einer Trennung von pragmatischem und nicht
pragmatischem Sprachbereich, und dabei ist das Verständnis für wesentliche
Einsichten Grimms verloren gegangen.

8 Gerhard Dilcher, »Oralität, Verschriftlichung und Wandlungen der Normstruktur in


den Stadtrechten des 12. und 13. Jahrhunderts«, in: Pragmatische Schriftlichkeit
(Anm. 2), S. 9–19, bes. S. 10.
9 Grimm, Von der Poesie (Anm. 7), S. 37ff.
10 Dorothea Heller, »Idiomatik«, in: Lexikon der Germanistischen Linguistik, hg. v.
H. E. Wiegand, 2. Aufl., Tübingen 1980, S. 180–186, bes. S. 184 f.
11 Grimm, Von der Poesie (Anm. 7), S. 38ff.
12 Vgl. den Forschungsüberblick bei Ruth Schmidt-Wiegand, »Paarformeln«, in:
HRG 3, 1984, Sp. 1387–1393, bes. Sp. 1388 f.
50 Ursula Schulze

Der als Korrektur besonders beachtete Beitrag von Stefan Sonderegger13


versucht, die von Grimm angenommene Einheit der Poesie und des Rechts
durch den Gegenentwurf einer frühen Sprache des Rechts zurückzuweisen,
die Sonderegger als »erste und zunächst einzige Fachsprache des germani-
schen Altertums und Mittelalters«14 vorstellt. Ohne althochdeutsche und
mittelhochdeutsche Belege beizubringen, behauptet er: »Im Gegensatz zur
dichterischen Variation ist die rechtssprachliche Paarformel eine Frühform
der Definition – sie mag in spätmittelalterlicher Zeit zu modischer Wuche-
rung gelangt sein, aber ihr Ursprung liegt in der genauen und totalen,
umschließenden Erfassung eines Begriffsinhaltes.«15 Mit der Ansetzung der
Begriffsbildung verfehlt diese anachronistische Erklärung gerade wesentliche
Charakteristika des früh- und hochmittelalterlichen Rechtsdenkens, das nicht
über begriffliche Abstraktionen verfügt,16 und es wird nicht gesehen, dass
sowohl in Rechtstexten wie in der Dichtung verschiedene Funktionstypen
von Doppelausdrücken vorkommen, welche die übergreifende Wirkung die-
ses aus vorliteraler Zeit übernommenen Prinzips bestätigen.17
Bereits im althochdeutschen rechtssprachlichen Bereich gibt es neben
totalisierenden und summierenden auch synonyme Wortverbindungen, die
intensivierend wirken.18 Und im dichterischen Bereich sind Doppelausdrücke
in dem von Sonderegger und anderen angenommenen Kontrast als »stilisti-
sche Schmuckform«19 kaum angemessen charakterisiert, ganz gleich ob man
ihren Einsatz im Nibelungenlied betrachtet, das eine mündliche Erzähltradi-
tion verschriftlicht, oder in einem rhetorisch elaborierten Text wie dem
Prolog von Gottfrieds Tristan.
Um das Variationsverfahren, das in den Doppelausdrücken zur Geltung
kommt, genauer zu fassen, sollen der Befund in den deutschsprachigen

13 Stefan Sonderegger, »Die Sprache des Rechts im Germanischen«, Schweizer


Monatshefte 42, 1962, S. 259–271.
14 Ebd., S. 270 f.
15 Ebd., S. 268.
16 Schmidt-Wiegand, Rechtssprache (Anm. 3), Sp. 351 f. Auch die in der Wolfenbütt-
ler Überlieferung des Mainzer Reichslandfriedens (s. u.) wiederholt gebrauchte
Formel wir sezzen und gebiten verweist nicht »auf einen abstrakten Begriff, hier
das kaiserliche Gebot mit Gesetzescharakter« (Dies., »Der Mainzer Reichsland-
friede im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, in: Verborum
amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für
Stefan Sonderegger, hg. v. H. Burger, Berlin, New York 1992, S. 342–357, bes.
S. 349), da der Begriff des ›Gesetzes‹ in einer Zeit, als die verkündete Friedens-
ordnung der eidlichen Selbstunterwerfung der Beteiligten bedurfte, problematisch
ist (vgl. Hermann Krause, »Gesetzgebung«, in: HRG 1, 1971, Sp. 1604–1620). Die
wiederholte Formel strukturiert ähnlich wie in anderen Rechtsordnungen formal
den Text und verweist auf die Person des Kaisers.
17 Vgl. zum Verfahren in oralen Kulturen Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die
Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, bes. S. 40 f.
18 Vgl. den in Handschriften des 9. Jahrhunderts überlieferten althochdeutschen
Priestereid, in: Althochdeutsches Lesebuch, hg. v. Wilhelm Braune, 14. Aufl. v.
Ernst A. Ebbinghaus, Tübingen 1962, S. 57.
19 Schmidt-Wiegand, Der Mainzer Reichslandfriede (Anm. 16), S. 349, der Argu-
mentation Sondereggers folgend.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 51

Urkunden des 13. Jahrhunderts skizziert und Motivierungen der Kombina-


tionen gezeigt werden.20 Selbstverständlich geht es hier nicht um ein umfas-
sendes Bild des Bestandes und der Verwendung von Doppelausdrücken in
den Urkunden, vielmehr soll auf die Tendenz zur sprachlichen Variation in
zweifacher Hinsicht aufmerksam gemacht werden: Erstens erweist sich die
von Jacob Grimm markierte Erweiterung eines einfachen Ausdrucks durch
ein zusätzliches Glied (oder mehrere Glieder) der gleichen Wortart (Sub-
stantive, Adjektive, Verben), das mit unde, oder, weder … noch, sunder
angefügt ist, als usuelles Stilmittel der Urkunden. Dabei stehen häufig
auftauchende Paare, wie z. B. hûs und hof, eigen und erbe, man und wîp,
minne oder reht; arm und rîch, ledic und lôs, gebûwen und ungebûwen;
haben und besitzen, setzen und gebieten, hoeren und sehen neben eher
okkasionellen wie schirm und genâde, beruofen oder bewaeren. Zweitens ist
festzustellen – und zwar gegenteilige Aussagen korrigierend21 –, dass die
usuellen Kombinationen keine festen Formulierungen darstellen. Die Reihen-
folge der Glieder verändert sich, ein Wort des Paares kann ausgetauscht
werden, eine bestimmte Kombination begegnet in unterschiedlichen Wort-
arten, syntaktischen Ausformungen und erweiterten Syntagmen. Die zwei-
gliedrigen Ausdrücke sind also in verschiedener Hinsicht variabel. Aus
diesem Grunde habe ich bisher die Bezeichnung ›Formel‹ (Paarformeln
lautet das Stichwort im ›Handwörterbuch der Rechtsgeschichte‹22) vermie-
den, da das Wort gerade im Rechtsbereich die Vorstellung einer stabilen
Kombination suggeriert.23 Das hat u. a. zu der Annahme eines ursprünglichen
Zusammenhangs der Zwillingsformel mit Zauber und Magie geführt.24 Doch
in der deutschen Sprachpraxis ist die variierende Produktion zweigliedriger
Wortgruppen allgemein gebräuchlich. Festigkeit ist kein verbindliches Merk-
mal weder bei Formeln, die spezielle Rechtsbedeutung besitzen, wie âhte und
ban, minne oder reht, hals und hant, mund und hant, ledic uns lôs25, noch in

20 Die Untersuchung gründet sich auf das Corpus der altdeutschen Originalurkunden
bis zum Jahr 1300, Bd. 1–5, hg. v. Friedrich Wilhelm/Richard Newald/Helmut de
Boor u. a., Lahr 1932–1986 [zitiert: Corpus Nr.].
21 Ernst Dittmer, »Untersuchungen zum Formelschatz der frühen deutschen Ur-
kunden im Verhältnis zum Latein. Die Formel minne oder reht«, Sprachwissen-
schaft 4, 1979, S. 24–52, bes. S. 28. – Dagegen Ursula Schulze, »Mittelhochdeut-
sche Urkundensprache. Probleme ihrer lexikographischen Erfassung«, in: Fest-
schrift für Ingo Reiffenstein zu seinem 60. Geburtstag, hg. v. P. K. Stein/A. Weiss/
G. Hayer, Göppingen 1988 (GAG 478), S. 39–58, bes. S. 56 f.
22 Schmidt-Wiegand, Paarformeln (Anm. 12).
23 Lateinisch formula bezeichnet eine feste, vorgeprägte Wendung im römischen
Rechtsverfahren, vgl. Christian Schmid-Cadalbert, »Formel2 (Erzählformel)«, in:
RL 1, 3. Aufl. 1997, S. 619 f., bes. zur Wortgeschichte.
24 Z. B. Hans Fehr, Kunst und Recht III. Die Dichtung im Recht, Bern 1936.
25 S. unter den entsprechenden Lemmata im Wörterbuch der mittelhochdeutschen
Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalur-
kunden bis zum Jahr 1300, (WMU), hg. v. Bettina Kirschstein/Ursula Schulze,
Berlin 1994ff. Das vollständige Belegmaterial ist im Wörterbucharchiv an der
Freien Universität Berlin einsehbar.
52 Ursula Schulze

Verbindungen allgemeiner Art, die in Urkunden wie in anderen Texten häufig


vorkommen, z. B. arm und rîch, man und wîp, êre und lop, wec und stec, wîse
und tumbe, lant und bürge.26 Die alle Wendungen betreffende Beweglichkeit
bezeugt die Virulenz des Abwandlungsprinzips.
Meist sind bestimmte Aussagefunktionen der Doppelformeln erkennbar:
Indem die Inhaltskomponenten eines Wortes mit anderen Positionen des
Wortfeldes verbunden werden, ergeben sich je nach den semantischen Rela-
tionen: Summierung, Ergänzung, Komplettierung, Konkretisierung, Präzisie-
rung, Ersetzung, Intensivierung u. a.27 Daneben ist aber auch ein spiele-
rischer Umgang mit zwei- und mehrgliedrigen Wendungen zu beobachten,28
wobei die Produktion variierender Doppelungen formale Eigendynamik ge-
winnt. Aufgrund dieser Beobachtungen bleibt die Interpretation variierender
Formeln, insbesondere bei isolierter Betrachtung einzelner Kombinationen
oft unsicher, denn mögliche Motivierungen relativieren sich u. U. vor einem
breiteren Beleghorizont.
Dafür bietet die sehen und/oder hoeren-Formel, die im Urkundenprotokoll
auf das Rezeptionsverfahren der dokumentierten Vorgänge Bezug nimmt, ein
wichtiges Beispiel. Sie folgt als Prädikat auf die Veröffentlichungserklärung,
z. B. Wir N. N. künden allen den, die disen brief … Dabei sind die Verben
sehen (anesehen, gesehen), hoeren (vernemen), lesen, hoeren lesen/lesen
hoeren und sehen lesen zu zwei- oder dreigliedrigen Phrasen mit oder/alde,
seltener mit unde kombiniert.29 Zieht man die Summe aus den Varianten, so
werden folgende Aspekte angesprochen: Das Schriftstück (brief) selbst soll
als Zeichen des Rechtsvorgangs in Augenschein genommen werden, der
Inhalt wird verlesen und hörend aufgenommen, er wird von Lesekundigen
(still) gelesen, und zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in Zukunft.
Welche der Möglichkeiten in der einzelnen Formulierung jeweils gemeint ist,
bleibt z. T. unsicher. Eindeutig sind lediglich die Wendungen hoeren sowie
hoeren lesen/lesen hoeren = ›vorgelesen hören‹, während sehen u. Ä. das
schriftliche Zeugnis ›betrachten‹ und ›lesen‹ meinen kann; lesen steht für
›selbst lesen‹ oder ›vorlesen‹ und schließt auch die In-Augenschein-Nahme
mit ein; sehen lesen erscheint als semantisch offene Analogiebildung zu
hoeren lesen. Die verschiedenen Wendungen, die eine alte vorliterale For-

26 Z. B. begegnen Umstellungsvarianten bei Gottfried von Straßburg, Tristan und


Isold, hg. v. Friedrich Ranke, 9.Aufl. Zürich/Berlin 1965, V. 21, 26, 39 f. u. ö.,
ebenso im Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. v. Helmut de
Boor, 22. Aufl. v. Roswitha Wisniewski, Mannheim 1988, Str. 35, 1; 768, 1; 39, 2;
1681, 1.
27 Karl Siegfried Bader, »Recht – Geschichte – Sprache. Rechtshistorische Betrach-
tungen über Zusammenhänge zwischen drei Lebens- und Wissensgebieten«, Hist.
Jb. 93, 1973, S. 1–20, bes. S. 17.
28 Otto Ludwig, »Synonymabildung in Formeln der Rechtssprache«, Zeitschrift für
Mundartforschung 13 1937, S. 215–222, bes. S. 221.
29 Die Typen sind unter den entsprechenden Stichwörtern im WMU (Anm. 25) mit
Belegauswahl aufgeführt.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 53

mel30 produktiv weiterbilden, suchen alle das neue Phänomen der Schrift-
lichkeit zu fassen, dass ein Stück Pergament einen Rechtsakt zeitüberdauernd
dokumentiert, für dessen Gültigkeit die Besiegelung steht, ganz gleich ob
außerdem noch Zeugen aufgeführt sind, die den Vorgang gesehen und gehört
haben. Die Beweiskraft ist auf das Schriftstück übergegangen und soll den
künftigen Benutzern vermittelt werden. Diesen Akt umschreiben die Varia-
tionen der Formel.31
Insgesamt verdeutlicht der vielfältige Gebrauch der Zweifach- und Mehr-
fachausdrücke, dass Doppelung und Wortvariation ein wichtiges sprachliches
Gestaltungsprinzip dieser frühen Verschriftlichung von Rechts- und Ge-
schäftsvorgängen darstellt.
Auch im größeren Rahmen der Urkundenformulierung kommt der modifi-
zierende Umgang mit einem zugrunde liegenden Strukturmuster zur Geltung.
Der pragmatische Literaturtyp Urkunde wird vor allem durch ein gliederndes
Formular definiert, das aus lateinischen Diplomen ins Deutsche übertragen
wurde: Publicatio, Dispositio, Corroboratio, Datierung sind die unverzichtba-
ren Teile.32 Das Formular gibt die Makrostruktur der Schriftstücke vor mit
bestimmten Kernwörtern (künden, kunt tuon, wizzen suln u. Ä.) und Topoi,
welche die Veröffentlichung, den Rezeptionsvorgang, die Besiegelung und
beständige Gültigkeit der Urkunde betreffen. Die Ausgestaltung im Einzel-
nen ist nicht festgelegt; im Laufe der Zeit entsteht ein Reservoir von
Versatzstücken, die kombiniert und abgewandelt werden. Die Mikrostruktur
variiert nicht nur von Kanzlei zu Kanzlei und regional, sondern auch am
gleichen Herkunftsort und innerhalb zusammengehöriger Gruppen. Schrei-
ber, die in eine Beurkundungstradition einsteigen, übernehmen nur begrenzt
den formularischen Wortlaut ihrer Vorgänger. Das Ausmaß der vorkommen-
den Varianz ist bisher noch wenig beachtet worden, weil die Forschungsper-
spektive überwiegend auf formularische Gemeinsamkeiten ausgerichtet war,
um kanzleimäßige Zusammenhänge zu ermitteln.33

30 Vgl. Dennis Green, »Hören und Lesen. Zur Geschichte einer mittelalterlichen
Formel«, in: Erscheinungsformen kultureller Prozesse, hg. v. W. Raible, Tübingen
1990 (ScriptOralia 13), S. 23–44.
31 Die Verfasser der deutschsprachigen Urkunden verfahren im Umgang mit der
sehen und hoeren-Formel selbständig gegenüber dem Lateinischen, wie aus dem
Vergleich der Publikationsformeln von 19 Urkunden, die im Corpus der altdeut-
schen Originalurkunden (Anm. 20) in zweiprachiger Fassung vorliegen, zu ent-
nehmen ist (Corpus Nr. 121ab, 145AB, 150AB, 298AB, 970AB, 1087AB u. 1088,
1104AB, 1143AB, 1197AB, 1603AB, 1859AB, 2099, 2237AB, 2418AB, 2579AB,
N792 u. 3198, 3422AB, N327ABC, N477AB). Dem im Lateinischen dominieren-
den einfachen inspecturis oder inspectoribus entsprechen unterschiedliche Doppel-
und Dreifachausdrücke. Das abweichende Ergebnis von Green, Hören und Lesen
(Anm. 30), S. 31ff., beruht auf einer anderen Belegauswahl.
32 S. z. B. Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die
historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart/Berlin/Köln, 15. Aufl. 1998, S. 97–
143.
33 Z. B. Leo Santifaller, Urkundenforschung. Methoden. Ziele. Ergebnisse, 4. Aufl.
Köln/Wien 1986.
54 Ursula Schulze

Diese Spannung zwischen vorgegebener Grundstruktur und variabler De-


tailausführung, die u. a. dafür verantwortlich ist, dass die Urkunden des 13.
Jahrhunderts keineswegs in Stereotypie aufgehen, entspricht – ebenso wie es
bei den Doppelformeln zu beobachten ist – einem in nicht pragmatischer
Literatur gleichfalls geläufigen Gestaltungsprinzip; insbesondere für die
Komposition von Epen und Märchen, aber auch von Lied- und Spruchdich-
tung wird dies genutzt, d. h. es wird mit Formeln operiert.34 Für deren
Verwendung im Nibelungenlied hat Jan-Dirk Müller die Relation von Vor-
gabe und Freiheit definitorisch beschrieben: »Formeln sind vorgeprägte
Versatzstücke – Wortgruppen, Syntagmen, metrische Einheiten, Situations-
muster, Erzählschemata u. ä. –, deren Basisstruktur identisch, deren konkrete
Besetzung mit Wortmaterial jedoch variabel ist.«35 Selbstverständlich sind
die dichterischen Gestaltungsmodelle themenbedingt zahlreicher und anders
ausdifferenziert, aber grundsätzlich wirken in der Textkomposition beider
Literaturbereiche, in »Poesie« und »Recht«, gleiche Generatoren, und dabei
spielt das Variationsprinzip in kleineren und größeren Dimensionen eine
auffällige Rolle. Daraus ergibt sich eine wichtige Prämisse für die Beurtei-
lung der Überlieferung, denn die Tendenz zur Abwandlung wirkt auch bei der
Weitergabe von Texten fort.

Varianz in der Urkundenüberlieferung

Abgesehen von der ›Variationskunst‹, die sich in Doppelausdrücken aus-


prägt, hat Jacob Grimm auch auf die Berührung von Poesie und Recht
hinsichtlich der variierenden Überlieferung in beiden Bereichen hingewiesen,
dabei bezieht er sich für die Rechtstexte auf verwandte, abweichend formu-
lierte Bannformeln:
»bemerkenswerth zeigt sich auch in solchen formen, gleich den liedern, eine solche
abweichung der recensionen, dasz keine völlig mit der andren stimmt«.36
Ohne dass Grimm es weiter kommentiert, wird deutlich, dass er die Über-
lieferungsvarianten in pragmatischer und nicht pragmatischer Literatur hier
nicht als Korrumpierungsprozess wertet, sondern als Ausdruck des leben-
digen Umgangs mit sprachlichen Vorgaben, der bei ihm unter dem Signum
»poetisch« steht. Er deutet damit einen inneren Zusammenhang zwischen der
Produktion variierender Ausdrücke im Zuge der Herstellung eines Textes und
zwischen der Entstehung von Varianten im Traditionsprozess an. Die Beweg-
lichkeit rechtsbezogener Literatur lässt sich durch die Betrachtung von Auf-
zeichnung und Überlieferung des Mainzer Reichslandfriedens (MLF) und
anderer Urkunden bestätigen. Im Hintergrund steht dabei weiterhin die Frage
nach den Voraussetzungen für die Überlieferungsvarianz.

34 Vgl. Schmid-Cadalbert, Formel (Anm. 23), S. 619.


35 Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes,
Tübingen 1998, S. 27.
36 Grimm, Von der Poesie (Anm. 7), S. 56.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 55

Von der 1235 auf dem Mainzer Reichstag verkündeten Rechtsordnung gibt
es keine zeitgleiche ›Originalurkunde‹, sondern nur spätere Aufzeichnungen,
zwei lateinische: 4F37, 4Dor38 und drei deutsche: 4P39, 4D40, 4W41. Außer-
dem existieren deutschsprachige Erneuerungen des MLF von König Rudolf
von Habsburg 1281 (Corpus 494), 1287 (Corpus 879W, L, H, K, Sp, Sa) und
1291 (Corpus 1401), von König Adolf von Nassau 1292 (Corpus N548A, B)
und von König Albrecht I. 1298 (Corpus 3110).42 Dass eine deutsche
Fassung des Landfriedens bereits 1235 schriftlich fixiert und nicht erst später
übersetzt und aufgezeichnet wurde, geht aus der als verlässlich geltenden
Kölner Königschronik hervor, die einen vielzitierten Bericht über den Main-
zer Reichstag enthält:
Curia celeberrima in assumptione beate Marie apud Maguntiam indicitur; ubi fere
omnibus principibus regni Teutonici convenientibus, pax iuratur, vetera iura sta-
biliuntur, nova statuuntur et Teutonico sermone in membrana scripta omnibus
publicantur.43

Die Relation der überlieferten lateinischen und deutschen Texte, die im


Umfang (der Vollständigkeit), im Formular und in der Anordnung der Kon-
stitutionen differieren,44 wurde seit dem 18. Jahrhundert in der historischen
und rechtshistorischen Forschung kontrovers diskutiert.45 Unterschiede im
Wortlaut sind dabei kaum angesprochen worden; es ging vornehmlich um die
Frage der Originalität und Authentizität der lateinischen oder deutschen
Fassung, und im Zuge der wechselnden Positionen wurde sogar ein deutsches
Original rekonstruiert. Heute gilt die Priorität eines lateinischen Textes zu
Recht als gesichert,46 und zwar vor allem auf Grund der Konzeptions-
bedingungen in der kaiserlichen Kanzlei47 und da Kaiser Friedrich II., von
dem die Initiative zu der Rechtsordnung ausgegangen ist, nur begrenzt mit
der deutschen Sprache vertraut war. Priorität bedeutet allerdings nicht Au-

37 Frankfurt a. M., Stadtbibliothek Cod. Ms.127, p.174–179, 13. Jh.


38 Dortmund 1235 No. 4b, früher Münster i.Westf. SA, 13. Jh.
39 München Clm 16 088, ehem. S. Nicola Pataviensis 83, fol. 2, 13. Jh.
40 Dresden, Landesbibliothek M. 32, fol. 1r-1v, 3. Viertel 14. Jh. – Unvollständiger
Text.
41 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek Cod. Guelf. 3.1 Aug 2°, fol. 1r - 4r, vor
1375. – Vollständiger Text.
42 Die Erneuerungen stellen Rezeptionsformen des MLF dar, deren Aufzeichnung vor
den überlieferten von 4P, 4D, 4W liegt.
43 Chronica regia Coloniensis, hg. v. Georg Waitz, MGH SS rer. Germ. 18, S. 267.
44 Peter Csendes, »Studien zum Urkundenwesen Kaiser Friedrichs II.«, MIÖG 88,
1980, S. 113–130, bringt S. 117ff. eine vergleichende Artikelanordnung.
45 Einen Forschungsüberblick bietet Arno Buschmann, »Landfriede und Verfassung.
Zur Bedeutung des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 als Verfassungsgesetz«,
in: Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Ernst C.
Hellbling zum 80. Geburtstag, hg. v. der Rechtswiss. Fak. d. Univ. Salzburg, Berlin
1981, S. 449–472, bes. S. 450ff.
46 Vgl. Peter Johanek, »Rechtsschrifttum«, in: Die deutsche Literatur im späten
Mittelalter 1250 –1370. 2. Teil. Reimpaargedichte, Drama, Prosa, hg. v. I. Glier,
München 1987, S. 396–431, bes. S. 399.
47 Vgl. Csendes, Studien (Anm. 44), S. 115.
56 Ursula Schulze

thentizität, doch gerade um deren Feststellung geht es in einem Teil der


rechtshistorischen Forschung. Arno Buschmann hält den Text der über-
lieferten deutschen Fassungen nicht für »authentisch«, weil sie im Gegensatz
zu der lateinischen Version die Bestimmungen nicht in der von dem Kölner
Chronisten genannten Reihenfolge vetera iura, nova iura angeordnet ent-
halten.48 Abgesehen davon, dass die komprimierte Chroniknotiz nicht unbe-
dingt als genaue Wiedergabe der Verfahrensschritte gelesen werden kann, ist
es im Rahmen des zeitgenössischen Rechtsdenkens kaum angemessen, den
Begriff Authentizität auf eine bestimmte Textfassung zu beziehen. Die Gül-
tigkeit des Landfriedens beruht nicht auf einem, auch nicht auf dem kanzlei-
mäßig ausgefertigten Dokument, sie kommt durch die Anerkennung und den
Schwur der Fürsten zustande, nachdem diese die Bestimmungen in deutscher
Sprache zur Kenntnis genommen haben.49 Wie im Falle des Mainzer Land-
friedens die Informationsgrundlage genau gefasst und angeordnet war, ob
und inwieweit sie den überlieferten deutschen Texten entsprach, wird sich
nicht klären lassen. Bemerkenswert ist, dass die deutschen Versionen gegen-
über dem lateinischen Text sehr eigenständige Formulierungen besitzen,50
dass sie aber auch untereinander nicht durchgehend wörtlich übereinstim-
men. Ein Vergleich der ältesten erhaltenen Aufzeichnung 4P auf einem
Pergamentblatt, das heute in einen Sammelcodex eingebunden ist,51 mit 4D
und 4W, in denen der Mainzer Landfrieden jeweils als Vorspann dem Sach-
senspiegel im Dresdner und Wolfenbüttler Codex picturatus vorangestellt
ist,52 und mit zwei der insgesamt sechs Parallelurkunden der Erneuerung des
Gesetzes, die Rudolf von Habsburg 1287 vorgenommen hat (Corpus
Nr. 879Sp/Sa), sowie mit dem so genannten Rheinischen Landfrieden von
1281 (Corpus Nr. 494)53 zeigt neben einer überwiegenden Anzahl von Sätzen

48 Arno Buschmann, »Zum Textproblem des Mainzer Reichslandfriedens von 1235«,


in: Arbeiten zur Rechtsgeschichte. Festschrift für Gustav K. Schmelzeisen, hg. v.
H.-W. Thümmel, Stuttgart 1980, S. 25–46, S. 32ff. u. bes. S. 44. Die entsprechende
Beurteilung bringt Buschmann auch in späteren Aufsätzen, z. B. ders., »Der
Mainzer Reichslandfriede von 1235 und die Reichslandfrieden Rudolfs von Habs-
burg«, in: Recht und Geschichte. Festschrift für Hermann Balte, hg. v. H. Valen-
tinitsch, Graz 1988, S. 105–129.
49 Elmar Wadle, »Frühe deutsche Landfrieden«, in: Überlieferung und Geltung
normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. H. Mordek, Sigma-
ringen 1986, S. 71–93, bes. S. 80 f.
50 Vgl. Ursula Schulze, Lateinisch-deutsche Parallelurkunden des 13. Jahrhunderts.
Ein Beitrag zur Syntax der mittelhochdeutschen Urkundensprache, München 1975
(Medium aevum: Philologische Studien 30), S. 33–103.
51 Buschmann, Der Mainzer Reichslandfriede (Anm. 48), S. 109, spricht von einer
»protokollartigen Aufzeichnung über den Inhalt der in Mainz verkündeten Maß-
nahmen«. Der Text stimmt in der Makrostruktur mit den anderen Aufzeichnungen
des MLF und den Erneuerungen überein.
52 Schmidt-Wiegand, Der Mainzer Reichslandfriede (Anm. 16), hat auf die legitimie-
rende Funktion des Überlieferungsverbunds für das Rechtsbuch als Kaiserrecht
hingewiesen.
53 Diese mit territorialer Geltung ausgestattete Friedensordnung beruht ebenfalls auf
dem Text des MLF, vgl. Buschmann, Der Mainzer Reichslandfriede (Anm. 48),
S. 116.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 57

und Satzteilen, die sich wörtlich entsprechen, Varianten verschiedener Art:


Sie betreffen einzelne Wörter, Wortgruppen und deren Reihenfolge. Die
Überlieferung in den beiden Sachsenspiegel-Handschriften geht im Wortlaut
stets zusammen, während die Erneuerung Rudolfs z. T. mit 4P, z. T. mit 4D/W
übereinstimmt oder einen eigenen Wortlaut bietet, so dass sich kein ein-
deutiges Abhängigkeitsverhältnis feststellen lässt. Auch rechtsrelevante Wen-
dungen sind von den Abweichungen betroffen. Z. B. wird der Fall der
Vertreibung des Vaters von seinem Besitz verschieden konkretisiert:
4P : Swelch ∫un ∫inen vater uon ∫inem eigen · oder uon ∫inem erbe · oder uon ∫inem
o
gut · uer∫tozet (S. 12, Z. 18).
o
4D/W : ∫welch ∫vn ∫inen uatir von ∫inen burgen oder von anderen ∫inem
o
gute vor∫tozet (4D, S. 14, Z. 15 f.).
e
494,879Sp/Sa : Swelich ∫vn / ∫inen vater / von ∫inen bvrgen / oder von anderm ∫inē
o
gvte ver∫to∫∫et (879Sp, S. 236, Z. 23ff.).
Für die Unmöglichkeit, sich der geforderten Zeugenschaft vor Gericht zu
entziehen, werden diverse, nicht akzeptable Gründe angeführt: mage∫chaft
(4P), man∫chaft (4D), liep (879Sp), sippe (494,879Sa):
4P : die ne∫uln d’∫ niht uberwinden · durch mage∫chaft · noh durh d’heiner ∫lahte
dinch. (S. 12, Z. 27)
o
4 D/W : di ∫uln des nicht vberig werdin durch man∫chaft noch durch keiner hande
ding. (4D, S. 14, Z. 34ff.)
494 : die ∫ulen des nich ouer werden ! durch ∫ippe noch durch keiner ∫lachte ∫ache.
(S. 437, Z. 22 f.)
879Sa : di ∫ullen de∫ niht vberich werden / weder durch Sippe / noch durch
dehainerhande ∫ache. (S. 237, Z. 5 ff.)
e
879Sp : die ∫vlen dez niht vber werden / durch liep noch durch kainr∫chlahte ∫ache.
(S. 237, Z. 15 f.)
Die Benennung verschiedener Beziehungen ist nicht Ausdruck mangelnder
Präzision, wie es aus heutiger Sicht erscheinen mag, denn das jeweilige Wort
hat exemplarischen Charakter, der basale Gedanke bleibt gleich und wird in
allen Fassungen durch eine totalisierende, im Einzelnen variierende Ergän-
zung gestützt. Außer derartigen semantisch differierenden Wörtern sind an
anderen Stellen synonyme Formulierungen ausgetauscht, z. B. irret (4P, 494,
879Sp), nicht le∫t (4D/W).
4P : daz d’n vater ehaft not irret · daz er dar niht chomen moht. (S. 12, Z. 44 f.)
o
4D/W : das den vater ehafte not nicht le∫t das he dar kumen mag. (4D, S. 15, Z.
22 f.)
494, 879Sp : daz den vater ehaftigiv nôt irret / Daz er dar niht enkomen mag.
(S. 238, Z. 16 f.)
– an d’∫ vater ∫tat · al∫ ob d’r uater da wære. (4P, 494, 879Sp), al∫o ab der
vatir ∫elbe da were (4D/W).
4P : ∫o ∫ol man im rihten · vmb die ∫ache · an d’∫ vater ∫tat · al∫ ob d’r uater da
wære. (S. 12, Z. 45 f.)
4D/W : ∫o ∫al man im richten vbir di ∫ache al ∫o ab der vatir ∫elbe da were. (4D,
S. 15, Z. 24 f.)
58 Ursula Schulze

494, 879Sp :∫o ∫ol reht / vmbe die clage be∫chehen / an dez vater ∫tat / al∫e ob der
vater ∫elbe da were. (S. 238, Z. 19 ff.)

– uberzivget (4P), vbirredet (4W), bezivget (494, 879Sp).


4P : wirt er d’∫ uor d’m kei∫er uberzivget · … al∫ da reht i∫t · ∫o ∫ol d’r zol d’m rich
ledich ∫in. (S. 13, Z. 42 f.)
4W : wirt he des vbirredit vor dem kei∫er / al∫e recht i∫t / ∫o ∫al der zcol dem riche
ledig ∫in. (S. 16, Z. 8)
494, 879Sp : wirt er ∫in bezivget vor gerihte / al∫e reht i∫t / der zol ∫ol dem riche
ledig ∫in. (S. 241, Z. 21 f.)
oder die Wortfolge ist verändert, z. B.
4P : daz er uor d’m rihter zeden heiligen ∫wer. (S. 12, Z. 28 f.)
4D/W : das he zu den heiligen ∫were vor dem richtere. (S. 14, Z. 38 f.)
879Sp : daz er vor dem rihter ∫were / zvo den hailigen. (S. 237, Z. 19 f.)
879Sa : daz er vor dem Rihter ∫wer auf di hailigen. (S. 237, Z. 9 f.)

Die Beispiele stehen für ein Verfahren stellenweise freier Verfügung über
einzelne Wörter, aus der sich keine gravierenden Sinnveränderungen des
Textes ergeben (ausgesprochene Zusätze in den Erneuerungsurkunden sind
hier außer Acht gelassen). Offenbar bestanden im Vermittlungsprozess Um-
setzungsspielräume für die Wortwahl, die Wortfolge und die Graphie, ohne
dass im Gebrauchsvorgang das Vermittlungsergebnis als verändert gewertet
wurde.
Diese Einschätzung hat eine entscheidende Voraussetzung in der symbio-
tischen Existenz bestimmter Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlich-
keit, die sich gerade an Friedensordnungen und anderen Rechtsweisungen
des 12. Jahrhunderts erkennen lässt. Der Aggregatzustand der Texte wech-
selte von dem Vertragsschluss und dem Schwur der Beteiligten in mündlicher
deutschsprachiger Kommunikation am Anfang in eine wohl bei gleicher
Gelegenheit erfolgende Aufzeichnung in lateinischer Sprache. Diese hatte
assistierenden Charakter und fungierte als eine Art Protokoll zur Gedächt-
nisstütze im Weitergabeprozess, in dem der schriftliche Text mündlich wieder
ins Deutsche übertragen wurde. Derartige Verfahrensschritte lassen sich für
den »Bayerischen Landfrieden« von 1094 rekonstruieren, dessen Zustan-
dekommen Bernold von Konstanz beschreibt: Nach ihrer eigenen Verpflich-
tung gegenüber Kaiser Heinrich IV. haben einzelne Fürsten den Frieden in
ihren Herrschaftsbereichen beschwören lassen wollen.54 »Ein solcher Vor-
gang ist ohne eine schriftliche Information über den Friedensinhalt kaum
denkbar.«55 Sie musste dann für die Bestätigung wieder in die Volkssprache
transponiert werden. Für andere Rechtsweisungen ist ein ähnliches Abfolge-
modell anzunehmen. Z. B. erfolgte die Regaliendefinition von 1158 durch

54 Bernoldi Chronicon, hg. v. Georg Heinrich Pertz, MGH SS V, 1844, S. 391–467,


bes. S. 457 f.
55 Wadle, Frühe deutsche Landfrieden (Anm. 49), S. 83.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 59

mündliche Weisung des königlichen Hofgerichts.56 Von der Definition exis-


tiert lediglich eine protokollartige, unförmliche Fassung auf einem Perga-
mentblatt. Nicht eine Urkunde, sondern der mündliche Vorgang hat sie
verbindlich gemacht. Hier kommt es allerdings weniger auf die Rechtsgültig-
keit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit an, im weiteren Argumenta-
tionszusammenhang ist der Aspekt wichtig, dass die mündlichen Weisungen
und die schriftlichen Fixierungen als »inhaltsgleich« begriffen wurden, ob-
wohl Wortlaut und Anordnung nicht genau deckungsgleich gewesen sein
dürften.57 Dem entspricht auch die Relation von lex und consuetudo, die
Gratian in Abwandlung von Isidor formuliert, wobei die Bewahrung der
Substanz im neuen Medium impliziert ist: Lex est consuetudo in scriptis
redacta.58
Ein Blick auf die deutsche und lateinische Terminologie für die Land-
friedensordnungen zeigt, wie sich das mittelalterliche Verständnis auf einen
die Vermittlungsschritte übergreifenden Text bezieht: Bereits vor dem Main-
zer Landfrieden, für den zuerst eine deutsche schriftliche Fassung bezeugt ist,
benutzt Burchard von Ursberg (gest. um 1231) fridebrief für die lateinische
Reichsfriedensordnung Friedrich Barbarossas von 1187 und bezeichnet das
Wort als gängigen deutschen Ausdruck:
Fridericus imperator … conventum principum … coadunavit, ubi de pace terre
disposuit et in litteras redigi iussit, quas litteras Alamanni usque in presens
fridebrief, id est litteras pacis, vocant nec alliis legibus utuntur.59

Die betonte Geläufigkeit von fridebrief, bevor es deutschsprachige Land-


friedensurkunden gab, ist nur dann verständlich, wenn das lateinische
Schriftstück, das Burchard für 1187 selbst überliefert, und die mündlichen
deutschen Vereinbarungen sowie die Übersetzungsprodukte als gleichwertig
begriffen wurden. Im Übrigen ergibt sich aus der wechselnden Vermittlung
solcher fridebrief-Texte in mehr als einem Jahrhundert vor dem Mainzer
Landfrieden, wenn man in der Zeit Heinrichs IV. ansetzt, eine Erklärung für
das überraschende Phänomen, dass 1235 eine deutsche Rechtsprosa auf das
Pergament gelangt ist, die die Konstitutionen in einer gewandten, vom
Lateinischen wenig beeinflussten Sprache souverän formuliert.60
Als lateinische Bezeichnungen werden für die Landfriedensordnungen im
12. Jahrhundert forma pacis und forma pacis iurata verwendet,61 und damit
ist die Vereinbarung gemeint, die das inhaltliche Programm und den Aner-

56 MGH D F I. Nr. 237.


57 Vgl. dazu den weiter unten erläuterten Textbegriff von Konrad Ehlich (Anm. 95).
58 Decretum Gratiani D. I, 2 und I, 5. Vgl. Wadle, Frühe deutsche Landfrieden (Anm.
49), S. 80, und Karl Kroeschell, »Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit. Das
Beispiel des Sachsenspiegels«, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. v. P.
Classen, Sigmaringen 1977 (Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Ge-
schichte: Vorträge und Forschungen 23), S. 349–380, bes. S. 364 f.
59 Burchardi Praepositi Uspergensis Chronicon, hg. v. Otto Holder-Egger/Bernhard
v. Simson MGH SS rer. Germ.1b, 1916, S. 65.
60 Vgl. Schulze, Lateinisch-deutsche Parallelurkunden (Anm. 50).
61 Wadle, Frühe deutsche Landfrieden (Anm. 49), S. 87.
60 Ursula Schulze

kennungsschwur umfasst. Forma pacis bezieht sich analog zu forma fidelita-


tis zunächst auf das Wesen der Verpflichtung, die Treue oder die Friedens-
bereitschaft.62 Demgegenüber war der Wortlaut weniger wichtig, erst allmäh-
lich gewinnt forma eine formaljuristische Bedeutungsdimension, die auch ein
Formular und einen ›Text‹ betrifft,63 aber nicht unbedingt einen festen
Wortlaut verlangt. Die Beobachtungen, die Alfons Becker für den Lehnseid
gemacht hat und die Elmar Wadle ähnlich für die forma pacis sieht, tragen
zum Verständnis der Voraussetzungen von Textvarianzen in Rechtstexten bei,
sie weisen aber auch auf diachrone Einschätzungsveränderungen hin.
Die Betrachtung der Landfriedensüberlieferung führt zu dem Fazit, dass
der Wechsel zwischen mündlicher und schriftlicher Gebrauchsform die Be-
weglichkeit des Textes mit veranlasste, dem gleichwohl im Kommunikations-
prozess Inhaltsgleichheit zugestanden wurde. Sie hängt nicht von genauer
Übereinstimmung des Wortlauts der verschiedenen Stadien und Fassungen
ab, sondern von der Bestätigung des wiedererkannten Sinns in einzelnen
Abschnitten und im Gesamtzusammenhang. Wenn dann eine schriftliche
Traditionskette entsteht wie in den Landfriedenserneuerungen der Könige
Rudolf, Adolf und Albrecht, so ist zwar eine zunehmende Festigung des
Textes erkennbar, aber das gewohnte Rezeptionsprinzip bleibt erhalten, das
Variationen in der Oberflächenstruktur einschließt, die sich im Austausch von
Wörtern, von Syntagmen und in Änderungen der Wortfolge niederschlagen
und durchaus unter dem Signum einer Wort-für-Wort-Überlieferung wahr-
genommen werden.
Im Protokoll und Eschatokoll der Landfriedensverkündigung König
Adolfs von 1292 (Corpus N548A/B), die in einer ripuarischen und einer
oberdeutschen Urkunde vorliegt, taucht die Formel von worte ze worte al∫ hie
vorge∫chriben ∫tat (i∫t) auf. Sie bezieht sich jedoch nicht auf die Relation der
aktuellen Aufzeichnung zu der schriftlichen Vorlage, dem in Würzburg
verkündeten Landfrieden König Rudolfs von 1291, sondern auf die Kennt-
nisnahme und Bestätigung des Textes.64 Die für einen Vergleich in Frage
kommenden Schriftstücke bewegen sich in den bisher benannten Varianz-
spielräumen. Abgesehen von graphematischen und phonematischen Unter-
schieden sind die beiden Parallelurkunden mit keiner der sechs überlieferten
Ausfertigungen des Würzburger Landfriedens im Wortlaut vollkommen iden-
tisch, und sie enthalten untereinander eine Reihe kleinerer Differenzen, eine
größere Umstellung sowie unterschiedliche Schlusspartien. Mit dem Verweis

62 Die Vorstellungen gründen sich auf Fulberts von Chartres De forma fidelitatis.
Vgl. Alfons Becker, »Form und Materie. Bemerkungen zu Fulberts von Chartres
De forma fidelitatis im Lehnrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit«, Hist.
Jb. 102, 1982, S. 325–361.
63 Ebd., S. 352 f.
64 … daz die satzunge des lantfrides, die kúninch Rudolf … ge∫etzet hatte …, vns
e
geovget vnd gele∫en wart ze Colne vf dem sale von worte ze worte als hie nah
ge∫chriben ∫tat. (N548B, S. 389, 25ff.) – Vnd wan wir kuninch Adolf di∫e satzunge
de∫ lantfrides von worte ze worte al∫ hie vorge∫chriben i∫t … ernúhet vnd be∫têtet
han. (N548B, S. 399, 19ff.).
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 61

auf den Bezug von worte ze worte verbindet sich also nicht der Begriff
exakter ausdrucksseitiger Übereinstimmung.65
Vergleichbare Einsichten ergeben sich bei den frühen deutschsprachigen
Stadtrechten, die der pragmatischen Textsorte der Landfrieden verwandt
sind.66 Als Beispielfall wurde das Freiburger Stadtrecht kollationiert, von
dem aus dem 13. Jahrhundert zwei Fassungen von 1275 und 1293 jeweils in
doppelter Ausfertigung vorliegen (Corpus 248A/B; Corpus 1797A/B). Die
Textrelation der beiden frühen, von gleicher Hand stammenden Urkunden
lässt sich ähnlich beschreiben wie die der Landfriedensüberlieferung: (1)
Wörter und Wortgruppen, auch solche, die Rechtsrelevanz besitzen, fehlen in
einer der zwei Versionen; (2) semantisch gleiche Sachverhalte werden durch
Synonyme, ähnliche Wörter oder Gliedsätze formuliert; (3) die Anordnung
der Wörter ist verändert:
(1) – v' billich … wundot (248A, S. 250, Z. 18 f.) / wundot (248B, S. 250, Z. 33)
– kǒfet oder verkǒfet (248A, S. 258, Z. 17) / kǒfit (248B, S. 261, Z. 10)
– ane alre ∫laht akû∫te vnde ane geværde (248A, S. 258, Z. 30 f.) / ane
aller∫laht geværde (248B, S. 261, Z. 23)
(2) – hungernot twinge e∫ darzve (248A, S. 253, Z. 28) / hungernot trib es
darzvo (248B, S. 253, Z. 46 f.)
o
– ∫wer de∫ nv^t entvt (248A, S. 255, Z. 37 f.) / ∫wer daz denne brichet (248B,
S. 256, Z. 27 f.)
– an ir wi∫∫ende (248A, S. 250, Z. 15) / ane jrne willen (248B, S. 250, Z. 29)
o
– v∫∫ir dem gvt (248A, S. 253, Z. 27) / v∫∫ir eîgen noh u∫∫ir erbe (248B, S. 253,
Z. 45 f.)
– vn̄ ∫wa∫ ∫û gemeinlich ge∫ezzint / vnde v' bir ein komint / daz ∫ol man fûr ein
reht haltin (248A, S. 255, Z. 35ff.) / vn̄ ∫was ∫v' mit der willen / vn̄ volge
v̂birein komint har vmbe / daz ∫ol ∫tæte beliben (248B, S. 256, Z. 25ff.)
– Swelch∫ mannes hû∫ verbrûnnet (248A, S. 255, Z. 4) / Swem ∫in hus ver-
brinnet (248B, S. 255 Z. 36, )
(3) – heige ∫ine hulde wider gewunnen (248A, S. 249, Z. 40) / ∫ine hulde heige
wider gewunnen (248B, S. 250, Z. 7 f.)
Die spätere Stadtrechtsfassung weist zu der früheren ähnliche Abwandlungen
auf wie Corpus 248A und B untereinander:
– So ∫ol der herre wellen einin Schultheizen u∫∫er den vier vn̄ zweinzigen vn̄
enheinen andirn (248A, S. 249, Z. 16ff.) / Der herre ∫ol ǒuch da∫ Schult-
o
heizentvm lihen eime der viervn̄zweinzigen (1797A, S. 96, Z. 9ff.)
o
– So ∫ol der herre die burger ∫chirmen mit lib vnde mit gvt wider mænlichen
∫wa ∫û ∫in bedûrfen (248A, S. 248, Z. 47ff.) / So ∫ol der herre die burger
o o
∫chirmen / mit libe vn̄ mit gvte / ∫wa man in v' t tvt / an libe oder an deheime
o
irme gvte oder an iren eren mit vnreht oder mit gewalt (1797A, S. 95, Z.
36ff.)

65 Das entspricht laut Ong, Oralität (Anm. 17), S. 65, dem im Rahmen der Münd-
lichkeit üblichen Verweisverfahren.
66 Vgl. Dilcher, Oralität (Anm. 8).
62 Ursula Schulze

Außerdem enthält Corpus 248B inhaltliche Modifizierungen und Zusätze,


die in den späteren Fassungen wiederkehren und weiter ausgebaut sind. Die
Parallelurkunden von 1293 stimmen im Wortlaut allerdings weitgehend über-
ein. Ihre Textkonstanz entspricht anderen Doppelausfertigungen und vidi-
mierten Urkunden, die keine Rechtsordnungen, sondern diverse inhaltliche
Vorgänge dokumentieren.
Ein relativ enger Wortlautbezug begegnet auch im Nebeneinander von
Konzept und Reinschrift einer Königsurkunde aus dem Jahre 1299 (Corpus
3424A/B), das eine Rarität in der deutschsprachigen Urkundenüberlieferung
des 13. Jahrhunderts darstellt. Beide unterscheiden sich im Blattformat und
Schrifttyp sowie durch das Fehlen der Königstitulatur, der Datierung und des
Siegels im Konzept. Erstaunlicherweise sind die Formularteile der Publicatio
und Corroboratio in beiden Schriftstücken voll ausgeführt, während eine
rechtsrelevante Einschränkung, die eigentlich zu dem Rechtsakt selbst gehört
(einis iclichin rechtis vnuerzigin / de recht drane hait, S. 522, Z. 39 f.), in
dem Konzept, das den öffentlich mündlich vorgenommenen Belehnungsakt
schriftlich festhält, nicht vorkommt. Ein derartiger Zusatz war offenbar
nachträglich möglich. Besonders auffällig sind hier die erheblichen Unter-
schiede in Graphie und Lautung beider Aufzeichnungen. Sie legen nahe, dass
das Konzept nicht abgeschrieben, sondern dass die Reinschrift nach Diktat
neu geschrieben wurde; und es ist zu erwägen, dass andere Schriftstücke auf
ähnliche Weise übertragen oder vervielfältigt wurden.
Auch wenn die in Mehrfachausfertigungen und Erneuerungen von Ur-
kunden, insbesondere von Rechtsordungen aufgezeigten Varianzerscheinun-
gen gegenüber der wortgetreuen Wiedergabe nur einen geringen Teil des
jeweiligen Textes betreffen, dürfte deutlich geworden sein, dass es sich dabei
nicht um Zufallsbefunde in der rechtspragmatischen Überlieferungspraxis
des 13. Jahrhunderts handelt, sondern um eine grundsätzliche Verfahrens-
möglichkeit.

Beobachtungen zur Sachsenspiegel-Überlieferung

Die Entstehungs- und Gebrauchskonditionen des Sachsenspiegels sehen an-


ders aus als bei den Friedensordnungen und Stadtrechten.67 Von Anfang an
erhebt der Verfasser für das Schriftprodukt den Verbindlichkeitsanspruch,
dass das Buch (dit buk) altes Recht zu künftiger Rechtsprechung aufzeichne
(Vorrede in Reimpaaren, V. 151 f.), es bedarf keiner zusätzlichen Beglaubi-
gung wie die Urkunden. Eike von Repgow hat das deutsche Rechtsbuch nach
einer lateinischen Vorlage 1224/25 verfasst, vielleicht diktiert, und es wurde
dann relativ schnell in Abschriften verbreitet, erweitert und untergliedert.68
Dabei entstanden Fassungen unterschiedlichen Umfangs. Die Sichtung und

67 Sachsenspiegel, I Landrecht. II Lehnrecht, hg. v. Karl August Eckhardt, nach der


Ausg. Göttingen 1955/56, Aalen 1973.
68 Vgl. Friedrich Ebel, »Sachsenspiegel«, in: HRG 4, 1990, Sp. 1228–1237.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 63

Klassifizierung der Überlieferung erfolgte in der rechtshistorischen For-


schung des 19. und bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts nach den in der
Deutschen Philologie üblichen textkritischen Verfahren mit dem Ziel, einen
»Urtext« Eikes zu ermitteln und den »Archetyp« einer Vulgatfassung in
Langform zu rekonstruieren, der vor 1270 fertig gestellt worden sein soll.69
Die angenommenen Entstehungsstufen70 haben in der Chronologie der er-
haltenen Handschriften keine Entsprechung. Karl August Eckhardts Sachsen-
spiegel-Ausgabe repräsentiert, älteren Konzeptionen folgend, die genannte
Rekonstruktionsabsicht.71 Er hat aber 1966 neben der Zusammenschau einer
Vielzahl von Handschriften, Textformen und Novellen, die Notwendigkeit
betont, in einem getrennten Ansatz »ein getreues Spiegelbild« konkreter
Handschriften zu liefern, auch wenn er seine Edition der Quedlinburger
Handschrift noch mit dem »hohe(n) Wert für die Wiederherstellung des
Archetypus« begründet.72 Sicher verdienen die einzelnen Handschriften des
Sachsenspiegels gesonderte Würdigung; dass es angesichts der über 340
Lehnsrechts- und über 90 Landrechtstexte73 eine Auswahl bleiben muss, ist
selbstverständlich.
Die Sachsenspiegel-Überlieferung interessiert hier nicht im Blick auf die
weiteren textgeschichtlichen Probleme des Rechtsbuchs, sondern fokussiert
auf die Frage, wie fest der Text des Buches ist, für das Eike im Prolog und
Epilog die Offenbarmachung des Rechts reklamiert und die Gefahr der
Missachtung oder Verfälschung sieht. Wie beim Mainzer Landfrieden kann
die Antwort nur durch die Betrachtung repräsentativer Beispiele gegeben
werden. Zum Vergleich ziehe ich die Quedlinburger Handschrift vom Ende
des 13. Jahrhunderts (Q)74 und die Bremer Handschrift von 1342 (B)75
heran, die beide als Vertreter der ersten deutschen Fassung, also der ältesten
Überlieferungsschicht gelten.76
Das Landrecht beginnt mit der Zweischwerterlehre:
Q I,1 Twzei swert liet got in ertrîche zu beschirmende die kristenheit. Deme pâvese
ist gesazt daz geistlîche, deme keisere daz werlîche. (S. 16)
B I,1 Twe swert ghesat sint, gheystlich dem pavese, werlich dem keysere, tho
beschermende de cristenheit. (S. 69)

69 Vgl. das Geleitwort zu der Ausgabe von Eckhardt, Sachsenspiegel (Anm. 67).
70 Die von Carl Gustav Homeyer, Die Genealogie der Handschriften des Sachsen-
spiegels, Phil. u. hist. Abh. d. kgl. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1859, abgesetzten drei
Schichten gelten auch in der neueren Rechtsgeschichte, vgl. Kroeschell, Rechtsauf-
zeichnung (Anm. 58), S. 357.
71 Vgl. Eckhardt, Sachsenspiegel (Anm. 67). Es handelt sich um die dritte Bearbei-
tung der 1933 erschienenen Ausgabe.
72 Sachsenspiegel III. Quedlinburger Handschrift, hg. v. Karl August Eckhardt nach
der Ausg. Hannover 1966, Aalen 1973, Einleitung, S. 7.
73 Vgl. Ebel, Sachsenspiegel (Anm. 68), Sp. 1231.
74 Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Qu. Cod. 81. Ausgabe: Sach-
senspiegel III. (Anm. 72).
75 Bremen SB, Mscr. a. 30a. Als B im Apparat des Sachsenspiegels (Anm. 67)
abgedruckt.
76 Vgl. Eckhardt, Sachsenspiegel (Anm. 67), Geleitwort, S. 26.
64 Ursula Schulze

Der Wortlaut und die Anordnung der Satzglieder differieren (dialektale


Unterschiede bleiben hier unberücksichtigt), doch sinngemäß stimmen die
Aussagen überein. Q benennt zusätzlich Gott als transzendenten Lehnsherrn;
die personale Transformation des Passivs ghesat sint ist aus dem Gesamtkon-
text mühelos extrapolierbar oder umgekehrt aufhebbar. Die intentionale
Schirmherrschaft über die Christenheit steht in B pointiert am Schluss.
Ähnlich sieht der Befund bei der Deutung des Steigbügeldienstes im
gleichen Abschnitt aus:
Q I,1 Diz ist die bezeichenisse: swaz deme pâvese wederstâ, daz her mit geistlî-
cheme rechte nicht dwingen ne mach, daz ez der keiser mit wertlîkeme rechte
dwinge deme pâvese hôrsam zu wesende. Sô sal ouch diu geistlîche walt
helphen deme werltlîchem gerichte, ob it iz bedarf. (S. 16)
B I,1 Dat betekenet: swat dem pavese weddersta an dem gheystliken, dat de keyser
dat mit werlikeme rechte betwinghe. De keyser sal dem pavese underdeit sin,
unde de paves eme wedder. (S. 69)

Die unterschiedliche Wortwahl ist die bezeichnisse / betekenet, helphen /


underdeit sin, geistlich walt / paves, werltlich gerichte / keyser verschiebt die
Aspekte, ohne die Aussage grundsätzlich zu verändern. Außerdem belegt der
Gebrauch von synonymen Wörtern und Wendungen die freie Bewegung auf
der Textoberfläche (tzûgen Q 8,1, S. 19 / dinghen B 8,1, S. 79; ob man iz
bedarf Q 8,1, S. 19 / of is not is B 8,1, S. 79), die sich auch in geänderter
Wortfolge und in Zusätzen niederschlägt, welche Gesagtes wiederholend
verdeutlicht:
Q 6,2 die schult schal die erve gelden, ob her iz innerit wirt. (S. 19)
B 6,2 dat schal he van rechte ghelden, of he is gheinnit wirt. (S. 79)

Dass die Präzisierung, die Q bringt, in B ebenso gemeint ist, ergibt sich aus
dem Beginn des Abschnitts We dat erve nemet (B) / Swer sô daz erve nymt
(Q). Q paraphrasiert z. T. die rechtlichen Aussagen und Anweisungen etwas
weiter. Beide handschriftlichen Versionen erscheinen als lebendige Aneig-
nungen von Eikes Buchtext, die nicht die Grenze zu den von dem Verfasser
gefürchteten rechtsverkehrenden Zusätzen überschreiten.77 Offenbar erfor-
derte der rechtliche Inhalt keine absolute Wortlautdeckung. Dieser Befund
entspricht den Beobachtungen bei den Landfrieden und Stadtrechten wie
auch der Varianz bei nicht pragmatischen Texten.78 Vorstellbar ist, dass die
Abwandlungen bei der Niederschrift gelesener und erinnerter oder beim
Diktat gehörter Sinnabschnitte entstanden.

77 Bes. Sachsenspiegel (Anm. 67), Prolog in Reimpaaren, V. 221–225 und V. 233.


78 Da weiter ausgreifende Vergleiche mit poetischen Texten hier nicht möglich sind,
verweise ich exemplarisch auf Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibe-
lungenklage‹. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der
höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/New York 1996 (Quellen und For-
schungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), mit der Übersicht über die Typen
variierender Epenüberlieferung, S. 397ff.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 65

Zusätzliche Aufschlüsse für die allgemeinen Voraussetzungen des beweg-


lichen Wortlauts ergeben sich aus den Bilderhandschriften des Sachsen-
spiegels. Die Codices picturati bilden eine eigene Überlieferungsgruppe, die
als Typ wohl im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts geprägt und bis in die
2. Hälfte des 14. Jahrhunderts reproduziert wurde79 und damit zu einer Zeit,
in der das Buch als schriftlicher Text bereits weit verbreitet und bekannt war.
Indem die in Kolumnen parallel angeordneten Illustrationen Teile des ver-
balen Kontinuums bildlich umsetzen, repräsentieren sie die schriftliche Fas-
sung in einem anderen Medium. Auf diese Weise sollte eine schnelle Orien-
tierung und Lesehilfe für das Buch geschaffen werden.80 Das setzt die
Annahme einer passagenweisen Äquivalenz von Wort und Bild voraus. Die
nonverbale Fassung mag eine besondere Rückbindung an die »prozedurale
Praxis und überhaupt die Wirklichkeit des Rechts im Vollzug«81 herstellen,
sie bietet aber auf jeden Fall dem verbalen Text an ausgewählten Stellen
pari.
Diese erst in jüngster Zeit von Ruth Schmidt-Wiegand dargelegte Wechsel-
beziehung zwischen Wort und Bild, die freilich nur für denjenigen funk-
tionierte, dem auch die besonderen Zeichen des bildlichen Codes vertraut
waren,82 weist auf ein Textverständnis, dessen Übereinstimmung in der
semantischen Tiefendimension aufgehoben ist, während sich die Performanz
der Oberfläche unterschiedlich darstellt. Wenn zwei verschiedene Medien zu
der gleichen Bedeutung, auf die es ankam, hinzuführen vermochten, dürfte
die Vermittlung auch über Divergenzen in der sprachlichen Erscheinungs-
form quasi selbstverständlich erfolgt sein.83 Wie weit die Toleranzspielräume
dabei reichen, ist allerdings schwer festzustellen. Der Traditor garantierte
gewissermaßen die inhaltliche Richtigkeit im Gebrauchsprozess.
Dass das Recht grundsätzlich, auch in Bezug auf alte Gewohnheiten, in
Bewegung blieb, hat Karl Kroeschell deutlich gemacht, indem er die Vor-
stellung von der Unveränderlichkeit der consuetudines als wissenschaftliche
Fiktion des 19. Jahrhunderts erwiesen hat.84 In der mittelalterlichen Vorstel-

79 Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, »Eike von Repgow«, in: VL 2, 1980, Sp. 400–409,
bes. Sp. 401.
80 Z. B. Ruth Schmidt-Wiegand, »Die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels als
Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit«, FMSt 90, 1988, S. 357–387.
81 Michael Curschmann, »Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis
von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis
zum Codex Manesse«, in: Pragmatische Schriftlichkeit (Anm. 2), S. 211–229, bes.
S. 227.
82 Die Bedeutung bestimmter Symbole ist nicht immer selbstredend. Vgl. Dagmar
Hüpper, »Funktionstypen der Bilder in den Codices picturati des Sachsenspiegels«,
in: Pragmatische Schriftlichkeit (Anm. 2), S. 231–249, bes. S. 234.
83 Vgl. dazu auch Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und
Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, bes. S. 465.
84 Karl Kroeschell, »Recht und Rechtsbegriff«, in: Probleme des 12. Jahrhunderts.
Reichenau-Vorträge 1965 –1967, hg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche
Geschichte geleitet von Theodor Mayer, Stuttgart 1968 (Konstanzer Arbeitskreis
für mittelalterliche Geschichte: Vorträge und Forschungen 12), S. 309–335, bes.
S. 326.
66 Ursula Schulze

lungswelt erhält die Modifizierbarkeit rechtlicher Bestimmungen eine Be-


gründung durch den Rekurs auf eine höhere Autorität, die für die Wahrheit
der Texte und ihre adäquate praktische Umsetzung einsteht. Sie wirkt durch
Inspiration auf Verfasser, Schreiber, Traditoren und Richter ein und zieht sie
nötigenfalls zur Verantwortung. Diese Konzeption kommt im Sachsenspiegel
explizit zum Ausdruck.
Die Authentisierung der Privatarbeit des Rechtsbuchs, die in der Rezeption
weitergeht,85 wurde bereits angesprochen, sie erfolgt von Seiten des Ver-
fassers durch die transzendente Verankerung seines Unternehmens. Wenn er
mit seinem gebetsartigen Anruf zu Beginn des dritten Prologs einen sakralen
Horizont für das rechtliche Anliegen eröffnet, nimmt er eine gängige Tradi-
tion auf; denn zeichenhafte und verbale Invokationen, die einen Rechtsakt
unter den Schutz und Segen Gottes stellen, haben in der Beurkundungspraxis
eine lange Geschichte. Auch das Formular zahlreicher deutschsprachiger
Urkunden des 13. Jahrhunderts besitzt am Anfang eine solche Invocatio, und
zwar nicht nur, wenn eine geistliche Partei beteiligt ist.86 Doch Eike verstärkt
die Sakralisierungszeichen. Mit den Versen Des hiligen geistes minne, / diu
sterke mine sinne87 rückt er sein Buch an geistliche Textsorten heran und
präsentiert sich als von Gott inspirierten Autor. In der Bildersprache der
Codices picturati wird der Inspirationsvorgang dann durch eine auf die
Autorfigur zufliegende Taube, die den Heiligen Geist symbolisiert, umge-
setzt, und damit ist auch der Kontakt zur geistlichen Ikonographie her-
gestellt.88 Außerdem formuliert Eike den transzendenten Ursprung des
Rechts: Got is selve recht, dar umme is em recht lef,89 dadurch liegt die
Verantwortung letztlich bei Gott; Aufzeichnung und Weitergabe unterstehen
seiner Kontrolle. Der Kontakt mit ihm garantiert die unverfälschte ›Vertex-
tung‹ bei dem Verfasser des Rechtsbuches und die entsprechende Wahr-
nehmung bei seinen Rezipienten. Die Feinde des Rechts, die Eikes Buch
nicht anerkennen, deklariert er als Feinde Gottes, deren sündhaftes Vergehen
im Jenseits geahndet wird.90 Die Vorstellung der ständigen Unmittelbarkeit
des Rechts zu Gott, wie sie ebenfalls in der poena spiritualis zum Ausdruck

85 Vgl. den Überlieferungsverbund mit dem MLF, Anm. 40 und 41.


86 Dass die Invocatio in den deutschen ›Privaturkunden‹ des 13. Jahrhunderts insge-
samt nicht regelmäßig vorkommt, zeugt nicht für eine Säkularisierung des Rechts-
bereichs, sondern hängt mit der allgemeinen Verkürzung des Formulars bei Zu-
nahme der Urkunden zusammen, die sich auch im eingeschränkten Gebrauch der
Arenga auswirkt. Nur zu besonderen Anlässen werden die Formulare rhetorisch
reicher ausgestaltet, Walter Koch, »Invocatio«, in: LexMA 5, 1991, Sp. 483 f.
87 Sachsenspiegel I (Anm. 67), Prologus, S. 51.
88 In der Oldenburger Handschrift, Bl. 34r, schwebt die Taube über dem Buch, auf
das der Autor zeigt; in der Wolfenbüttler Handschrift, Bl. 9v, fliegt sie von oben zu
dem knienden Autor herab. Vgl. auch Ulrich Drescher, Geistliche Denkformen in
den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, Frankfurt a. M. u. a. 1989.
89 Sachsenspiegel I (Anm. 67), Prologus, S. 51 f. Vgl. dazu Kroeschell, Recht
(Anm. 84), S. 324 u. a.
90 Sachsenspiegel I (Anm. 67), Prologus, S. 52.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 67

kommt, unter der Richter und Missetäter stehen,91 birgt – abgesehen von der
oben behandelten allgemeinen Apperzeptionspraxis – eine theoretische Prä-
misse für die Offenheit des Rechts und der rechtlichen Texte.

Semantische Identität und Oberflächenvarianz

Die vorgeführte Varianz in rechtsbezogenen Textsorten unterscheidet sich


grundsätzlich nicht von entsprechenden Erscheinungen in poetischer Lite-
ratur; das bestätigt sich, wenn man sie beispielsweise mit Joachim Bumkes
Untersuchungsergebnissen für die Nibelungenklage92 oder mit der Lyrik-
Überlieferung93 vergleicht. Vorliterale Prinzipien des Sprechens und der
Weitergabe von Gesprochenem leben in der literalen Textproduktion und
Reproduktion fort.94 Durch die Materialisierung in der Schrift wird das
Gehörte und Gedachte zwar prinzipiell exakt fixierbar, aber in der Praxis des
Aufschreibens und Abschreibens ergeben sich vermittlungsbedingte Modifi-
kationen, wie die erörterten Befunde belegen. Die Sinnerfassung des Schrei-
bers, der einen Text liest, hört, diktiert bekommt, bevor er ihn in Schrift
umsetzt, bleibt die Schaltstelle, über die die Reproduktion läuft. Die perso-
nale Vermittlung verliert nicht ihre Wirksamkeit.95
Bei einer zusammenfassenden Betrachtung mittelalterlicher Varianzphäno-
mene96 verdient auch die bisher nur erwähnte graphematische Ebene Beach-
tung97, denn die selbstverständliche Identifizierung differierender Schreib-

91 Die Rezeption dieser Vorstellungen schlägt sich noch in dem spätmittelalterlichen


Rechtsbuch von Ulrich Tengler nieder, vgl. Ursula Schulze, »Das des jungsten
gerichts einbildungen nutzlich sein. Zur Adaptation eines Weltgerichtsspiels in
Ulrich Tenglers Laienspiegel«, in: Daphnis 23, 1994, S. 237–286.
92 Bumke, Die vier Fassungen (Anm. 78), S. 390ff.
93 Die von Hubert Heinen, Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder
des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, Göppingen 1989 (GAG 515), zusammenge-
stellten mehrfach tradierten Lieder zeigen u. a. ähnliche Wortlaut- und Wortfolge-
Varianzen. Man kann also auch für die Lyrik von vergleichbaren Abschreibever-
fahren ausgehen wie in anderen Literaturbereichen, auch wenn noch besondere
Überlieferungsbedingungen hinzukommen.
94 Vgl. Ong, Oralität (Anm. 17), S. 37ff.
95 Anders urteilt Konrad Ehlich, »Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung
von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung«, in: Schrift und Gedächtnis,
hg. v. A. u. J. Assmann/Chr. Hardmeier, München 1983, S. 24–43, bes. S. 38, der
nach der Materialisierung mit der Schrift den Verlust der personalen Vermittlung
hervorhebt.
96 Jan-Dirk Müller, »Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegen-
wärtiger Diskussion«, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld
von Hof und Kloster, hg. v. N. F. Palmer/H.-J. Schiewer, Tübingen 1999, S. 149–
166, bes. 162 f. mahnt – in anderem Zusammenhang –, unterschiedliche Typen von
Varianz und den Bezug auf verschiedene Ebenen des Sprachsystems zu beachten;
damit bestätigt er indirekt die umfassende Wirkung des Prinzips.
97 Joachim Bumke, Die vier Fassungen (Anm. 78), S. 390, Anm. 360, hat sie bei der
Auflistung epischer Varianten mit dem Verweis auf andere Zusammenhänge, in die
sie gehören, nicht berücksichtigt.
68 Ursula Schulze

formen, die auf einem besonderen kognitiven Vermögen beruht, ist ein
relevanter Faktor für die Beurteilung des mittelalterlichen Umgangs mit
Varianzerscheinungen überhaupt.
Graphiedifferenzen zeigen sich – wenn ich mich auf das in den vorange-
henden Ausführungen herangezogene Material beschränke – bei gleichen
Wörtern innerhalb einer Urkunde, bei parallelen Ausfertigungen, die von
einem Schreiber stammen, bei zusammenhängenden Schriftstücken gleicher
Schreibortprovenienz, wie z. B. dem Freiburger Stadtrecht, auch bei dem
oben erwähnten Protokoll und der Reinschrift einer Königsurkunde, bei den
Parallelausfertigungen der Landfriedenserneuerungen sowie in der hand-
schriftlichen Tradition des Mainzer Reichslandfriedens und des Sachsen-
spiegels. Die auftauchenden Schreibvarianten lassen sich wie analoge Er-
scheinungen in der literarischen Überlieferung allgemein mit der unter-
schiedlichen Herkunft und Schulung der Schreiber und mit Empfängerrück-
sichten nur z. T. erklären, auch innerhalb der einzelnen Schriftstücke und bei
Herkunft von gleicher Schreiberhand fehlt – trotz möglicher Erkennungs-
merkmale – bekanntlich eine einheitliche Graphie, eben die Schreibnorm.
Die Tatsache, dass unterschiedliche Schreib- (und auch Schrift-)bilder mit
gleicher Wortbedeutung in Verbindung gebracht werden und dass die wech-
selseitige Zuordnung geläufig erfolgt, ist bisher kaum hinreichend gewürdigt
worden. Christian Stetter hat von »kombinatorischer Mächtigkeit« gespro-
chen, die vorhanden gewesen sein muss, um aus bestimmten Graphemmen-
gen eine »rekursive Definition« vorzunehmen.98 Seine Überlegungen zum
Bezug zwischen mündlicher und schriftlicher Dimension gelten auch inner-
halb der literalen Tradition für die Identifizierung der Lexeme aus variieren-
den Schreibungen. Erleichtert wurde das Sortieren und Erkennen der Wörter
dadurch, dass keine graphematischen Normen existierten, die die Erwartung
steuerten; denn nicht nur Denkgewohnheiten erschweren Problemlösungen,
sondern auch Orthographienormen können der Lexemdefinition von Gra-
phievarianten im Wege stehen.
Zu der Vielfalt der Bereiche, in denen mittelalterliche Sprachteilnehmer
mit Varianten umgehen mussten, gehört auch die Wortbildung. Während des
13. Jahrhunderts lassen sich Synonymreihen belegen, die nicht als mundart-
liche Unterschiede erklärbar sind, sie spiegeln die ausdrucksseitige Beweg-
lichkeit der Sprache auf einem Gebiet, wo zum Neuhochdeutschen hin
Selektionsprozesse stattgefunden haben.
Z. B. ingesigel, ingesigelde, insigel, gesigel, sigel W Siegel; gewonheit, gewenheit,
gewonung, gewende W Gewohnheit; gehüge, hügede, behügede, gehügede, ge-
hugnisse, hugnisse W (Gedächtnis); gedaehtnisse, gedenknüsse, gedenkunge W
Gedächtnis.99

98 Christian Stetter, »Orthographie als Normierung des Schriftsystems«, in: Schrift


und Schriftlichkeit, hg. v. H. Günther/O. Ludwig, Berlin/New York 1994,
1. Halbbd., S. 687–697, bes. S. 690.
99 Die Beispiele sind dem WMU (Anm. 25) entnommen.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 69

Wichtige Einsichten zur Erklärung der Identifizierungsvorgänge variierender


Erscheinungsformen lassen sich aus Konrad Lorenz’ »Versuch einer Natur-
geschichte menschlichen Erkennens«100 gewinnen. Darin spielt die Kon-
stanzwahrnehmung unter wechselnden Begleitumständen eine wichtige
Rolle. Lorenz sieht die Abstraktion des Wesentlichen, die aus den variieren-
den Akzidenzien beim Sehen und Hören erkennend vollzogen wird, als eine
Grundleistung menschlicher Wahrnehmung.101 Die Vorgänge sind dem Be-
wusstsein unzugänglich. Gespeicherte Informationen werden von einem un-
bewussten Verrechnungsapparat auf ihre essentielle Invarianz hin sortiert.
Die von Lorenz so genannten »ratiomorphen Vorgänge« übertreffen die
rationale Fähigkeit.102 Die Abstraktionsleistung, die eine Vorstufe des be-
grifflichen Denkens bildet, bleibt auch darüber hinaus virulent. Sie ist für die
»kombinatorische Mächtigkeit« in der Bewältigung von Graphemmengen
verantwortlich und steuert den Umgang mit schriftlichen Texten im Ap-
perzeptions- und Reproduktionsprozess. Beim Hören und Sehen führt die
Identifikation von Syntagmen und Sätzen zu einem ›Abstrakt‹, das dann
wiederum mit Varianzen reproduziert wird.
Wie insbesondere die Ausführungen zu der Landfriedenstradition gezeigt
haben, wurde trotz wechselnder Erscheinungsform nach mittelalterlichem
Verständnis immer der gleiche ›Text‹ weitergegeben. Das entspricht dem von
Konrad Ehlich im Rahmen der Sprechakttheorie entwickelten Textbegriff.103
Abgehoben von der landläufigen Vieldeutigkeit des Wortes erklärt er als
›Text‹ die gespeicherte Sprechhandlung, die aus der ursprünglichen Sprech-
situation gelöst in neue Situationen vermittelt wird. Sie kann, muss aber nicht
in Schrift materialisiert sein. Dieser Begriff von Text impliziert, ohne dass
Ehlich darauf eingeht, Variabilität im oralen und literalen Ausdruck.104
Die Entstehung und Reproduktion schriftlicher Texte ist über folgende
Stationen denkbar: Zunächst gliedert derjenige, der Ereignisse, Rechtsvor-
gänge, Vorstellungsentwürfe mündlich oder schriftlich formuliert, unbewusst
die Gedankenkomplexe in Informationsteile, in überschaubare Syntagmen,
die im Fortlauf das Gemeinte ergeben.105 Der Abschreibende bildet den Text
dann nicht Buchstaben für Buchstaben, auch nicht isoliert Wort für Wort
nach, sondern reproduziert wiederum untergliederte zusammenhängende In-

100 Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte
menschlichen Erkennens, München/Zürich 1997.
101 Ebd., S. 152.
102 Ebd., S. 156.
103 Ehlich, Text (Anm. 95).
104 Peter Strohschneider, »Textualität der mittelalterlichen Literatur. Eine Problems-
kizze am Beispiel des ›Wartburgkrieges‹«, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen
alten Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel, Leipzig 1999, S. 19–41, bes.
S. 21 f., hat ebenfalls Ehlichs Textbegriff aufgenommen; aber im Interesse, die
Eigenart mittelalterlicher Textualität zu erfassen, hat er andere Akzente gesetzt.
Er hebt auf die Bindung an die Situation des Wiedergebrauchs ab, während mir
die Überbrückung der Sprechsituationen durch einen abstrakten Gedanken- und
Vorstellungskomplex (den Text) wichtig ist.
105 Vgl. W. Raible, Rechtssprache (Anm. 6), S. 21ff.
70 Ursula Schulze

formationen. Innerhalb dieser größeren oder kleineren Teile des Ganzen


treten bei der Wiedergabe Verschiebungen an der Textoberfläche auf, ohne
dass sich der Sinn dessen, was reproduziert wird, im Bewusstsein des
Schreibers verändert. Mit der beschriebenen Varianz der Textoberfläche
korrespondiert in der Tiefenstruktur ein vermeintlich konstantes Abstrakt.
Die Reproduktion des Textes geht also von einem sententialen Verständnis
aus, das eine mehr oder weniger veränderte, neue Performanz erhält. Insofern
wurde Varianz nicht, wie Nichols sagt, kultiviert, jedenfalls nicht im Sinne
eines voluntativen Aktes106, sondern sie ergibt sich gewissermaßen als Be-
gleiterscheinung einer sinngemäßen Textreproduktion. Dieser Prozess ent-
spricht – sicher unreflektiert – mittelalterlichen Maßstäben, die in Ausein-
andersetzung mit der antiken Rhetorik für den Umgang mit Texten diskutiert
wurden; denn in der mnemotechnischen Praxis besaß die memoria ad rem,
die mit Hilfe neuer verbaler Einkleidung dargeboten wurde, den höheren
Rang gegenüber der simplen Wort-für-Wort-Wiederholung, und durch die
adaptierende Aufnahme glaubte man die bleibende res im kontinuierlichen
Prozess des Verstandenwerdens bewahrt.107
Aus den komplexen Voraussetzungen für die Beweglichkeit der Textober-
fläche im rechtssprachlichen Bereich lassen sich folgende Gesichtspunkte
resümieren, die bis zu einem gewissen Grade auch auf andere literarische
Traditionen übertragbar sind108:
– Abwandlungen ergeben sich aus dem Prinzip, Texte durch Variation von
Strukturmodellen zu generieren und zu tradieren, das aus der oralen Kultur
kommend in allen Literaturbereichen fortwirkt.
– Varianzen werden gefördert durch die Gebrauchsbedingungen rechtlicher
Texte (Friedensordnungen, Stadtrechte, Rechtsbücher), die zwischen
mündlichem und schriftlichem Status, zunächst auch zwischen lateini-
schen und deutschen Versionen hin- und herwechseln, wobei die ›Richtig-
keit‹ des durch den Text vermittelten Inhalts anerkannt wird, wenn rechts-
sichernde Vollzugsakte (Zeugen, Eid) und Zeichen (Siegel) die Gültigkeit
bezeugen.
– Aus den genannten Bedingungen ergibt sich ein Maßstab, den Text nach
inhaltlichen Gesichtspunkten (sententialiter) zu beurteilen, nicht nach dem
Wortlaut, selbst wenn die Aufnahme von worte ze worte betont wird, d. h.
es wird mit einem semantisch begründeten Identitätsbegriff operiert.
– Gewährsinstanz für den adäquaten Transport des Inhalts (sensus, res) sind
nach mittelalterlichem Verständnis die personalen Vermittler und Rezipi-

106 Stephen G. Nichols, »Introduction. Philology in a Manuscript Culture«, Specu-


lum 65, 1990, S. 1–10, S. 9: »the medieval culture did not simply live with
diversity, it cultivated it.«
107 Vgl. Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval
Culture, Cambridge 1990, bes. S. 189 f.
108 Die Feststellung, dass die beschriebenen Varianzerscheinungen prinzipiell die
Literaturbereiche übergreifen, schließt selbstverständlich nicht aus, dass be-
stimmte artifizielle und andere Ansprüche besondere Bedingungen schaffen. Vgl.
Thomas Cramer, »Mouvance«, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft, S. 150–181.
Varianz und Identität in rechtssprachlichen und dichterischen Texten 71

enten in der irdischen Welt und darüber hinaus die transzendente Instanz
Gottes, der jederzeit einwirken und eingreifen kann.
Auf Grund dieser Voraussetzungen standen schriftlich überlieferte Texte für
variierende Formulierungen und Modifikationen offen.
Erst nach Erfindung der beweglichen Lettern und der damit verbundenen
technischen Organisation (Auswählen und Setzen einzelner Buchstaben),
verliert die Durchlaufstation des Sinnabschnitte erfassenden und reproduzie-
renden Schreibers ihre Bedeutung zugunsten eines eher buchstabenorientier-
ten Setzers.109 Z. B. fordert und fördert die Korrektur der Probedruckbögen
den kontrollierenden Blick und wohl auch ein Normierungsbedürfnis. Da-
durch entsteht erst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Wort
und Bild die Voraussetzung für einen neuen Begriff von Textidentität, der
sich auf die visuelle Oberfläche des Gedruckten gründet.

109 Vgl. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische
Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikations-
technologien, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 90ff.
Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe
»Laudines Kniefall«
und das Problem des »ganzen Textes«

Albrecht Hausmann (Göttingen)

Text und Kultur: Gut möglich, dass diese Themenstellung zu Beiträgen


ermutigen sollte, die einen Zusammenhang herstellen zwischen der Kultur-
geschichte des Mittelalters und einer spezifisch mittelalterlichen Textualität –
oder allgemeiner: Verfassung – von Literatur. Wenn ich in meinem Beitrag
auf eine solche »kulturhistorische« Argumentation weitgehend verzichte und
stattdessen an einem forschungsgeschichtlich prominenten Beispiel nach den
Bedingungen und Möglichkeiten des Erkennens – und das heißt konkret: des
Edierens und Interpretierens – mittelalterlicher Literatur frage, dann ist dies
gegenüber solchen »kulturhistorischen« Ansätzen weder grundsätzlich kri-
tisch noch polemisch gemeint.1 Ich möchte nur vorsichtig sein und vor die
Rede von der Andersartigkeit mittelalterlicher Textualität und Überlieferung
die (Selbst)reflexion über unsere Kultur des Edierens und Interpretierens
stellen – und zu dieser »Kultur« gehören sowohl die »alte« wie auch die
»neue« Philologie2, welche jener »alten« vorrechnet, dass sie mit ihrem

1 Zu den grundsätzlichen Problemen »kulturwissenschaftlicher« Ansätze in der Lite-


raturwissenschaft vgl. Walter Haug, »Literaturwissenschaft als Kulturwissen-
schaft?«, DVjs 73, 1999, S. 69–93; Gerhart v. Graevenitz, »Literaturwissenschaft
und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung«, ebd., S. 94–115; Walter Haug, »Er-
widerung auf die Erwiderung«, ebd., S. 116–121.
2 Einen guten Überblick über die Diskussion um eine »neue« Philologie vermittelt
Karl Stackmann, »Autor – Überlieferung – Editor«, in: Das Mittelalter und die
Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Frei-
burger Colloquium 1997, hg. v. E. C. Lutz, Freiburg 1998, S. 11–32. – Vgl.
außerdem Karl Stackmann, »Neue Philologie?«, in: Modernes Mittelalter. Neue
Bilder einer populären Epoche, hg. v. J. Heinzle, Frankfurt a. M., Leipzig 1994,
S. 398–427; Alte und neue Philologie, hg. v. M.-D. Gleßgen/F. Lebsanft, Tübingen
1997 (Beihefte zu editio 8) darin insbesondere die Beiträge von Rüdiger Schnell
und Dietmar Rieger; Peter Strohschneider, »Situationen des Textes. Okkasionelle
Bemerkungen zur ›New Philology‹«, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft, S. 62–86. – Eine
Positionsbestimmmung einer »neuen« Philologie versucht Stephen G. Nichols,
»Why Material Philology? Some Thoughts«, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft, S. 10–
30. – Die Diskussion in den USA (v. a. innerhalb der Romanistik) kann hier nicht
nachgezeichnet werden; auslösend waren die Beiträge in Speculum 65, 1990, S. 1–
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 73

Interesse an Autor und Werk der historischen Wirklichkeit nicht gerecht


geworden sei.3 Ausgangspunkt dieser Reflexion soll ein vertracktes Über-
lieferungsproblem sein, das sich auch in jüngster Zeit wieder als exem-
plarische Herausforderung für methodisch-theoretische Überlegungen zur
Edition, aber auch zur Interpretation mittelalterlicher volkssprachiger Lite-
ratur erwiesen hat: »Laudines Kniefall«, also die Verse 8121–8136 des Iwein
Hartmanns von Aue.4 Ziel ist es, in kritischer Auseinandersetzung insbe-
sondere mit dem Fassungskonzept von Joachim Bumke5 (II) einerseits mit
aller Vorsicht nach den vielleicht ja doch noch vorhandenen Möglichkeiten
einer rekonstruierenden Philologie zu fragen (III) und andererseits die De-
batte in den Bereich der interpretierend-inhaltlichen Arbeit hinein auszu-
dehnen (IV).

II

Die Überlieferung des Hartmannschen Iwein ist bekanntermaßen verzwickt,


ja man könnte behaupten, dass sich gerade an diesem Text zeigt, dass die
Lachmannsche Methode bei mittelalterlichen Überlieferungsverhältnissen

108, sowie Bernard Cerquiglini, Éloge de la variante. Histoire critique de la


philologie, Paris 1989; überwiegend kritisch dazu: Towards a Synthesis? Essays on
the New Philology, hg. v. Keith Busby, Amsterdam/Atlanta 1993. – Grundsätzlich zu
vergleichen sind die Vorschläge zu »textgeschichtlichen« Editionen, die von Georg
Steer und Kurt Ruh bereits in den 70er Jahren entwickelt wurden (z. B. Georg Steer,
»Textgeschichtliche Edition«, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung, hg.
v. K. Ruh, Tübingen 1985, S. 37–52).
3 Vgl. Stackmann, Autor (Anm. 2), S. 29. – Zumindest einige Ansätze der sogenann-
ten »neuen« Philologie lassen sich als Versuch bewerten, aktuelle kulturwissen-
schaftliche Theorien in den engeren Bereich der Philologie und Editorik hinein-
zutragen. Problematisch wird dies immer dann, wenn die methodischen Schwierig-
keiten, die es angesichts mittelalterlicher Überlieferung gibt (Varianzbefund, Fehlen
von »Originalen«), auf die Alterität der tatsächlichen mittelalterlichen Verhältnisse
abgewälzt und Befund und Methode unzulässig vermischt werden – so schon bei
Cerquiglini, Éloge (Anm. 2): Die Varianz mittelalterlicher Überlieferung zeige, dass
es die »Idee« von Autorschaft im Mittelalter nicht gegeben habe. Kritisch dazu
Albrecht Hausmann, Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung
und zur programmatischen Identität, Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica
40), S. 14–17.
4 Zitiert nach: Hartmann von Aue, Iwein, hg. v. Ludwig Wolff, Berlin 1968. Ergän-
zend dazu (jedoch wenig benutzerfreundlich): Werner Schröder, Ludwig Wolffs
Nachlese zu seiner ›Iwein‹-Ausgabe von 1968, Stuttgart 1992. Chrestiens Yvain wird
zitiert nach: Der Löwenritter (Yvain) von Chrestien von Troyes, hg. v. Wendelin
Foerster, Halle 41912.
5 Programmatisch und ausführlich formuliert in der allgemeinen Einführung zu
Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen zur
Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert,
Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zu Literatur- und Kulturge-
schichte 8), S. 1–88. Inzwischen ist auch die zugehörige Edition erschienen: Die
›Nibelungenklage‹. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hg. v. Joachim
Bumke, Berlin/New York 1999.
74 Albrecht Hausmann

scheitern muss – obwohl der Iwein der erste von Lachmann edierte mittel-
hochdeutsche Großtext war.6 Die mehr als dreißig Textzeugen (Lachmann
kannte – z. T. in unsicheren Abschriften und Drucken – nur acht)7 scheinen
teilweise von Lesart zu Lesart wechselnde Verwandtschaftsverhältnisse ein-
zugehen, ein konsensfähiges Handschriftenstemma hat sich deshalb bis heute
trotz erheblicher Anstrengungen nicht aufstellen lassen.8 Anscheinend verlief
die Texttradierung nicht linear, sondern ist geprägt durch die wohl mehrfache
Kontamination verschiedener Vorlagen auf einzelnen Überlieferungsstufen.9
Immerhin existieren zwei frühe Handschriften, die relativ nahe an die wahr-
scheinliche Entstehungszeit des Textes heranführen (A, B).10 Doch gerade
diese beiden Handschriften unterscheiden sich ganz erheblich voneinander: A
bietet insbesondere zum Schluss hin weniger Text als B, oder genauer:
Während in B fast nur einzelne Verse oder Verspaare gegenüber A »fehlen«
(insgesamt 24), gehen A gegenüber B meist längere Versgruppen oder ganze
Passagen ab (insgesamt 154 Verse)11 – wobei zunächst nicht feststellbar ist,
welcher Zustand jeweils primär, welcher sekundär ist. Am meisten Anlass zu
Diskussionen gaben die Verse 8121–8136, die nur in B enthalten sind (und in
den beiden jüngeren Handschriften a [Dresden, Sächs. LB, Ms. Dresd. M
175] und d [Wien, ÖNB, Cod. ser. nova 2663 »Ambraser Heldenbuch«; hier
nur bis v. 8132): Laudine fällt vor Iwein auf die Knie und bittet ihn um
Verzeihung (»Laudines Kniefall«). Der Gelehrtenstreit um diese Stelle, deren
An- oder Abwesenheit dem ganzen Iwein eine andere Richtung zu geben
scheint, ist bis heute nicht verstummt, ein Konsens wurde nicht erreicht.12

6 Iwein. Der riter mit dem lewen, hg. v. Georg F. Benecke/Karl Lachmann, Berlin
1827.
7 Ebd., S. 3f.
8 Vgl. u. a. Hermann Paul, »Ueber das gegenseitige Verhältnis der Handschriften von
Hartmanns Iwein«, PBB 1, 1874, S. 288–401; Hartmann von Aue, Iwein der Ritter
mit dem Löwen, hg. v. Emil Henrici, zweiter Teil: Anmerkungen, Halle 1893 (die
zahlreichen vorausgehenden Arbeiten Henricis zu einzelnen Iwein-Hss. sind nach-
gewiesen bei Okken [s. u.], S. 22–25); Konrad Zwierzina, »Allerlei Iweinkritik«,
ZfdA 40, 1896, S. 225–242; Ludwig Wolff, »Die Iwein-Handschriften in ihrem
Verhältnis zueinander«, in: Festschrift Helmut de Boor zum 75. Geburtstag,
Tübingen 1966, S. 111–135; Lambertus Okken, Ein Beitrag zur Entwirrung einer
kontaminierten Manuskripttradition, Proefschrift Utrecht 1970.
9 Der sehr komplexe Versuch bei Okken, Entwirrung (Anm. 8), Licht in diese
anscheinend kontaminierte Überlieferung zu bringen, hat ebenfalls nicht zu einem
editorisch oder interpretatorisch verwertbaren Ergebnis geführt. Im Ansatz scheint
sich Okkens Konzept mit der weiter unten geforderten Verabschiedung der Doktrin
des »ganzen« Textes zu berühren.
10 A = Heidelberg, UB, Cpg. 397; B = Gießen, UB, Hs. 97 (mit den als e bezeich-
neten Ergänzungen auf den Bll. 90r-92v). Zur Datierung vgl. Karin Schneider,
Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um
1300, Textband, Wiesbaden 1987, S. 147–149 (zu B: 2. Viertel 13. Jh.) und S. 156–
158 (zu A: »eher zu Beginn des 2. Jahrhundertviertels [des 13. Jh.s]«).
11 Werner Schröder, ›Laudines Kniefall‹ und der Schluss von Hartmanns ›Iwein‹,
Stuttgart 1997, S. 17.
12 Ausführliche Darstellung und Diskussion der Problematik mit wichtigen An-
regungen: Christoph Gerhardt: »Iwein-Schlüsse«, Literaturwissenschaftliches Jahr-
buch 13, 1972, S. 13–39. – Bemerkenswert der Meinungswandel bei Kurt Ruh. Im
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 75

Übereinstimmung aber gab es in der Auffassung, dass man sich jedenfalls für
eine der beiden Lesarten – mit oder ohne Kniefall – zu entscheiden hätte,
dass man sich also auf ein bestimmtes Überlieferungsszenario festlegen
müsste. Das tut auch noch der heute »geltende« Iwein-Text von Ludwig
Wolff. Wolff hält sich zwar überwiegend an die Handschrift A, inseriert aber
– ohne weitere Markierung – die Kniefall-Szene nach B.13
In dieser Situation wirkt das »Fassungskonzept« von Joachim Bumke, das
dieser gerade auch am Iwein vorstellt,14 wie ein beherzter, längst überfälliger
Befreiungsschlag; jedenfalls stellt es den derzeit wohl avanciertesten Versuch
dar, mit derartigen Überlieferungsproblemen fertig zu werden. Bumke
kommt zu dem Ergebnis, dass die beiden in den frühen Handschriften A und
B dokumentierten Iwein-Versionen *A und *B als »gleichwertige Fassun-
gen«15 zu sehen sind; die Frage nach dem ursprünglichen Text stelle sich
dann nicht mehr: »Die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen lassen
sich nicht im Sinne von echt und unecht, primär und sekundär, bestimmen.
Man muß sich mit der Feststellung begnügen, daß es, wie bereits Henrici
vermutete, ›mehrere echte »Iweine»‹ gegeben hat.«16 Nach Bumke gilt dies
nicht nur für den Iwein, sondern in beträchtlichem Umfang auch sonst für die
höfische Epik. Immer wieder, so Bumke, lägen die Texte in »gleichwertigen«

ersten Teil seiner Höfischen Epik des deutschen Mittelalters sprach er sich in der
ersten Auflage (Berlin 1967, S. 155 f.) zumindest dafür aus, die Kniefall-Szene als
»das größte Mißverständnis der Nachdichtung« anzusehen. Zehn Jahre später
kommt er in der zweiten Auflage (1977, S. 161) zur gegenteiligen Auffassung und
zweifelt nicht an der Echtheit der Verse. Zuletzt ausführlich und in der Absicht, die
»Unechtheit« der Stelle nachzuweisen: Schröder, Kniefall (Anm. 11), mit einer
Zusammenfassung älterer Positionen.
13 Zur Begründung bemerkt Wolff, Ausgabe (Anm. 4), S. VI: »Umstritten ist es, ob V.
8121–8136 von Hartmann stammen. Ich glaube, daß wir darin einen nachträgli-
chen Zusatz des Dichters haben […].«
14 Bumke, Fassungen (Anm. 5), v. a. S. 5–11, 30–60.
15 Ebd., S. 32 (Definition des Fassungsbegriffs) u. ö.
16 Ebd., S. 42. – Man wüsste allerdings gerne, an welcher Stelle die (für sich
zunächst gar nicht bezweifelte) These von den beiden frühen Iwein-Fassungen das
Problem der stemmawidrigen Lesartenkonstellationen berührt oder gar löst. Inwie-
fern handelt es sich bei dieser These um eine Antwort auf die Frage nach dem
Zustandekommen von signifikanten Übereinstimmungen zwischen Handschriften,
die allem Anschein nach nicht nahe verwandt sind? Dass Iwein-Handschriften
verwandt sind, dass sie sich in Gruppen einordnen lassen, die auf gemeinsame
Vorlagen zurückgehen, also die prinzipielle Möglichkeit von Stemmabildungen,
leugnet Bumke ja keineswegs: Seine »Fassungen« *A und *B stellen Ausgangs-
versionen dar, wie sie die traditionelle Textkritik immer wieder als primäre
Archetypfiliationen gesucht und auch gefunden hat. Dann aber bleibt das Problem
der Handschriftenkontamination, das für Bumke ein wesentliches Indiz für die
Unangemessenheit der traditionellen Textkritik ist, in vollem Umfang erhalten.
Auch wer von zwei ursprünglichen und gleichwertigen »Fassungen« *A und *B
ausgeht, tut sich schwer zu erklären, wie »Laudines Kniefall« von der Fassung B in
zwei späte Handschriften (a, d) gelangte, deren Textgestalt ansonsten die »Fas-
sung« *A repräsentiert. Allenfalls kann Bumke dieses Phänomen leichter als seine
»traditionellen« Vorgänger marginalisieren, weil es nicht schon die primären
Fassungen, sondern erst die insgesamt weniger relevanten Bearbeitungen betrifft.
76 Albrecht Hausmann

Parallelfassungen vor, zwischen denen sich eine textkritische Entscheidung


grundsätzlich verbiete. Vielmehr handle es sich bei der Existenz solcher
frühen »Fassungen«, deren wesentliches Merkmal ein erkennbarer Gestal-
tungswille des jeweiligen Redaktors sei,17 um ein spezifisches Phänomen der
älteren Überlieferung, die sich hierin grundlegend von den historisch jün-
geren »Bearbeitungen« unterscheide.18
Peter Strohschneider hat gezeigt, dass Bumke mit seinem Modell keines-
wegs einen radikalen Neuansatz vollzieht, sondern vielmehr einen »mittleren
Weg« zwischen »alter« und »neuer« Philologie beschreitet, und zwar inso-
fern, als er mit seiner Definition des Fassungsbegriffs eine »Subjektposition«
installiere, »die er [Bumke] mit dem Kriterium der Intentionalität versieht.«19
Zwar wird der Autor verabschiedet, nicht aber die grundsätzliche Vorstellung
von Autorschaft, die – übertragen auf die Redaktoren als Urheber der
Fassungen – in Geltung bleibt. Das damit einhergehende Festhalten am
Originalitätsbegriff ermöglicht es Bumke, Überlieferungsorientierung und
traditionelle literaturwissenschaftliche Methodik in Einklang zu bringen.
Weniger ausführlich geht Strohschneider auf die eher grundsätzlichen
erkenntnistheoretischen Probleme ein, die sich mit Bumkes Ansatz verbinden
und die sich keineswegs in dem von Strohschneider benannten Komplex der
»Klassifikation« von Varianten erschöpfen.20 Prekär erscheint schon der für
Bumkes Konzept zentrale Begriff der »Fassung«. Explizit definiert Bumke
die »Fassung« vom Gestaltungswillen eines Redaktors her. Gleichzeitig aber
attribuiert Bumke der »Fassung« vor allem Merkmale, die sich von ihrer
Stellung im Stemma her erklären: Es gehört nach Bumke zu den wesentli-
chen Eigenschaften von »Fassungen«, dass über sie hinaus keine Rekonstruk-
tionen von Textzuständen mehr möglich sind – im Gegensatz zu den »Bear-
beitungen«, die wenigstens theoretisch den Vergleich mit vorgängigen Text-
stufen erlauben.21 »Fassungen« stehen demnach im Normalfall am Beginn
des jeweiligen Stemmas.22 Vor ihnen wäre allenfalls noch der Archetyp
anzusetzen, als dessen primäre Filiationen die »Fassungen« dann erschienen.
Von diesem Archetyp will Bumke zwar nichts wissen, aber seine »Fassun-
gen« weisen alle Merkmale von primären Archetyp-Filiationen auf, und dies
wohl auch deshalb, weil die Überlieferungsbefunde, die Bumke zur Stützung
seiner Thesen vorbringt, oft auf ältere Untersuchungen zurückgehen, die
eben auf die Rekonstruktion von Stemmata und Archetypen zielten.

17 Ebd., S. 32 (zum Begriff »Gestaltungswille«).


18 Ebd., S. 45 f. (Abgrenzung »Fassung« und »Bearbeitung«).
19 Peter Strohschneider, »Rez. zu J. Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibelungen-
klage‹«, ZfdA 127, 1998, S. 102–117, hier S. 115.
20 Ebd., S. 116 f.
21 Vgl. Bumke, Fassungen (Anm. 5), S. 45 f.
22 Dies – und nicht der in ihnen besonders wirksame Gestaltungswille eines Re-
daktors – dürfte auch der Grund dafür sein, dass »Fassungen« anders als »Bearbei-
tungen« traditionsbildend wurden; vgl. ebd., S. 49: »Sachlich sind die Fassungen
zum größten Teil identisch mit den Handschriftengruppen, die die traditionelle
Textkritik nachgewiesen hat.«
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 77

Konzentriert man sich auf diesen bei Bumke nur impliziten stemmatologi-
schen Aspekt des Fassungsbegriffs – der zu seiner expliziten Definition
(»Gestaltungswille«) in einem erheblichen logischen Widerspruch steht23 –,
dann erscheint das Phänomen der (häufig zwei) frühen Parallelfassungen
nicht so sehr als Ausdruck eines für eine bestimmte, nämlich frühe Über-
lieferungsphase charakteristischen Verhaltens von Textredaktoren als viel-
mehr als Ergebnis einer grundsätzlichen Aporie, welche der Methode rekon-
struierender Textkritik in der Prägung durch Lachmann zu Eigen ist.24 Ihre
Voraussetzung nämlich ist das Stemma, das im Rahmen der Recensio durch
Kollation hergestellt wird. Das Stemma beruht auf der Klassifizierung von
Handschriften nach bestimmten Textmerkmalen; die Handschriften einer
Gruppe sollen direkt oder indirekt auf eine gemeinsame Vorstufe zurück-
gehen, welche alle übereinstimmenden Merkmale der dieser Gruppe ange-
hörenden Handschriften besaß. Solche Merkmale aber kann es immer nur im
Vergleich mit anderen Überlieferungsträgern bzw. Handschriftengruppen ge-
ben, die sich eben in diesen »Merkmalen« von der zu vergleichenden Gruppe
unterscheiden. Der Textkritiker sucht deshalb zunächst immer nach mehreren
Handschriftengruppen, aber sie sind nicht sein eigentliches Ziel: Alles dient
dazu, den Archetyp zu finden, von dem aus alle Gruppen ihren Ausgang
genommen haben.
Gegen die von Bumke als letztlich irrelevant (»theoretisch«)25 abgetane
und in der aktuellen Diskussion insgesamt eher ungeliebte Vorstellung, dass

23 Dies wird etwa beim Begriff »Nebenfassung« deutlich, den Bumke, Fassungen
(Anm. 5), S. 599 u. ö., mit Blick auf die »Fassungen« *J und *D der Nibelungen-
klage verwenden muss: Es handelt sich nach Bumkes impliziter stemmatologischer
Definition um »Bearbeitungen«, die aber so viel »Gestaltungswillen« zeigen, dass
Bumke sie nicht als »Bearbeitungen« marginalisieren will.
24 Es ist hier nicht der Ort, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
insbesondere in der Romanistik geführte Debatte um die grundsätzlichen Defizite
der sogenannten Lachmannschen Methode (mit den Protagonisten J. Bédier, E.
Faral, A. Dain u. a.) nochmals zu wiederholen. Einen Überblick vermittelt Karl
Stackmann, »Mittelalterliche Texte als Aufgabe«, in: Festschrift für Jost Trier zum
70. Geburtstag, hg. v. W. Foerste/K. H. Borck, Köln/Graz 1964, S. 240–267 – ein
Aufsatz, der insgesamt eine forschungsgeschichtlich bedeutende Positionsbestim-
mung darstellt –, detaillierte theoretische Überlegungen finden sich bei Okken,
Entwirrung (Anm. 8), S. 7–21. Tatsächlich beziehen sich die folgenden Ausführun-
gen nicht auf die Lachmannsche Methode im engeren Sinn, sondern auf deren
Grundprinzip, das Konzept der Kollation. Die Lachmannsche Methode ist selber
bereits aus der Auseinandersetzung mit den prinzipiellen Problemen des Kolla-
tionsverfahrens entwickelt worden und besteht wesentlich aus dem Versuch, diese
Probleme durch zusätzliche Techniken einzudämmen (Fehlerbegriff u. ä.). Zur
Lachmannschen Methode nach wie vor grundlegend: Sebastiano Timpanaro, La
genesi del metodo del Lachmann, Florenz 1963 (dt. Die Entstehung der Lach-
mannschen Methode, Hamburg 21971).
25 Bumke, Fassungen (Anm. 5), S. 48: »Man kann daran festhalten, daß ein höfisches
Epos von einem bestimmten Autor verfaßt worden ist, daß der Originaltext
verlorengegangen ist und daß mehrere Fassungen überliefert sind, von denen nicht
sicher ist, in welchem Verhältnis sie zum Original stehen. Aber das ist sozusagen
nur ein theoretischer Standpunkt.«
78 Albrecht Hausmann

es einen solchen Archetyp und auch ein Original gab, ist für sich genommen
nichts einzuwenden. Aber seine Textgestalt ist mit den Mitteln des Vergleichs
bei varianter Überlieferung grundsätzlich nicht rekonstruierbar. Wenn sich
etwa die Stufen (»Fassungen«) *A und *B dadurch unterscheiden, dass *A
eine bestimmte Textpassage (z. B. im Iwein: Laudines Kniefall) fehlt, wäh-
rend sie in *B enthalten war, dann ist es durch bloßen Vergleich unmöglich
zu sagen, ob diese Passage in *AB enthalten war oder nicht; es fehlt schlicht
eine Kontrollüberlieferung außerhalb der Gruppen *A und *B, durch die der
Textzustand entweder von *A oder von *B als sekundär erwiesen werden
könnte. Gäbe es eine dritte Gruppe (z. B. *C), die wie *B die bewusste
Passage enthält, dann könnte man als wahrscheinlich gelten lassen, dass *AB
diese Passage ebenfalls noch überliefert hat und es erst in *A zu einem
sekundären Ausfall kam. Aber das Original wäre damit immer noch nicht
erreicht: Nun steht *AB gegen *C, und da sich *C in irgendeinem relevanten
Merkmal von *AB unterscheiden muss (sonst wäre die Annahme einer
Gruppe *C im Stemma überflüssig gewesen), stellt sich nun die Frage, ob der
Archetyp *ABC in diesem Merkmal entweder *AB oder *C folgte; wie-
derum ein ohne Kontrollüberlieferung durch Kollation allein nicht lösbares
Problem.
Die Gruppenbildung mittels Kollation ist für den Textkritiker demnach
einerseits der einzige Weg zum Archetyp, andererseits aber auch die Me-
thode, die für sich allein die Rekonstruktion des konkreten Textzustandes
dieses Archetyps gerade nicht zulässt.26 Bumke schließt aus den Schwierig-
keiten, die die traditionelle Textkritik bei der Rekonstruktion des »Originals«
hatte, dass die Textkritiker nicht mit dem – für Bumke – historischen
Phänomen der gleichwertigen Parallelfassungen zurechtkamen. Das Problem
liegt jedoch zunächst im methodischen Bereich: Hinter den Parallelfassungen
kann sehr wohl grundsätzlich e i n Archetyp und auch ein Autortext stehen,
nur ist dieser nicht – jedenfalls nicht mit den Mitteln des textkritischen
Vergleichs – rekonstruierbar. Nicht das historische Fehlen von »Originalen«
oder »Archetypen« und damit eine Besonderheit mittelalterlicher Kultur,
sondern die Unmöglichkeit, sie mit den eigenen methodischen Mitteln zu
rekonstruieren, war und ist das Problem einer Textkritik, die mit Hilfe des
Kollationsverfahrens auf den »originalen« Text zielt. Das Phänomen der
»Parallelfassungen« ist also das Ergebnis eines Kollationsverfahrens, das
Primärfiliationen gegenüber späteren Überlieferungsstufen einen privilegier-
ten Status zuweist; »gleichwertig« sind diese Parallelfassungen nicht in
einem historischen Sinn, sondern allenfalls in einem methodischen, nämlich
aufgrund ihrer »gleichen« Positionen im Stemma. Diese »Fassungen« unter-
scheiden sich von den »Bearbeitungen«, die Bumke an späteren Stellen im

26 Aus diesem Grund hat die rekonstruierende Textkritik eine Reihe von Zusatz-
instrumenten entwickelt, die das Kollationsverfahren methodisch ergänzen sollen.
Solche Instrumente sind etwa der Fehlerbegriff (Bindefehler u. ä.) oder die Vor-
stellung der Lectio difficilior. Gerade diese Konzepte aber haben das ansonsten
sehr rationale, letztlich empirisch arbeitende Kollationsverfahren für subjektive
Entscheidungen geöffnet.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 79

Stemma ansetzt, zunächst einmal bloß von ihrem erkenntnistheoretischen


Status her: Die »Fassung« ist eine »Bearbeitung«, deren Bearbeitungstendenz
aus methodischen Gründen nicht zu bestimmen ist. Sie unterscheidet sich
nicht substantiell-historisch, sondern methodisch-erkenntnistheoretisch von
Bumkes »Bearbeitung«.
Aber selbst wenn man diese Probleme, die auf den ersten Blick als
theoretische Spitzfindigkeiten abgetan werden könnten, nicht weiter berück-
sichtigt, bleibt die Frage nach dem praktischen Nutzen von Bumkes Fas-
sungstheorie. Denn für den Literaturwissenschaftler ist mit der Kenntnis nur
der Fassungen nicht viel gewonnen. Der Interpret, der den Gestaltungswillen
beispielsweise des *A-Redaktors des Iwein beschreiben möchte, steht vor
dem Problem, dass er dabei – so verstehe ich Bumke – nicht von einer
rekonstruierten Fassung *AB ausgehen darf – diese entzieht sich ja dem
Blick oder lag historisch gar nicht vor. Der in *A oder *B dokumentierte
Gestaltungswille ist aber nicht mit der Differenz zwischen *A und *B
gleichzusetzen, sondern wirkt in jenem dann ja gerade nicht beschreibbaren
Überlieferungsvorgang, der von *AB zu *A geführt hat. Vergleicht man *A
und *B im Falle des Iwein ohne zusätzliche Informationen, dann lässt sich
allenfalls sagen, dass *B meist mehr Text bietet bzw. geboten hat als *A.
Bearbeitungstendenzen lassen sich daraus nicht erkennen, denn es ist ja nicht
klar und liegt rein logisch auch gar nicht im Interesse des Anhängers der
»Fassungsthese«, ob *A eine sekundäre Reduktion bietet oder *B eine
sekundäre Erweiterung. Mehr noch: Beides kann zusammenkommen, kann in
Bezug auf verschiedene Passagen jeweils der Fall sein. Ohne zu wissen, wie
*AB ausgesehen hat, lässt sich auch nicht sagen, was beispielsweise der *A-
Redaktor daraus gemacht hat. Darüber hinaus können zwischen *AB und *A
Zwischenstufen liegen, die jeweils für sich bestimmte Bearbeitungstendenzen
aufgewiesen haben, die in ein und derselben Überlieferungslinie durchaus
auch gegensätzlich gewesen sein können (z. B. Kürzung auf der einen Zwi-
schenstufe, Erweiterung auf der nächsten). Die heute wahrnehmbaren erheb-
lichen Unterschiede zwischen zwei »Fassungen« können so auf eine Vielzahl
kleiner Eingriffe auf verschiedenen Überlieferungsstufen zurückgehen – und
nicht auf den einen deutlichen Gestaltungswillen. Aus all dem folgt, dass
Fassungen in Bumkes Sinn überhaupt nicht als Produkte, sondern immer nur
als Rezeptionsvorgaben interpretabel sind, obwohl sie von Bumke als Pro-
dukte von einer Subjektposition her (»Gestaltungswille«) definiert werden;
nicht der in ihnen dokumentierte Gestaltungswille lässt sich beschreiben,
sondern allenfalls die Art und Weise, wie die Textgestalt einer »Fassung« die
nachfolgenden Überlieferungsstufen oder die Rezeption dieser Fassung be-
einflusst hat. Dies aber hat mit dem Unterschied zum jeweils anderen
Überlieferungsast (z. B. *B) nichts mehr zu tun, denn dieser Unterschied ist
ja für den Rezipienten e i n e r Fassung gerade nicht zu sehen; innerhalb der
kommunikativen Situation, an der er teilhatte, kannte er nur diese eine
Fassung. Die Berücksichtigung des Varianzbefundes für die Interpretation
einer bestimmten Fassung dürfte deshalb vor erheblichen hermeneutischen
Schwierigkeiten stehen. Dieses Problem gilt übrigens auch für solche Mo-
80 Albrecht Hausmann

delle einer ›Neuen Philologie‹, die einerseits eine Éloge de la variante


anstimmen, zugleich aber jede rekonstruierende Überschreitung der Über-
lieferungsoberfläche verbieten.27 Denn ohne stemmatologische (also »text-
archäologische«) Überlegungen bleiben Varianten ohne historischen Aussa-
gewert.
Was also tun? Die folgenden beiden Kapitel dieses Beitrages können
selbstverständlich keine Lösung, sondern nur eine Lösungsperspektive bie-
ten; sie verstehen sich als ein Experiment in zwei Schritten, das vor allem zur
Diskussion herausfordern will: Zum einen soll eine Vorstellung problemati-
siert werden, die für eine Reihe von Dilemmata der Editionsphilologie seit
dem 19. Jahrhundert verantwortlich sein könnte – gemeint ist die Doktrin des
»ganzen Textes«. Zum anderen aber soll der Versuch unternommen werden,
Überlieferungskonstellationen wie bei »Laudines Kniefall« nicht editorisch,
sondern interpretatorisch zu bewältigen. Dass beides zusammenhängt, wird
sich dabei zeigen.

III

Für Bumke hat die »alte« Philologie abgewirtschaftet, weil sie von falschen
historischen Prämissen ausgegangen ist und vor allem nicht mit dem Vor-
liegen von Parallelfassungen gerechnet hat. Mir scheint es dagegen eher so
zu sein, dass die ältere Mittelalterphilologie die Grenze des Erkennens, die
ihr die Überlieferung setzt, nicht gesehen hat – oder aber gesehen hat und
doch zu viel wollte.28 Ihr Ziel nämlich war der »ganze Text«. Unter den
Voraussetzungen einer entwickelten Buchkultur ist das eine Selbstverständ-
lichkeit: Die Identität eines Textes entscheidet sich auf der linguistischen
Ebene des Wortlauts.29Aus der Integrität des Wortlauts aber beziehen dann
auch alle anderen denkbaren Aspekte eines Textes (»Form«, »Struktur«,
»rhetorische Gestalt« etc.) ihre Gültigkeit – der Text versteht sich insofern als
»ganzer Text«. Der »gültige« Wortlaut ist deshalb auch die Grenzlinie, an der
entlang die Aufgaben zwischen Editor und Interpret verteilt wurden und –
wenigstens meistens – noch werden. Die Forderung nach der Integrität des
Wortlauts und dementsprechend nach Texten, die in jeder Hinsicht und unter
jedem Aspekt in all ihren Konstituenten gleich gültig sind, ist mit der
Entstehung einer methodisch vorgehenden Philologie eng verbunden, und als
Zielvorstellung praktischer editorischer Bemühungen ist diese Forderung bis

27 Cerquiglini, Éloge (Anm. 2), S. 68: »[…] l’analyse doit être comparative, et non
pas archéologique.«
28 Die Spannung zwischen Anspruch und Realität wird schon in Lachmanns Ein-
leitung zu seiner Iwein-Edition von 1827 (Anm. 6, hier S. 8) deutlich: »bei diesem
ersten versuch, ein altdeutsches gedicht kritisch zu behandeln, sollte dem leser
recht fühlbar gemacht werden, daß jede kritik sich bestreben muß in worten und
wortformen das ursprüngliche herzustellen, ohne hoffnung vollkommenes [!] ge-
lingens.«
29 Strohschneider, Situationen (Anm. 2), S. 83.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 81

heute präsent, ja dominant: Der Editor hat einen »ganzen Text« zu liefern,
auf dessen Grundlage der Interpret mit seiner Arbeit beginnen kann.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass mit dem »ganzen Text«
das »Werk« gemeint ist, dass also die Forderung nach dem »ganzen Text« auf
eine bestimmte, nämlich autorzentrierte Sichtweise und damit auf die »alte«
Philologie beschränkt sei. Das ist jedoch nicht der Fall. Das »Werk«, das
seine Gültigkeit als Produkt eines Autors erlangt, ist nur e i n e Spielart des
»ganzen Textes«. Der Bezugspunkt für die »Gültigkeit« eines Textes muss
nicht der Autor sein, er kann auch in der Dignität des historischen Doku-
ments liegen, das ihn enthält, oder überhaupt in dem Wert, den man histori-
schen Manifestationen zubilligt. Wer strikt nach dem Leithandschriftprinzip
ediert, rechtfertigt auch das damit, dass nur so ein »ganzer Text« zu erreichen
sei – »ganz« in dem Sinn, dass alle Elemente und Aspekte des Textes sich
von einer Bezugsgröße her legitimieren (der Leithandschrift als historischem
Dokument) und insofern gleichmäßig gültig, ja sogar zueinander synchron
sind. Entsprechend verbieten sich Kontaminationen mit Lesarten anderer
Überlieferungsträger – sie erscheinen als »Fälschungen«.
Die New Philology geht sogar noch einen Schritt weiter. Wenn man mit
Strohschneider30 allgemein sagen kann, dass die verbindende Tendenz der
»neuphilologischen« Ansätze in einer Historisierung mittelalterlicher Texte
besteht, diese Historisierung aber insbesondere durch die Berücksichtigung
historischer Kontexte und nicht zuletzt des materiellen Kontextes »Hand-
schrift« (als Kommunikationsmaterial) erfolgen soll, dann wird hier die
Integritätsforderung über den linguistisch beschreibbaren Text hinaus ausge-
dehnt (z. B. auf Elemente der Seitengestaltung), die dann auch semiotisch
aufgeladen werden, also Zeichencharakter zugesprochen bekommen. Hinter
diesem Konzept scheint die in einer Medienkultur, in der den Zeichen
langsam die Signifikate abhanden kommen, durchaus verständliche Sehn-
sucht nach dem echten, alten Gegenstand zu stehen, nach der Präsenz und
Materialität des Originals.31 Dieses Original – man spricht gern vom mittel-
alterlichen »Artefakt«32 – gilt es als »Ganzes« zu bewahren.33
Bumkes Konzept liefert ebenfalls »ganze Texte« und kombiniert geschickt
die beiden Legitimationsmöglichkeiten des »ganzen« Textes (Autor und
historisches Dokument), indem bestimmte historische Dokumente bzw. die in
ihnen enthaltenen Textzustände als Ausdruck eines redaktionellen Gestal-

30 Ebd., S. 64.
31 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Ein Hauch von Ontik. Genealogische Spuren der
New Philology«, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft, S. 31–45.
32 Nichols, Material Philology (Anm. 2), S. 11 (»artefact«).
33 Ob diese Sehnsucht nach dem »echten« historischen Gegenstand für sich post-
modern ist, darf bezweifelt werden. Vielleicht trifft dies erst für einen Umgang mit
dem »Historischen« zu, dem an der Echtheit des Alten nicht mehr liegt. Das Retro-
Design »unserer« Jahrhundertwende etwa verfügt hemmungslos und ohne Angst
vor Kitsch über die Vergangenheit, und Ähnliches gilt für die vom Mittelalter
zehrende Fantasy-Literatur, die sich aber gerade nicht für das »echte« Mittelalter
interessiert.
82 Albrecht Hausmann

tungswillens und damit als Zeugnis einer Art von Autorschaft aufgefasst
werden.
Die Notwendigkeit, »ganze« Texte zur Verfügung zu stellen, dürfte auch
einer der Gründe dafür sein, dass Bumke eine von ihm selber angedeutete
Möglichkeit34 zur Rekonstruktion vorgängiger Iwein-Versionen nicht nutzt:
Immerhin für einige Passagen sei durch den Vergleich mit dem Yvain Chres-
tiens von Troyes zu ermitteln, ob es sich um unmittelbar von Chrestien
ausgehende Textabschnitte handle oder nicht. Wenn dies der Fall wäre, dann
stünde – so jedenfalls mein Eindruck – mit Chrestiens Yvain eine Art
Kontrollüberlieferung zur Verfügung, welche zumindest theoretisch für ein-
zelne Stellen eine grobe Rekonstruktion des Zustandes von *AB erlauben
würde. Das Problem ist jedoch, dass dies eben nur in wenigen Einzelfällen
möglich wäre; ein »ganzer« *AB-Text entsteht so nicht, nur ein Umriss.
Aber muss das überhaupt sein? Wäre eine Edition, die den »ganzen« Text
diachron in die Textgeschichte hinein auflöst, nicht auch dann von Interesse,
wenn die Dokumentation der Überlieferungsprozesse nicht für jede Stelle
gleich »tief« gelingt? Voraussetzung dafür aber ist, dass man den »ganzen«
Text auch schon als Beobachtungsobjekt einer Differenzierung unterzieht
und in verschiedene Varianzfelder (Wortlaut, Versbestand u. ä.) auffächert.
Der Wortlaut im engeren Sinn muss wohl von jedem derartigen Rekonstruk-
tionsversuch ausgenommen bleiben; die Ebene des Versbestandes dagegen ist
einem solchen Verfahren zugänglich, vor allem wenn es um längere Ab-
schnitte geht. Eine differenzierte Betrachtung verschiedener Varianzfelder
(Wortlaut, Versbestand) ist also die Grundlage einer diachronen Vertiefung
des Textes.
Um Missverständnisse zu vermeiden: (1) Ziel ist selbstverständlich nicht
ein eklektisches Editionsverfahren, das verschiedene Textzustände in einem
Editionstext kontaminiert. Dem potenziellen Systemcharakter des überlie-
ferten Textes ist hinsichtlich des Wortlauts Rechnung zu tragen. (2) Es soll
nicht bezweifelt werden, dass auf den verschiedenen Überlieferungsstufen –
auch den verlorenen – »ganze« Texte existiert haben. Auch Hartmann hat
seinen Text wohl als »ganzen« konzipiert und auch formuliert. Ganze Texte
hat es immer gegeben, aber sie sind nicht rekonstruierbar. Die Rekonstruk-
tion zielt auf Rudimente, Umrisse, vielleicht auch Substrate ehemals »gan-
zer« Texte. Insofern hat die Problematisierung des »ganzen« Textes in erster
Linie eine methodische Dimension und ist kein Plädoyer für die These, »im
Mittelalter« seien Texte »offen«, also auf Veränderung hin angelegt ge-
wesen.
Dass bei der Rekonstruktion früherer Textzustände mit großer Vorsicht
vorgegangen werden muss, beweist der Versuch Werner Schröders, der sich
zuletzt ausführlicher mit den sogenannten B-Pluspassagen im Iwein und mit

34 Bumke, Fassungen (Anm. 5), S. 39 f. – Bumke zieht aus den Parallelen zwischen
mehreren B-Pluspartien und dem Chrestienschen Yvain den Schluss, »daß der *B-
Redaktor denselben Chrétien-Text als Vorlage benutzt hat wie der *A-Redaktor«
(ebd).
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 83

»Laudines Kniefall« beschäftigt hat, dies jedoch mit dem dezidierten und
gegenüber Bumke polemischen Ziel, »Laudines Kniefall« als sekundäre
Erweiterung des B-Bearbeiters zu erweisen.35 Immerhin versucht Schröder,
seine aus »inneren Gründen« abgeleitete Athetese der Kniefall-Szene auch
durch ein überlieferungskritisches Argument zu stützen. Er geht implizit
davon aus, dass eine Vielzahl von ähnlich gelagerten Unterschieden zwischen
zwei Handschriften auf einen bestimmten Habitus des einen oder des anderen
Schreibers oder Redaktors zurückgehen könnte. Lässt sich wenigstens für
einige dieser Lesarten bestimmen, wie sie zustande gekommen sind, dann ist
es nicht unwahrscheinlich, dass auch bei ähnlich gelagerten Fällen das
gleiche Verhalten eines bestimmten Überlieferers im Spiel war. Konkret:
Wenn sich zeigen ließe, dass die meisten der in A nicht enthaltenen B-Verse
auf sekundäre Erweiterung in B zurückgehen (und nicht auf sekundäre
Reduktion in A), dann dürfte das gleiche auch für solche B-Plusverse gelten,
für die dieser Nachweis nicht sicher geführt werden kann. Der Überliefe-
rungshabitus der Handschrift B bestünde dann darin, sekundär zu erweitern.
Schröders Argumentation zielt darauf, alle B-Pluspartien, welche der Knie-
fall-Szene vorangehen, als sekundär und damit »unecht« zu erweisen, um
dann auch »Laudines Kniefall« als typische B-Erweiterung zu qualifizieren,
obwohl für diesen Fall allein eine sichere Entscheidung nicht möglich
wäre.36
Zu diesem Zweck vergleicht Schröder die B-Pluspassagen mit den ent-
sprechenden Abschnitten im Yvain Chrestiens. Der positive Beweis dafür,
dass eine bestimmte B-Pluspassage nicht von Hartmann stammt bzw. nicht in
*AB enthalten war, ist auf diese Weise jedoch generell nicht zu erbringen.
Denn auch in der »kurzen« A-Version gibt es eine ganze Reihe von zum Teil
längeren Abschnitten (am bekanntesten: Iweins Erwachen, vv. 3508–3583),
für die bei Chrestien jede Vorgabe fehlt. Angesichts der insgesamt er-
weiternden Bearbeitungsweise Hartmanns, dessen Text (wenn man einmal
von Wolffs Edition ausgeht) um über 1200 Verse länger ausgefallen ist als
der Chrestiens (nach Foerster), erscheint das geradezu als eine Selbstver-
ständlichkeit.37 In allen Fällen, in denen Chrestien als Vergleichsgröße nicht
zur Verfügung steht, weil die entsprechende B-Passage bei ihm keine Vorlage
hat, ist also vom Überlieferungsbefund her sekundäre B-Erweiterung nicht
wahrscheinlicher als sekundäre Reduktion in A. Das gilt für die sechs Verse
nach v. 6204 (Tätigkeiten der 300 gefangenen Damen; tendenziell auch in A

35 Schröder, Kniefall (Anm. 11). – Schröders letztlich ganz auf »inneren Gründen«
basierende Athetese der Kniefall-Szene überzeugt nicht. Symptomatisch für die
argumentative Schwäche der Ausführungen Schröders sind seine rhetorischen
Fragen (S. 8: »Kann Hartmann das so gewollt haben?«; S. 12: »Doch war ihm
[Hartmann] wohl dabei?«).
36 Schröder, Kniefall (Anm. 11), S. 17. – Er nähert sich damit übrigens, sicher ohne
es zu wollen, Bumkes Vorstellung vom erkennbaren Gestaltungswillen des Re-
daktors weitgehend an.
37 Zur Bearbeitungstechnik Hartmanns vgl. Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio mate-
riae. Zur Poetik des ›Erec‹ Hartmanns von Aue«, FMSt 19, 1985, S. 1–30.
84 Albrecht Hausmann

gegenüber Chrestien erweitert), das gilt noch deutlicher für die zwölf Verse
nach v. 6904 (Iweins Gefolge).
Immerhin lässt sich durch den Vergleich mit Chrestiens Yvain zwar nicht
beweisen, aber doch wahrscheinlich machen, dass bestimmte B-Pluspassagen
in *AB enthalten waren, weil sie offenbar auf Hartmanns Übertragungs-
leistung zurückgehen. Denn wenn eine B-Pluspassage eine inhaltliche Ent-
sprechung bei Chrestien aufweist, dann dürfte sie ein Produkt der Über-
tragung durch Hartmann sein.38 Dies gilt mit einiger Wahrscheinlichkeit für
folgende B-Pluspassagen: 2 Verse nach v. 3486 (Wirkung der Heilsalbe, vgl.
Yvain, vv. 3004 f.); 42 Verse nach v. 6876 (Iwein bei der jüngeren Schwester
vom Schwarzen Dorn, vgl. Yvain, vv. 5819–5839); 12 Verse nach v. 6904
(Reise Iweins und der Grafentochter an den Artushof).39
Insgesamt sind die Überlieferungskonstellationen der verschiedenen B-
Pluspassagen zu heterogen, als dass auf einen bestimmten Habitus des B-
Redaktors (Erweiterung) geschlossen werden könnte: Es gibt sowohl solche
Passagen, die ohne jeden Ansatz bei Chrestien sind, als auch solche, die sich
mehr oder weniger deutlich auf Chrestien beziehen lassen. Aber auch die
Passagen selber sind, vergleicht man sie untereinander, so verschieden, dass
auf ein habituelles Verhalten als Grundlage ihrer Existenz kaum zu schließen
ist: Zum Teil handelt es sich nur um ein bis zwei Verspaare (hier ist dann
immer mit einem Augensprung des Schreibers zu rechnen), zum Teil aber
erstrecken sich die B-Pluspassagen über erheblich mehr Verse. Auch die
kontextuelle Einbindung ist durchaus unterschiedlich (enger oder lockerer
Bezug zum umgebenden Text u. ä.). Es müsste schon ein ziemlich un-
spezifischer »Habitus« sein, der sich auf alle betroffenen Passagen beziehen
ließe. Ein in sich geschlossenes Stück, wie es in »Laudines Kniefall«
vorliegt, gibt es sonst überhaupt nicht. Es lassen sich also keine Aussagen

38 Erstaunlicherweise münzt Schröder, Kniefall (Anm. 11), jedoch auch solche Kon-
stellationen in Argumente für den sekundären Status aller B-Pluspassagen um:
Hier habe der erweiternde Bearbeiter, der je länger desto mehr »am Hinzudichten
Gefallen gefunden« (S. 21) habe, eben nochmals und eigenständig auf den Chres-
tienschen Text zurückgegriffen (z. B. Pluspassage nach v. 6874; Schröder: »Der
Zusatz in B verrät Chrestien-Lektüre« S. 20, noch eklatanter in Bezug auf die
Passage nach v. 6876, Schröder, S. 20 f.). Zweifellos lässt sich dies nicht ausschlie-
ßen, auch wenn dann wenigstens nachzuweisen wäre, dass in solchen Abschnitten
die Übertragungsmethode in irgendeiner Weise von derjenigen in »normalen«
(nach Schröder also »Hartmannschen«) A-Passagen abweicht (Schröder, S. 20,
sagt in bezug auf die Verse nach v. 6876 nur, dass diese Verse nicht »als sichere
Übersetzung aus dem Französischen [gelten] können«, was auch in vielen anderen
Fällen so sein dürfte). Aber wer so argumentiert, kann sich die Mühe des Ver-
gleichs ohnehin sparen. Denn nun wird jeder Befund beliebig deutbar, und tatsäch-
lich bereitet Schröder alle Varianzbefunde nach Gusto so auf, dass sie am Ende zu
seiner vorher gefassten Meinung passen – einer Meinung, die allein auf »inneren
Gründen« beruht und insofern zur Überlieferungsuntersuchung in einem apriori-
schen Verhältnis steht. Bewiesen ist damit nichts.
39 Vgl. dazu detailliert Bumke, Fassungen (Anm. 5), S. 39. Bumke zeigt ausführlich
auch für die B-Plusverse nach v. 6854 und sogar v. 8158 Parallelen bei Chrestien
auf.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 85

über A, B oder *AB als jeweils Ganzes treffen, sondern nur über einige
Passagen, die in B enthalten sind, in A nicht vorkommen und einen Ansatz-
punkt bei Chrestien aufweisen; für sie ist anzunehmen, dass sie zum *AB-
Bestand gehören und in A sekundär ausgefallen sind. In den anderen Fällen –
auch bei »Laudines Kniefall« – kommt auch ein vorsichtig rekonstruierendes
Verfahren nicht über den Zustand in A und B hinaus. Der Überlieferungs-
prozess wird nur punktuell in seiner diachronen Tiefe erkennbar; es lässt sich
deshalb nicht behaupten, dass B grundsätzlich erweitert, A dagegen generell
kürzt (und schon gar nicht beides zusammen).
Immerhin sollten die Befunde, auch wenn sie punktuell bleiben, in eine
Edition eingehen, die sich um eine diachrone Vertiefung des Textes in die
Textgeschichte hinein bemüht und damit Überlieferung als Prozess trans-
parent zu machen versucht. Zu fragen wäre dabei allerdings, ob es sich lohnt,
mehrere Fassungen (beim Iwein wohl: *A und *B) nebeneinander abzu-
drucken oder gar, wie auch vorgeschlagen wurde, Abschriften aller Über-
lieferungszeugen eines Textes (etwa in elektronischer Form) zur Verfügung
zu stellen.40 Der Versuch, so getreu wie möglich ganze Texte abzubilden,
führt hier zu einem erheblichen Maß an Redundanz. Solche Editionen sind
aufwendig, und in der Realität des Faches vergrößern sie vermutlich die
Distanz zwischen den Editoren und den eher »inhaltlich« arbeitenden Altger-
manisten, werden es jedenfalls schwer haben, sich durchzusetzen. Fächert
man jedoch den Text nach unterschiedlichen Aspekten auf (Wortlaut, Versbe-
stand) und wählt für diese Aspekte jeweils eigene, jedoch kombinierbare
adäquate Editionskonzepte, dann könnte auch mit weniger Aufwand eine
»textgeschichtliche« Edition möglich sein41: Der nach dem Leithandschrift-
prinzip abgedruckte Wortlaut könnte diachron »vertieft« werden, indem dem
Benutzer signalisiert wird, bis zu welchem Punkt in der Überlieferungsge-
schichte der Versbestand – nur dieser! – an der jeweiligen Stelle zurück-
zuverfolgen ist. Genauer: Bezüglich des Versbestandes wird dokumentiert,
(1) mit welcher Reichweite des »Erkennens« an einer bestimmten Stelle zu
rechnen ist (z. B. nicht über *A oder *B hinaus oder aber bis *AB), und (2)
für welche Überlieferungsstufe der jeweilige Textbestand wahrscheinlich
gemacht werden kann (z. B. bei den Versen nach v. 6876 schon für *AB).42
Für beide Textaspekte – Wortlaut und Versbestand – wäre ein eigener Apparat

40 Vgl. Cerquiglini, Éloge (Anm. 2), S. 112–116.


41 Dass eine Edition auch ohne Paralleldruck verschiedener Fassungen wesentlichen
Einblick in die Überlieferung bieten kann, zeigt beispielsweise die Ausgabe des
Armen Heinrich von Kurt Gärtner: Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hg. v.
Hermann Paul, 16., neu bearbeitete Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 1996
(ATB 3).
42 Drucktechnisch könnte eine solche Edition so aussehen, dass neben den edierten
Textwortlaut ein Markierungssystem gestellt wird, welches auf die jeweilige Über-
lieferungskonstellation (in Bezug auf den Versbestand!) hinweist, also z. B. eine
oder mehrere Linien links neben dem Text, die durch ihre Gestaltung anzeigen, ob
die entsprechende Versgruppe in A und/oder B enthalten ist, ob sie für *AB
reklamiert werden kann (dies gilt für alle Verse mit A/B-Parallelüberlieferung und
für nur in B überliefert Versgruppen mit Entsprechung bei Chrestien) oder ob über
86 Albrecht Hausmann

vorzusehen, wobei im Versbestandsapparat die »Plusverse« des jeweils ver-


glichenen Überlieferungsträgers dokumentiert werden. Für den Iwein könnte
der Editor demnach B als Leithandschrift für den Wortlaut wählen; es wäre
zu dokumentieren, welche Passagen A nicht enthält, und zugleich wäre zu
signalisieren, wo es wahrscheinlich ist, dass *AB eine Versgruppe enthalten
hat, obwohl sie in A fehlt. Die wenigen A-Plusverse gehören in den Versbe-
standsapparat. Der Benutzer einer solchen Ausgabe liest einerseits einen
historisch belegten Text im Wortlaut, kann aber stets sehen, bis zu welcher
Stelle in der Textgeschichte ihn dieser Text vom Versbestand her führt bzw.
aus methodischen Gründen überhaupt führen kann.43 Vor allem aber wird für
ihn ein Kerntextbestand erkennbar, der sich von seiner Überlieferungsdichte
her von bestimmten nur in B oder A überlieferten Passagen unterscheidet.
Was aber bietet eine solche Edition für den Interpreten?

IV

Auch wenn für einzelne B-Pluspassagen durch den Vergleich mit dem Yvain
wahrscheinlich gemacht werden kann, dass sie schon in *AB enthalten
waren, bleibt der umgekehrte Fall, bei dem sekundäre Ergänzung ebenso
plausibel erscheint wie sekundäre Reduktion, doch der häufigere, und auch
für »Laudines Kniefall« trifft dies zu. Gefordert ist dann aber ein Interpreta-
tionsverfahren, welches ohne Festlegung auf ein bestimmtes Überlieferungs-
szenario, d. h. ohne Entscheidung über die »Echtheit«, die literaturwissen-
schaftlich-interpretierende Arbeit mit unaufgelösten Präsumtivvarianten er-
möglicht – mithin also ein »offener« Interpretationstyp (der aber ohne die
These vom »offenen Text« auskommt). Anders als Bumke denke ich dabei
nicht an ein Verfahren, das auf dem Vergleich der beiden je für sich »ganzen«
Fassungen *A und *B beruht, sondern an einen Interpretationstyp, der die
beiden Lesarten – hier also An- und Abwesenheit von »Laudines Kniefall« –
in ein Verhältnis zu jenem quantitativ weit überwiegenden Kerntextbestand
setzt, der den Iwein jenseits aller Varianz prägt – und zwar auch schon auf der
Stufe *AB. Ein solches Verfahren wird einerseits auf die Vorstellung des
»ganzen« Textes verzichten, weil ja nicht endgültig bestimmt wird, wie die
Texte »insgesamt« auf der jeweiligen Überlieferungsstufe ausgesehen haben

A und B hinaus keine Aussagen gemacht werden können (dies gilt z. B. für
»Laudines Kniefall«). Bei einer elektronischen Edition wären natürlich noch
plastischere Darstellungskonzepte denkbar. – Sicherlich ist auch der Wortlaut der
nicht als Leithandschrift gewählten Textzeugen interessant, aber letztlich wird
man, wenn man sich mit diesen Textzeugen beschäftigt, doch immer mehr wissen
wollen, als ein Abdruck bietet – gerade wenn man »new attitudes to the page«
(Bumke, Fassungen [Anm. 5], S. 68) vertritt. Deshalb erscheint mir anstatt des
Parallelabdrucks mehrerer Versionen der Abdruck einer diachron vertieften Version
unter Zusatz von (elektronischen?) Abbildungen oder Faksimiles wenigstens der
»wichtigsten« Überlieferungsträger sinnvoller.
43 Für den wissenschaftlichen Gebrauch könnte eine solche Edition ergänzt werden,
z. B. durch ein (elektronisches?) Faksimile der Überlieferungsträger.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 87

(nur ein Kernbestand wird rekonstruiert), und es wird auf einem prozessualen
Textbegriff und der diachronen Vertiefung der überlieferten Textzustände in
ihre Geschichte hinein basieren. Denn die Untersuchung des Verhältnisses
der Lesarten zum Kerntextbestand zielt auf die Interpretation von Vorgängen,
die von *AB zu *A und *B geführt haben. Konkret sind zwei sich gegen-
seitig ausschließende Szenarien als potenzielle historische Vorgänge denkbar:
Szenario 1: »Laudines Kniefall« ist eine spätere Ergänzung auf der Stufe *B,
war also in *AB noch nicht enthalten; Szenario 2: »Laudines Kniefall« war
ursprünglich enthalten und wurde auf der Stufe *A sekundär getilgt. Die
Frage lautet, ob es möglich ist, beide Vorgänge – von denen sicher nur einer
tatsächlich abgelaufen ist – auf ein und dieselbe Ausgangsproblematik im
Kernbestand des Iwein zu beziehen und damit eine Interpretation zu ent-
wickeln, die zwar von der Überlieferung ausgeht, sich dabei aber nicht auf
eines der beiden Szenarien festlegen muss. Ich versuche im folgenden eine
solche Iwein-Interpretation in den Grundlinien zu entwerfen, wobei ich mir
des experimentellen Charakters und der bedingten Reichweite des Unter-
nehmens bewusst bin.
Der Kerntextbestand des Iwein lässt sich, je nach Interpretationsinteresse,
auf unterschiedliche Weise beschreiben, z. B. durch eine Paraphrase der
»Geschichte«, wie sie jenseits aller Varianz in *A und *B erzählt wird und
dementsprechend wohl auch für *AB anzusetzen ist. Weil es mir jedoch um
den Prozess zu tun ist, der von Chrestien über Hartmann bzw. *AB zu A und
B geführt hat, wähle ich eine andere, auch »kürzere« Beschreibungsform:
Die »Wiedererzählung« Hartmanns bestimmt sich nicht zuletzt durch die
Veränderungen, die Hartmann im Zuge seiner Übertragungsarbeit an den
Vorgaben Chrestiens vorgenommen hat. Solche Eingriffe sind am Kerntext-
bestand gut zu erkennen, und die Iwein-Forschung nutzt sie längst als
Ausgangspunkt zur Interpretation des Hartmannschen Iwein. Die wohl deut-
lichste Tendenz der Hartmannschen Übertragung besteht in einer durch-
gängigen Aufwertung Laudines.44 Dies zeigt sich schon in ihrem sozialen
Status: Sie ist bei Hartmann Königin (und nicht Herzogstochter wie bei
Chrestien)45 und damit Artus ebenbürtig. Vor allem aber ist sie nicht die
schnell getröstete Witwe des Chrestienschen Yvain. Hartmann tut viel, um sie
vor diesem Vorwurf zu schützen. Die durch Reimspiel markierte Reflexion
über die guote wandelunge der Frauen (vv. 1869–1888) ist ebenso Hartmanns
Zutat (bei Chrestien gibt es ein eher frivol-misogynes Pendant aus dem
Munde Yvains, Yvain vv. 1435ff.) wie die folgende lange Passage (bis v. 1928),

44 Vgl. zum folgenden nach wie vor (auch wenn man Mertens’ Optimismus hinsicht-
lich des Abbildungscharakters von Literatur nicht mehr so einfach folgen wird):
Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue,
Berlin 1978 (ZfdPh, Beiheft 3); ders., »Iwein und Gwigalois – der Weg zur
Landesherrschaft«, GRM 31, 1981, 14–31; Silvia Ranawake, »Zu Form und
Funktion der Ironie bei Hartmann von Aue«, Wolfram -Studien 7, 1982, S. 75–116
(mit wertvollen Anregungen, auch wenn ich im folgenden nicht mit der Kategorie
Ironie arbeite).
45 Vgl. Mertens, Laudine (Anm. 44), S. 36 f.
88 Albrecht Hausmann

in der Laudine deutlich zum Ausdruck bringt, warum sie überhaupt an eine
neue Heirat denkt: der [Gott] weiz wol, ob mîn lant / mit mir bevridet waere,
/ daz ichs benamen enbaere (vv. 1904–1906). Die Verantwortung gegenüber
dem leicht verwundbaren Land ist das Grundmotiv aller Handlungen Lau-
dines. Damit verkörpert sie eine bei Hartmann prononciert gegen das âven-
tiure-Rittertum des Artus-Hofes gestellte Ethik, der der Artus-Ritter Iwein
dann tatsächlich nicht gerecht wird. In der Anklage Lunetes gegen den
säumigen Iwein wird dies sehr deutlich. Während bei Chrestien Yvain mit
dem Vorwurf konfrontiert wird, er liebe Laudine nicht genügend (Yvain vv.
2722–2773), ist bei Hartmann davon nicht die Rede. Iwein wird hier einzig
mangelnde triuwe gegenüber Laudine – und das heißt: gegen ihr Land –
vorgeworfen (vv. 3111–3196 mit dem Leitwort triuwe). Durch die Fristver-
säumnis hat Iwein Laudine nicht etwa in eine für sie emotional problemati-
sche Situation gebracht, sondern als Landesherrin in einen gefährlichen
Zustand versetzt.46
Komplementär zu der Aufwertung Laudines lässt sich bei Hartmann eine
Problematisierung des Artushofes und der dort herrschenden Ethik beob-
achten. Das wird nicht nur in solchen Passagen wie der komischen Charak-
terisierung des âventiure-Begriffs als eines Zentralbegriffs des Artusritter-
tums deutlich (vv. 528–537), sondern vor allem in der nur von Hartmann
derart breit angelegten Binnenerzählung von der Entführung Ginovers.47 Die
Paralyse des Artushofes demonstriert das Defizitäre einer Ethik, die den êre-
Begriff entsubstantialisiert und deshalb für Gauner problemlos pervertierbar
ist.48 Dem steht im zweiten Handlungszyklus Iweins eigenes Handeln gegen-
über, das stets auf die substantielle Rechtlichkeit der an ihn herangetragenen
Ansprüche Wert legt (nicht umsonst finden hier zwei Gerichtskämpfe statt).
Demgegenüber verteidigt Gawein die ältere Schwester vom Schwarzen Dorn,
ohne zu fragen, ob sie im Recht ist oder nicht. Iweins Handeln im zweiten
Zyklus ist ein Handeln im Sinne der von Laudine verkörperten Ethik, es zielt
auf sie. Damit aber wird Laudine zu einem zweiten Zentrum neben dem
Artushof, das diesem zumindest ebenbürtig ist, wenn nicht sogar überlegen.
Laudine wird einerseits aufgewertet und durch die Akzentuierung ihres
landesherrschaftlichen Verantwortungsbewusstseins gegen den Vorwurf ge-
schützt, eine rasch getröstete Witwe zu sein. Andererseits aber wird bei
Hartmann im scheinbaren Widerspruch dazu auch Laudines »Minne« zu
Iwein mehrfach deutlicher thematisiert als bei Chrestien, etwa im Zusam-
menhang mit der Herzenstauschszene (vv. 2971–3028). Aber Laudines
»Liebe« ist nicht etwas, was zusätzlich zum funktionsorientierten Einver-

46 Mertens, Laudine (Anm. 44), S. 45.


47 Anders – als »unterhaltendes und moralisierendes maere« (S. 321) und keineswegs
als Kritik am Artushof – interpretiert Wolfgang Brandt, »Die Entführungsepisode
in Hartmanns Iwein«, ZfdPh 99, 1980, S. 321–354, die Entführungsepisode.
48 Auch Laudine wird am Ende durch ein Blankoversprechen überlistet, doch war
dies anders motiviert als das des Artus. Laudine gibt das Versprechen in echter
Sorge um ihr Land ab, den Rittern, die Artus zu dem Versprechen raten, geht es
dagegen bloß um ein äußerliches Ansehen.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 89

ständnis zur Eheschließung entsteht, sondern im unmittelbaren Zusammen-


hang damit bzw. als Konsequenz daraus.49 Hartmann inszeniert diese
»Liebe« in besonders deutlichem Kontrast zur Affektminne Iweins. Diese hat
ihr Motiv im Anblick der reizvollen Frau; sie ist ein personaler Affekt, der
durch die erotische Präsenz Laudines ausgelöst wird. Ganz anders Laudines
»Liebe«, und zwar in zweifacher Hinsicht: (1) Die ersten Liebeszeichen50
zeigen sich, noch bevor Laudine Iwein gesehen hat, können also nicht auf
einen personalen Affekt zurückgehen, sondern sind allenfalls Ausdruck einer
höfisch-kultivierten »Fernminne« (und dürfen dementsprechend nicht als
vorschnelles Entgegenkommen einer rasch getrösteten Witwe interpretiert
werden). Diese ersten Liebesanzeichen kontrastieren auch der starken affekti-
ven Betroffenheit, welche Laudine (bei Hartmann noch mehr als bei Chres-
tien) angesichts des Leichnams Ascalons zeigte.51 Auch die Erkundigungen,
die Laudine über Iwein einholt (vv. 2101ff.), zielen auf Informationen über
die funktionale Eignung des künftigen Gatten. (2) Zum anderen aber führt
später auch die körperliche Präsenz Iweins (ab v. 2247) allein noch nicht zu
einer »Entwicklung« in der »Liebe« Laudines. Ihre Rede ihm gegenüber ist
völlig von den funktionalen Aspekten der geplanten Eheschließung geprägt,
und Volker Mertens hat gezeigt, dass auch das Gespräch vv. 2334–2355 eine
personale Liebesbeziehung noch keineswegs als gegeben voraussetzt, son-
dern allenfalls als künftige Möglichkeit, auf die Iwein hofft (v. 2339: daz wir
gesellen müezen sîn), an der Laudine aber noch erheblich zweifelt (vv.
2344 f.: es wundert mîne sinne, / wer iuch geriete disen wân).52 Von »Liebe«
in einem neuen Sinne ist erst die Rede, als Iwein sich im Kampf gegen Keie
bewährt und damit seine Funktion erfüllt hat: Nun spricht ihn Laudine
mit geselle unde herre (v. 2665) an und denkt für sich: ich hân wol gewelt
(v. 2682).
Hartmann präsentiert hier ein Konzept von Minne, innerhalb dessen der
personale Affekt vollständig der Basismotivation Laudines untergeordnet
erscheint: Die Verantwortung für das besonders leicht verwundbare Brunnen-
reich dominiert das gesamte Tun Laudines, bleibt der Bezugspunkt ihres
Handelns und auch ihres Verhältnisses zu Iwein. Ihre Affekte ordnen sich
dieser Normbindung nicht nur unter, sie existieren ohne sie gar nicht,
sondern verstehen sich als ihr Bestandteil. Aus diesem Grund ist die rasche
neue Ehe Laudines keine Untreue gegenüber Ascalon, sondern ein Akt der
Normerfüllung – immerhin der freiwilligen Normerfüllung.53

49 Vgl. Tony Hunt, »Iwein and Yvain: Adapting the Love Theme«, in: Chrétien de
Troyes and the German Middle Ages, hg. v. M. H. Jones/R. Wisbey, London 1993,
S. 151–163.
50 Laudine drängt auf das baldige Eintreffen Iweins (vv. 2120–2123); sie wird bei
der Ankündigung Lunetes, dass Iwein nun da sei, von vreuden bleich unde rôt
(v. 2203).
51 Vgl. vv. 1312–1323 (nicht bei Chrestien).
52 Mertens, Laudine (Anm. 44), S. 17.
53 So erklärt sich wohl auch der keineswegs frivol gemeinte Vergleich mit dem ros
daz willeclîchen gât, / swer ouch daz mit sporn bestât, / sô gât ez deste baz ein teil
(vv. 2395–2397).
90 Albrecht Hausmann

Durch die Aufwertung Laudines zur Verkörperung eines von landesherr-


schaftlicher Verantwortung geprägten Handlungsmodells, das der defizitären
Ethik der êre am Artushof kontrastiert, verschiebt sich die an die Handlungs-
träger gebundene narrative Konstellation des Artusromans gegenüber dem,
was vom Erec her gewissermaßen als Modell vorgegeben ist, erheblich. Die
Frau ist nicht mehr Begleiterin des Mannes auf seinem Weg zum hervor-
ragenden Artusritter,54 dem am Ende die Integration von Minne und Kampf
im Sinne einer sozialisierten, von Gegenseitigkeit getragenen Bewährungs-
minne gelingt, sie ist vielmehr Zielpunkt dieses Weges, ist sowohl Objekt
seiner Minne als auch Maßstab seiner ethischen Perfektionierung. Von ihrer
Grundanlage her wird sie dadurch der Frau des hohen Minnesangs ähnlich,
die ebenfalls sowohl Minneobjekt als auch Verkörperung von Normen ist.
Gerade als Projektionspunkt solcher Wertvorstellungen ist die Frau des hohen
Minnesangs vom männlichen Ich her grundsätzlich nur in der Distanz zu
denken, ist hohe Minne immer die Negation von Minneerfüllung. Auch
zwischen Laudine und Iwein herrscht eine Distanz, die – ähnlich wie im
hohen Minnesang – unüberwindbar erscheint. Das Verhältnis zwischen bei-
den bleibt problematisch, denn es bewegt sich in einem Spannungsfeld
zwischen Untreue gegenüber Ascalon und »Lieblosigkeit« gegenüber Iwein.
Die forcierte Darstellung der Laudineminne durch Hartmann (z. B. in der
Herzenstauschszene vv. 2971–3028) scheint darauf zu zielen, diese Spannung
zumindest zu kaschieren: Elemente, welche eine personale Bindung signali-
sieren, werden neben solche Elemente gestellt, welche die exkulpierende
Rationalität Laudines betonen.
Dass ein aus der Bearbeitungstendenz Hartmanns resultierendes Ungleich-
gewicht zwischen Laudine und Iwein tatsächlich bis zum Ende des Romans
bestehen bleibt, zeigt sich deutlich in den in A und B enthaltenen Versen
8075–8120, der Wiederaufnahme Iweins durch Laudine – jenen Versen also,
denen in B unmittelbar die Kniefallszene folgt. Die Äußerungen von Laudine
und Iwein stehen in irritierendem Kontrast zueinander: Laudine weicht, als
sie über Iweins Identität aufgeklärt wird, spontan einen Schritt zurück und
bringt sehr deutlich zum Ausdruck, dass sie Iwein allein wegen des zuvor
blanko gegebenen Versprechens wieder aufnimmt. Den Anforderungen, die
man an eine personale Affektminne stellen würde, genügen Laudines Ein-
lassungen mit Sicherheit nicht. Iwein dagegen zeigt sich höchst erfreut über
die Reaktion Laudines und spricht mit Emphase vom ôstertac seiner Freude
(v. 8120). Versteht Iwein Laudine? Sprechen die beiden aneinander vorbei?
Man kann diesen Dialog, der in A den »harten« Schluss des Iwein bildet,
durchaus unterschiedlich interpretieren. Iweins Rückkehr zu Laudine ist die
Wiederholung seiner ersten Ankunft im Brunnenreich. Angesichts der drasti-
schen Gefährdung (vv. 7809–7825) muss sie wie nach dem Tod Ascalons
einen neuen Beschützer finden. Iwein scheint akzeptiert zu haben, dass
Laudine nur auf diesem Weg, nur durch den Appell an ihre landesherrschaft-
liche Verantwortung, zu gewinnen ist. Dann aber wäre das Fehlen einer

54 Die Begleitung übernehmen andere, vor allem der Löwe, aber auch Lunete.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 91

affektiven Minne von Seiten Laudines kein Mangel mehr, sondern eine von
Iwein akzeptierte Realität.
Aber auch eine andere Interpretation ist zu erwägen. Die Dissonanz kann
auch auf eine Problematisierung des Artusromans an sich deuten. Sie könnte
signalisieren, dass der Artusroman zwar die ethische Perfektionierung des
Helden vorzuführen vermag, dass aber damit keineswegs alle im ersten Teil
aufgeworfenen Probleme gelöst sind. Die geschlossene Sinnstruktur des
Doppelwegs wird durch das Erzählte überschritten, und deshalb endet die
Geschichte von Laudine und Iwein auch nicht »innerhalb« des Romans.55
Solche Überschreitungen der Artusstruktur könnten zum Ausdruck bringen,
dass die Erzählstruktur des Artusromans mit ihrer Sinnverheißung gegenüber
der Kontingenz und Unabgeschlossenheit der Geschichte letztlich machtlos
bleibt.
Wie auch immer man die Dissonanz in dem Gespräch zwischen Laudine
und Iwein versteht, sie ist allemal Hinweis auf einen Verzicht: Der Iwein ist
nicht die Geschichte von der Minne zwischen Laudine und Iwein, sondern
die Geschichte von der Integration Iweins in die von Laudine verkörperte
Normenwelt. Diese Integration, die eine Sozialisation darstellt, wird zwar als
eine Geschichte zwischen Mann und Frau inszeniert, aber der unmittelbare
Anspruch des Eros – im Erec d a s Thema – hat darin keinen Platz. So aber
war der Artusroman als literarisches Modell angetreten: Die Integration
unmittelbarer Ansprüche des idealen ritterlichen Lebens – Minne und Kampf
– in einem Konzept, in der Lebensform des arthurischen Ritters, stand zur
Diskussion. Mit dem Iwein scheint dieser Anspruch aufgegeben; der nächste
Schritt, der dann in Wolframs Parzival vollzogen wird, ist vorgezeichnet: Im
Parzival wird es zwar auch ein Handlungszentrum neben dem Artushof
geben, eine Herausforderung, der Parzival sich stellen muss, aber dieses wird
nicht mehr in der Frau bestehen, sondern in einem religiös konnotierten
»Ding« – dem Gral.56 Die im Minnesang etwa gleichzeitig in die Kritik
geratene Konzeption einer Integration von Normverkörperung und Eros in
der Figur der Frau scheint nicht mehr weiter zu tragen.
In Überlieferungsszenario 1 (sekundäre Ergänzung der Kniefall-Szene in
B/*B) wird versucht, dieses Problem zu entschärfen. Durch die Geste der
Versöhnung wird Laudine als handelnde Person zurückgeholt; ihr Kniefall
bringt sie mit Iwein »auf Augenhöhe«, und es entsteht eine wenigstens
ungefähre Balance. Zwar wird nicht von Minne gesprochen, aber Laudines

55 Vgl. auch die vv. 8148, 8157 und 8159 des Iwein, in denen – zum Schluss –
deutlich gemacht wird, dass das guot leben noch keineswegs sicher ist: Alles ist nur
waenlich.
56 Zu einer anderen »Möglichkeit« des Artusromans vgl. Mertens, Iwein und Gwiga-
lois (Anm. 44), S. 14: »[…] im Iwein ist jedoch die erotische Partnerbeziehung, die
Ehe, mit dem Weg problemhaft verkoppelt, während sie im Wigalois für den
Helden keine Schwierigkeit bedeutet.« Ob allerdings im Iwein die »Integration von
persönlichem Glück und politisch-sozialer Verantwortung […] am Schluß wieder-
hergestellt« ist (ebd., S. 16), ist durchaus fraglich; allein der Kniefall Laudines
bewerkstelligt dies.
92 Albrecht Hausmann

Handeln ist affektiv, nicht funktionsorientiert. Sie fällt nicht auf die Knie, um
einen Beschützer für ihren Brunnen zu bekommen, sondern um die Ver-
gebung des lieben herren zu erlangen. Tatsächlich entsteht so ein gewisser
Abschluss der Geschichte von Iwein und Laudine, eine »Versöhnung«, die
dem Schluss, den der Redaktor diesem Szenario zufolge zunächst vorfand –
nämlich einem Schluss ohne den Kniefall –, seine Härte nimmt. Aber die
Problematik des Verzichts auf die Integration des unmittelbaren Anspruchs
der Minne in den Artusroman ist so nicht gelöst, sondern nur verschoben.
Diese Verschiebung hat ihren Preis, der darin besteht, dass nun am Ende des
Romans eine Passage steht, die sich handlungslogisch nicht nur mit dem
vorhergehenden Dialog, sondern letztlich mit dem ganzen vorausliegenden
Text nicht verträgt. Denn Laudine hat keine Schuld und sie hat Iwein nie
affektiv geliebt (worin auch ein Motiv für den Versöhnungswunsch liegen
könnte). Die Klärung der ungleichgewichtigen Mann-Frau-Beziehung zwi-
schen Iwein und Laudine durch die Kniefall-Szene verursacht also in Szena-
rio 1 einen handlungslogischen Bruch. Das Problem wird nicht gelöst,
sondern nur anders disponiert, die zugrundeliegende Aporie wird nicht
beseitigt, sondern transformiert.
Geht man dagegen von Szenario 2 aus (sekundäre Reduktion der Kniefall-
Szene in A/*A), dann trifft der A-Redaktor, der die Kürzung vornimmt,
bereits auf diesen in der Darstellung von Szenario 1 als Ergebnis einer
möglichen Erweiterung in B beschriebenen »Aggregatzustand« der Aporie
und vollzieht die Transformation in umgekehrter Richtung. Durch die Aus-
lassung von »Laudines Kniefall« wird der handlungslogische Bruch, den
diese Episode auch dann produziert, wenn sie vom Autor Hartmann selber
stammt, ausgemerzt. Aber auch hier wird die grundlegende Aporie nicht
beseitigt, sondern nur umgewandelt. Sie liegt nun als Ergebnis der in Szena-
rio 2 ablaufenden Vorgänge in genau der »Form« vor, in der sie das Aus-
gangsproblem für Szenario 1 bildetet: Nun bleibt es in A (und der damit
zusammenhängenden Iwein-Überlieferung) bei dem Problem der Unausge-
wogenheit in der Mann-Frau-Beziehung von Iwein und Laudine.57
Gleichgültig, in welche Richtung sich der Text entwickelt hat, welches
Szenario historisch tatsächlich abgelaufen ist: »Laudines Kniefall« ist ein
Brennpunkt des Hartmannschen Iwein, und die Varianz, von der diese Stelle
betroffen ist, zeigt, dass sich hier – kurz vor Schluss – die in der Geschichte
von Iwein und Laudine angelegten Aporien verdichten und nach Entschei-
dungen verlangen.58 Weder die Entscheidung für diese Passage noch dieje-

57 Später scheint sich Szenario 1 in dieser Überlieferungsgruppe sogar wiederholt zu


haben: In den beiden Handschriften a und d wurde »Laudines Kniefall« wieder
eingefügt, obwohl sie ansonsten eher der A-Tradition anzugehören scheinen. Auch
dies ist ein Indiz dafür, dass diese Stelle einen bleibenden Brennpunkt des Textes
darstellt.
58 Vgl. zu dieser grundsätzlichen Vorstellung Michael Riffaterre, Strukturale Stilistik,
München 1973 (frz. Essais de stylistique structurale, Paris 1971), S. 40: »Unser
Verfahren basiert auf dem Axiom: ›Kein Rauch ohne Feuer.‹ Welcher Art auch
immer ihre Grundlage sei, die Werturteile des Lesers werden durch einen im Text
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 93

nige dagegen ist richtig oder falsch. Das grundlegende Problem wird nicht
gelöst, sondern verschoben und dabei transformiert. Je nach Lesart (mit oder
ohne Kniefall-Passage) handelt es sich entweder um ein nicht aufgelöstes
Ungleichgewicht im Verhältnis zwischen Iwein und Laudine oder um eine
Problematik in der Handlungslogik des Textes. In ihrer Grunddisposition ist
die Aporie, die hier hin und hergeschoben wird, dem Hartmannschen Iwein
eigentümlich, und zwar jenseits aller Varianz auch in dem Textbestand, der
sowohl in *A als auch in *B enthalten ist: Die Bearbeitungstendenz Hart-
manns gegenüber der Chrestienschen Vorlage bringt es mit sich, dass Lau-
dine gegenüber dem Artushof aufgewertet wird.59 Dadurch aber kann sie
nicht mehr Trägerin einer Affektminne sein, wie sie die vom Artusroman
behauptete Integration von Minne und Kampf eigentlich voraussetzen
würde.60

liegenden Stimulus verursacht. In der Funktion Sender-Empfänger, die der Text


aktualisiert, kann das Verhalten des Empfängers subjektiv und variabel sein, aber
es besitzt eine invariable Ursache.« – Mit dieser Behauptung sind die erkenntnis-
theoretischen Probleme natürlich nicht gelöst. Grundsätzlich ist zu fragen, ob
Rezeptionen etwas über einen Text als Produkt eines Autors aussagen können. Man
mag diese Frage mit Hinweis auf Prinzipien der Hermeneutik verneinen, würde
damit aber zugleich sagen, dass auch die Rezeption durch einen literaturwissen-
schaftlichen Interpreten grundsätzlich nichts über den Text als Produkt aussagen
kann. Jede Kritik rezeptionsorientierter Ansätze muss letztlich auch auf den
Literaturwissenschaftler selber angewendet werden, weil auch er nur Rezipient
ist.
59 Auch Chrestiens Yvain ist kein »unproblematischer« Text; er enthält wohl bereits
die Grundaporie, welche bei Hartmann umgeformt wird, und möglicherweise ist
die für Chrestiens Text mehrfach konstatierte Ironie eine Folge dieser Problematik.
Vgl. dazu z. B. Rainer Warning, »Heterogenität des Erzählten – Homogenität des
Erzählens«, Wolfram -Studien 5, 1980, S. 79–95.
60 Es ist klar, dass aufgrund einer recht isolierten Betrachtung der Kniefall-Szene
nicht eine Gesamtinterpretation des Iwein geleistet werden kann. Mir ging es hier
nur darum, ein noch ganz als Experiment gemeintes »offenes« Interpretations-
verfahren vorzustellen, das Überlieferung als Interpretationsaufgabe wahrzuneh-
men vermag, ohne sich durch die Festlegung auf bestimmte Überlieferungs-
szenarien angreifbar zu machen. Die Probleme sind auch mir bewusst: So wäre die
isolierte Betrachtung einer einzelnen varianzträchtigen Stelle mit einer weiter
ausgreifenden Untersuchung zu ergänzen. Insbesondere wäre der sogenannte Lu-
nete-Schluss in B einzubeziehen. Streng genommen lässt sich auch hier nicht von
vornherein ausschließen, dass diese Passage schon in *AB enthalten war. Interes-
sant wäre vor allem die Frage nach einem möglichen inhaltlichen Zusammenhang
zwischen der Kniefall-Szene und dem Lunete-Schluss. Über diesen Lunete-
Schluss in B hinaus wäre freilich noch zu fragen, wie sich überhaupt die ver-
schiedenen Iwein-Schlüsse zum Kerntextbestand des Iwein verhalten. Immerhin
finden sich in mehreren späteren Fassungen – Bumke würde sagen: »Bearbeitun-
gen« – recht unterschiedliche Textschlüsse (Abgedruckt bei Henrici, Ausgabe
[Anm. 8], erster Teil: Text, S. 387; S. 386 der Lunete-Schluss) .
94 Albrecht Hausmann

Ich will noch einmal den Unterschied zu Bumkes Fassungskonzept deutlich


machen: Nicht die beiden »Fassungen« als jeweils »ganze« Texte werden
einander gegenübergestellt, sondern die beiden Lesarten dieser einen Passage
(Anwesenheit oder Abwesenheit der Kniefall-Episode) werden auf ihr Ver-
hältnis zum Grundbestand des Textes hin untersucht, also zu der ganz
erheblich überwiegenden Textmenge, die sich *A und *B (oder A und B)
teilen. Der damit gemeinte »offene« Interpretationstyp verzichtet sowohl auf
»ganze« Texte im Sinne der »Fassungen« Bumkes als auch auf den einen
»ganzen« Ausgangstext. Das ist möglich, weil er die Identität des Textes
nicht an seinem Wortlaut festmacht, sondern an basalen Aporien, die der Text
in seinen verschiedenen Zuständen in sich trägt. Der Zusammenhang zwi-
schen Überlieferung und Interpretation wird dann über die Vermutung her-
gestellt, dass Varianten Reaktionen (des Autors, des Redaktors, des Schrei-
bers?) auf diese grundlegenden Aporien sein können. Die Identität eines
Textes kann dann »zwischen« den Lesarten gesucht werden; Lesarten er-
scheinen als Symptome einer Textidentität, welche jenseits des Wortlauts in
einer prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Textes liegt und eine dynamische
Rezeption initiiert. Diese Identität kann sich gerade durch die Analyse von
Überlieferungsprozessen erschließen, die als Transformationen von im Text-
grundbestand angelegten Aporien erscheinen. Lesarten verstehen sich dann
als Ausprägungen oder Aktualisierungen tiefliegender Aporien. Derartige
Transformationen finden aber nicht nur zwischen Überlieferungsstufen statt;
auch die Bearbeitung des Chrestienschen Yvain durch Hartmann von Aue
könnte als eine solche Transformationsleistung verstanden werden, die eben-
falls an einer aporetischen Grunddisposition des Textes ansetzt. Dadurch
können Überlieferungsversionen und Autorbearbeitungen in einen grundsätz-
lich gleichgerichteten Prozess eingeordnet werden: »Hartmann«, *AB, *A,
*B sind gegeneinander nicht mehr privilegiert, sondern gehören in einen
prozessualen Diskurs, der den Iwein eigentlich erst ausmacht. Die Frage, von
wem welche Lesart stammt, wird dadurch zweitrangig. Wichtig ist allerdings,
dass man sich darüber klar wird, bis zu welchem Punkt im Stemma sich die
Lesart methodisch korrekt nachvollziehen lässt – dabei könnte die in III
dargestellte Editionsform helfen.
Die Vorstellung von der Identität des Textes in der ihm eigenen Aporie ist
demnach gekoppelt mit einem dynamischen Textbegriff, welcher Übertra-
gung in eine andere Sprache (Hartmanns Iwein), Überarbeitungen durch den
Autor, Veränderungen durch Überlieferer (*B und/oder *A) usw. in ein und
denselben textgeschichtlichen Prozess einordnen kann. Dieser Prozess ließe
sich nach Franz Josef Worstbrock mit dem Begriff des Wiedererzählens
charakterisieren.61 Hartmann erzählt wieder (übersetzt nicht), was Chrestien

61 Franz Josef Worstbrock, »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Mittelalter und


frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. W. Haug, Tübingen
1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 128–142.
»Laudines Kniefall« und das Problem des »ganzen Textes« 95

erzählt hatte, *A und *B tun ähnliches, wenn auch in einer sicher weniger
durchgreifenden Form. Wesentlich für mittelalterliches Wiedererzählen – und
eben auch für mittelalterliches Überliefern – scheint mir zu sein, dass ein
reproduktiver und ein rezeptiver Aspekt dergestalt zusammenkommen, dass
sich der dabei entstehende Text – sei es eine Übertragung oder eine »Ab-
schrift« – der ihm eigenen Situation62 anpassen kann, ohne dass dem
Wiedererzähler oder Überlieferer ein Bewusstsein davon entsteht, den Text
wesentlich verändert zu haben. Hier liegt ein Ansatzpunkt für die Historisie-
rung des vorgestellten »offenen« Interpretationsmodells: Die »Anpassung«
bzw. die jeweilige Transformation geschieht zwar aufgrund einer dem »Text«
genuinen Aporie, aber virulent wird diese Aporie vielleicht nur in be-
stimmten »Situationen des Textes«, so dass man methodisch versuchen
könnte, beides – Situationalität und prozessuale Vertiefung des Textes in die
Textgeschichte hinein – miteinander zu koppeln. Hier ist dann auch der Ort
für eine ohne jeden Zweifel notwendige – komplementär notwendige –
»material philology«, die sich intensiv mit dem jeweiligen Überlieferungs-
träger und seiner gegebenen Materialität auseinandersetzt, denn die Situation
des Textes wird eben gerade auch beschreibbar durch die Analyse der
materiellen »Umstände« eines Textes – auch wenn das in der Praxis und am
konkreten Fall immer wieder sehr schwierig sein dürfte.
Die Überlieferung ist nicht allein Kontext, bietet nicht nur Situationen für
den Text,63 sie stellt auch einen Prozess dar, in dem sich der überlieferte Text
als prozessualer Diskurs realisiert. Es gibt also stets einen überlieferungs-
und einen textgeschichtlichen Aspekt, und die Beschäftigung mit einem
mittelalterlichen Text ist wohl nur dann vollständig, wenn beide zur Geltung
kommen. Mir ging es in dem vorliegenden Beitrag vor allem um die
Textgeschichte: Ich wollte vorführen, dass der prozessuale Diskurs Yvain/
Iwein sich eher erschließt, wenn sich zum einen der Editor von der Vor-
stellung des »ganzen Textes« verabschiedet – dann lassen sich auch rekon-
struierende Verfahren mit aller Vorsicht wieder ins Recht setzen – und zum
anderen der Interpret die Identität »des Textes« zumindest auch in den
Gründen für seine varianzträchtige Dynamik sucht – und nicht in der auf
einem einzigen Textzustand basierenden Interpretation. Angenehm, einfach
ist die Arbeit mit verschiedenen Überlieferungsszenarien und Transforma-
tionsprozessen nicht; aber nimmt man mittelalterliche Überlieferung als
Interpretationsaufgabe ernst und lässt sich auf die methodischen Probleme
ein, die damit verbunden sind, dann erscheint sie doch als lohnend.

62 Als kommunikative Situation im Sinne von Strohschneider, Situationen (Anm. 2).


63 Ebd.
Vom Sänger zum Autor
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen
Minnesangs

Rüdiger Schnell (Basel)

I Das Problem der Referenzialität

Swaz ich nu niuwer maere sage, / des endarf mich nieman vrâgen: ich enbin
niht vrô (Reinmar, MF 165,10 f.). Ich denke underwîlen, / ob ich ir nâher
waere, / waz ich ir wolte sagen (Friedrich von Hausen, MF 51,33–35).1 So
beginnen zwei Lieder zweier berühmter Minnesänger: Beide setzen wie viele
andere Minnelieder mit einem ›Ich‹ im ersten Vers ein.2 Wer aber ist es, der
›Ich‹ sagt: der Autor, der das Lied verfasst hat, oder der Sänger, der das Lied
vorträgt, oder ein überpersonales ›Man‹ (in dem sich die Zuhörenden selbst
wiederfinden können),3 oder ein Rollen-Ich, das eine ›Als-ob‹-Referenz
fingiert, in Wirklichkeit also referenzlos bleibt?4 Mit diesen Fragen befinden

1 Ich verwende folgende Abkürzungen: MF = Des Minnesangs Frühling, hg. v. Hugo


Moser/Helmut Tervooren, 38. Aufl., Stuttgart 1988; SMS = Schweizer Minnesänger,
hg. v. Max Schiendorfer, Bd. 1: Texte, Tübingen 1990; KLD = Deutsche Lie-
derdichter des 13. Jahrhunderts, hg. v. Carl von Kraus, Bd. 1: Text, Tübingen
1952.
2 Zur Häufigkeit von Ich-Aussagen im deutschen Minnesang vgl. Joachim Knape,
»Rolle und lyrisches Ich bei Walther«, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu
Leben und Werk, hg. v. H.-D. Mück, Stuttgart 1989, S. 171–190, S. 171 f. Dass ein
Drittel aller Lieder Walthers von der Vogelweide mit einem ›Ich‹ einsetzt, zeigt
Christoph Cormeau, »Versuch über typische Formen des Liedeingangs bei Wal-
ther«, in: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geb.
von K.-H. Borck, hg. v. J.-D. Müller/F. J. Worstbrock, Stuttgart 1989, S. 115–126,
S. 120.
3 Vgl. dazu u. a. Kurt Ruh, »Dichterliebe im europäischen Minnesang«, in: Deutsche
Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift Hugo Kuhn, hg.
v. Chr. Cormeau, Stuttgart 1979, S. 160–183, S. 162: das Ich repräsentiere ein Wir;
Jan-Dirk Müller, »Strukturen gegenhöfischer Welt«, in: Höfische Literatur, Hofge-
sellschaft, Höfische Lebensformen um 1200, hg. v. G. Kaiser/J.-D. Müller, Düssel-
dorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 409–451, S. 416–424 (das Rollen-Ich spreche
von dem, was für alle gelte, und könne deshalb grammatisch durch swer, man,
ieman vertreten werden).
4 In diesem Satz referiere ich lediglich die von der Forschung bislang diskutierten
Referenzmöglichkeiten. Den von Klaus Grubmüller in der Diskussion gemachten
Einwand, es gebe kein referenzloses Ich, reiche ich deshalb an die einschlägige
Forschung weiter; vgl. besonders Peter Strohschneider, »nu sehent, wie der singet!
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 97

wir uns mitten im sog. Referenzialisierungsproblem, das neuerdings die


Minnesangforschung wie kein zweites beschäftigt:5 Referieren die Liedaus-
sagen bzw. die Ich-Rollen in irgendeiner Weise auf den sozialen Kontext
eines Liedvortrages bzw. auf die Personen, die an der Aufführung beteiligt
sind oder sind die Aussagen des Text-Ichs referenzlos?6 Die Positionen der
heutigen Minnesangforschung liegen z. T. weit auseinander.7 Doch sind sich

Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang«, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in


Mittelalter und Früher Neuzeit, DFG-Symposion 1994, hg. v. J.-D. Müller, Stuttgart/
Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 7–29, S. 9. Für mei-
ne Argumentation spielt diese Referenz-Variante keine Rolle. Vgl. aber Anm. 175.
5 Mittelalterliche Lyrik: Probleme der Poetik, hg. v. Thomas Cramer/Ingrid Kasten,
Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), Vorwort S. 8: »Der Eckstein
fast aller Diskussionen über die volkssprachliche Lyrik des 12. und 13. Jhs. ist die
Frage nach ihrem Fiktionalitätsstatus.« Gemeint ist damit die Frage nach dem
Verhältnis der Liedaussagen zur Realität, damit aber auch zu deren Referenzstatus.
6 Ich gehe zunächst einmal von der Annahme aus, dass viele Lieder vor einem
Publikum am Hof vorgetragen worden sind (vgl. die literarischen Belege bei
Gerhard Hahn, »dâ keiser spil. Zur Aufführung höfischer Literatur am Beispiel des
Minnesangs«, in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur, hg. v. G.
Hahn/H. Ragotzky, Stuttgart 1992, S. 86–107, S. 87 f.; Michael Schilling, »Minne-
sang als Gesellschaftskunst und Privatvergnügen. Gebrauchsformen und Funktionen
der Lieder im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein«, in: Wechselspiele. Kom-
munikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, hg. v. M.
Schilling/P. Strohschneider, Heidelberg 1996 [GRM, Beiheft 13], S. 103–121,
S. 105–108; Günther Schweikle, Minnesang, Stuttgart 1989, S. 54–56). Damit soll
nicht bestritten werden, dass es auch eine schriftliterarische Produktion und Rezep-
tion – vgl. Schweikle, Minnesang, S. 51–53 zum Minnesang als Leselyrik; Thomas
Cramer, Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer
Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148) – oder einen Lied-
vortrag vor einem kleinen erlesenen Kreis von Kunstkennern (Frank Willaert,
»Minnesänger, Festgänger?«, ZfdPh 118, 1999, S. 321–335; Bernd Bastert, »Dô si
der lantgrâve nam. Zur ›Klever‹-Hochzeit und der Genese des Aeneas-Romans«,
ZfdA 123, 1994, S. 253–273, S. 268ff.) gegeben hat. In der romanistischen Diskus-
sion wird, trotz mancher Differenzen, das Nebeneinander von mündlicher und
schriftlicher Produktion und Rezeption konstatiert, mit jeweils unterschiedlicher
Akzentuierung für das 12. und 13. Jahrhundert (Tendenz zum Dichten als Schreib-
vorgang). Vgl. zuletzt Dietmar Rieger, »Hören und Lesen im Bereich der trobado-
resken Lieddichtung«, ZfrPh 100, 1984, S. 78–91; Jörn Gruber, »Singen und
Schreiben, Hören und Lesen als Parameter der (Re-)Produktion und Rezeption des
Occitanischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts«, LiLi 15, 1985, Heft 57/58, S. 35–
51; Amelia E. van Vleck, Memory and re-creation in troubadour lyric, Berkeley u. a.
1991, S. 26–55; Maria Selig, »Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Bereich der
trobadoresken Lieddichtung«, in: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel,
hg. v. W. Röcke/U. Schaefer, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 9–37. Grundsätz-
lich zum mündlichen bzw. gesungenen Vortrag in der mittelalterlichen Literatur Paul
Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Aus dem
Französischen v. K. Thieme, München 1994 (frz. Original Paris 1984).
7 Während Peter Strohschneider die These von der Referenzlosigkeit des Minnesangs
vertritt und beim realen Sänger wie beim Publikum das Wissen um den fiktionalen
Status des Text-Ichs voraussetzt (Strohschneider, nu sehent [Anm. 4]), meint Jan-
Dirk Müller Indizien dafür gefunden zu haben, dass die Liedaussagen vom mittel-
alterlichen Publikum auch auf den realen Sänger bezogen werden konnten (J.-D.
Müller, »Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge
98 Rüdiger Schnell

alle Interpreten darin einig, dass über die tatsächlichen Rezeptionsvorgänge


während einer Aufführung nur innerhalb eines Zirkelverfahrens spekuliert
werden kann: Wir müssen die Aufführungssituation aus den literarischen
Texten rekonstruieren, die überlieferten Texte aber von der Aufführungssitua-
tion her verstehen.8 Seit der Diskussion über mediale und konzeptionelle
Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist die Skepsis gegenüber Versuchen, aus
bestimmten strukturellen Merkmalen eines Liedes auf Aufführungsbedingun-
gen zu schließen, noch gestiegen.9
Das Referenzialisierungsproblem verkompliziert sich überdies dadurch,
dass die neuere Minnesangforschung in dem Text-Ich eine zweifache Rolle
(ja sogar vereinzelt ein zweifaches Ich) ausgemacht hat: die Sänger- und
Minnerrolle.10 Je nach Zuordnung dieser beiden Rollen zu dem Text-Ich
ergeben sich verschiedene Referenzmöglichkeiten: Mit der Sängerrolle wer-
den sich die mittelalterlichen Zuhörer sicher in geringerem Maße identifiziert
haben können als mit der Minnerrolle;11 umgekehrt werden sie eher die

volkssprachlicher Lyrik«, IASL 19, 1994, Heft 1, S. 1–21, bes. S. 3 f. u. 19 f.; ders.,
»Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar«, PBB 121,
1999, S. 379–405, S. 401 f.). Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), zitiert zwar zu
Anfang seines Aufsatzes, S. 9 zustimmend Müllers These, meint auch, dass es
interessant sei, Lieder zu untersuchen, die die Relation von textinternem und
textexternem Ich reflektierten (S. 14), befasst sich aber dann doch fast ausschließ-
lich mit der textinternen Relation von Sänger- und Minnerrolle.
8 Einige Informationen, die nicht aus den Liedern selbst stammen, hat für den
spätmittelalterlichen Minnesang zusammengestellt Ulrich Müller, »Kontext-In-
formationen zum ›Sitz im Leben‹ in spätmittelhochdeutschen Lyrik-Handschriften:
Mönch von Salzburg, Michel Beheim. Mit einem Ausblick auf Raimbaut de
Vaqueiras, Reinhard Westerburg und Oswald von Wolkenstein« (im Druck).
9 Immerhin gelingt es Helmut Tervooren, »Die ›Aufführung‹ als Interpretament
mittelhochdeutscher Lyrik«, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ (Anm. 4), S. 48–66, die
in den Text eingeschriebene Situation der Mündlichkeit anhand sprachlich-stili-
stischer Eigenheiten zu belegen. Albrecht Hausmann, Reinmar der Alte als Autor.
Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen/
Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), und Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7),
S. 381 Anm. 8, plädieren dafür, Aussagen über die Aufführungssituation an der
›Poetik der Texte‹ festzumachen. – Für meine Studie übernehme ich nicht die
Unterscheidung zwischen Verschriftung (der rein medialen Umsetzung) und Ver-
schriftlichung (einer konzeptionellen Schriftlichkeit), weil eine solche Abgrenzung
im Bereich der Minnesang-Überlieferung methodisch kaum zu leisten ist; vgl.
Wulf Oesterreicher, »Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und
konzeptioneller Schriftlichkeit«, in: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. v. U.
Schaefer, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267–292.
10 Vgl. dazu unten Abschnitt IV.
11 Zur identifikatorischen Funktion der Werber-Rolle vgl. u. a. Rainer Warning,
»Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors«, in: Deutsche Literatur im
Mittelalter (Anm. 3), S. 120–159, S. 130–132; Claudia Händl, Rollen und pragma-
tische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der
Vogelweide, Göppingen 1987 (GAG 467), S. 69ff.; Hahn, dâ keiser (Anm. 6), S. 95
und 99. Vgl. auch Knape, Rolle und lyrisches Ich (Anm. 2), S. 180: Er vermutet für
einige Lieder Walthers, dass »die höfischen männlichen Hörer [. . .] als Referenz
für das Ich sich selbst annehmen«, und spricht von einem »identifikatorischen«
bzw. »Rezipienten-Ich«.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 99

Sängerrolle als die Minnerrolle mit dem realen Sänger gleichgesetzt haben.
Auch der vortragende reale Sänger selbst wird möglicherweise zu seiner
Sängerrolle einen anderen Bezug gehabt haben als zu der Rolle des Minners.
Jedenfalls ist heute bei der Frage nach der Referenz des Text-Ichs – und
damit nach dessen Authentizität oder Fiktionalität – die Relation von Sänger-
und Minnerrolle dieses Text-Ichs mit zu berücksichtigen.12
Es sei gleich zu Anfang betont, dass ich selbst bei der Frage nach dem
möglichen identifikatorischen Potential der Ich-Aussagen eines Minneliedes
vornehmlich die Relation von Sänger und Text-Ich im Auge habe, dass mich
hingegen hier wenig interessiert, inwieweit die Rezipienten sich mit den Ich-
Aussagen identifiziert haben und ob der Minnesang ein Verhaltensprogramm
bietet.13
Die Minnesangforschung hat einen langen Weg zurückgelegt, bis sie zu
der heutigen differenzierten Diskussion über die Referenzmöglichkeiten ei-
nes Minneliedes angelangt ist. Nachdem im 19. Jh. und noch bis zur Mitte
des 20. Jhs. die biographistische Ausdeutung vorherrschte – die Liedaussage
wurde als Ausdruck der Gefühle des Autors gedeutet14 – und nach den ersten
sozialgeschichtlichen Deutungen um 1900, denen zufolge das Text-Ich die
Wünsche der meist aus niederer Stellung stammenden Sänger kollektiv
formuliert,15 setzte mit der These von Robert Guiette (1949) eine Kehrt-
wende ein; Minnesang sei eine poésie formelle, ein vornehmlich rhetorisches
und artistisches Phänomen, gleichsam l’art pour l’art; das Text-Ich besitze
keine Referenz, sondern genüge sich selbst. Obwohl sich diese Forschungs-
richtung in der Romania bis heute behaupten kann (R. Dragonetti, Paul
Zumthor u. a.),16 erwuchs ihr in der deutschsprachigen Romanistik und
Germanistik ab den 60er Jahren des 20. Jhs. eine starke Konkurrenz in einer

12 Zur Forschungsdiskussion hinsichtlich der Vielfalt von Ichs bei Walther von der
Vogelweide vgl. zuletzt Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide,
Stuttgart 1999, S. 2–4.
13 Die Auseinandersetzung zwischen J.-D. Müller und A. Hausmann wäre um einiges
entschärft, wenn diese beiden unterschiedlichen Arten von Identifikation deutli-
cher getrennt worden wären. Vgl. Hausmann, Reinmar (Anm. 9), S. 136ff.; Müller,
Selbstwiderspruch (Anm. 7). Zum Miteinander und Gegeneinander von ›Ich‹ und
den ›Anderen‹ im Minnesang vgl. J.-D. Müller, Strukturen (Anm. 3), bes. S. 416–
425; Rüdiger Schnell, »Kreuzzugslyrik. Variation der Argumentation«, in: Spuren,
Festschrift Theo Schumacher, hg. v. H. Colberg/D. Petersen, Stuttgart 1986, S. 21–
58 (passim).
14 Vgl. z. B. Alfred Jeanroy, La poésie lyrique des troubadours, Toulouse 1934, Bd. 2,
S. 282.
15 Die Bitten um Lohn für Lobpreis seien in ein Liebeswerben umformuliert worden.
Der Rollencharakter wurde hier schon gesehen. Zu den soziologischen Deutungen
des Minnesangs vgl. Ursula Liebertz-Grün, Zur Soziologie des »amour courtois«.
Umrisse der Forschung, Heidelberg 1977 (Beihefte zum Euphorion 10); Rüdiger
Schnell, »Die ›höfische Liebe‹ als Gegenstand von Psychohistorie, Sozial- und
Mentalitätsgeschichte. Eine Standortbestimmung«, Poetica 23, 1991, 374–424.
16 Für den deutschen Minnesang lehnte diese These ab Ursula Peters, »Le Minnesang
ent tant que ›poésie formelle‹«, in: Musique, littérature et société en moyen âge,
hg. v. D. Buschinger/A. Crépin, Paris 1980, S. 323–343. Günter Eifler, »Liebe um
des Singens willen. Lyrisches Ich und Künstler-Ich im Minnesang«, in: Festschrift
100 Rüdiger Schnell

erneut soziologischen Deutung des Minnesangs, der nun als kollektives


Sprachrohr bestimmter niederadliger Schichten begriffen wurde (Erich Köh-
ler, Ulrich Mölk, Gert Kaiser, Helmut Brackert u. a.). Der Deutungsschwer-
punkt wurde vom Persönlich-Biographischen auf das Ständische verschoben.
Demnach formuliert das Text-Ich des Minnesangs die Aufstiegswünsche bzw.
die Frustrationen von niederen Rittern bzw. Ministerialen. Auch die Gegen-
position, die mittelalterliche Liebesdichtung diene dem Repräsentations-
bedürfnis des Adels (Ursula Peters, Joachim Bumke, Rüdiger Schnell u. a.),
hat sich von dem früheren biographisch-personalen Ansatz verabschiedet.
Heute stehen wir vor einer behutsamen Reformulierung älterer Positionen,
allerdings auch vor einem Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze:
a) zu Authentizität und Fiktionalität der Liedaussagen: Einerseits werden
biographische Bezüge nicht mehr ganz ausgeschlossen,17 andererseits aber
wird eine biographistische Deutung gänzlich abgelehnt. Wenn auch eine
Identifikation zwischen Sänger bzw. Autor und Text-Ich von seiten des
Publikums für möglich gehalten wird,18 so wird doch der fiktionale Status
der Liedaussagen klar benannt. Freilich werden auch Übergänge und Durch-
lässigkeiten zwischen fiktionalem und referenzialisierend-pragmatischem
Status des Text-Ichs für möglich gehalten.

Heinz Engels, hg. v. G. Augst/O. Ehrismann, Göppingen 1991, S. 1–22, greift


jedoch Guiettes These explizit wieder auf und bedauert, dass sie in der ger-
manistischen Mediävistik kaum auf Resonanz gestoßen sei. Eifler kennt jedoch
nicht die kritische Replik von Ursula Peters auf Guiettes These. Eifler verneint wie
Guiette jegliche außerkünstlerische Zwecke für das höfische Lied: die Minne-
sänger hätten die »praktische Verbindlichkeit des lyrischen Sprechens« aufgehoben
und »damit die ästhetische Gestaltung als seinen Endzweck« freigesetzt (S. 17).
Der Adel habe »das Ästhetische als selbständigen Wert« gepflegt (S. 18). Ähnlich
spricht Cramer, Waz hilfet (Anm. 6), S. 174ff., von der »Referenzlosigkeit der
Sprache höfischer Lyrik« im 13. Jahrhundert (S. 177) und weist somit die Mög-
lichkeiten von außerliterarischen Bezugspunkten ab.
17 Mark Chinca, »The medieval German love-lyric: a ritual«, Paragraph 18, 1995,
S. 112–132, S. 124 f. (möchte Autor und Text-Ich nicht strikt trennen); Wechsel-
spiele (Anm. 6), Einleitung S. 13 (»[. . .] Einsicht, dass biographische Referen-
zialisierungen lyrischer Ich-Rede im deutschen Mittelalter offenbar sowenig a
priori eindeutig ausgeschlossen werden können, wie sie gemäß einer mittlerweile
obsoleten methodologischen Position stets einfachhin zu unterstellen gewesen
waren.«) Angesichts von Strohschneiders Beitrag im selben Band klingt dies etwas
überraschend. Für Harald Haferland, »Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerun-
gen der Minnesänger für das Verständnis des Minnesangs?«, in: Mittelalterliche
Lyrik (Anm. 5), S. 232–252, S. 241 u. 249, ist Minnesang nicht Rollendichtung,
sondern »Zurschaustellung der eigenen Gefühle«. Auch die Forschungsrichtung,
die eine neue Subjektivität im mittelalterlichen Minnesang zu erkennen glaubt,
wäre hier anzuschließen; vgl. Sarah Kay, Subjectivity in troubadour poetry, Cam-
bridge 1990; Matthias Meyer, »›Objektivierung als Subjektivierung‹. Zum Sänger
im späten Mittelalter«, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter, hg. v. E. Andersen
u. a., Tübingen 1998, S. 185–199 (zu Konrad von Würzburg).
18 Jan-Dirk Müller, »Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstenden-
zen im späteren Minnesang«, in: Wechselspiele (Anm. 6), S. 43–76, S. 52–54.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 101

b) Zur Funktion des Minnesangs (und damit des Text-Ichs): Einerseits


wird dem Minnesang der Anspruch auf Demonstration eines höfischen
Verhaltensprogramms zugebilligt,19 andererseits wird die Minnethematik nur
als Mittel einer ästhetisch-künstlerischen Demonstration gesehen. Am Text-
Ich wird vor allem die Selbstdarstellung eines Autors, weniger die eines
Liebenden abgelesen.20
Die diffuse Forschungssituation ermutigt immerhin dazu, sich auf neues,
brisantes Terrain zu wagen. Wenn der biographisch-personale Deutungsan-
satz wie die rein ästhetisch-formalistische Bewertung und das soziologische
Erklärungsmodell neben geschlechtergeschichtlichen (Bernd Thum) und
mentalitätsgeschichtlichen (Peter Dinzelbacher) Faktoren ihre Berechtigung
behalten, dann muss sich eine neue These allerdings nach mehreren Seiten
hin als anschlussfähig erweisen, um der Komplexität des literarischen Phäno-
mens Minnesang gerecht zu werden.

19 Warning, Lyrisches Ich (Anm. 11); Müller, »Ir sult sprechen willekomen« (Anm.
7), S. 7; ders., Ritual (Anm. 18); Gert Hübner, Frauenpreis. Studien zur Funktion
der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone, 2 Bde., Baden-
Baden 1996, Bd. 1, S. 29 f. u. S. 343; G. Hahn, »Zu den Ich-Aussagen in Walthers
Minnesang«, in: Walther (Anm. 2), S. 95–104, und ders., dâ keiser (Anm. 6),
spricht von einem »gesellschaftlichen Programm«. Rüdiger Schnell, »Die ›höfi-
sche‹ Liebe als ›höfischer‹ Diskurs über die Liebe«, in: Curialitas. Studien zu
Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hg. v. J. Fleckenstein, Göttingen 1990
(Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), S. 231–301,
sieht weniger in den Liedaussagen als in der Art der Diskursivierung von Liebe die
gesellschaftliche Relevanz des Minnesangs. Zur forschungsgeschichtlichen Rück-
ständigkeit der immer wieder als ›revolutionär‹ bezeichneten Arbeit von Eva
Willms, Liebesleid und Sangeslust. Untersuchungen zur deutschen Liebeslyrik des
späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts, München 1990 (MTU 94), vgl. Schnell,
Die ›höfische‹ Liebe (Anm. 15), S. 379 f.
20 Auf die Bedeutung der Sänger-/Künstlerrolle gegenüber der Minnerrolle hat
innerhalb der germanistischen Forschung zuerst Hugo Kuhn aufmerksam gemacht,
vgl. dazu Burghart Wachinger in einer Rezension: PBB 107, 1985, S. 299–306;
vgl. auch Eifler, Liebe (Anm. 16); Frank Willaert, »Heinrich von Veldeke und der
frühe Minnesang«, in: Mittelalterliche Lyrik (Anm. 5), S. 33–56, S. 53. Ebenfalls
skeptisch gegenüber der Auffassung von einem Verhaltensprogramm im Minne-
sang Volker Mertens, »Der Hof, die Liebe, die Dame und ihr Sänger. Über-
legungen zur Thematik und Pragmatik des Minnesangs am Beispiel zu Liedern
Walthers von der Vogelweide«, in: Walther von der Vogelweide, Greifswald 1995
(Wodan 52), S. 75–93, und z. T. damit wörtlich übereinstimmend ders., »Autor,
Text und Performanz. Überlegungen zu Liedern Walthers von der Vogelweide«, in:
So wold ich in froiden singen. Festschrift Anthonius H. Touber, hg. v. C. Dauven-
van Knippenberg/H. Birkhan, Amsterdam 1995 (ABäG 43/44), S. 379–397; Jörn
Gruber, Die Dialektik des Trobar: Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung
des occitanischen und französischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts, Tübingen
1983 (ZfrPh, Beiheft 194). Dass die Trobadorlyrik vor allem ein Diskurs über das
Dichten, weniger über die Liebe sei, führt aus Michael Bernsen, Die Problemati-
sierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel
der Liebesdichtung von den Provenzalen bis Petrarca, Tübingen 2001 (ZfrPh,
Beiheft 3/3).
102 Rüdiger Schnell

II Sänger und Autor

Die skizzierte Forschungsdiskussion zu Referenzialität, Authentizität, Funk-


tionalität und Fiktionalität des Text-Ichs im Minnesang soll in meinem
Beitrag durch folgende Frage erweitert und zugespitzt werden: Inwiefern
ändern sich die Referenzverhältnisse, wenn die durch Stimme, Gestik, Mimik
präsente Sängergestalt, die gerade durch ihre körperliche Präsenz ein Identi-
fikationsangebot für das Publikum darstellte, im verschrifteten Text ver-
schwindet?21 Fallen die Funktionen, die dem realen Sänger zukamen, nun
einfach unter den Tisch – was bedeutet dies dann für das Textverständnis bei
der Lektüre –, oder werden dessen Funktionen durch neue Textstrategien
bzw. Einrichtungstechniken kompensiert und von anderen Instanzen über-
nommen – was bedeutet dies wiederum für das Textverständnis?22
Ich möchte also die Frage nach der Referenz des Text-Ichs auf die
schriftlich fixierten Minnelieder in den Liederhandschriften B und C aus-
weiten,23 weil ich der Meinung bin, dass das Text-Ich eines mittelalterlichen
Liebesliedes je nach Rezeptionsmodus mit unterschiedlichen Referenzen
versehen wird. Die Gegenüberstellung solch unterschiedlicher Text/Rezipi-
ent-Konstellationen hilft, manche Diskussionspunkte der neueren Forschung
schärfer zu fassen und neue Lösungsansätze auszuprobieren.24 Für die Ich-
Aussagen eines mündlich vorgetragenen Minneliedes ist mit anderen Refe-

21 Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7), S. 3, weist darauf hin, dass »für die situationsab-
strakte Schrift die Sprecherinstanz erst noch zu klären ist«; Franz H. Bäuml/
Richard H. Rouse, »Roll and codex. A new manuscript fragment of Reinmar von
Zweter«, PBB 105, 1983, S. 192–231, S. 317–330, S. 326, überspielen mögliche
Unterschiede, wenn sie die Identifikation des Sängers mit dem lyrischen Ich, wie
sie sich in der Aufführungssituation einstelle, gespiegelt sehen in den Autorenbil-
dern, wo ebenfalls »the poet or singer as lover« abgebildet werde.
22 An einem ganz anderen Textmaterial habe ich diesen Frageaspekt erörtert: Rüdiger
Schnell, »Von der Rede zur Schrift. Konstituierung von Autorität in Predigt und
Predigtüberlieferung«, in: The construction of textual authority in German litera-
ture of the medieval and early modern periods, hg. v. J. F. Poag/C. Baldwin, Chapel
Hill 2001 (im Druck).
23 Mir geht es dabei nicht um eine pauschale Gegenüberstellung von mündlicher und
schriftlicher Minnesangüberlieferung. Auch soll keinesfalls behauptet werden, vor
den Handschriften A, B und C habe es keine schriftlichen Aufzeichnungen von
Minneliedern gegeben (dazu Cramer, Waz hilfet [Anm. 6], S. 21 f.). Doch meine
ich, dass die Sammlung und Niederschrift zahlreicher Autorencorpora in einem
›Buch‹ eine neue Phase der Literarisierung des Minnesangs einleitet, die ihre
eigenen Voraussetzungen und Konsequenzen hat. Die Handschriften B und C
wurden überdies deshalb ausgewählt, weil sie auch sog. Autorbilder enthalten, die
für das Referenzproblem relevant sind. Zu den Handschriften A, B und C vgl.
zuletzt Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und
Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik, Tübingen/Basel 1995 (Bibliotheca
Germanica 32), S. 21–280; Gisela Kornrumpf, »Weingartner Liederhandschrift«,
VL2, Bd. 10, 1998, Sp. 809–817.
24 Obwohl neuerdings der Unterschied zwischen Minnesangaufführung und Theater-
aufführung stärker gesehen wird (Strohschneider, nu sehent [Anm. 4], S. 11–13),
mag doch der Hinweis auf eine Bemerkung von Ina Schabert, »Männertheater«,
Shakespeare Jahrbuch 134, 1998, S. 11–28 (ebd. S. 16), gestattet sein: die Shake-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 103

renzen zu rechnen als für die Ich-Aussagen eines schriftliterarisch rezipierten


Liedes.25 Die These meines Beitrags lautet: Für zahlreiche – nicht für alle –
Minnelieder verschiebt sich – mit der Veränderung von der Aufführungs-
situation zur schriftliterarischen Rezeption – der Referenzpunkt des tex-
tuellen Ichs vom Sänger zum Autor. Dadurch aber kommt es zu bedeutsamen
Verschiebungen in der Relation von Autor/realem Sänger/Text-Ich.
Diese These hat Konsequenzen:
1. Die Frage nach Mündlichkeit oder Schriftlichkeit des Minnesangs26
erhält über die bloß pragmatisch-mediengeschichtliche Relevanz hinaus
grundsätzliche Bedeutung für die Frage nach dem Verständnis eines Minne-
liedes im 12. bis 14. Jahrhundert.27 Denn dieses wird u. a. davon bestimmt
worden sein, worauf die Rezipienten die Aussagen des Text-Ichs bezogen: auf
den Autor, den vortragenden Sänger, auf ein abstrakt-überpersonales ›Man‹
oder auf sich selbst. Oder war die Vorstellung vom fiktionalen Status des
Text-Ichs so dominant, dass jegliche Referenzialisierung von vornherein
unterblieb? Ich meine, dass der jeweilige mediale ›Aggregatzustand‹ die
Antworten bestimmt hat.28
2. Die Frage nach dem Referenzobjekt eines schriftliterarischen Text-Ichs
führt mitten hinein in die Reflexion über das Verständnis des mittelalterli-
chen Minnesangs im 19. und 20. Jahrhundert. Lange Zeit hat die ger-
manistische Mediävistik den Minnesang als Texte der großen Sammel-
handschriften gelesen, mit den bekannten Konsequenzen: das Text-Ich wurde
mit der biographischen Person des Autors gleichgesetzt. Indem ich nun
zugleich mündliche und schriftliterarische Rezeption im Mittelalter selbst
hinsichtlich der Referenz des Text-Ichs miteinander konfrontiere, öffnet sich
ein neuer Blick auf die Forschungsgeschichte: Die in den letzten Jahrzehnten
abgewehrte biographistische Deutung des Minnesangs könnte sich als ein im
Mittelalter selbst anzutreffendes Paradigma erweisen – das dann bis in die
Deutungen des 19. und 20. Jhs. hinein ausgestrahlt hat. Zugespitzt formu-
liert: die Philologen des 19./20. Jhs. haben die Minnelieder des 12./13. Jhs.

speare-Philologie habe die Bedeutung der ›Verkörperung‹ einer Rolle unterschätzt;


in der Aufführung gingen die Dramenfigur und die Person dessen, der sie spiele,
eine Allianz ein, die mehr und anderes sei als jene dramatische Figur oder diese
reale Person.
25 Mit Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7), S. 381 Anm. 8, und gegen Hausmann,
Reinmar (Anm. 9), S. 32 f. bin ich also der Meinung, dass die Medialität eines
Textes für seine Bedeutung nicht gleichgültig ist. Peter Strohschneider, »Auffüh-
rungssituation. Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Min-
nesangforschung«, in: Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Bd. 3, hg.
v. J. Janota, Tübingen 1993, S. 56–71, S. 60, bemerkt zu Recht, dass in dem
Moment, in dem »die Aufführung als Determinante des Minneliedes« betont wird,
der Sänger statt des Autors in den Blick tritt.
26 Vgl. zuletzt Cramer, Waz hilfet (Anm. 6); Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7).
27 Der Wechsel vom vorgetragenen Lied zum gelesenen Text kann auf drei Ebenen
Veränderungen hervorrufen: auf Textebene (im Wortlaut); auf Darstellungsebene
(Präsentation des Textes); auf Rezipientenebene (Textverständnis).
28 Bei seinem Plädoyer für die Schriftlichkeit des Minnesangs ist Cramer, Waz hilfet
(Anm. 6) auf diesen Aspekt nicht eingegangen.
104 Rüdiger Schnell

so verstanden, wie es die Rezipienten der schriftlich fixierten Lieder im


13./14. Jh. getan haben.29
Dieser These wird man entgegenhalten, im 19./20. Jh. hätten doch ganz
andere Autorvorstellungen bestanden als im 13./14. Jahrhundert. Doch die
neueste Diskussion um Autor und Autorschaft im Mittelalter zeigt, dass die
Verabschiedung des Autors, wie sie bis vor kurzem in einigen Studien
angemahnt wurde, doch etwas voreilig erfolgte: Innerhalb des 12. bis 15. Jhs.
begegnet eine Vielfalt unterschiedlicher Autorvorstellungen, so dass ein
kategorialer Unterschied zwischen Mittelalter und 19./20. Jh. nicht zu erken-
nen ist. Statt dem Mittelalter einen Autorbegriff abzusprechen, sollte eine
historische Differenzierung von Autorvorstellungen vorgenommen werden.
Zahlreiche Studien der neuesten einschlägigen Forschung stützen meine
These eher, als dass sie ihr widersprechen.30
Dass bei der Aufführung vieler Lieder der reale Sänger, nicht der Autor
zum Bezugspunkt des Text-Ichs avancierte, diese These hat allerdings schon
im Vorfeld der Beweisführung einige Einwände abzuwehren:31

29 Vgl. auch van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 2 (das romantische Dichtungsverständ-
nis sei durch die Trobadorviten des 13./14. Jhs. gestützt worden). Meines Erach-
tens ist es kein Zufall, dass die Minnesangforschung die Bedingungen und Kon-
sequenzen der Aufführung des Minnesangs erst in dem Moment (d. h. in den
50/60er Jahren des letzten Jahrhunderts) ›entdeckte‹, als sie sich von der bio-
graphistischen Deutung der Minnelieder gelöst hatte. Erst jetzt wurden die kom-
plexen Bezüge zwischen interner Sprechsituation und äußerer Kommunikations-
situation erkannt. Dabei stellte sich die Erkenntnis ein, dass der Reiz vieler Lieder
gerade in der Fiktionalisierung des Text-Ichs lag und sich somit eine rein autor-/
biographiebezogene Deutung verbot.
30 Aus einer inzwischen immens angewachsenen Literatur seien exemplarisch einige
Arbeiten herausgegriffen: Sylvia Huot, From song to book. The poetics of writing
in Old French lyric and lyrical narrative poetry, Ithaca/London 1987, bes. S. 46–
48 (in der Überlieferung der altfranzösischen Lyrik nehme die Figur des Autors
eine viel gewichtigere Rolle ein als in der Überlieferung der Erzählungen) u.
S. 213–273; Burghart Wachinger, »Autorschaft und Überlieferung«, in: Autoren-
typen, hg. v. W. Haug/B. Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 6), S. 1–28;
Cynthia J. Brown, Poets, patrons, and printers. Crisis of authority in late medieval
France, Ithaca/London 1995, bes. Kap. 2–3 (zur paratextuellen Präsentation des
Autors); Heinz Kischkel, Tannhäusers heimliche Trauer, Tübingen 1998, S. 217–
259, S. 285–289; Burt Kimmelmann, The poetics of authorship in the later middle
ages. The emergence of the modern literary persona, New York u. a. 1996; Autor
und Autorschaft (Anm. 17); Rüdiger Schnell, »›Autor‹ und ›Werk‹ im deutschen
Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven«, Wolfram-Studien 15,
1998, S. 12–73; Hausmann, Reinmar (Anm. 9). Dass sich innerhalb der mittel-
alterlichen Überlieferung volkssprachlicher Texte allmählich poetische Autoritäten,
deren ›Werk‹ nicht verändert werden durften, herausgebildet haben, lässt die sich
ab ca. 1300 verfestigende Überlieferung einiger Texte vermuten; vgl. Joachim
Bumke, »Der unfeste Text«, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ (Anm. 4), S. 118–129,
S. 127 f.; Sylvia Huot, The ›Romance of the Rose‹ and its medieval readers,
Cambridge 1993, S. 133.
31 Diese These befindet sich also in direktem Gegensatz zu dem Buchtitel Haus-
manns Reinmar der Alte als Autor (Anm. 9). Für Hausmann macht es keinen
Unterschied, ob Reinmar als Sänger auftritt oder aber in den Handschriften als
Autor figuriert.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 105

1. Es wird im allgemeinen angenommen, die Autoren hätten ihre Lieder


selbst vorgetragen und seien somit mit dem vortragenden Sänger identisch
gewesen, eine Abgrenzung sei hiermit hinfällig.32 Dieser Befund lässt sich
gut belegen33 und soll auch gar nicht bestritten werden. Angezweifelt werden
soll lediglich der Ausschließlichkeitsanspruch dieser Position. Immerhin wird
in einschlägigen Arbeiten anmerkungsweise immer wieder eingeräumt, dass
die Lieder namentlich bekannter Minnesänger von fahrenden Sängern aufge-
führt worden seien,34 ja dass sogar in der Überlieferung einiger Repertoire-
Hefte des 12./13. Jhs. die Unterscheidung zwischen fahrenden Sängern und
Liedautoren sich verflüchtigt habe.35
Dazu einige Beispiele:
a. Dass zahlreiche Liedstrophen Heinrichs von Rugge auch unter dem
Namen Reinmars überliefert sind, erklärt Günther Schweikle damit, dass
Reinmar einzelne Strophen und Lieder Heinrichs von Rugge in sein eigenes
Repertoire übernommen und dabei manches um- und weitergebildet habe.
Dies würde bedeuten, dass auch zwischen Minnesängern Liederaustausch
stattfand und somit beim Vortrag der jeweilige Sänger im Vordergrund stand,

32 Warning, Lyrisches Ich (Anm. 11), S. 123, identifiziert Autor und realen Sprecher;
Eifler, Liebe (Anm. 16), S. 5ff., 12 u. 14, behauptet sogar eine »Ineinssetzung« von
Autor, Sänger und lyrischem Ich. Helmut Tervooren, »Die Haager Liederhand-
schrift. Schnittpunkt literarischer Diskurse«, ZfdPh 116, 1997, Sonderheft, S. 191–
207, S. 198, nimmt für den klassischen Minnesang eine Personalunion von Autor
und Vortragskünstler an. Auch für Elisabeth Lienert, »Hoerâ Walther, wie ez mir
stât. Autorschaft und Sängerrolle im Minnesang bis Neidhart«, in: Autor und
Autorschaft (Anm. 17), S. 114–128, S. 115–117, fallen Sängerrolle und Autor-
schaft zusammen. Mit Hilfe der Lieder eines Dritten zu werben, sei »geradezu
widersinnig«. Andererseits räumt sie ein, dass »in der realen Vortragsituation der
Vortragende in den Vordergrund« tritt, »zum Teil auf Kosten des Autors«
(S. 117).
33 Zum Beispiel durch den Literaturexkurs Gottfrieds von Straßburg (Tristan
4751ff.), der die Minnesänger Reinmar und Walther von der Vogelweide nament-
lich erwähnt und den Wunsch ausspricht, sie möchten ihre Klage eines Tages in
Freude enden lassen. Doch bilden Reinmar und Walther bereits den Endpunkt einer
Entwicklung; vgl. unten zu Liedtyp 4.
34 Thomas Bein, »Das Singen über das Singen. Zu Sang und Minne im Minne-Sang«,
in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ (Anm. 4), S. 67 A. 4; Händl, Rollen (Anm. 11), S. 8
und S. 23 A. 28 (hält es für denkbar, dass die Lieder adeliger Dilettanten von
fahrenden Sängern vorgetragen wurden); Reinmar. Lieder, Mittelhochdeutsch/Neu-
hochdeutsch, hg. v. Günther Schweikle, Stuttgart 1986, S. 306 (hält es für möglich,
dass Reinmar MF 150,1 u. 150,10 aus der »Sammlung eines Nachsängers« in die
Hs. B gelangt sind). Nach Schweikle, Minnesang (Anm. 6), S. 4, enthält aber Hs.
B – im Unterschied zu A und C – nur Autorcorpora, keine Sammlungen von
Fahrenden. Dass ein Lied nicht nur vom ›Autor‹ vorgetragen wurde, lässt MF 5,20
(Kaiser Heinrich) vermuten.
35 Johannes Janota, »Der vogt von Rotenburch im Budapester Fragment«, in: Mittel-
alterliches Schauspiel. Festschrift Hansjürgen Linke, hg. v. U. Mehler/A. H. Tou-
ber, Amsterdam 1994, S. 213–222, bes. S. 219 u. 221 (späteren Sammlern sei die
Vermischung von Autorschaft und Übernahme von Liedern und Strophen anderer
Autoren im Vortragsrepertoire dichtender Nachsänger nicht mehr völlig durch-
sichtig gewesen).
106 Rüdiger Schnell

nicht der Autor.36 Dass der Vortrag bzw. die Adoption von Liedern durch
reproduzierende Sänger, aber auch durch andere Autoren offensichtlich ein
weitverbreitetes Phänomen gewesen ist, lassen einschlägige Hinweise der
Forschung vermuten.37 Doch die Konsequenzen aus dieser Annahme schei-
nen nicht gezogen worden zu sein.
b. Die in der Handschrift A den Autorennamen Niune, Gedrut und Leut-
hold von Seven zugeordneten Textcorpora, bei denen sich die Zuschreibungs-
divergenzen zu C häufen, werden heute »als authentische Zeugnisse für
Repertoirehefte von Fahrenden in Anspruch genommen«38. Wir hätten es
demnach mit anonymen Kleinsammlungen zu tun, die erst in einer Vorstufe
von Handschrift A Autornamen unterstellt wurden. Dies würde die These
»Vom Sänger zum Autor« gut stützen. Dass in der Überlieferung einige
Lieder nicht den ursprünglichen Autoren, sondern den Sängern zugeordnet
wurden, zeigt, dass der Sänger die ausschlaggebende Instanz bei einem
Vortrag sein konnte, nicht der Autor.39
36 Günther Schweikle, »Heinrich von Rugge«, in: VL2, 3, 1981, Sp. 869–874, Sp.
871.
37 Reinmar (Anm. 34), S. 56 (im Repertoire Reinmars könnten sich auch Lieder
anderer Minnesänger befunden haben); Die frühe Minnelyrik, hg. v. Günther
Schweikle, Darmstadt 1977, S. 49 (denkbar sei »nicht nur die Übernahme ganzer
Lieder ins Repertoire eines anderen Dichters, sondern auch die Adoption und
Erweiterung einzelner Strophen«); ebd. S. 401 f. (vermutet, dass die Fassung des
Liedes MF 36,5 von Dietmar von Aist, die Fassung C von Reinmar gesungen
wurde); ebd. S. 425 (ähnlich zu Veldeke); Günther Schweikle, »Hartmann von Aue
und Walther von der Vogelweide?«, in: So wold ich in fröiden singen. Festschrift
Anthonius Touber, hg. v. C. Dauven-van Knippenberg, Amsterdam 1995, S. 449–
458, S. 456 f. (zu Hartmann MF 214,34 und Walther La 120,16); Günther
Schweikle, »Zur Edition mittelhochdeutscher Lyrik«, ZfdPh 104, 1985, Sonder-
heft, S. 2–18, S. 12; Hahn, dâ keiser (Anm. 6), S. 89; Erich Kleinschmidt, »Minne-
sang als höfisches Zeremonialhandeln«, AfK 58, 1976, S. 35–76, gekürzt wieder
in: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, hg. v. Hans Fromm,
Bd. 2, Darmstadt 1985 (WdF 608), S. 134–159, S. 156 (zu Ulrich von Liechten-
stein, Frauendienst, hg. v. Franz V. Spechtler, Göppingen 1987 (GAG 485), Str.
775,4ff.); Peter Göhler, »Textabwandlung in der Minnelyrik Walthers von der
Vogelweide«, in: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition, hg. v. T. Bein,
Berlin/New York 1999, S. 125–139, S. 128–130 (erklärt einige Textveränderungen
dadurch, dass ein anderer als der Autor die Lieder vorgetragen hat). Mit einem
ähnlichen Vorgang bei anderen Minnesängern rechnen Max Schiendorfer, »Hand-
schriftliche Mehrfachzuweisungen: Zeugen sängerischer Interaktion im Mittel-
alter? Zu einigen Tönen namentlich aus der Hohenburg-, Rotenburg- und Walther-
Überlieferung«, Euphorion 79, 1985, S. 66–94; Thomas Bein, »Der ›offene‹ Text –
Überlegungen zu Theorie und Praxis«, in: Quelle – Text – Edition, hg. v. A.
Schwob/E. Streitfeld, Tübingen 1997, S. 21–35, bes. S. 33. Hausmann, Reinmar
(Anm. 9), S. 341, führt die Reinmar-Rugge-Vermischung auf eine Unsicherheit des
C-Schreibers zurück, muss aber immerhin einräumen, dass bei zwei Tönen die
Zuschreibungsdivergenz weiter zurückreicht.
38 Gisela Kornrumpf, »Heidelberger Liederhandschrift A«, in: VL2, Bd. 3, 1981, Sp.
577–584, Sp. 582. Vgl. auch Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidel-
berger Liederhandschrift, hg. und erläutert v. I. F. Walther, Frankfurt a. M. 1988,
S. 222 (zu Niune), S. 256 (zu Kunz von Rosenheim), S. 258 (zu Rubin).
39 Den möglichen Einwand, dass die fahrenden Sänger, Angehörige eines sozial
niederen Standes, nicht zu Identifikationsfiguren für die Aussagen eines adlig-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 107

c. Narrative Texte des 13. Jhs. bieten Szenen, in denen Adlige oder auch
Spielleute die Lieder von Dritten vortragen, dabei sich selbst mit dem Text-
Ich identifizieren. Bekanntestes Beispiel ist der Guillaume de Dole ou Le
Roman de la rose von Jean Renart (zwischen 1210 und 1228 entstanden).40
Da man annehmen darf, dass sich die Darstellung der Dichtung nicht
gänzlich von den damaligen Möglichkeiten entfernt hat, ohne insgesamt
unglaubwürdig zu werden, ist dies ein (weiterer) Beleg dafür, dass die
Sängerrolle nicht für Autoren reserviert war. Damit aber werden die Aus-
sagen des Text-Ichs eines Liedes als vom Autor ablösbar gedacht.
d. Auch der Stricker fokussiert in seiner parodistisch-satirischen Dar-
stellung höfischen Minnesangs nicht auf die Autoren, sondern auf die Sänger
von Liebesliedern, die er mit ihrem Sang um Liebe bei der Burgherrin
werben lässt.41
e. In der okzitanischen Lyrik scheint der Abstand zwischen ›Textprodu-
zent‹ und vortragendem Sänger deutlicher markiert zu sein als im deutschen
Minnesang,42 damit aber auch das Bewusstsein stärker ausgeprägt zu sein,
dass der Sänger das von einem ›Autor‹ verfertigte Lied vorträgt. Einige
Trobadors fordern explizit Jongleurs auf, die von ihnen verfertigten Lieder
sorgfältig zu erlernen, äußern aber zugleich Bedenken, diese könnten ihre

höfischen literarischen Genres werden konnten, möchte ich durch den Hinweis auf
das Nebeneinander von Berufssängern und Adligen in der okzitanischen und
deutschen Liedproduktion entkräften. Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 80 f., erwähnt
zwar, dass in manchen französischen Liederhandschriften »eine klare ikonographi-
sche Trennung zwischen den Bildtypen für adelige und für nicht-adelige Autoren
festzustellen ist«, bemerkt aber, dass in der Weingartner Handschrift B »die
sozialen Abstufungen zwischen den hochadeligen Dilettanten und den Berufs-
sängern, zwischen den Ministerialen und dem Adel [. . .] eher verwischt als betont«
werden. Reinmars und Walthers Text-Ichs repräsentierten meines Erachtens wohl
denselben Anspruch auf Vorbildhaftigkeit wie die Text-Ichs eines Friedrich von
Hausen, Rudolf von Fenis oder des Burggrafen von Rietenburg.
40 Vgl. M.-R. Jung, »L’empereur Conrad chanteur de poésie lyrique. Fiction et verité
dans le Roman de la Rose de Jean Renart«, Romania 101, 1980, S. 35–50; Volker
Mertens, »Kaiser und Spielmann. Vortragsrollen in der höfischen Lyrik«, in:
Höfische Literatur (Anm. 3), S. 455–468; Huot, From song (Anm. 30), S. 108–
116.
41 Die Kleindichtung des Strickers, hg. v. Werner W. Moelleken u. a., Bd. 5, Göppin-
gen 1978 (GAG 107 V), S. 83–97. Einerseits erwähnt der Stricker das Singen der
Werber (V. 16, 242, 245, 283 f.), andererseits lässt er sie ihre Werbung in einem
vertraulich-privaten Gespräch mit der Burgherrin vorbringen (V. 43ff., 174, 190ff.;
allerdings wird auch bei Morungen MF 151,30 f. in der Handschrift A die Verbin-
dung von intimer Zweisamkeit und Sang als Wunsch erwähnt). Zu einer gewissen
Unstimmigkeit in der Bezeichnung der Minnesänger durch Stricker vgl. Müller, Ir
sult sprechen (Anm. 7), S. 3 Anm. 5. Gottfried von Straßburg nennt im Tristan, wo
er den Minnesang vorstellt, die Namen von Autoren. Dies dürfte in einem Litera-
turkatalog allerdings nicht überraschen.
42 Händl, Rollen (Anm. 11), S. 23, hingegen geht davon aus, dass auch im deutschen
Minnesang der Autorname in der realen Aufführungssituation stets bekannt ge-
wesen sei.
108 Rüdiger Schnell

Lieder beim Vortrag entstellen.43 Die Tornadas, die sog. Geleitstrophen in der
okzitanischen Lyrik, in denen der Autor eines Liedes meist einen Gönner
bzw. eine Gönnerin nennt, sorgten wohl dafür, dass beim Vortrag eines
Liedes hinter dem joglar (Jongleur) stets der Autor als ›Produzent‹ des Textes
und damit des Text-Ichs gegenwärtig war.44 Offensichtlich machten die
Trobadors hiermit in stärkerem Maße als die deutschen Minnesänger ihren
Anspruch auf die Autorschaft eines Lieds geltend.45 Es ist allerdings daran
zu erinnern, dass die Tornadas nicht obligatorisch waren und ein gewisser
Spielraum für die Selbstdarstellung der Jongleurs bestand.46 Weiterhin ist
daran zu erinnern, dass ein sog. joglar durchaus auch eigene Lieder verfer-
tigte, damit in Konkurrenz zu einem trobador treten konnte.47 Schließlich
wird auch in der Okzitanistik für möglich gehalten, dass Trobadors die
Lieder anderer Trobadors vorgetragen haben.48 In diesen Fällen wird der
vortragende Sänger mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben als der

43 Van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 48 f.; Joseph J. Duggan, »Performance and
transmission, aureal and ocular reception in the twelfth- and thirteenth-century
vernacular literature of France«, RPh 43, 1989/90, S. 49–58, S. 54; Ulrich Mölk,
Trobadorlyrik. Eine Einführung, München 1982, S. 60 f.
44 Van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 48 f. zu einem Lied Peires d’Alvernhe. Selig,
Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Anm. 6), S. 15 f. u. 19, spricht mit Blick auf die
Tornadas davon, dass die Personalunion zwischen Autor und Rezitator eines Textes
zerbreche. Der Trobador dichte und komponiere nur noch; die Aufführung über-
trage er einem professionellen Interpreten, einem joglar. Zur Tornada und zum
Lesen bzw. Hören von Trobadorliedern vgl. auch Dietmar Rieger, »Die altproven-
zalische Lyrik«, in: Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretationen, Bd. 1,
hg. v. H. Bergner, Stuttgart 1983, S. 197–390, S. 210, 228 f. u. 357 f. Anm. 11.
Riegers Überlegungen sind noch ganz Gustav Gröbers Hypothese von der Existenz
von Liederblättern und Liederbüchern verpflichtet; dagegen aber nun van Vleck,
Memory (Anm. 6), Kap. 3 (S. 56ff.). (Inwieweit das von Eckart Conrad Lutz
edierte [Dießenhofener] Liederblatt [ca. 1400] auf eine lange Praxis zurück-
verweist, ist völlig unsicher. Skeptisch gegenüber der von Lutz angenommenen
Funktionsbestimmung des Liederblattes Franz-Josef Holznagel in seiner Rezen-
sion: Arbitrium 1998, S. 178 f.). Ob die Geleitstrophen »als Zeichen beginnender
Verschriftlichung zu verstehen« sind (Müller, »Ir sult sprechen willekomen« [Anm.
7], S. 8 Anm. 18), muss offenbleiben, da zumindest im 12. Jh. die Trobadorlyrik
mündliche wie schriftliche Produktion und Rezeption kennt.
45 Möglicherweise ist dies mit ein Grund dafür, dass in den okzitanischen Lie-
derhandschriften der biographische Bezug der Lieder zu den Autoren sehr viel
deutlicher artikuliert wurde (durch Vidas und Razos) als in den deutschen Pen-
dants. S. unten S. 125 f.
46 Vgl. William D. Paden Jr., »The role of the joglar in troubadour lyric poetry«, in:
Chrétien de Troyes and the troubadours. Essays in honor of the late Leslie
Topsfield, hg. v. P. S. Noble/L. M. Paterson, Cambridge 1984, S. 90–111.
47 In den Biographies des troubadours. Textes provencaux des XIIIe et XIVe siècles,
hg. v. Jean Boutière/A.-H. Schutz, Paris 21964, werden ca. 35 Trobadors als joglars
bezeichnet. Vgl. den Razo zu P.-C. 29,2 (Arnaut Daniel), übersetzt bei William E.
Burgwinkle (Transl.), Razos and troubadour songs, New York/London 1990,
S. 38 f.: ein joglar tritt zu einem Dichterwettstreit mit Arnaut Daniel an; vgl. auch
van Vleck, Memory (Anm. 6), S. 37 f. u. 47 f.
48 D’Arco Silvio Avalle, La letteratura medievale in lingua d’oc nella sua tradizione
manoscritta, Turin 1961, S. 55; Martín de Riquer, La lírica de los trovadores,
Barcelona 1975, S. 19; Sarah Kay, »La notion de personnalité chez les trouba-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 109

abwesende Autor. Die Grenzen zwischen dem Liedproduzenten und dem


vortragenden Sänger scheinen also auch in der Trobadorlyrik zuweilen flie-
ßend gewesen zu sein.49
2. Ob das mittelalterliche Publikum das Text-Ich eines Liedes mit dem
realen Sänger oder aber mit dem Autor des Liedes identifiziert hat, können
wir heute nicht mehr beweisen. Doch sollte uns dies nicht davon abhalten, die
Bedingungen, die eher für das eine als das andere sprechen, zu erörtern.
Zumindest sollte nicht von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen wer-
den, dass es im Moment des Vortrags für die Hörer unwichtig gewesen ist, ob
der Autor selbst oder aber ein Dritter das Lied vorgetragen hat.50 Entschei-
dend war möglicherweise die körperliche Präsenz des Sängers, ob nun in
Personalunion mit der Autor-Instanz oder aber in der Funktion des fahrenden
Sängers. Von Einfluss wird auch gewesen sein, ob ein bekannter Berufs-
sänger, der bereits viele Lieder gedichtet und dem man von vornherein ein
Rollenspiel unterstellt hat, oder ein ›adliger Dilettant‹, der recht selten
gesungen hat, aufgetreten ist. Der erstmalige Auftritt eines Sängers kann eine
andere Rezeptionshaltung hervorgerufen haben als der zehnte oder zwanzig-
ste Auftritt.51 Dass sich vom frühen zum hohen Minnesang eine Entwicklung
– von der fast ausschließlichen Inszenierung der Minnerrolle zur Thematisie-
rung der Sängerrolle – vollzogen hat, ist gleichermaßen zu erwägen.52

dours: encore la question de la sincerité«, in: Mittelalterbilder aus neuer Per-


spektive, hg. v. E. Ruhe/R. Behrens, München 1985, S. 166–181, S. 171 f.; van
Vleck, Memory (Anm. 6), S. 7.
49 Selig, Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Anm. 6), S. 17; Angelica Rieger, »Beruf:
joglaressa. Die Spielfrau im okzitanischen Mittelalter«, in: Feste und Feiern im
Mittelalter, hg. v. D. Altenburg u. a., Sigmaringen 1991, S. 229–241, bes. S. 229–
231; Kay, Subjectivity (Anm. 17), S. 132-146.
50 Lienert, Hoerâ Walther (Anm. 32), geht bei ihrer Gleichsetzung von Autor und
Sänger von der Textproduktionsseite aus, mich hingegen interessiert die Art der
Rezeption. Deshalb ist für meinen Argumentationszusammenhang auch die Dis-
kussion darüber, ob die Minnesänger bzw. Trobadors ihre Lieder schriftlich oder
›im Kopf‹ verfertigten, irrelevant; vgl. zuletzt Duggan, Performance (Anm. 43),
bes. S. 54 f.; Selig, Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Anm. 6); Dietmar Rieger,
»Chantar und faire. Zum Problem der trobadoresken Improvisation«, ZfrPh 106,
1990, S. 423–435; van Vleck, Memory (Anm. 6), Kap. 1–3 u. Kap. 6; Cramer, Waz
hilfet (Anm. 6), S. 21–29. Dass die Sänger bei einem öffentlichen Vortrag zumeist
nicht von einem ›Blatt‹ abgelesen haben und deshalb die Aufmerksamkeit der
Hörer nicht vom Sänger auf das ›Blatt‹ hin sich verlagerte, nehme ich an (vgl. aber
Mölk, Trobadorlyrik [Anm. 43], S. 210 zum Absingen vom Blatt). Nur so ist
verständlich, dass einige Trobadors am Schluss eines Liedes andere Sänger auffor-
dern, dieses Lied zu lernen (ohne schriftliche Unterlagen), vgl. van Vleck, Memory
(Anm. 6), S. 48 f.; Duggan, Performance (Anm. 43), S. 54.
51 Darüberhinaus ist zu erwägen, ob sich beim höfischen Publikum die Erwar-
tungshaltung nach einer gewissen Gewöhnungsphase verändert hat; vgl. dazu
Müller, Ritual (Anm. 18); ders., Selbstwiderspruch (Anm. 7).
52 Lienert, Hoerâ Walther (Anm. 32), ist der Auffassung, dass »im Lauf der Minne-
sang-Entwicklung« die Sängerrolle »zunehmend von der Liebhaber- zur Autorrolle
umfunktioniert« werde (S. 128); vgl. auch unten zu Liedtyp 4.
110 Rüdiger Schnell

III Autorbild und Schriftlichkeit

Dass – im Gegensatz zur Aufführungssituation – ein Rezipient der Lie-


derhandschriften B und C die Ich-Aussagen eines Minneliedes – in Erman-
gelung eines vortragenden Sängers – mit dem Textproduzenten (›Autor‹) in
Verbindung gebracht hat, ist zu vermuten. Zwar besitzen wir keine ein-
deutigen Belege für die Art der Referenzialisierung, doch sprechen einige
Indizien, die zu erörtern sein werden, dafür, dass der ›Urheber‹ des Textes
zum Bezugspunkt wurde.
Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass sich in der Organisation und
Ausstattung der Handschriften B und C ein bestimmtes Textverständnis
niederschlägt, dann sind jedenfalls folgende Merkmale zu beachten:

– in den Handschriften dokumentiert sich ein autorbezogenes Sammeln: die


Lieder sind nach Autoren geordnet aufgeschrieben worden;53
– den einzelnen Autorenœuvres sind Miniaturen vorangestellt, die die Ver-
fasser der Texte abbilden und sie in besonders engen Zusammenhang mit
den anschließenden Texten rücken;54
– mit Hilfe von Wappenabbildungen werden die Textproduzenten im histori-
schen Kontext biographisch verortet;
– über jedem ›Autorbild‹ ist der Name des ›Autors‹ angebracht.

Indem die einzelnen Lieder derart auf ihren ›Urheber‹ hin ausgerichtet
werden, herrscht in den beiden Handschriften ein Autorprinzip. Man muss
sich heute den Unterschied zwischen Aufführungssituation eines Liedes und
der Reihung schriftlich fixierter Lieder eines Autors erst wieder klar machen:
der Vortrag eines einzelnen Liebesliedes lässt den Sänger (in der Rolle des
Liebenden) hervortreten; der Anblick einer schriftlichen Sammlung von
Liedern lässt nach dem Produzenten dieser Texte fragen. Mir scheinen die
Zyklusbildungen von Gedichten bei Dante und Petrarca, die ja eindeutig den
Befund ›Buchlyrik‹ anzeigen, und die Reihung mehrerer Gedichte zu Auto-

53 Zu den möglichen Vorstufen der autorbezogenen Aufzeichnungen vgl. Helmut


Tervooren, »Ein neuer Fund zu Reinmar von Zweter«, ZfdPh 102, 1983, S. 377–
391, S. 382 u. 390. Einen komprimierten Überblick über die Typen von Liedsamm-
lungen gibt jetzt Franz-Josef Holznagel, »Typen der Verschriftlichung mittel-
hochdeutscher Lyrik vom 12. bis zum 14. Jahrhundert«, in: Entstehung und Typen
mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposium, 13–17. Oktober
1999, Jahrbuch für Internationale Germanistik A, 52, 2001, S. 107–130.
54 Zu den ›Autorenbildern‹ vgl. zuletzt Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 66–88;
Cramer, Waz hilfet (Anm. 6), S. 26–29. Informativ nach wie vor Ewald M. Vetter,
»Die Bilder« (S. 43–100), Walter Koschorrek, »Die Bildmotive« (S. 103–127) und
Hugo Kuhn, »Die Liedersammlung« (S. 131–144), in: Codex Manesse. Die Große
Heidelberger Liederhandschrift. Kommentar zum Faksimile des Codex Palatinus
Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg, hg. v. Walter Koschorreck/
Wilfried Werner, Frankfurt a. M. 1981. Sehr differenziert jetzt zu Autorbildern
überhaupt Ursula Peters, »Autorbilder in volkssprachigen Handschriften des Mit-
telalters. Eine Problemskizze«, ZfdPh 119, 2000, S. 321–368.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 111

rensammlungen in den deutschen Liederhandschriften auf eine ähnliche


Vorstellung zurückzugehen:55 auf die Vorstellung vom Autor als ›Urheber‹
von Texten.56
Mit Überraschung muss man allerdings zur Kenntnis nehmen, dass nur
ganz wenige Miniaturen der Handschriften B und C die ›Autoren‹ tatsächlich
in ihrer Funktion als Textproduzenten abbilden.57 Sehr viel öfter figurieren
die ›Autoren‹ als Liebende (im Minnegespräch, bei der Umarmung, als
Turnierkämpfer vor weiblichem Publikum, als Auftraggeber einer Liebesbot-
schaft u. a.). Fast ganz ausgeblendet ist die Funktion des Sängers, der seine

55 Es ist bezeichnend, dass die Minnesang-Forschung des 19./20. Jhs. die Autoren-
sammlungen der Handschriften B und C als Liedzyklen verstanden hat (die auf
biographische Erlebnisse zurückgehen). Zum Zusammenhang von Leselyrik und
Zyklusbildung vgl. Burghart Wachinger, »Liebeslieder vom späten 12. bis zum
frühen 16. Jahrhundert«, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche
und Neuansätze, hg. v. W. Haug, Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 1–29, S. 5–
7, der allerdings den stärkeren Literarisierungsschub in der italienischen Liebes-
lyrik betont (S. 10 f.).
56 Ob vom 13. zum 15. Jh. das Interesse von Schreibern und Sammlern an Autor und
Autorschaft zu- oder aber abgenommen hat, ist bei dem heutigen Forschungsstand
nicht zu entscheiden. Jedenfalls bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den
verschiedenen Literaturbereichen (Lyrik, höfischer Roman, Heldenepik, Kurz-
erzählungen, geistliches Gebrauchsschrifttum, Sachliteratur). Neben dem ›Autor‹
bilden Gattung und Alphabet wichtige Ordnungsprinzipien in Liederhandschriften.
Zwar darf vermutet werden, dass die Liedüberlieferung mit ihren Autorrubriken
eine Vorreiterrolle gespielt hat, doch das 15./16. Jh. kennt auch nicht autorbezo-
gene Liedsammlungen. Vgl. zuletzt Huot, From song (Anm. 30), S. 47 f. u. 211ff.
(zur Dominanz des Autor-Prinzips in der nordfranzösischen Lyrik-Überlieferung);
Wachinger, Autorschaft (Anm. 30), bes. S. 6 f. u. 12–14 (die Zeugnisse eines
Interesses am Autor würden vom 12. bis zum 15. Jh. zunehmen); ders., Liebes-
lieder (Anm. 55), S. 11 (zum Desinteresse am Autor in der Liedüberlieferung des
15./16. Jhs.); Tervooren, Die Haager Liederhandschrift (Anm. 32), S. 199–202
(zum Nebeneinander von anonymer und autororientierter Überlieferung im
15. Jh.); Johannes Spicker, »Singen und Sammeln. Autorschaft bei Oswald von
Wolkenstein und Hugo von Montfort«, ZfdA 126, 1997, S. 174–192 (mit differen-
zierten Ergebnissen: Hugo stilisiere sich als Autor, Oswald hingegen als Sänger);
Thomas Bein, ›Mit fremden Pegasusen pflügen‹. Untersuchungen zu Authentizitäts-
problemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998 (Philo-
logische Studien und Quellen 150), S. 30ff. u. 201ff. (zu anonymen Werken und
Autorzuweisungen); Christoph März, Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salz-
burg. Texte und Melodien, Tübingen 1999 (MTU 114), S. 3 (zur nicht autorzen-
trierten Lyrik-Überlieferung); Franz-Josef Holznagel, »Autorschaft und Überliefe-
rung am Beispiel der kleineren Reimpaartexte des Strickers«, in: Autor und
Autorschaft (Anm. 17), S. 164–184 (zur autorbezogenen Überlieferung beim Strik-
ker, einem Sonderfall innerhalb der Überlieferung von Kleinepik).
57 Als meditierende oder diktierende bzw. schreibende Dichter erscheinen die ›Au-
toren‹ auf den Tafeln 10, 16, 45, 124 bzw. 58, 96, 112, 121 und 124. Der Kürze
wegen nenne ich nicht die Autorennamen, sondern nur die Bild-Nummern; dabei
beziehe ich mich auf Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger
Liederhandschrift, hg. u. erläutert v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit v. G. Siebert,
Frankfurt a. M. 1988.
112 Rüdiger Schnell

Lieder vor einem Publikum vorträgt.58 Dieser Befund lässt einerseits Skepsis
aufkommen gegenüber der Vorstellung vom Minnesang als eines vor allem
dichterischen Wettstreits,59 provoziert aber zugleich die Frage, ob nicht
vielleicht gerade die Schriftlichkeit des Minnesangs in den Handschriften B
und C eine solche ›Aussparung‹ der Sängerfunktion verursacht hat. Jeden-
falls wird zu fragen sein, inwieweit die autorbezogene Einrichtung der
Handschriften B und C einerseits und die Dominanz der Minnerrolle in den
›Autorenbildern‹ andererseits die Referenz für das Text-Ich bestimmen, und
zwar – im Vergleich mit einem Liedvortrag – anders bestimmen.60
Exkurs zur Relation von Minnethematik und Sangesthematik auf den Miniaturen der
Handschrift C
Meiner Auffassung, auf den Autorenbildern dominiere die Darstellung des Minne-
handelns, das Sangesthema trete zurück, ließe sich entgegenhalten, dass einige der
Miniaturen, die den Dichter im Beisein von Damen zeigten, diesem eine Schrift-
rolle zur Seite stellten. Diese Schriftrollen indizieren nach Sylvia Huots und
Michael Curschmanns Auffassung die lyrisch-orale Kommunikation mit der Dame,
ja sie würden sogar »Dichtung als Aufführungskunst« assoziieren.61 Somit würden

58 Dies verwundert um so mehr, als das Verzeichnis der Manesse-Handschrift festhält


(fol. 5v): Die hie gesungen hant, nv ze male Sint ir. C. vnd xxxviiij. Zu fehlenden
Vortragsszenen vgl. auch unten nach S. 114. Für die okzitanischen und nord-
französischen Handschriften wage ich kaum eine generelle Aussage über die
Dominanz der Sänger-, Textproduzenten- oder Minnerrolle zu machen. Denn ihnen
scheint eine größere Heterogenität eigen zu sein. Es begegnen Bildszenen mit dem
Autor als Textproduzenten, als Sänger, als höfischer Ritter, als Liebender; vgl.
Huot, From song (Anm. 30), bes. S. 54 f., 59–64, 74–76 (Handschrift Ende 13. Jh.)
und 271 (Handschrift 14. Jh.); Stephen G. Nichols, »›Art‹ and ›nature‹. Looking
for (medieval) principles of order in Occitan Chansonnier N (Morgan 819)«, in:
The whole book, hg. v. S. G. Nichols/S. Wenzel, Ann Arbor 1996, S. 83–121. In der
von Nichols analysierten Handschrift N (Ende 13. Jh.) scheinen Autor- und Lieb-
haberrolle auf zwei unterschiedliche Bildorte verteilt zu sein: Autorporträts be-
gegnen innerhalb großer Initialen zu Beginn eines Textcorpus, das Text-Ich als
Liebender auf den Rändern einer Seite. Nichols spricht in den Legenden zu den
Abbildungen auch dort von »poet«, wo die Figuren als Sänger oder als Liebhaber
abgebildet sind (S. 93, 95, 96). Auf diesen Aspekt hin wären einmal sämtliche
Chansonnieres zu untersuchen, zumal angesichts zahlreicher Bildmotiv-Parallelen
in romanischen und deutschen Liederhandschriften (und zumal der übereinstim-
menden Anordnung der Autoren nach ihrem sozialen Status, vgl. Huot, From song
[Anm. 30], S. 47–64).
59 Vgl. oben Eifler, Liebe (Anm. 16); Willaert, Minnesänger (Anm. 6) u. a.
60 Bein, Mit fremden Pegasusen pfügen (Anm. 56), S. 117 u. 445 erwähnt lediglich
die Ordnungsfunktion der Autoren-Namen in den Lyrikhandschriften (in Anleh-
nung an Foucault); ähnlich Franz H. Bäuml, »Medienwechsel und Fiktions-
gestaltung: ordo der Thesaurierung, statim invenire und Rezeptionen der Manessi-
schen Liederhandschrift«, Das Mittelalter 3, 1998, Heft 1, S. 95–105.
61 Michael Curschmann, »Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis
von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis
zum Codex Manesse«, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, hg. v. H.
Keller u. a., München 1992 (MMS 65), S. 211–229, S. 223, mit Berufung auf
Huot, From song (Anm. 30). Kornrumpf, Weingartner Liederhandschrift (Anm.
23), Sp. 812, übernimmt Curschmanns Deutung. Demgegenüber skeptisch Holz-
nagel, Wege (Anm. 23), S. 72 f. u. 83 f.; Cramer, Waz hilfet (Anm. 6), S. 26–29.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 113

also zahlreiche Liebesszenen auch das Sangesthema (bzw. die Aufführungssitua-


tion) einschließen. Gegen diese Deutung lässt sich einwenden:
1. In der Trobadordichtung ist die Vorstellung, dass ein Minnesänger seiner
Dame ein Lied schriftlich, d. h. in Form einer Pergamentrolle, zukommen lässt,
durchaus verbreitet.62 Die Schriftrollen zumindest auf den Botenbildern der Hand-
schrift C, die eine durch einen Boten vermittelte Liebeswerbung darstellen (Tafeln
14, 36, 42, 78, 79), können also auch als Zeichen für ein schriftlich fixiertes Lied
verstanden werden.63 Demnach wäre hier nicht der Sänger, sondern der Verfasser
(als Liebender) ins Bild gesetzt.64 So kann der Leser der Handschriften B und C die

62 Gruber, Singen und Schreiben (Anm. 6), S. 35–51; Rieger, Hören und Lesen (Anm.
6), S. 78–91, bes. S. 84–86; ders., »Senes breu de parguamina ? Zum Problem des
›gelesenen Lieds‹ im Mittelalter«, RF 99, 1987, S. 1–18, bes. S. 3–5; van Vleck,
Memory (Anm. 6), S. 41–45. Als literarisches Motiv erscheint es auch in Ulrichs
von Liechtenstein Frauendienst (Anm. 37), Str. 74 (Vorlesen), 165 (Bote bringt
Brief, in dem diu liet aufgezeichnet sind), 403 (Bote singt im Auftrag des Minners
dessen Lieder). Bei Hausen MF 51,23 und bei Bernger von Horheim MF 113,33
bleibt undeutlich, wie man sich das ›Senden der Lieder‹ an die Dame vorzustellen
hat. Rudolf von Rotenburg (KLD 49, Nr. 12, Str. 4 u. 5; in Hs. A auch unter
Walthers Namen überliefert) will seine neuen Lieder seiner Dame durch einen
Boten schriftlich überbringen lassen (ders ir wîzen henden / schône bringe und ir
ze boten gezeme, 4,5 f.), zugleich aber sie der Dame vorsingen lassen (sôs ir alle
bringent / mînen süezen sanc / und in schône singent, 5,3–5). Dieses Miteinander
von Schriftlichkeit und Mündlichkeit beim ›Überbringen‹ eines Liedes begegnet
auch beim Taler (SMS 25, Nr. 4 Str. 1; allerdings bleibt offen, ob Lied und Brief
denselben Inhalt haben).
63 Im Gegensatz zu Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 222,
der den Schriftlichkeitscharakter einer reduzierten Form der Pergamentrolle unter
Hinweis auf deren Verwendung, die »sich ganz auf Verständigung im Bereich des
Amourösen beschränkt«, bestreitet. Man wird einwenden, dass sich literarische
Konventionen nicht gegen ikonographische Traditionen aufrechnen lassen. Doch
wäre erst noch zu klären, ob sich das Bildinventar in den Lyrikhandschriften
ausschließlich von der religiös-geistlichen Deutungstradition her bestimmen lässt,
wie es Curschmann suggeriert. Curschmanns Berufung (ebd. S. 223) auf Sylvia
Huots Studien zu französischen Liederhandschriften verkennt einerseits, dass
Huots – im großen Ganzen sehr wertvolle – Deutungsversuche (Huot, From song
[Anm. 30], S. 78 f.: die Schriftrolle indiziere »orality«, sie sei ein ikonographisches
Motiv, das den mündlichen Vortrag eines Liedtextes anzeige) im Detail nicht über
allen Zweifel erhaben sind, und übersieht andererseits, dass Huots sehr komplexes
Bildmaterial die These Curschmanns nicht generell stützt. Vgl. die Kritik an
Curschmann bei Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 83 f. und Cramer, Waz hilfet (Anm.
6), S. 26–29.
64 Holznagel, Wege (Anm. 23), betont – wie übrigens auch Wachinger, Autorschaft
(Anm. 30), S. 13 f. – den Doppelaspekt der Autorenbilder: auf den Gesprächs- und
Botenbildern werde der Minnesänger nicht als Autor, sondern als »höfische Person
im Minnedienst« abgebildet (S. 73); auf dem Bildtyp mit Schreibutensilien oder
Pergamentstreifen werde der Minnesänger als Autor dargestellt, in einer Art
»Umdeutung der Autorrolle« durch die Maler (Holznagel, S. 72 Anm. 251, S. 83 u.
88): die Autorrolle wandle sich »vom Sänger im Rahmen einer mündlichen
Unterhaltungskultur zum Verfasser von schriftlich fixierten Liedtexten«. (Die
Relation der beiden Bildtypen erörtert Holznagel allerdings nicht.) Gegen Wach-
inger und Curschmann meint aber Holznagel in den Handschriften B und C eine
Autorvorstellung erkennen zu können, die im Bereich der Schriftlichkeit anzu-
siedeln sei (S. 72 u. 83 f.). Dieser Auffassung schließe ich mich an.
114 Rüdiger Schnell

Minnelieder wie die umworbene Minnedame verstehen: als schriftliche Zeugnisse


der Liebeswerbung.
2. Nicht nur zur (romanischen) literarischen Kommunikation in Liebessachen
wurden Schriftrollen (Pergamentrollen) verwendet. Pergamentrollen waren auch als
Überlieferungsträger deutscher Spruchdichtung (Reinmar von Zweter u. a.) in Ge-
brauch.65 Wenn es stimmt, dass in der Weingartner Liederhandschrift wie in der
sog. Manessischen ›Ursammlung‹ »die leere Schriftrolle als Attribut des Dichters
das absolut dominierende ikonographische Leitmotiv« gewesen ist,66 und wenn es
so ist, dass sich im 13. Jh. die Rolle als Überlieferungstyp für eine Lyriksammlung
etabliert hat,67 dann ist zu überlegen, ob sich das Bildmotiv der Schriftrolle
tatsächlich in ihrer symbolisch-attributiven Funktion erschöpft, »Dichtung als lied-
hafte Aufführungskunst« zu assoziieren, d. h. allein Signum von Mündlichkeit zu
sein.68
3. Irritieren müsste doch in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass kein
einziger Minnesänger in einer Vortragssituation dargestellt ist69 und dass stattdessen
eine solche Vortragsszene vier Spruchdichtern bzw. -dichtungen vorbehalten bleibt
(Wartburgkrieg, Tafel 72; Hardegger, T. 95; Bruder Wernher, T. 115; Spervogel, T.
134; sämtliche Bilder ohne Vortragsmanuskript). Folglich tritt der Vortragscharakter
der Minnelieder in den Hintergrund, was für eine Autorvorstellung spricht, die eher
im Bereich der Schriftlichkeit verankert war. Entscheidend ist die Funktion des
Textproduzenten (Schriftlichkeit) und des Liebenden.70 Damit verschwindet die
Sängerrolle, die in ihrem textuellen Zusammenspiel mit der Minnerrolle für eine
spannungsvolle Komplexität bei der Aufführung gesorgt hat, aus dem Blickfeld der
Rezipienten.
4. Auf einigen Miniaturen fungiert die Schriftrolle in der Tat als ein schriftliches
Dokument71 (Tafeln 1 [Autorenbild], 52 [Brief], 54 [Brief], 58 [Diktat], 66 [Brief],
84 [Brief], 96, 112, 114 [Typus des Dedikationsbilds], 120, 122 [Brief]).72 Auch die
Bilder mit meditierendem Dichter können hierzu gerechnet werden (Tafeln 10, 16,

65 Bäuml u. a., Roll and codex (Anm. 21), S. 192–231 u. 317–330; Martin Steinmann,
»Das Basler Fragment einer Rolle mit mittelhochdeutscher Spruchdichtung«, ZfdA
99, 1988, S. 296–310 zu einem Rollenfragment (ca. 1300).
66 Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 222.
67 Dass schmale Pergamentrollen möglicherweise von englischen fahrenden Sängern
zum Vortrag verwendet wurden, vermutet trotz seiner allgemeinen Skepsis gegen-
über der These von ›Spielleute-Handschriften‹ Andrew Taylor, »The myth of the
minstrel manuscript«, Speculum 66, 1991, S. 43–73, bes. S. 67–70.
68 So Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 223.
69 Dies im Gegensatz zu frz. Handschriften, vgl. unten Anm. 74. Zu möglichen
Gründen Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 82 f. (Assoziation zu fahrenden Schau-
stellern sollte vermieden werden; eine veränderte Festkultur habe den Liedvortrag
zugunsten anderer Repräsentationsformen zurückgedrängt).
70 Freilich ist die Vorstellung, der Minnesänger trage sein Lied allein seiner Dame
vor, in der ma. Literatur nicht unbekannt; vgl. oben Anm. 41. Genauso verbreitet
ist aber die Vorstellung, ein Minnesänger lasse seiner Dame ein Lied schriftlich,
d. h. in Form einer Pergamentrolle, zukommen (Gruber, Singen und Schreiben
[Anm. 6], passim). Demzufolge ließen sich die Schriftbänder auf den Botenbildern
der Hs. C eben doch als Zeichen der Schriftlichkeit lesen.
71 Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 222 Anm. 39 räumt für
drei Szenen (Tafeln 58, 112, 120) durchaus eine Schriftlichkeitsfunktion der
Schriftrolle ein (obwohl auch dort die Rollen unbeschriftet sind).
72 Umgekehrt kann aber auch der Brief für eine mündlich vorgetragene Werbung
stehen (Tafel 88).
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 115

45, 124). Mir scheint damit eine plurale Funktion bzw. ein verschiedene Ab-
stufungen von Schriftlichkeit anzeigender Status der Schriftrollen eher gegeben zu
sein als eine ausschließliche Fixierung auf die lyrisch-orale Rolle des Minne-
sängers.
5. Auf zahlreichen Miniaturen, die den Dichter mit Frauen abbilden, fehlt die
Schriftrolle: Tafeln 5, 6, 8, 11, 20, 22, 24, 27, 29, 30, 31, 35, 46, 48, 49, 55, 56, 57,
59, 63, 64, 68, 76, 77, 80, 81, 82, 85, 86, 87, 89, 91, 93, 94, 97, 98, 99, 103, 106,
107, 109, 111, 125, 128. Hier sind tatsächlich Minne und Sang ›entkoppelt‹. Der
Verfasser ist hier ›nur‹ als Liebender, nicht als Sänger oder Textproduzent abge-
bildet.73
6. Auch wenn man die These von der Schriftrolle als Indikator mündlicher
Kommunikation akzeptieren sollte, ist dennoch der Unterschied zwischen der
öffentlichen Aufführung eines Minneliedes, wie sie sich die Mediävistik als Nor-
malfall vorstellt, und einem von merchaeren unbemerkten ›privaten‹ Liedvortrag
vor der Dame, wie er angeblich auf den Autorenbildern dargestellt ist, zu be-
achten.74 Auch die ›Aufführungssituation‹ eines Liedes scheint sich infolge des
medialen Wechsels verändert zu haben: Sie wird aus dem gesellschaftlich-öffentli-
chen in den persönlich-privaten Bereich verlegt. Auf das Textverständnis, d. h. auf
die Einschätzung von Identifikation oder Fiktion der Sänger- und Minnerrolle wird
diese Verschiebung nicht ohne Folgen gewesen sein.
Als Ergebnis dieses Exkurses wird man festhalten können, dass sich in den
zahlreichen Verfassersignaturen der Handschriften B und C eine Autorvorstellung
dokumentiert, die weniger mit der mündlichen Vortragssituation von Minnesängern
zu tun hat und die sich stattdessen eher an schriftliterarische Kommunikations-
situationen anschließen lässt.

IV Referenzmöglichkeiten verschiedener Liedtypen

Um die Unterschiede zwischen Aufführungssituation und schriftlicher Re-


zeption hinsichtlich der Referenzmöglichkeiten des Text-Ichs möglichst dif-
ferenziert zu erfassen – trotz der Notwendigkeit einer exemplarischen Vorge-

73 Hier deckt sich meine Einschätzung mit der von Holznagel, Wege (Anm. 23),
S. 73. Bei Huot, From song (Anm. 30), S. 53–64, finden sich hingegen ikonogra-
phische Belege für die Verbindung von Trouvère und Schriftlichkeit. Aufschluss-
reich und als Kontrast zu den deutschen Liederhandschriften erhellend ist die
Tatsache, dass in der französischen Liederhandschrift Paris BN fr. 1586, fol. 173,
eine Vortragsszene abgebildet wird. Hier erscheint die Schriftrolle in der von
Curschmann, Pictura laicorum litteratura? (Anm. 61), S. 223, bestrittenen Funk-
tion: als Aufführungsmanuskript: Der ›Autor‹, hier als Sänger und dennoch eine
beschriftete Schriftrolle in der Hand haltend, trägt einer Gruppe von Damen seine
Lieder vor. Dieses Bildmotiv stand also zur Verfügung (vgl. auch die Vortrags-
szenen in Handschrift Paris BN fr. 25 566 [fol. 89v u. 127], die nur Gedichte von
Adam de la Halle überliefert, und in der Trouvère-Liederhandschrift O, Hand-
schrift Paris BN fr. 846; dazu Huot, From song [Anm. 30], S. 67 f. bzw. S. 74–80).
Umso aussagekräftiger ist das Fehlen eines solchen Szenentypus in den deutschen
Lyrikhandschriften (das Tanzbild, Taf. 46, ist kaum vergleichbar).
74 Von einem solchen Liedvortrag vor der Dame allein wissen Morungen (MF
131,27–31 in Handschrift A) und der Stricker, Minnesänger (vgl. oben Anm. 41).
Zu okzitanischen Parallelen vgl. Gruber, Singen und Schreiben (Anm. 6).
116 Rüdiger Schnell

hensweise –, muss das selektierte Textkorpus möglichst viele ›Fälle‹ ab-


decken. Denn die Ausdeutung eines Text-Ichs auf Sänger oder Autor hin wird
ja auch von der jeweils dominanten Rolle (ob Sänger- oder Minnerrolle)
abhängen, die das Text-Ich spielt. Ich beschränke mich auf die Unter-
scheidung von 5 Liedtypen,75 wobei die Art der Relationierung von Sänger-
rolle und Minnerrolle als differenzierender Parameter fungiert.76
Dass sich die Relation von textinternem Sänger und textinternem Minner
als komplex darstellt, hängt mit der Situationsspaltung bei der aktuellen
Aufführung eines Minneliedes zusammen: der reale Sänger fungiert zugleich
in der Rolle eines ›Sprechers‹. Er spricht in dieser Sprecher-Rolle zur
fiktiven Dame und spricht doch gleichzeitig zum realen Publikum.77 Die
schon dadurch möglichen Überschneidungen von textinterner Sprechsitua-
tion und textexterner Rezeptionsebene verstärken sich noch dadurch, dass
sich die Sprecher-Rolle (der Textebene) in zwei unterschiedliche Funktionen
aufspalten kann: in die des Sängers und die des Liebenden. Da für diese
doppelte Rollenhaftigkeit des lyrischen Ichs in der einschlägigen Forschung
recht unterschiedliche Termini verwendet werden,78 ist mein Sprachgebrauch

75 Die systematische Gruppierung müsste durch eine diachrone Perspektive ergänzt


werden, was hier nicht geleistet werden kann (vgl. aber unten zum Liedtyp 4). Ich
verweise auf Händl, Rollen (Anm. 11) und auf Franz Josef Worstbrock, »Lied VI
des Wilden Alexander. Überlieferung, Interpretation und Literarhistorie«, PBB
118, 1996, S. 183–204, bes. S. 196ff., der einerseits auf eine Defiktionalisierung
des Minnelieds bei Gottfried von Neifen hinweist, andererseits eine »kategorial
neue fiktionale Liebesdichtung« beim Wilden Alexander zu erkennen meint.
76 Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), S. 14, arbeitet mit drei Liedtypen: a) im
Normalfall verbinden sich Sänger-Ich und Minner-Ich; b) im Sonderfall kommt es
zu einer Verdoppelung der Sängerrolle; c) Frauen- und Botenstrophen weisen
Trennung von Minner- und Sänger-Ich auf.
77 Vgl. Warning, Lyrisches Ich (Anm. 11); Dagmar Hirschberg, »wan ich dur sanc
bin ze der welte geborn. Die Gattung Minnesang als Medium der Interaktion
zwischen Autor und Publikum«, in: Grundlagen des Verstehens (Anm. 6), S. 108–
132, S. 123; Bein, Singen über das Singen (Anm. 34), S. 67–92; Müller, Selbst-
widerspruch (Anm. 7), S. 402, bezeichnet diese Doppelfunktion (Werbung um
Dame und gesellige Unterhaltung der Gesellschaft) als »Doppelcharakter höfi-
schen Singens«. Textbeispiele für die Doppelgerichtetheit der Lieder sind Kaiser
Heinrich MF 5,16; Reinmar MF 164,3; 168,36; 177,22 u. 28; 184,31. Einige
Beispiele für den Kontakt zum Publikum führt an Ann Marie Rasmussen, »Woman
as audience and audience as woman in medieval German courtly poetry«, Exem-
plaria 6, 1994, S. 367–383, bes. S. 374–376.
78 Händl, Rollen (Anm. 11), S. 33ff., spricht von »Ich-Rolle des Liebenden« und von
»Ich-Rolle des Sängers«; Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7), arbeitet mit den
Begriffen »interner Werberrolle« (Text-Ich?) und »externer Sängerrolle« (realer
Sänger?) (S. 4 f. und 10), »interner und externer Sprecherrolle« (S. 16 Anm. 42)
und bloßem »Sprecher-Ich« (S. 17), wobei das Denotat von »externer Sängerrolle«
unsicher bleibt. Müller, Ritual (Anm. 18), S. 52 f., unterscheidet »Rollen-Ich des
Werbers« und »Werber-Sänger« (im letzteren sei das »Sprecher-Ich […] als
Künstler konkretisiert«). Irritierend ist auch die Terminologie bei Mertens, Der
Hof, die Liebe (Anm. 20), S. 75–93, und z. T. damit wörtlich übereinstimmend
ders., Autor, Text (Anm. 20), S. 379–379, der zunächst von einer doppelten Rollen-
haftigkeit des lyrischen Ichs spricht und diese zwei Rollen »Text-Ich« und »Perfor-
manz-Ich« nennt (S. 381), so dass man an Minner- und Sängerrolle denkt, dann
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 117

zu präzisieren. Dem Text-Ich in der Funktion der Sängerrolle rechne ich die
Aussagen eines Liedes zu, mit denen das Text-Ich auf Sachverhalte hinweist,
die nichts mit der ›eigenen‹ Liebesbeziehung zu tun haben bzw. mit denen es
seine Sänger-Funktion reflektiert (etwa über Erfolg oder Misserfolg seiner
Sangeskunst beim fingierten Publikum oder bei der Dame nachdenkt) und
die sich somit auch auf die Aufführungssituation beziehen (lassen!).79 Von
Text-Ich in der Funktion der Minnerrolle spreche ich dort, wo das Text-Ich
vornehmlich seine Beziehung zur geliebten Person ausspekuliert und dabei
den Eindruck erweckt, hier monologisiere ein Ich über seine intim-private
Liebesbeziehung.
Der Versuch einer systematischen Abgrenzung verschiedener Liedtypen
mitsamt der Frage nach deren je unterschiedlicher Rezeption in Aufführung
und Liederhandschrift muss freilich mit der Möglichkeit rechnen, dass beim
Lesen mehrerer Lieder die unterschiedlichen Relationierungen von Sänger-
und Minner-Rolle aus der Perspektive des Lesers verschwinden bzw. einge-
ebnet werden und sich somit eine durchgängige Auffassung für alle Lieder
einstellt. Dann könnte sich die Mühe, unterschiedliche Liedtypen auf je
unterschiedliche Rezeptionsmodi zu befragen, als historisch wenig relevant
erweisen. Doch ermöglicht der hier vorgelegte Versuch überhaupt erst eine
Aussage über Hierarchisierungen von Liedtypen beim Rezeptionsverhalten
gegenüber den Texten der Liederhandschriften.
Dass mein Frageansatz mit einer textuellen Schieflage zu kämpfen hat, sei
eingestanden: Denn ich frage nach den je unterschiedlichen Referenzialisie-
rungen eines Minneliedes in der Aufführungssituation und in der schrift-
literarischen Rezeption der Liederhandschriften, besitze aber nur Texte in
schriftlicher Form. Es wäre ja immerhin denkbar, dass in der Verschrift-
lichung der Lieder alle Merkmale der Mündlichkeit beseitigt wurden. Dann
könnten aber von der Schriftlichkeit her keine Aussagen über Rezeptionsvor-

aber unter »Performanz-Ich« den realen Sänger versteht (oder doch bloß die Rolle,
die der vortragende Sänger spielt?). Mertens differenziert also nicht grundsätzlich
zwischen Minner- und Sänger-Rolle eines einzigen Text-Ichs, sondern zwischen
»Text-Ich« und »Sänger-Ich« (S. 393).
79 Vielleicht ist die uneinheitliche Terminologie in der Forschung ein Indiz für das
Faktum, dass sich scharfe Abgrenzungen nicht durchgängig durchführen lassen. So
können sich etwa Überschneidungen ergeben zwischen dem äußeren Kommunika-
tionsrahmen (der Kommunikation zwischen realem Sänger und realem Publikum)
und dem inneren Kommunikationsrahmen (der Kommunikation zwischen dem
Text-Ich [das ja auch in der Sängerrolle auftreten kann] und den textinternen
Adressaten [die als umworbene Dame, aber auch als ›Publikum‹ erscheinen
kann]). Ohne es zu merken, gibt Claudia Händl dort, wo sie von der »Ich-Rolle des
Sängers« spricht (Rollen [Anm. 11], S. 34ff.), die von ihr zuvor so strikt durch-
geführte Abgrenzung von interner Sprechsituation und externer Rezeptionsebene
auf. (Auf S. 67 f. u. 76 erwähnt sie allerdings mögliche Übergänge zwischen Text-
und Rezeptionsebene.) Auch bei Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7), S. 390,
verschwimmen die Grenzen zwischen (Aussagen in) interner Sprechsituation und
(Reaktion auf) textexterner Rezeptionsebene. Dieser Hinweis ist nicht als Kritik zu
verstehen, sondern als Beleg für das von den Texten provozierte Zusammensehen
von textinterner und textexterner Kommunikationssituation aufzufassen.
118 Rüdiger Schnell

gänge beim mündlichen Vortrag gemacht werden. Doch die bislang be-
kannten Abweichungen zwischen bzw. Varianten in den verschiedenen Lie-
derhandschriften legen nicht die Annahme nahe, sie verdankten sich einer
generellen Absicht der Schreiber, Merkmale der Mündlichkeit tilgen zu
wollen.80 Freilich mögen einige Veränderungen in der Überlieferungsge-
schichte eines Liedes durch infolge der Verschriftung aufgetretene Unklar-
heiten in der Referenzialisierung einer Aussage bedingt sein. Doch die
textuelle Konstanz vieler Lieder in den verschiedenen Liederhandschriften
spricht gegen die Annahme, der Text der mündlich vorgetragenen Lieder sei
wesentlich von dem der schriftlich überlieferten Fassungen abgewichen.
Dennoch, ein Rest an Unsicherheit bleibt.

Liedtyp 1: Trennung von textinternem Sänger und textinternem Minner

Im neu aufgefundenen Budapester Fragment, das nach den Darlegungen


Franz Josef Worstbrocks eine gegenüber der Handschrift C ursprünglichere
Version der Kürenberger-Strophen bewahrt, lautet MF 8,1 so:
o
Ich stunt naechten spate an einer zinne.
do hort ich einen ritter vil wol singen.
in churenbergere wise mir enwerde der lip sin.
o
er muz mir daz lant roumen sprach [d]az magedin.81
Hier sind das Ich des liedinternen Sängers und das Ich der Liebenden
geschieden. Deshalb würde ich eher von einem Nebeneinander zweier Text-
Ichs sprechen als vom Auseinandertreten eines Text-Ichs in eine Sänger- und
Minnerrolle.82 Der reale Sänger lässt textintern einen Sänger (ein ›Erzähler-
Ich‹) auftreten, der den Liebesmonolog einer anderen Person (ein Minner-
Ich) referiert. Die inquit-Formel ist ein untrüglicher Indikator dafür, dass wir
es mit zwei Text-Ichs zu tun haben.83 Eine textinterne Sängerrolle und eine
textinterne Minnerrolle stehen separat nebeinander.84
Das Nebeneinander von Sängerrolle und Ich des/der Liebenden manifes-
tiert sich vor allem in Frauenstrophen oder den sog. Wechseln bzw. Dialog-
liedern. Aber auch in den Fällen, in denen das Text-Ich einen Liebenden in
der 3. Person vorführt (Meinloh MF 11,14), wird man von einer Rollentren-
nung sprechen dürfen. Worstbrock ist wohl zuzustimmen, wenn er diese

80 Die Bearbeitungstendenzen, die die Lieder in Handschrift C gegenüber den Fas-


sungen im Budapester Fragment aufweisen, sind von sehr unterschiedlicher Art;
vgl. Franz Josef Worstbrock, »Der Überlieferungsrang der Budapester Minnesang-
Fragmente. Zur Historizität mittelalterlicher Textvarianz«, Wolfram-Studien 15,
1998, S. 114–142.
81 Zitiert nach MF (381988), S. 464.
82 Dies im Unterschied zu Typ 3, vgl. unten S. 129ff.
83 Weitere Belege: MF 5,6; 6,5; 32,3; 39,7.
84 Zur Abgrenzung anderer Ich-Rollen innerhalb eines Minnelieds (›Ich‹, lîp, herze)
vgl. Anka Fuß u. a., »Zur Sprecherkonstellation in Hausens Lied Mîn herze und
mîn lîp diu wellent scheiden«, Euphorion 91, 1997, 343–362.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 119

Trennung von Sänger- und Minnerrolle dem frühen Minnesang zuschreibt.85


Im sog. hohen Minnesang hingegen dominiert die Verbindung von Sänger-
rolle und Minnerrolle.86
Worauf referieren nun die beiden Text-Ichs des Sängers und des/der
Liebenden? Bei den Frauenstrophen, Wechseln und Dialogliedern unter-
binden die Diskrepanz zwischen männlichem realen Sänger und weiblichem
Text-Ich sowie die Diskrepanz zwischen Sängerrolle und Minnerrolle einen
möglichen Bezug der Liedaussagen auf den realen Sänger. Vor allem bei
weiblichen Stimmen als Text-Ichs trat die Funktion des Sängers als eines
Künstlers – nicht eines Liebenden – klar zutage.87 Die Dissoziation von
realem Sänger und Text-Ich(s) wiederum spricht eindeutig für den fiktionalen
Status der Liedaussagen, erkennbar auch für die Hörer. Somit war eine
Referenz des Text-Ichs auf den realen Sänger oder Autor ausgeschlossen. Ob
der Autor oder ein anderer Sänger diese Strophen vorgetragen hat, war für
deren Verständnis unerheblich.
Aber wie steht es nun mit den Referenzen für diesen Liedtyp mit seiner
Trennung von Minner- und Sängerrolle bei der schriftliterarischen Rezeption
in den Handschriften B und C? Zunächst wird man annehmen, dass die
kontrastvolle Relation von realem Sänger/textinternem Sänger/textinterner
Minnerrolle in Liedtyp I, so wenig sie eine Identifikation von realem Sänger
und Text-Ich(s) zugelassen hat, gleichermaßen in der schriftlichen Fassung
der autorbezogenen Handschriften B und C bei den Rezipienten eine Bin-
dung des Text-Ichs an den abgebildeten Textproduzenten verhindert hat.
Doch können die Autorenbilder, auf denen der Minnesänger (›Autor‹) zu-
sammen mit ›seiner‹ Dame abgebildet ist, ein Textverständnis nahegelegt
haben, demzufolge die Rezipienten in den Wechseln (bzw. den Frauen-
strophen) die ›Nachschrift‹ tatsächlicher Unterredungen zwischen dem ›Au-
tor‹ (als Liebhaber) und der Geliebten sahen. Die in den Wechseln durch-
scheinende ›Ferne‹ bzw. ›Fremdheit‹ zwischen Mann und Frau wäre dann
durch die Suggestion der Autorenbilder, die Minner und Dame oft räumlich
nahe aneinander rückten, ›übermalt‹ worden.
Während im mündlichen Vortrag der reale Sänger sowohl die männliche
Sängerrolle wie die weibliche Liebenden-Rolle darzustellen hatte, der Fiktio-
nalitätsstatus der weiblichen Stimme also unüberhörbar war, konnten bei der
Lektüre die Strophen mit männlichem Text-Ich auf die männliche Bildfigur,

85 Worstbrock, Überlieferungsrang (Anm. 80), S. 128. In einem als unecht deklarier-


ten Lied Reinmars begegnet die inquit-Formel wieder (MF 203,11). Frauenlieder
finden sich allerdings auch unter den echten Reinmar-Liedern.
86 Worstbrock, ebd. S. 127, macht darauf aufmerksam, dass die Praxis, für jedes Lied
einen neuen Ton zu schaffen, diese Verbindung von Sängerrolle und Minnerrolle
wesentlich gestützt hat. Solange Liebeslieder einstimmig gesungen wurden, war
die Assoziation von Ich-Rolle des Textes und Vortragsstimme wirksam; dazu
Wachinger, Liebeslieder (Anm. 55), S. 14.
87 Zwar ließe sich eine Identifikation von textexternem und textinternem Sänger für
die Strophen mit männlichem Text-Ich denken, doch infolge des strukturellen
Zusammenhangs mit dem weiblichen Pendant (bei Wechseln) kam der Rollen-
charakter zu stark zum Vorschein.
120 Rüdiger Schnell

die Strophen mit weiblichem Text-Ich auf die weibliche Gestalt bezogen
werden.88 Die Doppelfunktion des vortragenden Sängers konnte sich somit
bei der Lektüre auf zwei Referenzträger verteilen. Man muss sich bewusst
halten, dass beim Vortrag von Wechseln oder von Frauenstrophen eine
ständige Spannung zwischen dem männlichen realen Sänger (und der mut-
maßlichen männlichen Sängerrolle) einerseits und der weiblichen Liebenden-
Rolle herrschte. Diese Diskrepanz zwischen vortragendem Sänger und fin-
gierter weiblicher Stimme ging im schriftlichen Text verloren. Die Über-
blendung verschiedener Sprech- wie Rollenebenen beim Vortrag machte in
der schriftlichen Fassung einem Nebeneinander von männlicher und weib-
licher Sprecherrolle Platz. Mündliche Mehrschichtigkeit, ermöglicht durch
Simultaneität von körperlich präsentem Sänger und fingierter weiblicher
Minner-Rolle, wird auf eine schriftliche ›Einstimmigkeit‹ reduziert: Es
spricht allein eine weibliche Person.89 Der Sänger als ›Sprachrohr‹ bzw.
Mittelsmann fehlt. Das bedeutet zugleich, dass sich bei der schriftliterari-
schen Rezeption der fiktionale Status der weiblichen Rede verflüchtigt und
diese denselben Realitätsstatus erlangt wie die Aussage des männlichen Text-
Ichs. So wird verständlich, dass die Minnesang-Philologie des 19./20. Jhs.
auf den Gedanken verfiel, die Frauenstrophen könnten tatsächlich von
Frauen gedichtet bzw. vorgetragen worden sein. Der schriftliterarische Re-
zeptionsmodus hat (auch) das neuzeitliche Verständnis dieser Texte be-
stimmt.
Für diesen Typ von Liedern ist also der unterschiedliche Rezeptionsmodus
(Vortrag, schriftliterarische Rezeption) nicht ohne Folgen geblieben.

Liedtyp 2: Enge Verbindung von Sängerrolle und Minnerrolle


innerhalb des Text-Ichs90

Dieser Liedtyp dominierte in der ›klassischen‹ Periode des Minnesangs: die


Verbindung von Sänger- und Minnerrolle in einem einzigen Text-Ich. So
beginnt etwa ein Lied Rudolfs von Fenis mit den Worten: Minne gebiutet mir,
daz ich singe / unde wil niht, daz mich iemer verdrieze, / nu hân ich von ir
weder trôst noch gedinge (MF 80,25–27). Liebesleid und Sangeskunst ver-
schlingen sich in dem Ich, das hier spricht. Bernger von Horheim verbindet

88 In der Miniatur einer französischen Sammelhandschrift Paris BN fr. 1584 (um


1350) wird das Nacheinander von männlichem und weiblichem Sprecher in einem
Gedicht als das Nebeneinander von Mann und Frau wiedergegeben (fol. 194v);
vgl. Huot, From song (Anm. 30), S. 269 f.
89 Dass diese Gegenüberstellung von Vokalität (Räumlichkeit) und Schriftlichkeit
(Fläche) nicht für alle literarischen Texte und nicht für alle Leser/innen gilt, muss
nach den Lektüre-Demonstrationen von Roland Barthes und Jacques Lacan nicht
eigens erläutert werden.
90 Vgl. zuletzt Peter Frenzel, »Minne-Sang. The conjunction of singing and loving in
German courtly song«, GQ 55, 1982, S: 336–348; Händl, Rollen (Anm. 11),
S. 34 f. zum klassischen Minnesang, S. 263ff. zu Gotfrit von Neifen, S. 309ff. zu
Ulrich von Winterstetten; Sabine Obermaier, Von Nachtigallen und Handwerkern.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 121

Sang und Liebe so: ich singe unde sunge, betwunge ich die guoten, / daz mir
ir güete baz tete. si ist guot (MF 115,32 f.). Singen erscheint als Werbung,
Lieben ist Singen.91 Dies ist ein weiterer Indikator für die Doppelgerichtet-
heit der Minnelieder: Rede zur Dame und Rede zum Publikum.
Wenn das Text-Ich die Sänger- und Minnerrolle in sich vereinigte, konnte
bei der Aufführung eines Liedes der vortragende Sänger durchaus mit dem
Text-Ich gleichgesetzt werden. Denn der ›Sänger-Anteil‹ am Text-Ich ermög-
lichte eine identifikatorische Anbindung an den vortragenden Sänger. Der
körperlich präsente Sänger konnte glaubhaft die Sängerrolle als unmittelbare
Äußerung ausgeben: Mit sange wânde ich mîne sorge krenken. / dar umbe
singe ich, daz ich sî wolte lân (MF 81,30 f.) beginnt Rudolf von Fenis eines
seiner Lieder. Zugleich konnte er für die Glaubwürdigkeit der textuell
inszenierten vorbildlichen Minnehaltung einstehen. Allerdings ist damit zu
rechnen, dass die unterschiedlich starke Anbindungsmöglichkeit von Sänger-
und Minnerrolle an den realen Sänger für Unsicherheiten auf seiten des
Publikums gesorgt hat: Dort, wo das Text-Ich »ich singe« sagte, konnte sich
eher eine Identifizierung des realen Sängers mit diesem Text-Ich einstellen
als dort, wo das Text-Ich ein »ich liebe« äußerte.92

›Dichtung über Dichtung‹ in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995


(Hermaea N.F. 75), S. 28–40; Bein, Singen über das Singen (Anm. 34), bes.
S. 76ff.; Hausmann, Reinmar (Anm. 9), S. 120–153 zu Reinmar. Vgl. zum okzita-
nischen Minnesang Mariann S. Regan, »Amador and Chantador. The lover and the
poet in the Cansos of Bernart de Ventadorn«, PhQ 53, 1974, S. 10–28; van Vleck,
Memory (Anm. 6), S. 17–25.
91 Vgl. u. a. Kaiser Heinrich MF 5,16; Rudolf von Fenis MF 81,30; Morungen MF
127,34; 141,26; 146,11; 151,33; Reinmar 156,27; 164,3; 177,22; 190,3; 195,10;
Walther La 47,36. Heinrich von Morungen verknüpft beide Rollen durch verbale
Identität: wan ich wart dur sî und durch anders niht geborn (MF 134,33 f.: das
minnende, auf die Dame ausgerichtete Ich); wan ich dur sanc bin ze der welte
geborn (MF 133,20: der auf das Publikum hin ausgerichtete Sänger).
92 Vgl. auch Lienert, Hoerâ Walther (Anm. 32), S. 116 u. 121 f. Lienert erwähnt
ebenfalls den »grundverschiedenen Realitätsstatus« der beiden Aussagen »ich
singe« und »ich liebe«. Deshalb tritt in den Liedern (Liedtyp 3), in denen das Text-
Ich die Relation von Singen und Lieben thematisiert, also seine Rolle als Sänger
reflektiert, der fiktionale Charakter des Tuns der Minnesänger deutlicher hervor als
in den Liedern, die nur eine auf die Dame bzw. Minne hin gerichtete Perspektive
aufweisen; vgl. Bein, Singen über das Singen (Anm. 34), S. 87; Strohschneider, nu
sehent (Anm. 4), S. 22 u. 28 f.; Müller, Ir sult sprechen willekomen (Anm. 7), S. 5
(die Selbstthematisierung des Autors/Sängers mache die Werbungsfiktion als fin-
gierte Rede kenntlich); Ricarda Bauschke, Die ›Reinmar-Lieder‹ Walthers von der
Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung, Heidel-
berg 1999 (GRM, Beiheft 15), S. 71 f. (zu Walther La 111,23: das über das richtige
Singen räsonnierende Sänger-Ich trage Züge des historischen Walther, während die
umworbene Dame als fiktiv ausgewiesen werde). Bei den Liedern (Liedtyp 4)
hingegen, in denen das Text-Ich die Sängerrolle nicht reflektiert, sondern nur als
Sänger, weniger als Minner fungiert, kann an die Stelle der Fiktion die Identifika-
tion von Sängerrolle und realem Sänger treten. Den Zuhörern jedoch bleibt eine
Identifizierung mit dem Text-Ich, das so ausschließlich in der Sängerrolle agiert,
verwehrt (vgl. ähnlich Müller, Ritual [Anm. 18], S. 53 f.). Hierher gehört auch das
Faktum, dass Walther (La 69,1) seinem (fiktiven) Publikum eine Minne-Kom-
petenz, nicht aber eine Sanges-Kompetenz zugesteht.
122 Rüdiger Schnell

Dieser Ambivalenz von eher fiktional geprägter Minnerrolle und eher zur
Identifikation einladender Sängerrolle scheinen die Dichter zugearbeitet zu
haben.93 Denn zahlreiche Lieder legen es geradezu darauf an, die Identifika-
tion von realem Sänger und Text-Ich zu provozieren.94 Walther von der
Vogelweide schließt das Lied Kan mîn frouwe süeze siuren? (La 69,22) mit
einer vor ›Selbstbewusstsein‹ strotzenden Warnung ab: dû solt aber einez
wizzen, / daz dich rehte lützel ieman baz danne ich geloben kan.95 Eine
einzige den Vortrag begleitende Geste – der Sänger zeigt mit dem Zeige-
finger auf sich – lässt im Schlussvers die Trennung zwischen Sängerrolle und
realem Sänger kollabieren. Aus der Fiktion wird Identifikation. Man wird
einwenden, bei Walther näherten sich Sängerrolle und Sänger ohnehin stark
an.96 Doch gibt es ähnliche Belege bei anderen Dichtern. In Hausens Lied
Ich denke underwîlen (MF 51,33) reflektiert das Text-Ich über räumliche
Nähe und Ferne zur Dame, beklagt seinen kumber und kontrastiert dann
Ende der 3. Strophe den Schmerz zu Hause mit dem in der Fremde: mir was
dâ heime wê / und hie wol drîstunt mê (MF 52,26 f.). Wieder genügt eine
einzige Geste – die rechte Hand zeigt beim Wort hie auf die Erde, auf der der
vortragende Sänger steht –, um die Identifikation zwischen Sänger und
Sängerrolle zu suggerieren. Natürlich wird dieses Durchbrechen des fiktio-
nalen Status der Sängerrolle von den Zuhörern als raffiniertes Spiel durch-
schaut worden sein. Doch das Umspielen der Grenzen von Fiktion und
Identifikation setzt die Möglichkeit der Identifizierung voraus.97 Eben das
Vorhandensein dieser Möglichkeit verführt Friedrich von Hausen dazu, das
Text-Ich eines weiteren Liedes (MF 45,1) biographisch zu konkretisieren,
indem er, der auf einem Italienzug sich befindet, die Ferne zur Heimat
beklagt.98 Im Leich Ulrichs von Gutenburg (MF 69,1) kann der Sänger bei
dem Vers Ich wil iu mînen willen sagen (76,28) durch eine Geste gegenüber
dem Publikum die Trennung zwischen sich und dem Text-Ich aufheben,
genauso wie der Sänger in Reinmars Lied Niemen seneder suoche an mich
deheinen rât (MF 170,36), wenn er in einem Vers schon der ersten Strophe

93 Sollte ein Sänger bei einer Aufführung mehrere Lieder mit unterschiedlicher
Minner-Rolle vorgetragen haben, wird der fiktionale Status der Minner-Rolle
verstärkt worden sein.
94 Wer die Vorstellung von Aufführung von jeglicher Liedinterpretation fernhalten
möchte, übersieht eine wesentlich spielerische Komponente des Minnesangs, d. h.
die intendierten Ambivalenzen von Fiktionalität und Identifikation.
95 Ich folge hinsichtlich der Strophenfolge und Lesart der Fassung AC, wie sie
abgedruckt ist in Walther von der Vogelweide. Werke, hg. v. Günther Schweikle, Bd.
2: Liedlyrik, Stuttgart 1998, S. 368–372.
96 Ein eindrucksvolles Beispiel für Walthers Spiel mit Identifikation und Fiktion
stellt das Lied Nemt, frouwe, diesn kranz (La 74,20) dar; vgl. dazu Thomas Bein,
Walther von der Vogelweide, Stuttgart 1997, S. 131 f.; Scholz, Walther (Anm. 12),
S. 125 f.
97 Hierin gehe ich mit Jan-Dirk Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7) zusammen.
98 Hier lässt sich sogar von einer Gleichsetzung von Autor und Text-Ich sprechen;
vgl. Jeffrey Ashcroft, »Renovatio amoris – Translatio imperii. Hausen und Ae-
neas«, in: Mittelalterliche Lyrik (Anm. 5), S. 57–84, bes. 75–78 (einigen Argumen-
ten Ashcrofts vermag ich allerdings nicht zu folgen).
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 123

singt: ich solte iuch (iu) klagen die meisten nôt (170,40). Hier wird die
Grenze zwischen Identifikation und Fiktion von der Gestik des Sängers
bestimmt, nicht nur vom Text des Autors.
Dass mit solchen Gleichsetzungen von textexternem Sänger und textinter-
nem Sänger (bzw. Minnerrolle) gerechnet wurde, belegen einige Texte, in
denen mit der Gleichsetzung von Sänger-/Minnerrolle und realem Sänger ein
witziger Effekt erzielt wird. Hinlänglich bekannt und deshalb hier nicht
weiter vorzuführen ist die witzig-kritische Darstellung des Minnesänger-
wesens durch Stricker in der Reimpaardichtung Die Minnesänger.99 Der
Stricker attackiert Minnesang und Minnesänger, indem er sie biographisch-
alltagsweltlich deutet: als Versuch unsittlicher Männer, die Ehefrauen ehren-
werter Burgherren zu verführen.100 Das Fiktive wird als Reales ausgegeben.
Die literarische Kunstübung der Minnesänger gerät bei Stricker zur kri-
tikwürdigen Lebenspraxis. Damit schiebt der Stricker eine Fiktionalitätskon-
vention beiseite: Der literarische Vortrag wird als tatsächliche Werbung
verstanden. Sängerrolle und realer Sänger werden gleichgestellt.101 Mit Jan-
Dirk Müller bin ich der Auffassung, dass dieser »Austausch des Geltungs-
anspruchs von fiktionaler und referentialisierend-pragmatischer Rede« nur
möglich war, weil damals Sängervortrag und insinuierende Werbung offen-
sichtlich (noch) nicht prinzipiell unterschiedlichen Bereichen zugeordnet,
Ernst und Spiel noch durchlässig gegeneinander waren.102 Nur deshalb
gelang das Hinüberspielen der fiktionalen Sängerrolle in den Bereich der
›Alltagswelt‹, d. h. die parodistische Gleichsetzung von Sängerrolle, Minner-
rolle und realem Sänger.

99 Vgl. oben Anm. 41.


100 Vgl. Karl-Friedrich Kraft, »›Die Minnesänger‹ des Strickers. Minnesang beim
Wort genommen«, in: Festschrift Elfriede Stutz, hg. v. A. Ebenbauer, Wien 1984,
S. 229–256; Guido Schneider, ›er nam den spiegel in die hant, als in sîn wîsheit
lêrte‹. Zum Einfluß klerikaler Hofkritiken und Herrschaftslehren auf den Wandel
höfischer Epik in groß- und kleinepischen Dichtungen des Stricker, Essen 1994,
S. 219–276.
101 Vgl. eine ähnliche Vorgehensweise bei Gedrut/Geltar (KLD 13), Nr. I (vgl. zuletzt
Gerhard Wolf, »Der ›Gegensang‹ in seiner Aufführungssituation«, in: Wechsel-
spiele [Anm. 6], S. 153–177), und bei Hugo von Montfort, Nr. 5, V. 295ff. (dazu
Herfried Vögel, »Die Pragmatik des Buches. Beobachtungen und Überlegungen
zur Liebeslyrik Hugos von Montfort«, in: Wechselspiele [Anm. 6], S. 245–271,
S. 260f).
102 Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7), S. 1–3; dieser Auffassung scheint sich auch
Sabine Obermaier, »Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von ›Dichtung
über Dichtung‹ als Schlüssel für eine Poetik mittelhochdeutscher Lyrik«, in:
Mittelalterliche Lyrik (Anm. 5), S. 11–32, anzuschließen (S. 17). Dass auch die
Liedaussagen von Trobadors tatsächlich als ›Bekenntnisse‹ ernstgenommen wer-
den konnten, zeigt z. B. Marcabrus Polemik gegen Dichterkollegen, denen er
Ehebruch unterstellt; vgl. Deborah Nelson, »Critical positions on Marcabru«, in:
Studia Occitanica. Festschrift Paul Remy, Bd. 1, Kalamazoo 1986, S. 161–167;
Laura Kendrick, »Jongleur as propagandist. The ecclesiastical politics of Marca-
bru’s poetry«, in: Cultures of power. Lordship, status, and process in twelfth-
century Europe, hg. v. T. N. Bisson, Philadelphia 1995, S. 259–286.
124 Rüdiger Schnell

Es stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit sich die Referenzialisie-
rungsmöglichkeiten, die in der Aufführungssituation gegeben waren, auch in
der schriftliterarischen Rezeption behaupten können. Zunächst ist daran zu
erinnern, dass der textinternen Sängerrolle mit dem Fehlen des körperlich
präsenten Sängers ein möglicher Referenzpunkt abhanden kommt. Damit
entfällt aber auch die spannungsvolle Reibung zwischen der Minnerrolle (mit
Nähe zur Fiktionalität) und Sängerrolle (mit Nähe zur Identifikation mit dem
realen Sänger). Nun, in der schriftlichen Darbietung werden die Unterschiede
eingeebnet und beide Rollen finden ihren Referenzpunkt im Autor, der
unübersehbar das Organisationsprinzip der Handschriften B und C bildet.
Während beim Vortrag die Minnerrolle durch einen realen Sänger vermittelt
wurde und dabei an fiktionalem Status gewinnen konnte, fehlt nun in der
schriftlichen Präsentation diese Vermittlungsinstanz und damit die vielfälti-
gen Möglichkeiten von Identifizierung und Fiktionalisierung. Jetzt nimmt
der Rezipient den Text un-vermittelt entgegen. Wo im Vortrag noch ein
Gemisch aus Authentizität und Fiktionalität zu erleben war, stellt nun der
Rezipient eine eindeutige Identifikation zwischen Text-Ich und Autor her.
Gestützt wird dieses Textverständnis einerseits durch Bildszenen, in denen
der Autor der Liebende ist, andererseits durch Miniaturen, auf denen der
Liebende mit Signalen der Schriftlichkeit bzw. Textproduktion umgeben ist
(s. o.). Somit erscheinen die Aussagen des Textes als poetische Umsetzung
biographisch dokumentierbarer Erlebnisse. Wo im Vortrag die Sängerrolle
und die sängerische Kompetenz die Szene beherrschte, dominiert nun die
Minnerrolle oder besser: der Autor als Liebender. Dem Autor als Liebenden
wird der fiktionale Status der Minnerrolle, den diese noch beim Vortrag
besessen hatte, genommen:103 weder lässt er die Minnerrolle spielen noch
spielt er die Rolle des Liebenden,104 sondern er ist der Liebende.105

103 Dem Einwand, auch beim Lesen eines Minneliedes könne doch der fiktionale
Status des Sängers ›erinnert‹ werden, indem sich der Leser bewusst mache, dass
der Autor früher einmal dieses Lied gesungen und dabei die Minnerrolle fingiert
habe, ließe sich entgegenhalten: Die Erinnerung an den früheren Sänger, der
dieses Lied gesungen hat, wird bestimmt von der Wahrnehmung der abgebildeten
Autorfigur. Der Rückblick auf den Vortragsvorgang kann sich nicht mehr von der
Autor-Instanz lösen. Dies macht die ›Unhintergehbarkeit‹ der Autor-Instanz deut-
lich, die der Minnesang-Forschung so große Schwierigkeiten bereitet(e).
104 Dass einzelne Autorenbilder den Eindruck erwecken, hier spiele der Dichter eine
Rolle, soll nicht bestritten werden. So legt z. B. das Autorenbild Engelharts von
Adelnburg, das den Dichter mit einem von einem Minnepfeil durchbohrten
blutenden Herzen zeigt (Tafel 57), eine metaphorische Deutung nahe (zum Motiv
vgl. Manfred Kern, »Amors schneidende Lanze. Zur Bildallegorie in Willehalm
25,14ff., ihrer Lesbarkeit und ihrer Rezeption im späthöfischen Roman«, DVjs
73, 1999, S. 567–591; Hildegard Elisabeth Keller, »Gott im Visier. Zur Konstruk-
tion allegorischer Weiblichkeit in Text und Bild beim Motiv der Liebesaggres-
sion«, in: Manlîchiu wîp, wîplîche man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Kör-
per‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. I.
Bennewitz/H. Tervooren, Berlin 1999 (ZfdPh, Beiheft 9), S. 204–226; ein ähn-
liches Bildmotiv zeigt der burgundische Chansonnier O [Ende 13. Jh.], fol. 21v,
vgl. Huot, From song [Anm. 30], S. 75). Andererseits stellen zahlreiche Bilder
aber ›Realität‹ vor (Tafeln 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 15, 16, 18, 19, 21,
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 125

Körperliche Präsenz, beeindruckende Stimmlichkeit (Vokalität), gestische


Überredungskunst: Dies zeichnete einen Liedvortrag aus. Die mittelalterli-
chen Zuhörer erlebten Minnesang als Kunst oraler Vermittlung. Minnesang in
der Aufführungssituation wurde zu einer Begegnung mit dem Sänger, Minne-
sang in den Handschriften zur Begegnung mit dem Autor.

V Das Interesse am Autor im Spätmittelalter

Meine Überlegungen, die bislang recht spekulativ bleiben mussten, sollen


durch den Hinweis auf andere Textbefunde gestützt werden. Denn die These,
in den Handschriften B und C werde der Autor – nicht der Sänger! – zum
Bezugspunkt der Aussagen des Text-Ichs gemacht, lässt sich durch andere
literarhistorische Tendenzen stützen.
1. Die Vidas (Trobadorbiographien) und Razos (Kommentare zu Einzel-
liedern) verraten ein Textverständnis, wie ich es den Rezipienten der Hand-
schriften B und C unterstelle: die Fiktionalität der Liedaussagen, damit auch
das reizvolle Zusammenspiel von Minner- und Sängerrolle, verflüchtigt sich,
indem die Liedaussagen ›real‹-biographisch auf das Liebesleben der Dichter
bezogen werden (so wie es dann die Minnesang-Philologie des 19./20. Jhs.
getan hat).106
Ein kurzer Ausschnitt aus der Vida Peire Vidals und einigen Razos zu
seinen Liedern möge genügen: »Peire Vidal verliebte sich in alle edlen
Damen, die er sah, und warb bei allen um Liebe; und alle versprachen ihm,
zu tun und zu sagen, was er nur wolle; und so glaubte er, er sei aller
Liebhaber und eine jede sterbe um ihn; aber alle betrogen ihn« (aus der
Vida). »So verliebte er [Peire Vidal] sich auch in die Herrin Frau Azalais de

22, 25, 28, 29, 32, 33, 35, 39, 41 u. ö.); von Rollencharakter kann hier keine Rede
sein. Die in den Autorenbildern nachweisbare Tendenz zur Aktualisierung (bei
Kleidung und Wappen) legt ebenfalls die Annahme nahe, hier solle ein möglichst
›realistisches‹ Autorbild entworfen werden; vgl. Holznagel, Wege (Anm. 23),
S. 82.
105 Wachinger, Autorschaft (Anm. 30), S. 13 f. betont die Korrespondenz zwischen
Bildprogramm und Doppelaspekt der Minnelieder: Beide Male erscheine der
Dichter als Autor und/oder als Liebender. Demgegenüber möchte ich auf die
Differenzen zwischen den Minneliedern als Gegenstand einer Aufführung und
den verschrifteten Minneliedern aufmerksam machen: a. auf den Unterschied
zwischen Sänger (Aufführung) und Autor (Schrift); b. auf das unterschiedliche
Fiktionalitätsniveau: der Sänger (beim Vortrag) spielt den Minner; der Autor (in
der Handschrift) ist der Minner. Die Vidas und Razos zu den Liedern der
Trobadors zeigen dasselbe Textverständnis: der Autor ist der Liebende (vgl. mehr
unten nach Anm. 105); c. auf die unterschiedliche Räumlichkeit (vorherrschende
Öffentlichkeit des Liedvortrags vs. dominante privat-intime Szenerie in der
Schrift).
106 Zu den Razos umfassend jetzt William E. Burgwinkle, Love for sale. Materialist
readings of the troubadour razo corpus, New York/London 1997 (der allerdings,
ganz anders als etwa Ulrich Mölk, in den Razos eine anti-idealistische Per-
spektive zu erkennen glaubt).
126 Rüdiger Schnell

Roca Martina, die Gattin Herrn Barrals, des Gebieters von Marseille, der
Peire Vidal um seines trefflichen Dichtens und um der holden Torheiten, die
er redete und tat, freundlicher gesinnt war als irgendwem auf Erden; und sie
nannten sich gegenseitig ›Rainier‹. Peire Vidal war am Hof und in den
Gemächern Herrn Barrals vertrauter als irgendwer; und Herr Barral wusste
gar wohl, dass Peire Vidal in seine Gattin verliebt war, und machte sich einen
Spaß daraus, so wie alle anderen, die es wussten« (aus einer Razo).107 Dem
Dichter wird unterstellt das erlebt zu haben, wovon er gesungen hat.108 Dabei
fällt auf, dass vor allem über das Lieben, weniger über das Singen des
Trobador berichtet wird. Stets wird die Liebe als Impetus des Singens
genannt.109 Damit werden wie in den Handschriften B und C die (fiktiven)
Liedaussagen mit der historischen Autorperson identifiziert.
2. Auch in der deutschen Minnesang-Überlieferung begegnet eine ähnliche
Anbindung der Lieder an die Biographie der Dichter. Auf zwei Liedcorpora,
die unter dem Namen Walthers und Reinmars versammelt sind, folgt in der
Würzburger Handschrift E (ca. 1350), im sog. Hausbuch Michaels de Leone,
eine biographische Notiz zu den beiden Minnesängern. Zunächst werden die
Orte genannt, wo sie begraben sind, dann der Dichterwettstreit zwischen den
beiden erwähnt.110 Deshalb heisst es von Reinmar und Walther: sie tiehten
vnd sungen gein ein ander. In dieser besonderen Dichterkonstellation werden
Dichter- und Sängerstatus verbunden. Über etwaige Verstrickungen in Lie-
besbeziehungen als Auslöser des Dichtens wird kein Wort verloren.
3. Tendenzen des deutschen spätmittelalterlichen Minnesangs arbeiten
einem solch autorbezogenen Textverständnis zu bzw. stellen eine Reaktion
auf veränderte Performanzbedingungen dar. Es hat den Anschein, dass einige
spätmittelalterliche Dichter auf die Schriftlichkeit hin dichteten, d. h. ihre
Lieder so verfassten, wie sie selbst die inzwischen verschriftlichten Minne-
lieder früherer Dichter rezipierten.
Dass in der Bildwelt der Handschriften B und C der Liedautor, die
dargestellte Bildfigur und das Text-Ich der Liedtexte in eins gesetzt werden,
lässt sich in Verbindung bringen mit der Tendenz zur ›Konkretisierung‹ im

107 Biographies (Anm. 47), S. 352 (aus der Vida) u. S. 361 (Razo). Die Übersetzung
habe ich entnommen Franz Wellner, Die Trobadors. Leben und Lieder, Bremen
2
1966, S. 193.
108 Vgl. Mölk, Trobadorlyrik (Anm. 43), S. 110–123. Während Mölk die Identifizie-
rung von Text-Ich und Autor auf eine Idealisierung der guten alten Zeit zurück-
führt (S. 117), möchte ich nicht ausschließen, dass sich die stärkere biographische
Konturierung der okzitanischen Lyrik in der Überlieferung einem stärker autorbe-
zogenen Verständnis schon der vorgetragenen Lieder verdankt, vgl. oben S. 107ff.
Doch schliesst diese Hypothese nicht aus, dass sich im romanischen wie im
deutschen Minnesang die Autor-Instanz während der Überlieferung des
13./14. Jhs. in den Vordergrund spielte.
109 Vgl. z. B. die Vida zu Arnaut de Mareuil: »Es geschah indessen, dass die Liebe so
sehr Besitz von ihm ergriff, dass er ein Lied verfertigte, welches so beginnt: La
franca captenensa [P.-C. 30,15]«; vgl. Biographies (Anm. 47), S. 32.
110 Das Hausbuch des Michael Leone (Würzburger Liederhandschrift) der Universi-
tätsbibliothek München (2o Cod. ms. 731), in Abbildung hg. v. Horst Brunner,
Göppingen 1983 (Litterae 100), Bl. 168v.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 127

spätmittelalterlichen Minnesang:111 Auch dort werden die Ich-Aussagen ei-


nes Liedtextes als biographische Realität ausgegeben. So wird bei Neidhart
»das abstrakte Ich des klassischen Ichs durch den Riuwentaler mit seiner
fiktiven Lebensgeschichte ersetzt«. In Ulrichs von Liechtenstein Frauen-
dienst wird »das lyrische Ich der Lieder in einen mit biographisch und
historisch nachprüfbaren Fakten durchsetzten Erzählzusammenhang einge-
bettet und damit zu einem epischen Ich konkretisiert«, das überdies den
Namen Ulrich von Liechtenstein trage.112 Schließlich wäre auch an Hadlaub
zu erinnern, der in einigen seiner Erzähllieder das Text-Ich mit seiner eigenen
Person verknüpft. Diese Tendenz zur Episierung, Narrativierung113 und Bio-
graphisierung des Text-Ichs ist in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand
der Forschung geworden.114 Die Parallelen zwischen der Biographisierung
des Text-Ichs (bzw. der Sängerrolle) und der ›Biographisierung‹ der Minne-
sänger (bzw. der Autorrolle) in B und C sind in der Tat verblüffend. »In
beiden Fällen wird die Grenze zwischen Realität und Fiktion durchlässig.«115
Doch werden die Grenzen von unterschiedlichen Positionen her aufgelöst:
Bei den Autorenbildern wird eine dichterische Aussage auf eine außerhalb
der Fiktion liegende Person projiziert; bei der Konkretisierung der Sänger-
rolle hingegen wird »mit der Hereinnahme von Realitätselementen in die
literarische Fiktion operiert«.116
Die Gründe für die ›Biographisierung‹ findet Volker Mertens in veränder-
ten Rezeptionsbedingungen des 13./14. Jahrhunderts. Während die Authenti-
zität bzw. Glaubwürdigkeit des Text-Ichs des klassischen Minnesangs durch

111 Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 85 f.


112 Ebd., S. 85.
113 Freilich begegnen narrative Elemente vereinzelt auch im klassischen Minnesang
(z. B. Friedrich von Hausen, MF 48,32; Heinrich von Veldeke, MF 57,1; Heinrich
von Morungen, MF 139,19), doch haben sie einen anderen Stellenwert. Vgl.
zuletzt dazu Burghart Wachinger, »Waz ist minne?«, PBB 111, 1989, S. 252–267,
S. 263; Manfred Eikelmann, »wie sprach sie dô? war umbe redte ich dô niht mê?
Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone«, in: Wechsel-
spiele (Anm. 6), S. 19–41.
114 Vgl. u. a. Müller, Ritual (Anm. 18), S. 43–76, bes. S. 55ff. zu Neidhart, S. 67ff. zu
Hadlaub; Volker Mertens, »›Biographisierung‹ in der spätmittelalterlichen Lyrik:
Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein«, in: Kultureller Austausch und
Literaturgeschichte im Mittelalter, hg. v. I. Kasten u. a., Sigmaringen 1998 (Bei-
hefte der Francia 43), S. 331–344; Volker Mertens, »Liebesdichtung und Dichter-
liebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub«, in: Autor und Autorschaft
(Anm. 17), S. 200–210; Cramer, Waz hilfet (Anm. 6), S. 146–158; Wolfgang
Haubrichs, »Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in
mittelhochdeutscher Lyrik des 12. und 13. Jhs.«, in: Autor und Autorschaft (Anm.
17), S. 129–147. Haubrichs, S. 147, ist allerdings der Auffassung, das bio-
graphische Ich werde in der Lyrik des 13. Jhs. zunehmend ausgeblendet.
115 Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 88. Sylvia Huot, »Visualization and memory. The
illustration of troubadour lyric in a thirteenth-century manuscript«, Gesta 31,
1992, Heft 1, S. 3–14, bes. S. 3–6, zeigt, wie sich in der Trobadorhandschrift N
ein biographisches Verständnis von Liebesliedern auch in den einigen Texten
beigegebenen Zeichnungen niederschlägt.
116 Holznagel, Wege (Anm. 23), S. 86.
128 Rüdiger Schnell

die Aufführung vor der höfischen Gesellschaft gewährleistet war – durch die
körperliche Präsenz des Sängers, seine Stimme, seine Gestik –, entstand bei
einer schriftliterarischen Rezeption eine Leerstelle: es war niemand da, der
für die Authentizität einer Liedaussage eintreten konnte. Diesen Verlust an
Authentizität versuchten die Vidas und Razos der Trobadors wettzumachen,
indem sie die Lieder in eine Biographie einbetteten und somit die Texte als
authentische Zeugnisse gelebter Liebe präsentierten.117 In ähnlicher Weise
hätten, so Mertens, Ulrich von Liechtenstein, Hadlaub und Oswald von
Wolkenstein ihren Gedichten einen (auto- bzw. pseudo-)biographischen Rah-
men verpasst, der als Referenz für die Liedaussagen fungieren konnte. Das
Text-Ich wurde also nicht mehr durch den realen Sänger beglaubigt, sondern
durch eine biographisch-fiktive Situation.118 Für Mertens markiert somit die
Biographisierung der Liedaussagen den Übergang von der Mündlichkeit zur
Schriftlichkeit, d. h. von der primär aufführungsbezogenen Existenzform der
Lyrik zum schriftkonservierten Lied (also die Ablösung der Aufführungslyrik
durch die Buchlyrik).119 Denn die Biographisierung müsse dem Leser plausi-
bel machen, weshalb sich das ›Ich‹ in einem Text überhaupt äußere bzw. so
äußere. Die Performanzsituation habe solche Probleme gar nicht entstehen
lassen.
Mit dieser Erklärung hat Volker Mertens sicher einen wichtigen Aspekt der
literarhistorischen Veränderungen im Spätmittelalter erfasst, auch wenn man
der pauschalen Gegenüberstellung von performativer und schriftliterarischer
Rezeption nicht ganz folgen möchte.120 Mertens’ Überlegungen führen aber

117 Mertens, Biographisierung (Anm. 114), S. 337; ders., Liebesdichtung (Anm.


114), S. 202 f.
118 Einen Höhepunkt erreicht die Biographisierung des Text-Ichs bzw. eines Minne-
sängers in der Erzählung Roman du castelain de Couci von Jakemes (spätes
13. Jh.); vgl. dazu Huot, From song (Anm. 30), S. 117–134.
119 Mertens, Liebesdichtung (Anm. 114), S. 202 und passim; ders., Biographisierung
(Anm. 114), passim.
120 Immerhin wird es auch im 13. und 14. Jh. noch Liedaufführungen gegeben haben.
Belege dafür bei Müller, Kontext-Informationen (Anm. 8); Martin Huber, »Fin-
gierte Performanz. Überlegungen zur Codifizierung spätmittelalterlicher Lied-
kunst«, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ (Anm. 9), S. 93–106; Eckart Conrad Lutz,
Das Dießenhofener Liederblatt. Ein Zeugnis späthöfischer Kultur, Freiburg i.Br.
1994, bes. S. 23–36; Spicker, Singen und Sammeln (Anm. 56), S. 174–192, bes.
S. 182–185 (betont Oswalds »erstaunliche Nähe zu Vortrag und Aufführung«);
Wachinger, Liebeslieder (Anm. 55), S. 11 f. (Nachlassen der Literarisierung);
Meyer, Objektivierung (Anm. 17), S. 185–199 (zu Konrad von Würzburg). Zur
mündlichen wie auch schriftlichen Trouvère-Rezeption im 13. Jh. vgl. Huot,
From song (Anm. 30), S. 50–53 (konstatiert aber eine Tendenz zur schriftlichen
Überlieferung). Deshalb wäre der Übergang von mündlicher zu schriftlicher
Liedproduktion nicht nur als realhistorisches Phänomen zu behandeln, sondern
auch nach den Gründen für die literarische Inszenierung von Schriftlichkeit bzw.
schriftliterarischer Rezeption zu fragen. Im übrigen steht Mertens’ These im
Widerspruch zu der Deutung der Schriftrollen auf den Autorenbildern der Hand-
schriften B und C durch Curschmann und Wachinger, die dort eine Aufführungs-
situation indiziert sehen. Doch dieser Deutung gegenüber habe ich selbst Be-
denken angemeldet (s. o.).
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 129

zu der von ihm selbst nicht gestellten Frage meines Beitrags: Wie sind
diejenigen Lieder, die im 12./13. Jahrhundert für eine Aufführungssituation
verfasst wurden, in einem Kreis von Literaturkennern rezipiert worden, in
dem schriftliterarische Produktion und Rezeption vorherrschte, in dem dem-
zufolge ein anderes Textverständnis dominierte und in dem deshalb an den
›alten‹ Texten einige ›Defizite‹ auftreten mussten? Ich meine, dass die
Tendenz, auf die einige spätmittelalterliche Dichter zuarbeiteten, um die
Defizite schriftliterarischer Liedproduktion und -rezeption auszugleichen, in
verwandelter Form auch die Organisation der Liederhandschriften B und C
erfasste: die Tendenz, das Text-Ich an eine biographische Person, ob nun
fiktiv oder nicht-fiktiv, anzubinden, um so an Stelle einer verlorengegan-
genen Beglaubigungsinstanz (des realen Sängers) eine neue Referenz-Instanz
zu konstituieren: die Autor-Instanz.
Von einer Substitution der Sängerfigur durch die Autorfigur bzw. von
einer Konstitution der Autorfigur kann man bei Hugo von Montfort spre-
chen.121 Seine vom ihm selbst initiierte Gedichtsammlung (Lieder, Briefe,
Reden: cpg 329) nennt Hugo ein »Buch« und bittet jeden, der das buoch
höret lesen, für ihn zu beten.122 In der Rede 31 ordnet, zählt und reflektiert
Hugo sein Werk.123 Indem sich Hugo zum Autor stilisiert, auch zum Autor
seiner Lieder, belegt er vortrefflich die behauptete Entwicklung »Vom Sänger
zum Autor«.124

Liedtyp 3: Reflexion der Relation von Sänger- und Minnerrolle125

Bei den Gedichten, die hierher gehören, diskutiert das Text-Ich das Verhältnis
von Minne und Sang bzw. von Liebesbeziehung und Sängerfunktion. Dabei
kommt es wiederholt zu einem Auseinandertreten von Sängerrolle und Min-
nerrolle.126 Diese Aufspaltung des Text-Ichs in eine Sänger- und Minnerrolle

121 Vgl. Vögel, Die Pragmatik (Anm. 101), S. 269 f.; zustimmend Spicker, Singen
und Sammeln (Anm. 56), bes. S. 190 f.
122 Hugo von Montfort, Bd. II: Die Texte und Melodien der Heidelberger Handschrift
cpg 329, Transkription v. Franz Viktor Spechtler, Göppingen 1978 (Litterae 57),
S. 108 (Nr. 31, Str. 64).
123 Vögel, Die Pragmatik (Anm. 101), S. 269.
124 Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass von Hugos insgesamt 10 bzw. 11
Liedern immerhin acht mit Melodien überliefert sind, also gesungen wurden.
125 Mit diesem Aspekt hat sich der sonst grundlegende Aufsatz von Warning,
Lyrisches Ich (Anm. 11) noch nicht befasst.
126 Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), S. 14, 16, 22 f., spricht mit Blick auf die
Sänger- und Minnerrolle in einigen Liedern von einer Verdoppelung der Sänger-
rolle, damit von zwei Text-Ichs und beruft sich dabei auf Hahn, Zu den Ich-
Aussagen (Anm. 19), S. 97. Doch Hahn setzt ein einziges Text-Ich an, das sich in
zwei Rollen (Minnenden und Singenden) aufspaltet, die aber beide »im ich
enthalten sind«. Diese Auffassung scheint Forschungskonsens zu sein, vgl. etwa
Bein, Singen über das Singen (Anm. 34), S. 91. Jeffrey Ashcroft, »Ungefüege
doene. Apocrypha in manuscript E and the reception of Walther’s minnesang«,
Oxford German Studies 13, 1982, S. 57–82, S. 63, spricht von einem »subtle play
with the dual persona of singer and lover« in einigen Liedern.
130 Rüdiger Schnell

ist nicht zu verwechseln mit der Trennung von Sängerrolle und Minnerrolle
im Liedtyp 1 (s. o.): dort lässt das textuelle Sänger-Ich (inquit-Formel) ein
anderes textuelles Ich als liebende Person zu Wort kommen; hier hingegen
konfrontiert ein und dasselbe Text-Ich die zwei Rollen, die es zu spielen hat:
den Sänger und den Liebenden.127
Die spannungsvolle Diskrepanz zwischen sängerisch-gesellschaftlicher
Tätigkeit und ›persönlicher‹ Minneexistenz wird mit Hilfe verschiedener
Konstellationen erreicht, die ihrerseits bestimmte Referenzialisierungsmög-
lichkeiten nahelegen oder aber abblocken.128 In seiner Sängerrolle ist das
Text-Ich zur vröude-Mehrung der Gesellschaft verpflichtet, in seiner Rolle
als Minner wird er von Liebesschmerz überwältigt und vermag kaum sein
Leid zu verbergen. Somit haben wir es zugleich mit dem Problem von
Authentizität und Fiktionalität zu tun.
Das Auseinandertreten von Minner- und Sängerrolle äußert sich vor allem
in der Form von Glaubwürdigkeits- bzw. Wahrheitsbeteuerungen gegenüber
dem Publikum: Das Text-Ich muss sich in seiner Rolle als Sänger gegenüber
Vorwürfen eines fiktiven Publikums, sein Singen entspreche nicht seinem
Lieben, rechtfertigen. Dabei ergeben sich zwei Spielarten:
a. als Sänger erscheine er fröhlich (bzw. gesund); deshalb könne es mit
seiner Behauptung, er leide schrecklich an Liebesschmerz, nicht weit her
sein. Denn dies würde ja ein trauriges Auftreten (bzw. ein krankes Aussehen)
bedingen (Morungen MF 133,21; Hadlaub, Nr. 4 Str. 5).129
Dazu begegnet eine weitere Variante: Das Text-Ich als Minner räumt von
sich aus die Diskrepanz zwischen fröhlichem Auftreten und innerem Liebes-
schmerz ein, begründet dies aber mit der Absicht, nach außen hin eine
selbstbeherrschte Haltung zu bewahren. Das Minner-Ich muss seine authenti-
sche Verfassung verheimlichen und eine andere innere Disposition vor-
täuschen.130 Wenn aber die Liebe zur Dame und das dadurch erfahrene Leid
nicht mehr nach außen hin in Erscheinung treten (dürfen), deshalb auch nicht
überprüfbar sind, welche Instanz kann dann für die Glaubwürdigkeit dieser
Liebe einstehen? Die Aussagen des Text-Ichs, insofern sie den Minnezustand
betreffen, können ja leicht als simulierte Selbstbeschreibungen erscheinen.

127 In Strophen mit weiblicher Stimme wird lediglich der Minne-Aspekt vorgestellt.
128 Christoph Cormeau, »Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Ein-
bettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide«, in: Mittelalterbilder
(Anm. 48), S. 147–163, S. 158 f., bemerkt, dass zuweilen die Sängerrolle in den
Vordergrund rückt, die Liebhaberrolle dann »als fiktives Spiel markiert oder
ausgeblendet« wird. Dies hat natürlich Konsequenzen für die Anbindung der
beiden Rollen an den realen Sänger.
129 Vgl. zu Morungen zuletzt Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), S. 26–29; Ober-
maier, Möglichkeiten und Grenzen (Anm. 102), S. 13–18.
130 Hausen MF 51,33; Bligger von Steinach MF 118,10; Morungen 133,13; Reinmar
164,3; 164,30; 170,36; 185,27 u. 33; 191,34; Walther La 71,27 [Reinmar MF
Lied IV, Str. 3]; Gottfried von Neifen KLD 15, Nr. 46 Str. 3; Rubin KLD 17,
Nr. 2A u. Nr. 9 Str. 1; Neidhart WL 16 Str. 2; Heinrich von Sax SMS 6 Nr. 1
Str. 9 u. 20–22; Der von Gliers SMS 8, Nr. 2 Str. 4; Ulrich von Singenberg SMS
12 Nr. 9 Str. 2; Heinrich Teschler SMS 21, Nr. 11.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 131

Will man das Bedürfnis des Text-Ichs, die Differenzen zwischen innerer
verborgener Traurigkeit und äußerer sichtbarer Fröhlichkeit zu thematisieren
und zu erklären, nicht als bloßes Jonglieren mit traditionellen Motiven abtun,
so wird man zwei Schlussfolgerungen ziehen: a. der gesellschaftliche Druck
auf den Sänger, Freude hervorzurufen, ist groß; b. um die vorbildliche
Selbstdisziplin der Sängerrolle glaubhaft zu machen, bedarf es als Gegen-
gewicht des Hinweises auf das innere Herzeleid. Da dieses Leid aber nach
außen nicht sichtbar gemacht werden darf, muss es bei einem bloß verbalen
Hinweis auf das Leid sein Bewenden haben. Doch auch das Leid muss
glaubhaft vermittelt sein, wenn der Anspruch auf vorbildliche Leidbeherr-
schung überzeugend vermittelt werden soll. Angesichts dieser unaufhebbaren
Interdependenz der beiden widerspruchsvollen Inszenierungen – als wah-
rer Minner und wahrer Leidbeherrscher bzw. Freudenspender – fragt man
sich, welche Instanz die Glaubwürdigkeit beider Haltungen zu stützen ver-
möchte.
b. Beim zweiten Vorwurf wird dem Text-Ich zwar bescheinigt, es bringe
öffentlich seine Liebesklage vor – so dass innerer Zustand und äußeres
Gebaren scheinbar übereinstimmen –, aber diesen Klagen wird Skepsis ent-
gegengebracht, auf die das Minner-Ich mit erneuter Beteuerung seines Lie-
besschmerzes antwortet. Aufrichtigkeit und Heuchelei in der Liebe werden
also gegenübergestellt, wobei der Sängerrolle die Aufgabe zukommt, die
Glaubwürdigkeit der Minnerrolle zu versichern.131
Wer der Auffassung ist, Minnesang erschöpfe sich in der Selbstdarstellung
der künstlerischen Kompetenz und das Thema Minne sei allenfalls Mittel
zum Zweck, wird die Liedpassagen, in denen die Sängerrolle die Authentizi-
tät des Gesagten zu retten versucht, gerne als Beleg für die Dominanz der
Künstlerthematik über die Minnethematik nehmen. Merkwürdigerweise ist in
den neueren Publikationen zu den einschlägigen Textstellen unberücksichtigt
geblieben, dass die Frage von Glaubwürdigkeit bzw. Echtheit auch in dem
Verhältnis zwischen dem Minner und der Dame – also innnerhalb des
Liebesdiskurses – eine Rolle spielt.132 Solche Beteuerungen bzw. (von der
Dame) eingeforderten Beweise der Liebe gegenüber der Dame sind im
deutschen Minnesang reichlich belegt.133 (Später wird nach Bedingungen
und Funktionen dieser Beteuerungen zu fragen sein.) Auf der textinternen

131 Morungen 132,11; Reinmar MF 150,19; 158,11; 165,10 und 19; 188,5 und
188,18; 197,9; Walther v. d. V. La 13,33; Konrad von Landeck SMS 16, Nr. 21,
Str. 4. Reinmar MF 175,8 wird dem Text-Ich in seiner Sängerrolle der Vorwurf
gemacht, es könne nichts als klagen.
132 Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7); Haferland, Aufrichtigkeitsbeteuerungen
(Anm. 17); Strohschneider, nu sehent (Anm. 4).
133 Burggraf von Rietenburg MF 19,17; Hausen MF 45,19; 45,35; 50,9; Veldeke MF
64,10; Rugge MF 100,12; 110,8 u. 24 f.; Morungen MF 132,11; 136,20; Reinmar
MF Lied Nr. IV Str. 2 [Walther La 71,19]; 155,32; 161,15; 167,29 f.; 173,13 u.
20; 174,17; 178,15; 197,36; Walther La 14,14ff. u. 22ff.; Hawart KLD 19, Nr. 3
Str. 5; Rudolf von Rotenburg KLD 49, Nr. 8, Str. 2; Ulrich von Liechtenstein
KLD 58, Nr. 11, Str. 2; Ulrich von Winterstetten KLD 59, Nr. 11 passim.
132 Rüdiger Schnell

Sprechsituation wie auf der textexternen Rezeptionssituation wird also


Glaubwürdigkeit der Rede gefordert.134 Dies ist insofern verständlich, als die
(fiktive) Dame wie das (fiktive) Publikum Zweifel an der Echtheit des
proklamierten Liebesgefühls äußern kann. Damit bestätigt sich aufs Neue die
Gleichrangigkeit der beiden Aspekte Minne und Sang wie auch die Doppel-
funktion des Text-Ichs als eines Minners und Sängers. Doch zeichnet sich
dieser Liedtyp 3 ja gerade durch die Tendenz aus, die Minnerrolle gegen die
Sängerrolle auszuspielen und sie voneinander abzukoppeln.
Mit der Thematisierung von Unglaubwürdigkeit bzw. Authentizität des
behaupteten Liebesleids stellt sich eine zweifache Perspektive auf die Präsen-
tation des Text-Ichs ein: Dieses Ich besitzt eine von außen wahrnehmbare
Oberfläche und eine innere verborgene Gefühlswelt, deren Relation zuein-
ander problematisiert wird: das äußerlich Wahrnehmbare ist kein zuver-
lässiger Indikator des Inneren, nicht Sichtbaren.135 Die innere (psychische)
Verfassung ist zwar über sprachliche Artikulation und körperliche Kom-
munikation zugänglich – wie in den Minneliedern angedeutet wird. Doch
diese kommunikativen Mittel können trügen, wie unmissverständlich fest-
gestellt wird. Deshalb der Vorwurf der Lüge. Somit wird die Möglichkeit
einer Diskrepanz zwischen äußerem Gestus und innerer Einstellung einge-
räumt. Diese Diskrepanz von außen und innen mitsamt der Kontrastierung
zweier Rollen des Ichs verleiht dem Text-Ich eine räumliche Tiefe, eine Art
Tiefenschärfe. So wird das Eingeständnis der Dissonanz von innerem Herze-
leid (Minnerrolle) und äußerem frohem Auftreten (Sängerrolle) zur Voraus-
setzung dafür, dass das Text-Ich an Konturen gewinnt.
Warum aber sollte man den Beteuerungen des Text-Ichs – trotz aller
gegenteiligen Eindrücke wirklich Liebe zu empfinden – Glauben schenken,
wo doch Worte und Gesten täuschen können, wie das fiktive Publikum und
sogar die Sängerrolle zu bedenken geben? Wer kann für die Wahrheit der
Aussage des Text-Ichs bürgen? Ist es der möglicherweise abwesende Autor
(kraft seiner Autorität) oder ist es der körperlich anwesende Sänger? Zu-
nächst ist allein schon die Tatsache beachtenswert, dass sowohl die Minner-
wie die Sängerrolle in den Minneliedern so großen Wert auf die Glaubwür-
digkeit der Rede legen. Denn, folgt man einer weitverbreiteten Forschungs-
meinung, so bestand an dem fiktionalen Status der Liedaussagen eigentlich
kein Zweifel, weder für das Publikum noch für den Autor bzw. realen Sänger.
Warum aber sollte die als fiktional inszenierte Rede eines Ichs gleichzeitig so

134 In manchen Liedern wird dieser Aspekt tatsächlich auf beiden Ebenen themati-
siert; z. B. Morungen MF 132,11; Walther La 13,33.
135 Strohschneider, nu sehent (Anm. 4), S. 15 f., sieht hierin eine »Entkoppelung von
Affekt und Ausdruck«, die im Zusammenhang mit dem Auseinandertreten
von Sänger- und Minnerrolle stehe. Dennoch möchte Strohschneider nicht von
einem »Verhältnis etwa von Innen- und Außenseite eines Ich« sprechen (S. 23),
weil er von einer »Verdoppelung des Ich« ausgeht. Mögliche Bezüge zur Auffüh-
rungssituation bzw. zum realen Sänger klammert Strohschneider weitgehend
aus.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 133

sehr auf der Wahrheit dieser Ich-Aussagen insistieren?136 Das Einklagen von
Authentizität und die Inszenierung von Fiktionalität stoßen hart aufeinander
und sind doch wohl mit Bedacht zusammengebracht.137
Einen zentralen Gegenstand des mittelalterlichen Liebesdiskurses bildet
die Frage, inwieweit Frauen die Liebesschwüre ihrer Verehrer für ›echt‹
halten dürfen.138 Da viele Männer nur Liebe heuchelten, in Wirklichkeit nur
auf raschen sexuellen Genuss aus seien, müssten die Frauen ihre Verehrer
lange prüfen, um so Aufschluss über deren wahre Gesinnung zu erhalten.139
Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit der Liebe bildeten die wich-
tigste Voraussetzung für eine eventuelle Gunstbezeugung der Dame. Da aber
zugleich allen Beteiligten klar war, dass man mit Worten und Gesten täu-
schen konnte, begegnen in Minneliedern immer wieder Klagen darüber, dass
die Frauen die Falschen belohnten (z. B. Reinmar MF 167,26ff.; Walther
v. d. V. La 13,33 Str. 4 u. 5). Hörner auf der Stirne sollten denjenigen
wachsen, die Liebe nur heuchelten, ereifert sich Bernhard von Ventadorn.140
Im Mittelalter war das Wissen um das Fingieren von Liebe ein weitver-
breitetes literarisches Motiv, bei Ovid gelernt und im Roman de la Rose
(V. 4389ff.) diskursiviert.141 Die zahlreichen einschlägigen Textbelege in der

136 Nach Jens Pfeiffer, »Die Gewalt der Sprache und die Ohnmacht der Poesie«, in:
Mittelalterliche Lyrik (Anm. 5), S. 122–138, thematisiert Morungen im Lied MF
131,25 die Unmöglichkeit, im Minnesang von ›wahrer‹ Liebe zu singen. Das
konventionalisierte Sprechen im Minnesang ersticke jedes ›wahre‹ Sprechen über
die Liebe. Gegen eine Übertragung dieser Position auf alle einschlägigen Minne-
lieder sprechen zwei Befunde: Die zahlreichen Wahrheitsbeteuerungen machen
nur Sinn, wenn sie mit der Hoffnung auf eine entsprechende Resonanz verknüpft
sind; zweitens begegnet die Diskursivierung von Glaubwürdigkeit bzw. von
Täuschung durch Worte in der Liebe nicht nur im Minnesang.
137 Dass die Zuhörer sich stets mit einer ›Als-ob‹-Referenz (Strohschneider) zu-
friedengaben, scheint mir fraglich zu sein. Dass es so etwas wie eine ›Als-ob‹-
Referenz gegeben hat, soll nicht in Abrede gestellt werden. Doch ist zu bedenken,
dass Strohschneider (nu sehent [Anm. 4]) den textexternen Sänger ganz aus
seinen Überlegungen über mögliche Referenzialisierungen der in den Minnelie-
dern dargestellten Rollen ausgeklammert und sich damit die Möglichkeit zu
anderen Einschätzungen – bewusst? – genommen hat. Andererseits gehe ich nicht
so weit zu behaupten, die mittelalterlichen Minnesänger hätten in ihren Liedern
ihre eigenen Gefühle zur Schau gestellt (vgl. Haferland, Aufrichtigkeitsbeteuerun-
gen [Anm. 17]).
138 Hartmann von Aue, Erstes Büchlein, V. 217ff.: nu ist es leider ein slac,/ daz ein
wîp niht wizzen mac,/ wer si mit triuwe meinet; Walther von der Vogelweide, La
14,25ff.: . . .sît man valscher minne mit sô süezen worten gert? Daz ein wîp niht
wizzen mac,/ wer sie meine,/ disiu nôt alleine/ tuot mir manigen swaeren tac.
139 Vgl. Rüdiger Schnell, »Frauenlied, Manneslied und Wechsel im deutschen Min-
nesang. Überlegungen zu ›gender‹ und Gattung«, ZfdA 128, 1999, S. 127–184,
S. 154 f.; ders., Die ›höfische Liebe‹ (Anm. 15), S. 404–407; ders., Causa amoris.
Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern/
München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 23 f. Vgl. auch oben Anm. 133.
140 Bernart von Ventadorn, seine Lieder, mit Einleitung und Glossar hg. v. Carl
Appel, Halle 1915, Nr. 31, Str. 5.
141 Vgl. u. a. Eberhard von Cersne, Die Lieder, hg. v. Elisabeth Hages-Weißflog,
Tübingen 1998 (Hermaea N.F. 84), S. 75 f. (Lied IV Str. 4): »Manch einer
behauptet, Schmerzen zu leiden, dem sein Lebtag noch kein Leid geschah. Auf
134 Rüdiger Schnell

okzitanischen, nordfranzösischen und deutschen Liebeslyrik lassen mich


vermuten,142 dass im Moment des Liedvortrags, also für die kurze Zeit der
›Aufführung‹, der vortragende Sänger seinem Publikum suggerierte, es gehe
um seine Liebe, seinen Schmerz, seine Hoffnung und seine Freude. Die
Häufigkeit der Glaubwürdigkeits- bzw. Wahrheitsbeteuerungen der Text-Ichs
lässt ein Einverständnis zwischen Publikum und Sänger vermuten: Beide
wussten um die Fiktionalität der Liedaussagen, doch beide delektierten sich
an dem Versuch, die Fiktion zu durchbrechen. Die Grenze zwischen Fiktion
und Identifikation konnte also überspielt werden. Die kontinuierliche Beto-
nung der Authentizität des Liebesleids (gegenüber der Dame sowie dem
Publikum) wäre – falls es eine durchgängig praktizierte und akzeptierte
Fiktionskonvention gegeben hätte – bald zu einem lächerlichen Topos ver-
kommen.143
Wenn aber auf Textebene die Möglichkeit thematisiert wird, dass Worte
und Gesten täuschen können und nicht hintergehbar sind, dann stellt sich für
den Vortrag eines solchen thematischen Gedichts (Textes) folgendes Prob-
lem: Welche Instanz kann die Glaubwürdigkeit der gerade in diesem Lied
behaupteten und inszenierten inneren Einstellung verbürgen? Wie soll in
diesem Moment des Vortrags die Wahrhaftigkeit der Liebe gegen die Mani-
diese Weise gibt er sich den Anstrich eines wahrhaft Liebenden«; ebd. S. 194
(Lied XIV Str. 1); Hugo von Montfort, hg. v. Franz V. Spechtler, Göppingen 1978,
Nr. 5, V. 298–314. Francesco da Barberino [ca. 1300], I documenti d’amore, a
cura di Francesco Egidi, Bd. 1, Rom 1905, S. 79 (Alii super quibusdam fingent se
plorare ut magis credantur). Zur Unaufrichtigkeit von Liebeserklärungen im
Joufroi de Poitiers vgl. Richard Trachsler, »Parler d’amour. Les stratégies de
séduction dans Joufroi de Poitiers«, Romania 113, 1992–95, S. 118–139. In der
Vida des Uc de Saint Circ heisst es: Cansos fez de fort bonas e de bos sons e de
bonas coblas [. . .] mas ben se saup feingner enamoratz ad ellas ab son bel parlar
(Biographies [Anm. 47], S. 240; »sehr gute Kanzonen und gute Melodien und
gute Coblas hat er geschaffen [. . .], aber er verstand es gut sich verliebt zu stellen
– den Frauen gegenüber – mit seinen schönen Worten«). Bemerkenswert an dieser
(kritischen) Aussage ist, dass sie unterstellt, die Trobadors hätten normalerweise
tatsächlich die Liebe empfunden, von der sie sangen. (Eine spätere Zeit hat in
einer Art von Idealisierung den klassischen Trobadors Wahrhaftigkeit des Her-
zens zugestanden; vgl. Mölk, Trobadorlyrik [Anm. 43], S. 117. Aber diese Zu-
schreibung von Wahrhaftigkeit setzt die Möglichkeit einer Identifizierung von
werbendem Text-Ich und Sänger zumindest voraus.) Dieser Gleichsetzung von
Dichter und Liebendem begegnen wir in den Autorenbildern der deutschen
Handschriften B und C sowie in den Vidas der Trobadorhandschriften. Immerhin
überrascht, dass in der Vida zu Uc de Saint Circ diese Gleichsetzung als Resultat
einer Täuschung erkannt wird.
142 Vgl. Schnell, Causa amoris (Anm. 139), S. 23 f. u. 106 (u. a. Folquet de Mar-
seille, Raimbaut d’Orange); Kay, La notion (Anm. 48). Zur Diskussion dieses
Problems bei Christine de Pizan vgl. Johannes Hauck, »Der notwendige descort
der höfischen Liebenden. Zur Liebeslyrik von Christine de Pizan«, in: Musique
naturele. Interpretationen zur französischen Lyrik des Spätmittelalters, hg. v. W.-
D. Stempel, München 1995, S. 211–259, bes. S. 225–228.
143 Freilich dient die Kontrastierung mit anderen Werbern, denen geheuchelte Liebe
unterstellt und vor denen die Dame deshalb gewarnt wird, auch der Profilierung
des jeweiligen Sängers; vgl. Schnell, Causa amoris (Anm. 139), S. 106 f.; Trachs-
ler, Parler d’amour (Anm. 141), S. 130.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 135

pulierbarkeit der Sprache glaubhaft vermittelt werden? Ich meine, hier


kommt dem vortragenden Sänger die entscheidende Aufgabe zu, durch die
Art seines Vortrags, durch Mimik und Gestik den Eindruck zu vermitteln, er
singe authentisch in eigener Sache.144 Dabei konnten sich während eines
Liedervortrags durchaus Momente einstellen, in denen auf seiten der Zuhörer
die Identifikation von Text-Ich und realem Sänger dem Wissen um die
Fiktionalität der Liedaussagen wich. Statt eines Gegensatzes von Identifika-
tion und Fiktion sehe ich eher eine ambivalente Rezeption, die beides
einschließt.
Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass die vortragenden Sänger – dar-
unter auch Autoren – ihren Ehrgeiz gerade darein setzten, gegen die Fiktions-
konvention und gegen die latente Unwahrhaftigkeit von Sprache anzugehen
und den Zuhörern das ›Gefühl‹ zu geben, hier sänge jemand von wahrer,
echter Liebe. Dieses Ziel zu erreichen, erforderte auch Kunst und Kom-
petenz, die nicht zu gering veranschlagt werden sollte. Sicher scheint mir zu
sein, dass – zumindest im deutschen Literaturbereich – die Glaubwürdigkeit
der Liedaussagen an die Suggestion des vortragenden Sängers gebunden war,
nicht so sehr an die auctoritas des Autors. Meines Erachtens referiert das
Text-Ich in den Liedern, in denen das Authentizitätsproblem durch die
Problematisierung des Verhältnisses von Minner- und Sängerrolle zugespitzt
wurde, auf den vortragenden Sänger. Umgekehrt: der körperlich anwesende
Sänger suggerierte die Identifikation von Text-Ich (ob nun in der Minner-
oder in der Sängerrolle) und seiner Person.
Welche Art von Referenz haben wir uns nun für die schriftliterarische
Rezeption des Liedtyps 3 in den autorbezogenen Handschriften B und C zu
denken?
Bei dem zur Diskussion stehenden Liedtyp, in dem sich Minner- und
Sängerrolle gegenübertreten und beide auf der Glaubwürdigkeit ihrer Hal-
tung und Worte insistieren, stellt sich bei der schriftliterarischen Rezeption
eine andere Referenzialisierung der Liedaussagen ein, sofern wir dafür die
Autorbilder der Handschriften B und C heranziehen:
a. Während beim Liedvortrag die ganze Last der Glaubwürdigkeitskampa-
gne auf dem realen Sänger ruhte (auf den der textinterne Sänger zumindest
verweisen konnte), steht nun der Autor für die Authentizität der beteuerten
Liebe ein; das Referenzobjekt für das Text-Ich verschiebt sich vom körper-
lich präsenten Sänger auf die bildhaft inszenierte Autorinstanz. Wenn der
vortragende Sänger an die Textstelle gelangte, an der die Skepsis des (fikti-
ven) Publikums gegenüber der Wahrhaftigkeit der vom Text-Ich beteuerten
Liebe thematisiert wurde, konnten sich die Blicke des realen Publikums
fragend auf den realen Sänger richten, ihn beobachten, ihn anschauen, seine
äußere Gestalt visuell abtasten, inwieweit er Spuren von Authentizität ver-

144 Vgl. auch Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7), S. 19 f. (die Glaubwürdigkeit der
Liedaussage werde verbürgt durch den anwesenden Sänger); ders., Selbstwider-
spruch (Anm. 7), S. 392 u. 401 f., meint ebenfalls, allein die Präsenz des Sängers
könne dem Widerspruch (von [angeblich echtem] Schmerz und [angeblich fin-
gierter] Freude) Glaubwürdigkeit verleihen.
136 Rüdiger Schnell

mittelte.145 Bei der schriftliterarischen Rezeption hingegen gleitet der Blick


des Auges nicht mehr an der Gestalt des körperlich präsenten Sängers
entlang, sondern nimmt das Autorbild wahr. An die Stelle des Sängers tritt
die Autor-Instanz: Von dieser Autorvorstellung her hat auch die neuzeitliche
Minnesang-Philologie die Lieder gelesen.146
Ein Textbeispiel (Bernger von Horheim, MF 115,3) möge das Gesagte
verdeutlichen: Das Lied, aus drei Strophen bestehend, ist allein in der
Handschrift C überliefert und bildet den Anfang des Bernger-Corpus. Das
Text-Ich berichtet zunächst von Nachfragen des (fiktiven) Publikums, warum
es mit seinem Singen aufgehört habe (Si frâgent mich, war mir sî komen /
mîn sanc, des ich ê wîlent pflac, 1,1–2). Der Grund für das Verstummen des
Sängers ist dem Publikum nicht bekannt (1,3–4). Doch das Text-Ich bringt
Aufklärung: an mangelndem künstlerischen Geschick liege es nicht, sondern
Liebesleid zwinge ihn zu schweigen (1,5–8). Der Schmerz verhindert ein
weiteres Singen. In der zweiten Strophe wird die gegebene Erklärung weiter
ausgeführt: Kunde ich klagen mîn herzeleit / gelîch, als mir nâhe gât, / sô
wolde ich sagen ûf mînen eit, / daz nieman groezern kumber hât, / Noch niene
wart sô trûric man. / daz verswîge ich, als ich wol kan, / und klage ez den
gedanken mîn; / die lâze ich mit unmüezic sîn (2,1–8). Würde der über-
mächtige Liebesschmerz es zulassen, würde das Text-Ich gerne davon kün-
den, dass niemand größeres Leid erfahren habe, dass kein Mann jemals so
betrübt gewesen sei. Da die Worte ausbleiben müssten, vertraue er sein Leid
seinen Gedanken an. Diese sollten sich mit diesem Leid befassen. Doch das
Wort verswîgen (2,6) assoziiert eine weitere Begründung für das Verstummen
des Sängers: Zwar stünden ihm die geeigneten Worte zu Gebote (1,5: die
nötige kunst besitze er ja!), aber er müsse sein Leid verschweigen, weil es
vom Publikum ungerne aufgenommen würde. Deshalb wechselt das Text-Ich
in der dritten Strophe geradezu programmatisch wie abrupt zum Thema
vröide über: Ze der werlte ist wîp ein vröide grôz (3,1).
Berngers Lied MF 115,3 ist von einigen Unklarheiten, ja Widersprüchen
gekennzeichnet: Die Kunst des Sängers ist groß (1,5), doch das Liebesleid ist
noch größer (1.6–8; 2,1 f.). Deshalb vertraut das Text-Ich sein Leid allein
seinen Gedanken an. Im selben Augenblick aber teilt der reale Sänger diese
›Selbstaussage‹ des Text-Ichs in kunstvoller Form einem ›öffentlichen‹ Publi-
kum mit. Im Moment des Vortrags überlagern sich also textinterne und
textexterne Sprechsituation, d. h. das angeblich monologische Verstummen
und das Faktum des öffentlichen Sprechens. Eigentlich übersteigt das Leid
die Möglichkeiten der Sprache, doch gleichzeitig formuliert das Text-Ich
dieses Leid in kunstvollendeter Form. Infolge dieser Überlagerung stellt sich
bei den Rezipienten eine gewisse Unsicherheit ein, ob der Sänger deshalb
schweigt, weil er nicht singen kann, oder aber weil er in der Öffentlichkeit
nicht klagen darf.
145 Man darf nie vergessen, dass der reale Sänger ›Ich‹ sagt und dass dadurch
buchstäblich eine ›Attraktion‹ der Liedaussagen auf diesen Sänger hin erfolgt.
Vgl. auch oben Anm. 86.
146 Von sicherlich notwendigen Modifikationen sei hier einmal abgesehen.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 137

Was geschieht nun mit diesem »performativen Selbstwiderspruch« (J.-D.


Müller) in der Schriftlichkeit der Lyrikhandschriften? Zwei Aspekte scheinen
mir bedeutsam zu sein, die aber beide denselben Effekt haben: In der
schriftliterarischen Rezeption begegnet der einzelne Leser dem ›nicht-öffent-
lichen‹ Text-Ich und hält deshalb die Textaussage für eine ›private‹ Äuße-
rung, für ein schriftlich fixiertes Selbstgespräch des Autors. Der Leser wird
zum stillen Mitwisser der Innenwelt (den gedanken 2,7) des Autors. Der
spannungsvolle Widerspruch von ›innerem Monolog‹ und gleichzeitiger öf-
fentlicher Verlautbarung, wie er die Aufführungssituation bestimmt, ver-
schwindet. Dazu trägt auch der Zeitaspekt bei: die Gleichzeitigkeit zweier
konträrer Aussageebenen in der Aufführung weicht dem Nacheinander von
Niederschrift und Rezeption. Beim Rezipienten verdrängt die Zeitschiene
»früher (ist das Gedicht verfasst worden) – jetzt (lese ich es)« die Simultanei-
tät von Unvereinbarem in der Aufführung. Dem Leser kommt der Wider-
spruch von angeblichem Verschweigen und tatsächlichem Singen gar nicht
mehr in den Blick. Damit aber verliert Berngers Lied einiges von seiner
Artifizialität. Was das Problem der Authentizität und Glaubwürdigkeit an-
geht, so ruht die Beweislast in der Aufführungssituation ganz auf der Darstel-
lungskunst des vortragenden Sängers,147 in der schriftliterarischen Rezeption
hingegen auf der Autorität der Autor-Instanz.
b. Während beim Vortrag der reale Sänger – um seinem Publikum die
erwartete höfische Freude zu schenken – die Funktion des Sängers in den
Vordergrund rückte und das Verschweigen seines Liebesleids thematisierte,
verschiebt sich für den Leser der Lieder, aufgrund der Autorbilder, der
thematische Schwerpunkt: vom Sang auf die Liebe (Minnegespräch, Minne-
handlung, Minnebotschaft).
c. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Liedaussagen kann die Schrift-
lichkeit allerdings auch eine stützende Funktion übernehmen. Gemäß einer
im Mittelalter weitverbreiteten Auffassung stand die Schriftlichkeit (eines
Buches) für die Wahrheit des Inhalts. Die Schwierigkeit des Sängers beim
Liedvortrag, die Authentizität seiner Liebe zu versichern – weil das äußere
Gebaren der bloßen Behauptung widersprach (bzw. widersprechen musste)
und weil Worte als prinzipiell täuschungsfähig erkannt wurden –, löst sich
nun in gewisser Weise in der schriftlichen Version auf: die Schriftlichkeit
kann für Wahrhaftigkeit einstehen;148 der Autor kann die Rollenhaftigkeit des

147 Vgl. auch Müller, Selbstwiderspruch (Anm. 7), S. 392.


148 Es ließe sich folgern, dass es doch dann gar nicht der Inszenierung der Autorfigur
als einer Beglaubigungsinstanz bedurft hätte. Offensichtlich musste jedoch bei
den Texten, die so stark von einem ›Ich‹ geprägt waren, zusätzlich eine Referenz-
Person eingeführt werden. Die Schriftlichkeit allein reichte nicht aus; vgl. Huot,
From song (Anm. 30), S. 39 u. 47 f. (in Handschriften mit narrativen Texten
spielte das Autorbild keine so große Rolle). Vielleicht verleitete auch der hoch-
artifizielle Charakter der Minnekanzonen dazu, einen Autor als Schöpfer dieser
Texte festzuhalten.
138 Rüdiger Schnell

Liedvortrags überspringen und seine biographische Existenz in die Wag-


schale werfen.149
Die Besonderheit unseres Liedtyps 3 mit seiner widerspruchsvollen Bezie-
hung von Sängerrolle und Minnerrolle schlägt sich also in den Autorbildern
der Handschriften nicht nieder: Die spannungsvolle Auseinandersetzung von
Minner- und Sängerrolle beim Liedvortrag verwandelt sich – aufgrund der
Absenz eines Sängers – zu einem eindeutigen Übergewicht der Minnethema-
tik.150 Dass die Minnesang-Philologie des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem
den Aspekt der Liebe, weniger des Sanges thematisierte, ist wohl auch auf
dieses ›neue‹ Textverständnis der Handschriften zurückzuführen.
Eine zweite Art des Auseinandertretens von Minner- und Sängerrolle
ergibt sich dadurch, dass den beiden Rollen ein unterschiedlicher Realitäts-
status zugewiesen wird. Dabei zeigt sich die hochgradige Fiktionalisierung
der Minnerrolle.
Dass die Sängerrolle – infolge der möglichen Anschließbarkeit an den
tatsächlich vortragenden Sänger – weniger fiktiv-verdächtig bzw. weniger
anfällig für eine Fiktionalisierung war als die Minnerrolle, zeigt die letzte
Strophe eines Liedes, die in der Würzburger Handschrift (E) Walther von der
Vogelweide zugeschrieben wird (als Str. 19).151 Das Text-Ich agiert zunächst
in der Minnerrolle und Sängerrolle: es beklagt seinen Liebesschmerz, be-
grüßt es, wenn sich die Minnedame gegenüber anderen Verehrern ebenfalls
distanziert gibt. Die abschließende vierte Strophe lautet:
Tumbe luete nement mich besunder.
vnd fragent mich da bi.
wer sie si
rieten siez daz werde ein michel wunder.
wenne daz nie geschah.
des ich da iach.
mueget ir hoeren gemeliche mere.
gerne weste ich wer sie selbe were.152

149 Ich bin fast versucht zu behaupten, dass die Wahrheitsbeteuerungen im Minne-
sang und in der Trobadorlyrik nur deshalb so häufig sind, weil diese Lyrik
mündlich vorgetragen wurde. Die schriftliche Form besaß größere Autorität.
Insofern sprechen die zahlreichen Aufrichtigkeitsbeteuerungen für eine münd-
liche Performanz der Lieder. Doch muss ich zur Kenntnis nehmen, dass Wahr-
heitsbeteuerungen auch in zahlreichen Liebesbriefmustern des Mittelalters be-
gegnen.
150 Dieser anspruchsvolle Typ mit seinem Metadiskurs über die Authentizität des
Singens konnte auch schwerlich im Bild eingefangen werden.
151 Vgl. zuletzt Ursula Kocher, »›Unechte‹ Strophen in der Waltherüberlieferung und
das Problem der ›Zusatzstrophen‹ in der Würzburger Handschrift«, in: Artibus.
Festschrift Dieter Wuttke, hg. v. S. Füssel u. a., 1994, S. 47–62; Ingrid Bennewitz,
»›Eine Sammlung von Gemeinplätzen‹? Die Walther-Überlieferung der Hand-
schrift E«, in: »Dâ hoeret ouch geloube zuo«. Festschrift Günther Schweikle, hg.
v. R. Krohn, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 27–35.
152 Nach Bennewitz, Sammlung von Gemeinplätzen? (Anm. 151), S. 33.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 139

Diese Strophe enthüllt schonungslos den fiktiven Status der frouwe, damit
aber auch den fiktionalen Status der vorausgegangenen Aussagen zum ›eige-
nen‹ Liebesschmerz. Dies wiederum macht den fiktionalen Status der Min-
nerrolle, nicht der Sängerrolle, deutlich!153 Denn, mag das Text-Ich in seiner
Sängerrolle noch so unwahre Aussagen über Liebesschmerz, Frauenbekannt-
schaften und Liebeshoffnung machen, die Sängerrolle bleibt in ihrer Faktizi-
tät davon unberührt. Auch wenn alles, des ich da iach . . . nie geschah, so
bleibt die Tatsache, dass da eine Stimme war, die gesungen hat, davon
unberührt.154 Freilich macht die Fiktionalität der Minnerrolle auch den
Rollencharakter des textuellen Sänger-Ichs stärker bewusst, was wiederum
die Differenz zwischen realem Sänger und Sängerrolle verstärkt. Dennoch
bleibt ein wesentlicher Unterschied zwischen Minner- und Sängerrolle: Die
Minnerrolle existiert nur als Projektion der Sängerrolle, sie kann sich nicht
so ›realisieren‹ wie die Sängerrolle, die mit dem Singen real fassbar ist.155
Die Sängerrolle kann sich somit an den realen Sänger ›anlehnen‹ und so ihre
Authentizität bewahren.156 Mit der Aufdeckung der Minnerrolle als einer nur
gespielten Rolle treten die tatsächlich ausgeübte Sängerrolle und die ledig-
lich projizierte Minnerrolle auseinander. Identifikation mit dem realen Sän-
ger ist nur noch der Sängerrolle möglich, während die Minnerrolle zum
bloßen Hirngespinst degradiert wird. Die in zahlreichen anderen Liedern
aufrechterhaltene Fiktion, es gebe die in den Liedern gepriesene Dame, wird
hier zerstört.157
Dem provozierenden Hinterfragen des Realitätsstatus der besungenen
Dame begegnen wir in weiteren Liedern (Walther La 63,32; 98,26; Reinmar
MF 167,16; Veldeke MF 58,11): Der Sänger bzw. die Sängerrolle sieht sich
mit der Frage von Dritten konfrontiert, wer die von ihm umworbene Dame
sei bzw. welches Alter sie habe. Diese Fragen bewegen sich auf einem
schmalen Grad: Einerseits machen sie den fiktionalen Status der Dame –
damit auch der Minnerrolle! – bewusst; andererseits kann dieses Fragen nur
dann reizvoll sein, wenn auf seiten des (realen wie fiktiven) Publikums mit
der Möglichkeit gerechnet wurde, die im Lied besungene Dame gebe es

153 Während der Stricker in den Minnesängern das als fiktives Spiel verstandene
Minnelied als Realität ausgibt, macht (Ps.-)Walther die Minnerrolle als fiktives
Spiel bewusst.
154 Deshalb stoßen wir im Minnesang auf die Fiktionalisierung aller möglichen
Personen und Funktionen (frouwe, glücklicher Minner, Kreuzzugsfahrer, Bote,
Kaiser, alter Mann u. a.), ohne dass das Sänger-Ich in Zweifel gezogen wird.
Umgekehrt aber beeinflusst die Fiktionalisierung der Sängerrolle den ›Realitäts-
status‹ aller Aussagen eines Liedes.
155 Lienert, Hoerâ Walther, (Anm. 32), S. 122 bemerkt zu Recht, dass die Sänger-
rolle (die Lienert allerdings mit der Autorrolle gleichsetzt) keiner Echtheits-
beteuerungen bedarf.
156 Zu Recht bemerkt Bein, Singen über das Singen (Anm. 34), S. 85, dass die vierte
Strophe eher dem vortragenden Künstler als dem Minnenden zuzuweisen sei.
157 Haferland, Aufrichtigkeitsbeteuerungen (Anm. 17), S. 232–252, S. 248 f., be-
merkt, »Minnesang setzt die Existenz der Dame voraus«. Ich würde hinzufügen:
Ohne den Sänger bzw. die Sängerrolle gäbe es keinen Minnesang.
140 Rüdiger Schnell

tatsächlich. Spielen mit und Durchbrechen von Identifikationsmöglichkeiten,


Spielen mit und Durchbrechen von Fiktionen liegen nahe beieinander.
Ähnlich verhält es sich mit dem Motiv, dass sich der eigene Sohn oder ein
junger Mann eines Tages an der ungnädigen Dame rächen soll: Es suggeriert
mit der Biographisierung der Ich-Aussagen eine Identifikation von Sänger-
rolle und realem Sänger, durchbricht auch die Fiktionalitätskonvention, der
zufolge die Dame eine poetische Erfindung ist, will aber zugleich diese
Androhungen als Spiel verstanden wissen.158
Wie diese Textbeispiele von Lesern der Handschriften B und C aufgefasst
wurden, ist schwer zu sagen. Einerseits sind die Fiktionalitätssignale der
einschlägigen Strophen unübersehbar; andererseits ist zu vermuten, dass
solche Strophen – aufgrund der eindeutigen Vorherrschaft von Strophen, die
zur Identifikation von Autor und Text-Ich einladen – nicht als Durchbrechen
der Fiktionskonvention, sondern als Spiel mit dem für sicher geglaubten
Realitätsstatus der Dame aufgefasst wurden.159

Liedtyp 4: Text-Ich als Sänger (und ›Autor‹)160

Es hat den Anschein, dass die Sängerrolle vor allem im sog. klassischen
Minnesang mehr und mehr akzentuiert wird und dass sich mit dieser Demon-
stration der Sängerrolle ein zunehmendes Autorbewusstsein verbindet.161
Sänger und Autor rücken zusammen, so dass in einem eingeschränkten Sinne
hier schon von einer Entwicklung »Vom Sänger zum Autor« gesprochen
werden kann.162 Die Systematik der Textgruppierung ist durch eine dia-
chrone Sicht zu ergänzen.

158 Morungen 124,32; Walther La 73,22. Zur Grenzüberschreitung zwischen Realität


und Fiktion bei Reinmar 167,16 und Walther La 73,22 vgl. Cormeau, Minne und
Alter (Anm. 128), S. 156 f.
159 Da ich aus dieser Annahme kein Argument für den Status der Liedtypen 2, 4 und
5 ableite, handelt es sich hier nicht um einen Zirkelschluss.
160 Zum quantitativen Auftreten der »Selbstrepräsentation des Ichs als Sänger« vgl.
Knape, Rolle und lyrisches Ich (Anm. 2), S. 184.
161 Es ist denkbar, dass die deutschen Minnesänger in einer ersten Rezeptionsphase
der romanischen Lyrik vor allem an dem Thema Liebe interessiert waren und dass
erst in einer zweiten Phase das Reden über Liebe reflektiert und thematisiert
wurde und damit der Aspekt der Künstlerschaft immer wichtiger wurde.
(Vgl. jetzt auch Bernsen, Problematisierung [Anm. 20]). Dass bei der adaption
courtoise des höfischen Romans die deutschen Dichter zuweilen größeres Inte-
resse an der Didaxe als an einem Metadiskurs zeigten, ist bekannt. Vgl. Rüdiger
Schnell, Zum Verhältnis von hoch- und spätmittelalterlicher Literatur. Versuch
einer Kritik, Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 92), S. 97 f. u.
105ff.
162 Textbelege: u. a. Rugge MF 108,22 (es ist bezeichnend, dass dieses Lied in der
Hs. A Reinmar zugeschrieben wird; vgl. zu diesem Lied Jeffrey Ashcroft, »Wenn
unde wie man singen solte. Sängerpersona und Gattungsbewusstsein«, in: Wech-
selspiele (Anm. 6), S. 123–150); Reinmar 180,28; 184,31; 187,31; 189,5; 193,22;
Walther v. d. V. La 48,12 (47,36); 64,31; 66,21; 75,25; 110,27.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 141

In Liedern des späten Minnesangs163 verflüchtigt sich allerdings ein sol-


ches Autorbewusstsein wieder. Die Lieder, in denen die Aufgabe des Sän-
gers, Freude zu schenken, dominiert und die Minnerrolle ganz zurücktritt,
lassen Äußerungen eines Autorbewusstseins vermissen: Sie könnten von
jedem beliebigen fahrenden Sänger vorgetragen worden sein.164
Vom frühen zum hohen Minnesang hin scheint der Autor bzw. die Autor-
rolle stärker im Text-Ich verankert zu sein, ein funktionaler Austausch des
Autors durch einen beliebigen Sänger also nicht mehr ohne weiteres möglich
zu sein. Wir begegnen nun Liedern, in denen die Selbstinszenierung des
Sängers die Rolle des Minners fast verdrängt und in denen autorspezifische
Textmerkmale (z. B. Reinmars Klage-Stereotypien, Walthers Hinweis auf
langjähriges Singen, vgl. auch Neidharts Riuwentaler-Signum) ein gestiege-
nes Autorbewusstsein signalisieren.165 Diese Lieder konnten also nicht be-
liebig von Dritten gesungen werden.166 Hier war der Sänger zugleich der
Autor. Damit ergibt sich für uns die Notwendigkeit einer Differenzierung des
Autorbegriffs: Autorschaft ist nicht immer an Schriftlichkeit gebunden, doch
durch Verschriftlichung wird eine andere Art von Autorschaft begründet (vgl.
Abschnitt VI).
Wie steht es um die Referenzialisierung der Sängerrolle bzw. der Tätigkeit
des Singens, wie wir sie in diesem Liedtyp 4 antreffen, in der Schriftlichkeit?
Für diese Lieder mit der dominanten Sängerrolle und einer ausgeprägten
Autorrolle ändert sich beim Übergang von der Mündlichkeit zur Schrift-
lichkeit anscheinend kaum etwas167: In diesen Fällen war ja der Autor

163 Vor allem bei den Autoren in KLD.


164 Vgl. u. a. Kanzler, KLD 28, Nr. 12 u. 15 (es fehlt sogar ein ›Ich‹); Hug von
Mülndorf (KLD 26). Die These, dass auch den Liedern ohne grammatisches ›Ich‹
ein »extrem subjektiver Impetus« zugrundeliegen könne, vertritt Meyer, Objek-
tivierung (Anm. 17).
165 Müller, Ir sult sprechen (Anm. 7), S. 5, weist darauf hin, dass vor allem dort die
Grenze zwischen Autor- und Sänger-Ich verwischt wird, wo »das sprechende Ich
sich als Künstler, als Urheber des Liedes, selbst ins Spiel bringt« (z. B. bei
Walther, La 66, 21); vgl. auch Lienert, Hoerâ Walther (Anm. 32), S. 118ff.;
Bauschke, Die ›Reinmar-Lieder‹ Walthers (Anm. 92), bes. S. 288–292. Zu An-
sätzen eines Œuvrebewusstseins bei Reinmar, Walther und Neidhart vgl. auch
Wachinger, Liebeslieder (Anm. 55), S. 9; umfassend jetzt Hausmann, Reinmar
(Anm. 9).
166 Wachinger, Autorschaft (Anm. 30), S. 12, nimmt an, dass »schon beim Liedvor-
trag, auch beim Vortrag durch einen anderen, der Autor und sein Œuvre im
Bewusstsein des Publikums präsent waren«. Ich möchte dies nicht für alle
Minnelieder annehmen. Die bei den Trobadors verbreitete und explizit gemachte
Gewohnheit, einen Sänger mit dem Vortrag eines Liedes zu betrauen – eines
Liedes, das eindeutige ›Autor‹-Signale trug und bei dessen Aufführung die
Aussagen des Text-Ich eher auf den (abwesenden) Autor als auf den vortragenden
Sänger bezogen wurden –, können wir im deutschen Minnesang so nicht nach-
weisen.
167 Hierfür trifft zu, was Hausmann, Reinmar (Anm. 9), S. 32, generell meint: die
Autorbilder erfüllten »prinzipiell dieselbe Funktion wie ein körperhaft anwe-
sender Autor«: Sie bieten dem Rezipienten ein Referenzangebot für seine Vor-
stellung vom Autor. Dennoch meine ich, dass mit der Funktion allein die
(unterschiedlichen) Rezeptionsvorgänge nicht hinreichend erfasst sind.
142 Rüdiger Schnell

beim Vortrag im Sänger ›enthalten‹. Die Autorenbilder setzen lediglich um,


was in diesen Liedern bereits angelegt war: die Identität von Sänger und
Autor(rolle).168 Und dennoch verändert sich Wesentliches: In der Aufführung
tritt der Autor zugleich als Sänger in Erscheinung, in der schriftliterarischen
Rezeption dominiert der Autor als Produzent von Texten. Insofern verlagert
sich auch hier die Referenz einer Liedaussage: vom Sänger-Autor zum
Autor.169
Vielleicht hat dieser Liedtyp – in dem Sängerrolle und Autorschaft eng
verbunden waren, der aber erst im hohen Minnesang an Gewicht gewann –
das Entstehen der Autor-Vorstellung, wie sie sich in den Handschriften B und
C niedergeschlagen hat, wesentlich gefördert und damit schließlich das Bild
der Minnesang-Philologie des 19./20. Jhs. vom Minnesang überhaupt ge-
prägt. Außer Acht gelassen wurden dabei jedoch die Entwicklungen inner-
halb des deutschen Minnesangs und die Tatsache, dass auch bei Reinmar und
Walther nicht alle Lieder ein deutliches Autorprofil erkennen lassen.170

Liedtyp 5: Text-Ich fungiert vor allem als Minner

Es ließe sich einwenden, dass es eine so definierte Textgruppe gar nicht gebe,
da jedes Text-Ich in einem Minnelied, auch wenn es nur von Liebe singe,
infolge des öffentlichen Vortrags in einer Sängerrolle fungiere.171 Doch geht
es mir hier um die Abgrenzung unterschiedlicher thematischer Dominanzen
auf Text-Ebene: ob das Text-Ich eher die Minnerolle oder die Sängerrolle
spielt. Diese thematischen Akzentuierungen werden die schriftliterarische
Rezeption auf je unterschiedliche Weise bestimmen.172

168 In der Trobadorlyrik scheint die Autorrolle expliziter als im deutschen Minnesang
den einzelnen Liedern eingeschrieben zu sein (vgl. auch oben Anm. 43); vgl. Kay,
La notion (Anm. 142), S. 172–174; Bernsen, Problematisierung (Anm. 20). Mir
ergibt sich der Eindruck, dass in der Trobadorlyrik eher die Autor-/Sängerrolle,
im deutschen Minnesang (zunächst) eher die Minnerrolle akzentuiert wurde. Vgl.
auch oben S. 107ff.
169 Allerdings scheinen noch um 1400 beide Figurationen nebeneinander zu exis-
tieren: in der Überlieferung wird Hugo von Montfort als »schriftlicher Autor«
fixiert, Oswald von Wolkenstein hingegen als »Sänger-Autor«. Vgl. dazu Spicker,
Singen und Sammeln (Anm. 56).
170 Hausmann, Reinmar (Anm. 9), untersucht nur einige ausgewählte Texte. Es ist im
übrigen nicht auszuschließen, dass sich erst mit dem Prozess der Niederschrift in
den Sammelhandschriften die Vorstellungen von einem ›Autor‹ verfestigten oder
aber veränderten. Für Hausmann scheint eine solche Möglichkeit nicht zu exis-
tieren.
171 Berücksichtigt man überdies die Tatsache, dass für jedes Lied ein neuer Ton
gefunden werden musste und somit jedes Lied eine neue Einheit von Minner- und
Sängerrolle präsentierte (vgl. Worstbrock, Überlieferungsrang [Anm. 80]), dann
wird die Separierung eines solchen Liedtyps auf Skepsis stoßen.
172 Eifler, Liebe (Anm. 16), S. 12, verkennt die Vielfalt der Ich-Rollen, wenn er
meint, »dass die Selbstauslegung des lyrischen Ichs als Sänger konstitutiv ist für
den Minnesang«. Es gibt eben noch andere Selbstdarstellungen des Text-Ichs. Vor
allem aber wird seine These den Entwicklungen vom frühen zum hohen Minne-
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 143

Wenn das Text-Ich beim Liedvortrag ›lediglich‹ das Thema Minne diskur-
siviert,173 ergibt sich eine größere Distanz zum realen Sänger als in den
Liedern, in denen sich im Text-Ich Minnerrolle und Sangesthematik ver-
binden. Der fiktionale Status der Minnerrolle verstärkt sich also. In der
schriftliterarischen Rezeption jedoch verschwindet diese Diskrepanz zwi-
schen Sänger und Minnerrolle, weil die ›vor-zeigende‹ Instanz des realen
Sängers fehlt. Damit verschwindet auch die Fiktionalität der Liebeswerbung:
Nun erscheinen die Werbungsaussagen als authentische Äußerungen des
(liebenden bzw. verliebten) Dichters, so wie es die Vidas unterstellen. An die
Stelle der Grenze zwischen vortragendem Sänger und liebendem Text-Ich
tritt nun die Identifikation von Autor und liebendem Text-Ich. Dies nenne ich
eine Nivellierung von Rollen und Instanzen. Für diesen Liedtyp wird man
wohl kaum eine ›Gleichwertigkeit‹ von Aufführung und schriftgebundener
Rezeption behaupten können.174

VI Aufführungssituation und schriftliterarische Rezeption:


ein Resümee

In den vorangegangenen Abschnitten wurde als eine der Konsequenzen der


Schriftlichkeit vor allem diese eine Tendenz herausgearbeitet: das Verdrängen
des Sängers durch den Autor. Abschließend soll diese Tendenz mit einer
ganzen Reihe weiterer Konsequenzen der Verschriftlichung zusammenge-
sehen werden. Diese anderen Aspekte in den Blick zu nehmen, drängt sich
insbesonders beim Liedtyp 4 auf. Wenn dort infolge eines bereits in den
vorgetragenen Liedern artikulierten Autorbewusstseins die Entwicklung
»Vom Sänger zum Autor« weniger erkennbar ist, so wirkt sich doch der
Wechsel von der ›Aufführung‹ zur ›Schrift‹ auch dort aus, indem er den
Autorstatus des sein eigenes Lied vortragenden Sänger-Autors verändert.
1. Rezeptionsmodus und Identifikation: Die beim Vortrag durch Vokalität,
Mimik und Gestik vermittelten Lieder entbehren bei der Lektüre einer
Deutung durch eine ›Mittelsperson‹.175 Der ›Vor-zeige-Gestus‹ des Vortrags,
der ein Spiel mit Fiktion und Identifikation inszeniert, weicht der unmittel-
baren schriftlichen Darbietung eines Textes. Der (mögliche) fiktionale Status

sang nicht gerecht. Nach Axel Eisbrenner, ›Minne, diu der werlde ir vröude
mêret.‹ Untersuchungen zum Handlungsaufbau und zur Rollengestaltung in aus-
gewählten Werbungsliedern aus ›Des Minnesangs Frühling‹, Stuttgart 1995,
S. 23, thematisieren die allermeisten Liebeslieder nur die Minnebeziehung.
173 Belege u. a.: Hausen MF 50,19; Rudolf von Fenis MF 82,26; Morungen MF
124,32; 125,19; 126,8; 141,37; Reinmar MF 176,5; 179,3; 182,14; 183,33;
190,27; 191,7; 194,18; 198,28; 197,15; ebenso alle Frauenlieder.
174 Zu Recht macht Müller, Ritual (Anm. 18), S. 55ff., darauf aufmerksam, dass bei
Neidhart die Sprecherrolle so spezifiziert werde, dass sie als eine fiktive er-
scheint und nicht mehr mit dem vortragenden Sänger identifiziert werden kann.
175 Dass Sänger eine Kontrolle haben »über den Sinn, den Hörer, Zuschauer und
Mitspieler den Texten zuordnen«, betont Strohschneider, Aufführungssituation
(Anm. 25), S. 62. In der Diskussion machte Sarah Kay zu Recht darauf aufmerk-
144 Rüdiger Schnell

einer Liedaussage wird nicht mehr durch einen vortragenden Sänger kennt-
lich gemacht, sondern muss nun vom Rezipienten erschlossen werden. Dass
diese Arbeit nicht geleistet wurde, hat die Minnesang-Forschung bis ins
20. Jh. beeinträchtigt: Das Text-Ich wurde mit dem Autor gleichgesetzt. Aus
einem Spiel mit Fiktion und Identifikation blieb nur noch übrig Identifika-
tion, die Gleichsetzung von Liedaussage und erlebter Wirklichkeit, von Text-
Ich und Autor.176 Damit aber verlor der Text seine Ambivalenz zwischen
erlebter und fingierter Rede.
2. Konstitution der Autor-Instanz: An die Stelle des Sängers, der die
Aufführung dominierte, tritt nun (verstärkt) eine Autorinstanz, die als Text-
produzent vorgestellt wird. In der Verschriftlichung verlieren die zahlreichen
Ich-Aussagen eines Liedes zunächst die Referenz, den Körper (des Sängers),
auf den sie sich beziehen konnten. Deshalb musste in den Handschriften eine
neue Referenz, eine neue Beglaubigungsinstanz aufgebaut werden: die Auto-
rinstanz. Damit verschiebt sich der Referenzpunkt für die Liedaussagen vom
Sänger zum Autor, zugleich von der Aktion zur Illustration. Denn die
sichtbare Vorbildlichkeit der beim Vortrag vorgeführten Minner-Rolle wird
nun von den Autorbildern übernommen. Doch die Körperlichkeit des Sän-
gers weicht der Fläche des Autorbildes.
Da der Autor-Instanz in den Handschriften die körperliche Präsenz als
Beglaubigungsmittel abgeht, muss die Autorinstanz mit Hilfe von Wappen,
Namensnennung und Bildmaterial verstärkt werden. Diese ›Biographisie-
rung‹ wiederum stützt die Authentizität der Liedaussagen. Die Glaubwürdig-
keit der Aussagen des Text-Ichs verbürgt nun nicht mehr der Sänger, sondern
der Autor: das Sänger-Ich wird zum Autor-Ich.
3. ›Ich-Aussage‹ und ›Er-Bezug‹: Damit verändert sich allerdings die
Relation von Text und Referenzsubjekt: Während beim Vortrag das Text-Ich
und der reale Sänger eine ganz enge Verbindung eingehen, steht in den
Lyrikhandschriften der ›Autor‹ gleichsam neben seinem Text. Text und Autor
verweisen aufeinander, gehen aber nicht ineinander auf. Überspitzt könnte
man sagen, der ›Ich-Text‹ des Sängers werde in einer ›Er-Perspektive‹
vorgestellt. In französischen Liederhandschriften sind Autorcorpora öfter mit
der Rubrik »Dies sind die Lieder des Dichters xy« oder »Der Sänger/Dichter
xy hat diese Lieder verfasst« (vergleichbar den Autorbildern) überschrieben.
Damit aber wird für das ›lyrische Ich‹ eine Art von 3. Person-Referenz
konstituiert.177 Der Rezipient selbst nimmt den Bezug der Liedaussagen auf
die Autorfigur vor; der Sänger beim Vortrag hingegen lässt Text-Ich und
Sprecher in eins zusammenfallen. Nur in den Fällen, in denen ein Sänger
sam, dass das Ich eines Liedes nicht nur auf etwas ausserhalb des Liedes referiert,
sondern dass sich dieses Ich selbst erst in der Performanz hervorbringt. Diese
semantische ›Auffüllung‹ des Lied-Ichs ist freilich auch von der Gestik und
Mimik des vortragenden Sängers abhängig.
176 Die Fiktionalität der Werbungsrede entfällt, weil die spannungsvolle Diskrepanz
zwischen Text-Ich und realem Sänger fehlt. Die Texte gelten nun als ›Bekennt-
nisse‹ des Autors.
177 Zur Verwandlung der Ich-Perspektive in Narrativik vgl. Huot, From song (Anm.
30), S. 78 u. 84 f.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 145

erklärtermaßen das Lied eines anderen Autors vortrug, ergab sich eine
ähnliche Konstellation wie in den Lyrikhandschriften: Text-Ich und Referenz-
person treten auseinander. Wenn auch im vorangegangenen Beitrag stets die
Identifikation von Text-Ich und Autorfigur in den Handschriften B bzw. C
betont wurde, so darf doch diese Form der Identifikation nicht mit der
(möglichen) Identifikation von Text-Ich und vortragendem Sänger verwech-
selt werden: Vielleicht lassen sich die beiden als ›verweisend-repräsentative‹
und ›unmittelbar präsente‹ Identifikation auseinanderhalten.
4. Minner/Sänger-Relation: Das Verschwinden des Aufführungsmotivs in
den Autorbildern und das Fehlen eines realen Sängers einerseits, die Häufig-
keit von Bildszenen mit Minnethematik andererseits führen dazu, dass das
Text-Ich der Lieder vor allem als Liebender erscheint. Der Sänger-Status
verliert an Bedeutung. Das Text-Ich reduziert sich weitgehend auf die
Minnerrolle. Doch für die Lieder mit ausgeprägter Selbstthematisierung des
Sängers/Autors – also dort, wo Autor- und Sängerrolle sich eng verbanden –
ist die Transformation weniger gravierend. Freilich, die Stelle des Autor-
Sängers nimmt nun der Autor als Textproduzent ein.
5. Gegenwart und Vergangenheit: Mit dem Moment des Liedvortrags
verschwindet auch die Vergegenwärtigung der Minnerrolle. An ihre Stelle
tritt die Lektüre von vergangenen Liebeskonstellationen. Aus der (simulier-
ten) Gegenwart von Liebe wird erinnerte Vergangenheit.178 Die Werbung
vollzieht sich nicht mehr im Lied, sondern das Lied erinnert lediglich noch
an sie. Während in der Aufführungssituation die Liebesklagen und Liebes-
hoffnungen des Text-Ichs einen Zeithorizont von der Vergangenheit bis in die
Zukunft eröffneten, reduziert sich die zeitliche Dimension der schriftlichen
Liedaussagen auf die Vergangenheit: Hier wird von Vergangenem berichtet.
Mit dieser ›Historisierung‹ des klassischen Minnesangs in den Handschriften
B und C korrespondiert die Tendenz zur Episierung und Biographisierung bei
zahlreichen spätmittelalterlichen Autoren (Ulrich von Liechtenstein, Had-
laub, Oswald von Wolkenstein).179
Die Vorbildlichkeit der Minnehaltung des Sängers war auf den Augenblick
des Liedvortrags beschränkt. In der schriftlichen Präsentation lagert sich die
an den Texten ablesbare Vorbildlichkeit an die biographische Person des
Autors an. Die Vorbildlichkeit des Minnehandelns scheint nun das ganze
Leben des Autors durchzogen zu haben, auch die Zeitspanne zwischen den
einzelnen Sängerauftritten. So konnten die Lieder als Teil einer Vita ver-
standen werden (vgl. auch Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst). Während
die Vita des realen Sängers und das fiktive Text-Ich meist separat nebenein-
ander standen, ein getrenntes Dasein führten, verbinden sich in der Autor-
Instanz der Handschrift Vita und Text. Der Sänger genoss momentane Autori-

178 Im klassischen Minnesang sticht der Liedtyp Tagelied schon dadurch heraus, dass
er als einziger ebenfalls ›erinnerte Erfahrung‹ darstellt.
179 Gerade Oswald scheint viele Lieder auf eine schriftliterarische Rezeption hin
verfasst zu haben. Treffend formuliert Müller, Ritual (Anm. 18), S. 69, zu
Hadlaub: das »Ritual höfischer Minnewerbung [. . .] gerät ins Präteritum. Es wird
als vergangenes Geschehen erzählt«.
146 Rüdiger Schnell

tät, beim Autor ist es das ›Lebens-Werk‹ – dokumentiert in den Bildern –,


das Autorität erlangt.180
Mit dieser Anbindung der Liedaussage an die Vita des Autors verliert aber
das Text-Ich die im Moment der Aufführungssituation gegebene Möglichkeit,
Identifikationsfigur für das Publikum zu sein. Für die Leser bzw. Schreiber
der spätmittelalterlichen Liederhandschriften steht das Text-Ich für eine per-
sönlich-individuelle Liebeserfahrung, zu der man sich zwar mitfühlend äu-
ßern kann, die aber eben Teil der Biographie eines anderen, nicht der eigenen
ist.181
6. Öffentlichkeit und Privatheit:182 Auch wenn für den klassischen Minne-
sang vereinzelt schon ›private‹ Lektüre angenommen werden kann bzw.
muss, setze ich die Aufführung der Lieder vor einer mehr oder weniger
großen Gruppe von Hörern in der Öffentlichkeit als die vorherrschende
Rezeptionsweise voraus. In der Minnesang-Forschung wird der Reiz der
Lieder meist gerade darin gesehen, dass das Sprechen zur bzw. über die
Dame und das Sprechen zum Publikum synchron abläuft, das öffentliche und
das private Sprechen also miteinander verschlungen sind. Aber Öffentlichkeit
wird durch das Dasein von Hörern hergestellt. Die Rezipienten der Lie-
derhandschriften jedoch bilden keine Öffentlichkeit. Sie werden, als Einzel-
personen, in den schriftlich fixierten Minneliedern vermutlich vor allem das
Sprechen zur Dame wahrgenommen haben. Diese Vermutung wird durch das
Vorherrschen von Minneszenen auf den Autorenbildern gestützt, wird weiter-
hin gestützt durch die Tendenz spätmittelalterlicher Liebesdichtung, die In-
stanz der Gesellschaft als Adressatin der Rede aus dem Diskurs über Liebe
herauszunehmen.183 Als Bestätigung darf man auch den Befund werten, dass
in der Handschrift C nur Sangspruchdichter, nicht aber Minnesänger in einer
Aufführungssituation abgebildet sind. Damit ergibt sich eine komplexe Kon-
stellation: Im Sangspruch wird Rede nicht als fiktionale, sondern als au-
thentische inszeniert;184 Sangspruchdichter argumentieren mit der Identität
von anwesendem Sprecher und Text-Ich,185 was dann auch zur Folge haben
kann, dass Sangspruchdichter wegen angeblicher Diskrepanz von vita und
verbum von Sängerkollegen oder von Geistlichen verbal angegriffen wur-
den.186 Auf den Autorbildern der Handschrift C werden nun die Sangspruch-
dichter eben in dieser unmittelbaren Vermittlung von Lehre an Zuhörer
gezeigt. Das authentische Sprechen der Spruchdichter wird authentisch ge-

180 Dadurch wiederum wird Vergangenheit vergegenwärtigt.


181 Vgl. die Beischriften in der Haager Liederhandschrift; einige aufgeführt bei
Tervooren, Die Haager Liederhandschrift (Anm. 32), S. 197 Anm. 20.
182 Die Problematik dieser Begriffe muss hier nicht erörtert werden.
183 So Müller, Ritual (Anm. 18), S. 73 zu Hadlaubs Lied SMS 30, Nr. 8.
184 Hausmann, Reinmar (Anm. 9), S. 128. Dieser Unterschied bleibt außer Betracht
bei Obermaier, Möglichkeiten und Grenzen (Anm. 102), bes. S. 26ff.
185 Müller, Ir sult sprechen willekomen (Anm. 7), S. 16.
186 Hannes Kästner, »Sermo Vulgaris oder Höfischer Sanc. Der Wettstreit zwischen
Mendikantenpredigern und Wanderdichtern um die Gunst des Laienpublikums
und seine Folgen für die mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahr-
hunderts«, in: Wechselspiele (Anm. 6), S. 209–242.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 147

zeigt. Das als Rollenspiel inszenierte Sprechen des Minnesängers als eines
Liebenden wird hingegen seines fiktionalen Status entkleidet und als ›Reali-
tät‹ verstanden. Somit verschärft sich der Gegensatz zwischen dem öffentlich
auftretenden Spruchdichter und dem im privat-intimen Raum verkehrenden
Minnesänger.
7. Didaktisierung: Mit der Transformation von der momentanen Vorbild-
lichkeit der Sängerrolle hin zur schriftlich fixierten und damit kontinuierli-
chen Vorbildlichkeit des Autors in den Handschriften wächst den Liedinhal-
ten eine stärkere didaktische Funktion zu: Sie gerinnen zur ›Lehre‹. Deshalb
lobt Hugo von Trimberg die Minnesänger (Walther von der Vogelweide,
Heinrich von Morungen, Reinmar, Gottfried von Neifen u. a.): In ihren
Liedern finde man tugent, zuht und êre, / Hübscheit der werlde und ouch die
lêre, / Von der sîn leben wird genême / Und selten ieman widerzême.187 Die
Liedaussage gewinnt über den Augenblick des Liedvortrags hinaus einen
Status an Vorbildhaftigkeit, löst sich somit von der Einzelsituation der
Aufführung. Diese Entwicklung verdankt sich sicherlich auch der Tatsache,
dass die Einzellieder zu Autorensammlungen geordnet werden und schließ-
lich buchliterarischen Charakter annehmen.188 Mit der Verschriftlichung er-
höht sich der didaktische Anspruch der Lieder.
Ein didaktisches Verständnis des verschriftlichten Minnesangs lässt sich
auch daran ablesen, dass sowohl die Handschrift B wie die Handschrift C
eine Überlieferungssymbiose mit didaktischen Dichtungen eingehen (Wins-
becke, Winsbeckin [beide in B und C], ›Konstanzer Minnelehre‹ [nur in B],
›König von Tirol‹ [nur in C]).189
Schließlich scheint der Tendenz zur Didaktisierung der überlieferten Lie-
der eine Didaktisierung in der Liedproduktion des Spätmittelalters zu ent-
sprechen,190 die sich etwa in einer pauschalen, nicht an ein ›Ich‹ gebundenen
Frauenverehrung äußert.191 Mit der Verallgemeinerung einer Liedaussage
stellt sich eine didaktische Funktion dieser Aussage ein. Dass zu dieser

187 Der Renner von Hugo von Trimberg, hg. v. Gustav Ehrismann, Mit einem
Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Berlin 1970 (Deutsche
Neudrucke), Bd. I, Vv. 1179–1244 (Zitat Vv. 1239–42).
188 Hadlaub (SMS 30), Nr. 8, Str. 1,3–6 spricht davon, dass man nirgends so viele
Liebeslieder an buochen finde wie in Zürich und dass Manesse nun diu lie-
derbuoch besitze.
189 Zu einer ähnlichen, auf Tugendlehre angelegten Überlieferungsgemeinschaft in
der Haager Liederhandschrift (ca. 1400) vgl. Tervooren, Die Haager Liederhand-
schrift (Anm. 32), S. 193. Auch in der Autorhandschrift Hugos von Montfort
stehen Lieder zwischen Minnereden und Briefen.
190 Jacqueline Cerquiglini, »Le lyrisme en mouvement«, Perspectives médiévales 6,
1980, S. 75–86, nennt die Didaktisierung als ein wesentliches Merkmal der Lyrik
des 14./15.Jhs.
191 Nicht nur in der Spruchdichtung, sondern auch im Minnesang begegnet immer
öfter der Preis aller Frauen: Rumelant von Sachsen (vgl. dazu Peter Kern,
»Rumelant von Sachsen«, in: VL2, 8, 1992, Sp. 382–388, Sp. 385); Hadlaub, hg. v.
Max Schiendorfer, Zürich/München 1986, Nr. 11, 52, 53 u. ö.; Gotfrit von Neifen
(KLD 15, I, XXII, XXV u. ö.); Rubin (KLD 47, XVIII); Rudolf von Rotenburg
(KLD 49, Nr. 13); Walther von Klingen (SMS, Nr. 5, Lied 8). Vgl. auch Ingrid
148 Rüdiger Schnell

Entwicklung auch die Annäherung von Sangspruchdichtung und Minnesang


seit Walther von der Vogelweide beigetragen hat, ist zu vermuten.
8. Forschungssituation: Wer es heute wagt, über die Implikationen der
›Aufführungssituation‹ für das Verständnis eines Minneliedes nachzudenken,
sieht sich erheblicher Kritik ausgesetzt. Doch wird bei dieser Kritik über-
sehen, dass es auch notwendig wäre, die Implikationen von Schriftlichkeit zu
bedenken. Wer meint, auf der ›sicheren Seite‹ zu sein, weil er die Texte so,
wie sie überliefert sind, interpretiert und auf jegliche Spekulationen über
mündliche Vorstufen verzichtet, reduziert seinen Forschungsgegenstand un-
zulässig: Sein eigentliches Profil gewinnt der mittelalterliche Minnesang
erst, wenn die verschrifteten Texte als Zeugnisse von Schriftlichkeit ernst-
genommen werden. Dies erfordert aber eine Kontrastierung der Texte in
ihrem (mutmaßlichen) mündlichen wie in ihrem schriftlichen Zustand.192
Dann wird sich zeigen, dass es – angesichts der Tatsache, dass Mündlichkeit
und Schriftlichkeit immer nur als Differenz und in ihrer Differenz be-
schrieben werden können – ebenso brisant und riskant ist, die Konsequenzen
von Schriftlichkeit im deutschen Minnesang einfach auszuklammern, wie es
riskant ist, Aufführung als Interpretament einzusetzen. Es sollte die Möglich-
keit genutzt werden, durch die Reflexion auf die Folgen von Schriftlichkeit
des Minnesangs manch neue Einsicht in die Konsequenzen der Mündlichkeit
dieser literarischen Gattung zu erlangen.193 So betritt man gleichsam durch
die Hintertür (der Schriftlichkeit) einen zentralen Gegenstandsbereich der
neueren mediävistischen orality-Forschung: In welcher Weise haben im Mit-

Kasten, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert: zur


Entwicklung und Adaptation eines literarischen Konzepts,, Heidelberg 1986
(GRM, Beiheft 5), S. 268; Horst Brunner, »Reinhard von Westerburg. Ob ich
durch si den hals zubreche«, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, hg. v.
H. Tervooren, Stuttgart 1993, S. 216–227. Über die Veränderungen des Frauen-
preises im Minnesang nach Walther informiert jetzt eingehend Hübner, Frauen-
preis (Anm. 19).
192 Deshalb halte ich es für methodisch fragwürdig, von der Textgestaltung in den
Lyrikhandschriften ohne weiteres auf die Art der Rezeption der mündlich vorge-
tragenen Lieder zu schließen: Schilling, Minnesang als Gesellschaftskunst (Anm.
6), S. 107 f., argumentiert mit den Autorbildern der Manessischen Handschrift
gegen eine ausschließliche Deutung des Minnesangs als Rollenlyrik. Da die
zahlreichen Autorenbilder »ein wörtliches und biographisches Verständnis der
Lieder« vorführten, sei anzunehmen, dass der Minnesang im 12./13. Jh. »als
Ausdruck erlebter Gefühle angesehen wurde« (ähnlich S. 119 f. in der Diskus-
sion). Bei dieser Argumentation werden die (möglichen) Implikationen des Medi-
enwechsels geflissentlich übersehen. Schweikle, Minnesang (Anm. 6), S. 51,
schließt aus der Tatsache, dass auf Miniaturen der Handschrift C Briefe oder
Blätter (von den Minnesängern) überreicht werden, auf den Minnesang als
Leselyrik. Doch wäre erst zu fragen, ob sich nicht infolge der Verschriftlichung
das Verständnis bzw. die Rezeption von Minneliedern verändert hat. Auch Müller,
Selbstwiderspruch (Anm. 7), S. 401, zieht die Bilder der Manessischen Hand-
schrift für seine Deutung des klassischen Minnesangs heran.
193 So wird man bei all den Strophen, deren schriftlicher ›Aggregatzustand‹ eine
Bestimmung als Mannes- oder Frauenstrophe offen lässt (z. B. MF 5,7; 7,9; 8,33;
60,13; 91,29), als Verständnishilfe die Aufführung bemühen müssen.
Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs 149

telalter körperliche Präsenz, visuelle Kommunikation, mündlicher Vortrag


und das Spiel mit Fiktionalität und Authentizität das Verständnis des einzel-
nen Minneliedes bestimmt? Umgekehrt ermöglicht eine Beschäftigung mit
den schriftlich fixierten Autorensammlungen des 13. und 14. Jahrhunderts,
die Vorannahmen der Minnesang-Forschung des 19. und 20. Jhs. deutlicher
zu fassen und somit deren Thesenbildungen besser zu verstehen.
Vom diener der ewigen wisheit zum Autor
Heinrich Seuse
Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten
Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses
›Exemplar‹*

Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler (Köln)

Mit »Mystische Poesie« hat Walter Muschg das Kapitel über den Dominika-
ner Heinrich Seuse (vermutlich: 1293 oder 1295–1366) in seiner Darstellung
der »Mystik in der Schweiz 1200–1500« überschrieben.1 Neben einer, immer
einmal wieder gern zitierten, Polemik gegen die Schriften, die als solche
Seuses gelten, finden sich hier auch in einiger Klarheit die Probleme be-
nannt, die den Zusammenhang von Person, Lebenszeit und Lebensgang,
Name, Verfasserschaft, Struktur und Datierung seiner Schriften beleuchten.
Die »einzige sichere Nachricht aus seinem Leben« seien das Datum und der
Ort seines Todes: der 25. Januar 1366 im Dominikanerkloster zu Ulm. »Von
seinen Predigten« hingegen, »die er auf Reisen in Klöstern und vor dem Volk
gehalten haben mag, ist fast nichts übrig geblieben. Es werden ihm vier
zugeschrieben, von diesen sind aber mindestens zwei von höchst fragwürdi-
ger Echtheit. Auch an seinem berühmtesten Traktat, dem ›Büchlein der
ewigen Weisheit‹ [Bdew], haftet der Argwohn nachträglicher Entstellung.
Das ihm zugeschriebene ›Minnebüchlein‹ stammt kaum von ihm. Die zwei
Sammlungen seiner Briefe, eine größere und eine kleinere, vor allem aber
seine Autobiographie sind mit einem heftig umstrittenen Geheimnis umge-
ben. Diese Vita, sein umfangreichstes Werk, ist durch Zusammenarbeit
mehrerer entstanden, deren Anteile nicht mehr ausgeschieden werden kön-
nen. Das Bild Seuses wurde der Nachwelt noch dadurch verschoben, daß
man ihm immer neue Werke zuschrieb. […] Es ist unleugbar, daß er durch
Jahrhunderte ein Gegenstand der Legendenbildung war, und die Grenze, bis
zu welcher die Kritik an seinem Werk zu gehen hat, steht noch nicht
unverrückbar fest.«2 – Das ›Büchlein der Wahrheit‹ [Bdw] sei »die einzige
rein spekulative Schrift von seiner Hand, die einzige auch, die gegen jeden

* Zitate aus den deutschen Schriften Seuses nach: Heinrich Seuse, Deutsche
Schriften […], hg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Unv. Nachdruck Frankfurt a.
M. 1961), zitiert: DS. Zitate aus dem ›Horologium‹ nach: Heinrich Seuses Horolo-
gium Sapientiae, [hg.] v. Pius Künzle OP, Freiburg Schweiz 1977, zitiert: Hor.
1 Walter Muschg, Die Mystik in der Schweiz, Frauenfeld/Leipzig 1935, S. 242–279.
2 Ebd., S. 244 f.
Autorschaft und Medienwandel 151

Verdacht der Unechtheit geschützt ist.« Vom Bdew habe Seuse eine »abge-
änderte lateinische Fassung«, das ›Horologium sapientiae‹ hergestellt.3
In der Einleitung zur Neu-Edition des ›Büchleins der Wahrheit‹ von Loris
Sturlese und Rüdiger Blumrich versuchen die beiden Editoren, das Problem
der Unterscheidung von belegbaren und allenfalls »wahrscheinlichen« bio-
graphischen Daten durch die Differenzierung verschiedener Schrifttypen zu
verdeutlichen: »Gesicherte Daten sind geradstehend gesetzt; die kursiv ge-
setzten Daten, welche aus Seuses Werken erschlossen sind, erheben nur
Anspruch auf Wahrscheinlichkeit.«4 Danach sind allein zwei Daten recte
gesetzt und damit in diesem Sinne »gesichert« nämlich
1. »zw. 1334 und 1339 Abfassung des ›Horologium sapientiae‹« – be-
gründet damit, dass das Werk »ein Zitat aus einem Rundbrief vom Dominika-
nergeneral Hugo von Vaucemain aus dem Jahr 1333« enthält und »im Jahr
1339 in einem Brief Heinrichs von Nördlingen« erwähnt wird5 und
2. »1366 Jan. 25, Ulm Heinrich Seuse stirbt«.
Alle anderen Daten sind kursiv gesetzt, nämlich: »um 1295, Konstanz
Heinrich Seuse wird geboren; um 1308 Eintritt in den Dominikanerorden;
vor 1326, Köln Theologiestudent an der Ordensuniversität, Studium bei
Meister Eckhart; um 1327, Konstanz Konventslektor; nach 1329 Abfassung
des ›Buchs der Wahrheit‹; um 1332 Amtsenthebung, Abfassung des ›Buchs
der ewigen Weisheit‹; um 1348 Wahl zum Prior des Konvents Konstanz; nach
1362 [?] nach Ulm versetzt, Abfassung der ›Vita‹, Herstellung des ›Exem-
plars‹«. Alle diese Daten sind demnach »aus Seuses Werken erschlossen«.
Dass es Unsicherheiten darüber gibt, welche Werke und welcher Art »Seuses
Werke« seien und dass auch unterschiedliche Auffassungen über einzelne
hier genannte und eventuell mögliche weitere Daten und Werke und Seuses
Anteil an ihnen bestehen, wie man den einschlägigen biographischen Über-
sichten entnehmen kann,6 darüber gibt dieser »biographische Überblick«
verständlicherweise keine Auskunft.

3 Ebd., S. 243 f., S. 248.


4 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Daz buchli der warheit, kritisch hg. v. Loris
Sturlese/Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 458), S.
LXV.
5 Ebd., S. LXV m. Anm. 1; Angaben nach Heinrich Seuses Horologium Sapientiae,
[hg.] v. Pius Künzle OP, Freiburg Schweiz 1977, S. 19 f.
6 Grundlegend noch immer: Karl Bihlmeyer, »Seuses Leben und Werke«, in: Hein-
rich Seuse, Deutsche Schriften, hg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Unv. Nach-
druck Frankfurt a. M. 1961), S. 63*-163*; Engelbert Krebs, »Seuse (Suso), Hein-
rich«, in: 1VL 4, 1953, Sp. 164–180; Pius Künzle, »Einführung«, in: Künzle, Hor.,
S. 1–54; dazu: Pius Künzle, »Zur angeblichen Absetzung Heinrich Seuses vom
Priorat im Jahre 1336«, ZfdA 106, 1977, S. 374 f.; Alois Maria Haas, »Deutsche
Mystik. 6. Heinrich Seuse«, in: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter
1250–1370. 2. Teil. Reimpaargedichte, Drama, Prosa, hg. v. I. Glier, München 1987
(Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, be-
gründet von Helmut de Boor u. Richard Newald III/2), S. 275–280; Alois M. Haas,
K[urt] Ruh, »Seuse, Heinrich OP«, in: 2VL 8, 1992, Sp. 1109–1129 (im wesentli-
chen übereinstimmend mit Alois M. Haas, »Einführung in Leben und Werk Hein-
rich Seuses«, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von
152 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

Immerhin sind selbst die gemeinhin stets als »gesichert« geltenden An-
gaben zu Seuses Ulmer Zeit – ab ca. 13487 bis zum Tod am 25. 1. 1366
Angehöriger des Ulmer Konvents, Beisetzung in der Dominikanerkirche –
auch aus der Überlieferung der für Seuse reklamierten Werke erschlossen.
Dass Seuse etwa 1348 nach Ulm versetzt worden sei, ist einer Kombination
aus verschiedenen Angaben entnommen: der ›Vita‹ insofern von der Gestalt
des dieners, die mit Seuse identifiziert wird, gesagt wird, dass sie zur Zeit
einer Untersuchung, den dú obrest meisterschaft úber allen orden und dú
meisterschaft úber […] tútsches land (126,14 f.) in der stat vornahm, in der
ihn eine Frau verleumdet hatte, bereits anderswa wonende war (126,15 u.
16). Die stat wird mit Konstanz identifiziert, das anderswa wonende mit Ulm
(s. Kommentar zu DS 126,16), letzteres, weil eine Reihe von Nachrichten aus
dem 15. Jahrhundert oder später mit ganz unterschiedlichen Zeitangaben von
Seuses Ulmer Zeit berichtet.8 Selbst die Nachrichten über das Todesdatum
haben einen Zug, der seine faktische Richtigkeit wohl nicht zu dementieren
geeignet ist, aber auf seine mögliche Stilisierung nach bestimmten literari-
schen Mustern verweist. In zwei deutschen ›Exemplar‹-Hss. des 15. Jahr-
hunderts (S, f) finden sich die Einträge, dass Seuse uf conversio sancti pauli
gestorben sei, und die ›Horologium‹-Hs. Clm 7819 (M5) weiß durch einen
nachträglichen Eintrag des 15. Jahrhunderts sogar von der Inschrift auf
Seuses Epitaph: Nota veraciter Epitaphium compilatoris huius libri: Obiit
venerabilis pater frater Heinricus Suso Anno domini MCCCLXVI mense
Januarii die XXV obdormivit in domino propter quod gaudeamus in evis
dilecto.9 Dem 25. 1., dem Tag der conversio des Apostels Paulus, kommt,
zumal in den Kreisen der Gottesfreunde, besondere Bedeutung zu,10 so dass
eine entsprechende Stilisierung nicht ausgeschlossen scheint; vergleichbar ist
etwa auch, dass des dieners Mutter, so heißt es in der ›Vita‹, in der
Todesstunde Jesu, an Karfreitag ze none gestorben sei (DS 143,8). Dass

Heinrich Seuses Mystik, Bern u. a. 21996, S. 9–24, hier S. 9–13); Kurt Ruh,
Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. III: Die Mystik des deutschen Predi-
gerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, hier
S. 417–420.
7 Die Angabe »nach 1362« für »nach Ulm versetzt« bei Sturlese/Blumrich (Anm. 4)
ist vermutlich in der Zeile verrutscht und sollte vor »Abfassung der Vita« und
»Herstellung des Exemplars« stehen.
8 Vgl. Bihlmeyer, DS, S. 132*–134* mit den entsprechenden Anmerkungen.
9 DS, S. 136*f. m. Anm. 3: Hss. S, f u. Clm 7819; zu letzterer auch Künzle, Hor.,
S. 155 f.
10 Vgl. z. B. dazu das ›Fünfmannenbuch‹ des Gottesfreundes: Merswins Vier anfan-
gende Jahre. Des Gottesfreundes Fünfmannenbuch. Die sogenannten Autographa,
hg. v. Philipp Strauch, Halle 1927 (ATB 23. Schriften aus der Gottesfreund-
Literatur 2. H.), 70,26–81,9, und die entsprechenden, über das Register s. v. Paulus
zu erschließenden Passus in: Karl Rieder, Der Gottesfreund vom Oberland, Inns-
bruck 1905. Vgl. auch die Darstellung der Entrückung des dieners (DS 10,16–30),
die mit wörtlichen Übernahmen sich dem Bericht vom raptus des Apostels Paulus
II Cor 12,1–6 angleicht. Vgl. Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6),
S. 446.
Autorschaft und Medienwandel 153

Seuses Grab selbst in der Ulmer Dominikanerkirche iuxta altare sancti petri
martyris gelegen sei, ist wiederum in zwei ›Horologium‹-Handschriften
notiert; den angegebenen Ort hat man in der zerstörten Kirche zwar rekon-
struieren können, das Grab selbst aber nicht gefunden.11 Dies bedeutet:
Selbst die relativ »gesicherten« Daten zu Seuses Leben und Werken sind
allein durch systematisierende und rekonstruierende Akte aus verstreuten,
und im einzelnen stets neu zu interpretierenden und gewichtenden Angaben
zu gewinnen – und dies, obwohl mit der ›Vita‹ ein, wenn vielleicht auch nicht
»echtes«, so doch »authentisches«, möglicherweise »autobiographisches«
Zeugnis vorliegt.12 Es ist offensichtlich, dass dies eine direkte Folge der
Präsentation des Autors in seinen Werken ist, »Autor« zunächst verstanden
als Chiffre für »Verfasser« und/oder »Verfasserin« und für einen Autor, den
es hier auch »im Plural»13 geben mag (»Werkstatt«).14
Die Präsentation des Autors ist nun ausgesprochen irritierend, verrätselnd.
Dies beginnt bereits mit dem Namen. »Seuse nannte seine Selbstdarstellung
der Súse«, heißt es bei Kurt Ruh.15 Dies ist so eindeutig nicht. Die Über-
schrift der ›Vita‹ lautet in den Handschriften des ›Exemplars‹: Hie vahet an
o
daz erste tail dizz buches, daz da haisset der Súse (7,1). Der Satz ist
grammatisch nicht eindeutig; ob sich das daz des Relativsatzes auf daz erste
o o
tail oder auf dizz buches bezieht und ob mit buch das ›Exemplar‹ oder dessen
erstes ›Büchlein‹ gemeint ist, ist dieser Überschrift allein nicht zu ent-
nehmen, die Überschrift zum zweiten Teil der ›Vita‹ ist hinzuzuziehen. Sie
o
lautet: Hie vahet an daz ander teil diss ersten buches (DS 96,2). Lediglich in
der parallelen Konstruktion der Überschrift des zweiten Teils mit ihrer in
einem Punkt distinkten Abweichung von der Überschrift des ersten Teils ist
ein Hinweis darauf enthalten, dass das Demonstrativum dizz in Zusammen-
o
hang mit buches in der ersten Überschrift darauf deutet, dass nach dem
Willen dessen, der diese Überschriften eingesetzt hat, das erste »Buch« des
Exemplars den Namen der Súse erhalten hat. Gleichwohl enthält nicht der
o
Text allein, sondern erst der Text in seiner Aufzeichnung als buch den Namen
o
der Súse. Von den semantischen Merkmalen von buch werden offensichtlich
eher die materiellen als die inhaltlichen Aspekte akzentuiert, wie auch am
ersten Satz des ›Exemplar‹-Prologs abzulesen ist: In disem exemplar stand

11 Albrecht Rieber, »Auf der Suche nach dem Grab Heinrich Seuses«, in: Heinrich
Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366–1966, gesammelt u. hg. v. E. M. Filthaut,
Köln 1966, S. 457–477.
12 Diese Differenzierung öfter, zuletzt bei Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens
(Anm. 6), S. 420 u. 445.
13 Jan-Dirk Müller, »Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegen-
wärtiger Diskussion«, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld
von Hof und Kloster, hg. v. N. F. Palmer u. H.-J. Schiewer, Tübingen 1999, S. 149–
166, hier S. 158.
14 Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen zur
Überlieferungsgeschichte und zur Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert,
Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kultur-
geschichte 8), S. 67.
15 Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6), S. 445.
154 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler
o e
geschriben vier gutú buchlú. Die Wolfenbütteler Hs. Cod. guelf. 78.5 Aug. fol.
(Sigle W; 1473) und die Drucküberlieferung (a) haben beide Formulierungen
aufgenommen und sie auf die Überschrift des ›Exemplar‹-Prologs und damit
e
auf alle vier buchlú übertragen. Wo es sonst heißt Diz ist der prologus, daz ist
o o
dú vorred diss Buches (3,1) wird in W und a diss Buches ersetzt durch des
e
buchlins, das da heisset der Seüsse; in b wird der Zusatz das da heisset der
Seüsse wieder getilgt mit der Begründung: So heißt er nit mer Seüss wie wol
man yn also nennt Sonnder er haißt Amandus (2r).
Die Möglichkeit, einen Personennamen als einen alle vier Schriften um-
greifenden Buchtitel einzusetzen, findet ihr Komplement in den Überschrif-
ten der ebenfalls im 15. Jahrhundert entstandenen Hss. N, P und A1. Sie
enthalten das ›Exemplar‹ ohne den Prolog und die ›Vita‹ in stark gekürzter
Form (N), neben anderen Schriften nur die ›Vita‹ und das ›Kleine Briefbuch‹
(P) oder allein die ›Vita‹, aber mit dem Prolog des ›Exemplars‹ (A 1). In
ihnen wird nun auch der Name mit einer Person verknüpft und das, was im
o
buch aufgezeichnet ist, als das leben dieser Person bezeichnet: Die Über-
schrift der ›Vita‹ lautet in P: dis ist des súsen leben und in N: daz leben eins
predigers der do hies súse; in A1 ist als Überschrift des ›Exemplars‹
eingesetzt: hie fahet an des súsen leben und ander gute leer.
Die Praxis, ein Werk mit einem (Autor-)Namen zu benennen, ist in der
handschriftlichen Überlieferung, insbesondere der des 15. Jahrhunderts, nicht
so selten. In zwei Stricker-Hss. (München, Cgm 273; Karlsruhe, St. Georgen
86) heißt es: Ditz puch hayssent sy den strickh bzw. Hie nach volget das buch
genant der Stricker. Der weitverbreitete mystische Traktat ›Von den drîn
fragen‹ hat in der Stuttgarter Hs., LB, Cod. 283, Bl. 293vb die »Nachschrift«
e
Disz buchlein haist der lerer. Als Gattungsbezeichnung für bestimmte lite-
rarische Typen erscheinen auch der Name Neidharts, Freidanks und des
Teichners.16 Dass es einen Autor mit Namen »Seuse« (o. ä.) gegeben und
sich dieser nach dem Namen seiner Mutter genannt habe, ist bekanntlich
ausschließlich im Prolog zum ›Exemplar‹ im Augsburger Druck (Johann
Othmar) von 1512 (b) überliefert. Dort heißt es im Prologus (1v/2r): Der
e
wirdig vater und andechtig liebhaber und diener gots der owigen weißhait
o
von dem die materi diss buchs außkomen ist und gesetzt den man nennt seüß
o
[…] Der Erst zunam was / das er hieß Hainrich vom berg Wann sein vater
o
was ain wolgeborner man ainer vom berg aus dem hegow / Den zunamen hat
o
er nit lang behebt Sonder er wolt genant werden nach seiner mutter seüss
e
wann sy was ain andechtige gotzforchtige fraw und hieß seüsserin. Darumb

16 Karl-Ernst Geith u. a., »Der Stricker«, in: 2VL 9, 1995, Sp. 417–449, hier Sp. 430;
Heinrich Seuse Denifle, Taulers Bekehrung, Straßburg 1879 (QuF 36), S. 39; zu
dem Traktat vgl. Kurt Ruh, »›Von den drı̂n fragen‹«, in: 2VL 2, 1980, Sp. 234 f.;
vgl. ferner die Zusammenstellungen bei Günther Schweikle, Neidhart, Stuttgart
1990, S. 23; Eberhard Lämmert, Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Un-
tersuchung der Teichnerreden, Stuttgart 1970, S. 14–17; Berndt Jäger, »Durch
reimen gute lere geben«. Untersuchungen zu Überlieferung und Rezeption Frei-
danks im Spätmittelalter, Göppingen 1978 (GAG 238), S. 215–218.
Autorschaft und Medienwandel 155

wolt er auch iren namen haben und ir in tugenden unnd namen nachuolgen
Also nant man jn Hainrich seüss. In seinen haimlichen offenbarungen habe
man nach seinem Tode gefunden, dass jm got selb den namen Amandus hat
o
auffgesetzt. Es ist unbekannt, woher der buchdrucker, so nennt sich der
Verfasser des Prologus, die Erzählung vom Namen vom berg und seüß hat;
die Identifizierung mit Amandus, so der Name, den der im übrigen dezidiert
namenlose iuvenis oder discipulus sapientae von der Weisheit im ›Horolo-
o
gium‹ erhält,17 konnte der buchdrucker einer Tradition entnehmen, deren
ältester noch erhaltener Repräsentant die Pommersfeldener Hs. 174 ist; eine
noch im 14. Jahrhundert, aber nachträglich angebrachte Notiz besagt: Beatus
Henricus susze frater ordinis predicatorum compilavit horologium eterne
sapiencie librum caritatis. Anno 1366° obiit in die conversionis sancti pauli
(Bl. Ir).18
Damit ist deutlich, dass erst für die handschriftliche Überlieferung jenes
»seit dem 12. Jahrhundert« bestehende »Interesse an der Verknüpfung eines
Textes mit einem [Autor-] Namen« nachzuweisen ist.19 Die Überlieferung
erst bezog die verstreuten Spuren aufeinander, die in verschiedenen Tradie-
rungswegen und in den verschiedenen Texten des deutschen ›Exemplars‹ und
des lateinischen ›Horologium‹ vorhanden waren und eine Reihe von Identi-
o
fikationen zuließen: Die Identifikation zweier Namen, des (einem buch
gegebenen) Namens Seuse und des (einer literarischen Rolle zudiktierten)
Namens Amandus mit einer nur in der Schriftlichkeit und in Andeutungen
greifbaren Autorfigur und die Identifikation von Namen und Autorfigur mit
den verschiedenen Rollen des dieners, des jungers, des discipulus, die die
Texte – und die Bilder – präsentieren. Dies setzt sich bis in die Gegenwart
fort, in der sehr häufig die in allen Bildern des ›Exemplars‹ mit der diener
bezeichnete Figur mit »Seuse« benannt wird.20
Wie die Überlieferung die Angaben von Text und Überlieferung aufge-
nommen und zusätzlich in eine lebensweltliche Sphäre transformiert haben
mag, lässt sich am Beispiel des Verfassers des Vor- und des Nachworts des
›Exemplar‹-Druckes von 1512 (b) demonstrieren. Er schreibt, dass Seuse
sich offt selbs … Seüss genannt habe und man ihn deswegen nit anders
o
nennet dann bruder seüss. Dann aber heißt es weiter: Wiewol etlich sprechen
e e o
er hab gehaissen suss / So aber suss und seüss im buchstaben und in der stym
e
garnach gleichformig seind und er sich selb genennt hat Seüss wie oben
e
berurt / so ist glaublich die schreiber und leser haben geirret / Und
e
suss für seüss gesetzt. Hier ist Kenntnis der Überlieferung vorhanden, in der
gelegentlich – wie für den Münchner Cgm 362 (7,1) zu belegen – sües

17 Künzle, Hor., 366,9; 370,12; 373,7ff.; 376,11; 591,6 f.; 597,14.


18 Ebd., S. 15, vgl. S. 112 f. In derselben Hs. wird auch für ein ›De laude psalmarum‹
im Nachtrag honorius als autor vermutet; vgl. Künzle, Hor., ebd.
19 Müller, Aufführung – Autor – Werk (Anm. 13), S. 156.
20 Durchgehend und ohne jedes distanzierende Moment z. B. bei Anna Margaretha
Diethelm, Durch sin selbs unerstorben vichlichkeit hin zuo grosser loblichen
heilikeit. Körperlichkeit in der Vita Heinrich Seuses, Bern u. a. 1988 (Deutsche
Literatur von den Anfängen bis 1700. 1), S. 172ff.
156 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

geschrieben wird. Textkenntnis, wenn auch nicht sehr präziser Art, zeigt sich
im Wissen um den Namen Amandus; dass sein Träger den Namen von
e
demut wegen verdruckt habe, ist wohl eine Erzählung, die sich an das
Verschwiegenheitsgebot, das in Conversio-Erzählungen des öfteren auf-
taucht,21 angehängt hat. Nicht letztlich ausschließen wird man auch können,
dass ein von der Mutter übernommener Name seüss aus dem Bericht der
›Vita‹ von der widerwertigen unglichheit der Eltern des dieners (DS 142,18)
herausgesponnen worden ist, der dem vater im entsprechenden Zusammen-
hang zuschreibt, er sei der welt vol gewesen, während die Mutter vol gotes
gewesen sei (23,21 ff.; 142,17 ff.).
Frühe Überlieferung, und das gilt im wesentlichen für die älteste Hand-
schrift des ›Exemplars‹, die Straßburger Handschrift, Straßburg, Bibl. natio-
nale et universitaire, Cod. 2929 (A), betonte den Aspekt der spirituellen
Unterweisung und Kontemplation im Konzept der Texte – und der Bilder,
obwohl bereits auch hier erste Ansätze zu beobachten sind, die eher ein
Interesse am Autor berücksichtigen. In den Texten der Straßburger Hand-
schrift, »sie ist die älteste und beste Hs. des ›Exemplars‹ und daher dieser
[Bihlmeyers] Ausgabe zugrundegelegt«,22 präsentieren sich die verschie-
denen Aspekte jener Größe, die im »emphatischen Autorkonzept der Neu-
zeit»23 unter einem Begriff gefasst sind, zunächst in verschiedenen Instanzen
der Autorisierung und Legitimierung.
Durchgängig fehlt, auch in kommentierenden Passus, die Ich-Rolle eines
Erzählers oder Redners, die Rückschlüsse auf ein Verfasser-Ich zuließe. Im
e
prologus zum ›Exemplar‹ erhalten hingegen die vier buchlú, die es enthält,
e
Subjektstatus, die buchlú »sprechen«. So heißt es etwa: Daz erst seit […] von
eim anvahenden lebene und git togenlich ze erkennen (3,2–4); oder es git
o
[…] vil guten underschaid […] und lert (3,16). Das zweite Büchlein, das
›Büchlein der ewigen Weisheit‹ (Bdew) ist ein gemeinú lere, und sait von
e
betrahtung […] (3,19). Das dritte Büchlein, daz da heisset daz buchli der
warheit (Bdw) […], wiset […] den menschen […] uf den rechten weg
e
(4,9,14 f.). Vom vierten Büchlein, dem briefbuchli, wird gesagt, dass es ein
bestimmtes Ziel habe – des mainung ist […] (4,23). Die »Stimme« des
Autors erscheint in den Prologen zu Beginn des ›Exemplars‹ ausschließlich
in einer Metapher, die die Schriftlichkeit und die Materialität des Buches
reflektiert.
Von einem Autor dieser vier Büchlein als einer personal gedachten Größe
e
ist erst beim Bdew die Rede. Es heißt dort: Wan aber daz selb buchli und
e
etlichú me siner bucher nu lange in verren und in nahen landen von
mengerley unkunnenden schribern und schriberin ungantzlich abgeschriben
sind, daz ieder man dur zuo leite und dur von nam nach sinem sinne, dar umb
hat sú der diener der ewigen wisheit hie zuo samen gesezzet und wol gerihtet,

21 Vgl. z. B. in Merswins Vier anfangenden Jahren (Anm. 10), 27,7ff. oder im


›Fünfmannenbuch‹ des sog. Gottesfreundes, ebd. 82,1ff.
22 Bihlmeyer, DS, S. 4*.
23 Müller, Aufführung – Autor – Werk (Anm. 13), S. 158.
Autorschaft und Medienwandel 157

daz man ein gereht exemplar vinde nach der wise, als sú ime dez ersten von
gote in luhten. (4,1ff.)
Die Tätigkeit des dieners der ewigen wisheit, des einen der beiden »Ge-
e
sprächspartner«,24 in bezug auf »seine« bucher wird als »zusammenstellen«
und »einrichten« benannt. Dass der diener sie verfasst habe und damit auch
für deren Text verantwortlich sei, wird nicht gesagt; sie seien ihm ur-
sprünglich von Gott »eingegeben« worden (so übersetzt Georg Hofmann),25
und dies sei von den Schreibern verfälscht worden. Die Tätigkeit des Autors
erscheint allein als Medium für die Inspirationsgeste einer letzten, Autorität
verheißenden Instanz und in der Klage über die Unmöglichkeit, die Schrei-
bertätigkeit anders zu kontrollieren als mit der Einrichtung eines gerehten,
eines »tauglichen«,26 wohl auch »korrekten« Exemplars. Von Erfinden oder
nach Vorgefallenem wiedergeben, von schreiben oder diktieren ist keine
Rede, allein von einer – wie auch immer gefassten – Zuständigkeit des
dieners für »seine« Bücher.
Zum dritten Büchlein, dem ›Büchlein der Wahrheit‹, gibt es keine derar-
tigen Bemerkungen. Doch wird betont, dass in diesem Buch nicht, wie in
anderen Fällen, ungelehrte, jedoch vernunftbegabte Menschen die hohen
sinne der heiligen schrift von den lerern (4,11 f.) falsch (verkerlich) rezipiert
und sie auch dementsprechend aufgeschrieben hätten, sondern dieses Büch-
lein führe mit Unterscheidungsvermögen auf die eine ungeteilte Wahrheit,27
die nach christlicher Wahrnehmung in der Heiligen Schrift von Gott gemeint
sei (dú dar inne von got nach cristanlicher nemung gemeinet ist 4,16 f.). Nur
verdeckt erscheint hier in der Abgrenzung von falscher Rezeption und
falschem Schreiben in der Formel nach cristanlicher nemung so etwas wie
die – mit einer allgemeinen Norm identische – Auffassung eines Autors,
welche der von Gott geoffenbarten Wahrheit entspricht.
Beim vierten Büchlein heißt es hingegen etwas unvermittelt, dass dieses
sog. ›Kleine Briefbüchlein‹ sin geischlichú tohter (4,18 f.) »zusammenge-
stellt« habe (zesamen brachte 4,19). Sin kann sich nur auf den mehrere
Zeilen zuvor (4,5), beim zweiten Büchlein (Bdew), zum ersten Mal erwähn-
ten diener beziehen, von dem im weiteren ausschließlich im Pronomen er die
Rede ist: Zusammengestellt habe die tohter das Büchlein aus allen den
briefen, die »er« ir und andren sinen geischlichen kinden »gesendet« habe.
o
Daraus habe si ein buch […] gemachet (4,20 f.). Aus diesem dann habe er
o
einen Teil dero brieven genomen und habe es, das buch, gekurzet, als man es
hie na vindet (4,21 f.). Die Tätigkeit des dieners besteht allein aus einem
ursprünglichen senden von briefen und aus dem Kürzen auf ein im ›Exem-
o
plar‹ vorhandenes buch hin. Die tohter immerhin hat ein Buch gemachet. Die
o
Verteilung auf mehrere Instanzen von einem vorgegebenen buch, für das die

24 Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6), S. 435.


25 Heinrich Seuse. Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen über-
tragen u. hg. v. Georg Hofmann, Düsseldorf 21986, S. 12.
26 So übersetzt Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6), S. 435.
27 In unserer Wiedergabe der Einleitung zum Bdw stützen wir uns auf die Formulie-
rungen von Ruh, ebd., S. 424.
158 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

tohter verantwortlich ist, hin zu einem vom diener gekürzten Buch, ist
ähnlich wie im Falle des ›Büchleins der ewigen Weisheit‹ – wenn auch hier
der diener immerhin zeitlich und ursächlich am Beginn der Reihe steht mit
dem senden einzelner Teile des ersten Briefbuches.
Das gleiche Phänomen, komplexer in seiner Begründung und Ausfaltung,
ist auch in dem zunächst ausgesparten Bericht über Entstehung und Legiti-
mation des ersten Büchleins, der ›Vita‹, zu finden. Für die ›Vita‹, die im
Gegensatz zu den anderen Büchlein in keinem der beiden Prologe einen Titel
erhält, gibt es zwei solcher Berichte, im Prolog zum ›Exemplar‹ (4,29–6,10)
und im Prolog zur ›Vita‹ selbst (7,1–8,3), und sie verfolgen mit variierenden
Mitteln ähnliche Ziele. Sie sollen hier noch einmal diskutiert werden, auch
wenn dies in nahezu jedem Beitrag zur ›Vita‹ geschieht.
Zunächst (4,29ff.) ist von einer Ursprungsversion auch dieses ersten Büch-
leins die Rede. Sie wird in all ihrer Materialität benannt (die quaternen diss
o
ersten sinnenrichen buches) und als Subjekt des ersten Satzes präsentiert,
ohne dass gesagt wird, wie sie entstanden ist: Die quaternen […] lagen vil
jaren und warteten (beiteten) auf den Tod des dieners, weil dieser zu seinen
Lebzeiten sich dur mit […] keinem menschen offenbaren wollte. Erst in
dieser topischen, die Rezipienten einbeziehenden Geste der Bescheidenheit
erscheint die Verantwortung des dieners für die quaternen. Der Unmöglich-
keit, die Rezeption des Büchleins kontrollieren zu können, zumal von Men-
schen, die aus Dummheit oder Böswilligkeit valsch urteil dar úber wurdin
gebende, wird wiederum durch die Berufung auf höhere Instanzen begegnet.
Anders aber als beim Bdew wird die Verantwortung für ein gereht exemplar
nicht auf eine Eingebung (in luhten 4,7 f.) Gottes zurückgeführt. Im Be-
schluss des dieners, das Buch zunächst verschlossen zu halten, es dann doch
gegenüber wenigen zu öffnen und es mit deren Zustimmung in einem dritten
Schritt vielen zugänglich zu machen, zeigt sich des dieners Verfügungsgewalt
über das Produzierte, zumindest in dessen Anfangsstadium. So wählt er denn
ein weiteres Mal aus (súndert) und legt dem Provinzial der Dominikaner in
e
der Teutonia Bartholomäus (aus Bolsenheim) die aller hohsten sinne und die
o
aller úberswenksten materien aus diesem buch vor (5,13 f.), und Bartholo-
mäus billigt es: Den Lesern, denen es nicht – wie vom diener befürchtet –
aus bösem Willen oder Dummheit an Verständnis fehle, sondern den Lesern,
die guten Willens und von genauer Kenntnis seien (allen wolgesehenden
menschen 5,21 f.), würden die ausgewählten Passus so wie ein togenlicher
e
suzzer kerne uss der heiligen schrift sein.28 Danach seien die fehlenden, die
fraglos akzeptierten und gleichwohl die notwendigen Voraussetzungen bie-
tenden Passus (dú gemain lere 5,22) zu diesem súzzen kerne hinzugefügt
worden, ohne dass gesagt wird, wer dies getan habe. Da Bartholomäus
plötzlich verstorben sei29 und der diener nicht gewusst habe, was nun mit

28 Zu dieser Metapher vgl. Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesell-


schaft um Maximilian I., München 1982 (Forschungen zur älteren deutschen
Literatur 2), S. 193 mit S. 347 f. Anm. 26–28.
29 Das Datum seines Todes (1362) lässt ungeachtet aller Verfasser-Probleme doch
eine Datierung zumindest der Vorrede zu: nach 1362.
Autorschaft und Medienwandel 159

dem Vorhandenen zu tun sei, habe er sich um Hilfe an die ewigen wisheit
gewandt. Sie erscheint hier zum ersten Mal als Personifikation, aber von
einer unmittelbaren Antwort oder Reaktion der höchsten Instanz wird nichts
gesagt: In einer visio begegnet ihm der verstorbene gelehrte Magister (er
wird dreimal als maister bezeichnet). Mit allen Merkmalen der Seligkeit
ausgestattet (in liehtricher gesiht 6,7) verkündet der maister dem diener, dass
o o
es gotes guter wille sei, dass »es«, das buch demnach, auch weiterhin
(fúrbaz) allen Menschen guten Willens zur Verfügung stehe, die »es« mit
rehter meinung und jamriger belangung zu haben wünschten (sin hetin ein
begeren).
Der Bericht von der Entstehung der ›Vita‹ im Prolog zur ›Vita‹ selbst
weicht nur sehr bedingt von der Darstellung im Prolog des ›Exemplars‹ ab.
Ist dort nur vom diener die Rede, so wird hier zwischen einer ungenannt
bleibenden Person und deren Übernamen differenziert: Ein brediger in tút-
schem lande, von geburt ein Swabe habe den Wunsch gehabt, ein diener der
ewigen wisheit zu werden und zu heißen (7, 1–4). Ein mensch, bei dem es
sich nach Ausweis der Pronomina um eine Frau handelt, habe gewünscht,
dass der diener ihr von lidene usser eigenr enpfindunge sage. In diesen
Gesprächen, deren »heimlicher« Charakter zweimal betont wird (mit heinli-
e
chen fragen, in gotlicher heimlichi 7,8ff), erläutert er einen dreigestuften
Weg, berichtet er ihr die Art und Weise sines anvanges und fúrgangs und die
e
etlich ubunge und liden, die er hat gehabt (7,10f).
Davon erfährt sie trost und wisung und schreibt es alles auf, aber ohne
dass er davon weiß, verstoln vor ime. Sie schreibt es auf, ir selb und och
andren menschen ze einem behelfen. »Er« bemerkt diesen geischlichen
dúpstal, und sie muss »es« ihm herausgeben. Er verbrennt alles, daz im do
ward. Eine Himmelsbotschaft untersagt ihm, mit dem ander teil ebenso zu
verfahren. Nicht verbrannt also wurde das, was diesem Prolog in der Hand-
schrift folgt (dis nagende), als si es den meren teil mit ir selbes handen hate
geschriben.
Es ist bekannt, dass dieser Passus des ›Exemplar‹-Prologs zusammen mit
Angaben des 33. und 35. Kapitels der ›Vita‹ und des 3. und 8. Briefs im
›Kleinen Briefbüchlein‹ des ›Exemplars‹ die Basis für die langanhaltende
Diskussion um die »Echtheit«, und d. h. primär um die alleinige Autorschaft
Seuses an der ›Vita‹ geboten hat.30 Davon soll hier nicht noch einmal die

30 Zusammenfassend: Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum.


Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahr-
hunderts, Tübingen 1988 (Hermaea N. F. 56), S. 135–142; danach: Alois M. Haas,
»Stagel (Staglin), Elsbeth OP«, in: 2VL 9, 1995, Sp. 219–225, wieder in: Haas,
Kunst rechter Gelassenheit (Anm. 6), S. 25–29; Alois M. Haas, »Seuse lesen«
[1994], in: Haas, Kunst rechter Gelassenheit (Anm. 6), S. 31–66, hier S. 40–50;
Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6), S. 445–468; Susanne Bürkle,
Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauen-
mystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Ger-
manica 38), S. 237–244.
160 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

Rede sein. Es geht vielmehr um die Präsentation der Autor-Rolle in ihren


vielfältigen Bezügen.
Im Rahmen einer grundsätzlich und bis in die Details der Vor-, Rück- und
Querverweise hinein angesetzten Schriftlichkeit des literarischen Produkts,
das folglich vor Leser kommt, wird die Produktion selbst auf verschiedene
Beteiligte und verschiedene Phasen aufgefächert. Es gibt, für das Bdew, Gott
als Quelle der Inspiration, die zugleich das Geschriebene autorisiert. Autori-
sierungen eines bereits vorhandenen Textes, den der ›Vita‹, über dessen
Zustandekommen zunächst nichts weiter verlautet, gibt es einerseits durch
Bartholomäus von Bolsenheim, eine Figur, die durch Gelehrtheit und durch
ihre Position in der Hierarchie des Ordens, schließlich durch ihre Erhöhung
unter die Seligen ausgezeichnet ist, und anderseits durch die Aufzeichnung
mündlicher Äußerungen durch einen heiligen erlúhten menschen (7,5) und
durch himelsche botschaft.
›Briefbüchlein‹ und ›Vita‹ werden als Auswahl aus einer vollständigen
Sammlung von »gesendeten« Briefen oder als Teil aus der vollständigen
Niederschrift alles dessen dargestellt, was der diener über seinen drei-
gestuften Weg gesagt hat. Die Tätigkeit des dieners beschränkt sich also auf
Auswahl und Zusammensetzen, Senden, zum überlesene geben und zuletzt
das Verbrennen des Geschriebenen. Für die Seite der Produktion wird Verant-
wortlichkeit für das Geschriebene an verschiedene Instanzen delegiert, unter
denen der diener keine dominante und eine eher diffuse Rolle spielt. Verant-
wortlichkeit eines einzigen Autors für das von ihm Verfasste wird verwischt.
Der Text reflektiert für die Produktionsseite das, was man die »Marginalisie-
rung des Autors« genannt hat.31
Dies gilt nicht für die Seite der Rezeption. Von einer »Aufführung« des
Textes, in welcher Form auch immer, ist schon im Ansatz keine Rede. Der
o
Text erscheint allein in der Form schriftlicher Aufzeichnung als buch und
o
strikt getrennt von einem, »seinem« Autor; dem buch kommt eine ver-
selbständigte Rolle zu, es »spricht«. Die Folgen dieser Ablösung werden in
ihren Ambivalenzen deutlich, werden aber vor allem als Gefährdung be-
griffen und kritisch beleuchtet. Die Verbreitung wird ausschließlich schrift-
lich gedacht und ist deswegen verschiedensten Zugriffen ausgesetzt: Beim
Abschreiben können Entstellungen nur nach dem sinne der Schreiber ge-
schehen (4,1–8). Möglichkeiten, die Rezeption zu beeinflussen, sind in ihrer
Wirksamkeit beschränkt: Der diener sorgt für ein gereht exemplar, das von
einer höheren Instanz als dem diener autorisiert ist.
Die grundsätzlichen Probleme, die sich für einen Autor in einer auf
Schriftlichkeit gestützten Kommunikationssituation darüber hinaus mit »sei-
o
nem« buch eröffnen, werden in den Kategorien von »Heimlichkeit« und
»Öffentlichkeit« und in der topischen Differenzierung des Publikums nach
ohnehin vorhandenen oder durch den Text hervorgerufenen unterschiedlichen

31 Müller, Aufführung – Autor – Werk (Anm. 13), S. 159.


Autorschaft und Medienwandel 161

Einstellungen diskutiert.32 Dass es mittelbar auch um Autorschaft, d. h. um


Verantwortlichkeit für den Text und Einflussmöglichkeit auf die Rezeption
des Textes geht, wird in der Imagination vom Tod des dieners reflektiert.
Solange die quaternen zu des dieners Lebzeiten heimlich beschlossen sind,
kann es klärlich keine beabsichtigten oder unbeabsichtigten Missverständ-
nisse geben. Nach dem Tod des dieners aber kann es aus Unverständnis,
Gleichgültigkeit oder Missgunst zu valschem urteil (5,3) oder gar zu Unter-
drückung kommen, ohne dass der diener dies korrigieren könnte. Dies
e
bewegt den diener, daz buchli einer begrenzten Öffentlichkeit (sinen obren;
4,35) zu öffnen – solange er noch lebte und sich gut verteidigen könnte mit
Rücksicht auf alle Aspekte der [darin enthaltenen] Wahrheit (die wil er lepti
e
und er sich wol uf ellú stuk diser warheit versprechen konde 4,35 f.).
o
Dem Risiko, dass das buch, wenn es Nutzen bringen soll (5, 8, 23), auch
anderen als Gutwilligen gemeinsamet (5,8; 6,8 f.) wird, wird mit der Sorge
um einen der Wahrheit entsprechenden Text und seine Approbation durch
verschiedene, traditionell verbürgte Autoritätssignale begegnet. Dies ist eine
Sorge, die in einer durch das literarische Genre oder durch die Kommunika-
tionsgemeinschaft bedingten Mündlichkeit schwerlich gedacht werden kann.
In der Reflexion einer ausschließlich auf Schriftlichkeit und deren Verbrei-
tungswege und Rezeptionsbedingungen gestützten Literatur erscheint Autor-
schaft eingegrenzt auf Sorge um den autorisierten, den richtigen Text als
einzig mögliche Maßnahme gegen Missverständnisse und Fehldeutungen.
Die Sorge um den schriftlichen Text wird über die Figur des dieners ver-
mittelt und dessen disparate Handlungen in verschiedenen Zusammenhän-
gen; Autorisation ist davon grundsätzlich abgetrennt und mit verschiedenen
Figuren besetzt.
Der Prolog von ›Exemplar‹ und ›Vita‹ bietet mit dieser sehr offen kon-
zipierten Rolle des dieners einen Rahmen, der durch die Identität der
Bezeichnung mit der Figur des dieners in ›Vita‹, ›Büchlein der ewigen
Weisheit‹ und ansatzweise auch in den beiden ›Briefbüchlein‹ durch diverse
lebensweltliche Hinweise aufgefüllt werden kann, die in Maßen sogar in eine
relative und historisch abzusichernde Chronologie gebracht werden können.
Insbesondere die ›Vita‹ präsentiert ausreichend Material für eine solche
Lektüre, obwohl der Text selbst eindringliche Appelle bietet und die For-
schung weitere Indizien herausgearbeitet hat dafür, dass man es bei der ›Vita‹
nicht mit einer Autobiographie in einem vorkritischen Verständnis zu tun hat.
Angelegt ist dies in einer Montage von erzählenden und als Dialog (in
Briefen und/oder Gesprächen) strukturierten Einheiten, die z. T. fließend
ineinander übergehen. In ihnen geht es um ein Christförmig-Werden in der
Christus-Nachfolge; reflektiert wird es in einer durchgehenden Thematisie-
rung des Leidens und der Erfahrung dieses Leidens. Dabei folgt die ›Vita‹
einer Argumentationsfigur, die die Vorstellung von Leiden und dessen mögli-
chen Dimensionen z. T. in grellen Farben provoziert, also aus der Perspektive

32 Am Beispiel von Gottfrieds Tristan-Prolog diskutiert bei Walter Haug, Literatur-


theorie im deutschen Mittelalter, Darmstadt 21992, S. 200–219.
162 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

des dieners erzählt, um zugleich über diese Dimensionen hinaus die katego-
riale Differenz wahrer gelassenheit erahnen zu lassen, wie sie im 48. Kapitel
noch einmal in ihren zwei Formen unterschiedlicher Wertigkeit und gegen-
über falscher gelassenheit argumentativ entfaltet wird.
Diese Funktion der erzählenden Partien kann ein bekanntes Beispiel im
›Büchlein der ewigen Weisheit‹ verdeutlichen, das eine Vorstellung von
Ewigkeit, also der Aufhebung aller Zeit, vermitteln soll: »[…] Owe, wir
[Verdammten] gertin nit anders, wan were ein múlistein als breit als alles
o
ertrich und umb sich als groz, daz er den himel allenthalben rurti, und kemi
e
ein kleines vogelli ie úber hundert tusent jar, und bissi ab dem stein als groz,
e
als der zehende teil ist eins hirskornlins, und aber úber hundert tusent jar so
vil, also daz es in zehent stunt hundert tusent jaren als vil ab dem stein
e
geklubeti, als groz ein ganzes hirskornli ist, – wir armen begertin nit anders,
denn, so dez steines ein ende were, daz och únsrú ewigú marter ein ende
hete, – und daz mag nit sin!« (239, 12–20)
Das Beispiel ist auch aus anderen Zusammenhängen bekannt (KHM 152;
AaTh 150, 922); die bereits ins Unermessliche gesteigerten Zeitangaben
können die Differenz zum Un-Endlichen, zur kategorial anderen Dimension
verdeutlichen.
Dass die erzählenden Passus als Exempla dienen, die notwendig erzählt
werden müssen, damit die kategoriale Differenz zum eigentlich Gemeinten
aufscheint, wird in der ›Vita‹ dadurch verdeutlicht, dass die bilde auf ihren
Charakter als bilde hin durchsichtig gemacht werden. Dafür werden mehrere
Verfahren eingesetzt. Es geschieht durch Schriftzitate, die die Rolle des
dieners z. B. mit der Rolle des verfolgten Christus überblenden (z. B. DS
77,3 f. und Mt 26,55), durch die Evokation von bekannten bilden, z. B. der
Christus-Johannes-Gruppe (DS 20, 20–23), der Maria-lactans-Figur (DS
49,25–50,17) oder des Schmerzensmanns (im Bdew, DS 198,25–199,6). Es
geschieht durch die Inszenierung des bildes als das eines Gesehenen, Ge-
schauten – als bekanntestes Beispiel in der Fußtuch-Episode verwirklicht
(DS 58, 3–13).33 Wie diese Szene realisieren auch eine ganze Reihe von
Erzählungen im Rahmen der ›Vita‹ und diese selbst das Modell legendarisch-
spirituellen Erzählens, das in den ›Vitas Patrum‹ entwickelt worden ist.34

33 Vgl. hierzu: Anne-Marie Holenstein-Hasler, »Studien zur Vita Heinrich Seuses«,


Zs. für Schweizerische Kirchengeschichte 62 (1968), S. 185–332, hier S. 298 f.,
und Paul Michel, »Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes. Persuasive
Strategien bei der Verwendung von Bibelzitaten im Dienste seiner pastoralen
Aufgaben«, in: Das »Einig Ein«. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen
Mystik, hg. v. A. M. Haas/H. Stirnimann, Freiburg Schweiz 1980, S. 281–367, hier
S. 360–364.
34 Dazu zuletzt: Werner Williams, »Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspirituali-
tät in der ›Vita‹ Heinrich Seuses«, in: Festschrift Walter Haug und Burghart
Wachinger, hg. v. J. Janota u. a., Tübingen 1992, S. 407–421; Ulla Williams,
»Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba und Dicta im Schrifttum der deutschen
Mystik«, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen
und Rezeption, hg. v. R. Blumrich/P. Kaiser, Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im
Mittelalter 17), S. 173–188.
Autorschaft und Medienwandel 163

Einzelne Szenen und die Struktur der ›Vita‹ sind bezogen auf höfisch-
literarisches Handeln, dessen Merkmale, insbesondere im Bild des Ritters,
als ebenso exemplarisch-vorbildhaft wie defizitär in Hinblick auf das wahre
vingerli der wahren frowe, der ewigen wisheit, präsentiert werden.35 Die
Anlage der ›Vita‹ ist zugleich auf ihre »pastorale Funktion« hin syste-
matisiert, d. h. entgegen einem chronologischen Schema werden bestimmte
Themen und Komplexe gebündelt, blockartig zusammengestellt und in zwei
großen Einheiten geboten, die am »Weg« des dieners und am »Weg« seiner
geischlichen tohter in der dialogischen Begegnung mit dem diener orientiert
sind.36 Dass selbst der Prolog zur ›Vita‹ einem literarischen Modell folgt –
ein Kunstwerk wird durch göttliches Eingreifen gerettet –, darauf hat Jeffrey
F. Hamburger hingewiesen; in der ›Vita‹ selbst findet sich ein Bericht, dass
ein Maler die Bilder in der capell beenden kann (DS 60, 10–29), und im
Prolog wird die Verbrennung auch des anderen Teils der ›Vita‹ abgewie-
sen.37
Diese Skizze mag genügen, um den spezifisch literarischen Charakter der
›Vita‹ noch einmal zu beleuchten. Gleichwohl hat es, sicher nachweisbar seit
dem 15. Jahrhundert, eine Lektüre der ›Vita‹ gegeben, die aus einem ge-
nuinen Interesse an der Vita eines Autors Seuse aus den verschiedenen
Angaben der ›Vita‹ des ›Exemplars‹, insbesondere solchen zu Zeiten und
Zeitfolgen, einen Lebenslauf Seuses zu rekonstruieren verstand, obwohl auch
die Hinweise auf bestimmte Lebensalter und die mit ihnen verknüpften
Geschehnisse ebenso topisch wie »bezeichnend« sind.38
Ablesen lässt sich dieses Interesse nicht zuletzt an der Positionierung und
dem Funktionswandel der Bilder, die den Handschriften des ›Exemplars‹ von
Beginn an mitgegeben worden sind.

35 Julius Schwietering, »Zur Autorschaft von Seuses Vita« [1960], in: Altdeutsche
und altniederländische Mystik, hg. v. K. Ruh, Darmstadt 1964 (WdF 23), S. 309–
323, zugespitzter noch: Walter Haug, »Grundformen religiöser Erfahrung als
epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und
spätmittelalterlichen Differenzmodell« [1992], in: ders, Brechungen auf dem Weg
zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995,
S. 501–530, hier S. 527–530.
36 Am pointiertesten und wohl ein wenig zu schematisch herausgearbeitet von Walter
Blank, »Heinrich Seuses ›Vita‹. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion
seines Schrifttums«, ZfdA 122 (1993), S. 285–311, hier bes. S. 289; zuvor bereits
Christine Pleuser, »Tradition und Ursprünglichkeit in der Vita Seuses«, in: Hein-
rich Seuse. Studien (Anm. 11), S. 135–160.
37 Jeffrey F. Hamburger, »The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns. The Case
of Heinrich Suso and the Dominicans«, The Art Bulletin 71 (1989), S. 20–46, hier
S. 29 m. Anm. 63.
38 Zum Alter von 18 Jahren (DS 8,4; 52,7) vgl. die mancherorts übliche Vorstellung
von Mündigkeit (B. Primetshofer/W. Brauneder, »Alter«, in: LexMA Bd.1, Sp.
470 f.) oder den Hinweis auf ein vor 1265 übliches Alter bei der Profess bei P.
Isnard M. Frank OP, »Zur Studienorganisation der Dominikanerprovinz Teutonia in
der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und zum Studiengang des seligen Heinrich
Seuse OP«, in: Heinrich Seuse. Studien (Anm. 11), S. 39–69, hier S. 48; zum Alter
von 40 Jahren vgl. Ruh, Mystik des deutschen Predigerordens (Anm. 6), S. 447
und Walter Röll, »Der vierzigjährige Dichter«, ZfdPh 94 (1975), S. 377–394.
164 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

Von den insgesamt 15 Textzeugen, in denen das ›Exemplar‹ noch erhalten


ist (13 Handschriften, 2 Drucke), enthalten sieben Handschriften dessen vier
›Büchlein‹; vier von ihnen sind illustriert (A, W, K, R). In einer weiteren
Handschrift (S) blieb der Raum für Illustrationen ausgespart (Abb. 1); Über-
schriften und mitunter die Inschriften (!) der Bilder sind eingetragen, die
Bilder selbst hingegen nicht ausgeführt worden. Zwei weitere Handschriften
(P, B 1) enthalten nur ›Vita‹ und ›Briefbüchlein‹ (P) bzw. ›Vita‹ und Bdew (B 1),
aber auch den vollständigen Bildzyklus. Die beiden Drucke des ›Exemplars‹
– Augsburg, Anton Sorg, 1482 (a) und Augsburg, Johann (»Hans«) Othmar,
1512 (b) – enthalten die vier ›Büchlein‹ und die Illustrationen.39
Unter diesen zehn Textzeugen ist einzig die älteste Handschrift A (Straß-
burg, Bibliothèque nationale et universitaire, Cod. 2929) auf das ›Exemplar‹
beschränkt; in den anderen Fällen kommen mystische Traktate (K, P), Aus-
züge aus dem ›Großen Briefbuch‹, die ›Bruderschaft der ewigen Weisheit‹
(R; W, a, b) oder Rulman Merswins ›Neunfelsenbuch‹ (W, a, b) hinzu, die
z. T. gleichfalls illustriert (K, W, a, b) oder durch Register erschlossen sind
(K, W, a, b).
Im weiteren konzentrieren wir uns auf die sechs Handschriften (A, W, K,
R, P, B 1) und die Drucke (a, b), im besonderen auf die Bildprogramme in
den Handschriften A, W und P und in den Drucken.
A = Straßburg, Bibl. nationale et universitaire, Cod. 2929 (Pergament, zw.
1362 und 1370,40 geschrieben für die Johanniterkomturei ›Zum Grünen
Wörth‹ in Straßburg);
W = Wolfenbüttel, HAB, Cod. guelf. 78.5 Aug. fol. (geschrieben 1473 in
Augsburg, vermutlich für das Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra);
P = Paris, Bibl. nationale, Ms. allem. 222.4o (zweites Viertel 15. Jahr-
hundert; aus dem Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis, Straß-
burg);
a = ›Das Buch genannt Seuse‹, Augsburg: Anton Sorg, 1482 (Mikrofilm des
Exemplars Inc. fol. 15 188 b 1 aus Stuttgart, Württ. LB);
b = ›Diss buch das da gedicht hat der erleücht vater Amandus, genannt Seüß/
[…]‹, Augsburg: Johann Othmar, 1512 (Exemplar: Köln, Univers. u. Stadt-
bibl., GB IV 1952).41

39 Letzte Übersicht bei Rüdiger Blumrich, »Die Überlieferung der deutschen Schrif-
ten Seuses. Ein Forschungsbericht«, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis
(Anm. 34), S. 189–201, hier S. 190–192.
40 Roland Recht, »Strasbourg et Prague«, in: Die Parler und der schöne Stil
1350–1400. Bd. 4: Das internationale Kolloquium vom 5. bis zum 12. März 1979
anlässlich der Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Kunsthalle Köln, hg. v.
A. Legner, Köln 1980, S. 106–117, hier S. 114 Datierung, S. 110 f. Abb.
41 Vgl. Josef Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen
Sprachgebiet, Wiesbaden. 21982, S. 14: ›Johann Otmar 1502–1514‹; H. H. Bock-
witz, »Johann Othmar und sein Sohn Sylvan«, in: Börsenblatt für den deutschen
Buchhandel 4 (1948), S. 858.
Autorschaft und Medienwandel 165

Der Bildzyklus ist in allen Handschriften und Drucken relativ konstant


tradiert worden. Es handelt sich nach der ursprünglichen Zählung auf Bl. 1r
von A um xj bilde (Abb. 2), 11 ganzseitige Bilder, die in A auch mit
römischen Ziffern durchgezählt sind. Drei von ihnen sind in ein oberes und
ein unteres Register geteilt, in A die Bilder Nr. iiij, viij und xj. Bihlmeyer hat
Nr. viij als Nr. 8 und 9 gezählt und kommt so auf insgesamt 12 Bilder.42 Wir
schließen uns dieser Zählung an.
Abweichend von den Bildern in A, die jeweils eine ganze Seite einnehmen
und außer Beischriften und Schriftbändern keinen Text enthalten, sind die in
zwei Register geteilten Bildseiten Bihlmeyer Nr. 4 (A: iiij), Nr. 8/9 (A: viij)
und Nr. 12 (A: xi) in K, W, a und b auf verschiedene Seiten aufgeteilt und in
den Text inseriert worden. Ähnliches gilt für die Bilder Bihlmeyer Nr. 2 (A:
ij), Nr. 3 (A: iij) und Nr. 6 (A: vj), die in K, W, a und b nur noch einen Teil
des sonstigen Seitenformats einnehmen und so gleichfalls in den fort-
laufenden Text inseriert sind.43 In den Drucken, insbesondere in b, gilt dieses
Prinzip auch für die anderen Bilder. Eine Ausnahme wiederum von dieser
Regel bieten hingegen Bihlmeyer Bild Nr. 8/9 (A: viij) und Nr. 12 (A: xj). In
W sind die Bilder Nr. 8 und 9 im Format auf je eine ganze Seite ausgedehnt
worden (Bl. 95r und 95v); in W und b füllt das Bild, das dem oberen Register
von Bihlmeyer Nr. 12 entspricht (der diener kniend vor Christus am Kreuz,
aus dessen Fuß ein Rosenbaum entsprießt) eine ganze Seite (Farbtafel 1).
Bihlmeyer Bild Nr. 12 ist in W, a und b auch noch um ein weiteres kleines
Bild erweitert, das eine Frau in einer Burg zeigt, damit offensichtlich be-
zogen auf ein edlú jungfrow uf einer burg und hiess Anna, […] die ainest an
ir andaht verzuket waz, do sah sie […] (DS 102, 2-6).44
Entsprechend zu diesem gegenüber A abweichenden Layout in K, W, a
und b weicht auch die Zuordnung einiger Bilder zu bestimmten Textpassus
ab. In A sind – bis auf Bihlmeyer Nr. 12 (A: xj) – alle Bilder den Blättern
inseriert, die den Text der ›Vita‹ enthalten; Bihlmeyer Nr. 12 hingegen
erscheint als einziges Bild im Bdew, das auf die ›Vita‹ folgt. Das obere
Register dieses Bildes ist eindeutig auf Passus der ›Vita‹ bezogen (102,18ff.);
nur das untere Register referiert auf Textstellen des Bdew (198,17f.;
198,24ff.; 199,8; 250,18; 253,19).
Insgesamt ist damit die Überlieferung der Bilder von großer Konstanz. Bis
zum Druck von 1512 (b) bleibt die Menge der Bilder gleich, wird zumindest
nicht verringert (das gilt auch für S), sondern nur in W, a und b um ein Bild

42 Bihlmeyer, DS, S. 45*–57*.


43 Dies ist den Abbildungen bei Diethelm, Durch sin selbs (Anm. 20) gut zu
entnehmen; merkwürdigerweise ist bei Diethelm, S. 182 und 187 der in W, Bl. 31v
bzw. 39v enthaltene Text retuschiert worden; S. 216 f. fehlt Bild Nr. 11 aus a. Zu
den Bildern in K vgl. jetzt auch Niklas Largier, »Der Körper der Schrift: Bild und
Text am Beispiel einer Seuse-Handschrift des 15. Jahrhunderts«, in: Mittelalter.
Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel, Stuttgart/
Leipzig 1999, S. 241–272.
44 Abb. bei Diethelm, Durch sin selbs (Anm. 20), S. 230.
166 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

erweitert. Auch die Ikonographie der Bilder ist in den Grundzügen und in
vielen Details identisch.
In der Verteilung der Bilder weicht jedoch die Pariser Hs. P, die wie A aus
Straßburg, aus dem Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis, stammt,
deutlich von der anderen Überlieferung ab. Die Bilder sind nicht in den
fortlaufenden Text eingefügt worden, sondern erscheinen nach ›Vita‹ und
›Briefbüchlein‹ zusammengestellt auf Bl. 118v – 124v, wobei Reihenfolge
und Menge der Bilder jenen von A gleichen, obwohl das Bdew in P fehlt,
dem in A das letzte Bild zugeordnet ist. Ohnehin gleichen die Bilder in P den
Bildern von A in mancher Hinsicht mehr als alle anderen, was angesichts der
auffallenden Schlichtheit der Darstellung um so überraschender ist.
Die Verteilung der Bilder folgt in den anderen Handschriften und Drucken
im wesentlichen dem in A sichtbar werdenden Prinzip; dabei zeichnet sich
eine Gruppe von Hss. ab, die A in der Aufteilung der Bilder und ihrer
Zuordnung zu bestimmten Textstellen präzise entspricht (R, B 1, auch K – zu
deren Aufteilung der Bildseiten s. o.), während W und die beiden Drucke a
und b gegen Ende des Zyklus in Maßen eigene Wege gehen, wie oben
beschrieben.
Die Bilder befinden sich in beiden Gruppen zumeist am Ende eines
Kapitels oder innerhalb eines Kapitels am Ende eines Sinnabschnitts, zu dem
es deutliche inhaltliche Bezüge gibt. Die Bilder beziehen sich jedoch grund-
sätzlich nicht auf jene berühmten Erzählungen der ›Vita‹, die als besonders
anschaulich oder anekdotenhaft eine bildliche Darstellung im Sinne einer
illustrativen Umsetzung anzubieten scheinen, wie etwa das 26. Kapitel ›Von
einem morder‹ (DS 78,21ff.) oder das 44. Kapitel, das von der Begegnung
des dieners mit einem aventúrer in einem schef uf dem bodensew berichtet
(149,2ff.). Von den Bildern Bihlmeyer Nr. 1, 5 und 11 abgesehen, präsentie-
ren die Bilder vielmehr den diener der ewigen wisheit – so die Beischrift für
eine der beiden zentralen Figuren des ersten Bildes – als Visionär oder, in Nr.
4, als zentrale Figur einer Vision einer anderen Figur, die hier mit Anna
bezeichnet wird (Farbtafel 2).45 Dabei wird die Sphäre des Gesehenen,
Geschauten in A nicht als Sphäre einer Imagination mit einem eigenen
Wirklichkeitsstatus von der Sphäre des dieners abgehoben; die Figur des
dieners ist selbst Teil der Vision.
Die Bilder Nr. 1 und 11 sind demgegenüber in anderer Weise funk-
tionalisiert; und in Bild Nr. 5 sind die einzelnen Elemente gegenüber der
Figur des dieners in ein anderes Verhältnis gesetzt. In Bild Nr. 1 (Farbtafel 3),
das in den vollständigen ›Exemplar‹-Handschriften noch vor den Prolog zum
›Exemplar‹ plaziert worden ist und somit als programmatisches »Titelbild«
des gesamten ›Exemplars‹ betrachtet werden kann, erscheint der diener durch
Figurengröße, Blick und Körperhaltung und, nicht zu vergesssen, durch die

45 Vgl. Jeffrey F. Hamburger, »Medieval Self-Fashioning. Authorship, Authority, and


Autobiography in Seuse’s ›Exemplar‹«, in: Christ among the Medieval Domini-
cans. Representation of Christ in the Texts and Images of the Order of the
Preachers, ed. by K. Emery, Jr./J. W. Weykow, Notre Dame, Indiana 1998, S. 430–
461 u. Abb. 42-70, hier S. 432 u. 451 f. m. Anm. 24.
Autorschaft und Medienwandel 167

jeweiligen Beischriften der Figur der ewigen wisheit zugeordnet. Beide


stehen im Dialog miteinander, der durch die »Spruchbänder« resp. »Schrift-
rollen« mit Zitaten aus der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, die sie in der
Hand halten, indiziert wird.46 Umgeben sind sie an den vier Ecken des Bildes
von den »Büsten« des Dauid und Salomon, des Job und Aristotilez, die
ihrerseits jeweils ein Spruchband in einer Hand tragen, aber durch die
demonstrative Geste der anderen Hand, mit der sie auf das Spruchband
verweisen, nicht so sehr als Partner eines Dialogs begriffen, sondern als
zeichenhafte Hinweise für den Betrachter / Leser eingesetzt werden, die
Sprüche der Bänder als einander ergänzende »Motti« für das nachfolgende
Buch zu bedenken.
Die Bildseite enthält über dem Schmuckrahmen, der dieses Bild (in A) wie
die anderen Bilder deutlich als »Bilder« markiert, eine Zeile, die Verständnis-
hilfe ebenso wie Interpretationsvorgabe bietet: Disú bild bewisent der Ewi-
gen wisheit mit der sele geischlich gemahelschaft. Das Subjekt dieses Satzes
disú bild ist wie in den Vor-Schriften zu anderen Bildern (Nr. 6, 8/9, 11, 12)
als Plural begriffen; bild entspricht in diesem Fall also »Figur«. Die Über-
schrift zum ersten Bild gibt demnach einen Hinweis darauf, dass die Figur
des dieners in diesem Kontext als sele und das Verhältnis zur Figur der
ewigen wisheit als geischlich gemahelschaft zu verstehen ist, oder, wie in den
Handschriften B 1 und R noch einmal durch die Nachstellung von »geist-
lich« verdeutlichend formuliert ist: Dise bilde bebeysen [beweiset R] der
ewign weyshait gemahelschafft mit der sel geystlichn. Gleichwohl ist die
Figur des dieners bereits in diesem ersten Bild mit den Zeichen versehen, die
die Identität mit den entsprechenden Figuren in den folgenden Bildern des
Zyklus sichern, aber vorwiegend einem lebensweltlichen Kontext entnom-
men sind: Tonsur, Dominikanerhabit und Christusmonogramm. Es fehlen in
A, B 1, P und R noch die »Rosen« der Stigmatisation an Händen und Füßen
und der Rosenkranz-Nimbus.47 Dieser Nimbus ist der Figur in den Hss. K
und W und in den Drucken beigegeben, und hinzugefügt ist in diesem Zweig
der Überlieferung ein Attribut, das die Figur des dieners als Person, als
Autor, definiert: ein Buch (Farbtafel 4).48 Damit ist für diesen, späten, Zweig

46 Zum Problem der »Spruchbänder«/»Schriftrollen« vgl. Michael Curschmann,


»Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volks-
sprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Ma-
nesse«, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, hg. v. H. Keller, München
1992 (MMS 65), S. 211–229, hier S. 221–224.
47 Vgl. Hamburger, Medieval Self-Fashioning (Anm. 45), S. 441 f.; Edmund Colledge
and J. C. Marler, »›Mystical‹ pictures in the Suso Exemplar MS Strasbourg 2929«,
AFP 54 (1984), S. 293–354, hier S. 335, meinen irrtümlich, dieses Phänomen erst
in Bild Nr. 10 beobachten zu können. Zum Christusmonogramm vgl. Urban
Küsters, »Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters«, in: Mit-
telalter (Anm. 43), S. 81–109.
48 Zu ikonographischen Autor-Indizien vgl. Burghart Wachinger, »Autorschaft und
Überlieferung«, in: Autorentypen, hg. v. W. Haug/B. Wachinger, Tübingen 1991
(Fortuna Vitrea 6), S. 1–28; zuletzt: Ursula Peters, »Autorbilder in volkssprachigen
Handschriften des Mittelalters. Eine Problemskizze«, ZfdPh 119 (2000), S. 321–
368.
168 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

der Überlieferung jene feste Ikonographie geschaffen, die von nun an das
Bild Seuses, das Bild des Autors Seuse prägt und die Lektüre der ›Exem-
plar‹-Schriften wenn schon nicht steuert, so doch einer Identifikation des
Namens Súse mit der Figur des dieners und einem biographischen Konstrukt
nicht wehrt, das aus den erzählenden, »bildhaft« gedachten Teilen der ›Vita‹
gewonnen ist.
In Bild Nr. 11 (A: x) erscheint die Figur des dieners nicht (Farbtafel 5); der
sog. »mystische Weg« der Seele ist an einer Frauenfigur demonstriert, und es
sind der Indizien zu viele, als dass diese Figur, die musterhaft den dreifachen
o
Weg, den ersten begin, den ordenlichen durpruch dez zunemens und den al-
o
lerhehsten v́berswank v́berweslicher volkomenheit demonstriert,49 als »Ab-
bild« einer Figur der Lebenswelt begriffen werden könnte.50 In Bild Nr. 5 (A:
v), das nach der entsprechenden Erläuterung den strengen vndergang etlicher
[!] vserwelter gotes frúnden zeigt (A Bl. 57r, DS, S. 48*), ist die zentrale
Figur zwar als Dominikaner präsentiert, die Beischrift der diener fehlt jedoch
konsequenterweise ebenso wie die anderen sonst eingesetzten Indizien (Farb-
tafel 6). Die Identifikation dieser Figur mit dem diener ist also nur möglich,
wenn die Erinnerung aus der Lektüre der gesamten ›Vita‹ die im Bild
fragmentarisiert versammelten und auf »den Dominikaner« konzentrierten
Peinigungen als komprimierte Zeichen für die im Text beschriebenen liden
verstehen lässt. So wird das Nagelkreuz mit dem Christusmonogramm im 16.
und auch im 17. Kapitel erwähnt (DS 41,27; 45,7 u. 21), die Geißeln wieder
im 16. Kapitel (43,4 ff.), der Hund mit dem Fußtuch und der Teufel mit dem
Bohrer im 20. Kapitel (58,3ff.; 61,13), Teufel ob dem diener in den lúften im
37. Kapitel (115,13ff.), ein totes geschunden tierli von den wilden tieren
zerzerret im 38. Kapitel (125,13ff.), Teufel mit feurigem Pfeil und Bogen im
39. Kapitel (131,1ff.).
Die Zeichenhaftigkeit der einzelnen Leidensbilder ist vor allem zu erken-
nen an dem Hiob-Zitat frater eram leonum et socius strucionum (Iob 30,
29),51 der nachfolgenden Übersetzung Min breuder waren mir grimm lewen
vnd min gesellen vngehúr strussen und den Tieren, die entsprechend ins Bild
gesetzt werden. Sie fügen dem Dominikaner ebenso Leid zu wie die ihnen
gegenübergestellte Gruppe der Brüder aus dem Dominikanerorden, denen
der folgende Vers, eine Umkehrung von Ps 68,22, zugeschrieben wird: Mit
essich vnd mit gallen wellen wir in trenken mit schallen. Sie präsentieren dem
Leidenden den Essigschwamm aus den Arma Christi, damit wird zugleich
auf die Christförmigkeit von des dieners Leiden verwiesen.
Sowohl in den Bildern, die den diener in Visionen zeigen, als auch in den
drei Bildern, die das ›Exemplar‹ eröffnen (Nr. 1), das Leiden verdichtet

49 Vgl. Bihlmeyer, DS, S. 52*.


50 Genau dies geschieht jedoch in der im übrigen ausführlichen und erhellenden
Erläuterung des Bildes bei Colledge/Marler, Mystical pictures (Anm. 47), hier
S. 338–349 mit S. 347.
51 Vgl. dazu den Kommentar bei Künzle, Hor., zu 481,7 f., und Colledge/Marler,
Mystical Pictures (Anm. 47), S. 319 f.
Autorschaft und Medienwandel 169

thematisieren (Nr. 5) oder den »mystischen Weg« exemplifizieren (Nr. 11),


ist das Zeichenhafte der Bilder gewahrt. Sie beziehen sich auf den Text,
eröffnen aber eine zusätzliche und eigenständige Ebene der Reflexion, wie
sie in den wiederholten Betrachtungen zu den bilden im Text des ›Exemplars‹
deutlich werden und von Hamburger zuletzt gewürdigt worden sind. Als
»Illustrationen« zum Leben des dieners oder gar des Autors Seuse sind sie
kaum gedacht, wie insbesondere an der Straßburger Handschrift A zu beob-
achten ist.
Gleichwohl bietet der Zyklus auch in dieser Handschrift mit seiner Präsen-
tation der Rolle des dieners in elf der zwölf Bilder, mit der identischen
Bezeichnung der zentralen Figur in Text und Bild mit »der diener«, mit der
Ausstattung dieser Figur mit einem festen ikonographischen Muster und
endlich mit der Zuordnung der Bilder zu bestimmten Textpassagen, die
deutlich inhaltliche Bezüge zum Bild aufweisen, eine Reihe von Ansatzmög-
lichkeiten, die unter bestimmten Gesichtspunkten das »Leben« eines Autors
Seuse erst von Interesse sein lassen.
Der illustrative Aspekt der Bilder wird besonders deutlich in ihrer Posi-
tionierung im Anschluss an bestimmte inhaltlich entsprechende Textein-
heiten. Wenn wir Jeffrey F. Hamburger richtig verstanden haben, dann lässt
sich aus der bekannten Formel aus dem Prolog des ›Exemplars‹ über die
himelschen bilde, dú hie vor und na stand (DS 4,24 f.), ableiten, dass damit
nicht nur die Position des ersten Bildes vor dem Text, sondern auch die
Positionen der anderen Bilder »part of his [Seuses] original plan« gewesen
seien.52 Es sind jedoch in der Einrichtung der ältesten erhaltenen, der
»originalnahen« Straßburger Hs. A, deren Schreiber seine Vorlage offensicht-
lich genau, und Fehler durchgängig korrigierend, abgeschrieben hat, einige
Irritationen zu beobachten, die die Annahme nicht ausschließen, dass die
Bilder in dieser Vorlage nicht – mit Ausnahme des ersten Bildes – an den
Stellen inseriert waren, in denen sie in A und der gesamten Überlieferung,
bis auf P, erscheinen.
Als Beispiel sei das zweite Bild genannt, das sich in A auf Bl. 8v befindet
(Farbtafel 7). Dieses Blatt ist Teil der ersten Lage. Insgesamt enthält die Hs.
13 Lagen, deren ursprüngliche Zählung – unten auf der Verso-Seite des
jeweils letzten Blattes – bis auf die 4. Lage (Bl. 50v) erhalten ist; es handelt
sich zumeist um Sexternionen. Die erste Lage umfasst Blatt 1r – 13v, also ein
Blatt mehr, als bei einem Sexternio zu erwarten. Dies ist Folge dessen, dass
das Einzelblatt 8r/v zusätzlich in das 5. Doppelblatt eingelegt wurde; der
schmale Rest vom Falz des ursprünglichen Doppelblattes ist zwischen Bl. 5v
und 6r gut zu erkennen. Die Recto-Seite von Bl. 8 ist bis auf die unteren vier
Zeilen beschrieben, auf der Verso-Seite folgt dann das Bild. Bl. 9r bleibt fast
ganz frei, nur die untersten vier Zeilen sind beschrieben (Abb. 3). Dabei
beginnt die Anfangszeile erst in der Zeilenmitte, während die letzte Zeile auf
Bl. 8r auch etwa in der Mitte endet. Offenbar hat der Schreiber versucht, das

52 Hamburger, Medieval Self-Fashioning (Anm.45), S. 432.


170 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

Layout seiner Vorlage seiten- und zeilengetreu zu wahren.53 Dies kann nur
bedeuten, dass in der Vorlage von A nach dem entsprechenden Textpassus
(DS 20,23) kein Bild vorhanden war. Da nahezu sämtliche Bilder in A auf
Einzelblättern aufgetragen worden und entsprechende Verfahren des Schrei-
bers zu beobachten sind, den Seitenspiegel im Anschluss an das Bild zu
wahren, bedeutet dies, dass die Bilder in der Vorlage von A, die mit Recht als
»originalnah« gilt, sehr wahrscheinlich en bloc zusammengebunden und der
Hs. inseriert gewesen sind, so wie dies noch jetzt in P zu beobachten ist.54 Es
ist zu überlegen, wie dieses – an sich nicht ungewöhnliche Verfahren – mit
dem zitierten Satz von den Bildern, die hie vor und na stand, übereinstimmen
könnte. Sicher ist, dass durch ein solches Verfahren das illustrative Moment
der Bilder, das noch bis in die gegenwärtige Terminologie hinein zu spüren
ist, zurückgedrängt und statt dessen deren reflexives Moment deutlicher
hervorgetreten ist.
Dass die Bilder in den meisten Hss. in den laufenden Text inseriert worden
sind, hat vermutlich nicht unerheblich dazu beigetragen, dass die ›Vita‹ als
Autobiographie und Seuse als ihr Autor begriffen worden sind. Denn Auto-
renbilder, die explizit auf Heinrich Seuse als Verfasser des Werkes hinweisen,
sind in A und in den anderen Handschriften nicht zu finden. Auch die in K
(Farbtafel 8 [I.]) und A (Farbtafel 8 [II.]) enthaltene große Initiale E zu
Beginn der ›Vita‹ (Es waz ein brediger in tútschem lande …), in deren
unterer Hälfte der Kopf bzw. der Oberkörper eines Mönchs erscheint, ist
nicht wie sonst häufig als Autorendarstellung zu verifizieren, sondern ver-
weist auf den diener, der im ersten Satz als brediger vorgestellt ist. Die im
Prolog als geischlichiú tohter (4,19) bezeichnete und möglicherweise im 33.
Kapitel dann – im Gegensatz zu einem Heinrich Seuse – explizit genannte
Elsbeth Stagel erscheint mit Namensbeischrift Elisabet auf dem 10. Bild
(Farbtafel 9); hier erhält sie, offenbar als Zeichen ihrer Teilhabe an der
besonderen Gnade, die dem diener zuteil geworden ist, von diesem einen
Rosenkranz. Sie selbst sitzt dabei auf einem thronähnlichen Stuhl, auf dem
neben ihr ein Buch zu sehen ist, das in W Bild Nr. 10 fehlt. Möglicherweise
wird auf diese Weise – in A – ihre Mitautorschaft in Szene gesetzt, die ihr in
W wieder entzogen ist. Ob die Bilder demnach eine Autorschaft »im Plural«
reflektieren und die jüngeren Handschriften sich demgegenüber auf den
diener als den einen mit »Seuse« identifizierten Autor konzentrieren, muss

53 Ein nahezu identisches Verfahren hat der Schreiber der sog. Kaloscaer Kleinepik-
Handschrift (jetzt Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bo[dmer] 72) bei der
Abschrift seiner Vorlage, des Heidelberger Cpg 341, angewandt; vgl. Konrad
Zwierzina, »Die Kaloscaer Handschrift«, in: Festschrift Max H. Jellinek, Wien/
Leipzig 1928, S. 209–232.
54 Jeffrey Hamburger hat uns in der Diskussion darauf hingewiesen, dass Bl. 9r
ursprünglich beschrieben war, dann aber radiert worden ist und dass dies folglich
auch andere Hypothesen zur Entstehung der Hs. A und zur Verteilung der Bilder in
deren Vorlage zulässt, auch wenn die Umstände der Rasur im einzelnen noch zu
klären sind. Wir danken Jeffrey Hamburger sehr herzlich für die Freundlichkeit
und Offenheit, mit der er uns seine Unterlagen zur Verfügung gestellt und in den
Pausen des Colloquiums auf der Reisensburg diskutiert hat.
Autorschaft und Medienwandel 171

Vermutung bleiben. Gleichwohl zeigt sich auch an diesem Detail, dass die
Bilder trotz eines Grundbestandes an wesentlich identischen Elementen offen
für Modifikationen sind, die ihre Funktionen in Bezug auf den Text und seine
Hauptfigur und für den Leser verändern. Demonstriert werden mag dies an
dem zuvor in anderem Zusammenhang besprochenen Bild Nr. 2 (Farbtafel 7),
einem der Visionsbilder.
Das Bild, Bl. 8v in Hs. A, folgt auf einen Abschnitt im 5. Kapitel der
›Vita‹. Dieser lautet:
o
Und eins males nach einem lidenden zite do geschah eins morgens fru, daz
er och umbgeben waz mit dem himelschen ingesinde in einer gesiht. Do
begert er von ire einem klaren himelfúrsten, daz er im zogti, in weler wise
gotes verborgnú wonung in siner sele gestalt were. Do sprach der engel
zuo im also: »nu tuo einen frolichen
e o
inblik in dich und lug, wie der minneklich
got mit diner minnenden sele tribet sin minnespil.« Geswind sah er dar und
sah, daz der lip ob sinem herzen ward als luter als ein kristalle, und sah
o
enmiten in dem herzen ruweklich sizen die ewigen wisheit in minneklicher
gestalt, und bi dem sass des dieners sele in himelscher senung; dú waz
minneklich uf sin siten geneiget und mit sinen armen umbvangen und an sin
e
gotlich herze gedruket, und lag also verzogen und versofet von minnen under
dez geminten gotes armen (DS 20, 10–23).
Bild Nr. 2 scheint auf den ersten Blick eine genaue Illustration dieses
Textabschnitts zu sein:55 Der diener sitzt auf einer altarähnlichen Bank dem
Betrachter frontal gegenüber. Mit beiden Händen öffnet er das Gewand über
der Brust und gibt so den Blick auf zwei kleine Gestalten frei, die dort in
inniger Umarmung zu sehen sind. Die linke Figur erscheint etwas größer als
die andere und ist mit einem Nimbus versehen; die rechte ist nackt, der Kopf
gesenkt, die Blickführung weist auf die größere Figur. Während der diener
durch die übliche Beischrift gekennzeichnet ist, lassen sich die beiden
kleinen Gestalten nur über den Text als Seele des dieners und als die Ewige
Weisheit bzw. Gott identifizieren. Links und rechts vom diener sind in ganzer
Gestalt zwei Engel zu sehen, die in der Luft zu schweben scheinen; sie
verweisen mit eindeutigem Zeigegestus auf den diener.
Da der diener dem Betrachter frontal gegenübersitzt, wird dieser gleich-
zeitig zu seinem »realen« Gegenüber; beide, der diener und der Betrachter,
treten somit in eine direkte, visuelle Dialogsituation. Die frontale Haltung
des dieners gestattet dem Betrachter einen unverstellten Blick auf das visio-
näre Geschehen. Wie der Engel dem diener den Blick in sein Inneres
ermöglichte und ihm dadurch Trost spendete, steht nun der diener an dieser
Stelle und lädt den Betrachter ein, ebenfalls Zeuge dieser Szene und damit
zum Vertrauten zu werden, was sonst besonders prägnant im Umgang mit
dem Status der Heimlichkeit für das Christus-Monogramm in Text und Bild,
für die Figuren des erzählten Geschehens und für den Leser zum Vorschein
kommt. Der Verzicht auf eine räumlich feste Verortung sowohl der Engel als

55 Vgl. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses. Untersuchungen zu
den illustrierten Handschriften des Exemplars, Diss. Mainz 1987, Bd.1, S. 77–81.
172 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

auch der »Bank« weist gleichzeitig die Vorstellung ab, dass es sich bei
diesem Bild um die Darstellung einer wirklichkeitsnahen, erlebnishaften
Begebenheit handelt.
In P ist diese Darstellung noch durch eine kleine Abänderung gegenüber A
radikalisiert (Farbtafel 10): Der diener öffnet nicht sein Gewand, wodurch die
Ewige Weisheit und die Seele sichtbar werden, sondern hier hält er die Hände
über seinem durchsichtig erscheinenden Leib, in dem das Paar, das einander
umarmt, zu sehen ist.
Anders wiederum das Verfahren von W (Farbtafel 11): Insgesamt ist der
Bilderzyklus, wahrscheinlich von einem professionellen Illuminator, reicher,
auch kunstvoller ausgestattet als in A und besonders in P. Damit einher
gehen, wie bereits am Eingangsbild zu sehen, auch inhaltliche Veränderun-
gen, die am Ende das Bild als »Illustration« des zuvor Berichteten erscheinen
lassen. Zwar bleiben die Grundzüge des Bildes erhalten, doch statt der
beiden Engel, die in A rechts und links neben dem diener in der Luft zu
schweben scheinen, steht gegenüber dem diener, der nicht durch eine Bei-
schrift als solcher gekennzeichnet ist, ein Engel mit halb ausgebreiteten
Flügeln und verweist mit einem Zeigegestus auf die als Christus dargebotene
Ewige Weisheit, die die »Seele« (eine kleine nackte Gestalt mit Merkmalen
eines Kindes) an sich zieht. Diese beiden befinden sich jedoch nicht »im
Innern« des – hier nimbierten – dieners, sondern sitzen auf dem Schoß des
dieners, der beide leicht mit seinen Händen umfasst. Oberhalb dieser Szene
ist, vielleicht mit erneutem Rückgriff auf den Text, eine aus fünf Engeln
bestehende Gruppe zu sehen, die wie von einer Burgzinne den Abstand von
Erde und Himmel, der durch kräftige blaue Farben gekennzeichnet ist,
markiert. Die untere Szene dagegen ist deutlich auf einem durch grüne Farbe
gekennzeichneten wiesenartigen Untergrund verankert. Dadurch wird eine
räumliche Verortung des Geschehens vorgenommen: Der Bereich des Him-
mels wird als Aufenthaltsort der Engelgruppe deutlich von der Erde, wo sich
der diener aufhält, getrennt. Die dargestellte Vision erhält damit einen festen
räumlichen Bezugspunkt, so dass sie aus der spirituellen Erfahrungswelt in
eine »reale« hereingeholt erscheint. Die Darstellung der Engel am oberen
Bildrand und des einzelnen Engels, der mit dem diener im Dialog steht,
zeigt, dass es hier eher auf den berichteten Kontext der Vision, auf den
detailliert dargestellten Dialog des Engels mit dem diener ankommt. Dem-
gegenüber wird die in der Vision gnadenhaft gestattete Schau der Ewigen
Weisheit und der Seele des dieners zurückgedrängt. Auch die Unmittelbarkeit
der Schau für den Betrachter wird aufgehoben, da der diener nicht in
Frontalposition erscheint, sondern durch eine Körperdrehung auf den Engel
(und dieser mit leicht gebeugten Knien auf den diener) bezogen ist. Das
Geschehen wird in sich geschlossen, der Betrachter wird nicht mehr in die
Reflexion einbezogen, sondern zum distanzierten Außenseiter. Das Bild
erhält einen ornamentalen, erzählenden Charakter, es »illustriert« eine Sta-
tion im Leben des dieners. Während der Druck von 1482 (a) gleichsam eine
Kopie der Wolfenbütteler Handschrift darstellt (Abb. 4), zeigt sich im Druck
von 1512 (b) (Abb. 5), dass hier die in W schon angedeutete funktionale
Autorschaft und Medienwandel 173

Änderung beider Medien endgültig vollzogen wurde. Nicht nur das Vorwort
und seine Hinweise auf das Leben Heinrich Seuses, das im wesentlichen auf
den Angaben des Dominikaners Johannes Meyer beruht, der seine Angaben
wiederum aus der ›Vita‹ entnommen hat, lassen nurmehr den Text der ›Vita‹
als Lebensbeschreibung und Autobiographie des Mystikers erscheinen, son-
dern auch das visuelle Medium erscheint in der konsequenten Ausführung
der in W nur angedeuteten Tendenzen als Illustration eines äußeren Lebens-
weges. Formatverkleinerung, Reduktion der Beischriften, Auflösung der
Text-Bild-Relation lassen die Bilder zu Ornamenten des Textes werden, dem
die Sorge des Verfassers des Vorwortes gilt. Die Bilder, sie werden Hans
Schäufelein zugeschrieben,56 verzichten darauf, die dargestellten Szenen als
visionäre Ereignisse kenntlich zu machen. Verstärkt wird hingegen der Ein-
druck erweckt, dass es sich um Situationen einer alltäglich möglichen Erfah-
rung einer durch Heiligmäßigkeit ausgezeichneten Person handelt: Das
zweite Bild ist konzeptionell der Darstellung im Druck von 1482 sehr
ähnlich, die es seitenverkehrt übernimmt; darüber hinaus verortet sie aller-
dings das Geschehen durch die ausführliche landschaftliche Gestaltung des
Hintergrunds in einen konkreten Raum.
Während die Offenheit der Konzeption für die Figur des dieners und der
Ewigen Weisheit einer eindeutigen Festschreibung im Bild weicht, die Ewige
Weisheit erscheint durchgängig als gekrönter alter Mann, der diener allein
mit dem Rosenkranz, lösen sich die Bilder durch den Verlust der anderen
identifizierenden Merkmale und durch die fehlenden Namensbeischriften
von der Rollenzuschreibung des Dargestellten; der diener ist nicht mehr der
diener, sondern kann auf den im Vorwort präsentierten Autor Heinrich Seuse
bezogen werden. Explizit vollzogen wird dieser Schritt allerdings nicht.
Verglichen mit den Bildern der Handschrift A erscheinen die Bilder in
diesem Kontext nicht als eigenständige Medien, die Andacht inspirieren und
leiten können, sondern als illustrative und ornamentale Beigaben zum Text.
In einer veränderten literarhistorischen Situation – Und ob es darzuokaem
durch schickung gottes / das man jn zuo Ulm auß Baepstlichen gewalt [zur
Ehre der Altäre] erheben wurd, heißt es im ›Prologus‹ – zielen die Bilder auf
eine lebensweltliche, hagiographische Muster bestätigende Darstellung. Sie
erscheinen hier als Stationen einer Biographie und eröffnen die Möglichkeit,
den dargestellten diener mit dem Autor Heinrich Seuse, dessen Leben erst
aus der ›Vita‹ zu gewinnen war, dadurch zu identifizieren, dass sie ihn
einerseits auf allen Bildern gleichbleibend präsentieren und anderseits auf die
Namenszuschreibung und Rollendefinition als diener der ewigen wisheit
verzichten. Festzuhalten bleibt, dass der Medienwandel von der Handschrift
zum Druck bei der Ausbildung und Beschleunigung dieses Prozesses nicht

56 Maria Consuelo Oldenbourg, Die Buchholzschnitte des Hans Schäufelein. 2 Bde.,


Baden-Baden 1964, Abb. 202-217; Hans Schäufelein: Das druckgraphische Werk,
hg. von den Stadtgeschichtlichen Museen Nürnberg, der Albrecht-Dürer-Stiftung
e. V. Nürnberg und dem Verein Rieser Kulturtage e. V. Nördlingen, bearbeitet von
Karl Heinz Schreyl. Bd. 1 und 2, Nördlingen 1990, Abb. 420-435; vgl. hingegen
Bihlmeyer, DS, S. 56* (»Hans Burgkmair«)
174 Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

von zentraler Bedeutung war. Die Ansätze bot bereits die handschriftliche
Überlieferung, auch die in A erhaltene, die dem Autor (?) zeitlich noch sehr
nahe stand. Die im Bildprogramm angelegten Konsequenzen werden wirk-
sam erst im Druck von 1512, der Druck von 1482 bleibt eng an einer
Handschrift, vermutlich an W, orientiert (Farbtafel 12; Abb. 6, 7, vgl. oben
S. 165).
Die letztliche Identifizierung des dieners der ewigen wisheit mit dem
Autor Heinrich Seuse geschieht schließlich in zwei eigenständigen Bildtypen
außerhalb des ›Exemplars‹, in Einblattdrucken mit Holzschnitten zur Vereh-
rung des Seligen und in den sog. Dominikaner-Stammbäumen.
So eröffnet Johannes Meyers ›Liber de illustribus viris O. P.‹ im Autograph
aus dem Dominikanerkloster in Basel (1466) ein Holzschnitt des Beatus
heinricus süsze frater ordinis predicatorum (Farbtafel 13 [II.]).57 Er erscheint
in ganzer Figur, aufrecht stehend im Halbprofil nach rechts gewendet, im
Dominikanerhabit mit Rosenkranz-Nimbus, stigmatisierter rechter Hand und
dem Christusmonogramm, ähnlich dem Muster, wie es in Bild Nr. 1 in W
(Farbtafel 4) vorgegeben und in a wiederholt worden ist. Statt des Schrift-
bandes dort, präsentiert er jedoch hier in der linken Hand in Dedikationsgeste
ein Buch, sein Buch, aus dem eine Rose erwächst. – Ein weiteres Beispiel ist
der bekannte anonyme schwäbische Holzschnitt (vielleicht Ulm, um
1470/80), dessen winzige Reproduktion noch jetzt als Andachtsbildchen in
Kirchen ausliegt (Farbtafel 13 [I.]). Es handelt sich um ein Devotionsbild, in
welchem besonders auffallend Eigenheiten des dieners dem selig hainrich
sus ze costentz geborn zugeschrieben sind. Die Subscriptio des Bildes, zu
dem Bild Nr. 12, oberes Register, in der Gestaltung von W a (Farbtafel 12,
Abb. 6) das Muster geboten hat, gibt in Kurzform eine Lebensbeschreibung
Heinrich Seuses mit Angaben zu den Namen, zu Geburtsort und Ort des
Begräbnisses (ze costentz geborn am bodmersee / Nam die ewig wysshait
o
zum gmahel gaistlicher ee / […] des frödt sich vlm die sein grab vnd hailtum
halt in eren) kombiniert mit Elementen aus ›Vita‹ und ›Horologium‹. Dem
entspricht die Darstellung »Heinrich Seuses«: Er kniet im Dominikanerhabit,
der ewig wysshait zugewandt, die mit Herrscherinsignien in der Gestalt der
Maria rechts oben auf einem Wolkenkranz erscheint; er trägt den Rosen-
kranznimbus und hält in der rechten Hand den Griffel, mit der Spitze auf das
Christusmonogramm auf der Brust gerichtet (Kap. 4). Rechts vor ihm steht
der Hund mit dem Fußtuch (Kap. 20), links von ihm, perspektivisch in
seinem Rücken, wächst ein Rosenbaum, in dessen Ästen sich Christus als
Kind befindet und Rosen auf »Seuse« herabwirft (Kap. 34). Daneben ist
links unten das Wappen der Stadt Ulm zu sehen. Leere »Spruchbänder«,
deren Zuordnung undeutlich bleibt, könnten auf die Autorschaft deuten. Wie
im Vorwort zum Druck von 1512 hat hier eine Identifizierung der ver-
schiedenen Bereiche stattgefunden: Der diener der ewigen wisheit ist Hein-
rich Seuse und zugleich der Autor der bekannten Werke.

57 Zum Codex vgl. Werner Fechter, »Meyer, Johannes OP«, in: 2VL 6, 1987, Sp.
474–489.
Autorschaft und Medienwandel 175

Unter anderen Bedingungen steht die Ikonographie des dieners resp.


Heinrich Seuses in den Dominikanerstammbäumen.58 In der Reihe der
Seligen und Heiligen, die der Orden hervorgebracht hat, kommt den identi-
fikationsstiftenden Merkmalen des dieners für Heinrich Seuse differenzie-
rende Funktion zu. So ist ein Buch in der Regel Albertus Magnus oder
Thomas von Aquin zugeordnet, und auch das Christusmonogramm ist für
andere Dominikaner belegt. So ist nicht wirklich beweisbar, ob das »Tafel-
bild eines unbekannten schwäbischen Künstlers, um 1470«,59 das sich heute
auf Schloss Lichtenstein (bei Reutlingen, Baden-Württemberg) befindet,
»Heinrich Seuse« darstellt (Abb. 8). Es dürfte aus einem Dominikaner-
stammbaum entnommen und zusammen mit zwei weiteren Heiligen (?) des
Ordens, beide gleichfalls auf einem »Tafelbild« mit Goldgrund in einem
Rahmen des 19. Jahrhunderts (?), über deren Provenienz bislang keine
Auskünfte zu erhalten sind, im vorigen Jahrhundert in den Besitz des Hauses
Württemberg gekommen sein. Keinem der drei Dominikaner ist ein sonst
übliches Namensband mit kurzen weiteren Hinweisen beigegeben (Säkulari-
sationsverlust?). »Heinrich Seuse« trägt das Dominikanerhabit, die Kukulle
mit Goldborte, wendet sich im Halbprofil nach links. Um sein Haupt ist auf
dem Goldgrund mit floralem Muster ein Kreis gezogen, der einen Nimbus
andeutet. Er trägt in der Linken (!), die zugleich die Borte der Kukulle fasst,
einen Griffel, in der Rechten einen Rosenkranz. Die weiße Tunika ist über
der rechten Brust, in der Form und an der Stelle der Seitenwunde Christi,
geöffnet, so dass das Christusmonogramm (IHS) in goldenen Lettern auf der
Haut zu erkennen ist. Indizien, die den Dominikaner als »Autor« ausweisen,
fehlen. Die Christförmigkeit des Leidens aber ist, wohl im Zuge der Vereh-
rung der Seitenwunde und der Eucharistie, bewahrt. Einen diener der ewigen
wisheit wird man also in diesem »Heinrich Seuse« erkennen dürfen.

58 Vgl. Angelus Walz O. P., »Von Dominikanerstammbäumen«, AFP 34 (1964),


S. 231–275; ders., »Zur dominikanischen Ikonographie«, AFP 35 (1965), S. 255–
263; ders., »Der Kult Heinrich Seuses«, in: Heinrich Seuse. Studien (Anm. 11),
S. 437–454; ergänzend Paul Hofer und Luc Mojon, Die Kunstdenkmäler des
Kantons Bern. Bd. 5: Die Kirchen der Stadt Bern. Antonierkirche, Französische
Kirche, Heiliggeistkirche u. Nydeggkirche, Basel 1969, S. 67, 130–133, 138;
Hamburger, Medieval Self-Fashioning (Anm. 45), S. 434 f.
59 Norbert H. Ott, »Heinrich Seuse«, in: Literaturlexikon Bd. 11, hg. v. W. Killy,
Gütersloh/München 1991, S. 33.
176
Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

Abb. 1: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. H.B. I. Ascet.15., Bl. 16v, 17r, 17v.
Raumaussparung in Hs. S für nicht ausgeführte Bilder, von denen nur die Über- und Inschriften übernommen wurden.
Autorschaft und Medienwandel 177

Abb. 2: Straßburg, Ms. 2929, photo et coll. de la Bibliothèque Nationale et Univer-


sitaire de Strasbourg, Bl. 1r.
Vermerk über die Anzahl der in der Hs. A enthaltenen Bilder auf der Titelseite
der Handschrift.
178
Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

Abb. 3: Straßburg, Ms. 2929, photo et coll. de la Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg, Bl. 8r, 8v, 9r.
Anpassung an das Layout der Vorlage durch Ausgleich des Zeilenspiegels in Hs. A.
Autorschaft und Medienwandel

Abb. 4: ›Das Buch genannt Seuse‹, Augsburg: Anton Sorg, 1482. Stutt- Abb. 5: ›Diss buch das da gedicht hat der erleücht vater Amandus,
gart, Württembergische Landesbibliothek, Inc. fol. 15 188 b1, Bl. 14v. genannt Seüß/ […], Augsburg: Johann Othmar, 1512. Köln, Univer-
179

Vision des dieners, Druck 1482 (a), Bild Nr. 2. sitäts- und Stadtbibliothek, GB IV 1952, Bl. 9r. Vision des dieners,
Druck 1512 (b), Bild Nr. 2.
180
Stephanie Altrock / Hans-Joachim Ziegeler

Abb. 6: ›Das Buch genannt Seuse‹, Augsburg: Anton Sorg, 1482. Stutt- Abb. 7: ›Diss buch das da gedicht hat der erleücht vater Amandus,
gart, Württembergische Landesbibliothek, Inc. fol. 15 188 b1, Bl. 59v. genannt Seüß/[…], Augsburg: Johann Othmar, 1512. Köln, Universitäts-
Der diener kniend vor Christus am Kreuz, aus dessen Fuß ein Rosen- und Stadtbibliothek, GB IV 1952, Bl. 40v. Der diener kniend vor Chri-
baum entsprießt, Druck 1482 (a), Bild Nr. 12. stus am Kreuz, aus dessen Fuß ein Rosenbaum entsprießt, Druck 1512
(b), Bild Nr. 12.
Autorschaft und Medienwandel 181

Abb. 8: ›Tafelbild‹ aus einem Dominikanerstammbaum, Heinrich Seuse


mit den Merkmalen des dieners. Schloss Lichtenstein (Reutlingen)
Diskussionsbericht

Armin Schulz (München)

Vorlagen Grubmüller und Quast

Vor allem am Beispiel volkssprachlicher Bibelepik befassen sich Quast und


Grubmüller mit Äußerungen, in denen das Bemühen um Textsicherung
greifbar wird, der Wille zur – wortwörtlichen – Fixierung der schriftlichen
Gestalt. Diskutiert werden diese Befunde in Auseinandersetzung mit der
These der New Philology, gerade die Unfestigkeit der schriftlichen Über-
lieferung (mouvance) sei konstitutiv für volkssprachliche Textualität, wohin-
gegen nur die gelehrt-lateinische Schriftlichkeit durch programmatische In-
varianz gekennzeichnet sei.
Es wird darauf hingewiesen, dass die volkssprachlichen Belege zeitlich
mit gelehrt-lateinischen Bestrebungen zusammenhängen, dem Bibeltext ver-
bürgte Festigkeit zu geben (Pariser Bibelreform, Frankenthaler Bibel:
Bumke, Hamburger). Wo Verbesserungen nur einem bestimmten Personen-
kreis eingeräumt werden, besteht trotz Schriftfixierung die Vorstellung einer
räumlichen Nähe zwischen dem Autor-Sprecher und den potentiellen Korrek-
toren, im Sinne einer face-to-face-Kommunikation unter Anwesenden (Mül-
ler).
Autoräußerungen, die auf die Festigkeit des Textes abzielen, gelten (a) der
Primärrezeption, die mit face-to-face-Interaktion rechnet, und (b) der Text-
reproduktion in Abwesenheit des Autors. Die Autoren sprechen Schreiber als
Rezipienten wie als Reproduzenten an, an deren Verantwortung appelliert
wird (Hausmann).
Auch wenn die Appelle, an den Werken nichts zu verändern, offensichtlich
ungehört blieben, die Praxis also nicht den Willen der Urheber widerspiegelte
(Heinzle, Kellner, Schulze), so spricht aus ihren Äußerungen doch ein
prinzipielles Vertrauen in die schriftliche Tradierung (Lieb). Es gibt die
Vorstellung einer Idealgestalt des Textes, die entweder bereits erreicht oder
durch gezielte Verbesserungen noch zu erreichen ist (Müller, Grubmüller,
Quast). Der Text selbst wird auratisiert (Grubmüller). Die ›emphatische
Autorschaft‹, die aus den Äußerungen spricht, ist somit nicht genieästhetisch
zu verstehen, sondern alleine auf die Idealgestalt des Textes bezogen; mittel-
alterliche Autoren verstehen sich als artifices, als gelehrte Handwerker. So
Diskussionsbericht 183

geht es insbesondere um die formale Gestalt der rîme (Müller, Grubmüller,


Young).
Die Diskrepanz zwischen Autorwillen und Überlieferungspraxis wirft das
prinzipielle Problem auf, wie zwischen den bewussten Artikulationen einzel-
ner Subjekte und den tatsächlichen kommunikativen Praktiken zu gewichten
sei (Strohschneider, Kellner). Sinnvoll erscheint eine Verschränkung beider
Perspektiven (Grubmüller). Es stellt sich allerdings die Frage, ob Einla-
dungen, den Text zu verbessern, nicht bloß topisch zu verstehen sind, als
Demutshaltung, die seitens der Rezipienten erwartet wurde (Schnell). Als
erkennbar konventionalisierte Äußerungen (Grubmüller) sind Topoi jedoch
Speicher von kulturellem Wissen, dem Autorität zukommt (Lieb). Die Belege
entstammen überwiegend der religiösen Dichtung. Offenbar hängt das Be-
mühen, die Textgestalt zu sichern, mit der ›inhaltlichen Verbindlichkeit‹ des
Textes (Grubmüller) bzw. dessen ›Normativität‹ (Quast) zusammen:
(1) Die Sorge um den Text wird gerade dort greifbar, wo seine Inhalte
dogmatisch angreifbar sind (Grubmüller): Bibelepik, deren Stoff der kanoni-
schen Grundlage entbehrt und die so ein Legitimationsdefizit aufweist, wird
einerseits abgesichert, indem die Autoren darauf pochen, ihrer schriftlichen
Vorlage penibel gefolgt zu sein und nichts hinzugefügt oder weggelassen zu
haben, andererseits dadurch, dass kompetente Rezipienten dazu aufgefordert
werden, Falsches zu streichen und Fehlendes zu ergänzen, um so die Wahr-
heit des vermittelten Stoffes sicherzustellen. Ähnliche Bemühungen um
Textfestigkeit finden sich auch in der lateinischen Tradition, so bei Abaelard
und Hugo von St. Victor. Hier geht es um die Verantwortung für den Text, der
nicht von Schülern und Abschreibern verfälscht werden darf, um jegliche
Nähe zu häretischen Äußerungen zu vermeiden (Bezner).
(2) Die ›Verbindlichkeit‹ bzw. ›Normativität‹ des Textes bezieht sich offen-
bar mehr auf Stoff und Inhalt als auf die sprachliche Gestalt (Friedrich,
Wolf). Wo trotz inhaltlicher Verbindlichkeit zur sprachlichen Korrektur auf-
gefordert wird, wird die Autorrolle gewissermaßen auseinandergenommen
(Müller): Die Vorstellung einer Einheit zwischen Inhalt und Form ist im
Mittelalter noch nicht gegeben (Schnell).
(3) Jedoch ist nicht in allen Fällen die Verbindlichkeit des Stoffes entschei-
dend. So findet sich in der Vorrede einer Predigtsammlung (um 1200) die
Aufforderung, Texte fortzulassen oder zu ergänzen. Die auctoritas der mate-
ria entscheidet also nicht notwendig über die Festigkeit der Texttradierung.
Bibelstellen werden oftmals unpräzise aus dem Gedächtnis zitiert (Mertens),
andererseits gibt es höfische Romane und Heldenepen, die nahezu textiden-
tisch kopiert werden (Heinzle, Schulze). Es stellt sich die Frage, ob die
Dichotomisierung zwischen ›weltlichen‹ und ›geistlichen‹ Materien tatsäch-
lich tragfähig ist (Strohschneider, Brüggen, Grubmüller). ›Normativität‹ als
Korrelat von ›Textfestigkeit‹ hat somit nur eine heuristische Funktion.
(4) Trotz stofflicher Verbindlichkeit kann es im Überlieferungsprozess zu
Textänderungen kommen, wenn die Vorlage partiell unverständlich ist, wie
etwa im Falle Mechthilds von Magdeburg (Hamburger). Formale Komplexi-
tät des Werks ist also nur bedingt ein Mittel der Textsicherung (Schnell).
184 Armin Schulz

(5) Unklar bleibt, was die mittelalterlichen Autoren unter ›Wortwörtlich-


keit‹ verstanden haben (Quast). Die Reimvorrede des Sachsenspiegels, die
die identische Überlieferung des Textes einfordert, wird in einer Reihe von
extrem divergenten Textzeugen überliefert (Schulze). Zeitgenössisch wird
Textidentität noch da behauptet, wo ganze Erzählblöcke gekürzt, erweitert
und umgestellt wurden (Grubmüller).
Textfestigkeit und Textbeweglichkeit sind nur als relative Größen denkbar
(Bumke, Nichols). Insgesamt stellt sich die Aufgabe, diese Relativität anhand
einer synchronen wie diachronen Typenbildung zu beschreiben (Bumke).
Allerdings ist das literaturwissenschaftliche Beschreibungsinventar hierzu
noch unterkomplex (Strohschneider).

Vorlage Schulze

Anhand der von Schulze vorgelegten Beispiele aus Rechtstexten – hohe


Varianz bei gleichzeitiger Behauptung von Textidentität – zeigt sich, dass
unser Verständnis von ›Identität‹ bzw. ›Wortwörtlichkeit‹ sich wesentlich von
dem mittelalterlichen unterscheidet.
(1) Volkssprachliche Varianz ist offenbar weniger medial bedingt als kon-
zeptionell (Strohschneider). Sie zeigt sich gleichermaßen in der Überliefe-
rung ursprünglich mündlicher Rechtssatzungen wie in divergierenden Ab-
schriften von Rechtstexten (Schulze). In der Volkssprache geht der Wechsel
von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit nicht mit einer Textverfestigung
einher (Lieb). Hier liegt offensichtlich, trotz des Medienwechsels, eine ›kon-
zeptionelle Mündlichkeit‹ im Sinne von Koch/Oesterreicher vor (Stroh-
schneider). Nach pragmalinguistischem Verständnis ist die Verdauerung von
›Text‹ nicht notwendig mit Schrift und wortwörtlicher Identität gleichzu-
setzen (Müller): ›Text‹ meint, mit Konrad Ehlich, die ›Überbrückung zweier
Sprechsituationen‹. Wo diese Überbrückung dem Gedächtnis und dem ›per-
sonalen Filter‹ der Schreiber anheimgestellt ist, kommt es zur Varianz, da das
sprachliche Material in aktiver Adaptation dem eigenen Sprachduktus ange-
passt wird (Schulze). Voraussetzung der Varianz ist auch, dass die volks-
sprachliche Rechtssprache – anders als die lateinische – kaum begrifflich-
terminologisch fixiert war, so dass lateinisch eindeutig benennbare Sach-
verhalte in der Volkssprache einen gewissen Formulierungsspielraum zulie-
ßen (Müller, Schulze). Zudem ist – anders als bei gebundener Rede – bei
Prosa vorab keine Festigkeit gegeben (Heinzle).
(2) Offenbar sind die Kopisten von Rechtstexten weniger dem Wortlaut als
dem Sinn verpflichtet, also nicht der Textoberfläche, sondern einer semanti-
schen Tiefendimension (Schulze). Dies lässt zwei konträre Erklärungen zu:
Entweder ist ›linguistische Identität‹ (Strohschneider) gleichgültig, solange
der Sinn unverfälscht transportiert wird; oder aber der Abschreiber bemüht
sich gerade um Präzisierung (Bumke). Variation zeigt, dass der Kopist das
Aufzuschreibende verstanden hat – im Sinne einer imaginären face-to-face-
Kommunikation mit dem abwesenden Urheber des Textes (Mertens).
Diskussionsbericht 185

(3) Möglicherweise ist eine derartige Varianz nur im Medium der Schrift
wahrnehmbar und somit bewusst praktizierbar, so dass die Lizenzen auch ein
genuines Kennzeichen mittelalterlicher Schriftlichkeit wären (Grubmüller).
Allerdings sind aus dem Mittelalter durchaus ›identische‹ Texte überliefert –
sogar in der für ihre Varianz bekannten Heldenepik (Heinzle).
(4) Medienhistorisch wäre zu unterscheiden zwischen dem ›chirographi-
schen‹ Textverständnis der Skriptorien, das Varianzen zulässt, und dem
›typographischen‹ des Buchdruckzeitalters, das auf der Identität verschiede-
ner Exemplare basiert (Mertens).

Vorlage Hausmann

Im Vordergrund steht Hausmanns Iwein-Interpretation. Der Überlieferungs-


befund beim Iwein mit seinem differierenden Schluss in den Hss. A und B ist
irritierend, da derartige ›Textausfaltungsphänomene‹ oder Kürzungen ge-
wöhnlich nur bei Texten erscheinen, die wie die Dietrichepik von erheblich
größerer struktureller Offenheit geprägt sind (Heinzle).
A und B könnten auf einer hypothetisch anzunehmenden *AB-Fassung
beruhen, die von späteren Redaktoren unterschiedlich behandelt wurde; sie
könnten aber grundsätzlich auch beide auf Hartmann selbst zurückgehen
(Hausmann, Müller). Eine diachrone Entwicklung ist nicht rekonstruierbar
(Heinzle, Schnell, Wolf). Die beiden Varianten reagieren konsequent, aber
durchaus unterschiedlich auf eine Aporie – die unterschiedliche Minneauf-
fassung Iweins und Laudines –, die im ›Kerntext‹, d. h. im gemeinsamen
Überlieferungsbestand von A und B und damit wohl auch im verlorenen
›Autortext‹, angelegt ist, ohne diese Aporie auflösen zu können (Hausmann,
Young). Beide Fassungen präsentieren sich je für sich als ›ganzer Text‹, der
strukturell durchaus geschlossen ist (Hausmann). Die Identität des jeweiligen
Textes gründet zwar auf dem ›Kerntext‹, offenbart sich jedoch erst in der Art
und Weise, wie dieser sich in der Überlieferung entwickelt. Erkennbar wird
die Identität des Textes damit erst nach der Kollationierung der Überlieferung
(Strohschneider, Kellner, Hausmann). Beide Schlüsse sind als poetologische
Experimente denkbar: der von A als nüchterne Realisierung des qua Final-
motivation Geforderten, der von B als Entfaltung des in der Erzählung
angelegten Potenzials im Hinblick auf Psychologisierung und Introspektion
(Mertens). Laudines Kniefall kann zudem als handlungsstrukturelle Korre-
spondenz zu demjenigen Iweins im ersten Cursus verstanden werden, womit
die Szene auch der Textstrukturation dienen könnte. Zugleich würde damit
eine voraufgehende Asymmetrie der Personenbeziehungen korrigiert (Brüg-
gen). Laudines Kniefall diente somit der Geschlossenheit des Textes (Grub-
müller, Linden, Hausmann).
186 Armin Schulz

Vorlage Schnell

Am Beginn steht eine Begriffsklärung: Schnell spricht vom ›referenzlosen


Ich‹, wenn das ›Ich‹ des Minnesangs, von der Aufführungssituation losgelöst
und alleine in der Schrift realisiert, auf keinen Anwesenden mehr verweist.
Allerdings ist sprachliche Referenz von körperlicher Präsenz unabhängig
(Grubmüller, Lieb). Daher wird vorgeschlagen, besser von einer ›leeren
Deixis‹ (Grubmüller) auszugehen: In der Aufführung spricht das ›Ich‹ als
gegenwärtiges, in der Lese-Rezeption als abwesendes (Kay, Schnell) Auch in
der Aufführung durch einen fremden Jongleur kann ›Ich‹ sowohl auf den
anwesenden Sänger als auch auf den abwesenden Autor bezogen werden.
Diese Polyvalenz der textinternen Sprecher-Rollen produziert ›leere‹ Refe-
renzen, eine ›Referenz ohne Inhalt‹ (Kay). Das Konstrukt eines ›biographi-
schen Selbst‹ entsteht für den Rezipienten damit erst im Vorgang der Auffüh-
rung oder der eigenen Lektüre (Kay, Young, Müller, Schnell).
»Vom Sänger zum Autor« meint nicht notwendig eine lineare Entwicklung
von Autor-Konzepten, die in der Rezeption entstehen, sondern nur eine
Tendenz (Schnell). Wie die neuere Forschung (Karin Schneider) zeigt, wurde
Minnesang bereits seit der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts verschriftlicht. Die
Lücke zwischen rein mündlicher Überlieferung und schriftlicher Fixierung
ist also weit geringer anzusetzen, als bislang angenommen wurde. Anderer-
seits sind Aufführungen von Minnesang noch vom 13. bis ins 15. Jahrhundert
denkbar (Heinzle).
Schnells Titel »Vom Sänger zum Autor« suggeriert eine Dichotomisierung
zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Hausmann). Jedoch ist der Au-
torbegriff nicht an das Medium der Schrift gebunden, da, wie entsprechende
Inszenierungen innerhalb des Minnesangs zeigen, schon der Sänger sich als
Autor inszenieren kann (Schnell). Und auch die Schrift kann, was etwa die
Wartburgkrieg-Überlieferung in Hs. C belegt, den performativen Rahmen
einer mündlichen Aufführung entwerfen (Kellner). Dieser verliert in der
schriftlichen Rezeption allerdings seine Funktion (Schnell). Während franzö-
sische Lyriküberlieferung (Adam de la Halle) in Autorbildern einen schrei-
benden Autor figuriert, fehlen solche Inszenierungen in den Minnesang-
Hss. B und C. Diese changieren zwischen der bildlichen Inszenierung von
Mündlichkeit und derjenigen von Schriftlichkeit (Peters). Die Darstellung
Ulrichs von Liechtenstein zeigt diesen weder als Sänger noch als Autor,
sondern als Ritter mit Privatwappen und Venus-Helmzier – nicht also in der
Venus-Verkleidung des Frauendienst. Das Bild spielt auf die literarisch
vermittelte Biographie an, entzieht sich aber einer eindeutigen Codierung
von Autorschaft (Linden). Die Autorenbilder der Minnesang-Hss. müssen
nicht notwendig auf eine ›Biographisierung‹ der Vorstellungen verweisen, die
man sich von einem Autor macht: Zunächst könnte es darum gehen, imagi-
näre Kohärenzen innerhalb eines Autor-Œuvres zu schaffen. Vielleicht sollte
man deshalb besser nicht »Vom Sänger zum Autor« sagen, sondern »Vom
Sänger zum erfundenen Autor« (Mertens). Unabhängig davon entsteht das
Bedürfnis, eine Geschichte über den Autor zu besitzen, aus der Absenz des
Diskussionsbericht 187

Sängers (Schnell). Minnesang-Überlieferung mit Melodien-Notation etwa


figuriert als Urheber von Liedern piktographisch einen Sänger, keinen
Schreibenden oder Minnenden (Mertens). Solche bildlichen Inszenierungen
sind nicht individualbiographisch zu verstehen, sondern müssen im Rahmen
der Autorbild-Ikonographie betrachtet werden (Peters).

Vorlage Altrock / Ziegeler

Es geht um unterschiedliche Konzeptionen von Werk-Verfasserschaft bzw.


Autorschaft. Bei geistlichen Texten ist die Konzeption der Werk-Urheber-
schaft grundsätzlich problematisch (Müller). Unterschiedliche Autor-Funk-
tionen und -Instanzen werden auseinandergefaltet (Strohschneider). Entspre-
chend werden etwa auch in den Codices picturati des Sachsenspiegel ver-
schiedene Schichten von Autorschaft figuriert; einmal wird der Text bildlich
durch den Verfasser und durch Gott legitimiert, das andere Mal treten
Kaiserfiguren als Repräsentanten des weltlichen Rechts hinzu. Die Verant-
wortung für den Text wird von seinem Urheber auf andere Instanzen verla-
gert, sie wird damit objektiviert (Schulze). Die Seuse-Prologe verweigern
eindeutige Signale von Autorschaft (Ziegeler): Seuse wehrt sich geradezu
dagegen, als Autor bezeichnet zu werden; vielmehr geht es ihm alleine
darum, Gottes Wort zu verbreiten (Friedrich). Der wahre Autor ist Gott,
handwerklich allerdings wird der Text von seinem diener verantwortet, der
sozusagen als Schreibgriffel Gottes fungiert (Grubmüller, Müller). Autor-
Figurationen werden gleichzeitig erzeugt und destruiert, die persönliche
Verantwortung für den Text wird verwischt, weil der Schreibakt, wie etwa
auch bei Mechthild von Magdeburg, nur eine ›Durchgangsstation‹ für die
unmittelbare Gotteserfahrung sein darf (Grubmüller) – eine notwendig para-
doxale Konstruktion (Strohschneider). Konzeptuell ist diese Auseinander-
faltung von Autorschaft in Verbindung mit der Foucaultschen ›Auflösung‹
des Autors in Verbindung zu bringen: Möglicherweise führt die Suche nach
Autor-Konzeptionen in den Seuse-Prologen ins Leere, weil hier vielmehr
konträre Diskurse der Werk-Legitimation zusammenfinden (Wolf, Ziegeler).
Es stellt sich überhaupt die Frage, ob die ›Suche nach dem Autor‹ und
seiner Biographie nicht einer modernen Fixierung auf poetische Texte ent-
stammt; noch heute gibt es Textsorten, bei denen der Autor irrelevant ist
(Müller, Strohschneider, Friedrich). Die Anbindung der Werk-Genese an die
Biographie seines Urhebers, die lebensweltliche Verankerung von Schreib-
anlässen scheint jedoch bereits seit dem 13. Jahrhundert relevant gewesen zu
sein (Heinzle). Wichtig wird, warum es einen Text gibt (Müller): besonders in
mystischen Texten wie bei Mechthild von Magdeburg, aber etwa auch in
Christines de Pizan Cité des dames (Heinzle). Diese lebensweltliche Ein-
bindung bedarf allerdings weder der Konstruktion einer vollständigen, kohä-
renten Biographie noch des Entwurfs persönlicher Individualität (Peters,
Ziegeler); vielmehr herrscht eine rudimentäre Biographisierung von Schreib-
anlässen vor (Heinzle) – abhängig vom Funktionstyp des jeweiligen Werks
188 Armin Schulz

(Ziegeler): Mystische Texte etwa nehmen punktuell Bezug auf die spirituelle
Biographie ihres Verfassers (Müller).
Fraglich ist, ob der Medienwechsel von der Handschrift zum Buch nicht zu
einem qualitativen Sprung hinsichtlich der Autor-Konstruktion führt (Peters).
Grundsätzlich entstehen durch den Medienwechsel zunächst keine neuen
Konzeptionen, doch die Druckpraxis forciert Entwicklungen, die in der
handschriftlichen Überlieferung bereits angelegt waren, z. B. im Aufhäufen
von Beglaubigungsgesten (Müller). Ein solcher qualitativer Sprung ist in der
Seuse-Überlieferung zu erkennen. Kategorial Neues wird bereits in der
Hs. W deutlich (Ziegeler).
Handschriften und Drucke inszenieren nicht nur Autorschaft, sondern auch
Leserschaft: in der bildlichen Darstellung der Elsbeth Stagel (Hamburger).
Es geht hier um die exemplarische Vorführung einer Rezeptionssituation, die
sich hagiographischer Stilisierungen bedient (Ziegeler).
Die Illustrationen können im Zusammenhang mit zeitgenössischen An-
dachtsbildern gesehen werden; Seuse selbst hatte Andachtsbilder an Elsbeth
Stagel geschickt (Mertens). Für die Werk-Genese wirft dies die Frage auf, ob
nicht möglicherweise die Bilder dem Text vorausgingen, zumal manche der
Illustrationen, die in der gesamten Überlieferung nachweisbar sind, auch als
separate Andachtsbilder benutzbar sind (Mertens). Gegen die zeitliche Priori-
tät der Bilder vor dem Text spricht allerdings der Umstand, dass die meisten
Bilder sehr genaue Referenzen auf den Text aufweisen (Ziegeler): Sie sind
nicht ohne den Text verständlich (Hamburger, Ziegeler).
II.
Kulturtheoretische Konzepte
Einführung

Ursula Peters (Köln)

Die zweite Sektion »Kulturtheoretische Konzepte« ist im gewissen Sinne die


problematischste, steht sie doch im Verdacht, jenem Menetekel zu entspre-
chen, das Frank Bezner im ersten Teil seiner Vorlage eindrucksvoll an die
Wand gemalt hat, da hier möglicherweise nur die diffizilen terminologischen
Verästelungen, die geradezu scholastischen Bestimmungen des Kultur-Text-
Verhältnisses der unterschiedlichsten Kulturtheorien durchdekliniert und se-
kundär auf Texte »angewandt« werden. Diese Gefahr ist bei einer solchen
Fragestellung zwar immer gegeben. Und doch ist es sinnvoll, in einer eigenen
Sektion die für das literaturwissenschaftliche Geschäft so zentrale Problema-
tik von Text und Kontext konzentriert zum Thema zu machen. Sie hat ja
gerade in den letzten Jahren im Umkreis der Kulturwissenschafts-Postulate
wieder eine zunehmende Bedeutung gewonnen und wird dementsprechend
intensiv in neuen, permanent wechselnden Ansätzen verhandelt, sehr oft
allerdings ohne Textbezug, ohne Spezifizierung ihrer Ausrichtung auf be-
stimmte Literaturbereiche und auch ohne systematische Abgleichung mit
verwandten funktionsgeschichtlichen Literaturmodellen.
Geplant war deshalb eine systematische forschungsgeschichtliche Rekon-
struktion und – wie es bei Frank Bezner heißt – »Evaluation« der ver-
schiedenen, immer wieder neu gedrehten Konzepte funktionsgeschichtlicher
Lektüren von der gesellschaftsgeschichtlichen Interpretation der 60er Jahre
bis zu kulturanthropologisch orientierten Kontextualisierungsmodellen der
jüngsten Diskussionen. Damit sollten die verschiedenen Konfigurationen von
Text und kulturellem Kontext verdeutlicht werden, vor allem aber im Hin-
blick auf den mit den einzelnen Modellen jeweils verbundenen Literatur- und
Textbegriff. Dies ist leider nicht voll gelungen: Bestimmte Phasen und
Positionen dieser interdisziplinären Text-Kontext-Diskussion sind im folgen-
den nicht vertreten, speziell jene, die auch in der Mediävistik bislang noch
wenig diskutiert worden sind, obwohl sie sehr wohl spezifische Verstehens-
konzepte gerade für mittelalterliche Texte bieten, etwa die russische Kultur-
semiotik, aber auch die Cultural Poetics-Programmatik des New Historicism.
Besonders schmerzlich ist schließlich auch die Absage von Gert Melville, der
mit Jacques Le Goffs »histoire de l’imaginaire« eine charakteristische und
für die Mittelalterphilologie möglicherweise besonders interessante Spielart
192 Ursula Peters

der französischen Mentalitätsgeschichte hatte präsentieren und diskutieren


wollen.
Dennoch wird in den vorliegenden Beiträgen ein breites Spektrum kultur-
theoretischer Konzepte abgeschritten und auf ihre Leistungsfähigkeit erprobt
– sei es für eine funktionsgeschichtlich orientierte Literaturgeschichte, für ein
neues historisches Verständnis einzelner Texte oder genereller für unsere
Einsicht in spezielle Symbolisierungspraktiken bestimmter Kulturbereiche
des Mittelalters.

Die Theorie vom Zivilisationsprozess, wie sie Norbert Elias Ende der 30er
Jahre in seinen zwei umfänglichen Bänden »Über den Prozeß der Zivilisa-
tion. Soziogenetische und psychogentische Untersuchungen« entwickelt hat,
ist eines der Paradebeispiele für den in der Vorbemerkung angesprochenen
merkwürdigen Umgang der Mediävistik mit bestimmten Kulturtheorien: Seit
den späten 60ern wird die Zivilisationstheorie in der Mediävistik viel zitiert,
wenn auch höchst kritisch gegenüber den historischen Fallstudien, etwa der
Soziogenese des Minnesangs, aber auch generell gegenüber den spezifischen
Text- und Bildlektüren von Elias. Zugleich wird sie jedoch immer wieder
punktuell eingesetzt als Verständnishorizont, sei es eher terminologisch in
Einblendungen und Adaptationen der Begriffsfelder Selbst- und Fremd-
zwänge, Sozialdisziplinierung und Triebregulierung, sei es genereller als
kulturgeschichtlicher Lektürerahmen bestimmter Texte, in denen man – als
Reaktion auf den fortschreitenden Prozeß der Zivilisation – die Defizite
faktischer oder imaginierter Sozialdisziplinierung thematisiert sieht. Nur
ansatzweise – am dezidiertesten durch Walter Haug – ist jedoch eine sys-
tematische Diskussion über die Leistungsfähigkeit zivilisationstheoretischer
Deutungsmodelle für unser Verständis der mittelalterlichen Literatur eröffnet
worden.
An diesem Punkt setzt Joachim Heinzle an und entwirft auf der Basis von
Norbert Elias’ Zivilisationstheorie Perspektiven einer Literaturgeschichte, die
den charakteristischen Gesellschaftsbezügen mittelalterlicher Literatur in be-
sonderer Weise entspreche. Angesichts eines vormodernen Literaturbegriffs,
der eher von einer programmatischen »Symmetrie« des Text- Kontextbezugs,
eher von einer exemplarischen Repräsentation lebensweltlicher Konflikte
getragen sei als von einer prinzipiellen Offenheit, von Widersprüchlichkeiten
und subversiven Textstrategien, biete sich in besonderer Weise die Eliassche
Zivilisationstheorie als ein historisches Erklärungsmodell an. Denn sie weise
den Texten, nicht nur den spezifisch höfischen, als Träger und Vermittler von
Bewußtseinsinhalten – und zwar Gattungen und regionale wie literarische
Konstellationen übergreifend – eine deutlich gesellschaftsformierende Funk-
tion zu: in Programmen der Triebregulierung, in Postulaten der Internalisie-
rung sozialethischer Friedensappelle, aber auch in der Konstruktion einer
spezifisch auf Selbstzwänge und inneren Frieden ausgerichteten Frömmig-
keitskultur. Zivilisationstheorie könnte demnach zum entscheidenden Deu-
tungsraster für ein funktionsgeschichtliches Verständnis der mittelalterlichen
Literatur werden, die in unterschiedlichen historischen und gattungsspezifi-
Einführung 193

schen Konstellationen ganz verschiedene Aspekte des großen Themas »Dis-


ziplinierung« abschreite. Man wird allerdings die Prämissen dieser zivilisa-
tionstheoretischen Funktionsbestimmung mittelalterlicher Literatur genauer
unter die Lupe nehmen müssen, den sehr spezifischen und sehr eng auf
Symmetrie des Text-Kontextbezugs ausgerichteten Literaturbegriff, wie auch
die mit der Zivilisationstheorie verbundene thematische Fixierung der Lite-
ratur auf die verschiedensten Aspekte von Disziplinierungsleistungen.

Es hat erstaunlich lange gedauert, bis Pierre Bourdieus kultursoziologisches


Habitus- und Feld-Modell als Deutungsrahmen einer funktionsgeschichtli-
chen Literaturbetrachtung in der Mediävistik angekommen ist. Zwar ist
schon seit einigen Jahren im Umkreis mentalitätsgeschichtlicher Überle-
gungen immer wieder auf das von Bourdieu im Anschluß an Panofsky
entworfene Konzept des Habitus hingewiesen worden, das als ein System von
Dispositionenen kognitiver und affektiver Strukturen, als ein gruppenspezi-
fisches vorbewußtes Orientierungsmuster dem Vorstellungsfeld der men-
talités vergleichbar, aber um vieles präziser sei und sich deshalb in der
Literarhistorie als analytische Kategorie wesentlich besser eigne. Doch – wie
so oft im Umkreis der Text-Kontext-Diskussion – ist dies nicht weiter
verfolgt worden.
Gerhard Wolf holt dies in drei Schritten nach: Er erläutert die für Bour-
dieus Kultursoziologie entscheidenden Begriffe des Feldes, des symbolischen
Kapitals wie auch des Habitus und erprobt dann einerseits im Sinne von
Bourdieus »Reflexiver Anthropologie« eine wissenschaftsgeschichtliche Re-
konstruktion mediävistischer Forschungspositionen sozialgeschichtlicher,
mentalitätsgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Provenienz unter der
Perspektive von Bourdieus Konzept der Machtpositionierung im wissen-
schaftlichen Feld, andererseits eine von Bourdieus Habitus-Konzept geleitete
Lektüre der Artusromane Hartmanns von Aue. Dies wiederum auf zwei
Ebenen: zunächst versucht er eine thematisch-ideologische Bestimmung der
relationalen Beziehung zwischem dem Habitus der Romanhelden und dem
Feld der coutume/Ehre und verfolgt dabei an den beiden Romanen den im
Verlaufe des Romangeschehens sich entwickelnden »neuen Habitus« des
Helden: er lerne, das Wunderbare und Irrationale in seine Wahrnehmungs-
matrix zu integrieren und dementsprechend in neuen Situationen anders, d. h.
ungewöhnlich und erfolgreich zu agieren. Danach wechselt der Blick auf die
Ebene der Autoren bzw. auf die der literarischen Produktion: Die Dis-
krepanzen zwischen der französischen Vorlage und den deutschen Texten
verwiesen auf Konkurrenzkämpfe der Autoren, die ganz unterschiedliche
Positionen im literarischen Feld als Autor und Übersetzer besetzten: Chretien
zeige immer wieder den Spielcharakter seiner Geschichten, während der
Übersetzer Hartmann sich dadurch profiliere – in Bourdieus Terminologie:
an symbolischem Kapital gewinne –, daß er die Geschichte in moralisieren-
den Kommentaren an die Lebenswelt seines Publikums anbinde.
Während für die Wissenschaftsgeschichte Bourdieus Feld-Habitus-Kon-
zept ein vorzüglicher Deutungsrahmen zu sein scheint, fragt sich, inwieweit
194 Ursula Peters

eine Bourdieu-gelenkte Lektüre mittelalterlicher Texte tatsächlich einen Er-


kenntnisgewinn bietet, der über bisherige literatursoziologische Homologie-
Modelle à la Lucien Goldmann oder ihm folgend Erich Köhler hinausgeht.
Oder ob es sich dabei nicht doch eher um eine Art terminologischer Um-
schreibung bisheriger Deutungen handelt.

Daß das Zivilisationsparadigma nicht unbedingt in eine feste, auf Symmetrie


basierende Text-Kontext-Relation eingebunden sein muß, sondern unter einer
diskursanalytischen Perspektive sehr wohl auch in widerstreitenden Sinn-
horizonten mit wechselnden Semantisierungen aufscheinen kann, dies zeigt
die Vorlage von Udo Friedrich. Er verlagert das Text-Kontext-Problem – über
den Begriff der symbolischen Ordnung – auf eine andere Ebene, auf die
symbolische Ebene diskursiv vermittelter Sinnstrukturen und er sieht dabei
den Einzeltext – ganz anders als etwa Joachim Heinzle – als eine Art
Schnittstelle verschiedener Diskursfäden und eingebettet in übergeordnete
Diskursformationen. Er schreitet dabei ein sehr heterogenes Textcorpus ab
und rekonstruiert – textübergreifend – die verschiedenen Ordnungen des
Wissens um das Verhältnis Tier-Mensch, speziell die Konstellation Ritter-
Pferd in ihren unterschiedlichen Symbolisierungen, die sich zum Teil über-
schneiden, aber auch widersprechen. Sie sind zwar im wesentlichen im
thematischen Umfeld einer theologisch motivierten Zügelung der wilden
Natur angesiedelt, entwerfen zugleich jedoch immer wieder auch ganz an-
dere, mit geistlichen Entwürfen konkurrierende feudale Sinnmuster, so etwa
das einer genuinen Symbiose von Ritter und Pferd, einer darauf aufbauenden
Genealogie des Rittertums. Das Ergebnis dieses diskursanalytischen Ver-
fahrens ist ein weitgespanntes Netz sich überschneidender Sinnkonstruk-
tionen mit typenspezifisch divergierenden Bündelungen und Verknotungen,
das in einem zweiten Schritt als Kontext für eine Funktionsgeschichte einzel-
ner Texte fruchtbar gemacht werden kann.
Beate Kellner will hingegen in ihrer Fallstudie zu den lateinischen und
volkssprachigen Melusinegeschichten zeigen, wie durch eine Diskursanalyse,
die von Einzeltexten ausgeht und erst in einem zweiten Schritt seine dis-
kursiven Vernetzungen herauspräpariert, die besonderen Leistungen poe-
tischer Rede und damit die spezifisch ästhetischen Qualitäten eines Textes in
den Blick rücken.
Sie schreitet die literarischen Melusinegeschichten des 12. bis 14. Jhs. ab,
die lateinischen Exempla wie die volkssprachigen Großromane mit ihren
jeweils verschiedenen Positionierungen im diskursiven Feld einer Grenz-
ziehung zwischen Dämonen- und Menschenwelt, ihren Überblendungen,
Austauschprozessen und Umcodierungen zwischen der theologisch-natur-
kundlichen Tradition lateinischer Exempelgeschichten, die auf strikte Aus-
blendung des Dämonischen abheben, und den französischen bzw. deutschen
Melusineromanen von Jean d’Arras, Couldrette und Thüring von Ring-
oltingen, die mit der Geschichte der Schlangenfrau zugleich die komplizierte
Gründungs- und Traditionsgeschichte eines Hauses bieten und dabei – auf je
unterschiedliche Weise – Probleme adelig-dynastischer Herrschaft anspre-
Einführung 195

chen: Probleme ihres Ursprungs, ihrer Legitimation und ihrer Expansion. Im


Gegensatz zu der eindeutigen Klassifizierung von Menschen- und Dämonen-
welt der lateinisch-gelehrten Melusinegeschichten verwischen die volks-
sprachigen Romane in ihren geschlechtermythologischen Konstruktionen zu
einem guten Teil diese Grenzen, sie aktivieren ein positives Potential als
Überschuß und eröffnen dadurch neue Freiheiten: Das Dämonische wird hier
ambivalent, es bleibt lange in seiner Negativität verborgen, ist in dieser Form
integrierbar und kann in diesem camouflierten Auftreten sehr wohl zum
Ursprungsmythos eines Hauses werden. In diesem Auflösen normativer Dis-
kurse zeige sich zugleich der spezifische Mehrwert der poetischen Rede, der
in seinem ganzen Ausmaß erst durch eine systematische Kontextualisierung
im kulturellen Feld vergleichbarer Diskurse deutlich werde.

Diskursanalytische Vergleichsproben sind – dies zeigen beide Vorlagen – eine


der zentralen und erfolgversprechenden Vorgehensweisen für eine kontext-
bezogene kulturwissenschaftliche Entzifferung mittelalterlicher Texte. Es
fragt sich allerdings, ob damit tatsächlich zugleich die Spezifik poetischer
Rede und weiter die ästhetischen Qualitäten eines Einzeltexts getroffen sind.
Oder ob bei Diskursvergleichen nicht eher institutionen- oder gattungs-
spezifische Unterschiede, im Falle der Melusinengeschichten etwa grund-
sätzliche Differenzen zwischen lateinischer Tradition mit ihren Folgebe-
stimmungen normativer Diskurse der Wissenschaft, der Theologie und
Schule auf der einen Seite und Volkssprachigkeit mit ihrer Tendenz zu
Diskurs-Hybridisierung, zu Grenzverwischungen und Typenkontamination
auf der anderen Seite erfaßt werden, die zunächst vielleicht noch sehr wenig
über die Spezifik poetischer Rede aussagen.

Die Vorlage von Jeffrey Hamburger bietet durch ihre Verschränkung von
mentalitätsgeschichtlichen und gendertheoretischen Überlegungen die Mög-
lichkeit, zwei Forschungsperspektiven auf ihre Valenz zu überprüfen, die in
der Mediävistik der letzten 20 Jahre eine große Rolle gespielt haben.
Am Beispiel eines breiten Text- und Bildmaterials zur Figur des Evangeli-
sten Johannes fragt Jeffrey Hamburger, wie das symbolische System einer
zunehmenden Marienverehrung im Mittelalter reagiere, wenn durch forcier-
tes Insistieren auf der Jungfräulichkeit des Johannes der Platz Marias durch
einen Mann besetzt wird, und inwieweit sich in den vom 12. bis zum 14. Jh.
wechselnden Konzeptualisierungen des Johannes zugleich spezifische Verän-
derungen in den Einstellungen zum Körper, zur Jungfräulichkeit und damit
auch zu dem diffizilen System der Gendersymbolisierungen zeigen. Denn
Johannes werde in Texten, in Kreuzigungsszenen und Textillustrationen ei-
nerseits durch seine Evangelistenrolle auf Christus bezogen, zugleich aber
durch seine Jungfräulichkeit auf Maria und damit im Zuge einer zuneh-
menden religiösen Semantisierung des Körpers, vor allem in der Frauen-
spiritualität des 13. und 14. Jhs., wiederum auf Christus, nun aber im Sinne
einer deutlichen Feminisierung als sponsa Christi oder als Symbol einer über
den Körper vermittelten eucharistischen Frömmigkeit. Mit dieser Ambiva-
196 Ursula Peters

lenz seines jungfräulichen Körpers, der Männliches und Weibliches, Körper


und Seele, Körperliches und Göttliches vermittle, erweise sich die Figur des
Johannes geradezu als ein Seismograph für eine im Spätmittelalter deutliche
religiöse Positivierung des Körpers und damit eine einschneidende mentale
Umcodierung in den Koordinaten Begehren und Körperlichkeit.
Es ist klar, daß solche Überlegungen zur religiösen Signifikanz des Kör-
pers und seinem Wandel im symbolischen System der Genderkategorien in
sachlicher wie methodischer Hinsicht – explizit sogar als eine Art Bestäti-
gung – auf den Arbeiten von Caroline Walker Bynum basieren. Sie hat durch
ihre ingeniösen Thesen zum verzwickten Zusammenhang von religiöser
Positivierung des Körpers, symbolischer Repräsentanz des Weiblichen und
der faktischen Erfahrung der Frauen vor allem im Bereich der frauen-
mystischen und hagiographischen Literatur des Spätmittelalters Maßstäbe
einer gendertheoretischen Mediävistik vorgegeben, die in anderen Feldern
des Faches bislang nicht annäherungsweise erreicht worden sind. Und doch
werfen ihre Arbeiten – und dies gilt dann eventuell auch für die Vorlage von
Jeffrey Hamburger – einige Fragen zur Evidenz ihrer mentalitätsgeschichtli-
chen Aussagen auf: Sie betreffen vor allem die Heterogenität der Quellen. An
ihnen werden bestimmte Aspekte einer Veränderung im Zuschreibungs-
system herausgestellt – etwa Beispiele für eine deutliche Emphase des
Körperlichen, eine Umkehrung der Gendersymbolisierungen, eine Feminisie-
rung der Johannes-Figur etc. –, ohne daß möglicherweise die jeweilige text-
oder typen-, ja vielleicht sogar autorspezifische Programmatik der Quellen
bei ihrer mentalitätsgeschichtlichen Auswertung angemessen berücksichtigt
wird. Dies scheint eines der zentralen methodischen Probleme zu sein, mit
denen eine mentalitätsgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft prinzi-
piell zu kämpfen hat.

Wenn bisher immer wieder auf eine Umsetzung kulturtheoretischer Konzepte


in textanalytische Verfahren gepocht worden ist, dann bietet genau dies die
Fallstudie einer mehrdimensionalen Kontextualisierung von Volker Mertens.
In ihr werden in drei Schritten jeweils unterschiedliche hermeneutische
Zugriffe vorgeführt, mit denen sich das in seiner thematischen Kombination
von Maitanz, Badethematik und Sexualität bisher eher als Sonderfall gel-
tende Oswald-Lied Kl. 75 in seiner literarischen Konstruktion, aber auch in
seinen verschiedenen Schichten und Sinnpotenzen erschließen lasse. Durch
eine systematische Kontextualisierung des Liedes im Rahmen einer literari-
schen Gattungstypologie seziert Volker Mertens die literarischen, die gelehrt-
volkstümlichen Bausteine Maitanzlied, Pastourelle, Hochzeitscarmen und
Badelied, die sich in Kl. 75 überlagern. In einer aufführungsbezogenen
Interpretation stellt er den Stilisierungseffekt des Liedvortrags heraus, der
dem Text seine anstößige Direktheit des Sprechens über Sexualität nehme.
Und schließlich in einer kulturhistorischen Kontextualisierung bindet er die
charakteristischen Liedthemen Mai, Bad, Ehe und Sexualität in entspre-
chende lebensweltlich-institutionelle Zusammenhänge ein, aus denen sie in
ihrer spezifischen Stilisierung und literarischen Transformierung eine weitere
Einführung 197

Sinnebene erhalten. Diese Rekonstruktion verschiedener Kontexte des Liedes


führt zugleich zu seiner Hybridisierung als »Maibrautbadelied«, bei dem
Oswald in einer virtuosen Kombination verschiedenster Diskursstränge artis-
tische Souveränität mit der durch literarische Diskurse wie lebensweltliche
Institutionen legitimierten Demonstration sexueller Potenz verklammert
habe.
Systematische Kontextualisierung ist – das zeigt auch diese Analyse –
eines der erfolgversprechendsten kulturwissenschaftlichen Verfahren, um die
unterschiedlichen Ausprägungen der für den jeweiligen Text charakteristi-
schen Konfigurationen und Überblendungen verschiedener Diskursfäden mit
ihren möglichen Sinnpotentialen zu erfassen und damit letzten Endes die sog.
Funktion der Texte zu bestimmen. Allerdings gibt es dabei große Unter-
schiede in der Evidenz der Ergebnisse, im vorliegenden Falle etwa die
Diskrepanz zwischen dem Typus Maitanzlied, den Kl. 75 in aller Deutlichkeit
aufruft, und jenen kontextuell herangezogenen literarischen Typen, etwa die
Pastourelle und – vielleicht noch schwieriger – die erschlossenen Hochzeits-
carmina und Badelieder. Es fragt sich deshalb, wie deutlich Typenkontexte
markiert sein müssen, um wirklich aussagekräftig zu sein.
Usurpation des Fremden?
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als
literarhistorisches Modell

Joachim Heinzle (Marburg)

»Wenn eine neue Theorie oder Idee auftritt,


dann befindet sie sich gewöhnlich in einem
etwas traurigen Zustand, sie enthält Wider-
sprüche, ihre Beziehung zu Tatsachen ist
unbestimmt, überall gibt es Unklarheiten.
Die Theorie ist voll von Mängeln. Doch sie
kann entwickelt und verbessert werden. Der
angemessene Gegenstand für methodologi-
sche Beurteilungen ist daher nicht eine
einzelne Theorie, sondern eine Abfolge von
Theorien, oder ein Forschungsprogramm
[…]«1

Nicht nur unter Literarhistorikern gehört es heute zum guten Ton, Norbert
Elias’ Theorie vom Zivilisationsprozess2 als obsolet abzutun. Soweit sie mit
Literaturgeschichte zu tun hat, ist sie zuletzt von Walter Haug in Grund und
Boden verdammt worden.3 »Blind« für ihre »historischen Kontexte«, habe
Elias »die literarischen Materialien« seiner »These von der zunehmenden
Selbstdisziplinierung der westlichen Gesellschaft« unterworfen. Damit habe
er die Literatur allegorisiert. Allegorese aber sei »die krudeste Form der

1 Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M. 61997, S. 242.


2 Ich zitiere den Prozeß der Zivilisation im folgenden nach dem Nachdruck der 2.
Aufl. (Bern 1969): Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische
und psychogenetische Untersuchungen, Bde. I. II, Frankfurt a. M. 51978.
3 Walter Haug, »Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?«, DVjs 73, 1999,
S. 69–93; dazu die Replik von Gerhart von Graevenitz, »Literaturwissenschaft und
Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung«, ebd. S. 94–115, und die Duplik von
Haug, »Erwiderung auf die Erwiderung«, ebd. S. 116–121. – Zu Haugs Elias-Kritik
vgl. weiterhin Walter Haug, »Literaturgeschichte und Triebkontrolle. Bemerkungen
eines Mediävisten zum sog. Prozeß der Zivilisation«, in: Jahrbuch der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften für 1993, Heidelberg 1994, S. 51–58; ders., »Kultur-
geschichte und Literaturgeschichte. Einige grundsätzliche Überlegungen aus medi-
ävistischer Sicht«, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter,
hg. v. I. Kasten/W Paravicini/R. Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte zur Francia
43), S. 23–33. hier S. 24ff.
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 199

Usurpation des Fremden«, sich ihr kritisch zu verweigern, »für den Literatur-
wissenschaftler erstes Gebot«.4 Ich habe diese Polemik mit gemischten
Gefühlen gelesen. Dass es krude Formen literaturwissenschaftlichen Allego-
risierens gab und gibt, die jede Kritik verdienen, ist ohne Zweifel richtig.
Prominentestes Beispiel in der Mediävistik ist noch immer die Art von
Literatursoziologie, die Erich Köhler einst betrieben und populär gemacht
hat. Sie bringt, wie Sebastian Neumeister pointierte, »die interpretatorische
Bewegung und Beweglichkeit nach dem Gesetz von literarischem Rätsel und
(falscher) historischer Auflösung vorschnell zum Stillstand« und erinnert in
der Tat »an die allegorische Didaktik des Mittelalters«.5 Aber trifft das
generell auch auf literatursoziologische Ansätze zu, die mit der Theorie vom
Zivilisationsprozess operieren? Ich bin nicht dieser Ansicht. Nach den Erfah-
rungen, die ich im Umgang mit dieser Theorie gemacht habe, sehe ich sehr
wohl die Chance, dass sie helfen kann, Texte und Textfelder besser zu
verstehen, als es auf anderem Wege möglich wäre. Das will ich im folgenden
erläutern. Dabei geht es mir nicht um den systematischen Entwurf einer
geschlossenen Theorie, sondern nur darum, die Grundlinien eines literarhis-
torischen Modells an Beispielen zu skizzieren, die mir vertraut sind.

*
Haugs Elias-Kritik ist Teil einer umfassenden Kritik an jeder Art von Litera-
turwissenschaft, die Texte kontextual – als kontextbedingte und kontext-
bedingende Phänomene – begreifen will. Herausgefordert durch die aktuelle
Debatte darüber, ob und wie man Literaturwissenschaft als ›Kulturwissen-
schaft‹ betreiben könne, polemisiert er gegen eine Disziplin, »die immer
wieder etwas anderes zu sein« versuche »als das, was man aufgrund ihrer
Bezeichnung von ihr« erwarte: »nämlich sich als eine Wissenschaft darzu-
stellen, die eine ihrem Gegenstand, der Literatur, entsprechende Methode des
Zugriffs und des Verstehens zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen
vermag«. »Stattdessen« seien »die Fachvertreter geradezu periodisch darauf
aus«, »ihr Fach umzuetikettieren: die Reihe der programmatischen ›Als‹-
Metamorphosen« reiße »nicht ab: Literaturwissenschaft als Geistesge-
schichte, Literaturwissenschaft als Psychoanalyse, Literaturwissenschaft als
Ideologiegeschichte, Literaturwissenschaft als Mentalitätengeschichte – und
nun nach dem neuesten Trend: Literaturwissenschaft als Kulturwissen-
schaft.«6

4 Haug, Literaturwissenschaft (Anm. 3), S. 76 f.


5 Sebastian Neumeister, »Die ›Literarisierung‹ der höfischen Liebe in der siziliani-
schen Dichterschule des 13. Jahrhunderts«, in: Literarische Interessenbildung im
Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. v. J. Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993 (Ger-
manistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 385–400, hier S. 387 f. Vgl. Joachim
Heinzle, »Literatur und historische Wirklichkeit. Zur fachgeschichtlichen Situierung
sozialhistorischer Forschungsprogramme in der Altgermanistik«, in: Das Mittelalter
und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philo-
logie. Freiburger Colloquium 1997, hg. v. E. C. Lutz, Freiburg (Schweiz) 1998
(Scrinium Friburgense 11), S. 93–114, hier S. 108ff.
6 Haug, Literaturwissenschaft (Anm. 3), S. 69.
200 Joachim Heinzle

Der Auslieferung der Literatur ans Nicht-Literarische hält Haug ein Kon-
zept entgegen, das ihr einen Sonderstatus gegenüber allen anderen kulturel-
len Hervorbringungen zumisst. Literatur sei nicht dazu da, Probleme zu lösen
– dies anzunehmen, sei »eines der grundlegendsten Missverständnisse un-
serer Wissenschaft« –, sondern verdanke »ihre Existenz« gerade »der Tat-
sache, daß es unlösbare Probleme gibt«: Literatur finde »ihren eigentlichen
Sinn darin, in Aporien hineinzuführen, sie bewusst zu machen und bewusst
zu halten« – »und wenn sie sie am Ende doch narrativ zu lösen« scheine,
dann seien »dies bei genauerem Hinsehen Scheinlösungen, die sich dem
Interpreten, wenn er nicht blind partout seine Lösung haben will, auch als
solche« enthüllten.7
Unter den Beispielen, die diese These illustrieren, führt Haug den Helm-
brecht an, die Erzählung vom Bauernsohn, der ein Ritter werden will, aber
nur ein Raubritter wird und jämmerlich zugrunde geht: von der Justiz
geblendet und verstümmelt und schließlich von den Bauern, die er als Räuber
und Mörder gepeinigt hatte, getötet. Ältere Forschung hatte den Text als
Propagandaschrift aus der Sicht des Adels gelesen, als Warnung an die
Bauern, ihren Stand zu verlassen.8 Haug wendet dagegen ein, dass der Adel
»sich hier nur als Raubrittertum präsentiert« – »hätte man allein den Auf-
stiegswillen der Bauernschaft verurteilen wollen, so hätte man doch besser
gezeigt, wie Helmbreht gegenüber den Ansprüchen eines idealen Rittertums
scheitert«. So gebe der Text – gemäß einer These von Jacques Le Goff 9- eine

7 Haug, Literaturwissenschaft (Anm. 3), S. 87.


8 Haug bezieht sich (Literaturwissenschaft [Anm. 3], S. 91, Anm. 50) auf das Nach-
wort zur zweisprachigen Ausgabe von Helmut Brackert, Winfried Frey und Dieter
Seitz, d. h. auf ein forschungsgeschichtliches Dokument aus der Anfangsphase der
im Gefolge der Studentenrevolte unternommenen Bemühungen um ein sozialge-
schichtliches Verständnis der mittelalterlichen Literatur: Wernher der Gartenaere,
Helmbrecht, hg., übers. und mit einem Anhang versehen v. H. Brackert/W. Frey/D.
Seitz, Frankfurt a. M. 1972, S. 105–119. Zum forschungsgeschichtlichen Zusam-
menhang vgl. Heinzle, Literatur (Anm. 5), S. 105ff.
9 Jacques Le Goff, »Quelques remarques sur les rêves de Helmbrecht père«, in:
Deutsch-französische Germanistik. Mélanges pour Émile Georges Zink, hg. v. S.
Hartmann/C. Lecouteux, Göppingen 1984 (GAG 364), S. 123–141 (unter dem Titel
»A propos des rêves de Helmbrecht père« wieder in: J. Le Goff, L’imaginaire
médiéval, Paris 1985, S. 317–330; ich zitiere nach der deutschen Fassung des
Wiederabdrucks in: J. Le Goff, Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart
1990, S. 323–336). – Le Goffs Interpretation gipfelt in der Frage: »Verbirgt sich
hinter der Maske des Aufrufs zu Stabilität und Gehorsam nicht ein Aufruf zum
Aufstand? Einem Aufstand, der nicht notwendigerweise ins Verbrechen münden
muß, wobei letzteres im übrigen durch das Gewicht dieser undurchdringlichen
Herrenschicht aufgezwungen wird« (S. 335). Die Überlegung entbehrt jeder histori-
schen Referenz: der Helmbrecht gehört ins 13., nicht ins 16. Jahrhundert – es ist
kein Zufall, dass sich Haug (Literaturwissenschaft [Anm.3], S. 91 f., Anm. 51) an
Stephen Greenblatts Interpretation von Dürers Bauernsäule erinnert sieht (vgl. zu
dieser die brillante Analyse von Jürgen Schulz-Grobert, »Mit zirckel n̄ richtscheyt.
Dürers Bauernsäule als praktisches Vermessungsinstrument für ›theoretisches‹ Neu-
land«, ZfdPh 117, 1998, S. 321–345).
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 201

»doppelte Karikatur«, eine des Adels und eine der Bauern, die beide als
Räuber erscheinen. Das verleihe der Erzählung »eine innere Spannung, ja
eine Widersprüchlichkeit, die sich nicht auf einen Nenner hin auflösen«
lasse. Und »dieses Beispiel« mache »besonders deutlich, daß man als Inter-
pret auch bei programmatisch auf Konstanz zielenden Werken mit Spannun-
gen und inneren Widersprüchen zu rechnen« habe: »mit Ausgesprochenem
neben Unausgesprochenem, Tendenziösem neben Gegenläufigem, Bewuss-
tem neben Unterschwelligem« – »Perspektiven nichtliterarischer Systeme
kreuzen ein und bilden mit dem narrativen Gefüge ein nicht harmoni-
sierbares mehrschichtiges Ensemble«.10
Die Interpretation bezieht zwei Ebenen aufeinander, die der sozialen
Wirklichkeit und die des Textes. Für die lebensweltliche Ebene wird ange-
nommen, dass der Aufstiegswille reich gewordener Bauern am Ort und zur
Zeit der Abfassung des Textes ein soziales und rechtliches Problem gewesen
ist, dass er insbesondere die privilegierte Stellung des (niederen) Adels
bedrohte. Für die literarische Ebene wird angenommen, dass der Text zwar
dieses Problem zur Anschauung bringt, aber vermittels einer gewissermaßen
subversiven Erzählstrategie eine Spannung aufbaut, die das vorausgesetzte
System der Wertungen – böse Bauern, guter Adel – unterläuft, ohne eine
Lösung des Problems anzubieten. Daraus, dass die Geschichte nicht aufgeht,
entspringt für Haug ihr literarischer Mehrwert, der sie davor bewahrt, zum
bloßen Exempel zu »verkommen«.11
Wir haben es mit einer klassischen literarhistorischen Hypothesenbildung
zu tun. Ein Satz historischer Befunde, textlicher und außertextlicher, wird in
einen logischen Aussagezusammenhang mit Erklärungsanspruch gebracht.
Die Eigentümlichkeit der Hypothese besteht darin, dass sie eine wahr-
genommene Asymmetrie zwischen den beiden Bezugsebenen nicht zu elimi-
nieren trachtet, sondern als entscheidenden Erklärungsgrund für die Existenz
des Textes in Anspruch nimmt. Wie alle Hypothesen muss sich auch diese
gegenüber konkurrierenden behaupten. Theoretisch sind mehrere sinnvolle
Alternativen denkbar, zweiseitige Modelle, die Text und Lebenswelt (Kon-
text) referentiell verknüpfen, ebenso wie einseitige, die auf die Textualität
auch des Kontextwissens abheben. Ich ziehe als Gegenbeispiel die Hypothese
heran, die ich in meiner Literaturgeschichte skizziert habe.12
Wie die von Haug kritisierte beruht sie auf einem konventionellen zwei-
seitigen Modell, arbeitet aber mit einer differenzierteren Vorstellung von der
Bezugsgröße ›Adel‹. Sie unterstellt (was sich nicht beweisen, aber plausibel
machen lässt), dass der Text auf die politischen Verhältnisse im Österreich
der frühen Habsburgerzeit zielt, die bestimmt sind von einem Gegensatz
zwischen dem landsässigen Adel, den Landherren, und dem Landesherrn,

10 Haug, Literaturwissenschaft (Anm. 3), S. 91 f.


11 Ebd., S. 87.
12 Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit,
hg. v. J. Heinzle, Bd. II/2: ders., Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert
(1220/30–1280/90), Tübingen 21994, S. 57ff.
202 Joachim Heinzle

dem Herzog.13 Dieser Gegensatz gehört in den größeren Rahmen eines


Strukturwandels von Herrschaft, der nicht nur in Österreich zu beobachten
ist: der Transformation des Personenverbandsstaats des (hohen) Mittelalters
in den Territorialstaat der (frühen) Neuzeit. Wir besitzen Texte, die unzwei-
felhaft der publizistischen Verbreitung der Position der österreichischen
Landherren in dieser Situation dienen: Gedichte des Seifried Helbling-Au-
tors, den Landherren-Exkurs in Dietrichs Flucht.14 Der Seifried Helbling-
Autor zeigt Bauern, die sich wie Helmbrecht über ihren Stand erheben und
als Raub- und Mordgesindel das Land unsicher machen. Die tendenziöse
Darstellung richtet sich gegen den Landesherrn, der als unfähig hingestellt
wird, das Recht zu wahren: der herzog doch niht riht.15 Eben dies geschieht
aber im Helmbrecht – die Justiz greift erfolgreich ein und befriedet das
Land:
ûf den strâzen und ûf den wegen
was diu wagenvart gelegen:
die varent alle nû mit fride,
sît Helmbreht ist an der wide.16

13 Neben Österreich kommt Bayern als Entstehungsraum des Textes in Frage. Für die
folgende Argumentation ist die Alternative ohne Konsequenz: die politische Kon-
stellation, auf die ich den Text beziehe, gilt im Prinzip hier wie dort. Doch mag ein
Hinweis zur Fundierung der Entstehungshypothesen nicht überflüssig sein: Das
entscheidende Indiz für die Zuordnung zu Österreich ergibt sich daraus, dass wir
dort, nicht aber in Bayern eine politisch-publizistische Szene nachweisen können,
in die sich der Text fügt: er passt wie der fehlende Teil eines Puzzles. Als
Hauptindiz für die Zuordnung zu Bayern gelten die im Text genannten Ortsnamen,
in denen die beiden späten (aus dem 15. bzw. frühen 16. Jahrhundert stammenden)
Handschriften divergieren: »Für die Ortsnamen der Hs. B (Wels, Traunberg,
Leonbach) kann man den Auftraggeber des Codex«, »den reichen Ritter Leonhard
Meurl zu Leonbach im Traungau/Oberösterreich«, »verantwortlich machen,
schwerlich dagegen für die der Hs. A (Hohenstein, Haldenberg, Wanghausen),
welche somit alt sein dürften. Einwandfrei identifizieren ließ sich allerdings bisher
nur das Dorf Wanghausen (v. 897), das auf der Innviertler Seite des Inns der Burg
Burghausen, der zweiten Hauptresidenz des Herzogs von Niederbayern seit der
Mitte des 13. Jh.s, gegenüberliegt. Für dessen Hof könnte das Gedicht zunächst
verfaßt worden sein […]« (Fritz Peter Knapp in 2VL 10, 1999, Sp. 928 – die
Niederbayern-These begründete Ulrich Seelbach, Späthöfische Literatur und ihre
Rezeption im späten Mittelalter. Studien zum Publikum des ›Helmbrecht‹ von
Wernher dem Gartenaere, Berlin 1987 [Philologische Studien und Quellen 115],
S. 23ff.). Die Argumentation ist nicht stichhaltig: ebensogut können die Ortsnamen
in beiden Handschriften sekundär sein; und ebensogut kann Leonhard Meurl
Interesse an dem Text genommen haben, weil er bereits die Ortsnamen seiner
Heimat enthielt.
14 Vgl. Heinzle, Wandlungen (Anm. 12), S. 49ff. und 53 f.; zum Landherren-Exkurs
jetzt auch Joachim Heinzle, Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik,
Berlin/New York 1999, S. 73ff.
15 Seifried Helbling, hg. v. Joseph Seemüller, Halle 1886, XIII, v. 148.
16 Wernher der Gartenaere, Helmbrecht, hg. v. Friedrich Panzer und Kurt Ruh, 10.
Auflage besorgt von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 1993 (ATB 11), vv.
1919ff.
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 203

Das heißt: Es gibt im Helmbrecht zwei Kategorien von ›Adel‹, den, der sich
»als Raubrittertum präsentiert«17, und den, der mittels der ›staatlichen‹
Institution des Richters bzw. Schergen Friede und Recht wahrt: das ist – am
Ort und zur Zeit der Abfassung des Helmbrecht – der Landesherr, dessen
unwiderstehliche Macht die Erzählung vor Augen führt.18 Bei dieser Hypo-
these gibt es keine Widersprüchlichkeit in der Sinnstruktur des Textes – der
Helmbrecht erscheint durchaus als Exempel.
Wenn es nun aber, wie Haug postuliert, das Wesen von Literatur aus-
machte, dass sie das Nicht-Harmonisierbare, die Aporie zur Anschauung
bringt, dann wäre der so, als Exemplum, verstandene Helmbrecht als ein
»verkommener« Text aus dem Kreis der legitimen oder wenigstens würdigen
Gegenstände der Literaturwissenschaft auszuschließen. Verallgemeinert man
das, wird klar, dass ein Begriff von Literatur, der literarische Texte nur als
programmatisch offene oder widersprüchliche, sich selbst in Frage stellende
Konstrukte gelten lässt, die mediävistische Literaturwissenschaft in eine
unhaltbare Lage bringt. Sie wäre genötigt, entweder ihren Fundus an Gegen-
ständen drastisch zu räumen und dabei auch hochkanonische Werke wie
Christines Cité des Dames oder gar Dantes Commedia aufzugeben – oder die
Texte einer interpretatorischen Rosskur zu unterziehen, die sie auf die
postulierte Offenheit oder Widersprüchlichkeit hin auslegte (und damit
durchaus ›allegorisierend‹ verführe, insofern sie die Textstrukturen auf ein
vorgegebenes Modell von generellem Geltungsanspruch reduzierte). Nie-
mand wird der Forschung raten wollen, so zu verfahren. Man muss vielmehr
feststellen, dass Haug einen ästhetischen Typus im Sinn hat, der erst in der
Neuzeit relevant wurde, genauer gesagt: dessen Stunde erst mit dem deut-
schen Idealismus kam.19 Dass es im Mittelalter (wie in anderen Epochen
auch) Texte gegeben hat, die sich diesem modernen Literaturbegriff zu fügen
scheinen wie Wolframs Parzival oder Gottfrieds Tristan, steht auf einem
anderen Blatt. Ich muss auf die Probleme, die das aufwirft, hier nicht
eingehen,20 denn es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich bei der Haupt-

17 Haug, Literaturwissenschaft (Anm. 3), S. 91.


18 Zu den rechtshistorischen Zusammenhängen vgl. Günter Lange, »Das Gerichtsver-
fahren gegen den jungen Helmbrecht. Versuch einer Deutung nach dem kodifi-
zierten Recht und den Landfriedensordnungen des 13. Jahrhunderts«, ZfdA 99,
1970, S. 222–234. – Dass es die Bauern sind, die Helmbrecht schließlich an die
wide bringen, nimmt der Demonstration landesherrlicher Macht nichts: diese hat ja
allererst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Bauern Rache nehmen
können (was »keineswegs eine Form von Lynchjustiz« ist, »sondern ein durchaus
rechtmäßiger Vorgang«: Lange, S. 234).
19 Die Genese des Typs ist wiederholt erörtert worden. Ich erinnere nur an die
klassische Darstellung von Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grund-
züge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 21965, S. 39ff.
20 Grundsätzlich gilt auch hier, was Gadamer, Wahrheit (Anm. 19), über das Problem
von ›Erlebnis‹ und ›Dichtung‹ gesagt hat: auch Kunst, die »nicht für solche
Auffassung bestimmt war«, »vermag uns zum ›Erlebnis‹ zu werden«, weil uns
»diese ästhetische Selbstauffassung […] ständig zu Gebote« steht (S. 67). Vgl.
auch Anm. 21.
204 Joachim Heinzle

masse der Werke, mit denen es die mediävistische Literaturwissenschaft zu


tun hat, um Hervorbringungen einer traditionsgebundenen Kultur21 handelt,
in der die Denkfigur der Aporie keinen Ort hat. Das bedeutet selbst-
verständlich nicht, dass die Texte einer kritischen Sondierung unzugänglich
wären, die Aporien aufzuspüren vermöchte (und es liegt auch auf der Hand,
dass differenziertere Formen wie der höfische Roman mit seiner kompli-
zierten diskursiven Fiktionalität dafür besonders ergiebig sein dürften). Ent-
scheidend ist, dass wir es, sofern sich derlei wirklich nachweisen ließe, nicht
mit poetologischen Modellen zu tun hätten, sondern mit je individuellen
Eigentümlichkeiten der Texte, die im günstigsten Fall als historisch sig-

21 Den Begriff der ›traditionsgebundenen Kultur‹ hat Hans Pyritz vor einem halben
Jahrhundert ins Spiel gebracht, um das Unverständnis aufzudecken, mit dem die
ältere Forschung dem Phänomen des geblümten Stils begegnet war. Es ging dabei
um die selbe Frage der historischen Angemessenheit, die uns hier beschäftigt. Und
Pyritz hat im Kern schon alles gesagt, was dazu zu sagen ist. Seine Argumentation,
die auf die historische Relativierung des Konzepts der ›Erlebniskunst‹ mit seinen
bekannten Konnotationen (›innere Wahrheit‹, ›echte Empfindung‹, ›natürlicher
Ausdruck‹) zielt, lässt sich mutatis mutandis leicht auf die aktuelle Debatte
übertragen: »Wir haben verlernt zu glauben, daß ein ewig-unveränderliches Schön-
heitsideal über allen Völkern und Zeiten waltet; daß wir mit unsern durchaus
historisch bedingten Gegenwartsmaßstäben uns in prästabilierter Harmonie mit
jenen angenommenen Urgesetzen der Kunst befinden; daß jede Abweichung von
diesen Normen auf nichts als falschem Wollen, minderem Können oder ver-
dorbenem Geschmack beruht und infolgedessen nichts als Stoff zu kritisch-
zensierender Anklage hergibt […] Begriffe wie ›innere Wahrheit‹, ›echte Empfin-
dung‹, ›natürlicher Ausdruck‹ mitsamt dem dazugehörigen ästhetischen Vokabular
enthüllen sich dem Historiker als Werkzeuge eines aktuellen Selbstbehauptungs-
und Herrschaftswillens, der darauf abzielt, die eigene Sehweise und die ihr
entsprechende Kunstauffassung und Kunstübung zu kanonisieren und zu verab-
solutieren. Befreien wir uns von solcher Selbsttäuschung, so erkennen wir zu-
gleich, wie räumlich begrenzt und wie jung der Geltungsanspruch der uns vertrau-
ten Forderungen an das Kunstwerk als Offenbarung individuellen Lebens und
Ergebnis eines organischen (immanent-wachstümlichen) Bildungsprozesses im
Grunde ist. Dahinter erstreckt sich der weltweite und Jahrtausende umspannende
Zusammenhang traditionsgebundener Kulturen, in denen der Künstler von keinem
anderen Auftrag weiß, als dem, die Lebensinhalte und Lebenswerte einer Gesell-
schaft mit überlieferten, fest geregelten und allgemein anerkannten Kunstmitteln
entweder in ihrem objektiven Ordo-Charakter und ihrer religiösen Verbindlichkeit
aufzuzeigen oder in eine unterhaltsam-fiktive Spielform zu kleiden« (Die Minne-
burg, nach der Heidelberger Pergamenthandschrift (CPG. 455) unter Heranziehung
der Kölner Handschrift und der Donaueschinger und Prager Fragmente hg. v. Hans
Pyritz, Berlin 1950 (DTM 43), S. LXXIIf.). – Einen entsprechenden Problemauf-
riss gibt Gadamer, Wahrheit (Anm. 19): »Wenn man über die Grenzen der
Erlebniskunst hinauszublicken beginnt und andere Maßstäbe gelten läßt, öffnen
sich neue weite Räume innerhalb der abendländischen Kunst, die von der Antike
bis zum Zeitalter des Barock von durchaus anderen Wertmaßstäben beherrscht war
[…] Unsere Wertbegriffe von Genie und Erlebtheit sind hier nicht adäquat. Wir
können uns auch ganz anderer Maßstäbe erinnern und etwa sagen: Nicht die
Echtheit des Erlebnisses oder die Intensität seines Ausdrucks, sondern die kunst-
volle Fügung fester Formen und Sagweisen macht das Kunstwerk zum Kunstwerk«
(S. 67).
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 205

nifikante Befunde zu interpretieren wären. Soweit ich sehe, gibt es in der


Forschung derzeit kein hinreichendes Bewusstsein von der Problematik sol-
cher literarhistorischen ›Archäologie‹, geschweige denn ein geeignetes me-
thodisches Instrumentarium. In unserem Zusammenhang genügt es fest-
zuhalten, dass es hier allemal um Phänomene jenseits der Konventionen
literarischer Produktion und Rezeption geht, die der Literarhistoriker vorran-
gig zu beachten hat. Für die kontextuale Analyse heißt das: soweit die Werke
in außerliterarischen Bezügen stehen, müssen wir davon ausgehen, dass diese
nach Autorintention und Publikumswahrnehmung in aller Regel nicht asym-
metrisch, sondern symmetrisch sind. Der Helmbrecht ist ein schönes Beispiel
für solche Symmetrie, und die Theorie vom Zivilisationsprozess bietet einen
Ansatz, sie zu erkennen und zu beschreiben.

*
die varent alle nû mit fride: mit dem Stichwort ›Frieden‹ ist der Punkt
markiert, an dem die Theorie greift. Ihre Grundannahme lautet bekanntlich,
dass sich in der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft seit dem
Mittelalter durch eine immer stärkere »Interdependenz« immer »größerer
Menschengruppen voneinander und durch die Aussonderung der physischen
Gewalttat« in diesen Gruppen »eine Gesellschaftsapparatur« hergestellt hat,
»in der sich dauernd die Zwänge der Menschen aufeinander in Selbstzwänge
umsetzen«.22 Die Zeit des Helmbrecht, das fortschreitende 13. Jahrhundert,
erlebte eine Umstrukturierung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung, die
auf eine Entwicklung reagierte und sie zugleich vorantrieb, in der die
gesellschaftliche Interdependenz offenbar dramatisch zunahm und das Zu-
sammenleben der Menschen immer stärker reguliert werden musste. Die
Ausbildung dieser ›Neuen Staatlichkeit‹, deren Träger in Deutschland in
erster Linie die Landesfürsten waren, wurde begleitet von einer Literatur –
von Rechtsbüchern, Chroniken, Predigten, Sangsprüchen, Reimpaartexten –,
die darauf abzielte, den ›Gemeinsinn‹ zu propagieren, der die Voraussetzung
für den ›Frieden‹, für den gewaltfreien Umgang der Menschen miteinander
war.23 Ein Exempel von der Gefährdung und Wiederherstellung des gesell-
schaftlichen Friedens, lässt sich der Helmbrecht als ein Stück ›Friedens-
publizistik‹ diesem historischen Feld zuordnen: er malt in grellen Farben aus,
was der Bruch des Friedens für die Menschen bedeutet, und er demonstriert,
dass die neue Herrschaftsordnung in der Lage ist, ihn zu garantieren.
Diese Publizistik zielte auf eine Internalisierung der sozialethischen Frie-
densappelle, auf jene Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge also,
die die Theorie vom Zivilisationsprozess beschreibt. Internalisierung war das
Ziel all der Ermahnungen, Warnungen, all der guten und abschreckenden
Beispiele. Es gibt im Helmbrecht einen Handlungszug, der die Internalisie-

22 Elias, Prozeß (Anm. 2), II, S. 331.


23 Vgl. Joachim Heinzle, »Der gerechte Richter. Zur historischen Analyse mittel-
alterlicher Literatur«, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epo-
che, hg. v. J. Heinzle, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 266–294.
206 Joachim Heinzle

rung als quasi magischen Umstand explizit vor Augen führt. Als der Scherge
die Banditen aufgespürt hat, sind diese wie gebannt, unfähig sich zu weh-
ren:
slüege ein ein diep al eine ein her,
gein dem schergen hât er keine wer:
als er den von verren siht,
zehant erlischet im daz lieht,
sîn rôtiu varwe wirt im gel;
swie küene er waere und swie snel,
in vaeht ein lamer scherge.
sîn snelheit und sîn kerge
die sint im alle gelegen,
sô got der râche wil selbe phlegen.24
Wenn Gott selber Rache nehmen will, versetzt er den Bösewicht in einen
Zustand psychischer Lähmung: das ist, wenn man so will, für einen be-
sonderen Fall die christliche Formulierung des Selbstzwang-Theorems.25
Die zeitgenössischen Theoretiker, und das heißt: die Theologen, allen
voran die Franziskaner, haben das Theorem in den Gedanken gefasst, dass es
äußeren Frieden nicht ohne inneren Frieden geben könne, dass »friedfertiges
Verhalten gegenüber anderen« eine »innere Harmonie des einzelnen«26 vor-
aussetze. Der Gedanke begegnet nicht erst im 13. Jahrhundert. Er hat
Theologie und Seelsorge seit der Väterzeit beschäftigt. Doch beherrscht er
die hier anvisierten Schriften des 13. Jahrhunderts – die Rechtsbücher und
Geschichtswerke, die Predigten, die mystisch-aszetischen Texte einer ›Neuen
Frömmigkeit‹ aus dem Geist des Evangeliums, die vor allem von den
Bettelorden getragen wurde – in einem Maß, das eine spezifische historische
Erklärung erfordert. Die Theorie vom Zivilisationsprozess, die Soziogenese
und Psychogenese, ›außen‹ und ›innen‹, in einen Wirkungszusammenhang
bringt, liefert ein Modell für eine solche Erklärung. Ob es sich gegenüber
anderen Modellen behaupten kann, ist solange nicht abzusehen, als es in der
Literaturwissenschaft keine fundierte Elias-Debatte gibt.27

*
24 Wernher der Gartenaere, Helmbrecht (Anm. 16), vv. 1641ff.; vgl. auch vv.1261ff.
und 1623ff.
25 Zur Vorstellung vom ›Schergenbann‹ im Volksglauben vgl. Friedrich Keinz,
»Nachträge zum Meier Helmbrecht«, in: Sitzungsberichte der kgl. bayer. Akademie
der Wissenschaften zu München 1865/I, S. 316–331, hier S. 324 f.; Ulrich Seel-
bach, Kommentar zum ›Helmbrecht‹ von Wernher dem Gartenaere, Göppingen
1987 (GAG 469), S. 190 f.
26 Alfred Hagenlocher, Der guote vride, Berlin/New York 1992, S. 75.
27 Vgl. den sehr kritischen Forschungsabriss von Rüdiger Brandt: »Die Rezeption
von Norbert Elias in der Altgermanistik. Ein Theoriedefizit und sein Erfolg«, in:
Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wir-
kungsgeschichte seines Werkes, hg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt a. M. 1996, S. 172–
193. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Brandt einiges übersehen und
verzeichnet hat, bleibt das Bild, das die Altgermanistik in Sachen Elias bietet, im
ganzen trostlos.
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 207

Selbstverständlich müsste diese Debatte die Einwände berücksichtigen, die


gegen die Theorie erhoben wurden. Sie haben beträchtliche Schwächen
aufgewiesen, aber auch – was ihre Verächter gern ignorieren – klar erkennen
lassen, dass und wie sie verbessert werden kann. Ich greife zwei Punkte
heraus, die in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind: (1)
die zeitliche Reichweite der Theorie und (2) das Verhältnis von Soziogenese
und Psychogenese.
(1) Elias projiziert seine Befunde auf die historische Linie des her-
kömmlichen ›Mittelalter‹-›Neuzeit‹-Schemas. Zwar hat er keineswegs – wie
manche Kritiker ihm vorwerfen – naiv das Klischee von ›finsterem Mittel-
alter‹ und ›lichter Neuzeit‹ reproduziert, doch zeigt er sich fixiert auf die
Annahme eines vehementen Zivilisationsschubs seit dem 16. Jahrhundert, die
faktisch auf das Postulat einer Neuzeitschwelle hinausläuft. So skizziert er
eine Entwicklung, die vom Mittelalter zur Gegenwart geht, mit einem drama-
tischen Sprung etwa in der Mitte der Verlaufskurve. Doch kommt, wer die
Belege sorgsam prüft, um die Feststellung nicht herum, dass sich in der
Entwicklung des europäisch-amerikanischen Gesellschaftskomplexes28 ein
kontinuierlich-linearer ›Fortschritt‹ der ›Zivilisierung‹ bis jetzt nicht über-
zeugend nachweisen lässt.29 Es bleibt abzuwarten, ob sich Elias’ Langzeit-
perspektive so reformulieren lässt, dass sie mit dem Stand des historischen
Wissens vereinbar wird.30 Vorderhand empfiehlt es sich, den ›Prozess der
Zivilisation‹ nicht als Modernismus-Theorie zu rezipieren, sondern als ein
Modell, das es erlaubt, das prozesshafte Zusammenspiel sozio- und psycho-
genetischer Momente generell zu beschreiben, und es auf historische Kon-
stellationen anzuwenden, die, zeitlich (und räumlich) enger begrenzt, nach
Maßgabe des jeweiligen Erkenntnisinteresses und der historiographischen
Zweckmäßigkeit festzulegen wären. Für die Mediävistik bedeutet das vor
allem, dass sie davon absehen muss, die höfische Adelskultur des hohen
Mittelalters in einem Entwicklungszusammenhang mit der des Ancien Ré-
gime zu denken, wie es Elias getan hat. Dessen einprägsame Vorstellung

28 Elias hat seine Theorie für diesen Komplex entwickelt. Seine Darstellung kann den
Anschein erwecken, als sehe er im Zivilisationsprozess ein exklusiv abendlän-
disches Phänomen. Dass es sich nicht so verhält, dass er in seinen Arbeiten
Zivilisation zunehmend als anthropologische Größe verstanden hat, konnte Mi-
chael Schröter in der Auseinandersetzung mit der Elias-Kritik des Ethnologen
Hans Peter Duerr deutlich machen: »Scham im Zivilisationsprozeß. Zur Diskus-
sion mit Hans Peter Duerr«, in: Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis.
Bochumer Vorlesungen zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, hg. v. H. Korte,
Frankfurt a. M. 1990, S. 42–85.
29 Vgl. dazu etwa Richard van Dülmen. »Norbert Elias und der Prozeß der Zivilisa-
tion. Die Zivilisationstheorie im Lichte der historischen Forschung«, in: Men-
schenwissenschaften (Anm. 27), S. 264–274, hier S. 271 f.
30 Einen Versuch dazu hat Schröter, Scham (Anm. 28), unternommen. Seine Hypo-
these einer »Dreistufenfolge der sozialen Entwicklung vom 12./13. zum 15. und
dann wieder zum 16. Jahrhundert« (S. 79) ist in der vorgetragenen Form nicht
haltbar, weil sie mit zu groben, teilweise auch falschen Vorstellungen von der
Staatsbildung im fraglichen Zeitraum operiert.
208 Joachim Heinzle

einer Evolution des »gesellschaftsfähigen Verhaltens« von der courtoisie »an


den Höfen der größeren, ritterlichen Feudalherrn« zur civilité »in der ab-
solutistisch-höfischen Oberschicht«31 darf den Begriff nicht präformieren,
den man sich von der Entfaltung der höfischen Adelskultur des hohen
Mittelalters zu machen hat: sie hat dazu geführt, dass Elias den Zivilisations-
schub, den diese Entfaltung unzweifelhaft darstellt und den er im Prinzip
richtig erkannt hat,32 erheblich unterschätzte.33
(2) Für Elias sind Art und Grad der Modellierung des Triebs historisch
bedingt, wobei die Psychogenese als Funktion der Soziogenese erscheint. Im
Blick auf Freud, dem es wesentliche Grundlagen verdankt, lässt sich das
Modell damit als »Fortschreibung der Psychoanalyse in Richtung einer
Kulturtheorie«34 verstehen. Das macht es in der gegenwärtigen Diskussion
attraktiv und begründet seine Anschlussfähigkeit an historische Modelle auch
der Literaturwissenschaft – so an das der ›Literarischen Interessenbildung‹,
auf dessen Grundlage jene Hypothese über den Zusammenhang der literari-
schen Produktion der ›Neuen Staatlichkeit‹ und der ›Neuen Frömmigkeit‹ im
13. Jahrhundert entwickelt wurde.35 Insoweit es die Literaturwissenschaft mit
Bewusstseinsphänomenen zu tun hat, stellt sich für sie mit besonderem
Nachdruck die Frage, die die Privilegierung der Soziogenese generell auf-
wirft: ob die »Bewußtseinsentwicklung bloßes Epiphänomen« der Entwick-
lung der sozialen Strukturen ist oder ob man »Bewußtseinsphänomene in
Rechnung stellen muß, die über ihre handlungssteuernden Funktionen Struk-
turveränderungen bedingen«36. Das ist die Gretchenfrage aller Gesellschafts-
theorien von Marx bis Luhmann. Konkret stellt sie sich vor allem als Frage
nach der Rolle, die die Religion im Gesellschaftsprozess spielt. »Das Be-
wußtsein der strafenden und beglückenden Allmacht Gottes« hat nach Elias
»für sich allein niemals ›zivilisierend‹ oder affektdämpfend« gewirkt; es

31 Elias, Prozeß (Anm. 2), I, S. 136 f.


32 Vgl. vor allem Ursula Liebertz-Grün, Zur Soziologie des ›amour courtois‹. Um-
risse der Forschung, Heidelberg 1977 (Beihefte zum Euphorion 10), S. 89ff.;
Rüdiger Schnell, »Die ›höfische Liebe‹ als Gegenstand von Psychohistorie, So-
zial- und Mentalitätsgeschichte«, Poetica 23, 1991, S. 374–424, hier S. 394 f.
33 Vgl. Alfred Ebenbauer, »Das ›christliche Mittelalter‹ und der ›Prozeß der Zivilisa-
tion‹. Eine Skizze«, in: Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Ger-
manistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder, hg. v. B. Thum, Mün-
chen 1985, S. 5–26, hier S. 7 f.
34 Reinhard Blomert, »Abwehr und Integration. Wandlungen im Verhältnis von
Soziologen zur Psychoanalyse«, in: Gesellschaftliche Prozesse (Anm. 28), S. 15–
41, hier S. 40. – Beachtung verdient Blomerts Versuch, Elias’ Trieb-Konzept, in
dem die Triebe nicht spezifiziert sind, auf den Freudschen Instanzen-Apparat hin
zu interpretieren (S. 35ff.).
35 Vgl. Joachim Heinzle, »Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Kleiner
Kommentar zu einer Forschungsperspektive«, in: Mittelalterliche Literatur im
Lebenszusammenhang. Ergebnisse des Troisième Cycle Romand 1994, hg. v. E. C.
Lutz, Freiburg (Schweiz) 1997 (Serinium Friburgense 8), S. 79–93.
36 Alois Hahn, »Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion. Aspekte einer Theo-
rie der Moderne«, in: Kultur und Gesellschaft, hg. v. F. Neidhart u. a., Opladen
1986 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 27),
S. 214–231, hier S. 216.
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 209

verhalte sich »umgekehrt: Die Religion ist jeweils genau so ›zivilisiert‹, wie
die Gesellschaft oder die Schicht, die sie trägt«.37 Elias widerspricht damit
Max Weber, dem er in seiner Systembildung nicht weniger verpflichtet ist als
Freud. »Die Kategorien, die Elias zur Beschreibung der Zivilisiertheit ver-
wendet, Selbstkontrolle, Affektbeherrschung, systematische Dämpfung der
Spontaneität, also das eigentliche explanandum, tauchen alle bereits bei
Weber auf«, sind bei diesem aber genuin religiöser Natur: den »gleichsam
›von außen nach innen‹ verlaufenden Selbstdomestikationsbahnen«, die für
Elias das Primäre sind, geht nach Weber eine »von ›innen nach außen‹
dringende Form der Selbstdisziplinierung«38 voraus. So beschreibt es die
klassische Abhandlung Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapita-
lismus, die bekanntlich zu ermitteln suchte, »in welchem Maße moderne
Kulturinhalte in ihrer geschichtlichen Entstehung« dem Motivkomplex re-
formatorischer Theologie und Frömmigkeit »zuzurechnen sind«:39 »Wenn
das Heil nicht mehr von einzelnen Werken abhängt, wenn die erlösende
Gnade nicht ständig durch Sünden verloren und und durch Beichten zurück-
gewonnen werden kann, dann kann auch die individuelle certitudo salutis
nicht aus einzelnen verdienstlichen Taten gewonnen werden, sondern muss
sich im System der Gesamtbiographie spiegeln. Die Frage kann dann nicht
lauten: Mit welchen Taten, Worten und Gedanken habe ich Gott beleidigt?
Sie muss jetzt heißen: Ist mein Leben als Ganzes so, daß es als das eines
Erwählten erscheint? Folglich muss es als Ganzes systematischer Kontrolle
unterzogen werden.«40 Die Analyse der beiderseitigen Modellbildung hat
ergeben, dass sich in diesem entscheidenden Punkt Elias ebenso trefflich von
Weber wie Weber von Elias her kritisieren lässt. Man kann aus der unabseh-
baren Debatte, die über diesen Punkt geführt worden ist und geführt wird,41
nur den einen Schluss ziehen, dass beide Präferenzen prinzipiell theoriefähig
sind. Für die Literaturwissenschaft bedeutet das, dass sie berechtigt, ja
gehalten ist zu erkunden, inwieweit Texte als Träger und Vermittler von
Bewusstseinsinhalten formende Kräfte in der Entwicklung sozialer Struk-
turen gewesen sein können.

*
Mein Versuch, die Schriftproduktionen der ›Neuen Staatlichkeit‹ und der
›Neuen Frömmigkeit‹ unter dem Aspekt des Zusammenwirkens von Sozio-
genese und Psychogenese zusammenzusehen,42 setzte die erläuterten Modifi-

37 Elias, Prozeß (Anm. 2), I, S. 277.


38 Hahn, Differenzierung (Anm. 36), S. 225.
39 Max Weber, Die protestantische Ehthik und der »Geist« des Kapitalismus. Text-
ausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis
der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920, hg.
und eingeleitet v. K. Lichtblau/J. Weiß, 2. Aufl., Weinheim 1996, S. 51.
40 Hahn, Differenzierung (Anm. 36), S. 225 f.
41 Einen Eindruck von ihr vermittelt etwa Stefan Breuer, »Gesellschaft der In-
dividuen, Gesellschaft der Organisationen. Norbert Elias und Max Weber im
Vergleich«, in: Menschenwissenschaften (Anm. 27), S. 303–330.
42 Heinzle, Richter (Anm. 23), S. 286ff.
210 Joachim Heinzle

kationen der Theorie voraus: er nahm einen Zeitraum von wenigen Jahrzehn-
ten in den Blick und er unterstellte, dass die Texte mit ihren handlungs-
steuernden Funktionen der Unterweisung, des Appells, der Katalyse von
Meditation etc. Strukturveränderungen hervorbrachten, die es ohne sie nicht
gegeben hätte. Es reizt mich nun zu erproben, ob sich der Prozess, den ich da
zu erkennen glaube, nach rückwärts und vorwärts weiter verfolgen lässt.
Dazu ein paar Überlegungen.
Soweit sie sich auf Weber beziehen, gehen die sozialwissenschaftlichen
Modernismus-Theorien gewöhnlich davon aus, dass die Puritaner des 16. und
17. Jahrhunderts die ersten waren, bei denen »die systematische Affektkon-
trolle […] von einem außerweltlichen Lebensideal für Mönche oder religiöse
Sondergruppen in eine jeden Laien verpflichtende Lebensform umgeschmol-
zen«43 wurde. Die neueren Forschungen zur Entstehung der höfischen Kultur
des hohen Mittelalters zeigen, dass das so nicht richtig ist. »Wesentliche
Aspekte der höfischen Erziehungslehre«, die auf Affektkontrolle in Bezug
auf Sprache, Gestik, Tischsitten etc. abzielt, sind »von gebildeten Geistlichen
formuliert worden«44 und hatten ihren ursprünglichen Ort in der Lebens-
sphäre eben der Geistlichen, nicht zuletzt der Mönche. Die einschlägigen
Erziehungsprogramme, die geistlichen wie die weltlichen, korrelieren in
bezeichnender Weise wiederum ›innen‹ und ›außen‹, psychische Struktur und
soziales Verhalten. Integritas ergo virtutis est, quando per internam mentis
custodiam ordinate reguntur membra corporis – »Die Vollkommenheit der
Tugend ist gegeben, wenn die Glieder des Körpers durch die innere Kontrolle
des Verstandes auf geordnete Weise gelenkt werden«: so liest man es in
Hugos von St. Victor Abhandlung De institutione novitiorum, die hier als
Schlüsseltext gilt.45
Die geistlich-klerikale Fundierung der höfischen Kultur mit ihrem Modell
der psychischen Verankerung der Verhaltensnormen legt es nahe, sie mit
jener Friedensprogrammatik der ›Neuen Staatlichkeit‹ in Verbindung zu
bringen, die ja von der selben Herrschaftselite getragen wurde. Soweit diese
Elite selbst angesprochen ist, sollte sich die Friedensprogrammatik als Mani-
festation ein und desselben Kulturzusammenhangs ohne größere methodi-
sche und sachliche Schwierigkeiten mit dem höfischen Kulturmuster von
»Selbstbeherrschung, Affektkontrolle, Gewaltverzicht« vermitteln lassen, das
Rüdiger Schnell überzeugend als Ausdruck einer spezifischen Auffassung
von Herrschaft und als Instrument zu ihrer Legitimierung interpretiert hat.46
Die auf Breitenwirkung zielende Friedenspublizistik des 13. Jahrhunderts –
vor allem die Massenpredigt der Franziskaner, die alle Bevölkerungsschich-
ten erreichte – könnte dann als Versuch beschrieben werden, das adlige

43 Hahn, Differenzierung (Anm. 36), S. 226.


44 Joachim Bumke, »Höfischer Körper – Höfische Kultur«, in: Modernes Mittelalter
(Anm. 23), S. 67–102, hier S. 70.
45 Zitiert nach Bumke, Körper (Anm. 44), S. 71; dort auch die Übersetzung.
46 Rüdiger Schnell, »Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hoch-
mittelalter«, in: Modernes Mittelalter (Anm. 23), S. 103–133, hier S. 117.
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 211

Programm der Triebregulierung in sachgemäßer Modifizierung nach ›unten‹


zu tragen, die Elite-Norm zu einer generellen Gemeinschafts-Norm mit
einem entsprechenden psychischen Habitus ihrer Träger weiterzuentwickeln.
Mit den Kategorien von Elias als Zivilisationsprozess bestimmt, wäre dieser
Vorgang vielleicht – man müsste es prüfen – typologisch der Evolution von
der Civilité der Hofgesellschaft des Ancien Régime zur Civilisation der
Bürgergesellschaft des modernen Nationalstaats zu vergleichen.47
Für eine systematische Konstruktion der literarhistorischen Reihe böte
dieses Modell, wenn es sich im einzelnen plausibel machen ließe, be-
trächtliche Vorteile. Der Rekurs auf die Zivilisationstheorie brachte schon für
das Verständnis der literarischen Produktion des 13. Jahrhunderts Gewinn,
insofern er es erstmals erlaubte, die Textfelder der ›Neuen Staatlichkeit‹ –
Rechtsbücher, Chroniken, Publizistik verschiedenster Art – und der ›Neuen
Frömmigkeit‹ – Predigten, mystisch-aszetische Literatur – in einem Funk-
tionszusammenhang wahrzunehmen. Nun deutet sich die Möglichkeit an, den
gesamten Komplex an die höfische Literatur seit der Mitte des 12. Jahr-
hunderts anzubinden, in der das Selbstverständnis, der kulturelle Lebensent-
wurf der höfischen Gesellschaft maßgeblich artikuliert wurde.
Das Modell bestimmte nicht nur die Makrostruktur der literarhistorischen
Erzählung, die argumentative und deskriptive Logik ihrer Verknüpfungen und
Bedeutungszuweisungen, es hätte Folgen auch für das Verständnis mikro-
struktureller Befunde. Ein Beispiel sind die breiten und teilweise sehr ge-
nauen Entsprechungen zwischen dem Motiv-Fundus und der Bild-Sprache
der höfischen Liebe und dem Motiv-Fundus und der Bild-Sprache der
geistlichen Liebe und Devotion. Das Phänomen ist oft beschrieben und
untersucht worden, im Zusammenhang der Elias-Debatte von Horst Wenzel,
der anhand des Sprachgebrauchs in verschiedenen Texten und der Ikono-
graphie verschiedener bildlicher Darstellungen gezeigt hat, dass »der Diskurs
über die höfische Liebe« vom »religiösen Diskurs« (und vom »Herrschafts-
diskurs«) nicht zu lösen ist.48 Ich sehe die Chance, dass sich solche Diskurs-
Konvergenzen besser verstehen ließen, wenn man sie als Manifestationen
einer einheitlichen kulturellen Formation im Sinne des skizzierten Modells
begreifen dürfte: die sachlichen und methodischen Verlegenheiten, die sich in
Relationsfiguren wie ›Säkularisation‹ oder ›Kontrafaktur‹, aber etwa auch in
der Vorstellung mangelnder »Ausdifferenzierung« der »gesellschaftlichen
Subsysteme« im Mittelalter49 niederschlagen, müssten sich dann überwinden
lassen.

47 Elias, Prozeß (Anm. 2), I, S. 137ff. – Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Hahn,
Differenzierung (Anm. 36), der für die »langfristige Psychogenese des modernen
Menschen eher […] bürgerliche als adlige Wurzeln verantwortlich« macht
(S. 226).
48 Horst Wenzel, »Zur Deutung des höfischen Minnesangs. Anregungen und Grenzen
der Zivilisationstheorie von Norbert Elias«, in: Menschenwissenschaften (Anm.
27), S. 213–239, hier S. 218.
49 Vgl. Wenzel, Deutung (Anm. 48), S. 239.
212 Joachim Heinzle

Auf der anderen Seite ist es verlockend, die Entwicklung der mystischen
Frömmigkeit im Wechselspiel mit der Entwicklung der staatlich-gesellschaft-
lichen Ordnung (mit der wachsenden Bedeutung von Stadt und Stadtkultur)
ins 14. Jahrhundert hinein weiter zu verfolgen. Im Rahmen dieses Diskus-
sionsbeitrags kann ich das nicht näher ausführen. Ich will nur ein me-
thodologisches Problem zur Sprache bringen, das sich hier auftut. Es sei am
Beispiel des Einsiedler Seuse-Codex 710 erläutert, dem Niklaus Largier
soeben eine eindrucksvolle Analyse gewidmet hat.50
Der Codex ist im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts für eine Konstanzer
Patrizierin hergestellt worden. Mit seiner Verbindung von Text und Minia-
turen steht er in einer Tradition erbaulicher Bücher, die schon im 12.
Jahrhundert einsetzt. Largier erinnert an Gebetbücher wie den ›Liber precum
von Schlettstadt‹ oder das sog. ›Gebetbuch der Hildegard von Bingen‹, in
deren Illustrationen »narrative Bildtypen neben das tradierte Repertoire
(Autor- und Gönnerportraits, Christus, Heilige)« treten und »Text und Bild
[…] als materia meditandi eine narrativ erschlossene Einheit bilden«.51
Jeffrey Hamburger, dem wir wichtige Einsichten in die medien- und fröm-
migkeitsgeschichtliche Bedeutung dieser Gebetbücher verdanken, hat ihre
Illustrationen als »protodevotional images«52 in die Vorgeschichte des ›An-
dachtsbildes‹ gestellt, das seinerseits fest eingebunden ist in eine – nament-
lich weibliche, namentlich dominikanische – Frömmigkeit, die wesentlich auf
Bilder rekurriert.53 Damit sind wir in der kulturellen Szene des 14. Jahr-
hunderts. Die Entfaltung der Frömmigkeitskultur mit ihren spezifischen
psycho- und soziogenetischen Implikationen, die sich an der Enwicklung
dieses Texttyps verfolgen lässt, könnte so zu einer Leitlinie in einem zivilisa-
tionstheoretisch fundierten literaturgeschichtlichen Modell werden, das die
volkssprachige Literatur vom 12. bis eben ins 14. Jahrhundert in ihrer
Gesamtheit systematisch erfasste.
Doch dürfte man hier abbrechen? Müsste man nicht ins 15. Jahrhundert
weitergehen? Der Einsiedler Codex stammt ja von dessen Ende, und er
verweist ganz nachdrücklich auf den in Frage stehenden Kulturzusammen-
hang, indem seine Ikonographie jene charakteristische Konvergenz des geist-
lichen und des weltlichen Liebes-Diskurses zeigt – da sieht man etwa die
»Seele und Christus«, wie sie »sich gegenseitig in dem aus der Minnesang-
ikonographie bekannten Umarmungsgestus der Liebenden halten«: »Christus
und die Nonne halten sich die linken Hände, während sie seine Schulter
umfängt und er mit der Rechten als Zeichen der Minne an ihre Brust

50 Niklaus Largier, »Der Körper der Schrift. Bild und Text am Beispiel einer Seuse-
Handschrift des 15. Jahrhunderts«, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten
Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 241–271
51 Vgl. Largier, Körper (Anm. 50), S. 263.
52 Jeffrey Hamburger, »Before the Book of Hours: The Development of the Illu-
strated Prayer Book in Germany«, in: ders., The Visual and the Visionary. Art and
Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 149–195, hier
S. 172.
53 Dazu grundlegend die einschlägigen Kapitel bei Hamburger, Visual (Anm. 52).
Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell 213

greift«.54 Mit der zunehmenden Streckung seiner zeitlichen Reichweite


müsste das Modell aber entweder an Prägnanz verlieren oder sich in Abstrak-
tionen flüchten. Das ist die oben angesprochene Frage der historio-
graphischen Zweckmäßigkeit: Wieviel an zeitlicher Reichweite darf man
dem Modell zumuten? Mit anderen Worten: Soll der Historiograph der
deutschen Literatur des Mittelalters eine zusammenhängende Großerzählung
anstreben, die zwar noch deutlich unter der Reichweite des ›Prozesses der
Zivilisation‹ bliebe, aber nun doch auch Jahrhunderte umfasste? Oder soll er
sich dem historiographischen Sog widersetzen und sich – um den Preis
harter, mehr oder weniger willkürlicher Abbrüche – mit einem Agglomerat
sozusagen zellenhafter Kleinerzählungen begnügen? Ich lasse die Frage hier
offen.

*
Der Einsiedler Codex ist in unserem Zusammenhang noch in anderer Hin-
sicht von methodologischem Interesse: als Paradigma für die Beurteilung des
intrikaten Verhältnisses von Psychogenese und Soziogenese. An die Arbeiten
Hamburgers und anderer anknüpfend, konnte Largier zeigen, dass in solchen
Text-Bild-Ensembles den Bildern nicht nur eine didaktische oder illustrativ-
mnemotechnische Funktion zukommt, sondern dass sie mit dem Text eine
komplexe Verbindung eingehen, die als Vehikel einer spezifischen spirituel-
len Erfahrung fungiert. Das eröffnet differenzierte Einsichten in Vorgänge
der Intensivierung, Erweiterung, Prägung von Bewusstsein durch den Um-
gang mit Literatur. Und dabei ergibt sich, dass es schlechterdings unmöglich
ist zu entscheiden, ob die mentale Disposition, der spirituell geformte psy-
chische Habitus der Leserin (ihr ›Innen‹) Folge oder Ursache der Be-
dingungen ihrer sozialen Praxis (ihres ›Außen‹) ist. Wenn es eines Beweises
dafür bedürfte, dass die Frage nach der Priorität von Psychogenese oder
Soziogenese nicht ein für allemal zu beantworten und insoweit sinnlos ist,
dann wäre er hier zu finden. Und das heißt eben, dass bei der Konstruktion
historischer Modelle beide Prozesslinien als prinzipiell gleichberechtigte
Wirkungsfaktoren eingesetzt werden können und müssen.
So ist denn noch einmal nachdrücklich festzuhalten, dass der Literarhis-
toriker, der mit einem Forschungsprogramm auf der Grundlage der Zivilisa-
tionstheorie arbeitet, keineswegs dazu verdammt ist, seine Texte als bloße
›Allegorien‹ des Gesellschaftsprozesses zu dechiffrieren. Seine wichtigste
Aufgabe besteht vielmehr darin, Hypothesen darüber zu entwickeln, wie
Literatur bewusstseins- und also auch gesellschaftsbildend gewirkt hat, und
zwar gerade in ihrer medialen Eigentümlichkeit: in ihrer sprachlichen Ver-
fasstheit, die das weite Feld der rhetorischen Praktiken und Formen ebenso
umfasst wie die Prozeduren der Fiktionalisierung. Was diese betrifft, hat
Ursula Peters soeben die »Kontextanalyse« als »fast« eine »Art Königsweg
für die Analyse der spezifischen Differenzqualität« von Texten bezeichnet,

54 Largier, Körper (Anm. 50), S. 249.


214 Joachim Heinzle

die sich im ›Akt des Fingierens‹ (Iser) konstituiere.55 Ursula Peters argu-
mentiert am Beispiel der Lieder Neidharts. Zieht man in Betracht, dass die
Referenzialität in der großen Menge mittelalterlicher Texte noch viel weniger
vermittelt ist als in dieser Lyrik, dann kann man die Einschränkung getrost
fallen lassen: Kontextanalyse ist der Königsweg der (mediävistischen) Litera-
turwissenschaft. Der Literarhistoriker, der ihn beschreitet, usurpiert nicht
Fremdes – er bewegt sich im Ur-Eigensten.

55 Ursula Peters, Text und Kontext: Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschafts-


geschichte und Kulturanthropologie, Wiesbaden 2000, S. 39.
Verborgene Kalküle
Pierre Bourdieus ›Reflexive Anthropologie‹,
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana
des Interpreten

Gerhard Wolf (Bayreuth)

Die Mediävistik hat den Körper entdeckt.1 Sie trägt damit einer Entwicklung
in den historischen Kulturwissenschaften Rechnung, bei vormodernen Ge-
sellschaften die sinn- und gemeinschaftsstiftenden Elemente in den Aus-
drucksformen einer nicht-cartesianischen Ontologie zu suchen. Ihr For-
schungsinteresse verschiebt sich von den Strukturen auf die Praxis, von der
Überlieferung auf die Form der Kommunikation, die Ritualität und den
Gebrauch nicht-sprachlicher Zeichen. Im Rückgriff auf die Ergebnisse der
historischen Anthropologie und der Ethnologie wird dabei dem Körper eine
›Realpräsenz‹ zugeschrieben, er erscheint als Quelle der Erinnerung und
Produzent eines eigenen Lebenssinns, der mitunter quer zur Rationalität
steht. Tendenziell führen derartige Theorien, die man einer ›grünen Medi-
ävistik‹ zuschlagen kann, allerdings zu einer Idealisierung und Autonomisie-
rung des Körpers auf Kosten seiner historischen und sozialen Bedingtheiten
und sind damit nur eine Umkehrung der bisherigen Verabsolutierung des
Geistes oder der Gesellschaft. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass derar-
tige Ansätze die objektivistischen Theorien der Geistes- oder Mentalitätsge-
schichte im Grunde auf die Körperthematik übertragen und das Leitpara-
digma der scholastischen Rhetorik durch das der höfischen Körperkontrolle
ersetzt worden ist. Dabei erscheint ausgerechnet die Körperkommunikation
per se wesentlich weniger standardisierbar zu sein als die literarische, wenn
man einmal von den eng begrenzten Gebieten des Hofzeremoniells oder der
Liturgie absieht. Auch blieb bei der Erforschung der Regeln der Körperkom-
munikation die Frage ausgespart, in welchem Verhältnis die hypostasierte
Norm zum Körper des Interpreten und seinem in der Auseinandersetzung mit

1 Einführungen in die Forschung bieten die Arbeiten von Ursula Peters, »Historische
Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären
Forschungsdiskussion«, in: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger, hg.
v. J. Janota u. a., Tübingen 1992, Bd.I, S. 63–86; dies: »Zwischen New Historicism
und Gender-Forschung. Neue Wege der älteren Germanistik«, DVjs 71, 1997,
S. 363–396 und Christian Kiening, »Anthropologische Zugänge zur mittelalterli-
chen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven«, in: Forschungsberichte zur Ger-
manistischen Mediävistik, Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe C, Abt. 5,
Bd. 1, hg. v. H.-J. Schiewer, Bern 1997, S. 11–129, hier S. 64–76.
216 Gerhard Wolf

der Gesellschaft entstandenen Habitus steht. Der alte Gegensatz zwischen


Objektivismus und Subjektivismus lebt also auch in den neuen Konzepten
der Mediävistik fort, und insofern erscheint es angebracht, für die aktuelle
Fachdiskussion das Werk des französischen Ethnologen und Soziologen
Pierre Bourdieu fruchtbar zu machen, zu dessen Kernthemen eben dieses
Verhältnis von Gesellschaft, Geschichte und individuellem Körper gehört
und der in seinem Werk ›Les règles de l’art. Genèse et structure du champ
littéraire‹2 die gesellschaftlichen Felder der Kunst, Literatur und Wissen-
schaft daraufhin untersucht. Bourdieus Interesse ist hier zwar primär kultur-
soziologisch, aber er versteht sich auch als Literaturwissenschaftler, wenn er
sich gleichermaßen mit den Texten und dem avant-texte, mit Gattungs- und
Formfragen befasst und grundsätzlich hermeneutisch verfährt.
Angesichts dieser methodologischen Nähe mag es überraschen, dass Bour-
dieus enormes Œuvre3 von der deutschen Literaturwissenschaft bisher noch
relativ wenig beachtet worden ist und auch seine wissenschaftssoziologischen
Provokationen bislang kaum Reaktionen hervorgerufen haben; wenn er rezi-
piert wird, dann vornehmlich innerhalb des ›Metadiskurses‹.4 Ein Wandel ist
freilich in Sicht, denn in den geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen –
in der Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, neuerdings auch in der Ge-
schichtswissenschaft – werden die Vorzüge seines Ansatzes erkannt, zumal
aus den USA, wo die Bourdieu-Rezeption besonders intensiv ist, seine
Theorien als Reimport bereits wieder nach Europa zurückkommen.5 Aber
selbst wenn Bourdieus Leitbegriffe wie Habitus, Feld und symbolisches
Kapital gute Chancen haben, in die wissenschaftliche Alltagssprache einzu-
gehen, gilt für die deutsche Wissenschaftslandschaft insgesamt, dass Bour-
dieus hohe Reputation in einem auffälligen Kontrast zu seiner Relevanz für
die akademische Praxis steht. Die weitgehende Vernachlässigung Bourdieus
durch die germanistische Mediävistik6 ist also an sich kein Ausnahmefall, sie
verwundert jedoch deswegen, weil sie sich in Teilbereichen schon immer als

2 Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris
1992; dt., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes,
Frankfurt a. M. 1999.
3 Eine Forschungsübersicht zu Bourdieus Werk wäre eine Arbeit für sich, bereits 1994
umfasste seine Bibliographie ca. 650 Veröffentlichungen. Einen »Leitfaden durchs
Labyrinth der Gelehrsamkeit Pierre Bourdieus« bieten Gerhard Fröhlich und Ingo
Mörth, Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne
nach Pierre Bourdieu, hg. v. I. Mörth/G. Fröhlich, Frankfurt a. M./New York 1994,
S. 271–311.
4 Dies mag sich ändern, nachdem Joseph Jurt (Das literarische Feld. Das Konzept
Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995) Bourdieus Werk über die
Regeln der Kunst für die deutsche Literaturwissenschaft erschlossen hat.
5 Zur Rezeption der Bourdieuschen Schriften vgl. Gerhard Fröhlich und Ingo Mörth,
»Lebensstile als symbolisches Kapital« in: Kapital (Anm. 3), S. 9.
6 Hier sind die Ausnahmen von der Regel: Horst Wenzel, »Höfische Repräsentation«,
in: Kultur und Alltag, hg. v. H.-G. Soeffner, Göttingen 1988, S. 105–120; Silvia
Schmitz, »Das Ornamentale bei Suchenwirt und seinen Zeitgenossen. Zu struk-
turellen Zusammenhängen zwischen Herrschaftsrepräsentation und poetischem Ver-
fahren«, Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. H.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 217

kulturgeschichtliche Wissenschaft verstanden hat und Ernst Panofsky, von


dem Bourdieu seinen Habitus-Begriff übernommen hat,7 zu ihren Vorbildern
zählt. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass Bourdieu als Ethnologe
auf einem Feld ausgewiesen ist, das in der Altgermanistik fast den Rang einer
neuen Leitdisziplin hat. Warum aber erfreuen sich bei kulturwissenschaftlich
arbeitenden Mediävisten zwar die amerikanischen Ethnologen James Clifford
und Clifford Geertz als neue ›Säulenheilige‹ einer Beliebtheit, die sie in ihren
eigenen Fächern gar nicht mehr haben, Bourdieu hingegen wird kaum
wahrgenommen?8 Dabei ist das Geertzsche Paradigma der ›dichten Beschrei-
bung‹ so weit nicht von Bourdieu entfernt, beide Ansätze sind entschieden
relational, reflexiv, gehen nicht von stabilen Subjekt-Objekt-Beziehungen aus
und suchen die Bedeutungen in den komplexen Beziehungen, die zwischen
den Beobachteten und dem Beobachter bestehen. Was jedoch Clifford und
Geertz für die Literaturwissenschaft so attraktiv macht, sind ausgerechnet
zwei Aspekte, in denen sie sich von Bourdieu unterscheiden. Beide geben
vor, Ethnographie als Textwissenschaft zu verstehen und begeben sich damit
auf ein Terrain, auf dem die Literaturwissenschaft Hausrecht besitzt und die
Aussicht genießt, im Rahmen eines »literary turn« zur nachgefragten Export-
wissenschaft zu avancieren. Auch der Ansatz von Geertz und Clifford, bei der
Analyse vormoderner Gesellschaften nach Formen der Selbstreflexivität zu
suchen, bringt beide in die Nähe einer altgermanistischen Forschungsrich-
tung, die darin ein zentrales Qualitätsmerkmal für literarische Werke sieht.
Fast notwendigerweise setzt genau hier die Kritik traditioneller Mediävisten
an der Geertz-Rezeption an: Vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, der Schrift-
kultur ein entscheidendes Distinktionskriterium zu erhalten, werden Ritualen
oder Mythen selbstreflexive Strukturen abgesprochen.9 Bourdieus Kritik an
Geertz und Clifford kommt hingegen aus einer anderen Richtung, trifft
jedoch eher den Kern. Bourdieu sieht in der postmodernen Methode, Ethno-
logie als eine die ethnographischen Berichte in ihrer rhetorischen Anlage

Ragotzky/H. Wenzel, Tübingen 1990, S. 279–302. An der Arbeit von Silvia Schmitz
zeigt sich, warum der Habitus-Begriff Bourdieus für eine Mediävistik ungeeignet
ist, die ihre Texte aus einer Zuordnung zu gesellschaftlichen Gruppen erklären
möchte. Denn der Begriff ist viel zu weit angelegt, als dass er sich auf das Rationale
oder das Ornamentale als Distinktionsmerkmal einer gesellschaftlichen Gruppe
einengen ließe. (Vgl. ebd., S. 301 f., Anm. 82). Zur Anwendung des Habitus-
Begriffs auf das Nibelungenlied vgl. Hans-Jürgen Bachorski, »Krimhilt verschenkt
Sigfrieds Leben« (Schr. Manuskript 1993).
7 Bourdieu, Regeln (Anm. 2), S. 285 f. Panofsky sieht im Habitus diejenige Institu-
tion, die den Künstler als Individuum mit der Kollektivität seiner Zeit verbindet.
Vgl. auch Jurt, Feld (Anm. 4), S. 80.
8 Das Faszinosum dieser Ansätze für die Mediävistik liegt vor allem darin, dass hier
scheinbar die dem Mediävisten fehlende Empirie durch die Feldforschung in semi-
oralen Kulturen ersetzt wird.
9 Vgl. dazu Walter Haug, »Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?«, DVjs 73,
1999, S. 69–93, hier S. 86–92 und die Kritik von Gerhart von Graevenitz, »Litera-
turwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung«, ebd., S. 94–115, hier
S. 105–107.
218 Gerhard Wolf

entlarvende Textwissenschaft zu betreiben, wissenschaftliche Aporien und


politische Risiken: Die als Beobachtung des Beobachters getarnte Reflexivi-
tät führe zu wissenschaftlichem Narzissmus,10 die Phänomenologie der
›Textwissenschaftler‹ zur Verschleierung von Machtverhältnissen.11 Obwohl
er sich gleichermaßen von einem naiven Positivismus und Objektivismus
abgrenzt, glaubt er doch an die ›Existenz‹ einer Wahrheit, die durch Wissen-
schaft zu erkennen ist, auch wenn diese nur in den Relationen zwischen
einzelnen Feldern einer Gesellschaft existiert. Wissenschaftliche Reflexivität
heißt für ihn nicht Beschäftigung mit der sozialen oder gar psychologischen
Disposition des einzelnen Forschers, sondern die Anwendung der Werkzeuge
der Wissenschaft auf die Wissenschaft selbst, die für ihn ein kollektives und
kein individuelles Unternehmen ist.12 Diese Form wissenschaftlicher Re-
flexivität führt er auch gegen die postmoderne Dekonstruktion ins Feld, die
bei einer Anwendung der eigenen Methode auf sich selbst zugeben müsste,
»daß auch sie Kriterien für Wahrheit und rationalen Dialog voraussetzt, deren
Wurzeln in der sozialen Struktur des intellektuellen Universums liegen.«13
Eine solche Forderung nach einer Wissenschaft der Wissenschaft liegt außer-
halb des Fokus der Moderne wie der Postmoderne, sie bricht so radikal mit
der scholastischen Tradition, der die europäische Universität nach Meinung
Bourdieus immer noch verhaftet ist, dass man darin einen wesentlichen
Grund für die Distanz der deutschen Forschung gegenüber seiner reflexiven
Anthropologie sehen könnte.
Wie für die soziologischen und ethnologischen Analysen ist auch für
Bourdieus Auseinandersetzung mit der Kunst und Kultur seine Habitus-Feld-
Theorie von zentraler Bedeutung. Dieses Konzept wiederum entstammt dem
sich wie ein roter Faden durch sein Werk ziehenden Versuch, den abstrakten
philosophischen Gegensatz zwischen Subjektivismus und Objektivismus, aus
dem sich der Konflikt von Individuum und Gesellschaft, Lebenswelt und
System, Verstehen und Erklären etc. ableitet, zu überwinden. Bourdieus
›dritter Weg‹ besteht in der Einführung einer praxeologischen Erkenntnis, die
einen Eigenwert besitzt und die entscheidende Schnittstelle markiert, an der
das Individuum auf die Gesellschaft, die – im Gegensatz zur marxistischen
Theorie – keine Einheit bildet, sondern in eine Vielzahl von Feldern ausein-
andergefallen ist, trifft.14 Der Begriff des Feldes15 bezeichnet die zum »Ding

10 Bourdieu ist immer der Typ des politisch engagierten Intellektuellen gewesen, der
in der deutschen Wissenschaftslandschaft nicht sehr verbreitet ist. Wie die Bio-
graphie Bourdieus zeigt, ist seine Arbeit von einer zunehmenden Einmischung (La
misère du monde, Paris 1993) in die Politik geprägt, eine Haltung, die der
Generation der Nach-68er-Ära eher fremd ist.
11 Vgl. Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M.
1996, S. 102ff.
12 Vgl. ebd., S. 62 f.
13 Ebd., S. 79.
14 Der Feldbegriff ersetzt in gewisser Weise den der Gesellschaft, den Bourdieu
deswegen aufgibt, weil er von den strukturalistisch arbeitenden Soziologen als
ontologische Entität verwendet wird, die keinerlei Distinktionsqualität mehr hat.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 219

gewordene Geschichte«, er signalisiert, dass jedes Objekt in ein Netz von


Relationen eingebunden ist und deswegen zu untersuchen ist, ob es seine
Eigenschaften nicht zum wesentlichen Teil eben diesem Relationennetz ver-
dankt: »Der Feldbegriff erinnert uns an die erste Regel der Methode, daß
nämlich jene erste Neigung, die soziale Welt realistisch zu denken […] mit
allen Mitteln zu bekämpfen ist: Man muß relational denken.«16 Auf den
Feldern und Teilfeldern (das intellektuelle, universitäre, akademische, sozio-
logische, künstlerische, religiöse, das Feld des Sports, der Mode, der Lite-
ratur, der Comics, der Philosophie usw.)17 tragen einerseits die Individuen
ihre Kämpfe aus, andererseits stehen die Felder auch in Konkurrenz zuein-
ander. Bourdieu sieht es als Aufgabe des Wissenschaftlers, diese Felder
sowohl in ihrer diachronen Entwicklung wie auch in ihren synchronen
Beziehungen zu beschreiben, er arbeitet gleichermaßen historisch wie rela-
tional und kommt damit der alten Crux des Strukturalismus – die Unmög-
lichkeit, den Wandel zu erklären – wenigstens theoretisch bei. Da jede
Forschung vor der Gefahr steht, die Realität, auf die sie sich bezieht, zuvor
unbewusst zu konstruieren, schlägt Bourdieu eine mikroskopische Unter-
suchung vor, in der die einzelnen Merkmalsdistributionen unterschiedlicher
Bereiche (z. B. Hochschulausbildung und Sportarten; Wohnraumgestaltung
und Status usw.) miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn man ein
derartiges Feld rekonstruiert, etwa das der Bildungsinstitutionen der grandes
écoles,18 wird man erkennen, dass es nur in den Relationen mit anderen
Feldern existiert – »das Reale ist relational« – und von diesen anderen
Feldern ist eines vor allen anderen maßstabsetzend, das des »champ du
pouvoir«.19 In jedem der Felder wird zwar mit unterschiedlichen Kapitals-
orten gehandelt, das in einem Feld erworbene Kapital ist also nicht in einem
anderen wirkkräftig, aber die wichtigsten Sorten sind das ökonomische und
das kulturelle Kapital.20 Die unterschiedlichen Kapitalsorten lassen sich in
eine gemeinsame Währung, das sog. ›symbolische Kapital‹ (soziales Pre-
stige, Ehre),21 umrechnen. Nach dieser allgemeinen Ökonomie der Praxis
müssen alle Handlungen in einem Feld letztlich auf die Maximierung mate-
riellen oder symbolischen Gewinns ausgerichtet sein, und dies ist nur durch

15 ›Feld‹ und ›Habitus‹ sind nicht präzis definiert, wie die Klärung terminologischer
Fragen generell nicht zu Bourdieus bevorzugter Strategie gehört. Vielmehr ver-
wahrt er sich gegen das endlose Jonglieren mit Begriffen, die für ihn eher einen
funktionalen Stellenwert haben.
16 Vgl. Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 262.
17 Vgl. Markus Schwingel, Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der
Soziologie Bourdieus, Hamburg 1993, S. 79.
18 Vgl. Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 266.
19 Jurt, Feld (Anm. 4), S. 89.
20 Vgl. Ebd. S. 78.
21 Unter symbolischem Kapital versteht Bourdieu jene Kapitalsorten, die – anders als
das Geld – auf Bekanntheit und Anerkennung beruhen (Lebensstil, Wissen, Bil-
dungsabschlüsse, Renommee, Ehre, Geschmack), aber genau wie das Geld für den
Inhaber einen konkreten Nutzen hervorbringen, selbst wenn dieser nur in Form
einer Aussicht auf künftige Hilfe bestehen mag.
220 Gerhard Wolf

die Erringung der Macht in einem Feld zu erreichen. Das Streben nach
Macht liegt nicht in einem anthropologisch begründeten Willen zur Macht
(Nietzsche) oder weil Macht ein ontologisches Prinzip wäre (Foucault),22
»sondern in realen, durch Eintritt in das Feld sich konstituierenden feld-
spezifischen Interessen begründet«.23 Das Feld der Macht kann deswegen die
(relative) Autonomie der anderen Felder beeinflussen und limitieren, weil die
verschiedenen Felder eine homologe Struktur besitzen, in allen also der
gleiche Konkurrenzkampf herrscht und der Wert eines Feldes durch die
Position bestimmt ist, die es innerhalb des Feldes der Macht einnimmt.24
Diese Regeln gelten auch und besonders für das intellektuelle, das künst-
lerische und literarische Feld, obwohl sie sich selbst als autonom gegenüber
dem Feld der Macht definieren und ihre interne Legitimität und Ökonomie
»in einem chiastischen Verhältnis zu den fundamentalen Prinzipien des
Feldes der ökonomischen und politischen Macht« stehen.25 Bourdieus Feld-
theorie hat demnach den Vorteil, dass sie weder auf ein ontologisches Prinzip
rekurriert, noch die Kunst im Sinne des ›l’art pour l’art‹ in das Abseits
gesellschaftlicher Autonomie stellt. Das Verhältnis zwischen literarischem
Feld und dem Feld der Macht wird als permanentes Wechselspiel von
Heteronomie und Autonomie gesehen, und dies beruht darauf, dass die
Grenzen des Feldes nie eindeutig festgelegt sind.26 Für das literarische wie
das intellektuelle Feld gilt dasselbe Prinzip: Je höher der Grad an Autonomie,
desto größer der symbolische Stellenwert (›bien symbolique‹). Aus dieser
Konstellation leitet Bourdieu seine Erklärung des Wandels ab: »Veränderun-
gen im System der Werke und der Theorien gehen zurück auf Modifikationen
des Systems der Positionen, die dann möglich werden, wenn die subversive
Kraft einer Fraktion des Feldes die Erwartungen des Publikums trifft.«27
Veränderungen eines Feldes gehen demnach nicht von feldexternen Vor-
gängen aus, sondern geschehen in ihm. Der Prozess des Wandels auf dem
literarischen Feld beruht auf Innovationen, nicht auf Konformität, er führt
damit zur wachsenden Selbstreflexivität und dadurch zur Autonomisierung.
Auch der Habitus-Begriff ist weitgefasst,28 Bourdieu umschreibt ihn im
Gegensatz zum Feld mit dem Begriff der ›Leib gewordenen Geschichte‹,29 es

22 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zur Theorie Foucaults vgl. Bourdieu/


Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 77 f. u. pass. Die Macht hat bei Bourdieu
bei weitem nicht die allumfassende Bedeutung wie bei Foucault. Man wird freilich
einräumen müssen, dass Foucault nicht die Macht verherrlicht, sondern sie aus der
Perspektive möglichen Widerstandes beschreibt.
23 Schwingel, Analytik (Anm. 17), S. 91.
24 Vgl. Jurt, Feld (Anm. 4), S. 89.
25 Ebd., S. 90.
26 Diese These widerspricht auch der Vorstellung einer Geschichtswissenschaft, die
den Urkunden einen höheren Glaubwürdigkeitsgrad zuschreibt als den so genann-
ten literarischen Werken.
27 Jurt, Feld (Anm. 4), S. 93 f.
28 Zur Herkunft des Begriffs vgl. o. S. S. 217. Zum Begriff siehe auch grundsätzlich
Gerhard Fröhlich, »Kapital, Habitus, Feld, Symbol. Grundbegriffe der Kultur-
theorie bei Pierre Bourdieu«, in: Kapital (Anm. 3), S. 31–54.
29 Vgl. Jurt, Feld (Anm. 4), S. 81.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 221

ist ein »strukturierender Mechanismus, der von innen heraus in den Akteuren
wirkt, obwohl er genaugenommen weder strikt individuell ist noch an sich
das Verhalten bereits völlig determiniert.« Habitus ist »das Erzeugungs-
prinzip von Strategien, die es ermöglichen, unvorhergesehenen und fort-
während neuartigen Situationen entgegenzutreten, [weil es] alle vergangenen
Erfahrungen integrierend, wie eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denk-
matrix funktioniert […]«30 Der Habitus ist demnach »eine Instanz zur
Vermittlung von Rationalität, […] die einem historischen System von sozia-
len Verhältnissen immanent ist und damit den Individuen transzendent. Die
von ihm ›gemanagten‹ Strategien sind systematischer Natur und doch inso-
fern Ad-hoc-Produkte, als ihr ›Auslöser‹ immer erst das Zusammentreffen
mit einem bestimmten Feld ist. Der Habitus ist schöpferisch und erfinde-
risch, aber in den Grenzen seiner Strukturen«31, in ihm haben sich die
historischen Wahrnehmungsschemata niedergeschlagen. Er trifft auf ein Feld,
das keine einheitliche Gesellschaft oder Kultur darstellt, sondern aus relativ
autonomen Spiel-Räumen32 besteht, und in dem die Akteure um das Mono-
pol »auf die in ihm wirksame spezifische Kapitalsorte«33 und damit um die
Macht kämpfen. Mit dem Habitus-Feld-Konzept sind somit die starren Gren-
zen zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben, denn weitgehend unbewusst
nimmt das Individuum die Elemente des Feldes auf bzw. arbeitet sich das
Individuum am Feld ab und verändert es dadurch.
Da sich für Bourdieu Theorien in der Praxis zu bewähren haben, hat er
anhand von Flauberts Education sentimentale das Habitus-Feld-Konzept an
einem konkreten Text erprobt34 und die Relationen zwischen dem künst-
lerischen, literarischen, sozialen Feld und dem der Macht beschrieben. Ent-
sprechend seiner Theorie von den homologen Strukturen der einzelnen Felder
sieht er »in der Struktur des Romans nicht nur die Struktur des sozialen
Feldes eingeschrieben, sondern in noch vermittelterer Form diejenigen des
literarischen Feldes«.35 Indem sich Flaubert mit den relevanten Standpunkten
im literarischen Feld auseinandersetze, tritt der Roman hier ins »Stadium der
Reflexivität […], die für Bourdieu ein untrügliches Zeichen der Autonomie
des Feldes darstellt«.36 Außerdem nähere sich Flaubert mit seiner ambivalen-
ten Haltung gegenüber seinen Figuren, dem »steten Hin und Her zwischen

30 Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 39.


31 Ebd., S. 39 f.
32 Vgl. ebd., S. 37.
33 Ebd., S. 38.
34 Bourdieu beschreibt ausführlich die Struktur des literarischen Feldes, die geprägt
ist von den sozialen Umschichtungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
dem Aufstieg vermögender Industrieller, der Herrschaft des Geldes und dem
Versuch Napoleons III., die Bürokratie mittels der Entfaltung einer mondänen
Geselligkeit, zu der die Kunst einen wichtigen Anteil beiträgt, an sich zu binden.
Den Ort des Kampfes zwischen den einzelnen Feldern bildet der Salon, in denen
die Kulturträger in überschaubare Beziehungen verstrickt werden. Vgl. Bourdieu,
Regeln (Anm. 2), S. 85ff.
35 Jurt, Feld (Anm. 4), S. 142.
36 Ebd., S. 139.
222 Gerhard Wolf

Identifizierung und Feindschaft, Billigung und Häme« dem Modus des


Soziologen an, und wie dieser ist er prädestiniert für die »Hervorbringung
einer Sicht des Macht-Feldes«.37 Aber dies geschieht nicht unmittelbar,
vielmehr besteht ein geheimes Einverständnis zwischen Autor und Publikum,
das beide »in der gleichen Beziehung der Verleugnung der durch den Text
zum Ausdruck gebrachten Realität vereint.«38 Mit dieser Realität meint
Bourdieu die Machtverhältnisse, die die Literatur zugleich offenbart und
kaschiert und deren »Zauber« erst eine soziologische Lektüre breche, indem
sie dieses Einverständnis zwischen Autor und Publikum aufhebt und eine
»Wahrheit [offenbart], die der Text zwar äußert, aber auf eine sie wieder
nicht äußernde Weise; zudem bringt sie a contrario die Wahrheit des Textes
selbst zum Vorschein, dessen Besonderheit sich gerade dadurch auszeichnet,
daß er das, was er sagt, nicht so sagt wie die soziologische Lektüre«.39
Deswegen handele es sich beim literarischen Werk um eine »kontrollierte
Offenbarung des Verdrängten«.40 Es ist also ein eigener ›Fiktionalitätskon-
trakt‹ zwischen Autor und Leser, in dem beide sich darin einig sind, dass das
Wirkliche verborgen bleiben soll, indem es dargestellt wird. Diese ›objektive
Wirklichkeit‹ ist weder positivistische Erfahrung, noch das, was die Kom-
munikation (Habermas) hervorbringt, sondern diejenige, die »systematisch
von den üblichen Konventionen und Konformismen weggewischt wird.«41
Schreiben ist demnach eine Strategie, die eine objektive Wahrheit in Form
der Regeln des Feldes zum Vorschein bringt. Diese These einer Selbstauf-
klärung durch Literatur ist zwar nicht neu, aber über die Feld-Habitus-
Theorie mit ihrem Reflexivitätspotential bezieht sie auch den Beobachter in
das Netz der Relationen mit ein. Zugespitzt formuliert: Bourdieu sieht nicht
nur den Roman als eine Analyse der sozialen Welt, sondern dessen Inter-
pretation durch den Literaturwissenschaftler ist es auch.
Will man diesen Ansatz auf seinen analytischen Wert für die mittel-
alterliche Literatur hin überprüfen, muss man sich immer vergegenwärtigen,
dass Bourdieu sein Modell anhand der französischen Literatur des 19.
Jahrhunderts entwickelt hat und er erst für diese Epoche, in der die Salons
der Pariser Gesellschaft ein eigenes Gewicht innerhalb der politischen Öf-
fentlichkeit entfalten, die Ausdifferenzierung des literarischen Feldes ansetzt.

37 Bourdieu, Regeln (Anm. 2), S. 66.


38 Ebd., S. 67.
39 Ebd.
40 Jurt, Feld (Anm. 4), S. 101. Im Falle des Romanhelden Frédéric aus der Education
sentimentale bedeutet dies, dass er Realität als Illusion erfährt. An ihm zeigt sich,
dass der Eintritt in das »eine oder andere Spiel, das die soziale Welt unserer
Investition, unserer Besetzung, anbietet, nicht immer selbstverständlich ist. Frédé-
ric – wie alle schwierigen Adoleszenzen – stellt einen hervorragenden Analysator
unserer tiefstgehenden Beziehung zur sozialen Welt dar. Mit der Objektivierung
der romanesken Illusion und vor allem des Verhältnisses zur sogenannten realen
Welt, die sie voraussetzt, wird daran erinnert, daß die Realität, an der wir alle
Fiktionen messen, lediglich der anerkannte Referent einer (nahezu) universell
geteilten Illusion ist.« (Bourdieu, Regeln (Anm. 2), S. 69).
41 Jurt, Feld (Anm. 4), S. 140.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 223

Da Bourdieu sich nur am Rande zur Stellung der Literatur in den vor-
modernen Epochen äußert,42 kann sein Ansatz nicht unbesehen auf die
mittelalterliche Literatur übertragen werden. Allerdings gibt es zwischen
Bourdieu und der aktuellen mediävistischen Forschungsdiskussion wichtige
Konvergenzen. Um dies transparent zu machen, konfrontiere ich zunächst in
einem ersten Schritt seinen Ansatz mit einigen zentralen Forschungsposi-
tionen innerhalb der Altgermanistik. In einem zweiten Schritt soll dann
versucht werden, diesen Ansatz mittels einer exemplarischen Analyse einiger
Schlüsselpartien aus den Hartmannschen Artusromanen texthermeneutisch
fruchtbar zu machen.
Mit gutem Grund könnte man behaupten, dass Bourdieu nur das theo-
retisch ausformuliert hat, was spätestens seit der sozialgeschichtlichen
Wende Gegenstand und Ergebnis der altgermanistischen Forschung war. So
hat gerade die Diskussion um die sogenannte Ministerialentheorie gezeigt,
wie eng Literatur und Macht miteinander verbunden sind, ganz im Sinne
Bourdieus könnte man sogar von der fehlenden Ausdifferenzierung eines
eigenen literarischen Feldes, von dem der Macht, sprechen. Ein um 1200
entstandener Text – lehrt die ›Repräsentationstheorie‹ – ist »nicht Ausdruck
der Weltsicht eines Autors, sondern Zeugnis des Repräsentationswillens des
Auftraggebers und der entsprechenden Hofgemeinschaft«, in ihm doku-
mentieren sich »Verständigungsprozesse des höfisch lebenden Adels«.43 In
einer solchen Perspektive ist Literatur eine Funktion von Macht, die – hier
verknüpft sie sich mit anderen Zeichen politischer Repräsentation – vorran-
gig als mündliche Inszenierung in den »geselligen Momenten des Fest-
geschehens« aufgeführt wird.44 So griffig diese These auch ist, würde man
Bourdieus Theorie darauf anwenden, dann dürfte es streng genommen die
höfische Literatur des 12. Jahrhunderts gar nicht geben, denn reflexive
Literatur wäre ein Kriterium für die Ausdifferenzierung der Felder. Wenn
man zudem von einer nicht widerspruchsfreien Gestaltung der Protagonisten
des höfischen Romans ausgeht, dann käme man über die Bourdieusche
Homologie der Felder sehr schnell von der altgermanistischen Kontroverse
über die Identität und Nicht-Identität der Figuren auf die Frage nach der
Identität von Literatur und Machtinteressen. Diese Kontroverse, die letztlich
in jenen bekannten Dichotomien Subjektivismus vs. Objektivismus, Indivi-
duum vs. Gesellschaft45 mündet, kann hier nicht grundsätzlich diskutiert
werden, ich will nur anhand eines pointierten Gegenentwurfs zur Repräsenta-

42 Das Mittelalter behandelt Bourdieu nicht, allerdings sieht er Ansätze für eine
Ausdifferenzierung der Felder bereits in der Renaissance. Vgl. Jurt, Feld (Anm. 4),
S. 130, Anm. 1.
43 Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr
historischer Erkenntniswert, hg. v. G. Hahn/H. Ragotzky, Stuttgart 1992, S. X.
44 Ebd. S. IX. Die Mündlichkeitstheorie stützt sich wechselweise mit der Repräsenta-
tionsthese: Nur die große Öffentlichkeit sichert ein Forum für die Austragung einer
Debatte über adlige Normen. Auch aus diesem Grund kommt dem Mainzer
Hoffest von 1184 in diesen Ansätzen ein solch entscheidender Belegcharakter zu.
45 Vgl. oben S. 218.
224 Gerhard Wolf

tionstheorie zeigen, wie sehr die jeweiligen Thesen vom Geschichts- und
Menschenbild des Interpreten, der ja nicht auf eine außerhalb seiner selbst
stehende Faktizität zurückgreifen kann, abhängen. So ist für Walter Haug
große Literatur »allemal ein Erzählen gegen die Versuchung einer in sich
geschlossenen Identität«; sie nimmt auch nicht einfach »am Prozeß der
Rationalisierung und Disziplinierung teil […]. Verweigerung aber heißt Pro-
test gegen eine dichotome Auflösung der Widersprüche des Lebens, Protest
gegen eine Begründung der menschlichen Autonomie in einer in sich ge-
schlossenen Identität, zu der es dann aber in der rückhaltlosen kulturtheo-
retischen Selbstsetzung und mit der entsprechenden Geschichtsfälschung
doch gekommen ist«.46 Angesichts solcher wissenschaftstheoretischer Ge-
gensätze empfiehlt es sich, den wissenschaftlichen Habitus, der sich in
solchen Ansätzen verbirgt, in die Suche nach der ›Wahrheit‹ miteinzubezie-
hen, und dies würde eine Antwort darauf geben, warum ausgerechnet heute
der Chrétiensche Roman als ein Medium gesehen wird, in dem der »Zusam-
menbruch des Rationalisierungs- und Zivilisierungsprozesses zum Bewusst-
sein kommt«.47
Das ungeklärte Verhältnis zwischen Subjekten und Objekten ist im übrigen
auch für ein weiteres prominentes Forschungsparadigma der jüngeren Medi-
ävistik, der histoire des mentalités ein theoretisches Dilemma geblieben. Das
Mentalitätskonzept berührt sich mit dem des Habitus dort,48 wo eine (kollek-
tive) Disposition erklärt werden soll, mit der Menschen auf ihre Umwelt
gestaltend reagieren. Bourdieu hat es aber immer als ein prinzipielles Manko
der Mentalitätsgeschichte gesehen, dass sie angesichts ihrer Fixierung auf die
Wirkung der longue durée geschichtlichen Wandel nicht erklären kann und
so ein ahistorisches Modell (›archetypische Denkmuster‹ und ›Verhaltensre-
geln‹) entwirft. Sein Habitus-Feld-Modell ist hier wesentlich flexibler, weil es
aufgrund der konsequenten Relationierung zwischen Habitus und Feld ein
Modell permanenter Dynamik ist. Auch entgeht er als relational denkender
Soziologe der Gefahr, in den Mentalitäten nach einer historischen Wahrheit
zu suchen. Bourdieu bringt die »leibhaftigen Akteure« wieder in die Analyse
ein, weil er weiß, dass die Institutionen Akteure benötigen, »die sie in
Funktion halten, und zwar Akteure mit jeweils passenden Dispositionen, mit
ökonomischer und psychischer Besetzung der jeweiligen Spiele, mit Glauben
an deren Wichtigkeit (illusio).«49 Andererseits kommt Bourdieu mit seinem

46 Walter Haug, »Kulturgeschichte und Literaturgeschichte. Einige grundsätzliche


Überlegungen aus mediävsitischer Sicht,« in: Kultureller Austausch und Literatur-
geschichte im Mittelalter, hg. v. I. Kasten u. a., Sigmaringen 1998 (Beihefte zur
Francia 43), S. 23–33, hier S. 33.
47 Ebd., S. 30.
48 Bourdieu hat von der älteren Mentalitätsgeschichte der Annales mit ihrem Blick
auf die kollektiven Wertmuster, die zeitgenössischen Vorstellungen, die sozialen
Praktiken, die outillage mental (Lucien Fèbvre) und die elementaren Lebens-
situationen, wichtige Anstöße erfahren, und umgekehrt berufen sich auch die
heutigen Mentalitätsgeschichtler auf ihn. Insofern verwundert es um so mehr, dass
die altgermanistische Mentalitätsforschung Bourdieu nicht rezipiert hat.
49 Gerhard Fröhlich, Kapital, Habitus (Anm. 28), S. 33.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 225

Habitus-Konzept auch der Überzeugung der Mentalitätshistoriker entgegen,


dass die Akteure nicht voraussetzungslos agieren, sondern auf den »von ihren
Vorgängern produzierten Gravitations- und Kampffeldern agieren und ihre
Geschichte und Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes stets mit sich
herumtragen – in Form einverleibter Dispositionen, Bewegungen, Haltungen
ihrer Körper, die Hinweise auf soziale Positionen und Distanzen […] ge-
ben.«50 Im Gegensatz zu den Mentalitätshistorikern und ihrer Vorstellung
von der »longue durée« – die ebenfalls keine rechte Erklärung historischen
Wandels bietet51 – kann Bourdieu mit der Verlagerung eines mobilen Ele-
ments auf die Akteure diesen Aspekt integrieren und so quasi die Mentalitäts-
geschichte historisieren.52
Der entscheidende Impuls für eine Bourdieu-Rezeption könnte von einer
künftigen stärkeren kulturwissenschaftlichen Orientierung in der Mediävistik
ausgehen. Das ›neue‹ Paradigma setzt bei einer als desaströs empfundenen
Ausdifferenzierung der geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen an und
schreibt jeder Kultur ihre eigene Poetik (cultural poetics) zu, nach der sich
die einzelnen ›Felder‹ der Kultur organisieren bzw. diese erst generieren. Da
jede Kultur ein gemeinsames Zeichensystem darstellt, das für alle ihre Felder
gleich ist, entfällt für die Rekonstruktion dieses Zeichensystems auf dem
Feld der Literatur der Unterschied zwischen ›fiktiven‹ und ›realen‹ Texten,
zwischen Elite- und Volkskultur: Jeder Text ist – ungeachtet seines Status im
jeweiligen Subsystem – geeignet, Aufschlüsse über die beobachtete Kultur zu
geben, die Strategien der Beglaubigung von Geschehnissen in einem höfi-
schen Roman oder einer mittelalterlichen Chronik mögen verschieden sein,
aber sie rekurrieren beide auf dies gemeinsame Kultursetting für Wahrheit
und Lüge. Mit Bourdieu gesprochen: Die Regeln der Kunst sind nicht zu
beschreiben, ohne die Relationen zwischen den intellektuellen, literarischen,
ökonomischen Feldern und dem der Macht in Augenschein zu nehmen. Dies
scheint jedoch im Fach weitgehend tabu zu sein. Wo immer die Diskussion
solche Fragen streift, werden bildungspolitische oder forschungsstrategische
Vorbehalte erhoben,53 befürchtet man eine Einebnung der Individualität des

50 Ebd., S. 34.
51 In gewisser Weise eifern die Mentalitätshistoriker den traditionellen Historikern
nach, die sich immer als Politikberater verstanden haben. Auch bieten die weitge-
spannten Überblicke eines Philippe Ariès oder Jacques Le Goff, mit ihrer trotz des
kulturgeschichtlichen Anspruchs großen Affinität zur Geistes- und Sozialge-
schichte, vielfältigere Anschlussmöglichkeiten als die spröden Überlegungen
Bourdieus.
52 Die relativ eingeschränkte Rezeption Bourdieus in Deutschland verhält sich umge-
kehrt proportional zur allgemeinen Berufung auf Foucault, und auch dies über-
rascht, da es zahlreiche Berührungspunkte zwischen beiden Autoren gibt, beide
sich einer relationalen Sicht bedienen. Prima vista ist der Reiz der Foucaultschen
Theorie für ein spezifisch deutsches Publikum deswegen höher zu veranschlagen,
weil die Ontologisierung der Macht einem deutschen Habitus entspricht, wohin-
gegen die Verantwortlichkeiten in Bourdieus Ansatz zum Teil bei den Akteuren
verbleiben.
53 Vgl. Jan-Dirk Müller, »Mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht«, Didaktik
Deutsch 1, 1996, S. 53–62.
226 Gerhard Wolf

Werkes54 (die auch immer die Individualität des Interpreten treffen würde)
und seine Reduzierung auf ein relativ bedeutungsloses Zeichen in einem von
anderen Zeichen überschwemmenden Meer an Kulturgütern. Damit wäre
dann auch das Kriterium der Autonomie des (literarischen) Kunstwerks bzw.
seines gegenüber anderen kulturellen oder sozialen Bedingungen höheren
Grades an Selbstreflexivität gefährdet. Die Auflösung der Hermeneutik in
eine interdisziplinäre Beliebigkeit der Fragestellungen, gar die Verabschie-
dung literaturwissenschaftlicher Themen zugunsten einer sich jeder Nach-
prüfbarkeit entziehenden Anthropologie, wird hier ebenso perhorresziert wie
die Absage an geschichtliche Kohärenz. Eine solche Dekonstruktion trifft
jenen Teil der Mediävistik, der die Legitimität des Fachs noch immer in der
Suche nach den geschichtlichen Konstanten und sein Ziel in der Konstruk-
tion literaturgeschichtlicher Zusammenhänge sieht.55
Einer solchen Haltung hat Gerhart von Graevenitz in der jüngsten De-
batte56 um das Verhältnis von Kultur- und Literaturwissenschaft den Cha-
rakter eines nie zu Ende geträumten Traums nach einem wissenschaftlichen
Monismus bescheinigt,57 der auch diametral Bourdieus Plädoyer für einen
methodologischen Polytheismus widerspricht. Damit steht nicht etwa jene
von Walter Haug befürchtete postmoderne methodologische Unverbindlich-
keit ins Haus, sondern die Forderung, dass »die Palette der angewendeten
Methoden dem behandelten Problem adäquat sein muß und […] diese
Methoden im Prozeß der Anwendung selbst, im Zuge mit ihrer Anwendung
zur Lösung einer bestimmten Frage, ständig reflektiert werden müssen.«58
Bourdieu will keineswegs auf Objektivität verzichten,59 sondern der Stand-
punkt der Relativität bedeutet für ihn »das Privileg des erkennenden Subjekts
in Frage zu stellen, das als ein rein noetisches von der Objektivierungsarbeit
willkürlich ausgenommen bleibt. […].«60 Für Bourdieu ist dies der Mittel-

54 Siehe dazu die Debatte zwischen Walter Haug und Gerhart von Graevenitz. (Anm.
9).
55 Zur Konstanz des Dichterischen vgl. Haug, Literaturwissenschaft (Anm. 9),
S. 86 f.
56 Bei der Debatte zwischen Haug und von Graevenitz (Anm. 9) drängt sich mir die
Frage auf, ob es tatsächlich um die Frage Literaturwissenschaft als Kulturwissen-
schaft geht. Denn letztlich will Haug gar nicht bestreiten, dass die Altgermanistik
schon immer kulturwissenschaftlich gearbeitet hat und im Grunde führt er hier
denn auch eher die Debatte um die Postmoderne und die cultural poetics weiter.
Was Haug den amerikanischen Ethnologen vorhält, ist deren impliziter Anschlag
auf das Konzept einer Individualität, die den Sinn von Handlungen nicht dem
Subjekt, sondern jenen unbewussten Beziehungssystemen, in denen das Subjekt
steht, zuschreibt. Dies kann für den Konstrukteur einer geschichtlichen Entwick-
lung von der Kollektivität zur Individualität nur eine Provokation sein. Haug
verteidigt also nicht die Ästhetik vor dem Zugriff einer Mentalitätsgeschichte oder
der kulturwissenschaftlichen Empirie, sondern seinen Mythos der Individualität.
57 Vgl. von Graevenitz, Erwiderung (Anm. 9), S. 103.
58 Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 54.
59 Bourdieu sieht die Konsequenz eines solchen Verzichts in einem hemmungslosen
Narzissmus. Vgl. o. S. 218 und Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11),
S. 66
60 Ebd., S. 248.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 227

weg zwischen der Skylla des klassischen Objektivitätspostulats und der


Charybdis eines postmodernen Relativismus. Wenn Bourdieu in dieser Weise
jedem Erkenntnisfortschritt der wissenschaftlichen ›Subjekte‹ einen Fort-
schritt in der Erkenntnis des wissenschaftlichen Objekts zuschreibt, dann ist
dies in einer aufklärerischen Tradition der Versuch, mit einer Analyse der
(sozialen) Determinanten der wissenschaftlichen Arbeit dem wissenschaftli-
chen ›Subjekt‹ einen erweiterten Gebrauch von Freiheit zu verschaffen, wenn
es sich dieser Analyse unterzieht.61 Genau dies ist der auf die Literaturwis-
senschaft anwendbare Kern von Bourdieus reflexiver Anthropologie, mit der
er sich entscheidend von der ethnologischen Methode à la Geertz absetzt,
und die erhebliche Konsequenzen hätte. Ich nenne nur drei:
1. Die von Bourdieu vorgeschlagene wissenschaftliche Reflexivität hätte
zur Folge, dass die immer geforderte, aber selten geleistete Verortung des
eigenen Ansatzes in der methodologischen Tradition zum Usus würde.62
Schon allein damit würde der methodologische Monotheismus aufgebrochen
und Wissenschaftlichkeit nicht länger mit Rigidität verwechselt werden.63
Dies wäre kein Freibrief für Beliebigkeit im Sinne eines falsch verstandenen
»anything goes«, die Bewertung des jeweiligen gewählten methodischen
Ansatzes wäre vielmehr abhängig davon, welchen Beitrag er zur Erkenntnis
von Erkenntnisprozessen leistet und wie er sich auf den Erkenntnisfortschritt
innerhalb des intellektuellen Feldes auswirkt.
2. Mit einer institutionalisierten Methodendiskussion würde sich auch das
Erkenntnisinteresse ändern. Der Streit ginge nicht mehr um die Rekonstruk-
tion bzw. Konstruktion einer wahren gesellschaftlichen Vergangenheit, die
durch Texte ans Licht gebracht würden, sondern darüber, wie und warum
man so versteht, wie man versteht. Dazu gehörte dann auch eine Ausein-
andersetzung mit dem Konstruktivismus, der nicht klären kann, wer die
Kategorien konstruiert, nach denen das Ich seine Welt konstruiert. Jede
Analyse würde demnach eine hermeneutische Wirkung auf sich selbst er-
zielen, und zwar in der Weise, dass eine Reflexion über die Position einsetzt,
die der Wissenschaftler im »Mikrokosmos des akademischen Feldes innehat
[…] und darüber hinaus im Feld der Macht.«64 Bislang wird dies nur im
Hinblick auf das akademische Feld geleistet, aber auch dann fehlt meistens
das selbstreflektive Moment, das Bourdieu als Reflexion über das »kollektive
wissenschaftliche Unbewußte«, die »ungedachten Denkkategorien«, »die das
Denkbare, wie das Gedachte vorab bestimmen«65, versteht. Das Subjekt der
Reflexivität muss also das wissenschaftliche Feld selbst sein, wobei aber
nicht das »individuelle Unbewußte des Wissenschaftlers, sondern das wissen-
schaftstheoretische Unbewußte seiner Disziplin […] zutage gefördert wer-
den«66 muss. Bourdieu ist sich völlig im Klaren, dass dies nicht von dem

61 Vgl. ebd., S. 249.


62 Vgl. ebd., S. 260.
63 Vgl. ebd., S. 261.
64 Ebd., S. 67.
65 Ebd., S. 68.
66 Ebd., S. 70.
228 Gerhard Wolf

einzelnen Wissenschaftler zu leisten ist, sondern dieses Ziel muss ange-


fangen von der Textinterpretation bis hin zu den akademischen Veranstaltun-
gen und zur Ausbildung Teil des Feldes selbst werden. Darin liegt der
politische Praxisbezug seiner reflexiven Anthropologie.67
3. Reflexivität der Wissenschaft würde schließlich auch bedeuten, die
Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft für die Gesellschaft zum
Gegenstand der Analyse zu machen. Die Kompassnadel von Bourdieus
wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse ist immer vom Relationalen zum
Realen gerichtet. Aus dieser Einstellung speist sich sein Glauben an die
Sinnhaftigkeit einer Diskussion um gültige Wahrheiten und an einen Fort-
schritt der Vernunft. Dass er letzteres aber nicht zu einem transzendentalen
Gedanken erhoben hat, sondern ihn in seiner relationalen Dimension belässt,
hat ihm das Lob eingetragen, einen »vernünftigen dritten Weg zwischen
Universalismus und Partikularismus, Rationalismus und Relativismus, Mo-
dernem und Postmodernem« gefunden zu haben.68 Die Aufgabe jeder Sozial-
und Geisteswissenschaft ist nach Bourdieu die Abwehr aller »Formen von
Mystifizierung und symbolischer Herrschaft«69 – wie für Norbert Elias sind
für ihn Wissenschaftler ›Mythenjäger‹. Ein solches Unterfangen ist de facto
politisch, denn jeder Versuch, »die Wahrnehmungsprinzipien zu verändern,
mit denen wir die soziale Welt […], die Gesellschaft und nicht zuletzt uns
selbst konstruieren«70 zielt immer auf eine rationale und humane Verände-
rung der Welt.
Unter diesen Prämissen wende ich mich nun der altgermanistischen For-
schung zum höfischen Roman zu und frage nach der Relevanz des Bourdieu-
schen Ansatzes. Zunächst ist festzuhalten, dass seine Beschreibung des
aktuellen wissenschaftlichen Diskurses auch auf die Altgermanistik zutrifft.
Wie in anderen Disziplinen stehen sich hier objektivistische und subjek-
tivistische Verfahren, harte und weiche Ansätze, interpretierende ›emics‹ und
erklärende ›etics‹ gegenüber. Die gewohnten Denkbahnen sind dabei so
eingeschliffen, dass Reflexionen über die Dispositionen der eigenen Wissen-
schaft einen separaten Methodendiskurs bilden, der jedoch kaum Auswirkun-
gen auf die Interpretationspraxis hat. Als relativ beliebiges Beispiel sei nur

67 Bourdieu war sich immer der Widerstände bewusst, die in den Geistes- und
Sozialwissenschaften gerade von denjenigen ausgehen, denen er ein reflexives
Verfahren zumutet. Dabei war es nicht die Vorstellung einer psychologischen
Selbstentblößung, die einem als latent narzisstisch eingestuften Typus ohnehin
weniger Probleme bereitet, als vielmehr die Aufgabe jenes »geheiligten Gefühls
[…] der uns allesamt so am Herzen liegenden Individualität« (Ebd., S. 73).
Bourdieu erkennt gerade in der Verabschiedung einer naiven Individualitätsvor-
stellung und der Erkenntnis der Abhängigkeit des eigenen Denkens und Handelns
von den umgebenden Bedingungen eine Chance der Befreiung von einen wissen-
schaftlichen Habitus, der in diesem Sinne als Korsett empfunden wird.
68 Ebd., S. 78, Anm. 84.
69 Ebd., S. 83.
70 Ebd., S. 92 f. Von dieser Position aus lassen sich Verbindungslinien zurück zu dem
Anspruch der gesellschaftlichen Relevanz von Forschung in den 60er Jahren
ziehen, und nicht zufällig bezeichnet mit larmoyantem Unterton die französische
linke Intelligenz Bourdieu »als den letzten, der uns noch geblieben ist«.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 229

die Arbeit von Eckart Conrad Lutz über die rhetorischen Strategien im Erec
erwähnt, dessen ›harter‹ Ansatz völlig der traditionellen Quellen-, Einfluss-
und Toposforschung verpflichtet ist.71 Lutz vermeidet aber auch jeden Ge-
danken an die Restriktionen eines solchen Ansatzes72 und dessen unbe-
weisbaren, letztlich subjektivistischem Verstehen geschuldeten Prämissen.73
Diese Isolierung der Methodologie zu einem eigenen Diskussionsfeld lässt –
überblickt man etwa die Forschung zu Hartmanns Erec in den letzten 15
Jahren74 – am Diktum von der ›Herrschaft der Kommentare‹ bzw. an der
Machttheorie Bourdieus zweifeln. Denn wo jeder Herrscher über sein eige-
nes Feld ist und die methodologische Diskussion (oder auch die Macht auf
dem gesamten Feld) wenig zu interessieren scheint, kann sich ein Feld auch
auflösen. Implizite Folge ist die Diffundierung des wissenschaftlichen Dis-
kurses, die Separierung der Interpreten (in ihrem jeweiligen wissenschaftli-
chen Biotop) und ein Verlust an öffentlicher Wirkung. Man könnte geradezu
meinen, die Altgermanistik sei auf dem von Ulrich Beck75 prognostizierten

71 Eckart Conrad Lutz, Verschwiegene Bilder – geordnete Texte. Mediävistische


Überlegungen, DVjs 70, 1996, S. 3–47. Lutz vergleicht die Beschreibungstech-
niken Rodulf Glabers, eines gelehrten Mönchs aus St. Germain d’Auxerre, und die
der Weltkarten des Lucidarius mit den rhetorischen Strategien des höfischen
Romans. Die Brücke zwischen den Gattungen ist ein »gemeinsame[s] Bemühen
um die Erkenntnis der Ordnung der Welt, ihre Abstraktion aus der Vielfalt der
Erscheinungen und Ereignisse und ihre bildhafte Konkretisierung als Voraus-
setzung geordneter Texte.« (ebd., S. 30) Lutz’ Hauptargument ist die Tradition der
›Ekphrasis‹, in welcher auch der höfische Roman stünde. So überzeugend dies bei
den Beschreibungen des von Enite gestifteten Messgewands auch sein mag, in
Bezug auf die Gesamtinterpretation gelangt Lutz zu Schlüssen, die dann in ihrer
Allgemeinheit nur schwer an den Text zurückzubinden sind: So sei es Hartmanns
Ziel gewesen, Liebe »tatsächlich als die entscheidende, weltbewegende Kraft
erkennbar« (ebd., S. 45) zu machen. Die von Artus ausgehende und zu ihm
zurückführende streng gebaute Bewährungsfahrt als Sinnbild des Lebens, ent-
spricht dem Welt- und Geschichtsmodell Rodulf Glabers nach Struktur und Funk-
tion. Beide sind Grundlage für das Nachdenken über die in der Vielfalt der
Erscheinungsformen des Lebens wirkenden Prinzipien, und beide eröffnen modell-
hafte Einsichten in die komplizierten Zusammenhänge des wirklichen Lebens.
72 Bourdieu hat heftige Kritik an der Quellenfixierung in den Wissenschaften geübt:
»Die Suche nach den Quellen, ohnehin nicht die beste hermeneutische Strategie,
wird zumindest bei Zeitgenossen, also Konkurrenten, offensichtlich weniger von
dem Wunsch nach dem Verstehen eines Beitrags geleistet als von dem, seine
Originalität (im informationstheoretischen Sinne) zu mindern oder zu zerstören,
um zugleich dem ›Entdecker‹ unbekannter Quellen zu erlauben, sich als derjenige,
dem man nichts vormachen kann, von den naiven Gemütern abzuheben, die sich
der Illusion von etwas gänzlich Neuem hingeben.« (Bourdieu, Regeln [Anm. 2],
S. 287, Anm. 6).
73 Außerhalb der Hartmann-Forschung werden die Prämissen einer solchen Methode
diskutiert von Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des
Nibelungenliedes, Tübingen 1998, bes. S. 12–16, 46ff.
74 Außer Betracht bleiben hier alle Einführungen. Die neueren Arbeiten sind biblio-
graphiert bei Hartmann von Aue. Mit einer Bibliographie 1976–1997, hg. v. P.
Hörner, Frankfurt a. M. 1998.
75 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt
a. M. 1986.
230 Gerhard Wolf

Weg der Auflösung der modernen Gesellschaften in eine Agglomeration frei


flottierender Individuen schon ein gutes Stück vorangekommen.
Konkrete Berührungspunkte zwischen Bourdieu und der Altgermanistik
bestehen dort, wo es um die Relevanz der non-verbalen bzw. nicht-cartesiani-
schen Kommunikationsebene in der mittelalterlichen Literatur geht. Für
Bourdieu sind in die Bewegung des Körpers auch die sozialen Werte einge-
gangen und die »elementaren Akte der Körperbewegung und zumal deren
sexuelle, biologisch vorgegebene Aspekte [funktionieren] wie grundlegende
›Metaphern‹, die ein umfassendes Verhältnis zur Welt – ›hochmütig‹ oder
›unterwürfig‹, ›streng‹ oder ›weich‹, ›ausgreifend‹ oder ›eng‹ – und darin
eine ganze Welt zu evozieren vermögen«.76 Diese Kommunikationsform in
allen ihren medialen Aspekten und literaturwissenschaftlichen Konsequenzen
abzuschreiten, ist das Ziel des grundlegenden Werkes Hören und Sehen.
Schrift und Bild von Horst Wenzel,77 der die Untersuchung der Körperkom-
munikation damit begründet, dass die volkssprachige Literatur sich weitge-
hend an jene den Körpern eingeschriebenen »Wahrnehmungs- und Darstel-
lungstraditionen« assimiliert.78 Für Wenzel bilden demnach die medialen
Bedingungen einer Gesellschaft die zentrale Voraussetzung, von der dann die
gesellschaftliche Funktion der Literatur abhängt. Indirekt bleibt Wenzel da-
mit doch der Repräsentationstheorie verpflichtet, und vielleicht ist dies der
Grund, warum er Bourdieu nur soweit rezipiert, als die »inkorporierte gesell-
schaftliche Ordnung, die zugleich Verordnung und Verortung im ontogeneti-
schen Sinne bedeutet, […] den Menschen vom unbeschriebenen Körper in
ein Medium der Memoria [verwandelt]. Deshalb kann der vorbildliche Re-
präsentant einer Gesellschaft, wenn ihm die gültigen Standards und Worte
erblich eingeschrieben sind, auch als Modell in einem Prozeß der Erziehung
fungieren, der sich durch die Partizipation und Mimesis auszeichnet.«79 Hier
liegt genau jene Dichotomie von Subjekt und Objekt zugrunde, die Bourdieu
überwinden will; im Streit zwischen Subjektivismus und Objektivismus hat
sich die germanistische ›Körperfraktion‹ also naheliegenderweise auf die
Seite des letzteren geschlagen. Die Kommunikation zwischen Feld und
Habitus verläuft bei Bourdieu jedoch reziprok, und sie ist vor allem nie

76 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils-


kraft, Frankfurt a. M. 1987, S. 740.
77 Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im
Mittelalter, München 1995. Über den Bereich der habitualisierten Begegnungen in
der höfischen Gesellschaft hatte vor ihm bereits Harald Haferland, Höfische
Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München
1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), gearbeitet.
Zum höfischen Körper vgl. Joachim Bumke, »Höfischer Körper – Höfische
Kultur«, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. J.
Heinzle, Frankfurt a. M./Leipzig, 1994, S. 67–102.
78 Wenzel, Hören (Anm. 77), S. 425.
79 Ebd., S. 169.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 231

abschließbar – und erst dadurch wird Wandel möglich. Wenzel80 hingegen


›unterwirft‹ den Körper der Diktatur der gesellschaftlichen Zeichen,81 er
konstatiert dort eine Dauerhaftigkeit des Einschreibeprozesses, wo Bourdieu
Ambivalenz und Dynamik annimmt. Der höfische Roman des Mittelalters
würde eher die Bourdieusche These stützen. Er ist Beleg dafür, dass selbst
dort, wo die Interaktion besonders rigide normiert ist, die Kommunikation
der Körper scheitern kann, weil auf das Funktionieren der Regeln kein
Verlass ist. Die Relevanz einer Analyse der Körperkommunikation soll damit
keineswegs bestritten werden, aber oft bleiben entsprechende Untersuchun-
gen phänomenologisch, da sie keine Angaben über die Funktion oder den
Sinn der Literatur machen und sich nur indirekt an andere Diskurse, die das
Feld des höfischen Romans bestimmen, anschließen lassen. Weil jedoch
dieses Anschlussbedürfnis immer latent vorhanden bleibt, kommt es dann
leicht zu vorschnellen Identifizierungen mit Ideologemen. So überrascht es
dann nicht, wenn etwa Elke Brüggen in ihrem Aufsatz über »Inszenierte
Körperlichkeit« im Parzival82 ihre mediale Analyse letztlich doch wieder an
das Programm einer höfischen Idealität zurückbindet.83
Aber trotz derartiger Berührungspunkte stehen sich methodologisch Kör-
pertheorie und traditionelle mediävistische Hermeneutik, mit ihrer Betonung
des Fiktionalitätsstatus und Reflexionsniveaus der höfischen Literatur, weit-
gehend fremd gegenüber. Sofern man sich überhaupt wahrnimmt, herrscht
deutliche Skepsis vor.84 Auch hier ermöglicht das Habitus-Konzept Bour-
dieus einen Brückenschlag, da es die Körpertheorie mit geistesgeschichtli-

80 Die von Wenzel herangezogene didaktische Literatur enthält ihrerseits soviel


Widersprüche und Differenzen, dass sie geradezu als Beleg für die Spannung von
Feld und Habitus gelten kann.
81 Wenzel greift schon in einer früheren Arbeit den Machtaspekt bei Bourdieu auf.
Vgl. Wenzel, Repräsentation (Anm. 6), S. 105–120, hier S. 109 f. In Anschluss an
ihn beschreibt er die Funktion des neu entstandenen höfischen Romans damit, dass
der Adel darin »seine außergewöhnliche gesellschaftliche Macht« zum Ausdruck
brachte, wenn er durch das neue literarische Medium, das »bislang keine objektive
oder kollektive Existenz besaß«, versuchte, einen common sense herzustellen. Man
kann mit Bourdieu daraus schließen, dass dies gegen konkurrierende (kirchliche
oder weltliche) Sinnstiftungsmonopole geschehen musste, der Adel mit dieser
symbolischen Strategie sich der Themen und Wörter bemächtigte, die noch nicht
eindeutig besetzt waren.
82 Elke Brüggen, »Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Bei-
spiel der Joflanze-Handlung in Wolframs Parzival«, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹
in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994, hg. v. J.-D. Müller,
Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 205–
221.
83 »Zu beachten bliebe allerdings, daß die Körperlichkeit höfischer Erscheinungen
und höfischen Verhaltens im literarischen Diskurs stets auf ein ästhetisch wie
ethisch höchst anspruchsvolles Programm höfischer Vorbildlichkeit bezogen bleibt
und daher in einen Verweiszusammenhang gestellt ist, der die Ostentation von
Status, Rang, Macht, Würde und Reichtum, die in den historischen Zeugnissen im
Vordergrund zu stehen scheint, transzendiert.« (ebd., S. 221).
84 Die Distanz Wenzels gegenüber der Fiktionalitätstheorie Haugs kommt schon darin
zum Ausdruck, dass dieser im Haupttext gerade einmal erwähnt wird.
232 Gerhard Wolf

chen Fragestellungen verbindet und sie so historisch dynamisiert. Die ei-


gentliche, wissenschaftsstrategisch begründete Sorge der traditionellen Lite-
raturwissenschaft besteht ja darin, dass mit dem kulturgeschichtlichen Para-
digmenwechsel – dazu zählt im weitesten Sinne auch die Körperkommunika-
tion – der Verlust des Sonderstatus der Literatur einhergehen könnte: Der
Literaturwissenschaft käme ihr Gegenstand abhanden und sie verlöre damit
ihre Aufgabe, der sie bislang ein gewisses öffentliches Ansehen verdankte,
die Konstruktion von Literaturgeschichte. Während die Beschäftigung mit
ästhetisch anspruchsvollen Werken nach dem ausgebildeten Literaturwissen-
schaftler verlange, scheinen sich Körper, Mythen, Rituale und vergleichbare
Kultur- oder Naturprodukte dem unmittelbaren Blick zu öffnen, sie wären
damit frei für beliebige poetische oder politische Schreibintentionen. Damit
bräche auch eine Professionalitätsschranke der Literaturwissenschaft zu-
sammen, die die Germanistik als Traditionsgepäck seit dem 19. Jahrhundert
mit sich trägt, als sie sich gegen den Absolutheitsanspruch der positivistisch
orientierten Naturwissenschaften behaupten musste. Hier jedoch bietet Bour-
dieu mit seiner Feld-Habitus-Theorie ebenfalls einen Lösungsweg an, wenn
er sich für die Nichthintergehbarkeit der Erfahrung des Beteiligten aus-
spricht, die genauso dem Autor einer vergangenen Epoche wie dem gegen-
wärtigen Wissenschaftler zu eigen ist. Auch wenn deren Vorstellung von Welt
letztlich eine Illusion sein mag, so ist sie doch Ergebnis der Inkorporation
sozialer Strukturen, die sich in diesem Prozess freilich verändert und ihrer-
seits auf die Strukturen zurückwirkt. Wenn die Körpertheorie diesen Vor-
schlag ernst nimmt, dann würde der protonarzisstische Blick auf den Körper
erweitert durch eine hermeneutische, reflexive und damit auch geschichtliche
Komponente. Vielleicht könnten damit auch auf der Seite der Körper-
phänomenologie offene Fragen nach den Kriterien für die Textauswahl
(warum sollte ausgerechnet der Minnesang keinen Beitrag zur Phänomeno-
logie des Hörens und Sehens leisten?) beantwortet und damit die Prinzipien
des eigenen Sehens offengelegt werden. Profitieren könnte ein solcher An-
satz auch von der Erkenntnis Wolfgang Isers, wonach die Fähigkeit zum
fiktionalen Denken und Schreiben zur menschlichen Grundausstattung ge-
hört, und deswegen das Fiktive eine Form ist, mit der der Mensch mit seiner
Umwelt kommuniziert. Kombiniert man den Iserschen mit dem Bourdieu-
schen Ansatz, dann könnte man das Fiktive in der Literatur als ein Medium
definieren, mit dem der Habitus mit seiner Umwelt kommuniziert und seine
ständigen Wandlungen erzeugt.85
Inwieweit lassen sich nun Bourdieus Theorien als textanalytisches Konzept
für die Untersuchung mittelalterlicher Literatur fruchtbar machen? Ich ver-
suche eine Antwort, indem ich exemplarisch einige offene Fragen aus der
Forschungsgeschichte des höfischen Romans damit in Beziehung setze. Für
Hartmanns Werke und ebenso für die Vorlage Chrétiens hat man ein Struk-
turmuster konstruiert, das in einem ersten Wegteil die Profilierung des

85 Vgl. Wolfgang Iser, Prospecting. From Reader Response to Literary Anthropology,


Baltimore/London 1989, S. 273 f.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 233

Helden vor der Gesellschaft enthält, nach der Krise seinen Wiederaufstieg
und neue Profilierung für die Gesellschaft mittels helfe-Aventiuren.86 Von
einem neutralen Ausgangspunkt führt der Weg des Helden zu einem ersten
(relativen) Höhepunkt mit dem Gewinn von êre, Land und Dame, nach einem
Absturz unterhalb des Ausgangsniveaus in der Krise erfolgt ein zweiter,
kontinuierlicher Aufstieg, der ihm das Verlorengegangene zurückbringt und
ihn zu einem zweiten absoluten Höhepunkt führt. Bekanntlich enthält dieses
idealtypische Konzept87 eine Reihe von Widersprüchen, von denen ich hier
nur einige herausgreife: Zugunsten der Stringenz eines solchen ethischen
Programms müssen Inkompatibilitäten, wie sie sich etwa aus dem Erbstreit
der beiden Grafentöchter im Iwein ergeben, mit erzähltechnischen Not-
wendigkeiten erklärt werden,88 die List, mit der Iwein seine Gattin wieder-
gewinnt, darf nicht unter moralischen Prämissen gesehen werden, sondern
wird einer Unterhaltungsintention zugerechnet.89 Auch sind die angeblichen
helfe-Aventiuren unter Umständen gar nicht aus erbermde, sondern aus
einem an der êre orientierten Kalkül (Erec: 2. Guivreiz-Kampf, Joie-de-la-
curt; Iwein: Burg zum Schlimmen Abenteuer) unternommen worden oder
lassen sich wie Iweins Eingreifen zugunsten des Löwen weder aus dem einen
noch dem anderen Motiv erklären. Die höchst irrationalen Kampfentschei-
dungen in diesen Aventiuren sprechen gegen einen rationalen Zugewinn im
Kampf für die Gesellschaft und gegen eine Abkehr vom Zwang der costume,
die den ersten Wegteil dominiert.
Ein Versuch, Bourdieus Soziologie auf den Artusroman anzuwenden, liegt
bereits vor. In ihrer Arbeit über archaische Momente des Ehrbegriffs in der
Moderne untersucht Ludgera Vogt,90 ob mittels der Bourdieuschen Theorie
des symbolischen Kapitals das Verhalten der Protagonisten zu erklären ist.91
Nach Vogt geht es im Iwein um die Funktionsweise des symbolischen

86 Zu Hartmanns Erec vgl. Hugo Kuhn, »Erec«, in: ders., Dichtung und Welt im
Mittelalter. Kleine Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1959, S. 133–150 und Kurt Ruh,
Höfische Epik des deutschen Mittelalters. I. Von den Anfängen bis zu Hartmann
von Aue, Berlin 21977 (Grundlagen der Germanistik 7), S. 141–163.
87 Zur Kritik am Doppelwegschema vgl. jetzt Elisabeth Schmid, »Weg mit dem
Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusfor-
schung«, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue
Ansätze, hg. v. F. Wolfzettel, unter Mitwirkung v. P. Ihring, Tübingen 1999, S. 69–
85.
88 Vgl. Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk
– Wirkung, München 1995, S. 215.
89 Vgl. ebd., S. 217.
90 Ludgera Vogt, »Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften. Eine sozio-
logische Analyse des ›Imaginären‹ am Beispiel zweier literarischer Texte«, in:
Ehre, hg. v. L. Vogt/A. Zingerle, Frankfurt a. M. 1994, S. 291–314.
91 Vgl. Fröhlich, Kapital (Anm. 3), S. 35. »Der Kapitalbegriff Bourdieus liegt teil-
weise quer zum Habitus- und Feld-Konzept, hat aber den Vorteil, daß er mit ihm
sowohl ›subjektive‹ bzw. körperliche (in Form des einverleibten Kulturkapitals),
vergegenständlichte wie institutionalisierte Formen (Dinge, Titel), als auch Bezie-
hungsnetze umfaßt, Handlungsressourcen der Akteure ebenso wie die ›Schwer-
kraft‹ der Strukturen, und so konsequent die traditionelle Subjektivismus-Objek-
tivismus-Dichotomie hinter sich läßt.« (ebd., S. 34.)
234 Gerhard Wolf

Kapitals der êre, im Verlauf der Handlung würde die ritterliche Ehre »vom
bloßen Kampfprodukt zu einer euphemisierenden Synthese von ritterlicher
und christlich-sozialer Tugend«92 transformiert. Das symbolische Kapital,
das, ähnlich dem ökonomischen, beständig arbeiten muss, ist im ersten
Wegteil moralfrei, nur auf Akkumulation ausgerichtet. Der hier von Iwein
erworbene Habitus »rücksichtslosen, moralfreien Ehrverhaltens«93 kollidiert
in der Krise mit den Feldern Herrschaft, Minne und Treue. Innerhalb des
zweiten Wegteils erfolgt eine »semantische Umstellung«, die ritterliche Ehr-
semantik ist jetzt durch »Sozialität und Dienstgedanken« geprägt. »Ehre als
symbolisches Kapital«, so resümiert Vogt, »unterliegt folgender Logik: sie ist
akkumulierbar und erfordert der Logik aller Kapitalien gemäß, Akkumula-
tion. Mit Ehre wird nutzenorientiert kalkuliert […].«94 Die Funktion der
dichotomen Struktur interpretiert sie aus einer im Iwein entworfenen Regel
zur Verschleierung der Nutzenkalküle. Während der Held im ersten Wegteil
seine Interessen auf maximale Ehrakkumulation noch ohne Rücksicht auf die
Gesellschaft – zu der dann wohl auch Laudine zu zählen wäre – verfolgt und
deswegen im Wahnsinn endet, verschleiert er im zweiten Wegteil diese
Kalküle mittels euphemisierender Mittel. Im Grunde sieht Vogt also Bour-
dieus Habitus-Konzept bloß als komplementäre soziologische Ergänzung zur
literaturwissenschaftlichen Deutung des Iwein, wie sie Kurt Ruh für die
Struktur, Helmut Fischer und Peter Czerwinski für den Inhalt vorgelegt
haben:95 Iweins Lernprozess auf seinem Doppelweg besteht demnach in der
Camouflage seiner egoistischen Interessen mittels karitativer Handlungen.
Iwein erscheint als ein Held, der in jeder Situation auf den größtmöglichen
eigenen Nutzen spekuliert. Kritisch wäre dagegen einzuwenden, dass ein
solcher utilitaristischer Ansatz jeder noch so zufälligen oder belanglosen
Handlung irgendeinen Nutzen zuschreibt, damit aber das Nutzenargument
seine distinktive Qualität verliert. Teilweise argumentiert Vogt auch gegen
den Text: So kämpft Iwein gegen die beiden Riesenritter nicht aus Mitleid
gegenüber den 300 gefangenen Edelfräulein oder um weiteren Ehrerwerb
willen, sondern weil er gar nicht anders kann. Auch die »karitative Seman-
tik[…]«96 fehlt in dieser Aventiure. Aus der ökonomischen Metaphorik des
Iwein-Gawan-Kampfes am Ende des Romans auf eine Abwehr »bürgerlich-
händlerischer Knausrigkeit« zu schließen, geht gleichfalls am Text vorbei,
denn der Autor ridikulisiert nicht die Ökonomie, sondern unterstreicht, dass
auf dem Feld des symbolischen Kapitals Ehre nur angehäuft werden kann,

92 Vogt, Ehre (Anm. 90), S. 298.


93 Ebd., S. 300.
94 Ebd. S. 303.
95 Hubertus Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns ›Iwein‹. Vorarbeiten zu
einer historischen Poetik des höfischen Epos, München 1983 (Forschungen zur
Geschichte der älteren deutschen Literatur 3); Peter Czerwinski, Der Glanz der
Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1989.
Von beiden Autoren werden alle Aktivitäten der Helden als die Durchsetzung
egoistischer Intentionen und dementsprechend alle sozialen Taten nur als Ver-
schleierung verstanden.
96 Vogt, Ehre (Anm. 90), S. 304.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 235

indem man sie ständig unter Beweis stellt – und dies geschieht gemäß der
Logik der Ökonomie, wenn die eigenen Investitionen immer größer sind als
die des Gegners.97 Indem Vogt das gesellschaftliche Ansehen als alleinige
Triebfeder für Iweins Handlungen versteht und sein Verhalten im zweiten
Wegteil als »Reaktion auf Veränderungen der sozialen Feldbedingungen«
interpretiert,98 reduziert sie die Bourdieusche Theorie auf einen voluntaristi-
schen Utilitarismus. Iweins ›Verschleierungsstrategie‹ ist demnach die freie
Wahlentscheidung eines Individuums. Demgegenüber schätzt jedoch Bour-
dieu die Sphäre des Nutzen und des Bewusstseins gerade geringer ein als die
eines Interesses (illusio oder libido),99 das weniger auf künftige Resultate
bedacht ist, als auf die unmittelbare Gegenwart. Wenn man Bourdieus These
von der Strukturhomologie von Text und außerliterarischem Kontext folgt,
dann wären auch ›spontane Reaktionen‹, die in einer utilitaristischen Sicht
keinesfalls ultima ratio sind, zu berücksichtigen.100 Ein solches Handeln ist
nicht von normativen Vorgaben abhängig, sondern vom jeweiligen Habitus,
den sich die Akteure erworben haben. Mit einer anderen Option der Theorie
Bourdieus hat sich Vogt nicht befasst. Geht man nämlich von einer Struk-
turhomologie zwischen Held und Autor aus, dann hätte Hartmann in seinen
Werken auch den Konkurrenzkampf beschrieben, der auf dem literarischen
Feld herrscht.101 Dementsprechend könnte man Hartmanns Neuakzentuie-
rungen des Stoffes geradezu als Abgrenzungsversuche gegen ein (schola-
stisch-normatives) Meinungsmonopol, welches eine Verbindung von Ehre
und Caritas anstrebt,102 verstehen.
Zentrales Gewicht in Vogts Argumentation hat die Aventiure der ›Burg
zum Schlimmen Abenteuer‹ (bei Chrétien: ›Le chastel de Pesme Avan-
ture‹)103 und darin insbesondere Iweins Verhalten gegenüber dem Burg-
herren. Nach seinem Sieg über die Riesenritter hat Iwein nicht nur das Recht,
sondern die Pflicht, die Tochter des Burgherren zu heiraten. Er lehnt dies
jedoch ab und verlangt stattdessen die Freilassung der 300 adligen Frauen
aus dem Arbeitshaus. Vogt sieht darin eine »den Erfordernissen der Ehröko-

97 Es handelt sich demnach um keine Frage der Verschwendung, wie Vogt meint
(ebd. S. 303), sondern sehr wohl um ein rationales Kalkül. Dieser Akkumula-
tionsmechanismus zeigt sich am besten bei Erecs Kampf gegen das Heer des
Guivreiz.
98 Andreas Dörner und Ludgera Vogt, »Kultursoziologie, Bourdieu – Mentalitätsge-
schichte – Zivilisationstheorie«, in: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, hg.
v. K.-M. Bogdal, Opladen 1990, S. 131–153, hier S. 148, Anm. 5.
99 Vgl. Bourdieu/Wacquant, Anthropologie (Anm. 11), S. 48.
100 Zu einem solchen Spontanhandeln, das sich einer rationalen Logik entzieht, zähle
ich im Erec das Verhalten des Protagonisten bei der unüberlegten Heraus-
forderung des Guivreiz und seine Wahl des ›richtigen‹ Weges vor Brandigan. Vgl.
u. Anm. 122.
101 Vgl. Dörner/Vogt u. a., Kultursoziologie (Anm. 98), S. 145.
102 Auf diese analogia entis hat bereits Hugo Kuhn (Erec, Anm. 86, S. 150) hinge-
wiesen.
103 Chrestien de Troyes, Yvain, übersetzt u. eingeleitet v. Ilse Nolting-Hauff, Mün-
chen 1983 ( Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen
Ausgaben), vv. 5109.
236 Gerhard Wolf

nomie – Gabe gegen Gegengabe« entsprechende Problemlösungsstrategie,


die Hartmann im gesamten Roman seinem Publikum andienen will.104 Mit
Bourdieu, der für archaische Gesellschaften105 eine solche Pflicht von Gabe
und Gegengabe annimmt, sieht Vogt Iweins Forderung nach einer Übergabe
der 300 Frauen demnach nicht als Folge von erbermde, sondern erklärt sie
aus dem Kalkül, den Pflichten des ›Gütertausches‹ zu entgehen. Die un-
wirsche Reaktion des Burgherren – bei Chrétien heftiger noch als bei
Hartmann – legt allerdings eher ein partielles Scheitern dieser Strategie nahe.
Das aggressive Verhalten des Burgherren, dessen Freude über seine ›Befrei-
ung‹ von der costume begrenzt ist, ist nicht das einzige irritierende Elemente
dieser Aventiure, ebenso verblüfft die mit selbstverständlicher Logik vorge-
brachte Forderung der beiden Riesenritter, nur gegen einen einzigen Gegner
kämpfen zu wollen, und Iweins selbstverständliche Bereitschaft, den Löwen
wegzusperren (H 6713).106 Eine Erklärung für Iweins Handeln ergibt sich
aus der relationalen Beziehung zwischen dem Habitus des Helden und dem
Feld der costume bzw. der Ehre. Vergleicht man nämlich den Askalon-Kampf
mit dem gegen die beiden Riesenritter, dann fällt auf, dass Iwein im ersten
Wegteil noch völlig dem Gesetz der Aventiure, im Sinne einer Ehrakkumula-
tion, unterworfen ist. Konfrontiert mit dem Regelverstoß, der Flucht Aska-
lons, reagiert er in der Angst, den Regeln der Bewährung nicht gerecht zu
werden, spontan, aber außerhalb der Norm. Der Habitus Iweins ist auf dieser
Stufe also noch völlig von den Regeln des Feldes beherrscht. Am Ende des
zweiten Weges verfügt er aufgrund seiner Erfahrungen über eine andere
Handlungs- und Denkmatrix, die ihn befähigt, sich in Situationen, die nicht
durch die höfischen Normen geregelt sind, anders zu verhalten als bisher.
Während er damals sein Verhalten im Sinne des Ehreparadigmas optimierte,
kann er jetzt davon absehen. Die entscheidenden Stationen auf dem Weg zu
diesem neuen Habitus sind die wunderbare Rettung Iweins mit Hilfe von
Lunetes Zauberring, seine Heirat mit Laudine sowie die Geschichte seines
Wahnsinns und seiner Heilung. Im Bourdieuschen Sinne hätte also Iweins
Habitus das Wunderbare und das Irrationale in seine Wahrnehmungsmatrix
integriert. Dementsprechend reagiert er auf die Herausforderungen jetzt
anders als noch beim Askalon-Kampf: Nicht länger geht er davon aus, durch
regelkonformes Verhalten eine Situation kontrollieren zu können. Diese
Änderung findet ihren äußeren Ausdruck darin, dass Iwein auf seine Ge-

104 Vogt, Ehre (Anm. 90), S. 301. Ähnlich versucht Hans-Jürgen Bachorski (Krim-
hild, Anm. 6) die merkwürdige Tatsache zu erklären, dass Krimhild Hagen die
ungeschützte Stelle verrät. Aus der Pflicht der Gabe, in diesem Fall des geschenk-
ten Vertrauens, könne sie zwingend als Gegengabe den Schutz von Siegfrieds
Leben erwarten.
105 Diese These hat Bourdieu aufgrund seiner ethnologischen Feldforschungen bei
dem algerischen Stamm der Kabylen Ende der 50er Jahre formuliert. Vgl.
Fröhlich/Mörth, Lebensstile (Anm. 5), S. 8.
106 Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. v. Georg F. Benecke/Karl
Lachmann, neu bearb. v. Ludwig Wolff, 7. Ausg. Bd. 1: Text, Berlin 1968.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 237

fangensetzung in der Burg – sie korrespondiert mit dem Eingesperrtsein


zwischen den Fallgittern in der Burg des Brunnenherrn – überraschender-
weise mit einem Lachen (H 6279) reagiert. Damit ist freilich keine generelle
Absage an zweckrationales Handeln verbunden. Denn selbst wenn Iwein die
Forderungen der beiden Riesenritter erfüllt, beugt er sich umgekehrt nicht
dem Heiratswunsch, sondern ändert selbst die Regeln der costume. Iweins
Verhalten ist also weder allein von deren Regeln diktiert, noch nur durch
seine Erfahrung präfiguriert, und diese Offenheit ermöglicht ihm, seinen
›Nutzen‹ weder in der Anpassung an die Regel noch im Widerstand zu
suchen, sondern in einer Art Ad-hoc-Strategie. Dies bestätigt auch der
Ausgang des Kampfes gegen die beiden Riesenritter,107 er tötet den einen,
verschont den anderen, der sich (Chr 5675–5693; H 6791–6794) nach seiner
Niederlage sofort gemäß den höfischen Kampfregeln verhält und von Iwein
entsprechend behandelt wird. Dies lässt den Schluss zu, dass dort, wo die
costume, bzw. die Regel des Feldes verändert worden ist, sich dies auf den
Habitus aller Beteiligten auswirkt. Für Iweins neuen Habitus ist eine Ambiva-
lenzerfahrung entscheidend: Eine costume ist tendenziell in sich wider-
sprüchlich, versucht man sie rational zu bewältigen, verstößt man – wie beim
Totschlag des Burgherren – gegen sie. Deswegen kann man sich der costume
andererseits aber auch nicht entziehen, ein solches Verhalten führt – wie bei
dem Terminversäumnis – zum Wahnsinn. Wesentliche Aspekte dieser Wider-
sprüchlichkeit sind Kontingenz und die Unvorhersehbarkeit menschlichen
Handelns. Angesichts solcher Prämissen erledigen sich Kontrollwünsche von
selbst. Genau damit – und dies wird mit dem aus dem Bereich der Rationali-
tät stammenden Motiv der Terminnot signalisiert – wird der Held in die Lage
versetzt, eine aus dem außerhöfischen Bereich drohende Gefahr für die
Gesellschaft, wie sie der Riese Harpin symbolisiert, zu bewältigen. Im
Kampf mit den Riesenrittern kommt die Rettung vom Löwen, der aber
interessanterweise nicht einfach seinen tierischen Instinkten folgt, sondern
nach den Kriterien höfischer triuwe agiert (Chr 5595–5603; H 6746). Wie
schon bei der Brunnenaventiure kommt für Iwein auch auf der ›Burg zum
Schlimmen Abenteuer‹ die Rettung aus einem Bereich, auf den er keinerlei
direkte Einwirkung hat. Diese Erfahrung ermöglicht es Iwein, selbst die
Regeln einer noch so absurden costume zu befolgen, weil gerade in der
Affirmation an die gegebenen Bedingungen die Chance ihrer Überwindung
liegt. Wenn diesmal die Rettung von der Kreatur, dem Löwen108, ausgeht,

107 Die beiden Ritter sind bei Chrétien einerseits Teufelssöhne, da sie von Kobolt und
Menschenfrau abstammen (Chr 5273), andererseits aber auch Gerichtskämpfer (li
dui champion Chr 5575).
108 Hugh Sacker (»An Interpretation of Hartmanns ›Iwein‹«, GR 36, 1961, S. 5–26)
hat die Überlegung angestellt, dass Iwein mit dem Löwen »his animal nature«
(S. 24) akzeptiere. Abgesehen davon, dass Sacker sich hier auf eine moderne
Diskrepanz zwischen Natur und Kultur bezieht, kann ich keinen Beleg dafür
finden, dass Iwein diese kreatürliche Seite in sich unterdrückt hat.
238 Gerhard Wolf

kann dies als Hinweis auf eine Kraft verstanden werden109, die nicht rational
kalkulierbar ist. Wenn man die Ebene der costume mit dem Feld der Macht
identifiziert, dann wäre Iweins Agieren gegenüber den Riesenrittern ein
Beleg für deren implizite Begrenzung.
Ich überprüfe diese Beobachtungen anhand zweier Szenen aus Hartmanns
Erec und befasse mich zunächst mit dem 2. Guivreiz-Kampf und der schein-
bar ebenfalls gegen jede Vernunft gefällten Entscheidung Erecs, sich nicht
vor dem herangaloppierenden fremden Heer zu verbergen, sondern sich ihm
in den Weg zu stellen. Erecs Verhalten wäre aus einem Habitus zu erklären,
der immer noch geprägt ist vom verligen in Karnant und der Angst, wieder in
diese Situation zurückzufallen. Aufgrund dieser Erfahrung empfindet er eine
latente Herausforderungspflicht. Seine Ehre bedarf der ständigen Akkumula-
tion, und auf diesem Feld zählen weniger die Siege als jene selbstgewählten
Aventiuren,110 deren Wert in der offensichtlichen Unmöglichkeit ihrer Be-
wältigung liegt. Aber genau mit diesem Habitus, seiner Gestalt gewordenen
Geschichte, scheitert Erec, nur das Eingreifen Enites bewahrt ihn vor dem
Tod. Trotz der Niederlage hat dies jedoch keine Konsequenzen für Erecs
Habitus, Erec wagt vielmehr in der nächsten Station eine Aventiure, die von
vornherein als genauso aussichtslos erscheint (H 7952–7981). Ist daraus die
Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Feld der êre stärker ist als jede
Erfahrung, und Erec dem Prinzip des »mehr desselben« folgt, ist der höfi-
sche Held ein hilfloser »Gefangene seiner Ehre«?111 Demnach wäre die
angebliche Harmonie von Ich und Gesellschaft, die der Autor mit dem
Roman angeblich anstrebt, noch nicht einmal als Utopie in dem Text ent-
halten: Denn auf dem Feld der êre gibt es weder Mitleid noch Stillstand, und
Erec würde sich auch als neuer ›Friedensherrscher‹ weiterhin im ständigen
Kampf messen müssen.
Für eine Antwort ziehe ich den französischen Roman des Chrétien de
Troyes vergleichend heran. Das Verhältnis zwischen den beiden Texten ist
nicht eindeutig zu bestimmen. Chrétien kann für Hartmann Vorbild oder
Konkurrent gewesen sein, möglich ist auch, dass Hartmann sich mit seinem
Text von einer deutschen, näher bei Chrétien liegenden Fassung abgrenzt.112

109 Viel stärker als Hartmann betont Chrétien den Aspekt der kreatürlichen Kraft des
Löwen (Chr 5606–5609), die ihn befähigt, aus seinem Gefängnis auszubrechen.
Hartmann nimmt diesen Aspekt gegenüber der Vorlage zurück und zeichnet ein
höfisch-zivilisiertes Verhalten des Tieres.
110 Im Gegensatz dazu versucht er im ersten Guivreiz-Kampf dem Konflikt auszu-
weichen. Es ist ein Unterschied, ob man sich zur Wehr setzt, weil man selbst
herausgefordert wird, oder ob man diesen Kampf selbst sucht. Offenbar sind es
die selbstgesuchten Aventiuren, die im zweiten Wegteil allein noch für Erec
zählen, während er allen Formen der Bewährung, wie sie der erste Wegteil bereit
hielt, aus dem Weg geht. Der wahre Schutz vor dem verligen wäre demnach nur
das selbstgesuchte, unmögliche Abenteuer, nicht etwa die Annahme einer Her-
ausforderung.
111 So argumentiert Fischer, Ehre (Anm. 95), S. 112ff. im Hinblick auf Iweins
Verhalten.
112 Vgl. Cormeau/Störmer, Hartmann (Anm. 88), S. 19.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 239

Chrétien legt in der 2. Guivreiz-Aventiure das erzählerische Gewicht auf eine


rationale Verarbeitung der Situation: Als der von einer Verwundung noch
entscheidend geschwächte Erec vor sich das Hufgetrappel eines großen
Heeres vernimmt, überlegt er, ob es angesichts eines möglichen Konflikts
nicht besser wäre, sich zu verbergen. Solche Rationalität findet ihre Grenze
in der Macht des symbolischen Kapitals der Ehre, deren Gesetz die unend-
liche Akkumulation ist. Deswegen ist bereits rationales Abwägen ein Indiz
für unstandesgemäßes Denken (Chr 4948 f.),113 eine Überlegung, die der
Erzähler wenig später kritisch kommentiert (Chr 4968 f.). Nach der Nieder-
lage folgt kein Wort mehr über die Frage der Rationalität. Ganz anders bei
Hartmann: Schon das Heer des Guivreiz wird auf 30 Mann verkleinert und
damit die Irrationalität von Erecs Handeln. Die abwägenden Überlegungen
Erecs reduziert Hartmann auf ein einziges Argument – die Angst, gegenüber
der Gesellschaftsnorm zu versagen (H 6882).114 Auf die Niederlage folgt
dann massive Selbstkritik (H 7012–7023), die in der zentralen Schlussfolge-
rung mündet, das symbolische Kapital der êre eines ganzen Heeres für sich
allein beansprucht zu haben: dô ich alters eine / iuwer aller êren wolde hân
(H 7021 f.). Der Hartmannsche Erec übt mithin Kritik an dem Zwang zur
unendlichen Akkumulation der Ehre, und diese Kritik bezieht sich auf die
gesellschaftliche Dominanz des Ehreparadigmas und damit tendenziell auf
seinen gesamten bisherigen Aventiureweg. Während Chrétien das Verhalten
Erecs im 2. Guivreiz-Kampf nur lakonisch-ironisch quittiert, aber ansonsten
die Regeln des Feldes der Ehre nicht in Frage stellt, sieht Hartmann hier ein
Rationalitätsdefizit: Bei ihm ist Erec ›verrittert‹ und damit nach der Erfah-
rung des verligens am anderen Ende der Handlungsskala angekommen. Erecs
Erkenntnisleistung nach dem Kampf besteht dann darin, dass er sein jetziges
Verhalten als Form der superbia begreift.
In der Forschung wurde der 2. Guivreiz-Kampf als retardierendes Ereignis
vor der Schlussapotheose gesehen und als ein Hinweis des Autors auf die
noch nicht völlig überwundene Fixierung Erecs auf sein eigenes Profil:115
Der Held, der sich im zweiten Wegteil mittels helfe-Aventiuren für die
Gesellschaft profilieren soll, fällt nochmals in altes Verhalten zurück, er
kämpft nicht für andere, sondern für sich und verliert prompt. Aber Hart-
manns Version ist eher intertextueller Kommentar zu seiner Vorlage. Wäh-
rend Chrétien die Logik der êre beschreibt, die qua Akkumulationszwang
permanent zur superbia tendiert, vermeidet Hartmann diese Logik, indem er
Erecs Handeln moralisierend zu einem individuellen Fehlverhalten umdeutet.
Eben dies entlastet tendenziell das Feld der êre und verlegt die Zweckbe-
gründungen in das Individuum. Damit appliziert Hartmann das literarische
Spiel Chrétiens auf das Feld der Macht – ein Verfahren, welches nach
Bourdieu angesichts der Strukturhomologie der Felder naheliegt. Hartmann

113 Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide, übersetzt und hg. v. Albert
Gier, Stuttgart 1987.
114 Hartmann von Aue, Erec, hg. v. Albert Leitzmann, fortgeführt v. Ludwig Wolff,
6. Aufl. besorgt v. Christoph Cormeau/Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39).
115 Vgl. ebd., S. 188.
240 Gerhard Wolf

mildert die Sprengkraft einer rigiden êre-Vorstellung ab, da eine derartige


Verpflichtung zur permanenten Selbstbestätigung für die Gesellschaft ruinös
ist.
Welche Folgen hat der verlorene 2. Guivreiz-Kampf für den Habitus Erecs
in der anschließenden Joie-de-la-curt-Aventiure? Chrétien motiviert Erecs
Wunsch, diese Aventiure zu bestehen, ganz aus der Logik des Macht-Feldes:
Erecs Habitus hat sich durch die Niederlage nicht geändert, erneut ist er auf
Akkumulation von êre aus, immer noch muss er den Beweis erbringen, den
Zustand des verligens überwunden zu haben – die Regeln des Feldes haben
für ihn unveränderte Gültigkeit.116 In dieser Konsequenz, im Verlangen nach
der unerhörten Aufgabe, unterscheidet sich diese Aventiure nicht von der
vorangegangenen. Anders bei Hartmann: Ehre ist ihm nicht mehr Selbst-
zweck,117 sie ist in ihrer Verabsolutierung fragwürdig geworden. Erec wird
zwar den Kampf gegen den Herrn des Baumgartens um des Ehrgewinns
willen führen, aber analog zur Selbstkritik im 2. Guivreiz-Kampf muss
dieser, wegen der 80 getöteten Vorgänger gleichfalls irrational erscheinende
Kampf, rational begründet werden. Erec leistet dies im vorangehenden Ge-
spräch mit König Îvreins, der ihm den Kampf gegen den Herrn des Baum-
gartens ausreden will. In seiner Gegenargumentation bedient er sich einer
Vergleichsebene, die bezeichnenderweise auch in der Schlussaventiure des
Iwein auftaucht, wo der Kampf zwischen Iwein und Gawan mit einem
Handelsgeschäft verglichen wird.118 Auch gegenüber Îvreins argumentiert
Erec wie ein Kaufmann, der durch ein riskantes Geschäft maximalen Ertrag
zu erzielen hofft. Die Homologie zwischen symbolischem und ökonomi-
schem Kapital wird hier besonders eng geführt. Hartmanns Erec unterwirft
sich völlig den ökonomischen Anforderungen des Kosten-Nutzen-Kalküls,
das bei Chrétien im Vergleich mit den Anforderungen auf dem Feld der êre
keine Bedeutung hat. Hartmann setzt hier ein Argument ein, das so gar nicht
zu der angestrebten Monopolisierung der Ehre passt: Erec unterstellt seinem
unbekannten Gegner ein Denken in den Kategorien des abnehmenden Grenz-
nutzens. Da er bereits mit seinen 80 Siegen großes symbolisches Kapital
angehäuft habe, erscheint weiterer Ehrgewinn für ihn nicht so attraktiv (H
8565–8572). Nirgendwo wird die Inkompatibilität der von Hartmann ana-
logisierten Felder deutlicher: Während sich für den Kaufmann durch einen
einmaligen Verlust großes Kapital nicht wesentlich mindert, kann ein Ver-
sagen die Ehre des Ritters gänzlich zerstören.119 Umgekehrt aber ist in Erecs
Habitus das Wissen um die Fatalität eines Grenznutzendenkens enthalten, das

116 Auf der Ebene des Habitus ist der Vergleich zwischen dem Baumgarten und
Karnant schief. Mabonagrin verligt und ›verrittert‹ gleichzeitig, wenn er einer-
seits an die Minnedame gefesselt bleibt, andererseits sich ständig im Kampf
bewähren muss.
117 Vgl. dagegen Fischer, Ehre (Anm. 95), S. 125–128 u. pass.
118 S. o. S. 235.
119 Die abrupte Antwort des Königs Îvreins (H 8576ff.) auf diese Argumentation
lässt darauf schließen, dass sich Hartmann des Bruchs bewusst war.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 241

– wie Karnant beweist – zur Inflexibilität120 und zur Orthodoxie führt, also
latent darauf angelegt ist, die Dynamik des Feldes außer Kraft zu setzen. Dies
aber führt – wie bereits dargelegt – zum Stillstand in der Gesellschaft, und
deswegen zeigt Hartmann an der Figur Erecs, der am Ende des zweiten
Wegteils schon lange wieder im Besitz der Ehre ist, dass symbolisches
Kapital immer rasch verdirbt. Umgekehrt bestätigt Mabonagrins Verhalten
die Lehre des 2. Guivreiz-Kampfes, wonach der Habitus ein Hemmnis sein
kann, um auf die wechselnden Anforderungen des Feldes zu reagieren.121
Wenn Erec über Mabonagrin siegt, dann besiegt er eigentlich nicht allein sein
früheres Selbst, sondern es stehen zwei Habitus gegeneinander, die beide den
Regeln auf dem Feld der êre noch verpflichtet sind. Der entscheidende
Wandel vollzieht sich erst am Ende des Mabonagrin-Kampfes, als Erec die
Regeln der costume durchbricht und als erster seinen Namen nennt und damit
auch die Tötung des Gegners vermeidet. Wenn man die Akkumulation der
Ehre als obersten Wert ansetzt, dann hätte er auch hier auf die Unter-
werfungsgeste der ersten Namensnennung nicht verzichten dürfen. Im Aska-
lon-Kampf des Iwein mit seinem katastrophalen Ausgang wird dann diese
Thematik aufgegriffen und in ihren Konsequenzen weitergeführt. Hier sehe
ich denn auch den Sinn von Hartmanns Wortspiel zwischen dem rechten und
dem besseren Weg im Erec.122 Der falsche ist deswegen der bessere, weil er
die Aufgabe des ursprünglichen Plans beinhaltet, eine erneute Fixierung des
›Lebenswegs‹ wie in Karnant ausdrücklich dementiert und ein sich Auslie-
fern an nicht-kontrollierbare Situationen empfiehlt. Allerdings legt Hartmann
im Gegensatz zu Chrétien das Gewicht auf die Rationalität der Entschei-
dungen. Die war im 2. Guivreiz-Kampf nicht gegeben, aber sie wird es – wie
das Gespräch mit König Îvreins belegen soll – im Kampf gegen Mabonagrin
sein. Auf der Ebene des literarischen Spiels zeigt der Erec, wie verabsolu-
tierte êre (und minne) die Gesellschaft zerstört, und deswegen darf beides
nicht der Endzweck der höfischen Gesellschaft bleiben. Hartmann wendet
sich gegen die reine Hypostasierung der êre, da dies zu einer Fessel wird
(vgl. H 9584). Die Lösung, die er anbietet, belässt zwar dem Ehrverständnis,
als zentralem symbolischen Kapital auf dem Feld der Macht, sein Recht, aber
der Zwang der permanenten Akkumulation wird dekonstruiert. Wenn Erec
gegenüber Mabonagrin (wider die sîte, H 9370) zuerst seinen Namen nennt,
dann hat er die Spielregeln zumindest partiell verändert, und auch dies ist
eine Voraussetzung für die Wiederkehr der Joie.
Gegen Chrétien nimmt Hartmann seinen Protagonisten vor dem Verdacht
eines bloßen Reagierens auf die Anforderungen des Feldes in Schutz und
verleiht mit der Einführung der 80 Witwen (H 9799) seinen Handlungen
noch eine moralische Aura. Bei Hartmann strahlt die Niederlage Erecs im 2.

120 Wenn Hartmann dies tatsächlich zum Ausdruck bringen wollte, dann ist ihm dies
darstellerisch durch den Kampfausgang hervorragend geglückt: Der kleine Erec
besiegt den Großen, weil er flexibler ist.
121 Dieses Kontrollbedürfnis wird in extremer Form anhand der Freundin Mabona-
grins thematisiert.
122 die rehten strâze si vermiten: / die baz gebûwen si riten (H 7816 f.).
242 Gerhard Wolf

Guivreiz-Kampf in der Weise auf die folgende Aventiure aus, dass Erec nun
unter einem ›Rationalisierungszwang‹ steht. Das Scheitern der Konstruk-
tionen des Protagonisten verändert hier sichtbar die Vorwegannahmen, ver-
mittels derer er den Sinn der Welt konstruiert.123 Hartmann ›arbeitet‹ an der
mangelnden Rationalität Erecs und nimmt sie in einer bewältigten Form in
den Habitus des Protagonisten auf. Die entsprechenden Passagen124 wirken
eindeutig überdeterminiert, da die Überlegungen hinsichtlich eines rationalen
Handelns dem Handlungsverlauf gegenüber äußerlich bleiben. Während
Chrétien diese Thematik nur kommentierend streift, er innerhalb des literari-
schen Spiels bleibt, geht Hartmann quasi von Homologien zwischen dem
Feld der Literatur und dem der Macht aus. Erecs ›Entscheidungen‹ müssen
bei Hartmann einen Doppelcharakter tragen, den literarischen (d. h. der
Quelle) wie auch den politischen Regeln gerecht werden – und hier wäre eine
Verabsolutierung des Ehrbegriffs, der mit einem reinen Kampfautomatismus,
mit einer irrationalen Akkumulation des symbolischen Kapitals einhergeht,
gesellschaftszerstörend. Die Diskrepanz zwischen Chrétien und Hartmann
ließe sich demnach folgendermaßen beschreiben: Chrétien zeigt die Regeln
auf dem Feld der Macht in Form eines literarischen Spiels, er setzt Signale
(1000 Mann starkes Heer des Guivreiz), die die Parallele zur historischen
Wirklichkeit ausschließen. In der Spielrealität ist das Scheitern ebenfalls
integriert, aber es wird dort nicht zum Problem, weil es allein um die Logik –
oder eine Archäologie – der Ehre auf einem literarisch-ästhetischen Niveau
geht. Gegenüber einer solchen, auf das literarische Feld beschränkten Posi-
tion geht Hartmann einen Schritt weiter, und dies wäre nach Bourdieu seiner
anderen Position im literarischen Feld zuzuschreiben: Der Autor kann gegen-
über Chrétien oder dessen deutscher Übersetzung nur dann an ›symbo-
lischem Kapital‹ gewinnen, wenn er eine Anbindung des Stoffes an die
›Lebenswelt‹ seines Publikums leistet. Dies erreicht er durch die unmittel-
bare Adaptation des Stoffs an das Feld der Macht.
Bourdieu hat in seinen Arbeiten immer wieder den sozialen Charakter von
Kunst, Literatur und Wissenschaft betont, und deswegen spiegeln sich für ihn
die Kämpfe auf dem Feld der Macht auch in diesen Bereichen wider.125 Für
das Feld der Wissenschaft ist der Kampf um die Wahrheit maßgebend. Da
diese immer kontextgebunden ist, sollte es nicht die Aufgabe der Wissen-
schaft sein, nach letztgültigen Wahrheiten oder sicheren historischen Er-
kenntnissen zu suchen. Stattdessen sei es für Effizienz und Aktualitätsgehalt
von Forschung viel ertragreicher, die Wahrheit der Kämpfe, die in Vergan-
genheit und Gegenwart ausgetragen werden, herauszuarbeiten. Bourdieu
grenzt sich damit auf dem Feld der Literaturwissenschaft gleichermaßen ab
gegen die Rezeptionstheorie, bei der der Theoretiker stillschweigend »seine

123 Vgl. Bourdieu, Regeln (Anm. 2), S. 511.


124 Vgl. oben S. 238 f.
125 Pierre Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie
des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, S. 26–28. Zu den Formen der
Macht auf dem universitären Feld vgl. ders., Homo academicus, Frankfurt a. M.
1988, S. 132–158.
Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten 243

eigene, soziologisch nicht hinterfragte Erfahrung als gebildeter Leser zum


Ausgangspunkt nimmt«, und gegen die hermeneutische Tradition mit ihrer
»Einfühlungsseligkeit« und »narzißtischen Selbstgefälligkeit«.126 Demge-
genüber zielt er auf die Aneignung der gesamten Geschichte des jeweiligen
Produktionsfeldes (Produzenten, Konsumenten, Untersuchenden)127 für die
Interpretation. Mit Gadamer ist für ihn »alles solches Verstehen am Ende ein
Sichverstehen«.128 Unter diesem Blickwinkel erscheint das Leitparadigma
der Nachkriegsjahre für die Interpretation des höfischen Romans, die Dop-
pelwegstruktur, sehr stark der sozialgeschichtlichen Situation und der intel-
lektualistischen Bias dieser Zeit verhaftet. Mit dem Doppelweg wurde nicht
das Widerständige, sondern das Fertige ins Spiel gebracht, und die finale
Romanstruktur und das harmonische Ende lieferten einen für die damalige
akademische Situation adäquaten Optimismus. Eine solche Interpretation
entsprach der zeitgenössischen Hoffnung auf die Einbindung der Macht in
ein ethisches Bewusstsein, wobei man im fernen Spiegel des 12. Jahr-
hunderts mit der Minne die Instanz gefunden hatte, die die Gültigkeit der
Werte gewährleisten konnte. Die für den höfischen Roman als konstitutiv
betrachtete Balance zwischen Minne und Aventiure korrespondiert auffällig
mit der Freudschen Maxime, wonach das bürgerliche Individuum sein Le-
bensziel im »Lieben und Arbeiten« verwirklicht – eine Thematik, die für den
Wissenschaftler, dessen Lebensrhythmus die klare Trennung zwischen Arbeit
und Freizeit nicht kennt, eine besondere Relevanz hat. Nach Bourdieu ist es
kein Zufall, dass ein derartiger Habitus des Wissenschaftlers zurückgewirkt
hat auf die beobachteten Gegenstände.
Die Widersprüche innerhalb des Arturischen Doppelwegschemas Hart-
mannscher Provenienz lassen sich nicht auflösen, weil sie konstitutiv für das
literarische Feld und der auf ihm ausgetragenen Konkurrenzkämpfe sind.
Deswegen sollten sie wahrgenommen und nicht durch gezielte Sinnkonstruk-
tionen eingeebnet werden. Der Vergleich einiger Forschungsthesen zum
höfischen Roman hat gezeigt, dass es genau diese Widersprüche sind, an
denen die einheitsstiftenden Modelle ansetzen. Trotz aller methodischer und
inhaltlicher Unterschiede ist ihnen doch die Idealvorstellung eines wider-
spruchsfreien, kausallogisch gestalteten und sogar noch didaktisch auswert-
baren Textsinns gemeinsam. Demgegenüber wäre einer künftigen Konzentra-
tion auf die Widersprüche der Vorzug zu geben, weil damit nicht allein die
Wahrheit der mittelalterlichen ›Kämpfe‹129 erschlossen werden kann, son-
dern die Widersprüche in den wissenschaftlichen, sozialen und akademischen
Feldern der Gegenwart, auf die nach Bourdieu alle unsere Interpretationen
gerichtet sind, transparent werden. Aus einem solchen methodischen Ansatz
entstünde ein praxeologischer Nutzen einer Beschäftigung mit mittelalter-

126 Bourdieu, Regeln (Anm. 2), S. 473.


127 Ebd., S. 473 f.
128 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21962, S. 240.
129 Vgl. o. S. 238.
244 Gerhard Wolf

licher Literatur,130 die germanistische Mediävistik könnte einen Beitrag zu


der von Anthropologie wie Geschichtswissenschaft gleichermaßen gestellten
Frage leisten, warum wir etwas so sehen, wie wir es sehen.131

130 Über die Elemente der Kontingenz in den Texten könnten auch jene Facetten der
Werke besser erschlossen werden, in denen eine Gegenbewegung gegen Effizienz
und Logik verankert ist.
131 Vgl. Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der
Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 378.
Der Ritter und sein Pferd
Semantisierungsstrategien einer
Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter

Udo Friedrich (Greifswald)

Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft zielt traditionell darauf, Texte


aus übergeordneten – politischen, sozialen, mentalen – Kontexten zu er-
klären. Unter einer erweiterten semiotischen Perspektive kehrt sie das Ver-
hältnis von Text und Kontext um, indem sie versucht, jenseits der klassischen
Auffassung von Textualität allgemeinere kulturelle Zeichenarsenale zu grei-
fen: Sprachstrukturen, historische Semantiken, Diskurse, Habitus, mithin
symbolische Phänomene, die den Rahmen des literarischen Textes über-
schreiten.1 Diese symbolischen Ordnungen sind nicht gleichzusetzen mit
Kunst und Literatur, vielmehr artikulieren sie sich gleichermaßen in Dis-
kursen, Praktiken, Texten und Institutionen. Mit dem Begriff der sym-
bolischen Ordnung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Struk-
turwirkung und Sinnkonstruktion ineinandergreifen, so dass der Leitbegriff
als Brückenschlag zwischen Strukturalismus und Hermeneutik aufgefasst
werden kann: so wie Topoi strukturierend wirken, so Strukturen sinnstif-
tend.
Symbole, symbolische Formen und Symbolstrukturen sind längst kein
genuiner Gegenstand der Literaturwissenschaft mehr, vielmehr erweist sich
der ästhetische Symbolgebrauch nurmehr als ein besonderer Faktor in einem
ganzen Netz symbolischer Praktiken. Es sind die Humanwissenschaften
insgesamt, die neben und z. T. in Verbindung mit hermeneutischen, sozial-
historischen und strukturellen Ansätzen die Wirksamkeit symbolischer Ope-
rationen betonen.2 Symbolische Ordnungen konstituieren einen emphati-

1 Fokus einer semiotisch orientierten Kulturwissenschaft ist daher primär der Kontext.
Carsten Lenk, »Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur«, in:
Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, hg. v.
R. Glaser/M. Luserke, Opladen 1996, S. 116–128.
2 Sprache, Mythos und Lebenswelt werden als eigenständige Symbolsphären neben
dem rationalen Diskurs etabliert (Cassirer); die semiotische Funktion wird als
genuin symbolische entworfen (Ricœur); selbst die Soziologie schreibt den zweck-
rational handelnden Menschen eine kalkulierte Rivalität an symbolischen Praktiken
zu (Bourdieu), die kulturtheoretisch orientierte Psychoanalyse schaltet die Ebene
der ›Symbolischen Ordnung‹ als sinnstiftende Struktur zwischen das Reale und das
Imaginäre (Lacan). Und auch die verstehende Ethnologie widmet sich dem selbst-
gesponnenen Bedeutungsgewebe als spezifisch symbolischer Dimension gesell-
schaftlichen Handelns (Geertz).
246 Udo Friedrich

schen, indes notwendigen Sinnhorizont für Subjekte, Gruppen, Klassen und


größere Kollektive (Volk, Nation), ohne dass man ihnen ein fundamentum in
re zusprechen kann, sie erweisen sich vielmehr als Produkte (Konstrukte)
rivalisierender Sinnbedürfnisse. Die vielbeschworene Macht des Symboli-
schen – von religiösen, ökonomischen und politischen Symbolen bis hin zu
sozialen Statussymbolen – zeitigt eigenständige Effekte auf das Bewusstsein
und spielt eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung, Strukturierung und
Codierung von Wirklichkeit. So wenig die »Symbolwelt« mit dem klassi-
schen Geist oder Weltbild gleichzusetzen ist, so sollte sie nicht als sich selbst
genügende Größe betrachtet werden. Die symbolische Sphäre differenziert
sich in eine Vielzahl von sich überschneidenden Sinnkonstruktionen aus,
über die sich Macht, soziale Beziehungen und Ökonomie ausdrücken.3
Bilder, Topoi und Begriffe, Motivkomplexe, Wahrnehmungsformen und
Erzählstrukturen entfalten eine symbolische Energie, die die Wahrnehmung
von Wirklichkeit steuert, von daher können sie als symbolische Ordnungen
mit strukturierender Kraft begriffen werden. Für die höfische Kultur ist ein
ganzes Ensemble solcher symbolischen Komplexe beschrieben worden: u. a.
die Falkenjagd, die (Minne-)Dienstmetapher, die Begriffe der höfischen
Ethik (maze, zuht) und Ästhetik, der Doppelweg des aventiure-Ritters, die
Kreuzzugsidee. Sie alle bieten einem adeligen Publikum, wirft man einen
Blick auf die Chroniken, einen imaginären Selbstentwurf von Zivilisiertheit,
der weit über die Gegebenheiten einer feudalen Lebenswelt hinausweist.4
Daneben stehen indes heldenepische Symbolkomplexe wie die Figur des
überlegenen Heros, die Brautwerbung, das Ethos der Rivalität, das Struk-
turschema von Verrat und Rache, die weniger die Vorstufe zum höfisch-
zivilisierten Entwurf als sein notwendiges Komplement bilden.
Als solch eine Einschreibefläche symbolischer Sinnstiftung, die gleichfalls
die Spannung kultureller und ›natürlicher‹ Konzepte offenbart, lässt sich für
die anthropologische Selbstreflexion des Mittelalters das Verhältnis von
Mensch und Tier beschreiben. Auch dieses ist nicht nur Gegenstand lite-
rarischer Reflexion, vielmehr wirkt es strukturierend in die verschiedensten
Diskurse hinein. Theologische Vorstellungen vom Geschichtsverlauf (Sün-
denfall), an diesen orientierte Moral- und Erziehungsentwürfe, naturphiloso-
phische Körperkonzepte, Modelle politischer Herrschaftslegitimation bis hin
zu den mythischen Entwürfen einer feudalen Gewaltkultur: stets werden die
Spannungen eines binären Körperkonzepts (Leib-Seele) verhandelt, dem
letztlich der Antagonismus von Mensch und Tier zugrunde liegt. Je nach
sozialer Perspektive wird die Opposition von Mensch und Tier anders be-
wertet, stehen sich Strategien theologischer Distanzierung und feudaler Assi-
milierung als kontroverse Pole gegenüber. Wie aber der theologische Blick
immer schon durch das Phantasma der Überschreitung geprägt ist (der

3 Pierre Bourdieu, Roger Chartier und Roger Darnton, »Dialog über die Kultur-
geschichte«, Freibeuter 26, 1985, S. 22–37, 43.
4 Joachim Bumke, Die höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im Mittelalter, 2
Bde., München 1986.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 247

Sünder), so auch der feudale durch Nähe und Distanz gleichermaßen: z. B.


der ›zügelnde‹ Herrscher als zugleich stärkstes Tier. Ergänzt man die Kultur-
entwürfe der höfischen Epen um die zeitgenössischen kulturtheoretischen
Rahmenbedingungen, wie sie vornehmlich von einer Klerikerkultur entwor-
fen werden, so fügen sie sich in technologische, ethische und politische
Zivilisationsprogramme ein, die die problematische Nähe des Menschen zum
Tier zu bewältigen suchen. Die alternativen Programme bieten Antworten auf
die aus dem Sündenfall resultierenden Folgen (Mangel, Verwilderung) für die
conditio humana: erstens dem Mängelwesen Mensch durch Technik zur
Selbstbehauptung gegen eine wilde Natur zu verhelfen; zweitens den Mangel
als Schuld zu akzeptieren und durch ein asketisches Programm in eine Ethik
der Entsagung zu überführen; drittens den vertierten Menschen (den Sünder,
den dritten Stand, das Volk insgesamt) durch eine starke politische Gewalt zu
zügeln.5 Alle drei Entwürfe bestehen nebeneinander. Die Konkurrenz von
Modellen technischer Kompensation, asketischer Selbstbeschränkung und
feudaler Gewaltlegitimation ist zugleich ein Index für die Schwierigkeit,
rationale, ethische und politische Kulturkonzepte unter der Sündenfallprä-
misse zu harmonisieren.
Lässt sich die strukturierende Funktion des Mensch-Tier-Paradigmas in
zahlreichen Diskursen (Theologie, Politik, Ethik, Ethnographie), Praktiken
(Jagd, Fehde) und Zeichenarsenalen (Metaphorik, Namen, Heraldik, Waffen,
Physiognomik) nachweisen, so soll im vorliegenden Fall das zentrale (reale)
Kennzeichen des Rittertums, das Gefüge Ritter-Pferd, unter der Perspektive
der symbolischen Sinnstiftung betrachtet werden. Natürlich kann das Pferd
eine symbolische Funktion innerhalb einer Erzählung, d. h. textimmanent
annehmen. Darüber hinaus aber besitzt es einen strukturellen Symbolwert für
die Feudalkultur insgesamt. Stellt man die Belege zusammen und befragt sie
nach ihren impliziten kulturellen Semantisierungsstrategien, lassen sie sich
nach den skizzierten Kulturmustern ordnen. Im Horizont technologischer,
ethischer und politischer Kulturentwürfe erweist sich das Pferd als um-
kämpfte Einschreibefläche.

5 Zur Mängelwesenthese vgl. Elspeth Withney, Paradise Restored. The Mechanical


Arts from Antiquity through the Thirteenth Century, Philadelphia 1990. Zur Askese-
haltung vgl. Hartmut Kugler, »Das Streitgespräch zwischen ›Zivilisierten‹ und
›Wilden‹. Argumentationsweisen vor und nach der Entdeckung der neuen Welt«, in:
Formen und Formgeschichte des Streits – Der Literaturstreit, hg. v. F. J. Worstbrock/
H. Koopmann, Tübingen 1986, S. 63–72. Zur politischen Herrschaft vgl. Wolfgang
Stürner, Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscher-
lichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987.
248 Udo Friedrich

1. Der Ritter:
Index eines sozialhistorischen Wandels

Der Ritter kann als zentrale Chiffre einer kulturhistorischen Symbiose von
Mensch und Tier interpretiert werden.6 Im Rahmen einer kulturwissen-
schaftlichen Analyse ist dieser weniger eine literarische Figur, d. h. Funktion
eines Textzusammenhanges, als eine reale soziale Erscheinung, eine »kultu-
relle Form«, die erst unter besonderen historischen Voraussetzungen in
Erscheinung tritt.7 Als »kulturelle Form« verstanden, wird das Gefüge Ritter-
Pferd mit symbolischem Gehalt aufgeladen und wirkt in die verschiedenen
Felder sozialer Interaktion hinein. Nachweislich hängt die Genealogie des
Rittertums mit dem Pferd zusammen.8 Das Aufkommen des berittenen Krie-
gers, des Panzerreiters (dextrarius), zur Zeit der Karolinger gilt sozial-
historisch als Katalysator einer wirkungsmächtigen Umschichtung innerhalb
der Feudalstruktur, die zur Differenzierung von milites und pauperes inner-
halb der militia führt.9 Auch wenn der Panzerreiter nicht notwendig aus
militärischer Notwendigkeit entsteht, zieht seine Erscheinung im sozialen
Feld ungeahnte strukturelle Veränderungen nach sich, die letztlich in einer
elitären Gruppenideologie münden. Dieser Wandel wird in der Gegenüber-
stellung zweier Ereignisse aus dem Reichsgebiet deutlich: Während Widu-
kind anlässlich der Errichtung der Heinrichsburgen im 10. Jahrhundert noch
von agrariis militibus, freien Bauernkriegern, spricht, die sich zwar bereits
arbeitsteilig ausdifferenzieren, doch wohl noch dem unberittenen Heerbann
angehören, erhalten seit dem 12. Jahrhundert selbst die Ministerialen das
verbriefte Recht auf berittenen Kriegsdienst.10 Mehr denn je wird Reiten zum

6 Max Jähns, Ross und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der
Deutschen. Eine kulturhistorische Monografie, 2 Bde. Leipzig 1872. I, S. 162.
Heinz Meyer, Mensch und Pferd. Zur Kultursoziologie einer Mensch-Tier-Assozia-
tion, Hildesheim 1975.
7 Lenk, Kultur als Text (Anm. 1), S. 117.
8 Seit dem 11. Jahrhundert markiert die Durchsetzung des miles-Begriffs auch
sprachgeschichtlich den sozialen Wandel. Joachim Bumke, Studien zum Ritterbe-
griff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 1964 (Beihefte zum Euphorion 1),
S. 28 f., 35–40. Georges Duby, »Die Ursprünge des Rittertums«, in: Das Rittertum
im Mittelalter, hg. v. A. Borst, Darmstadt 1989 (WdF 349), S. 349–369 [zuerst
1968], S. 354.
9 »Es ist ferner 3. eine allgemeine und, wie mir scheint, wohlbegründete Annahme,
daß das Vordringen des Reiterdienstes ein zuvor nicht gekanntes Problem ge-
schaffen hat, das sich in den Quellen seit Karl dem Großen deutlich widerspiegelt:
das Problem der pauperes im Heer.« Josef Fleckenstein, »Adel und Kriegertum
und ihre Wandlung im Karolingerreich«, in: ders., Ordnungen und formende
Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge, Göttingen 1991, S. 287–306,
S. 299.
10 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae I,35. Die Sachsengeschichte des
Widukind von Corvey. Fünfte Auflage. In Verbindung mit H. E. Lohmann neu
bearbeitet v. P. Hirsch, Hannover 1935 (Script. rer. germ. in usum scholarum). Vgl.
Josef Fleckenstein, »Zum Problem der agrarii milites bei Widukind von Corvey«,
in: Ordnungen (Anm. 9), S. 315–332, 329–332.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 249

Index einer ökonomischen und sozialen Privilegierung.11 In diesem Prozess


wird in besonderer Weise die Interdependenz von Kriegstechnik und Sozial-
struktur sichtbar, da die militärische Innovation auf ökonomische, soziale,
rechtliche und politische Gegebenheiten ausstrahlt.
Gehört zu den Prämissen eines universalen kulturanthropologischen An-
satzes, dass sich das Verhältnis von Mensch und Tier je nach Kulturstufe
(Jagd-, Agrar-, Industriegesellschaft) in unterschiedlichen Konfigurationen
von Mensch, Tier und Technik manifestiert, so sind für den agrarischen
(mittelalterlichen) Gesellschaftstyp ganz spezifische ökonomische Gefüge
kennzeichnend: Bauer-Ochse-Pflug bzw. Händler-Pferd-Wagen.12 In ihrem
Zusammenhang fungiert das Tier primär als Energiequelle. Die historische
Emergenz eines besonderen militärischen Gefüges Ritter-Pferd-Lanze seit
dem Frühmittelalter mit samt seinen strukturellen und semantischen Effekten
kann vor diesem Hintergrund vielleicht nicht nur als Markierung eines
sozial-, sondern zugleich kulturgeschichtlichen Wandels gelesen werden.
Gegenüber dem traditionellen Kulturmuster der Kleriker, dem Ackerbau
(Orosius: ›Schwerter zu Pflugscharen‹), dem auch weite Teile des Adels
obliegen, beginnt sich zunehmend ein feudales Kulturmuster abzusetzen, das
erneut zentrale Faktoren einer Gewalt- und Jagdkultur ins Spiel bringt
(Pflugscharen zu Schwertern).13 In diesem Zusammenhang fungiert das
Pferd zunächst als Instrument und Waffe, sodann als politischer Machtfaktor
und sozial differenzierendes Zeichen.
Bereits die klassische, vor allem an der Rekonstruktion von Realien
interessierte Kulturgeschichte hat die Bedeutung des Pferdes für die höfische
Reitkultur erkannt und Pferdetypen, Ausrüstung, Schmuck sowie heraus-

11 Ökonomisch zog der zunehmende Bedarf an Streitrössern erhebliche Bemühungen


um die Züchtung und Multiplizierung des aus dem Arabischen importierten großen
Pferdetyps nach sich, erforderte hohen finanziellen und organisatorischen Auf-
wand, der sichtbar auf Ökonomie und Recht der Feudalzeit ausstrahlte. R. H. C.
Davis, »The Medieval Warhorse«, in: Horses in European Economic History. A
Preliminary Canter, ed. by F. M. L. Thompson/The British Agricultural Society,
Leeds 1983, S. 4–20, S. 13–15. Wolfgang Christian Schneider, »Animal laborans.
Das Arbeitstier und sein Einsatz in Transport und Verkehr der Spätantike und des
frühen Mittelalters«, in: L’Uomo di Fronte al Mondo animale nell’ alto Medioevo,
Spoleto 1985 (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’ alto medioevo
31,1/2), S. 457–578, S. 518–534.
12 »Tiere, Menschen und technische Gerätschaften bilden verschiedene Arten von
maschinellen Ensembles zur Erzeugung und Verbreitung der wichtigsten Güter.«
Thomas Macho, »Tier«, in: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie,
hg. v. Chr. Wulf, Weinheim/Basel 1997, S. 62–85, S. 76.
13 Pauli Orosii, Historiarum adversus paganos VII, 41,7. Accedit eiusdem liber
apologeticus. Recensuit et commentario critico instruxit Carolus Zimmermann
(Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum V) Wien 1882 [Nachdruck New
York/London 1966], S. 554. Alsus sprach der kvnic for / Wir sullen sech vnd schar
/ Vnd phluc ysen gar / zu philen vnd zu swerten smiden. Herbort von Fritzlar, liet
von Troye, hg. v. G. K. Frommann, Quedlinburg/Leipzig 1837, [Neudruck Amster-
dam 1966], (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der
ältesten bis auf die neuere Zeit 5), V. 3442–3445.
250 Udo Friedrich

gehobene literarische Beschreibungen nachgezeichnet.14 Erweitert man den


Kontext und rahmt man das Phänomen umfassender, so lässt sich die
historisch spezifische Sinnstiftungsfunktion rekonstruieren, die die Feudal-
kultur konstitutiv mit dem Pferd verbindet. In diesem Kontext stellen die
Texte, sowohl die literarischen wie auch Historiographie und Fachliteratur,
zahlreiche Indizien bereit, die das Pferd als eine semantisch aufgeladene
Sinneinheit zu beschreiben gestatten. Symbolkomplexe zeichnen sich durch
Vielschichtigkeit aus, unterliegen rivalisierendem gesellschaftlichem Ge-
brauch und erfahren aus wechselnden Horizonten jeweils eigene Sinnzu-
weisungen.15 In diesem Zusammenhang erhält das Gefüge Ritter-Pferd, und
das soll in der Folge expliziert werden, auf ganz unterschiedlichen Ebenen
Bedeutung zugeschrieben. Grundlage ist die Funktion als militärisches In-
strument (2); darüber hinaus wird diese reale Funktion mit Bedeutung
angereichert, wenn vornehmlich in der volkssprachlichen Literatur Körper-
konzept und Gewaltethos des Adels im Pferd gespiegelt werden (3/4/5); im
politisch-sozialen Feld der Historiographie dagegen dienen die verschiedenen
Inszenierungen des Ritter-Pferd-Gefüges der Darstellung von Gewaltüber-
legenheit (6); schließlich erhält der Ritterstand über das Pferd Anschluss an
kulturgeschichtliche und metaphysische Legitimationsmuster(7).

2. Instrumentalisierung:
Kompensation physischer Mängel

Im theologischen Kontext wird das Verhältnis zum Tier primär unter bibli-
schen Vorgaben abgehandelt bzw. unter textsortenspezifischen Gesichts-
punkten. In exegetischen Schriften, Moraltraktaten und Abhandlungen über
die Seele ist das Pferd vor allem Allegorie, und allenfalls in Bezug auf den
sensus historicus finden sich Hinweise für eine nicht metaphorische, funk-
tionale Einschätzung. Demgegenüber wird im De anima-Traktat des Wilhelm
von St. Thierry das Verhältnis von Mensch und Pferd unter einer zivilisa-
tionsgeschichtlichen Perspektive gelesen, durch die der Mensch seine instru-
mentellen Fertigkeiten potenziert und seine Überlegenheit über die Natur
demonstriert.16 Im Domestizierungsakt zähmt der Mensch das Pferd und
eignet sich dessen physische Eigenschaften an, steigert Geschwindigkeit und
Gewaltpotential und kompensiert mithin sein körperliches Defizit als Män-
gelwesen. Wenn der mittelalterliche Krieger in der Regel mit Reitpferd,
Streitross und Packpferd ein ganzes Ensemble von Pferden um sich ver-

14 Jähns, Ross und Reiter (Anm. 6); Bumke, Höfische Kultur (Anm. 4), I, S. 236–
240.
15 Bourdieu u. a., Dialog (Anm. 3), S. 36.
16 Tarditas namque corporis nostrae et ad movendum difficultas, equumque sibi
servire imperavit et edomuit! Wilhelm von St. Thierry, De natura corporis et
animae libri duo, PL 180, Sp. 716.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 251

sammelt,17 wird diese funktional ausgerichtete Herrschaft über das Pferd


evident. Vor allem im Krieg aber offenbart sich der spezifische Vorteil der
Nutzung: Ad hanc autem militiam equus idoneus est, cui miles insideat et
eius agilitate et fortitudine securius fuget et fugiat.18 Die hier im Moraltraktat
gelieferte militärische Funktionsbestimmung des Pferdes erfährt im politi-
schen Schrifttum ihre ständespezifische Interpretation. Aegidius Romanus
führt in dem auf Vegez fußenden Kriegsbuch seines Fürstenspiegels die
Potenzierung adeliger Gewalt auf die Instrumentalisierung von Pferdekraft
zurück: In equestri [certamine] vero magis eligendi sunt ipsi nobiles: eo
quòd equorum ipsorum fortitudo supplet defectum, quem patiuntur nobiles in
non posse tantos sustinere labores, quantos consueuerunt sustinere rurales.19
Sichtbar wird hier im politischen Rahmen herrschaftlicher Staatsorganisation
die standesspezifische Nutzung des Pferdes. Doch nicht als Privileg be-
stimmt die Schrift die Leistung des Pferdes für den Adeligen, sondern im
funktionalen Kontext staatlicher Kriegswissenschaft als Optimierung eines
eher begrenzten Kraftpotentials. Insofern bleibt auch diese Position des
Klerikers sichtbar der Mängelwesenthese verpflichtet. Aegidius greift für den
Aufbau einer effektiven militia auf antike Quellen zurück, um gegen die
elitäre Kriegsethik des Adels eine kollektiv orientierte Alternative aufzu-
bieten. Unter der Prämisse antiker Kriegstheorie (Vegez) bildet eben die
Qualität der Fußkämpfer das entscheidende Paradigma militärischer Strate-
gie. Ein solches Konzept entspricht weniger den historischen Voraussetzun-
gen einer feudalen Reiterkultur, vielmehr ist es Ausdruck einer konkurrieren-
den (symbolischen) Ordnung, die ihrerseits den feudalen Krieger in die
Strukturen des Staates einzugliedern beansprucht.20

3. Ethische Codierung:
Natürliches Komplement feudaler Tugenden

Wird in diesem ständedifferenzierenden Blick des Klerikers das Pferd noch


nüchtern als Kompensation einer körperlichen Schwäche aufgefasst, so fun-
giert es für Kirche und Adel zugleich als Metapher für soziale Sinnkonstitu-

17 Lutz Fenske, »Der Knappe: Erziehung und Funktion«, in: Curialitas. Studien zu
Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hg. v. J. Fleckenstein, Göttingen 1990
(Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), S. 75–160,
S. 105 f.
18 Radulfus Niger, De re militari et triplici via peregrinationis Ierosolimitane
(1187/88). Einleitung und Edition v. L. Schmugge, Berlin/New York 1977 (Bei-
träge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 6) I,13.
19 Egidio Colonna (Aegidius Romanus). De regimine principum libri III, recogniti et
una cum vita auctoris per F. Hieronymum Samaritanium, Aalen 1967 [Neudruck
der Ausgabe Rom 1607], III,3, 5, S. 568.
20 Udo Friedrich, »Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und der
Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert«, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen
alten Kontinent, hg. v. J.-D. Müller/H. Wenzel, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 149–179,
S. 157–160.
252 Udo Friedrich

tion. Die Aufladung des Tiers mit Bedeutung vollzieht sich dabei sichtbar
kontrovers. Während die Klerikerkultur die kulturhistorische Unterwerfung
des Pferdes zugleich als Metapher der Selbsterhebung der ratio über das
Animalische deutet, indem das Pferd zum Negativindex körperlicher Affekte
stilisiert wird, die der Reiter (ratio) zu ›zügeln‹ hat,21 akzentuiert die feudale
Perspektive vor allem die Körperdynamik des Pferdes, so dass dieses zum
zentralen Index seiner kriegerischen Tugenden wird. Insbesondere die heroi-
sche und höfische Epik sind der Ort für solch eine zeichenbezogene Annähe-
rung von Ritter und Pferd.
Wenn dem Pferd etwa aggressive Attribute zugeschrieben werden, proji-
ziert der Adel nurmehr sein kriegerisches Selbstverständnis auf das geborene
Fluchttier: Equus animal erectum est atque exultans, in certando animosum,
victoriae cupidum, non impatiens laboris.22 Theologische Disziplinierung
und feudale Körperdynamik erfahren am Pferd ihre entgegengesetzte Wert-
schätzung. Wenn aus moralischer Perspektive das Pferd die negativen Atti-
tüden der stürmischen Jugend repräsentiert,23 so markiert die positive Lesart
indes präzise das Ethos des Adels. Eine metaphorische Analogisierung in
Konrads von Würzburg Trojanerkrieg macht genau diese Inversion des Dis-
ziplinierungsmodells sichtbar. Der in Frauenkleider gesteckte Achill emp-
findet sich als wildes Fohlen, dem wider siner art Zaumzeug angelegt
wurde.24 Das zielt nicht auf unbändige Jugendlichkeit im besonderen, viel-
mehr auf essentielle Zeichnung adeliger Art, die sich jeglicher Unterwerfung
widersetzt.25 Die höfische Literatur nutzt auch ihre besonderen sprachlichen

21 Equus noster est iumentum nostre carnis, cui insidemus cum sensualitas ob-
temperat rationi. Radulfus Niger, De re militari (Anm. 18), I,13. Vgl. Alanus ab
Insulis, Anticlaudianus IV,2–4, PL 210, Sp. 521–525. Friedrich Ohly, »Die Pferde
im Parzival Wolframs von Eschenbach«, in: L’Uomo (Anm. 11), S. 849–927,
S. 853.
22 Anonymi de physiognomonia liber latinus, in: Scriptores physiognomonici Graeci
et Latini, recensuit R. Forster, 2 Bde., Leipzig 1893, I, S. 1–145, Cap. 118, S. 137.
Vincenz von Beauvais rekurriert gar auf einen biblischen Kontext: De vsu equorum
in praeliis. AVctor. Equus autem (vt ait Salomon) ad diem belli paratur, cuius
videlicet nobilitatem, & audaciam describit Dominus ad Iob, ita loquens. Vincen-
tius Bellovacensis (Vincent de Beauvais), Speculum naturale. Photomechanischer
Nachdruck der Ausgabe Dvaci 1624, Graz 1964, XVIII,54.
23 Sicut superbia equi indomiti praecipitio prona est, ita lascivia adolescentis indis-
ciplinati, peccati ruinae proxima est. Pseudo-Bernhard, De ordine vitae Cap. V, PL
184, Sp. 573.
24 im was als einem wilden voln, / der gêt in sîner vrîheit. / daz dem ein zoum wirt an
geleit / unde ein satel ûfe sich, / daz dunket in sô kumberlich, / daz er beswaeret
drumbe wirt, / wan er der sprünge sîn enbirt / ungerne bi den stunden. / vil kûme
er wirt gebunden, / wan er sîn ê was ungewon. / sus tete Achille diz gedon, / daz er
dâ wider siner art / betwungen von der minne wart, / daz er wîbes bilde truoc.
Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, nach den Vorarbeiten K. From-
manns/F. Roths zum erstenmal hg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858
(BLVS 44), V. 15 074–15087.
25 Vgl. Lancelot, hg. v. R. Kluge, Berlin 1948 (DTM 42), S. 277 f., 292 f., Alexanders
Onkel (Straßburger Alexander, V. 112–124).
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 253

Möglichkeiten, um die Nähe von Ritter und Tier zu evozieren. Wolfram etwa
zeigt mitunter die Möglichkeit dieser Spiegelung syntaktisch geschickt da-
durch an, dass er den Bezug der Eigenschaften symmetrisch lesbar macht:
dô reit der künec Purrel
starc, küene und snel
ein ors, gewâpent ûf den huof.26

Die Analogiesetzung mit den ›wilden‹, d. h. feudalen Eigenschaften findet


schließlich prägnanten körperlichen Ausdruck in der affektiven Angleichung
an das Tier: Lancelot erhält beim Zornausbruch glühend blutrote Augen und
gebart mit der nasen als ein roß das sere ist gerant, und beiß die zene zuhauff
das sie krachten.27 Kraft, Schönheit, Stolz, Schnelligkeit, Mut und Zorn: ein
ganzes Ensemble feudaler Tugenden wird auf das Pferd projiziert. Das Pferd
selbst signalisiert heroisches Affektpotential.28 Das theologische Kulturmo-
dell der ethischen Selbstbeherrschung erhält in der Pferdemetaphorik des
Feudaladels einen rivalisierenden Entwurf.

4. Symbiose von Ritter und Pferd

Suggeriert wird die Möglichkeit einer natürlichen Beziehung zwischen Ritter


und Pferd. Dass Reiten eine der Basistechniken feudaler Lebenspraxis dar-
stellt, davon zeugen die zahlreichen historischen und literarischen Erzie-
hungsverläufe, die gerade die Aneignung dieser Fertigkeiten in die früheste
Jugend verlegen.29 Tristan lernt alle Techniken des Reitens nâch ritterlîchem

26 Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbiblio-
thek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. v. Joa-
chim Heinzle, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9), V. 429, 9–11.
Da er ryten mocht, da gab im die jungfrauw ein schon pfert, schnell und starck,
[…] heißt es von Lancelot. Lancelot (Anm. 25) I, S. 34. Beate Ackermann-Arlt,
Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen ›Prosa-Lancelot‹,
Berlin/New York 1990 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 19), S. 290.
27 Lancelot (Anm. 25), I, S. 35. Ackermann-Arlt, Pferd (Anm. 26), S. 293.
28 Dietmar Peschel-Rentsch, »Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein
eines Ritters«, in: ders., Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre
Wirkungen in mittelalterlicher Literatur, Erlangen/Jena 1998 (Erlanger Studien
117), S. 12–47, S. 12–31. Ector vf ein ros saz / Harte gut man saget daz / Ez hieze
galathea / Ez sante im pentesilea / Ein hubische iuncfrovwe / Mit slegen noch mit
drouwe / Mochte man ez betwingen / Swa ez quam zv springen / Da enkvnde niht
vor bestan / Ez enwolde follen sprunc han / Ez enwart nie dehein noz / Daz phert
were so groz / So hoch noch so wol getan / So daz selbe kastellan. Herbort von
Fritzlâr, Liet von Troje (Anm. 13), V. 4791–4804. Vgl. über Peleus’ Pferd Konrad
von Würzburg, Trojanerkrieg (Anm. 24), V. 3851–3857.
29 Tam velox autem factus est, ut equorum terga facili saltu transvolaret, heißt es von
Gerald von Aurillac. Odo von Cluny, De vita sancti Geraldi, PL 133, Sp. 645. Vgl.
Fenske, Der Knappe (Anm. 17), S. 90.
254 Udo Friedrich

site und ebenso Achill bei Chiron: sîn meister lêrt in allez daz.30 Im
Gegenteil, dort, wo aus einer pädagogischen Perspektive der richtige
Zeitpunkt in der Jugend verpasst wird, vermag Erziehung nichts mehr:
sô man dich danne gesiht / unbehendeclîchen rîten, / sô muostû zallen zîten /
dulden ander ritter spot.31 Zwar wird Reiten sichtbar an Erziehung ge-
bunden, doch dadurch, dass es der frühzeitigen Übung bedarf, wird die
Gewohnheit als natürlicher Faktor (consuetudo altera natura) bereits ins
Spiel gebracht.32
Adelige Art rekurriert aber in Bezug auf das Reiten auf noch tiefer
liegende, natürliche Ressourcen. Bereits Chrétien zeichnet die Verbindung
des jungen Perceval zu seinen ritterlichen Übungen zu Pferd als Effekt
natürlicher Anlage.33 Dort, wo die art des Adeligen gegen alle Versuche der
Verdrängung schließlich durchbricht, manifestiert sie sich außer durch Jagd-
techniken auch durch eine angeborene Beherrschung des Pferdes. In diesem
Sinn imaginiert Gregorius gerade gegen seine vergangene Sozialisation
durch Bücher und gegen das Erziehungspostulat der Kleriker, Ritterschaft
bedürfe vil wol gewizzenheit, seinen Geblütsadel nicht zufällig am Beispiel
des Reitens: mit guoter gehabe ich reit / ânes lîbes arbeit: / ich gap im
senften gelimph / als ez waere mîn schimph.34 Wie für den Kleriker Lesen
und Schreiben ist für den Adeligen Reiten die zentrale kulturelle Basis-
technik.35 Insofern die Verbindung von Ritter und Pferd aber nicht nur

30 Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. v. K. Marold. Dritter Abdruck mit einem
durch Friedrich Rankes Kollationen erweiterten und verbesserten Apparat besorgt
und mit einem Nachwort versehen v. Werner Schröder, Berlin 1969, V. 2103–2111,
2111. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg (Anm. 24), V. 6244.
31 Hartmann von Aue, Gregorius, hg. v. H. Paul, 11. Auflage besorgt v. Ludwig Wolff,
Tübingen 1966 (ATB 2), V. 1538–1541. Fenske, Knappe (Anm. 17), S. 93. In
diesem Sinn wird denn auch Lanzelets Erziehungsdefizit im Feenreich (wan er ûf
ros nie gesaz) sogleich an seiner Reithaltung sichtbar. Ulrich von Zatzikhoven,
Lanzelet. Eine Erzählung, hg. v. Karl A. Hahn. Mit einem Nachwort und einer
Bibliographie v. Frederick Norman, Berlin 1965, [Neudruck der Ausgabe Frankfurt
1845], (Texte des Mittelalters), V. 298; 404–412, 461–499. […] daz er sô kintlîche
reit. Ebd., V. 477. Vgl. Ackermann-Arlt, Pferd (Anm. 26), S. 288–290.
32 Technische und ethische Kultivierung folgen dem gleichen Prinzip: So verwandelt
auch der Asket seine Natur durch Gewöhnung, wie etwa Bernhard von Clairvaux:
consuetudo ei et ipsa quodammodo vertebatur in naturam. Acta Bollandiana de
Sancto Bernardo, PL 185, Sp. 662.
33 […] Car il li venoit de nature, / Et quant nature il aprant / Et li cuers del toi i
antant, / Ne li puet estre riens grevainne / La ou nature et cuers se painne.
Chrétien de Troyes, Der Percevalroman (Le Conte du Graal), übersetzt und
eingeleitet v. Monica Schöler-Beinhauer, München 1991 (Klassische Texte des
Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 23), V. 1480–1484.
34 Hartmann von Aue, Gregorius (Anm. 31), V. 1564, 1609–1612; vgl. 1582–1624.
Peschel-Rentsch, Pferdemänner (Anm. 28), S. 12–47, S. 20 f.
35 Curschmann hat auf eine Illustration im Vogeltraktat (De avibus) des Hugo de
Folieto in der Handschrift Heiligenkreuz aufmerksam gemacht, in der nicht nur
Taube und Falke gegenübergestellt werden, sondern darunter der lesende Kleriker
und der reitende Ritter mitsamt dem ihm zugehörigen Ensemble adeliger Tiere.
Michael Curschmann, »Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis
von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 255

kulturell hergestellt, sondern auch natürlich fundiert wird, berühren ihre


Modalitäten die »literarische Signifikanz des Körpers«, im weitesten Sinn
sogar eine historische Anthropologie des Körpers.36
Die enge Bindung von Reiter und Pferd wird auch im Regenerations-
prozess des Ritters erkennbar. Die Wiederherstellung des verletzten, ausge-
hungerten und nur noch am Boden kriechenden Grafen Rudolf wird als
eine Form innerlicher Angleichung beschrieben. Statt auf sein Streitross
greift der Graf zunächst auf sein leichter zu handhabendes Reitpferd
(Bonthard) zurück, um zu seiner Geliebten zu reiten. Der Akt des Reitens
und die Stimmung des Pferdes strahlen sichtbar auf den Rekonvaleszenten
aus.37
Die symbolische Nähe zeigt sich schon rein äußerlich in der Deskription,
z. B. in der farblichen Anpassung von Rüstung und Pferdedecke sowie ihren
Einschreibungen: der rote Ritter.38 Über die farbliche Tönung der Kleidung
und ihre heraldische Signatur, seien es Tiere oder Gegenstände, verschmilzt
der Ritter für den Betrachter mit seiner Waffe und seinem Tier zu einer
signifikanten Einheit.39 Den gleichen Zweck kann die Reiter und Pferd
umschließende Rüstung erfüllen. So empfinden die Araber während des
Kreuzzuges die schweren fränkischen Panzerreiter als homogene, kaum
auflösbare Einheit von Mensch und Pferd: »Mit dem Pferd ist der Franke ein

zum Codex Manesse«, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erschei-


nungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. H. Keller/K. Grubmüller/N. Staubach,
München 1992 (MMS 65), S. 211–229, 216.
36 Ursula Peters, »Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwer-
punkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion«, in: Festschrift für Walter
Haug und Burghart Wachinger, hg. v. J. Janota u. a. Bd. 1, Tübingen 1992, S. 63–
84, S. 66 f.
37 Bonifait reit wider in die stat, / Bontharden brachte her sime neven, / dar
o o
uf saz der cune degen / unde reit banechen an daz velt. / ja gienc vir wenentliche
inzelt / Bonthart rechte alsame ein tier. / ja was virwenet unde fier / der helt die
o
dar uffe saz. / siner note her vile alda virgaz. / [B]onthart der was vrevele, / ouch
o
vugete sich harte ebene / der greve in sin gereite. / sin stolze mut gap ime geleite /
o
zu cumende zu der kunigin, […] Graf Rudolf, hg. v. Peter F. Ganz, Berlin 1964
(Philologische Studien und Quellen 19), I,43–56. Zu Lancelot vgl. Ackermann-
Arlt, Pferd (Anm. 26), S. 300 f.
38 Marlene Baum, Das Pferd als Symbol. Zur kulturellen Bedeutung einer Symbiose,
Frankfurt 1991, S. 94. sîn ros was grôz unde hô, / starc rôt zundervar, / der varwe
was sîn schilt gar: / sîn wâpenrock alsam was, / er selbe rôt, als ich es las, /
gewâfent nâch sînem muote. Hartmann von Aue, Erec, hg. v. Albert Leitzmann,
fortgeführt v. Ludwig Wolff. 6. Auflage besorgt v. Christoph Cormeau/Kurt Gärt-
ner, Tübingen 1985 (ATB 39), V. 9015–9020. Vgl. Wolfram von Eschenbach,
Parzival, hg. v. Karl Lachmann, Berlin/Leipzig 1926, V. 145,15–146,3. Wirnt von
Grafenberg, Wigalois. Der Ritter mit dem Rade, hg. v. Johann M. N. Kapteyn,
Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie
und Volkskunde 9), V. 2841 f., 2996 f. Ohly, Pferde im Parzival (Anm. 21), S. 878.
39 Eine Übersicht über die verschiedenen heraldischen Zeichengebungen gibt Man-
fred Zips, Das Wappenwesen in der mittelhochdeutschen Epik bis 1250. Diss. Wien
1966, S. 69, 105 f., 117f u. ö.
256 Udo Friedrich

Block aus Eisen, gegen den alle Schläge wirkungslos sind […]«.40 Kultur-
anthropologisch gesprochen ist das Pferd weniger ein bloßes Instrument oder
eine Metapher, vielmehr verweist es als ein konstitutiver Faktor feudaler
Lebenswelt auf die körperliche Repräsentanz des Adels. Wie die Waffe mit
ihren Einschreibungen an Namen und Zeichen wird das Pferd vielfältig
codiert und offenbar in das Körperschema des Ritters integriert, gewisserma-
ßen eine Verlängerung adeliger Signifikanz in die Außenwelt, sichtbar ver-
schobene Grenze seines naturverhafteten Selbstverständnisses:
dô stuont daz ors, dô stuont der man
sô rehte wol ein ander an,
als ob si waeren under in zwein
mit ein ander und inein
alsô gewahsen unde geborn.41
Dass das Pferd konstituierendes Element des Rittertums ist, lässt sich be-
sonders an Situationen des Mangels erkennen: an der Schmach, wenn der
Ritter vom Pferd gestochen wird oder er nach dem Verlust desselben zu Fuß
gehen muss.42 Immer wieder kommen die Epen auf dieses Szenario ritter-
licher Hilflosigkeit zurück. Verschiedene historische Indizien belegen, dass
Schmähungen des Feindes etwa durch die Praxis des schandhaften Reitens
oder durch Verstümmelung des Pferdes kenntlich gemacht wurden.43 Die
literarischen Inszenierungen solcher Demütigungen, wie die ausführliche
Beschreibung des Schandmäres, auf das Gawein im Parzival und gesteigert
noch in der Crône angewiesen bleibt, basieren auf dieser engen Prestigever-

40 Abu Shama, Le livre des deux jardins, S. 271 zur Schlacht von Hattin 1187. Zitiert
nach Rudolf Hiestand, »Der Kreuzfahrer und sein islamisches Gegenüber«, in: Das
Ritterbild in Mittelalter und Renaissance, hg. v. Forschungsinstitut für Mittelalter
und Renaissance, Düsseldorf 1985 (Studia humaniora 1), S. 51–68, S. 55 f.
41 Gottfried von Straßburg, Tristan (Anm. 30), V. 6711–6715. Baum, Das Pferd als
Symbol (Anm. 37), S. 57.
42 Jähns, Ross und Reiter (Anm. 6), II, S. 51. Schneider, Animal laborans (Anm. 11),
S. 526. Nach Helmold von Bosau enthält die Demütigung Heinrichs IV. durch den
Papst die Auflage, sich ein Jahr lang nicht aus Rom zu entfernen und kein Pferd zu
besteigen: equum non ascenderet. Helmoldi presbyteri Bozoviensis Cronica Sla-
vorum. Editio tertia. Post Johannem M. Lappenberg iterum recognovit Bernhardus
Schmeidler. Accedunt versus de vita Vicelini et Sidonis epistola, in: MGH Scripto-
res rerum Germanicarum in usum scholarium 32, Hannover 1973, Cap. 28. Die
von den Arabern bestaunte eiserne Einheit von Ritter und Pferd schlägt denn auch
im Augenblick der Trennung in Hilflosigkeit um: […] wenn sein Pferd tot ist, wird
er eine leichte Beute. Hiestand, Kreuzfahrer (Anm. 40), S. 55 f.
43 Aber darnach wem man schande oder laster thun wolt, den satzt man uff ein pfert
dem der zagel und die oren abe gesneden waren, und der pferde hatt man in
iglicher stat, an allen Porten eins, das daruff wartet, heißt es im Lancelot (Anm.
25), Bd. 2, S. 13. So können die alemannischen Fürsten Berchtolt und Erchanger
den von ihnen gefangen gesetzten Bischof Salomon von Konstanz allein durch ein
schlechtes Pferd demütigen. Sternitur viro Dei vilior interea equus. Ekkeharti (IV.)
Casus sancti Galli, hg. v. G. Meyer von Knonau, St. Gallen 1877 (St. Gallische
Geschichtsquellen, Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte N. F. XV, XVI,
H. 5/6 ), Cap. 18. Klaus Schreiner, »Gregor VIII., nackt auf einem Esel. Enteh-
rende Entblößung und schandhaftes Reiten im Spiegel einer Miniatur der Säch-
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 257

bindung von Ritter und Pferd.44 Missverhältnisse dienen entsprechend zur


Markierung einer Störung und werden in Bezug auf die Protagonisten (Erec,
Gawein) stets wieder korrigiert. Statur und Habitus des Pferdes einerseits,
Tugend und sozialer Status des Reiters andererseits mussten offenbar in
Übereinstimmung stehen, wie etwa bei Enites Pferd oder seiner Kontrafaktur,
beim Schandmäre des wilden Knechts in der Crône.45 So zeigt sich schon
hier, dass der Reiter ein kompliziertes soziales Zeichen darstellt, das eine
natürlich-moralische, zumeist auch physiognomisch markierte Qualifizierung
impliziert.46 Das Pferd ist immer auch ethische und ästhetische Einschreibe-
fläche.47 Als literarische Strategie kann die enge Bindung von Ritter und
Pferd sogar zum Rollentausch führen, so dass das Pferd anstelle des Ritters
zum Agenten der Handlung wird.48

sischen Weltchronik«, in: Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche,
Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für Franz-Josef Schmale zu seinem 65.
Geburtstag, hg. v. D. Berg/H.-W. Goetz, Bochum 1989, S. 155–202, S. 155–202.
Das Verbot, Pferde zur Schmähung des Gegners zu verstümmeln (z. B. durch
Nasenschnitt), findet sich in den Volksrechten; Schneider, Animal laborans (Anm.
11), S. 528 f.
44 Wolfram von Eschenbach, Parzival (Anm. 38), V. 529,17ff. Heinrîch von dem
Türlîn, Diu Crône. Zum ersten Male hg. v. Gottlob Heinrich Friedrich Scholl,
Stuttgart 1852 (BLVS 27), V. 19 787–19948.
45 Hartmann von Aue, Erec (Anm. 38), V. 7264–7766. Franz Josef Worstbrock,
»Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue«, FMSt 19, 1985,
S. 1–30, S. 22 f. Heinrîch von dem Türlîn, Diu Crône (Anm. 43), V.
19 787–19948.
46 Ein Korrespondenzverhältnis von Reiter und Reittier gestaltet wiederholt auch
Wolfram: sowohl im Verhältnis Gaweins zu Gringuljete wie auch in den Zerr-
formen von Kundrie und ihrem Maultier (vgl. Malcrêatiure). Während Gawein und
Gringuljete »wie eine Einheit, eine sich wechselseitig stützende Vollkommenheit«
leben, sind letztere nach Auskunft des Textes sichtbare Folgen einer Animalisie-
rung des Menschen als Folge des Sündenfalls. Ohly, Pferde im Parzival (Anm. 21),
S. 882–885, 886.
47 Ir ros waren wol bedacht / Vf couverture / Riche vnd ture / Phellil vnd cindat / Arne
Lewen dar in genat / Vnd ander zeichen da mite /Als ez noch ist site. Herbort von
Fritzlâr, liet von Troye (Anm. 13), V. 4438–4444. Die Beschreibung von Enites
Pferd, von Körper, Zaumzeug und Sattel, wird zum Dokument einer kleinen
ritterlichen Kulturgeschichte, das Pferd selbst zum ›vollkommenen Kunstwerk‹,
seine Darstellung zum Spiel mit Fiktionalisierungsstrategien. Worstbrock, Dilata-
tio materiae (Anm. 45), S. 20–27, 25–27. Vgl. Konrad von Würzburg, Trojaner-
krieg (Anm. 24), V. 25 950–25955. Wolfram von Eschenbach, Willehalm (Anm. 26),
V. 33,16 f.
48 In seiner Minnekrise gelähmt, ist es das Pferd Partonopiers, das sich erfolgreich
gegen einen Löwen zur Wehr setzt und die Rettung des Protagonisten betreibt.
Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. v. Karl Bartsch, Wien 1871, V.
10 516–10555. Susanne Rikl, Erzählen im Kontext von Affekt und Ratio. Studien zu
Konrads von Würzburg ›Partonopier und Meliûr‹, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 1996
(Mikrokosmos 46), S. 153 f. Willehalms Pferd Puzzat wird zum Stellvertreter von
Willehalms Leiden auf dem Weg zum Königshof. Wolfram von Eschenbach,
Willehalm (Anm. 26), V. 88,22 f. Vgl. zum Parzival Ohly, Pferde im Parzival (Anm.
21), S. 916.
258 Udo Friedrich

5. Pferdemänner

Das essentielle Aufeinanderangewiesensein von Ritter und Pferd verhandelt


bereits die Heldenepik und kann als paradigmatisches Bezugsfeld dem Hand-
lungsverlauf einzelner Epen unterlegt werden. Das Eckenlied erzählt auf der
narrativen Oberfläche die Herausforderung des Musterritters Dietrich durch
den Riesen Ecke. Peschl-Rentsch hat indes darauf aufmerksam gemacht, dass
der Drang des Helden Ecke nach ritterlicher Ebenbürtigkeit mit Dietrich trotz
aller heroischen Qualitäten bereits an seiner riesenhaften Statur scheitert, die
es ihm unmöglich macht, ein Pferd zu reiten. Zwar wird er mit einer
berühmten Rüstung ausgestattet und eignet sich somit ritterliche Insignien
an, doch sind alle Versuche vergeblich, ihn zum Reiten zu bewegen.49 Der
Riese Ecke, dessen Pferdemangel auch Hildebrand explizit einklagt,50 steht
nach Peschl-Rentsch in der Mitte zwischen dem Kentauren, auf den er im
Wald trifft und den er erschlägt, und dem vollkommenen Ritter Dietrich. Im
Kentauren begegnet der pferdelose Riese seinem komplementären animali-
schen Zerrbild:
Dô kêrte er mornunt in den tan. / dô sach der wunderküene man / ein wunder zuo
im gâhen: / daz was halp ros und halbez man. / ez truoc hürnin gewaefen an. / als
ez im kam sô nâhen, / ein gêren vuorte ez in der hant / mit wunderlîcher grimme, /
den schôz ez sâ ûf den wigant. / vil griulîch was sîn stimme, / daz der walt vil gar
erdôz […].51
Die Funktion der Erzählsequenz realisiert sich zugleich auf einer para-
digmatischen Bezugsebene: Ein aus dem Maß geratener Mensch trifft auf ein
seine Grenze überschreitendes Tier. »Es ist also ebenso misslich wie wichtig,
dass die Einheit des Ritters in Mensch und Tier zerlegbar bleibt.«52 Das
ideale Verhältnis zum Tier bildet ein Gefüge, ein Austauschverhältnis, keine
Identität, die wiederholt in der Figur des Kentauren distanziert wird. Ken-
tauren bilden in der mittelalterlichen Rezeption antiker Mythen weniger

49 Sî hiez im ziehen dar zehant / daz beste ros übr alliu lant, / daz im diu wâfen
trüege. / er sprach ›daz ros sol hie bestân, / ich mac ze fuoze vil wol gân. / jô bin
ich ze ungefüege: / ez treit mich doch die lenge niht / mit aller sîner krefte. / nu
wizzent, vrowe, swaz mir beschiht, / daz ich mich niht behefte / mit rosse: ich gân
vierzehen naht, / daz mir hunger noch müede / benimt wol mîne maht.‹ / Sie sprach
›Ecke, lâ dich erbiten. / durch mînen willen wis geriten: / jô schiltet man mich sêre.
/ swar sô du nu der lande verst, / mîn lop du gânde mir verzerst. / wan sprichet mir
kein êre, / wan ›daz er gar verwazen sî, / der dir gap die brünne / und dir niht
rosses gap dâ bî. / phî im und sînem künne.‹ Ecken Liet, in: Deutsches Heldenbuch.
Fünfter Teil. Dietrichs Abenteuer, von Albrecht von Kemenaten nebst den Bruch-
stücken von Dietrich und Wenezlan, hg. v. Julius Zupitza, Dublin/Zürich 1968
(Deutsches Heldenbuch 5), S. 217–264 [Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage
1870], Str. 34,1–35,10.
50 ›erkennet mînes herren site: / er viht mit den die sint geriten, / ir varent êrst von
sprungen‹. Ebd., Str. 44,9–46,6.
51 Ebd., Str. 52,1–55,3.
52 Zur Szene allgemein bereits Jähns, Ross und Reiter (Anm. 6), II, S. 279. Zur
Deutung: Peschl-Rentsch, Pferdemänner (Anm. 28), S. 24.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 259

Chiffren einer positiven Natur-Kultur-Symbiose.53 Sie bevölkern vielmehr


als eher dämonische Mischwesen die mittelhochdeutsche Epik, in der sie
syntagmatisch eine Station im Bewährungsweg des Protagonisten repräsen-
tieren, paradigmatisch die überschrittene Grenze zwischen Pferd und Mensch
verhandeln. Dabei scheinen sie je nach Gattungsmuster unterschiedlich co-
diert zu sein. Im Eckenlied fungiert der Kentaur als wildes Naturwesen
(merwunder), das unvermittelt aus einer dunklen und bedrohlichen Wildnis
auftaucht. In einem antiken Kriegsepos wie Herborts liet von Troye wird er
dagegen mit seinem unritterlichen Bogen als besonders tückischer Gegner in
der Schlacht inszeniert, offenbar als Repräsentant eines entfernten Reiter-
volks, der nur durch kollektive Taktik besiegt werden kann.54 Schließlich
wird der Kentaur in einem christlich gewendeten Artusroman wie Wirnts von
Grafenberg Wigalois deutlich zum Funktionselement des Teufels: nunmehr
ausgerüstet mit ›infernalischem‹ Feuer.55
Als Mischwesen sind Kentauren stereotyp gezeichnet und bringen mit
beinah undurchdringlichem Fell und zumeist mit unritterlichen Waffen –
Speer, Bogen, Feuer – den Protagonisten in eine erste Verlegenheit. Die
antike mythologische Figur des Pferdemenschen wird damit je nach Bedarf
in germanisch-heldenepische, exotisch-ethnographische und christlich-dämo-
nologische Sinnzusammenhänge transponiert: Tier, wilder Reiterkrieger, Teu-
fel. Für den hofkritischen Kleriker verschmilzt sogar der adelige Jäger in
seinem wilden Eifer mit der Figur des Pferdemenschen:
Venatores omnes adhuc institutionem redolent Centaurorum. Raro inuenitur qui-
squam eorum modestus aut grauis, raro continens, et, ut credo, sobrius nusquam.
Domi quippe Chironis habuerunt und haec discerent.56

Und doch gibt es auch in mittelalterlicher Epik eine signifikante Ausnahme,


die in positiver Hinsicht Mensch und Pferd in Beziehung setzt: Achills
Erzieher Schyron in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. Als physische
Kombination von wildem Tier und höfischem Menschen repräsentiert dieser
Kentaur realiter jene ideale Grenze natürlicher Gewalt und kultureller Exi-
stenz, die im Ritter-Pferd-Gefüge auf komplexe Art inszeniert wird. So

53 Roger Bartra, Wild Men in the Looking Glass. The Mythic Origins of European
Otherness, translated by Carl T. Berrisford, Ann Arbor 1994, S. 11–18.
54 Herbort von Fritzlâr, liet von Troye (Anm. 13), V. 7685–7758. Herbort verzichtet
dagegen darauf, Chiron, den Erzieher Achills als Kentauren zu kennzeichnen.
Vincenz zieht den Vergleich mit perfekten Reitern: Quos quidam fuisse equites
Thessalorum dicunt, sed pro eo quòd discurrentes in bello velut vnum corpus
equorum & hominum viderentur, inde centauros fictos assuerunt. Vincenz von
Beauvais, Speculum naturale (Anm. 22), XXXI,121, Sp. 2389. Vgl. zum Ken-
tauren: Jacques Le Goff, »Lévi-Strauss in Brocéliande. Skizze zur Analyse eines
höfischen Romans«, in: ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart
1990, S. 171–200 [zuerst Critique 1974], S. 176–179, 178 f.
55 Wirnt von Grafenberg, Wigalois (Anm. 38), V. 6931–6962.
56 Ioannis Saresberiensis episcopi Carnotensis, Policratici sive de nugis curialium et
vestigiis philosophorum libri VIII, recognovit […] Clemens C. I. Webb, tomus 1/2,
Frankfurt a. M. 1965 [ Nachdruck der Ausgabe London/Oxford 1909], I,4.
260 Udo Friedrich

offenbart sich an dieser Kunstfigur letztlich doch der Traum einer symbio-
tischen Beziehung des Adels mit seinem wichtigsten Standesattribut.

6. Politische Institutionalisierung: Das Pferd als Herrschaftsindex

Der soziale Abstand des Adels von der untergebenen Bevölkerung wird
durch das Pferd auch räumlich sichtbar, der Standesunterschied manifestiert
sich in der Erhöhung des Reiters: ir sult riten, ich sol gan, mit diesen Worten
insistiert der Kaufmann trotz adeliger Abkunft gegenüber dem Herrscher
Willehalm auf der Wahrung der etablierten Rangunterschiede.57 Ließ sich
das Pferd für das feudale Körperkonzept als überlegenes Kraft- und Affekt-
potential in Anspruch nehmen, so nähert sich die Zeichenfunktion auf der
politischen Ebene wieder dem Disziplinmodell der Kleriker an, verschoben
indes vom inneren zum äußeren Tier: Der Reiter als reale Chiffre der
Herrschaft über das Animalische. Diesen Horizont feudaler Herrschaftsauf-
fassung entfalten vor allem historiographische Texte in einer Reihe von
historischen Fallbeispielen. Sie legen nicht nur Zeugnis ab vom Bildreservoir
mittelalterlicher Herrschaftsauffassung, sondern geben zugleich Einblick in
konkrete Praktiken und ihre institutionellen Rahmungen.
Die politische Metaphorik zehrt von einer Semantik der Zähmung. Wenn
es von Herzog Heinrich dem Löwen heißt, dass dieser ›mit dem Zügel seiner
Herrschaft die Slawen gelenkt habe‹,58 so realisiert die Metapher für den
Umgang mit dem Feind nur ein allgemeines Herrschaftsprinzip. Der Einritt
Barbarossas in die eroberte Stadt Pavia wird repräsentativ von berittenen
Kriegern begleitet, die noch einmal die Domestizierung widerständiger Un-
tertanen politisch inszenieren, indem sie ihre fauchenden Pferde zügeln und
in eine sanfte Gangart zwingen.59 Die literarische Inszenierung des politi-

57 Wolfram von Eschenbach, Willehalm (Anm. 26), V. 131,23. sy gen selten zu fusz
über feldt, ist ouch yrm stand schendlich, so lässt sich noch im Spätmittelalter die
herausgehobene soziale Stellung des Reitens belegen. Wolfgang Brückner, »Roß
und Reiter im Leichenzeremoniell. Deutungsversuche eines historischen Rechts-
brauchs«, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 15/16, 1965, S. 144–209,
S. 181. Ohly, Pferde im Parzival (Anm. 21), S. 888. Zur Spaltung des Heeres in
Ritter und fuozgenger und zur sozialen Disqualifizierung der letzteren in Ulrich
von Etzenbach, Alexanderroman, hg. v. Wendelin Toischer, Tübingen 1888 (BLVS
183) V. 2447, 2455, 2459, 2465, 3680.
58 […] freno dominii sui maxillas eorum constrinxerat. Arnoldi, Chronica Slavorum,
in: MGH Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separati editi.
Unveränderter Druck der Ausgabe von 1868, Hannover 1978, III, 5, S. 148; vgl.
III,1. Wie die Herrschaft über die Slaven auszusehen hat, beschreibt Helmold am
Beispiel des Dänenherzogs Waldemar, der die Kraft der Slaven (robur Slavorum)
bricht: et misit frenum in maxillas eorum et quo voluerit declinat eos. Helmold von
Bosau, Cronica Slavorum (Anm. 42), Cap. 109, S. 217.
59 Signa crucis textusque sacros turisve vaporem / Prodierint, ut purpureo velamine
passim / Belligeros instratus equos fulgencia late / Signa ferens faleratus eques
fremebunda lupatis / Ora terat cogatque leves subsistere cursus. Guntheri Poetae
Ligurinus, hg. v. Erwin Assmann, Hannover 1987, (MGH SS 63), III, V. 195–199.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 261

schen Triumphs aktiviert zugleich den symbolischen Gehalt des Ereignisses.


Dass der Status selbst von Ministerialen in dieser Analogie eines natürlichen
›Instruments‹ aufgefasst wurde, zeigt eine signifikante Strafpraxis Barba-
rossas zu Worms 1155. Verurteilte Ministeriale hatten als zusätzliches Zei-
chen der Demütigung einen Sattel von einer Grafschaft bis zur nächsten zu
tragen.60 Nicht nur lässt sich wie beim schandhaften Reiten die soziale
Störung als Verkehrung von Reiter und Instrument (Pferd/Sattel) inszenieren,
zugleich wird der Ministeriale auf seinen Dienststatus verwiesen.
Als Zeichen ist das Pferd in prädestinierter Form der Herrschaft zuge-
wiesen,61 die mit seiner Hilfe nicht nur konkrete Rituale politischer Unter-
ordnung (u. a. Stratorendienst) und Überordnung (Krönungsritus) entwirft:
Nachdem die Kaiserkrönung Barbarossas vollzogen war, bestieg allein der
Kaiser ein Pferd: imperator cum corona solus equum faleratum insidiens,
ceteris pedes euntibus […].62 Im Königsumritt nimmt der Herrscher sym-
bolisch sein Territorium in Besitz. Der reisende König, der vom Sattel aus
regiert, ist für das Mittelalter eine vertraute Figur.63 Wie sehr mit der
Fähigkeit zu reiten der Anspruch auf soziale Geltung verbunden war, zeigt
sich darin, dass nach dem Sachsenspiegel die Geschäftsfähigkeit eines Man-
nes, d. h. seine Befugnis über die Vererbung seines Besitzes zu entscheiden,

60 Vgl. Ottonis Episcopi Frisingensis et Rahewini, Gesta Frederici, seu rectius


Cronica: Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder
richtiger Cronica, übersetzt v. A. Schmidt, hg. v. Franz-Josef Schmale, Darmstadt
1965 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 17), II,48.
Bernd Schwenk, »Das Hundetragen. Ein Rechtsbrauch im Mittelalter«, Hist. Jb
110, 1990, S. 289–308.
61 Unter den großzügigen Geschenken, die zwischen Potentaten rituell ausgetauscht
werden, nehmen Pferde eine herausragende Position ein. Arnold von Lübeck,
Chronica Slavorum ( Anm. 58), I, 9; VII, 15.
62 Otto von Freising, Gesta Frederici (Anm. 60), II, 34. Deme pavese is ok to ridene
to bescedener tit op eneme blanken perde unde de keiser scal eme den stegerep
halden […]. Sachsenspiegel, Landrecht I, hg. v. Karl August Eckhardt, nach der
Ausg. Göttingen 1955/56, Aalen 1973 (MGH 1,1). Der an byzantinische Krö-
nungsriten angelehnte Umritt Gregors IX. 1227 erfolgt auf einem »mit kostbaren
Stoffen bedeckten Pferd, begleitet von den in Purpur gekleideten Kardinälen. Der
Senator und der Präfekt der Stadt begleiteten ihn zu Fuß und hielten die Zügel des
Pferdes.« Agostino Paravicini-Bagliani, Der Leib des Papstes. Eine Theologie der
Hinfälligkeit, München 1997 [zuerst Turin 1994], S. 48. Wenn Papst Coelestin V.
1294 auf einem Esel in Aquileia einreitet, bleibt das eine Ausnahme. Schreiner,
Gregor VIII. (Anm. 43), S. 177 f. Vgl. Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum
(Anm. 58), VII,19. »Vom Bischof von Soisson wird berichtet, er habe im Jahre
1135 drei Männer und zwei Frauen für ein schönes Pferd gezahlt, um einen
›feierlichen‹ Einzug in seine Metropole halten zu können.« Meyer, Mensch und
Pferd (Anm. 6), S. 169.
63 Zu Wipos Äußerung, dass Konrad II. vom Sattel aus regiert habe, vgl. Hans Kurt
Schulze, »Königsherrschaft und Königsmythos. Herrscher und Volk im politischen
Denken des Hochmittelalters«, in: Festschrift für Berent Schwineköper. Zu seinem
siebzigsten Geburtstag, hg. v. H. Maurer/H. Patze, Sigmaringen 1982, S. 177–186,
181.
262 Udo Friedrich

von seiner Fähigkeit abhing, in Waffen ein Pferd zu besteigen.64 Nicht eine
geistige Kompetenz entscheidet, wie in der Moderne, sondern eine körper-
liche Fertigkeit.
Auch die Konstruktion von Geschichte (Sagen) folgt offenbar diesem
Inszenierungstyp. Wie sehr sich gerade auf höchster Ebene Herrschaft an den
Akt des Reitens bindet, belegt die Sage von Heinrich dem Vogler. Nach der
Überlieferung Arnolds von Lübeck überraschen anlässlich der Königserhe-
bung Heinrichs I. die Boten den Prätendenten beim Vogelstellen in der
Scheune. Seine Frau bewirtet die Gäste und lässt nach ihrem Mann schicken:
illa clam misit equos marito, ut equitando domum intraret, quasi de via
venisset.65 Bereits vor der anstehenden Erhebung bedarf es der adäquaten
Statusdemonstration. Geradezu als Wechsel einer Kulturstufe beschreibt Cos-
mas von Prag den politischen Gründungsakt des böhmischen Volkes, das
wild und gewissermaßen im Einklang mit der Natur lebt bis zu dem Zeit-
punkt, als ihnen mit Hilfe von Auguren ihr Herrscher zugewiesen wird, der
als Ackerbauer auf dem Land lebt. Der überraschte Primyl wird noch an Ort
und Stelle mit verschiedenen Herrschaftsinsignien ausgestattet und besteigt
gewissermaßen als Inthronisationsakt ein Pferd: Post hec indutus veste prin-
cipali et calciatus calciamento regali acrem ascendit equum arator.66 Deutli-
cher noch als im ersten Fall wird erkennbar, dass mit der Erhebung ein
Statuswechsel sich vollzieht, durch den die Nähe zum bäuerlichen Milieu
sichtbar abgewiesen wird.
Die aufgeführten Fälle aus dem Feld mittelalterlicher Historiographie
bezeugen deutlich den Statusindex des Pferdes. Im literarischen Kontext wird
diese Form zum frei verfügbaren Darstellungsmittel. Gerade weil es ein
zentraler Index von Herrschaft ist, ist das Pferd auch Erkennungszeichen für
vorbildliche Herrscher. Die Fähigkeit, ein Pferd in seine Gewalt zu be-
kommen, wird zum Ausweis von Herrschaftstauglichkeit, wenn, im Herzog
Ernst der König der Cyklopen seinen Standesgenossen mit Hilfe einer
Pferdeprobe erkennt.67 In Konrad Flecks Flore und Blanscheflur ist die

64 Sachsenspiegel: Landrecht, 52, §1; vgl. die Abbildung: Wolfenbütteler Bilderhand-


schrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, I. Faksimile, hg. v. R. Schmidt-Wiegand, Berlin
1993, fol. 22r.
65 Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum (Anm. 58), II, 18, S. 138. Arnold be-
schreibt auch ausführlich die Statusrivalität zwischen dem byzantinischen Kaiser
und König Konrad. Letzterer widersetzt sich der Forderung nach einem Demuts-
gestus und erreicht nach komplizierten Verhandlungen, dass sich beide Herrscher
zu Pferd auf gleicher Ebene begegnen: ut in equis se viderent, et ita ex parilitate
convenientes sedendo se et osculando salutarent. Chronica Slavorum I,10, S. 122 f.
Ludwig der IX. von Frankreich (+1270) reitet mit Reliquien in Notre Dame bis
zum Altar und übergibt sie der Kirche. Brückner, Roß und Reiter (Anm. 57),
S. 144–209, S. 182.
66 Cosmae Pragensis, Chronica Boemorum. Die Chronik der Böhmen des Cosmas
von Prag, in: MGH Scriptores rerum Germanicarum novae series, unter Mitarbeit
v. W. Weinberger hg. v. Berthold Bretholz, Berlin 1923, tomus II, I,7, S. 17.
67 der recken er sich underwant / und hiez dô ziehen sâ zehant / ein vil schoene
castellân, / starc unde wol getân, / vür in ûf den hof dar. / dâ bî wolde er nemen
war / welher der tiurste waere. / Ernest der degen maere / zehant nâch dem zoume
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 263

Funktion des Pferdes als Herrschaftsindex auf komplizierte Art reflektiert.


Das einzigartige Pferd, das in seiner Außerordentlichkeit und Farbigkeit an
das bunte Pferd Enites erinnert, trägt auf seinem Körper eine Art Natur-
schrift: daz was von natûre schône / entworfen âne mannes list. Was auf dem
Pferd in Schriftform erscheint, ist aber die natürliche Zuordnung von Herr-
schaftsanspruch und außerordentlichem Pferd: mich sol niemen rîten / wan
der wert sî der krône.68 In der Fiktion entwirft der Adel seine eigene Art von
Naturschrift.
Doch unterscheiden sich die Formen der Übermächtigung, rivalisieren
physische Gewalt, Naturmystik und Technologie miteinander. Heroen wie
Thidrek oder Reinolt von Montelban erweisen ihre Überlegenheit auf rein
physischer Ebene.69 Alexanders Macht zeigt sich in der Bezwingung und
Instrumentalisierung des wilden Pferdes Bucephalus an, dessen Zähmung
allein durch den Blick Alexander die Herrschaftsprophetie erfüllt.70 Diese
naturmythische Form wird aber in der späteren Fassung des Ulrich von
Etzenbach durch eine technische ersetzt: der jugendliche König legt dem
Pferd selbst Zaum und Sattel auf.71 Indem er seine Gewalt über das Tier
sichtbar demonstriert, gibt der Herrscher zugleich ein Bild seiner primären
Herrschaftsfunktion ab.72 In ihrer christlich gemilderten Version geht dieser
Gewalthintergrund zugunsten einer providentiellen Ordnung verloren, nicht
aber das instrumentelle Verhältnis zwischen Herrschaft und Volk. Wenn der
Prosa-Lancelot die einzelnen Waffen des Ritters allegorisiert, so funktioniert

greif. / er spranc dar ûf ân stegereif / und reit ez ritterlîche. Herzog Ernst, hg. v.
Karl Bartsch, Hildesheim 1969 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Wien
1869], V. 4601–4611. Zu Belegen aus der Heldenepik vgl. Jähns, Ross und Reiter
(Anm. 6), II, S. 24. Zum Heldenross vgl. Baum, Das Pferd als Symbol (Anm. 38),
S. 57–65.
68 Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur, hg. v. Emil Sommer, Quedlinburg/Leipzig
1846 (Bibliothek der gesammten Deutschen National-Literatur von der ältesten bis
auf die neuere Zeit Abt. 1, 12), V. 2776 f.; 2774 f.
69 Thidrek legt seine Rüstung ab, um Hertnits Pferd zu fangen: Da faßt der
e
Konig das Roß mit der Hand so fest, daß es fiel. Die Geschichte Thidreks von
Bern, übertragen v. Fine Erichsen, Weimar 1942, S. 439. Auch Reinolt überwindet
ein wildes Pferd: Und warff ine [Beyart] wider uff die erde, / Das er die füß uff
kerte […]. Reinolt von Montelban oder die Heimonskinder, hg. v. Fridrich Pfaff,
Tübingen 1885 (BLVS 174), V. 855 f.
70 Auch zwischen Reinald und seinem Pferd Bayart ist der Blick das entscheidende
Band: Da sprach Karle, der degen fyn: / »Reynolt, ir ensolt nit umbsehen; / solang
als uch der frene sicht, / so erdrynket er nicht.« Reinolt von Montelban (Anm. 69),
V. 13206–09. Vgl. V. 13 236–13241.
71 Alexander ergreift das Pferd bei den Ohren und stößt ihm seine Hand ins Maul.
Ulrich von Etzenbach, Alexander (Anm. 57), V. 1680–1683; 1693–1703.
72 Das kann bis zur sexuellen Vereinigung gehen. Gerald von Wales beschreibt einen
irischen Krönungsritus mit vermutlich indogermanischen Wurzeln (Hierogamie),
nach dem ein König in Anwesenheit seines Stammes ein weißes Pferd sodomisiert,
sich selbst als Tier deklariert und anschließend gemeinsam mit seinem Stamm das
Tier verzehrt. Gerald von Wales, Topographia Hibernie. Text of the First Version,
ed. by John J. O’Meara, Proceedings of the Royal Irish Academy 52. Sec, Dublin
1948/50, III, S. 168; Vgl. Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Gesamtdar-
stellung ihrer Kultur, Wien 1997, S. 537–542.
264 Udo Friedrich

zumindest die Allegorese des Pferdes nicht ohne reale Fundierung im Herr-
schaftsverständnis jener Zeit:
Das roß da der ritter off siczt das muß yn tragen wo er hien wille. Das bezeichent
das volck. Als glich als er das roß fúret war er will, also glich múßen sie yn tragen
und muß er sie leyten war er wil zu allen nöten, umb das er sie beschirmen muß,
und sie múßen im gewinnen alles das er bedarff.73
Hier hat die christliche Codierung die politische Semantik usurpiert. Statt als
Index wilder Energien fungiert das Pferd als Repräsentant der Schwachen,
die eine christlich-feudale Fürsorge zu schützen und zu lenken hat, aber auch
als Ressource zu nutzen versteht: die feudale Adaptation der Mängelwesen-
these.

7. Genealogie des Rittertums

So wie der Ritter sich wortgeschichtlich vom Pferd ableitet, wird die Instru-
mentalisierung des Pferdes standesspezifisch lesbar: Omnis nobilitas ab
equo.74 Die privilegierte Verbindung von Adel und Pferd lässt sich dadurch
als feudaler Ursprungsmythos konstruieren, als ein historisch festmachbarer
Gründungsakt des Rittertums. Jenseits der klassischen translatio imperii-
Theorie, nach der auch der Transfer des Rittertums gedacht wird, entsteht ein
Ursprungsmodell, das weit früher ansetzt.75 Der Prosa-Lancelot erzählt nicht
nur die Geschichte vom Untergang des Artusrittertums, er bietet zu Beginn
auch seinen Ursprungsmythos. Die Erzählung der Fee ist eine Hybridbildung
christlicher und feudaler Standpunkte. In deutlicher Anspielung auf die Bibel
o
– Wir hetten allesampt einen vatter und ein mutter von allererst – entwirft sie
eine Art säkularen Sündenfall, nach dem das Rittertum als Ordnungsinstanz
zu der Zeit notwendig wurde, als die ursprünglich gleichen Menschen
begannen, durch Gewalt einander zu unterdrücken. Dem christlichen Autor
wird nicht Gewalt zum genuinen Kennzeichen des Rittertums, wie manchem
Kleriker, sondern eine ethische Haltung. Damit projiziert der Text das Ethos
des miles christianus, wie es im 12. Jahrhundert aufkommt,76 in einen
urzeitlichen Ursprung zurück.
Christliche und feudale Argumentation werden sichtbar aufeinander abge-
stimmt. Indem sich einerseits nur Edelleute als Ritter eignen, andererseits ein
plebiszitäres Wahlverfahren über die Eignung bestimmt, werden feudale und
christlich-kommunitäre Anforderungen harmonisiert. Entscheidend sind ent-

73 Lancelot (Anm. 25), I, S. 122. Ackermann-Arlt, Pferd (Anm. 26), S. 295.


74 Jähns, Ross und Reiter (Anm. 6) II, S. 55 (nach einem mittelalterlichen Sprich-
wort). Brückner, Roß und Reiter (Anm. 57), S. 181.
75 Zur römischen Genealogie vgl. Moriz von Craûn. Mittelhochdeutscher Text nach
der Ausgabe v. Ulrich Pretzel. Übersetzung, Kommentar und Nachwort v. Albert
Classen, Stuttgart 1992, V. 108–125. Bumke, Studien zum Ritterbegriff (Anm. 8),
S. 35.
76 Fleckenstein, »Entstehung des niederen Adels und das Rittertum«, in: Ordnungen
(Anm. 9), S. 343.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 265

sprechend zum einen körperliche Voraussetzungen: Das waren alle die


stercksten und die meysten und die schönsten und die könsten und die
getruwesten, diß waren alles die byderbsten waren mit dem libe und mit dem
herczen.77 Zum andern ein Ensemble christlicher Einstellungen.
Zentral für das Verhältnis von Ritter und Pferd ist indes, dass der feudale
Mythos auch die kulturgeschichtliche Schwelle der Domestikation usurpiert:
›Nu wißent das‹, sprach sie, ›das nye dheyn man uff pfert gesaß ee dann
ritterschafft funden wart, das saget uns die schrifft, wann die ritter zu
allererst begunden ryte, da von sint sie ritter geheißen.78 Die Figur genea-
logischer Legitimation, an der sich die Herrschaftslegitimation von Völkern
und Sippen im Mittelalter so fasziniert orientiert, wird hier auf den Stand
übertragen.79 Der feudale Ursprungsmythos macht dabei nicht nur sichtbare
Anleihen beim biblischen. Zugleich imaginiert eine Gewaltkultur ihren Ur-
sprung als kulturgeschichtliches Ereignis wie als moralisch legitimierten
Auftrag. Die historisch-politischen Ursprünge, aus denen die Schutzfunktion
des Rittertums gegenüber äußeren Invasoren im 8./9. Jahrhundert entstanden
ist, transformiert sich in einen allgemeinen sozialen Ordnungsanspruch.
Die Imagination des Standesursprungs, d. h. die ständespezifische Deutung
des zivilisationsgeschichtlichen Faktums, lässt sich darüber hinaus umkehren
und mit providentiellem Sinn aufladen. Dabei wird die Existenz des Pferdes
nunmehr teleologisch mit der Notwendigkeit sozialer Differenzierung be-
gründet:
Quum inter cetera animalia a summo rerum opifice evidenter creata usui humani
generis immediate subjecta nullum animal est equo nobilius, eo quod per ipsum
principes, magnates et milites a minoribus separantur, et quia nisi ipso mediante
dominus inter privatos et alios decenter discerni non posset.80

Nicht das Pferd wird zur Ursache des Ritters, wie es der Ursprungsmythos
des Prosa-Lancelots entwirft und wie es auch den historischen Voraus-
setzungen entspricht, sondern umgekehrt die Existenz des Adeligen wird
zum Daseinsgrund des Pferdes. Ritter und Pferd lassen sich wechselseitig

77 Lancelot (Anm. 25), I, S. 120.


78 Ebd. I, S. 121. Ohly, Pferde im Parzival (Anm. 21), S. 888. Die Sequenz beinhaltet
durchaus mehr als eine »profane Feststellung«. Ackermann-Arlt, Pferd (Anm. 26),
S. 296.
79 Zur Figur der Genealogie vgl. Ralph Howard Bloch, Etymologies and Genealogies.
A Literary Anthropology of the French Middle Ages, Chicago/London 1983.
80 Jordanus Ruffus, Hippiatrik, hg. V. H. Molin, Padua 1818, S. 1. Noch im 16.
Jahrhundert kann die Genealogie des Pferdes mit seinem Zeichenwert als Index
sozialer Differenzierung legitimiert werden: VNder allem zamen vihe […] / ist das
e
pferdt oder ross mit sunderlicherer schone / form vnd gestalt / dapfferem adelichem
e
gemut / stoltzem geradem leib / sunderlichen begabt worden / darmit durch sollichs
thier / die ehr vnd würdigkeyt hoher adelicher personen / scheynbarer würde […]
aber sunderlichen ist dises thier den hohen adelichen vnd fürtrefflichen personen /
jrer ehrwürden vnd glori zuo mehrerm scheyn geordnet / […]. Was würde auch für
ein vnderscheyd sein / so beyde Fürsten / Herren vnd der Adel / gleich dem
o e
gemeynen mann / zufuß lauffen mußten? Michael Herr, Thierbuch, Straßburg 1546,
r
Bl. 32 .
266 Udo Friedrich

voneinander ableiten, wobei die invertierte Teleologie die feudale Stände-


ordnung mit einem providentiellen Mehrwert aus der Natur versieht. Der
Adel konstituiert sich im Horizont einer allgemein anerkannten christlichen
Teleologie der Natur als besonderer Zweck der Schöpfung, gewissermaßen
als Auserwählte gegenüber den übrigen Menschen. Von daher ist es nicht
zufällig, dass sich die feudale Bestimmung des Pferdes selbst in einem
biblischen Text neben der landwirtschaftlichen plazieren lässt.
Man merket wol des rosses craft
Wa man sol uben ritterschaft:
[…]
Job, besinne und vernym,
Sich, dise wunder [Kraft,
Hoffahrt, Tapferkeit, Uner-
schrockenheit] hat an im
Das ros und ist also gekart
Von nature und von art
Und von den synnen, di im Got
Hat ingevlozzen sunder spot,
Der iz durch den menschen schuf:
Nicht alleine durch behuf
Den dorferen, di gar wacker
Sint mit pherden uf dem acker,
Sunder das man uf in ryte
Und durch rechten vride strite
Und durch di gerechtekeit,
Di aller dinge wage treyt.81
Die Semantisierungstrategien, denen das Pferd unterzogen wurde, betreffen
zentrale ›kulturelle‹ Positionen von Kirche und Adel. Im Horizont der Kleri-
kerkultur werden vor allem technologische und ethische Positionen formu-
liert: das Pferd als Instrument, das die Defizite des Mängelwesens Mensch
kompensiert; aber auch das Pferd als Zeichen des Körpers, als Inbegriff von
Sinnendynamiken, die durch die ratio gezügelt werden müssen. Diese Posi-
tionen fügen sich in die dominanten Modelle theologischer ›Kulturtheorie‹
ein, die als Form der Bewältigung des Sündenfalls entworfen werden: Nackt-
heit und Wildheit. Sie bilden gewissermaßen den historischen Diskursrah-
men, aus dem heraus die einzelnen Argumente sich speisen: Demonstration
von technischer und ethischer Herrschaft über das Tier, auch über das
innere.
Eine gegenläufige Position formuliert die Adelsliteratur, in der sich Spuren
einer besonderen Nähe des Ritters zum Pferd, zu seinem zentralen Standes-
attribut, aufzeigen lassen. Das Pferd ist für den Adeligen nicht nur lebens-
weltliche Realität und konkretes Instrument politischer Macht, es wird auch
zur komplexen Einschreibefläche für das ›kulturelle‹ Selbstverständnis des

81 Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob aus der Handschrift des
Königlichen Staatsarchivs zu Königsberg, hg. v. Torsten E. Karsten, Berlin 1910
(DTM 21), V. 14 547–14588.
Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter 267

Adels. Niederschlag findet solches Selbstverständnis nicht in gelehrten theo-


retischen Diskursen, vielmehr artikuliert es sich in eher topischen Bild-
entwürfen und Handlungsmustern, die Historiographie, Epik und bisweilen
die programmatischen Passagen einzelner Fachtexte durchziehen. Ganz un-
terschiedliche Ebenen adeliger Existenz sind davon betroffen: Reiten als
kulturelle Basistechnik in Sozialisationsentwürfen, Affektsymbiose zwischen
adeligem Reiter und Pferd; das Pferd als ethischer Spiegel, als demon-
stratives Herrschaftszeichen im politischen Zeremoniell, bisweilen sogar im
Rechtskontext, schließlich als Garant genealogischer Auszeichnung.
Die Semantisierung legt sich letztlich über die konkrete Funktion des
Pferdes als reales Instrument. Während Theologen diese Funktionalisierung
in eine Kulturtheorie einbetten, gewissermaßen sie mit einem übergeordneten
Sinn ausstatten (Domestizierung), projiziert die feudaladelige Perspektive ihr
eigene, vermeintlich genuine Verhaltensmuster, d. h. ihre symbolische Ord-
nung, auf das Pferd und phantasiert sie in literarischen Entwürfen aus. Beide
Positionen stehen sich nicht absolut gegenüber, können sich vielmehr partiell
überschneiden, wie an der politischen Herrschaftsmetaphorik sichtbar wird.
Melusinengeschichten im Mittelalter
Formen und Möglichkeiten ihrer diskursiven
Vernetzung

Beate Kellner (Dresden)

Als sogenanntes ›Konzeptschlagwort‹ ist die Vorstellung von einer Ger-


manistik als Kulturwissenschaft heute in aller Munde, doch selten verbirgt
sich ein klares Programm dahinter, denn gleichermaßen wird der Begriff als
Chiffre eingesetzt für Interdisziplinarität, Sozialgeschichte, Mentalitätsge-
schichte, historische Anthropologie, Mediengeschichte und die verschie-
denen poststrukturalistischen Verfahrensweisen. Angesichts der Vielfalt der
Themen und der Pluralität der Methoden, die mit der immer wieder geäußer-
ten Forderung nach einer Integration der Geisteswissenschaften in eine
fächerübergreifende Kulturwissenschaft1 auch in den mediävistischen Dis-
ziplinen zunehmend ins Spiel kommen, befürchten viele Kritiker – nicht zu
Unrecht – einerseits einen wahllosen Eklektizismus, in dem sich nicht nur die
philologischen Leistungen und Tugenden mediävistischen Arbeitens ver-
lieren, sondern die Literaturwissenschaft auch ihres eigentlichen Gegen-
standes, der hermeneutischen Erschließung einzelner Texte, verstanden als in
sich geschlossener Werke, verlustig geht.2 Auf der anderen Seite wird –
gegenläufig dazu – der Vorwurf laut, in einer Reihe von kulturgeschichtli-
chen Beiträgen würde lediglich alter Wein in neue Schläuche gegossen,
indem traditionelle und bewährte Verfahren mutatis mutandis weiterverfolgt,
aber unter anderen Etiketten dargeboten würden, – um der Altgermanistik so
unter den Titeln von New Medievalism, Modernes Mittelalter, New Philo-
logy, New Historicism lediglich den Anstrich des Neuen und Modischen zu
verleihen.
Eine der alten Fragen, die im Anschluss an aktuelle kulturgeschichtliche
und kulturtheoretische Konzeptionen neu verhandelt werden, ist dabei jene

1 Vgl. etwa Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, hg. v. W. Frühwald/H. R.


Jauß/R. Koselleck u. a., Frankfurt a. M. 19962.
2 Stellvertretend für andere Kritiker sei verwiesen auf Walter Haug, »Literaturwissen-
schaft als Kulturwissenschaft?«, DVjs 73, 1999, S. 69–93, prägnant S. 85 f.; vgl.
dazu Gerhart von Graevenitz, »Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften.
Eine Erwiderung«, ebd., S. 94–115; und Walter Haug, »Erwiderung auf die Erwide-
rung«, ebd., S. 116–121.
Melusinengeschichten im Mittelalter 269

nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft bzw. von Literatur und
Geschichte.3 Gehörte die Bestimmung von literarischem Text und histo-
rischem Kontext seit den Anfängen der Mediävistik zu ihrem Métier, so
wurde die Erschließung der Literatur aus ihren gesellschaftlichen Hinter-
gründen zum besonderen Anliegen der sozialgeschichtlichen Forschungen
der 70er und 80er Jahre. An seine Grenzen stieß das Projekt der Sozialge-
schichte dort, wo man literarische Texte als Spiegel der historischen Wirk-
lichkeit verstand, als Dokumente historisch-gesellschaftlicher Faktizität.4
Mentalitätsgeschichtliche Forschungen5 und insbesondere die neueren Bei-
träge zur historischen Anthropologie6 versuchen daher von einer direkten
Referenzialisierung der Literatur auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ab-
zusehen. Sie verstehen Texte vielmehr als Repräsentationen, die bereits
Erfahrungen, Wahrnehmungen, Deutungen, ›Verarbeitungen‹ von Wirklich-
keit voraussetzen7 und die insofern – wie Georges Duby es einmal formuliert
hat – als Bilder der sozialen und historischen Gegebenheiten zu nehmen
sind.8 Da der Akzent dieser Richtungen auf der Erhebung anthropologischen
Materials vergangener Epochen liegt, droht allerdings die ästhetische Dimen-
sion der Literatur, ihre spezifische materielle und mediale Form auch hier aus

3 Ursula Peters sieht darin eine der Hauptlinien der gegenwärtigen Diskussion: Vgl.
Ursula Peters, »Zwischen New Historicism und Gender-Forschung. Neue Wege der
älteren Germanistik«, DVjs 71, 1997, S. 363–396, hier S. 365, S. 370–379.
4 Vgl. etwa die Kritik von Jan-Dirk Müller, »Aporien und Perspektiven einer Sozial-
geschichte mittelalterlicher Literatur. Zu einigen neueren Forschungsansätzen«, in:
Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung – zwei Königs-
kinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, Kontroversen alte
und neue, hg. v. W. Vosskamp/E. Lämmert, Tübingen 1986, (Akten des VII.
Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 11), S. 56–66; vgl.
Peters, Zwischen New Historicism (Anm. 3), S. 370–373.
5 Vgl. zur Position der Literatur innerhalb der Mentalitätsgeschichte etwa Ursula
Peters, »Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problema-
tik einer neueren Forschungsrichtung«, in: Germanistik – Forschungsstand und
Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, hg. v. G. Stötzel, Bd.
II, Berlin/New York 1985, S. 179–198.
6 Vgl. dazu besonders folgende Forschungsberichte: Ursula Peters, »Historische An-
thropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären
Forschungsdiskussion«, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. v.
J. Janota/P. Sappler/F. Schanze u. a., 2 Bde., Tübingen 1992, Bd. 1, S. 63–86;
Christian Kiening, »Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Kon-
zepte, Ansätze, Perspektiven«, in: Forschungsberichte zur Germanistischen Medi-
ävistik, hg. v. H.-J. Schiewer, Bern/Berlin/Frankfurt a. M. u. a. 1996 (Jahrbuch für
internationale Germanistik C, 5/1), S. 11–129.
7 Im Zusammenhang mentalitätsgeschichtlicher Forschungen wurde hier von einer
»dritten Ebene« gesprochen. Vgl. die Diskussion bei Hagen Schulze, »Mentalitäts-
geschichte – Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichts-
wissenschaft«, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36, 1985, S. 247–270,
hier S. 250–263; Sabine Jöckel, »Die ›histoire des mentalités‹: Baustein einer
historisch-soziologischen Literaturwissenschaft«, Romanistische Zeitschrift für Li-
teraturgeschichte 11, 1987, S. 146–173.
8 Georges Duby, »Histoire sociale et idéologie des sociétés«, in: Faire de l’histoire,
Bd. 1, hg. v. J. Le Goff/P. Nora, Paris 1974, S. 147–168, hier S. 148.
270 Beate Kellner

dem Blick zu geraten. Literarische Texte werden – ganz besonders in seriell


angelegten Untersuchungen – nicht selten als Bausteine für die Rekonstruk-
tion einer ›histoire de l’imaginaire médiévale‹ verwendet, Literatur gerät auf
diese Weise in eine Art Zulieferrolle.
Das Problem liegt also nach wie vor in der Verhältnisbestimmung von
literarischem Text und außerliterarischem Kontext: Die Leitfrage bleibt, wie
die Literatur ins kulturelle Archiv einer Zeit eingebunden ist. Angesichts
dieser konzeptionellen Schwierigkeiten ist zu prüfen, was die in der Medi-
ävistik noch kaum rezipierten neueren Vorschläge im Umkreis poststruk-
turalistischer Theoriebildung hier zu leisten vermögen. Historische Auf-
schlusskraft versprechen insbesondere die Verfahren der Diskursanalyse und
des sich davon – zumindest partiell – ableitenden New Historicism.9 Ich
möchte meine folgenden Ausführungen hier situieren und zunächst – im
Anschluss an die bisherigen Überlegungen – erläutern, warum es sich lohnen
könnte, diese Ansätze in die mediävistische Diskussion einzubringen und in
der konkreten mediävistischen Arbeit auf ihre Chancen und Risiken zu
erproben sowie weiter zu denken:
Wie ältere kulturgeschichtliche Verfahren favorisiert die Diskursanalyse
den Bezug der Texte auf die kulturellen Felder, die sie hervorgebracht haben,
doch werden diese nicht als autonome Erzeugnisse quasi omnipotenter Au-
toren verstanden, sondern als Knoten verschiedener diskursiver Formationen,
als Ausdruck historisch materieller Konstellationen, in denen sich kollektive
und individuelle Impulse, soziale und psychische Gehalte auf je spezifische
Weise verbinden. Insofern richtet sich das Untersuchungsinteresse weniger
auf die Erforschung von Autorprofilen und Autorœuvres, als vielmehr auf die
Rekonstruktion von Diskursen. Im Anschluss an Foucaults Entwürfe in der
›Archäologie des Wissens‹ lassen sich Diskurse wiederum als Bündel von
›Aussagen‹ verstehen, die einem gleichen Formationssystem angehören:10
Als Rahmenbedingungen von Texten bilden sie eine Art Regelsystem aus,
formale Prinzipien, welche sich historisch verändern und immer wieder neu
vorgeben, was in bestimmten historischen Situationen zu bestimmten The-
menbereichen geäußert werden kann.11 Ziel von diskursanalytischen Unter-
suchungen ist es daher, zu jenen Schichten oder besser Ordnungen des
›Wissens‹ vorzudringen, die sich in verschiedenen Textfeldern, Redeordnun-
gen und Disziplinen manifestieren. Der Blick richtet sich auf strukturell und
thematisch ähnliche Formationen dieses Wissens, ohne dabei nach kausalen
Abhängigkeiten, Einflüssen und den Intentionen personaler Sprecher zu
fragen.
Diese theoretischen Grundlagen haben Konsequenzen für die Bestimmung
des Verhältnisses von Literatur und Geschichte, denn deren Relation lässt

9 Peters, Zwischen New Historicism (Anm. 3), S. 375, äußert Verwunderung darüber,
dass etwa der New Historicism im Bereich der Mediävistik noch kaum rezipiert
worden ist.
10 Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übersetzt v. U. Köppen, Frankfurt
a. M. 19946, S. 113–190.
11 Vgl. ebd., S. 31–112.
Melusinengeschichten im Mittelalter 271

sich nicht mehr einsinnig als Bezug zwischen dem literarischen Text und
seinem historischen Hintergrund verstehen. Versuchten die alte Kulturge-
schichte und die Sozialgeschichte die literarischen Texte kausal aus ihren
soziokulturellen Rahmenbedingungen abzuleiten, also zu erklären, indem sie
den Hintergrund zum nicht mehr weiter befragbaren Fixum deklarierten, so
erweist sich jener in der Perspektive der Diskursanalyse und des New
Historicism selbst als ein Geflecht aus Texten, Bildern und Denkmälern, aus
diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken: Der Hintergrund des Textes
wird zum Kon-Text. Die methodische Folgerung daraus ist zunächst eine
Deprivilegierung der literarischen Texte, sie werden gleichrangig mit histori-
schen und anderen Texten verhandelt.12 Dabei geht es insbesondere um
Übersetzungsvorgänge, Umcodierungsprozesse zwischen den verschiedenen
Diskursen, im Blick auf die Literatur also etwa um Transaktionen zwischen
Literatur und Historiographie, Literatur und Recht, Literatur und Theologie /
Philosophie, Literatur und Medizin / Naturkunde.
Der skizzierte Verzicht auf eine Hierarchisierung der Textfelder, welche
der Literatur von vorne herein einen Sonderstatus zuschriebe, kann nun –
ähnlich wie in der Mentalitätsgeschichte – dazu führen, dass die Literarizität
der literarischen Texte, ihre spezifischen ästhetischen Überschüsse, die ihr
eigene Form der symbolischen Verdichtung, vernachlässigt wird. Dies
scheint mir insbesondere bei jenen Analysen der Fall zu sein, welche Texte
nicht mehr als syntagmatische Einheiten untersuchen, deren Geflecht vom
Anfang bis zum Ende zu entziffern und zu interpretieren ist, sondern sie in
Partikel auflösen, die stets sogleich in diskursiven Aussageformationen, in
Konstellationen von Macht und Wissen zu perspektivieren sind. Ein solcher
streng wissensgeschichtlicher Zugang droht die rhetorisch-stilistische Mach-
art der Texte, ihre Formprinzipien und ihre strukturellen Anlagen zu über-
springen. Dies führt zu einer die Spezifika von Gattungen und Textsorten
nivellierenden Betrachtung, welche letztendlich keinen Unterschied mehr
macht zwischen der Analyse von wissenschaftlichen, historiographischen,
literarischen und anderen Texten. Oder anders formuliert: Hier geht es
weniger um die je besonderen Sprechweisen der verschiedenen Diskurse,
sondern eher um eine Erhebung von Wissen in Form von Materialien, Daten,
Fakten.13
Versucht man demgegenüber, den spezifischen ästhetischen Qualitäten der
Literatur Rechnung zu tragen, bietet es sich an – und dies wäre mein

12 In seinen frühen Arbeiten weist Foucault der Literatur noch eine Sonderrolle zu,
indem er sie als ›Gegendiskurs‹ bestimmt, welcher die in den anderen Diskursen
festgeschriebenen Ordnungen des Wissens konterkariert. Vgl. Michel Foucault,
Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, darin besonders S. 130–156. In
seinen späteren Schriften ist von einem solchen Status dagegen nicht mehr die
Rede. Zum Literaturbegriff Foucaults in den verschiedenen Schaffensphasen vgl.
etwa Detlev Kremer, »Die Grenzen der Diskurstheorie Michel Foucaults in der
Literaturwissenschaft«, in: Vergessen. Entdecken. Erhellen. Literaturwissenschaft-
liche Aufsätze, hg. v. J. Drews, Bielefeld 1993 (Bielefelder Schriften zur Linguistik
und Literaturwissenschaft 2), S. 98–111, hier S. 98–106.
13 Vgl. Foucault, Archäologie (Anm. 10), prägnant S. 182, S. 261.
272 Beate Kellner

Vorschlag –, traditioneller vom Einzeltext und seiner genauen literaturwis-


senschaftlichen Beschreibung als syntagmatischem Zusammenhang auszu-
gehen.14 Dass die Lektüre von Einzeltexten nicht der alleinige Gegenstands-
bereich von Analysen sein kann, die sich im Umfeld von Diskursanalyse und
New Historicism situieren, ergibt sich dabei schon aus dem Anliegen der
Vernetzung. Doch scheint sie mir ein sinnvoller Ausgangspunkt der Unter-
suchung zu sein, um den Einzeltext dann gewissermaßen im zweiten Schritt
in seinen diskursiven Verbindungen zu perspektivieren, denn: Jeder Text lässt
sich als Bündel von diskursiven Fäden auffassen, welche in verschiedene
Diskurszusammenhänge hinein zu verfolgen sind. Die verschiedenen dis-
kursiven Formationen, die den Text kreuzen, prägen seine polysemische
Struktur, und es ist zu fragen, wie sie in ihm zum Austrag kommen. Gerade
indem der Text einerseits einer genauen literaturwissenschaftlichen Analyse
unterzogen und andererseits in seinem diskursiven Umfeld perspektiviert
wird, kann, so meine Hypothese, das Eigene der Literatur hervortreten, ihre
spezifische Codierungsform.

II

Versucht man diskursanalytische Methoden an Texten und Materialien aus


dem Mittelalter zu erproben, so kann es nicht um eine bloße Übernahme der
zumeist unter Rekurs auf die Neuzeit entwickelten Verfahrensweisen gehen,
sondern vielmehr sind die Konzepte anzupassen im Blick auf die besonderen
historischen, sozialen, institutionellen und medialen Voraussetzungen und
Bedingungen mittelalterlicher Textualität:
Erstens ist im Vergleich zum neuzeitlichen Archiv auf die erheblich
geringere Menge der aus dem Mittelalter überlieferten Daten zu verweisen,
wodurch es erschwert und in vielen Fällen unmöglich gemacht wird, dis-
kursive Vernetzungen aufzuzeigen. Zweitens ist für die mittelalterlichen
Ordnungen des Wissens nicht mit einer komplexen Ausdifferenzierung der
Diskurse zu rechnen, sondern vielmehr mit ihrer noch recht weitreichenden
Verflechtung, weshalb die jeweiligen Aussagen häufig nicht im strikten Sinne
bestimmten Redeordnungen zuzuweisen sind. So berühren sich – um immer-
hin einige Beispiele anzudeuten – nicht nur Literatur und Historiographie
immer wieder aufs engste, sondern poetische Texte finden sich mitunter auch

14 Foucaults Frontstellung gegen die Hermeneutik, die er selbst bei der konkreten
Analyse von Texten und Bildern immer wieder zu suspendieren scheint (ich
erinnere z. B. an die berühmte Interpretation der ›Hoffräulein‹ oder die Ein-
lassungen zu Don Quichotte in der Ordnung der Dinge; vgl. Michel Foucault, Die
Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übersetzt v. U.
Köppen, Frankfurt a.M. 1971, S. 31ff.; S. 78ff.) und die man heute wohl wissen-
schaftsgeschichtlich als Frontstellung gegen eine bestimmte einsinnige Form der
Hermeneutik einordnen müsste, möchte ich daher gerade nicht übernehmen. In
solchem Sinne nähert sich auch der New Historicism der Hermeneutik wieder an.
Melusinengeschichten im Mittelalter 273

im wissenschaftlichen (z. B. im naturkundlichen, medizinischen, theologi-


schen, philosophischen) Kontext, und wissenschaftliche Thesen werden nicht
selten über Figuren und Exempla aus der Literatur belegt.15 Solche Ver-
schränkungen sind kaum mit (letztlich an den wissenschaftsgeschichtlichen
Bedingungen der Neuzeit abgelesenen) Konstrukten wie wissenschaftliche
und nicht-wissenschaftliche, fiktionale und nicht-fiktionale, realitätsnahe
und realitätsferne Texte analytisch zu fassen. Vielmehr könnte ein diskurs-
analytischer Zugriff, der Texte im Rahmen übergeordneter Strukturen und
Praktiken anzusiedeln versucht, gerade hier weiterführend sein.
Drittens ist stets mit einem Hiat zwischen jenen Formationen des Wissens
zu rechnen, welche in den gelehrten lateinischen Diskursen sedimentiert sind,
und dem anderen Wissen, das in den Volkssprachen kursiert. Die gelehrten
Diskurse, die vorwiegend durch Kirche, Universität und Schule oder auch
durch den Hof, seine Herrschaftsmechanismen und Administrationsformen,
institutionell gebunden sind, erweisen sich als offizielle Rede, als eine Rede,
die mit einer Fülle theologischer und politischer Prämissen befrachtet ist. Zu
ihrer hier nur angedeuteten starken institutionellen und traditionsgeschichtli-
chen Bindung gehört, dass diese Diskurse weitgehend heteronom bestimmt
sind, sie sind ganz offensichtlich von den Praktiken der kirchlichen und
politischen Macht bestimmt. Das in den Volkssprachen zu Tage tretende
Wissen scheint demgegenüber prima vista von den beschriebenen institutio-
nellen Bindungen und heteronomen Zwängen deutlich entlasteter zu sein.
Was an Wissensformen aus den gelehrten Diskursen etwa in der volks-
sprachlichen Literatur präsentiert wird – konzentriert man die Überlegungen
in Hinsicht auf die folgenden Analysen nun auf sie –, erscheint häufig
anonymisiert, ja so sehr vergröbert, dass es sich kaum mehr einzelnen
Schultraditionen oder gar einzelnen personalen Autoritäten und konkreten
institutionellen Zusammenhängen zuweisen lässt. Pointiert könnte man von
den wohl komplementären Tendenzen zur Vulgarisierung und Anonymisie-
rung des Wissens in der Volkssprache im Vergleich zu den gelehrten Dis-
kursen sprechen. Diese Vergröberungen bedeuten zwar einen Verlust an
Genauigkeit, doch sie bringen auf der anderen Seite – und das ist entschei-
dend – einen Gewinn an Freiheit mit sich: Wissenselemente aus den ge-
lehrten Diskursen werden bei ihrer Übertragung in die Volkssprache um-
codiert, erscheinen in neuen Konfigurationen und können so auch anderen,
etwa spezifisch literarisch-ästhetischen Interessen dienstbar gemacht werden.
Jedenfalls stellt sich der Effekt ein, dass die gelehrten lateinischen und die
volkssprachlichen Traditionen eine Art Eigenleben zu führen scheinen.
Diese hier – mit viel zu wenigen Stichworten – skizzierten spezifisch
mittelalterlichen wissensgeschichtlichen Konstellationen ließen sich von ei-
ner geistesgeschichtlichen Methode, die immer wieder versuchte, konkrete
und möglichst personal zurechenbare Einflüsse zwischen den Traditions-

15 Vgl. dazu, um ein Beispiel aus dem in Frage stehenden Kontext zu bringen, etwa
die Verweise auf Merlin, Schwanritter und Melusine in der Naturkunde des
Vincenz von Beauvais. Näheres dazu unter Abschnitt IV.
274 Beate Kellner

strängen auszumachen, gerade nicht einholen. Hier könnten diskursana-


lytische Verfahrensweisen vielleicht größeren Erfolg versprechen, denn sie
richten den Blick auf strukturell und thematisch ähnliche Formationen des
Wissens, ohne dabei nach kausalen Abhängigkeiten und Einflüssen zu fra-
gen. Die knappen Bemerkungen, die eher Fragen und Problemstellungen
aufzeigen als fertige Antworten geben wollen, mögen immerhin eindringlich
vor Augen führen, dass das Projekt einer Diskursanalyse im Blick auf die
Befragung mittelalterlichen Materials historisch differenziert und spezifisch
zugeschnitten werden muss. Im Rahmen dieses Beitrags soll in einer Fall-
studie am begrenzten Material mittelalterlicher Melusinengeschichten nun
ein Vorstoß in diese Richtung unternommen werden.

III

Der Mythos von der Meerfee Melusine16, die sich mit einem sterblichen
Mann verbinden kann, aber – magischem Zwang gehorchend – schließlich in
ihr Reich zurückkehren muss, erfährt im Mittelalter eine Reihe von la-
teinischen und volkssprachlichen Konkretionen: Diese weisen zwar ähnliche
Motivbestände und strukturelle Gemeinsamkeiten auf, sind jedoch – bedingt
durch wechselnde soziale und institutionelle Kontexte und damit verbunden
verschiedene Gebrauchsfunktionen – durchaus unterschiedlich mit den Ord-
nungen des mittelalterlichen Wissens verknüpft. So können die Melusinenge-
schichten – um die beiden wichtigsten diskursiven Vernetzungen vorab zu
benennen – einerseits unter theologisch-naturkundlicher Perspektive erörtert
werden, während sie andererseits durch die Akzentuierung ihrer genea-
logischen Aspekte als Formen adliger Geschlechtermythologie und Elemente
adliger Haushistoriographie hervortreten. Beide Problemstellungen überla-
gern sich nicht selten und sind in den jeweiligen Texten je anders akzentuiert
und konfiguriert. Theologische und naturkundliche Fragen dominieren und
kontextualisieren die lateinischen Erzählungen von Walter Map, Gervasius
von Tilbury, Gaufredus von Auxerre und Vincenz von Beauvais. Für die
spätmittelalterlichen Melusinenromane von Jean d’Arras, Couldrette und
Thüring von Ringoltingen sind dagegen – wiederum in unterschiedlichen
sozialgeschichtlichen Formationen – Fragen der Genealogie und Dynastie
leitend.
Die folgenden Ausführungen wollen diesen verschiedenen diskursiven
Verknüpfungen in detaillierten Analysen nachgehen und das Augenmerk
dabei besonders auf Umcodierungsprozesse zwischen dem gelehrten la-
teinischen Diskurs und jenem der volkssprachlich späthöfischen Literatur
richten. Zu fragen ist, wie sich die genealogische Thematik in den spätmittel-

16 Eine diachrone Übersicht über mittelalterliche und neuzeitliche Melusinenge-


schichten bietet Volker Mertens, »Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos
vom 12. bis zum 20. Jahrhundert«, in: Festschrift Walter Haug und Burghart
Wachinger, hg. v. J. Janota/P. Sappler/F. Schanze u. a., 2 Bde., Tübingen 1992, Bd.
1, S. 201–231.
Melusinengeschichten im Mittelalter 275

alterlichen französischen und deutschen Romanversionen in den Vordergrund


schiebt, und welche Umsemantisierungen sowie Umwertungen der ›Mahrten-
ehengeschichte‹, vor allem aber der Melusinenfigur und ihrer Nachkommen-
schaft, diesen Prozess begleiten. Indem die Melusinengeschichte quer durch
verschiedene Textsorten und in ihren diskursiven Rahmungen verfolgt wird,
lassen sich möglicherweise Einsichten gewinnen in die spezifischen Leis-
tungen der literarischen Manifestationen sowie in das Verhältnis der Literatur
zu anderen Diskursen. Die folgende Anordnung der mittelalterlichen Ver-
sionen ist dabei im strikten Sinne nicht als teleologisch zu verstehen, sondern
es sollen vielmehr alternative mittelalterliche Interpretationen der Sage und
deren diskursive Rahmen und Bedingungen erhellt werden.
Das den Geschichten des ›Melusinentyps‹17 zugrundeliegende Struktur-
schema wurde von der sagengeschichtlich und folkloristisch orientierten
Forschung als das der ›gestörten Mahrtenehe‹ beschrieben,18 denn stets
berichten die Erzählungen von der Liebesbeziehung (und Eheschließung)
eines sterblichen Mannes mit einem überirdischen, dämonischen Wesen auf
der Grundlage eines expliziten bzw. impliziten Tabus, der Zeugung von
Nachkommen, dem Tabubruch bzw. der Entlarvung der dämonischen Natur
des weiblichen Wesens und der Trennung der Partner. Im narrativen Zentrum
der Erzählungen stehen also die Begegnung von ›Menschenwelt‹ und ›An-
derwelt‹ sowie die daraus resultierenden Konflikte, aber auch die Versuche
der Annäherung, Harmonisierung und Integration.19
Strukturalistische und seriell angelegte mentalitätsgeschichtliche For-
schungen unterstrichen die Ähnlichkeit der Geschichten,20 sie versuchten,
aus den literarischen Texten die ›eine‹ Geschichte zu filtrieren, den ›Sagen-

17 Mertens, Melusinen (Anm. 16), S. 202, differenziert den ›Melusinentyp‹, bei dem
es um die Einhaltung eines Tabus als Aufgabe für den menschlichen Partner geht,
vom ›Undinentyp‹, der die Wahrung einer Treuebindung thematisiert.
18 Grundlegend dazu: Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfen-
berg, in der Bearbeitung Ulrich Füetrers hg. v. Friedrich Panzer, Tübingen 1902
(BLV 227), darin das Vorwort S. VII-CXXXIII, hier S. LXXIII-CIX; vgl. Stith
Thompson, Motif-Index of Folk-Literature, 6 Bde., Kopenhagen 1955–1958, B 29,
C 30 f., C 932, F 302, G 245; Lutz Röhrich, Erzählungen des späten Mittelalters
und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart, Bd. 1, Bern/
München 1962, S. 27–61, S. 243–253; ders., »Mahrtenehe: Die gestörte Mahrten-
ehe«, EM 9, 1997, Sp. 44–53.
19 Vgl. Mertens, Melusinen (Anm. 16), S. 202.
20 Vgl. Jacques Le Goff und Emmanuel Le Roy Ladurie, »Mélusine maternelle et
défricheuse«, Annales ESC 26, 1971, S. 587–622; Le Goffs Mittelalterteil findet
sich deutsch in: Jacques Le Goff, Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und
Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts, Weingarten 1987, S. 147–174; Claude
Lecouteux, »La structure des légendes mélusiniennes«, Annales ESC 33, 1978,
S. 294–306; ders., »Zur Entstehung der Melusinensage«, ZfdPh 98, 1979, S. 73–
84; ders., »Das Motiv der gestörten Mahrtenehe als Widerspiegelung der mensch-
lichen Psyche«, in: Vom Menschenbild im Märchen, hg. v. J. Janning, Kassel 1980
(Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft 1), S. 59–71; ders.,
Mélusine et le Chevalier au Cygne, Paris 1982; Françoise Clier-Colombani, La Fée
Mélusine au Moyen Age. Images, Mythes et Symboles, Préface de Jacques Le Goff,
Paris 1991, bes. S. 85–150.
276 Beate Kellner

kern‹, der gewissermaßen hinter den aktuellen Versionen liege und der als der
›eigentliche‹ Baustein einer ›kollektiven Mentalität‹ zu erheben sei. Rekon-
struktionen dieser Art gehen zweifellos zu Lasten der literarischen Eigenart
der Texte, ihrer ästhetischen und medialen Dimensionen sowie ihrer jewei-
ligen historisch-sozialen Funktionen und Gebrauchsformen. In den folgenden
Analysen ist der Fokus daher auf die historische Besonderheit der jeweiligen
Texte zu legen,21 ihre Redestrategien, narrativen Kontexte, intertextuellen
Bezugsfelder, situativen Bindungen und kommunikativen Funktionen. Das
strukturale Gerüst, auf das man die Erzählungen reduziert hat, entfaltet sein
jeweiliges Sinnpotential, so die These, erst in der Bindung an den konkreten
historischen Kontext und als Knoten verschiedener, sich in ihm kreuzender
Wissensformen.

IV

Nimmt man nun zunächst die lateinischen Traditionen in den Blick, so ist bei
Walter Maps Sammlung De nugis curialium (1181/1193) anzusetzen, denn
hier werden eine Reihe von Geschichten präsentiert, denen das Struktur-
schema der gestörten Mahrtenehe zugrunde liegt und die sich zumindest in
einem weiteren Sinne dem ›Melusinentyp‹ zuordnen lassen.22 Da die Erzäh-
lungen im Rahmen der christlichen Dämonologie funktionalisiert sind,23
gerät die Wertung der Mahrtenehen entsprechend negativ, wie exemplarisch
an der Erzählung von Henno cum dentibus (Dist. IV, c. 9) vor Augen geführt
werden soll: Inmitten eines Waldes trifft dieser, dessen Name sich von seinen
großen Zähnen ableitet – und der insofern immer wieder mit der Figur des
Geoffroy aus den Melusinenromanen verglichen wurde – auf ein wunder-
schönes Mädchen, in das er sich auf der Stelle verliebt. Als sich nach der

21 Diese gerät auch in den feministisch orientierten Arbeiten öfter aus dem Blick,
insofern hier – mehr oder minder offensichtlich – versucht wird, die moderne
Geschlechter- und Beziehungsthematik auch in den mittelalterlichen Texten wie-
derzufinden, oder diese – ebenfalls enthistorisierend – im Sinne eines überzeit-
lichen Liebesmodells zu verstehen. Hier sei nur verwiesen auf: Bea Lundt, Melu-
sine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher Existenz im
Beziehungs-Diskurs der Geschlechter, München 1991, S. 41–184; dies., »Schwe-
stern der Melusine im 12. Jahrhundert. Aufbruchs-Phantasie und Beziehungs-
Vielfalt bei Marie de France, Walter Map und Gervasius von Tilbury«, in: dies.,
Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München
1991, S. 233–253.
22 Walter Map, De nugis curialium, revised by Christopher N. L. Brooke and Roger
A. B. Mynors, ed. by M. R. James, Oxford 1983 (Oxford Medieval Texts), Dist. II,
c. 11–13; Dist. IV, c. 8–11. Zu den Varianten siehe Lecouteux, Entstehung (Anm.
20), S. 76 f.; vgl. Laurence Harf-Lancner, Les fées au moyen âge. Morgane et
Mélusine. La naissance des fées, Genève 1984, S. 119–143.
23 Besonders deutlich wird dies an folgender Bemerkung Maps: De nugis curialium
(Anm. 22), Dist. II, c. 12: Audiuimus demones incubos et succubos, et concubitus
eorum periculosos; heredes autem eorum aut sobolem felici fine beatam in
antiquis hystoriis aut raro aut nunquam legimus […].
Melusinengeschichten im Mittelalter 277

Heirat eine herrliche Nachkommenschaft einstellt (ex illa pulcherrimam


prolem suscitat), mutet Hennos Glück vollkommen an, erweist sich jedoch
als trügerischer Schein: Die Schöne vermag sich nicht vollständig in die
normale Welt der Menschen zu integrieren, was namentlich in ihrer Vermei-
dung religiöser Rituale zum Ausdruck kommt. Misstrauisch geworden, spürt
ihr die Schwiegermutter nach und erblickt, wie sie sich im Bad in eine
Schlange verwandelt und nach dem magischen Zerreißen eines Mantels mit
ihren Zähnen wieder zu ihrer menschlichen Gestalt zurückkehrt. Nach dieser
Entdeckung vertreiben Mutter und Sohn das fragwürdige Wesen mit Hilfe
eines Priesters, indem sie es – gleichsam im Sinne eines Exorzismus – mit
Weihwasser besprengen.
Vom Erzähler wird die Mahrte als dämonische pestilencia oder als pes-
sima creatura bezeichnet, die Henno böswillig zur Eheschließung verführt
und sich nur scheinbar in die christliche Ordnung eingefügt habe. Die
Geschichte läuft dementsprechend auf die Ausstoßung des dämonischen
Wesens zu, sie insistiert geradezu auf der strikten Grenze zwischen Men-
schen- und Dämonenwelt, zwischen denen es keine heilbringende Verbin-
dung geben kann und darf. Die proles, die aus dem – zeitweiligen – Konnex
von Mensch und Mahrte resultiert, dient als Argument für die Wahrheit des
Erzählten, das man ohne die körperliche Evidenz der Nachkommen als
unglaubhaften Bruch mit der Naturordnung bewerten könnte. Nur über die
Genealogie lassen sich die ›Spuren‹ der außergewöhnlichen Begebenheit
noch in der Gegenwart des Erzählers nachweisen: Huius adhuc extat multa
progenies.
Negativ ist die Bewertung von Mahrtenehen auch in den zeitlich nahen
Erzählungen aus den Otia imperialia (1209/1214) des Gervasius von Til-
bury.24 So steht die Geschichte von der dominica castri de Espervel (Es-
perver) wiederum ganz im Kontext der christlichen Dämonologie, wie schon
der einleitende Satz verdeutlicht: Frequens est, ut angeli satanæ in angelos
lucis se transforment, et in humanis mentibus aliquid diabolicæ immissionis
nutriant (Tertia decisio, c. LVII). Den bei Map beschriebenen Feen nicht
unähnlich vermag die Frau des Burgherren von Esperver den Moment der
Wandlung im Ablauf der Messfeier nicht zu ertragen. Als sie eines Tages
gegen ihren Willen in der Kirche festgehalten wird, muss sie, magischem
Zwang gehorchend, unverzüglich davon: spiritu diabolico levata avolat. Die
sich anschließenden umfangreichen Ausführungen zur Sakramentenlehre25
bringen die christliche Perspektivierung der Erzählung noch einmal zum

24 Gervasius von Tilbury, Otia imperialia, hg. v. G. W. Leibniz, Hannover 1707


(Scriptores rerum Brunsviciensium 1), Prima Decisio, c. XV, S. 895 f.; Tertia
decisio, c. LVII, S. 978 f. Im folgenden wird die Ausgabe von Leibniz zitiert. –
Vgl. beide Erzählungen auch bei Gervasius von Tilbury, Otia imperialia. Auswahl,
hg. v. F. Liebrecht, Hannover 1856, S. 4–6 und S. 26.
25 Dieser christliche Kontext wird in der Auswahl bei Liebrecht (vgl. Gervasius, Otia
imperialia [Anm. 24], S. 26) nicht abgedruckt. Er wird – bezeichnenderweise –
auch in den strukturalistisch sagengeschichtlich orientierten Forschungen nicht
berücksichtigt.
278 Beate Kellner

Ausdruck, indem sie den Fall der Burgherrin zur Mahnung funktionalisieren,
der Christ dürfe die Kirche nicht vor dem Ende der Messfeier verlassen.
Ganz entsprechend wird eine weitere Erzählung des ›Melusinentyps‹ von
Gervasius im christlichen Rahmen der Sünden- und Bußlehre situiert: So
kommt er im Kontext von Reflexionen über den Sündenfall und die Para-
diesesschlange auf die Frage nach Mischwesen zwischen Mensch und Tier zu
sprechen,26 denn um Eva verführen zu können, habe der Teufel die Gestalt
einer Schlange mit weiblichem Antlitz gewählt: Elegit enim diabolus quod-
dam genus serpentis fœmineum vultum habentis […] (Prima decisio, c. XV).
In Anlehnung daran sei es möglich, dass bestimmte Frauen die Gestalt von
Schlangen annehmen könnten, was zwar skandalös sei, aber durch das
Vorkommen von anderen Mischwesen in der Welt, wie z. B. von Werwölfen,
beglaubigt werde.
Das Exempel des Burgherrn Raimundus (Raymond de Château Rousset)
soll nun demonstrieren, dass die Verbindung von Menschen mit solchen
Mischwesen Unheil bringe, denn, vom Affekt der concupiscentia getrieben,
überstürzt der besagte die Heirat mit einer Unbekannten und willigt in ihre
Bedingung ein, sie niemals nackt sehen zu dürfen. Als er dieses Tabu Jahre
später bricht, entweicht die Dame, in eine Schlange verwandelt, und es erfüllt
sich an ihm ihre Prophezeiung seines Niedergangs: Sanè miles pro maxima
parte felicitate ac gratiâ minoratus […] (Prima decisio, c. XV). Nach dem
Tabubruch sind Raimundus also die Augen für sein Vergehen, die sündhafte
Verbindung mit einer Fee, geöffnet, und es erweist sich an ihm der intrikate
Zusammenhang von Sünde aus concupiscentia, Erkenntnis und Strafe.27
Gervasius’ Ausführungen zur Dämonologie erhellen, wie ungewiss der
Status der beschriebenen Mischwesen und feenhaften Gestalten in der Welt-
ordnung ist: Handelt es sich bei den phantastischen Erscheinungen um
nächtliche Einbildungen, quæ ex grossitie humorum animas dormientium
turbant (Tertia decisio, c. LXXXVI), um Dämonen mit einem Körper aus
Luft, um Kreaturen, die wie Menschen aussehen, aber keine sind, cum non
sint homines, sed divina quadam & secretâ permissione hominum illusiones
(Tertia decisio, c. LXXXVI)? Jedenfalls sind es Wesen, die sowohl zur
göttlichen wie zur menschlichen Sphäre Zugang haben und die sich gerade
durch diesen Zwischenstatus als besonders unberechenbar erweisen.
Vor den Gefahren, die in der sündhaften Verbindung von Mensch und
Dämon liegen, möchte auch Gaufredus von Auxerre28 warnen. Nur um den
Affekt der libido zu bekämpfen, in welcher er die Wurzel der schädlichen

26 Gervasius, Otia imperialia (Anm. 24), Prima decisio, c. XV, S. 895 f.


27 An anderer Stelle resümiert Gervasius – im größeren Kontext von Ausführungen
zur Natur der Dämonen – noch einmal die Gefahren einer Vermählung und damit
Vermischung mit Feen, die von ihm explizit unter die teuflischen incubi einge-
ordnet werden. Otia imperialia (Anm. 24), Tertia decisio, c. LXXXVI, S. 988 f.:
De lamiis & nocturnis larvis.
28 Goffredi di Auxerre, Super Apocalypsim, hg. v. F. Gastaldelli, Roma 1970 (Temi e
Testi 17), Sermo XV, S. 183–191, hier S. 184–187.
Melusinengeschichten im Mittelalter 279

Verstrickungen mit Dämonen sieht,29 vergegenwärtigt er in der 15. seiner


zwanzig Predigten Super Apocalypsim (1187/1193) drei Mahrtenehenvarian-
ten – zwei zur Melusine und eine zum Schwanritter.30 Die Geschichten
stehen im Kontext von Ausführungen über die falsche Prophetin Iezabel (Apk
2, 20), welche die Israeliten zu Unzucht und Verzehr von Götzenopferfleisch
verführt habe.31 Die damit gegebene physische und spirituelle Hurerei pa-
rallelisiert Gaufredus mit eben jener Sünde, derer sich Menschen durch den
sexuellen Verkehr mit Dämonen schuldig machten.
Und ebenfalls im Rahmen weitläufiger Ausführungen zur Dämonologie
(lib. 2, c. 98ff.) sind die naturkundlich ausgerichteten Diskussionen von
Melusinensagen im Speculum naturale des Vincenz von Beauvais situiert,
näherhin gehören sie in den Horizont des – auch in den bisher besprochenen
Versionen punktuell aufscheinenden – weit verbreiteten Diskurses über die
Frage, ob Dämonen Nachkommen zu zeugen in der Lage sind.32 Wenn
Vincenz das Reich der Dämonen mittelalterlich-systematischem Denken
gemäß klassifiziert und hierarchisiert (lib. 2, c. 112 f.), wird die Matrix einer
Ordnung eben jenen Wesen aufgedrückt, die aufgrund ihres Status zwischen
Mensch und Gott, zwischen Mensch und Teufel, zwischen Mensch und Tier
gerade für Turbulenzen im gottgegebenen ordo sorgen können (lib. 2, c. 106–
109).33 Im Anschluss an die Meinungen der Gelehrten sieht Vincenz die
gefährliche Stärke der Dämonen insbesondere in ihrer Fähigkeit, mit gött-
licher Erlaubnis jede beliebige Gestalt annehmen zu können und darüber
hinaus Verwandlungen von Menschen etwa in Tiere zu bewirken (lib. 2,
c. 103 und c. 105). Der ontologische Status dieser verwandelten Wesen stellt
ein schwieriges Problem dar, denn es lässt sich nicht ausmachen, worin ihre
›wahre‹ Natur besteht: Sind sie ›in Wirklichkeit‹ Menschen oder sind sie
Tiere oder sind sie beides?
Die Aktionen der daemones incubi und succubi versucht Vincenz nun u. a.
an Melusinen- und Schwanrittergeschichten zu erläutern (lib. 2, c. 126–128),
denn diese scheinen ähnlich wie Fälle aus dem Umkreis von König Artus
und ganz besonders die Figur Merlins zu belegen, dass Dämonen durchaus
zeugungsfähig sind: His, & hiusmodi exemplis videtur quòd dæmones pos-

29 Ebd., Sermo XV, S. 187: Odibilem, fateor, reddere velim libidinem, cuius angeli
Satanae sordibus delectantur involvi, ut luxuriam velut amicam daemonum merito
fugiat christianus, et idolatriae sociam detestetur.
30 Ebd., Sermo XV, S. 183–187.
31 Ebd., Sermo XV, S. 183.
32 Vincentius Bellovacensis, Speculum Quadruplex, 4 Bde., Reprint der Ausgabe
Douai 1624, Graz 1965, Bd. 4: Speculum naturale, lib. 2, c. 126–128.
33 Vgl. Christoph Daxelmüller, »Dämonologie«, EM 3, 1981, Sp. 237–259, hier
Sp. 243–246; Otto Böcher, Gunther Wanke, Günter Stemberger u. a., »Dämonen«,
TRE 8, 1981, S. 270–300, hier S. 293–296; Walter Kirchschläger, Leo Scheffczyk,
Christoph Daxelmüller u. a., »Dämon«, LThK3 1, 1995, Sp. 1–6; Leo Scheffczyk,
»Dämologie«, LThK3 1, 1995, Sp. 6 f.
280 Beate Kellner

sunt & coire cum mulieribus, & generare (lib. 2, c. 127).34 Dennoch würden
jene Exempla, so argumentiert Vincenz weiter, von der Autorität der Ge-
lehrten widerlegt,35 da nach ihrer naturkundlich-medizinischen Erklärung
niemals Menschen aus der Mischung von dämonischem und weiblichem
Samen entstehen könnten (lib. 2, c. 128).
Implizit wird hier auf mittelalterliche Zeugungslehren rekurriert, denn
nach den seit Hippokrates und Galen gültigen physiologischen Theorien ist
der actus generationis als Mischung von männlichem und weiblichem Samen
bestimmt. Die Mischungsverhältnisse entscheiden darüber, welches Ge-
schlecht das neu entstehende menschliche Wesen erhalten wird, welche
physische Konstitution und welche Eigenschaften es prägen werden. Da der
Samen im Rahmen der Humoreslehre als erhitztes Blut verstanden wird, ist
letztendlich das Blut mit seinen Eigenschaften für die Vererbung entschei-
dend. Im Paradigma dieser Lehren stellt sich das Problem der Zeugungsfä-
higkeit von Dämonen, um darauf nun zurückzukommen, sozusagen doppelt:
Aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit aus Luft fehlt mit dem Blut zum
einen die substantielle Grundlage zur ›normalen‹ Samenbildung,36 das
zweite Problem, und darauf will Vincenz von Beauvais ganz besonders
hinaus, liegt in der Mischung von dämonischem und menschlichem Samen.
Im Hintergrund wird hier das aristotelische Diktum stehen, nach dem es
keine Mischung von Arten geben kann.37
Sententia prudentum und Fallbeispiele konfligieren und müssen als ver-
schiedene Wissensformen hierarchisiert werden. Vincenz schließt sich letzt-
lich der Meinung der Autoritäten an, welche mit naturkundlichen Argumen-
ten auf der strikten genealogischen Trennung von Menschen- und Dämonen-
welt bestehen. Und dennoch deuten sich zwei Perspektiven auf die Frage
nach der Genealogie von Dämonen an. Als narrative Geschichten bringen die
Exempla eine eigene Dynamik ins Spiel, sie drohen, den theologischen und
naturkundlichen Diskurs, in den sie eingebunden sind, zu sprengen – und
gerade deshalb müssen sie gewissermaßen im Nachgang in den gelehrten
Diskussionszusammenhang der Autoritäten zurückgebunden werden.
Eine im Vergleich zu den bisher besprochenen Melusinensagen grund-
legende Verschiebung findet statt, indem der genealogisch-dynastische Dis-
kurs in den Texten dominant wird:38 Die Mahrtenehe wird dezidiert zur
Erklärung der Herkunft adliger Familien herangezogen. Sie kann dabei

34 Vincentius, Speculum naturale (Anm. 32), lib. 2, c. 127: In eadem prouincia,


scilicet in minore Britannia: creberrime leguntur tempore Arturi Regis, & socio-
rum eius huiusmodi casus accidisse. […] Nam & Merlinus fertur à dæmone incubo
genitus fuisse.
35 Ebd., lib. 2, c. 128: Sed nunc dicunt magistri, dæmones non posse generare.
36 Ebd., lib. 2, c. 128: Nullo ergo modo credendum est spirituales naturas cum
fæminis carnaliter coire posse.
37 Aristoteles, De generatione animalium, lib. IV, c. 3; vgl. auch die Rezeption bei
Vincentius, Speculum naturale (Anm. 32), lib. 22, c. 43.
38 Die zentrale Bedeutung von genealogischen Diskursen für die Legitimierung von
Herrschaft im Mittelalter wurde in den letzten Jahren in der Forschung wiederholt
unterstrichen. Dabei trat zunehmend auch in den Blick, dass Genealogie in einem
Melusinengeschichten im Mittelalter 281

sowohl positiv wie negativ instrumentalisiert sein, worin sich noch einmal
bestätigt, dass das strukturale Gerüst erst in der konkreten situativen Bindung
sein spezifisches Erklärungspotential entfaltet.39 Als Kontext der im folgen-
den zu diskutierenden spätmittelalterlichen Romane ist besonders jene kurze
Notiz bei Petrus Berchorius von Bedeutung, in welcher die ›Melusinenge-
schichte‹ unserer Quellenlage nach erstmals mit den Lusignans verbunden
wird: Die namenlose Fee erscheint hier, positiv akzentuiert, als Ahnfrau des
berühmten und blühenden Geschlechts der Lusignans, auf dessen erfolg-
reiche genealogische Verbreiterung bis hin zu den Königen von Cypern und
Jerusalem, den Grafen von der Marche und von Parthenay verwiesen wird.
Die Genealogie des Hauses Lusignan erscheint als aufsteigende Linie, deren
Glück sich der Herkunft von der Fee verdankt.40

In den bei