Sie sind auf Seite 1von 241

William F. Young, Jr. (Hrsg.

Netter Collection
Medizinischer Atlas –
­Endokrines System
1. Auflage

William F. Young, Jr., MD, MSc


Professor of Medicine, Mayo Clinic College of Medicine
Division of Endocrinology, Diabetes, Metabolism, and Nutrition Mayo Clinic
Rochester, Minnesota

Abbildungen
Frank H. Netter, MD
Carlos A. G. Machado, MD
Mitarbeitende Zeichner
James A. Perkins, MS, MFA
John A. Craig, MD
Kristen Wienandt Marzejon, MS, MFA

Deutsche Übersetzung
Dr. med. Sibylle Tönjes
Zuschriften an:
Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Hackerbrücke 6, 80335 München

Titel der Originalausgabe


William F. Young, Jr.: The Netter Collection of Medical Illustrations – Endocrine System
2. Auflage 2011, ISBN 978-1-4160-6388-9
© 2011 Saunders, an imprint of Elsevier Science Limited
Alle Rechte vorbehalten

Wichtiger Hinweis für den Benutzer


Die Erkenntnisse in der Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Herausgeber
und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen
Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes aber nicht von der Ver-
pflichtung, anhand weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen
in diesem Werk abweichen und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen. Für die Vollständigkeit und Aus-
wahl aufgeführter Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) wer-
den in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch
geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Hinweise zu Diagnose und Therapie können sich
von den in Deutschland üblichen Standards unterscheiden. Achtung: Bei genannten Arzneimitteln angegebene Dosie-
rungen und Anwendungshinweise können von der deutschen Zulassung abweichen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte ­bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten


1. Auflage 2012
© Elsevier GmbH, München
Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH.

12 13 14 15 16 5 4 3 2 1

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen
des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfäl-
tigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Planung: Christina Nussbaum, München


Projektmanagement: Sonja Frankl, München
Übersetzung und Redaktion: Dr. med. Sibylle Tönjes, Kiel
Herstellung: Ulrike Schmidt, München
Satz: abavo GmbH, Buchloe/Deutschland; TnQ, Chennai/Indien
Druck und Bindung: aprinta, Wemding
Umschlaggestaltung: Nicola Neubauer, Puchheim

ISBN Print 978–3-437-41797-9


ISBN e-Book 978-3-437-59175-4

Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de und www.elsevier.com


Wissenschaftlicher Beirat
John Stuart Bevan, FRCP, MBChB, MD William J. Kovacs, MD Tommy Olsson, MD, PhD
Chefendokrinologe und Ehrenprofessor für Professor für Innere Medizin Professor, Abteilung für Medizin
Endokrinologie Division of Endocrinology and Metabolism Umea University Hospital
Aberdeen Royal Infirmary UT Southwestern Medical Center Umea, Schweden
Foresterhill, Aberdeen, Schottland, UK Dallas, Texas
Dr. Francisco G. Martínez Sandoval
Frederick R. De Rubertis, MD Howard Lilienfeld, MD, FACP, FACE Director Programa Internacional
Chefarzt, VA Healthcare System Assistenzprofessor Titular de Anatomía
University of Pittsburgh H. Lee Moffitt Cancer Center Universidad Autónoma de Guadalajara
Pittsburgh, Pennsylvania University of South Florida Guadalajara, Mexiko
Endocrine Tumor Clinic
Associate Professor Fong Tampa, Florida Janet A. Schlechte, MD
Tsorng-Harn Fong Professor, Abteilung für Innere Medizin
National Taiwan University Paolo Mulatero, MD University of Iowa College of Medicine
Taipeh, Taiwan Assistenzprofessor Iowa City, Iowa
Division of Internal Medicine
Serge Jabbour, MD, FACP, FACE University of Torino Peter James Trainer, MD, BSc, FRCP, MBChB
Professor für Medizin Turin, Italien Professor für Endokrinologie
Division of Endocrinology, Diabetes, University of Manchester
and Metabolic ­Diseases Mitsuhide Naruse, MD, PhD Manchester Academic Health Science Centre
Jefferson Medical College of Thomas Jefferson Leiter der Abteilung für Endokrinologie The Christie NHS Foundation Trust
­University Kyoto Medical Center Manchester, England, UK
Philadelphia, Pennsylvania Fushimi Kyoto (NKD), Japan
Über die Serie
Dr. Frank H. Netter war ein einzigartiger Arzt, Künstler Obwohl die Wissenschaft und die Lehre der Medizin CUSHING’S SYNDROME IN A PATIENT WITH THE CARNEY COMPLEX

und Lehrer und was noch wichtiger ist: Er vereinte die- zu Änderungen von Terminologie, Praxis und Befun-
se drei Berufe. Netter begann die Arbeit an seinen At- den geführt haben, bleibt manches immer gleich. Ein
lanten immer mit einer akribischen Recherche der Kör- Patient ist ein Patient. Ein Lehrer ist ein Lehrer. Und die
performen, einer Philosophie, die Basis seines breiten Bilder von Dr. Netter – er nannte sie Bilder, niemals
und tiefen medizinischen Wissens war. Er sagte oft: „Zu Zeichnungen – bleiben dieselben und wunderschöne
vermitteln ist das Ziel. Wie schön eine medizinische und lehrreiche Quellen, die seit mehr als einem halben Carney complex is characterized
by spotty skin pigmentation.
Pigmented lentigines and blue
Zeichnung auch sein mag – sie ist von geringem Wert, Jahrhundert die Hände von Ärzten geführt und ihr Vor- nevi can be seen on the face–
including the eyelids, vermillion
borders of the lips, the
wenn sie den Sachverhalt nicht deutlich darstellt.“ Seine stellungsvermögen genährt haben. conjunctivae, the sclera–and the
labia and scrotum.

größte Herausforderung und sein größter Erfolg war Die Originalserie wäre ohne die Hingabe all derer, Additional features of the
die Integration von künstlerischer Klarheit und Kom- die als Redakteure, Autoren oder auf andere Weise be- Carney complex can include:

Myxomas: cardiac atrium,


plexität der Lehrinhalte, was sich auch in dieser Serie teiligt waren ebenso wenig möglich gewesen, wie ohne cutaneous (e.g., eyelid),
and mammary

widerspiegelt, von der Anfang 1948 als erster Band der die Expertise von Dr. Netter. Auch bei dieser zweiten Testicular large-cell
calcifying Sertoli cell tumors

umfassenden Sammlung von Netter-Arbeiten ein ein- Auflage gilt unser Dank den Autoren, Redakteuren, Be- Growth-hormone
secereting pituitary adenomas

zelnes Volume von CIBA Pharmaceuticals veröffent- ratern und Künstlern, die unermüdlich daran mitarbei- Psammomatous
melanotic schwannomas

licht wurde. Es war so erfolgreich, dass die Sammlung teten, dieses zeitlose Werk mittels reliabler Referenzen
in den nachfolgenden 40 Jahren zu einer achtbändigen an die aktuelle ärztliche Ausbildung und Praxis zu ad-
Serie erweitert wurde, bei der jeder Band einem Kör- aptieren. Wir alle, die wir zum Netter-Team von Else-
persystem gewidmet ist. vier gehören, danken Ihnen dafür.
Wir freuen uns, dass wir Ihnen Netters zeitlose Ar-
beit in dieser zweiten Auflage der legendären Serie mit
neuem Gesicht durch moderne Textverarbeitung und PPNAD adrenal glands are usually of normal size and most are
studded with black, brown, or red nodules. Most of the pigmented
untermauert durch die radiologische Bildgebung und nodules are less than 4 mm in diameter and interspersed in the
adjacent atrophic cortex.

durch Beiträge von auf dem Gebiet führenden Ärzten


und Lehrern aus weltbekannten medizinischen Ein- Brandneue Zeichnung von Dr. Carlos Machado für Das Endokri-
richtungen präsentieren dürfen. Netters Zeichnungen ne System, Band 2, 2. Auflage
wurden um neue Zeichnungen von Künstlern, die seine
Tradition fortführen, ergänzt. Zwischen den klassi-
schen grünen Buchdeckeln finden Studenten und Ärzte
im einzigartigen Stil von Frank Netter hunderte Origi-
nalkunstwerke des menschlichen Körpers, aktuelles
medizinisches Fachwissen und neueste Entwicklungen.
Der bemerkenswerte medizinische Künstler, Dr.
Carlos Machado, der das Haupterbe von Frank Netter
angetreten hat und seine Tradition fortsetzt, ist von den
„Grünen Büchern“ besonders angetan: „Das Fortpflan-
zungssystem ist für all jene von besonderer Bedeutung,
die wie ich die Arbeit von Dr. Netter bewundern. In die-
sem Band gelingt ihm die Darstellung der Beschaffenheit Selbstportrait: Frank Netter bei der Arbeit
unterschiedlicher Oberflächen, was ich als „Pinselstrich-
rhythmus“ bezeichne, da Dimension, die Richtung und
der Abstand der Pinselstriche die Illusion der jeweiligen
Oberflächen erzeugen: Die äußeren Oberflächen der Or-
gane und die Auskleidungen ihrer Hohlräume sowie die
Beschaffenheit ihres Parenchyms werden realistisch dar-
gestellt. Dieser Band legte den Stil der sich anschließen-
den Bände der Netter Kollektion fest – jeder für sich die
einzigartige Kombination meisterhafter Zeichnungen
und präziser wissenschaftlicher Informationen.“
Dr. Carlos Machado bei der Arbeit
Der Einzelband „Blaues Buch“, der den Weg geebnet hat für
die mehrbändige Netter Collection – Atlas der Krankheiten, die
liebevoll als „Grüne Bücher“ bezeichnet werden.
Über den Herausgeber
William F. Young, Jr, MD, MSc, ist Professor für Inne- der Mayo Clinic tätig. In Anerkennung seines profun- American College of Endocrinology und der Distinguis-
re Medizin am Mayo Clinic College of Medicine, Mayo den Einflusses bei der Ausbildung von Fellows erhielt hed Physician Award from the Endocrine Society. Bei
Clinic, Rochester, Minnesota, USA. Er ist Träger der Dr. Young zahlreiche Education Awards, wie den Mayo seiner klinischen Forschung befasst sich Dr. Young vor
Tyson Family Endocrinology Clinical Professorship in Fellows Association Teacher of the Year Award in In- allem mit dem primären Aldosteronismus und dem
Honor of Vahab Fatourechi, MD. Er machte seinen Ba- ternal Medicine, den Mayo Clinic Endocrinology Phäochromozytom. Er hat mehr als 200 Artikel über die
chelor und seinen medizinischen Abschluss an der Mi- Teacher of the Year Award, den Mayo School of Conti- endokrine Hypertonie sowie über Erkrankungen von
chigan State University und seinen Master of Science an nuing Medical Education Outstanding Faculty Member Nebennieren und Hypophyse veröffentlicht. Auf mehr
der University of Minnesota. Die Fortbildung zum In- Award und den H. Jack Baskin, MD, Endocrine als 300 nationalen und internationalen Kongressen hat
ternisten absolvierte Dr. Young am William Beaumont Teaching Award from the American Association of Cli- Dr. Young Präsentationen vorgestellt und wurde von
Hospital in Royal Oak, Michigan, und er absolvierte ein nical Endocrinologists. Berufliche Auszeichnungen mehr als 100 medizinischen Einrichtungen als Gastpro-
Fellowship in Endokrinologie und Metabolismus an der sind der Distinguished Mayo Clinician Award, der Dis- fessor eingeladen.
Mayo Clinic in Rochester, Minnesota. Seit 1984 ist er an tinction in Clinical Endocrinology Award from the
Geleitwort
Die zweite Auflage des Bandes Endokrines System der siert. Die begleitenden Texte dienen zur Darstellung Zeichnungen und der Begleittext dem Leser ein nützli-
Netter Collection liefert Ärzten aller Fachrichtungen von Hintergründen und gehen über die in den Bildern ches Hilfsmittel beim Manövrieren durch die Welt der
und Studenten Einblicke in die Anatomie, Physiologie dargestellten Konzepte hinaus. Endokrinologie sein werden.
und Pathophysiologie der endokrinen Drüsen. Die erste Das Buch enthält 8 Kapitel entsprechend der Drüsen Ich danke meinen Kollegen und den Patienten an der
Auflage wurde 1965 veröffentlicht. Im Laufe der seit- und Komponenten des endokrinen Systems: Hypophy- Mayo Clinic, denen ich die umfassende klinische Erfah-
dem vergangenen 50 Jahre hat das Verständnis der en- se und Hypothalamus, Schilddrüse, Nebennieren, Fort- rung im breiten Feld der Endokrinologie verdanke. Die
dokrinen Krankheiten erhebliche Fortschritte gemacht, pflanzung, Pankreas, Knochen und Kalzium, Lipide Mitarbeiter von Redaktion und Herstellung bei Elsevier
sodass die Texte im Grunde vollständig umgeschrieben und Ernährung sowie Genetik und endokrine Neopla- waren während der gesamten Bearbeitung eine wert-
wurden, während die meisten der anatomischen und sie. Gelegentlich stehen neben den Netter-Zeichnungen volle Hilfe – von der allgemeinen Konzeptionierung bis
klinischen Zeichnungen von Dr. Frank H. Netter die moderne radiologische Aufnahmen (z. B. Computerto- zur Veröffentlichung. Mein besonderer Dank gilt den
Zeiten überdauert haben. Da in den letzten 50 Jahren mografie, Magnetresonanztomografie). Die ursprüngli- talentierten Zeichnern der zweiten Generation der Net-
neue endokrine Krankheiten und Behandlungsansätze che Netter-Ausgabe und die neuen Zeichnungen befas- ter-Künstler. Außerdem danke ich meiner Tochter, Ab-
erkannt wurden, wurden in jedem Kapitel neue Zeich- sen sich mit der Embryologie, der makroskopischen bie L. Abboud, MS, CGC, ELS, für ihre unschätzbare
nungen, wie aktuelle Operationsverfahren zur Entfer- Anatomie, der Histologie, der Physiologie, der Patholo- Hilfe beim medizinischen Lektorat, die sicherstellte,
nung von Hypophysentumoren, diagnostische Tests gie, den klinischen Krankheitsbildern, den diagnosti- dass Konzept und Darstellung schlüssig waren. Schließ-
beim Cushing-Syndrom, Nebennierenvenen-Blutent- schen Verfahren und operativen und konventionellen lich widme ich dieses Buch meiner Familie, deren Zu-
nahme bei primärem Aldosteronismus, Cushing-Syn- Behandlungsverfahren. spruch und Unterstützung während der 2 Jahre, die die
drom durch die primäre pigmentierte noduläre adreno- Das Verfassen eines „Updates“, das 50 Jahre abdeckt, Produktion der zweiten Auflage des Endokrinen Sys-
kortikale Erkrankung, Behandlung des Diabetes melli- war eine echte Herausforderung. Diese neue Auflage tems der Netter Collection in Anspruch nahm, immer
tus Typ 1 und 2, multiple endokrine Neoplasie Typ 1 hat die ursprünglichen Netter-Zeichnungen erhalten wieder inspirierend waren.
und 2 und Von-Hippel-Lindau-Syndrom, ergänzt. Dr. und in einen an das 21. Jahrhundert aktualisierten Kon-
Carlos Machado, James A. Perkins, MS, MFA, Kristen text eingebunden. Es handelt sich hier nicht um ein Dr. William F. Young, Jr., MSc
Wienandt Marzejon, MS, MFA, und Dr. John Craig ha- umfassendes Lehrbuch der gesamten Endokrinologie, Rochester, Minnesota
ben hervorragende Zeichnungen zu dieser Ausgabe bei- sondern um eine optische Reise durch die Höhepunkte November 2010
gesteuert sowie die vorhandenen Zeichnungen aktuali- dieser medizinischen Fachrichtung. Ich hoffe, dass die
Über den Künstler der ersten Auflage
Da viele Leser der Ciba Collection den Wunsch äußer- An diesem Projekt arbeitete Dr. Netter 7 Monate lang Kliniken, um sich klinische Fälle, pathologische oder
ten, mehr über Dr. Netter zu erfahren, wurde diese Zu- Tag und Nacht. Ein weiterer interessanter Auftrag um- Operationspräparate oder Operationsverfahren anzu-
sammenfassung der Karriere von Dr. Netter verfasst. fasste eine Serie von Bildern der Ereignisse im Leben schauen. Gelegentlich werden auch extra für ihn Präpa-
Frank Henry Netter wurde 1906 in Brooklyn, New eines Arztes. Unter anderem zeigten diese Bilder einen rate angefertigt.
York, geboren und erhielt 1931 den Titel M. D. an der Medizinstudenten, der noch in der Nacht vor der Kno- Nachdem alle seine Fragen beantwortet wurden und
New York University. Um sich etwas zum Studium und chenkundeprüfung bis zur Erschöpfung lernte, eine das Problem zu seiner Zufriedenstellung geklärt ist,
zu seiner Assistenzarztzeit in Bellevue hinzuzuverdie- Notaufnahmestation, einen Rettungswageneinsatz, ein macht Dr. Netter eine Bleistiftskizze auf Seiden- oder
nen, arbeitete er als Werbezeichner und als Illustrator Klassentreffen und einen nächtlichen Hausbesuch Pauspapier. Die Darstellung muss immer aus der Sicht
medizinischer Bücher und Artikel für seine Professoren durch einen Landarzt. des Arztes erfolgen: von oben oder unten, von der Seite,
und andere Ärzte, wobei er sein natürliches Talent Während des 2. Weltkriegs diente Dr. Netter als Offi- von hinten oder von vorn? Muss der gesamte Körper
durch ein Studium an der National Academy of Design zier in der Armee – zunächst im Army Institute of Pa- gezeichnet werden oder nur bestimmte Teile? Welche
und den Besuch von Kursen der Art Students’ League thology, später war er dann im Surgeon General's Office Ebene ist am anschaulichsten? In manchen Bildern sind
perfektionierte. stationiert und mit grafischen Ausbildungshilfen für zwei, drei oder vier Schnittebenen erforderlich.
Im Jahr 1933 trat Dr. Netter in eine chirurgische Pri- das Gesundheitsministerium befasst. Unter seiner Lei- Nachdem er mit der Skizze zufrieden ist, überträgt
vatpraxis in New York City ein. Man befand sich aber tung entstanden zahlreiche Handbücher, unter ande- Dr. Netter sie auf weißen Zeichenkarton, um die Zeich-
auf dem Tiefpunkt der Depression, sodass der frisch rem zur Ersten Hilfe in Kampftruppen, zur Röntgenolo- nung zu beenden. Dazu schwärzt er Teile der Rückseite
verheiratete Arzt weiterhin Aufträge annahm, um sein gie für Techniker, zum Sanitätsdienst im Feld und zum des Seiden- oder Pauspapiers mit einem weichen Blei-
Einkommen aufzubessern. Er verbrachte immer mehr Überleben in den Tropen. stift, klebt das Papier mit Klebeband auf den Zeichen-
Zeit am Zeichenbrett und erkannte schließlich, dass sei- Nach dem Krieg begann Dr. Netter mit der Arbeit an karton und zeichnet die Linien dann mit einem harten
ne Zukunft in den medizinischen Illustrationen lag. Da- mehreren Großprojekten für die CIBA Pharmaceutical Stift nach. Im Laufe der Jahre hat unser Medizinkünst-
her beschloss er, das Praktizieren aufzugeben und sich Company, aus denen schließlich The Ciba Collection of ler viele Medien verwendet, um seine Zeichnungen zu
ganz dem Künstlerdasein hinzuwenden. Medical Illustrations entstand. Bis heute wurden fünf vollenden; inzwischen arbeitet er aber fast ausschließ-
Bald schon erhielt Dr. Netter Anfragen für die Ent- Bände veröffentlicht und ein sechster zum Urogenital- lich mit Aquarellfarben, die er mit Weiß abmischt.
wicklung vieler ungewöhnlicher Projekte. Eines der trakt ist in Arbeit. Trotz seines ausgesprochen produktiven Lebens war
mühsamsten war das Erstellen einer „durchsichtigen Dr. Netter plant und gestaltet seine Zeichnungen Dr. Netter auch in der Lage, sein Familienleben zu ge-
Frau“ für die San Francisco Golden Gate Exposition. sehr präzise. Zuerst kommt das Studium, fraglos der nießen. Zunächst in seinem schönen Landhaus in East
Diese mehr als 2 m große transparente Figur stellte den wichtigste und schwierigste Teil des Unterfangens. Kei- Norwich, Long Island, und dann, nachdem seine fünf
Menstruationszyklus, die Entwicklung und Geburt des ne Zeichnung wird begonnen, bevor Dr. Netter das ent- Kinder erwachsen waren, in einem Penthouse mit Blick
Kindes sowie die körperliche und sexuelle Entwicklung sprechende Thema nicht entweder durch Nachlesen über den East River in Manhattan.
der Frau dar, während eine synchronisierte Stimme die oder durch Rücksprache mit führenden Experten auf
Geschichte des endokrinen Systems der Frau erzählte. dem Gebiet vollkommen verstanden hat. Oft besucht er Alfred W. Custer
Einleitung zur ersten Auflage
In den Anfängen der Medizin wurden die endokrinen nicht bewältigen, ohne auf grundlegende verwandte nen Führer, um mir einen Weg durch die biochemi-
Drüsen als isolierte Gruppe von Strukturen, die Subs- Themen, wie den Stoffwechsel der Kohlenhydrate, Ei- schen Konstellationen zu weisen und jederzeit den Weg
tanzen mit eigenartigen Einflüssen auf die Organe des weiße und Fette, die wichtigsten Vitamine, die En- zurück zu den irdischen klinischen Bezügen zu finden.
menschlichen Körpers produzierten, betrachtet. Die zymchemie, die Genetik und angeborene metabolische Ihn fand ich in Dr. Peter H. Forsham, der nach dem Tod
Schilddrüse galt als besonders wichtiges Organ, da die Störungen, einzugehen. Wenn ich mir dieses Projekt von Dr. Ernst Oppenheimer Herausgeber dieser Ausga-
klinischen Syndrome der Hypo- und Hyperthyreose rückblickend betrachte, scheint es so, als ob unser zu- be wurde. Nie werde ich die anregenden Stunden ver-
und die therapeutischen Wirkungen der Gabe von nehmendes Verständnis der Funktion der endokrinen gessen, die Dr. Forsham und ich gemeinsam bei der
Schilddrüsenhormonen und der Thyreoidektomie be- Drüsen die Folge nicht nur des Studiums der basalen Abreit und gelegentlich auch beim Spiel verbrachten.
kannt waren. Insulin war verfügbar geworden und sein Physiologie der Drüsensekrete ist, sondern auch des Ein schöpferisches Werk wie dieses verschlingt Un-
Einsatz bei der Behandlung des Diabetes mellitus wurde Studiums der morphologischen Effekte des endokrinen mengen von Zeit, Anstrengung und Träumen und neigt
erforscht. Es war allgemein bekannt, dass die Hypophy- Systems selber. Ich war extrem beeindruckt von der ge- dazu, den Künstler so zu vereinnahmen, dass er sich von
se einen gewissen Einfluss auf das Wachstum und das wissenhaften, geduldigen und unermüdlichen Arbeit seiner Umgebung und ihm nahe stehenden Menschen
Sexualleben des Menschen hat. Trotzdem galten die en- der Männer und Frauen, die Stück für Stück die Myste- abkapselt und nur noch schwer zu ertragen ist! Daher
dokrinen Drüsen weiterhin als für sich stehende Einzel- rien der verschiedenen Gebiete erhellt und miteinander gilt mein besonderer Dank meiner Ehefrau Vera für ihre
systeme, die rätselhafte und hochwirksame Substanzen in Verbindung gebracht haben. Es war mir eine Ehre, Geduld mit mir während dieses Kraftakts. Immer wieder
abgaben. Heue weiß man, dass es sich nicht um isolierte bei der Erstellung dieses Bandes mit einigen dieser Pio- gelang es ihr, mich auf den Boden der Realität zurückzu-
Systeme handelt, sondern um einen essenziellen Kont- niere auf ihren Gebieten zusammenzuarbeiten. Un- holen, wenn ich zu weit abgehoben hatte, mir ein Lä-
rollmechanismus aller anderen Systeme; gemeinsam schätzbar war die Hilfe und Unterstützung durch jeden cheln auf die Lippen zu zaubern, wenn ich überanstrengt
mit dem Nervensystem ist es der Integrator der Bioche- einzelnen meiner Mitarbeiter, die ich inzwischen stolz war, und mir in vielerlei Weise bei dieser anstrengen-
mie und Physiologie des lebenden Organismus. als meine Freunde bezeichnen kann. den, aber fantastischen Aufgabe zur Seite zu stehen.
Obwohl dieser Band ursprünglich als Atlas der endo- Auf meinem Weg durch die unergründlichen Tiefen
krinen Drüsen gedacht war, ließ sich diese Aufgabe des endokrinen Universums brauchte ich dringend ei- Frank H. Netter, M. D.
KAPITEL

1 Hypophyse und Hypothalamus


2 1  Hypophyse und Hypothalamus

Entwicklung der Hypophyse


Die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) besteht aus zwei An-
teilen, der Adenohypophyse und der Neurohypophyse. Die Infundibulum
Infundibulum
Adenohypophyse (Hypophysenvorderlappen) entstammt Gehirn
dem oralen Ektoderm und die Neurohypophyse (Hypo-
physenhinterlappen) dem neuralen Ektoderm des Bodens
des Vorderhirns.
In der 4.–5. Entwicklungswoche entsteht in der ekto- Orales Ektoderm
dermalen Auskleidung des Daches des Stomodeums eine Rathke-Tasche
taschenförmige Vertiefung, die Rathke-Tasche, aus der Stomodeum Mesoderm
später der Hypophysenvorderlappen hervorgeht. Die
Rathke-Tasche
Rathke-Tasche reicht nach oben bis zur Unterseite des
Vorderhirns und endet dort durch das umgebende Meso-
derm in einer geschlossenen Höhle. Die ursprüngliche 1. Beginn der Bildung von Rathke-Tasche und 2. Der Hals der Rathke-Tasche wird durch das
Processus infundibularis wachsende Mesoderm zusammengeschnürt
Verbindung zwischen Rathke-Tasche und Stomodaeum,
der Canalis craniopharyngealis, verläuft vom anterioren
Anteil der Fossa hypophysealis zur Unterseite des Schä-
dels. Meist obliteriert er, gelegentlich persistiert aber beim
Erwachsenen ein Überrest als „Rachenhypophyse“ in der
Schleimhaut der hinteren Rachenwand. In der Rachenhy-
pophyse können im Verlauf des Lebens Hypophysenade-
nome mit ektoper Hormonproduktion entstehen.
Hinter der Rathke-Tasche reicht eine hohle neurale Aus-
stülpung vom Boden des III. Ventrikels bis zum Mund. Sie
bildet einen trichterförmigen Sack, das Infundibulum, das
solidifiziert und nur in seinem oberen Ende als Recessus
infundibularis des III. Ventrikels hohl bleibt. Die Rathke-
Sinus sphenoidalis
Tasche streckt sich zum III. Ventrikel, verschmilzt auf jeder
Seite mit dem Infundibulum und obliteriert anschließend; 3. Abgeschnürte Rathke-Tasche 4. Aus dem „abgeschnürten“ Segment
werden die Pars distalis, Pars intermedia
gelegentlich bleibt eine persistierende Rathke-Spalte zu- und Pars tuberalis
rück. Aus der Rathke-Tasche entsteht der Hypophysenvor-
derlappen und aus dem Infundibulum der angrenzende Eminentia mediana
Hypophysenhinterlappen (Neurohypophyse). Die Neuro-
hypophyse besteht aus den Axonen und Nervenendigun-
gen der Neurone, deren Zellkörper in den Nuclei supraopti-
cus und paraventricularis des Hypothalamus liegen und die
einen vom Hypothalamus zur Neurohypophyse ziehenden Pars tuberalis Spalte
Nervenstrang bilden, der etwa 100.000 Nervenfasern ent- Infundibulum
Pars distalis
hält. An der Grenze zur Neurohypophyse können Überreste Pars nervosa (Pars
der Rathke-Tasche als kleine Kolloidzysten persistieren. glandularis)
Pars intermedia
Außerdem gibt der Hypophysenvorderlappen an seiner
ventralen Wand zwei Fortsätze ab, die entlang dem Infun- 5. Die Pars tuberalis umschließt den
dibulum als Pars tuberalis hinabziehen, verschmelzen und 6. Reife Form
Infundibulumstiel (Aufsicht von lateral)
das obere Ende des Hypophysenstiels umgeben. Die Spalte
ist der Überrest der ursprünglichen Höhle des stomodea- Abb. 1.1 
len Divertikels. Die dorsale (posteriore) Wand der Spalte
bleibt dünn und verschmilzt mit dem angrenzenden Hy-
pophysenhinterlappen zur Pars intermedia. Diese bleibt rior der Spalte liegt und Kontakt zur Neurohypophyse hat,
bei manchen Spezies intakt, während sich ihre Zellen beim sowie der Pars distalis (Pars glandularis), dem sekretori-
Menschen mit denen des Hypophysenvorderlappens ver- schen Drüsenanteil. Die Neurohypophyse besteht aus ei-
mengen und die Fähigkeit zur Herstellung und Sekretion nem ausgedehnten distalen Anteil, dem Infundibulum (im
von Proopiomelanokortin (POMC) und adrenokortikotro- Hypophysenstiel), dem Lobus nervosus und dem ausge-
pem Hormon (ACTH) erlangen. Der Teil des Tuber cinere- dehnten oberen Ende des Infundibulums, der Eminentia
um, der unmittelbar über der Pars tuberalis liegt, wird als mediana des Tuber cinereum.
Eminentia mediana bezeichnet.
Sowohl die Adenohypophyse als auch die Neurohypo-
physe werden in drei Teile unterteilt. Die Adenohypophyse
besteht aus der Pars tuberalis, einem dünnen Gewebestrei-
fen, der die Eminentia mediana und den oberen Teil des
Hypophysenstiels umgibt, der Pars intermedia, die poste-
Hypophysenlappen und Beziehung zum Hypothalamus 3

Hypophysenlappen und Beziehung zum Hypothalamus


Die Hypophyse besteht aus der Neurohypophyse (Hypo-
physenhinterlappen, HHL) und der Adenohypophyse (Hy- Foramen
pophysenvorderlappen, HVL). Die Neurohypophyse be- interventriculare
Thalamus
steht aus drei Anteilen: der Eminentia mediana des Tuber
Sulcus hypothalamicus
cinereum, dem Hypophysenstiel und dem Lobus nervo-
sum. Auch die Adenohypophyse ist in drei Anteile unter-
teilt: die Pars tuberalis, die Pars intermedia und die Pars
Nucleus
distalis (glandularis). Das Infundibulum und die ihn schei- paraventricularis
denförmig umgebenden Anteile der Adenohypophyse Hypothalamischer Bereich
werden als Hypophysenstiel bezeichnet. Die Ausdehnung Nucleus
Tractus hypothalamohypophysialis supraopticus
des neurohypophysären Gewebes entlang dem Hypophy-
senstiel nach oben und in die Eminentia mediana des Tu- Tractus Tractus
tubero- supraoptico-
ber cinereum macht etwa 15 % der Neurohypophyse aus.
hypophysialis hypophysialis
Bei einem Schnitt im unteren Anteil des Hypophysenstiels
kann eine ausreichende Menge der Drüse mit höheren
Verbindungen zu den Nuclei paraventricularis und supra-
opticus intakt bleiben, um einen Diabetes insipidus zu ver-
Chiasma opticum
hindern. Nach Schädigung der Axone im Tractus supraop- Corpus mamillare
ticohypophysialis atrophieren die Zellkörper in den Nuclei
supraopticus und paraventricularis und verschwinden. Hypophysenstiel
Wird der Traktus in Höhe des Diaphragma sellae durch- Neuro- Eminentia
trennt, sind nur 70 % dieser Zellen betroffen, wird er über hypo- mediana
physen- Pars tuberalis
der Eminentia mediana zertrennt, werden etwa 85 % der
Neurohypophyse

stiel Hypophysenstiel
Zellen atrophieren. Somit enden etwa 15 % der Axone zwi-

Adenohypophyse
schen diesen beiden Schnittebenen. Pars intermedia
Die funktionelle und anatomische Innervation der Neu-
rohypophyse erfolgt vor allem über den Tractus hypotha-
lamohypophysialis im Hypophysenstiel. Er besteht aus
zwei Anteilen: dem Tractus supraopticohypophysialis, der Pars
Pars
entlang der anterioren oder ventralen Wand des Hypophy- nervosa distalis
senstiels verläuft, und dem Tractus tuberohypophysialis in
der posterioren oder dorsalen Wand des Hypophysen- Furche Bindegewebe
(Trabekel)
stiels. Der Tractus tuberohypophysialis geht aus dem zent-
ralen und posterioren Anteil des Hypothalamus, aus dem
Nucleus paraventricularis sowie aus versprengten Zellen
und Kernen im Bereich der tuberalen Region und der Cor-
pora mamillaria hervor. Der Tractus supraopticohypophy-
sialis entsteht aus den Nuclei supraopticus und paraventri-
cularis. Beim Eintritt in die Eminentia mediana nimmt er Hinterlappen Vorderlappen
eine sehr oberflächliche Position ein, sodass er bei Infek­
tionen an der Schädelbasis und bei granulomatösen Ent- Abb. 1.2 
zündungen gefährdet ist. Der Tractus tuberohypophysialis
im dorsalen Bereich der Eminentia mediana ist kleiner
und besteht aus feineren Fasern. Im Hypophysenstiel ver- weit als Gefäßbett für die großlumige Trabekelarterie in
einigen sich alle Fasern zu einem dichten, zentral liegen- den Hypophysenvorderlappen zieht. Die embryonale Spal-
den Bündel, sodass ein peripherer Bereich mit Kontakt zur te, die der Position der Rathke-Tasche in der Drüse ent-
Pars tuberalis, der kaum Nervenanteile enthält, verbleibt. spricht, kann teilweise in diesem Trabekel liegen. Sie ist bei
Der Tractus hypothalamohypophysialis endet überwie- Neugeborenen leichter zu erkennen und verschwindet oft
gend in der Neurohypophyse. im Laufe des Lebens. In der erwachsenen Drüse liegen in
Der Hypothalamus ist schlecht abgegrenzt. Anteroinfe- der Pars intermedia am Übergang zwischen der Pars dista-
rior wird er vom Chiasma opticum und von den Tractus lis und der Neurohypophyse kolloidgefüllte Follikel. Diese
optici begrenzt, posterior von der Substantia perforata Grenze verläuft meist unregelmäßig, da die Neurohypo-
posterior und den Pedunculi cerebri. Im Sagittalschnitt physe oft fingerförmige Ausstülpungen der Adenohypo-
wird er durch den Sulcus hypothalamicus auf der Wand physe enthält.
des III. Ventrikels vom Thalamus getrennt. Anterior ver-
schmilzt er mit der Area praeoptica und posterior mit dem
Tegmentum cerebri. Lateral hat er Bezug zum Subthala-
mus und zur Capsula interna.
Hypophysenvorder- und -hinterlappen werden durch
einen Bindegewebszug getrennt, der auch unterschiedlich
4 1  Hypophyse und Hypothalamus

Gefäßversorgung der Hypophyse


Die arterielle Blutversorgung der Hypophyse erfolgt über A. hypophysialis
zwei paarige Gefäßsysteme: Von oben kommen die rechte superior Vasa hypothalamica
und linke A. hypophysialis superior und von unten die
rechte und linke A. hypophysialis inferior. Jede A. hypo-
physialis superior teilt sich in zwei Hauptäste, die Aa. hy-
pophysiales anterior und posterior zum Hypophysenstiel,
deren Rami communicantes lateral auf dem Hypophysen-
stiel verlaufen; diese Circulus arteriosus gibt zahlreiche
Äste ab, die zum Teil nach oben zum Chiasma opticum
und zum Hypothalamus ziehen. Andere Äste, die Rr. in-
fundibulares, ziehen entweder nach superior und dringen
in den oberen Teil des Hypophysenstiels ein oder nach in-
ferior, um in seinen unteren Anteil einzutreten. Ein weite-
rer wichtiger Ast der A. hypophysialis anterior superior auf
jeder Seite ist die A. trabecularis, die nach unten zieht und
in die Pars distalis eintritt. Die Trabekula ist ein vorstehen- Primärer Kapillarplexus des
des, kompaktes Band aus Bindegewebe und Blutgefäßen in hypophysären Portalsystems
der Pars distalis beidseits der Mittellinie. An ihrem mittle- Trabekelarterie
ren Ende geht die Trabekula in die Bindegewebsmasse, die Vv. portales hypophysiales
zwischen der Pars distalis und dem unteren Infundibu- longae
lumstamm liegt, über. Peripher breiten sich die Anteile der
V. hypophysialis Vv. portales hypophysiales
Trabekula zu einem fibrovaskulären Büschel aus. In der zum Sinus cavernosus breves
Nähe des unteren Anteils des Hypophysenstiels gibt die A.
trabecularis zahlreiche gerade Äste ab, die parallel zum su- V. hypophysialis zum
perioren Anteil dieses Bereichs ziehen (obere Arterie des Sinus cavernosus
unteren Anteils des Hypophysenstiels). Die „untere Arterie Trabekel aus
des unteren Anteils des Hypophysenstiels“ geht aus den Bindegewebe Neurohypophyse
Aa. hypophyseales inferiores hervor. Die A. trabecularis ist
in ihrem gesamten Verlauf großlumig und gibt keine Äste
an die durchquerten Epithelgewebe ab. Sie ist stark gewun-
den und grundsätzlich von Bindegewebe umgeben.
Die Aa. hypophyseales inferiores gehen als ein Ast aus
dem interkavernösen Segment der jeweiligen A. carotis in- Adenohypophyse
terna hervor. Nahe dem Übergang von Hypophysenvor-
der- und -hinterlappen gibt die Arterie ein oder mehrere Sekundärer
Kapillarplexus des
gewundene Gefäße zur Duralabdeckung der Pars distalis
hypophysären V. hypophysialis zum
ab und teilt sich schließlich in zwei Hauptäste, einen Ra- Portalsystems Sinus cavernosus
mus medialis und einen Ramus lateralis. Das Infundibu-
lum ist von einem Arterienring aus den medialen und late- Kapillarplexus des
ralen Ästen der paarigen Aa. hypophyseales inferiores Hypophysenhinterlappens
umgeben. Aus diesem Arterienring gehen Äste zum Hypo-
Vv. hypophysiales zum
physenhinterlappen und zum unteren Anteil des Hypo- Sinus cavernosus
A. hypophysialis inferior
physenstiels ab. Die Aa. hypophyseales superiores und in-
feriores bilden zahlreiche Anastomosen miteinander. Abb. 1.3 
Das Epithelgewebe der Pars distalis wird nicht direkt
mit arteriellem Blut versorgt. Die Sinusoide des Hypophy-
senvorderlappens erhalten ihre Blutversorgung über die der Tiefe, bis sie die Pars distalis erreichen. Die kurzen torische Faktoren (z. B. Somatostatin, Prolactin-inhibitory
Portalgefäße der Hypophyse, die aus dem Kapillarbett der Portalvenen der Hypophyse liegen im Umgebungsgewebe Factor [Dopamin]) in die Portalgefäße ab, die in die Sinuso-
Eminenta mediana sowie dem oberen und unteren Anteil des unteren Anteils des Hypophysenstiels. Sie versorgen ide der Pars distalis drainieren. Bei ausgedehntem Ver-
des Hypophysenstiels hervorgehen. Aus diesen primären das sinusoidale Bett des posterioren Anteils der Pars dista- schluss der Portalgefäße der Hypophyse oder der Kapillar-
Netzwerken wird das Blut durch die Portalvenen der Hy- lis, während die langen Portalvenen den anterioren und betten des Hypophysenstiels kann eine ischämische Nekro-
pophyse zum Epithelgewebe des Hypophysenvorderlap- lateralen Anteil versorgen. se des Hypophysenvorderlappens auftreten, da diese Gefä-
pens geleitet. Dort liegt ein zweiter Plexus des hypophysä- Die Gefäßbüschel aus dem primären Kapillarnetz in der ße die einzigen afferenten Kanäle zu den Sinusoiden der
ren Portalsystems, der zu den venösen Durasinus, welche Eminentia mediana und dem Hypophysenstiel stehen in Pars distalis sind.
die Hypophyse umgeben, sowie in den Körperkreislauf engem Zusammenhang mit der großen Menge der in
führt. Einige der langen Portalvenen der Hypophyse ver- ­diesem Bereich verlaufenden Nervenfasern des Tractus
laufen vor allem anterior und lateral auf der Oberfläche des ­hypothalamohypophysialis. Bei Reizung setzen diese
Hypophysenstiels. Die meisten der langen Portalvenen zie- Nerven­fasern Hormone (z. B. Growth-Hormone-releasing-
hen nach dem Verlassen des hypophysären Nervengewe- Hormon, ACTH-releasing-Hormon, Gonadotropin-relea-
bes in der Pars tuberalis nach unten, einige bleiben auch in sing-Hormon, Thyrotropin-releasing-Hormon) und inhibi-
Anatomie und Beziehungen der Hypophyse 5

Anatomie und Beziehungen der Hypophyse


Die Hypophyse ist graurot und oval mit einem transversa- Nervi optici
len Durchmesser von etwa 12 mm, einem anterior-posteri- Temporallappen
oren Durchmesser von 8 mm und einer Höhe von 6 mm. Chiasma opticum
Sie wiegt beim Mann etwa 500 mg und bei der Frau etwa Rechter Tractus opticus
600 mg. Sie geht in das Ende des Infundibulums über und
Hypophyse
liegt in der Fossa hypophysialis des Os sphenoidale. Eine
Nervus oculomotorius (III)
zirkuläre Durafalte, das Diaphragma sellae, bildet das
Tuber cinereum
Dach dieser Fossa und deren Boden bildet wiederum ein
Teil des Daches des Sinus sphenoidalis. Das Diaphragma Corpora mamillaria

sellae enthält eine kleine Öffnung für den Hypophysenstiel Nervus trochlearis (IV)
und trennt den anterioren Teil der Drüsenoberfläche vom Nervus trigeminus (V)
Chiasma opticum. Beidseits wird die Hypophyse von den Nervus abducens (VI)
Sinus cavernosi und den in ihnen enthaltenen Strukturen Pons
begrenzt. Inferior wird sie durch einen großen, teilweise
vakuolisierten venösen Sinus vom Boden der Fossa ge-
trennt, der mit dem Sinus circularis frei kommuniziert. Fornix
Die Meningen gehen in die Drüsenkapsel über und können Plexus choroideus
in der Fossa nicht als separate Schichten abgegrenzt wer- des III. Ventrikels
Foramen interventriculare
den. Allerdings reicht der Subarachnoidalraum vor allem Thalamus
Sulcus hypothalamicus Corpus callosum
Glandula
anterior oft unterschiedlich weit in die Sella, was in der pinealis
Magnetresonanztomografie oft als „teilweise leere Sella“ Vordere Kommissur
bezeichnet wird (› Abb. 1.12). Bei manchen Subarachno- Lamina terminalis
idalblutungen ist das dorsale Drittel der Drüse mit Blut,
das bis in diesen Raum gelaufen ist, bedeckt. Tuber cinereum
Zwischen Hypothalamus und Hypophyse bestehen
Corpus mamillare
funktionell und anatomisch wichtige Beziehungen. Diese
Bezeichnung bezieht sich auf die Strukturen im anterioren Cisterna chiasmatica
Teil des Bodens des III. Ventrikels und auf jene in der late-
ralen Wand des III. Ventrikels unter und vor dem Sulcus Chiasma opticum
hypothalamicus. Die Corpora mamillaria sind zwei runde,
Diaphragma sellae
weiße, erbsengroße Massen, die nebeneinander unter der
grauen Substanz auf dem Boden des III. Ventrikels vor der Cisterna
interpeduncularis
Substantia perforata posterior liegen. Sie bilden die poste-
riore Abgrenzung des Hypothalamus. An bestimmten Stel- Hypophyse
len der Hirnbasis ist die Arachnoidea von der Pia mater
Sinus
durch breite Räume getrennt, die frei miteinander kom- sphenoidalis
munizieren und als Cisternae subarachnoideae bezeichnet
Nasenseptum
werden. Der Fortsatz der Arachnoidea zwischen den bei-
den Schläfenlappen wird durch die Cisterna interpeduncu- Nasopharynx
laris von den Pedunculi cerebri getrennt. Nach anterior
setzt sich dieser Raum als Cisterna chiasmatica vor dem Cisterna pontis
Chiasma opticum fort. Raumforderungen stören diese Zis-
ternen. Abb. 1.4 
Die superiore Lage des Chiasma opticum in Bezug auf
die Hypophyse ist von großer Bedeutung. Es handelt sich
um ein flaches, leicht viereckiges Bündel von Sehnervenfa- noidale. Über seine obere Fläche zieht ein kleiner Rezessus
sern am Übergang zwischen der anterioren Wand und des III. Ventrikels, der Recessus supraopticus, nach unten
dem Boden des III. Ventrikels. Seine anterolateralen Win- und vorn bis zur Lamina terminalis. Etwas weiter entfernt
kel gehen in die Nn. optici über und die posterolateralen liegt die Pinealisdrüse, ein kleiner, konischer, rotgrauer
Winkel in die Tractus optici. Die Lamina terminalis, das Körper unter dem Splenium des Corpus callosum. Selten
zephale Ende des primitiven Neuralrohrs, bildet eine dün- liegt eine ektope Pinealisdrüse im Boden des III. Ventri-
ne Schicht aus grauer Substanz, die von der oberen Fläche kels, aus der Tumoren entstehen. Zur Kompression der
des Chiasmas bis zum Rostrum des Corpus callosum anderen benachbarten Hirnnerven, außer dem N. opticus,
reicht. Inferior ruht das Chiasma auf dem Diaphragma sel- kommt es bei starker Aufweitung des Sinus cavernosus bei
lae unmittelbar hinter dem Sulcus chiasmatis des Os sphe- einem Hypophysentumor (› Abb. 1.24).
6 1  Hypophyse und Hypothalamus

Beziehung zwischen Hypophyse und Sinus cavernosus


Die Sinus durae matris sind venöse Kanäle, die das Blut Sinus sagittalis superior
aus dem Gehirn drainieren. Die Sinus cavernosi haben ih- Falx cerebri
ren Namen aufgrund ihrer netzförmigen Struktur, da sie Diaphragma sellae und
von zahlreichen, miteinander verflochtenen Filamenten Sinus circularis
durchzogen sind, die von der A. carotis interna nach ante- Nervus opticus (II)
rior-posterior in das Zentrum der Sinus ausstrahlen. Sie Hypophyse
liegen rittlings und beidseits des Corpus ossis sphenoidalis Sinus sphenoparietalis
und neben der Hypophyse und öffnen sich jeweils in den Arteria carotis interna
Sinus petrosus inferior und superior (› Abb. 3.10). Auf
Nervus oculomotorius (III)
der medialen Wand jedes Sinus cavernosus liegt die A. ca-
rotis interna in engem Kontakt mit dem N. abducens (VI). Nervus ophthalmicus
Auf der lateralen Wand verlaufen die Nn. oculomotorius Nervus maxillaris
(III) und trochlearis (IV) sowie der N. ophthalmicus und Nervus trochlearis (IV)
der N. maxillaris aus dem N. trigeminus (V). Diese Struk-
Sinus cavernosus
turen werden vom Blutfluss entlang dem Sinus durch eine
Nervus trigeminus (V)
Endothelmembran getrennt. Die beiden Sinus cavernosus
kommunizieren miteinander über zwei Sinus intercaver- Nervus abducens (VI)
nosus. Der anteriore Sinus verläuft vor der Hypophyse und Plexus basilaris
der posteriore dahinter. Gemeinsam bilden sie einen Sinus Sinus petrosus superior
circularis um die Hypophyse. Diese Kanäle verlaufen zwi-
schen den beiden Lagen der Dura mater, die das Diaphrag-
ma sellae bilden und die für die starke Blutung verantwort-
lich sind, wenn diese Struktur bei einer transkraniellen
Operation der Hypophyse eingeschnitten wird. Gelegent-
III. Ventrikel
lich kommt es bei transsphenoidalen Hypophyseneingrif-
fen zur profusen Blutung aus einem Sinus circularis inferi- Chiasma opticum
or (› Abb. 1.31). Arteria carotis interna
Der Sinus petrosus superior ist ein kleiner, enger Kanal, Arteria communicans
der den Sinus cavernosus mit dem Sinus transversus ver- posterior
bindet. Er verläuft hinter und lateral des posterioren Endes Diaphragma sellae
des Sinus cavernosus über den N. trigeminus (V) und liegt Nervus oculomotorius (III)
im verklebten Rand des Tentorium cerebelli sowie im Sul- Nervus trochlearis (IV)
cus petrosus superior des Os temporale. In den Sinus ca- Hypophyse
vernosus mündet auch der kleine Sinus sphenoparietalis,
Arteria carotis interna
der unter den kleinen Keilbeinflügeln entlangzieht.
Nervus abducens (VI)
Interkavernös verläuft die A. carotis interna recht kom-
pliziert. Zunächst steigt sie bis zum Processus clinoideus Nervus ophthalmicus (V)
posterior nach oben, dann zieht sie entlang dem Corpus Sinus cavernosus
ossis sphenoidalis nach vorn und biegt dann auf der medi- Nervus maxillaris (V)
alen Seite des Processus clinoideus anterior wieder nach Sinus sphenoidalis
oben ab. Sie perforiert die Dura mater, die das Sinusdach Nasopharynx Frontalschnitt durch die Sinus cavernosi
bildet. Dieser Anteil der Arterie ist bei seinem Verlauf zwi-
schen den Nn. opticus und oculomotorius von sympathi- Abb. 1.5 
schen Nervenfasern umgeben. Die Aa. hypophysiales sind
Äste des interkavernösen Anteils der A. carotis interna.
Der inferiore Ast versorgt den Hypophysenhinterlappen
und der superiore Ast zieht in die Eminentia mediana, wo
er den Anfang des Portalsystems der Hypophyse bildet, der
zum Hypophysenvorderlappen zieht.
Bei Hypophysenoperationen wird grundsätzlich ver-
sucht, die großen Gefäße und die Nn. optici sowie das Chi-
asma opticus zu umgehen und zu schonen (› Abb. 1.31).
Beziehungen zur Sella turcica 7

Beziehungen zur Sella turcica


Die Sella turcica, auf der die Hypophyse liegt, ist eine tiefe Sulcus chiasmaticus
Senke im Os sphenoidale. Beim Erwachsenen beträgt ihr
mittlerer anterior-posteriorer Durchmesser weniger als Tuberculum sellae
14 mm und die Höhe vom Boden bis zu einer Linie zwi- Canalis opticus
schen dem Tuberculum sellae und der Spitze des Processus
clinoideus posterior weniger als 12 mm. Processus clinoideus anterior
Zum Verständnis seiner Lagebeziehungen ist eine allge- Foramen rotundum
meinere Beschreibung des Os sphenoidale erforderlich. Es
liegt in der Schädelbasis vor den Ossa temporalia und der Fossa hypophysialis
Pars basilaris des Os occipitale und ähnelt einer Fleder-
Processus clinoideus
maus mit ausgestreckten Flügeln. Es wird in einen media- posterior
len Abschnitt, das Corpus, zwei von den Seiten des Corpus
Foramen ovale
ausgehende Alae majores und minores sowie in die beiden
nach unten ragenden Processus pterygoidei unterteilt. Der Foramen spinosum
kubische Körper enthält zwei große Hohlräume, die luftge- Foramen
füllten Sinus sphenoidales, die voneinander durch ein oft magnum Foramen lacerum

schräg verlaufendes Septum getrennt werden. Die Facies Dorsum sellae


superior des Corpus artikuliert anterior mit der Lamina
cribrosa des Os ethmoidale und lateral mit den Ossa fron- Clivus
talia. Der überwiegende Anteil der Artikulation erfolgt mit
der Ala minor. Hinter dem Gelenk mit dem Os ethmoidale Ala minor ossis sphenoidalis
Canalis opticus
ist die Oberfläche glatt, in der Mittellinie leicht erhaben
und beidseits für die Riechlappen des Gehirns eingekerbt. Sinus frontalis Processus clinoideus anterior
Diese Fläche wird hinten von einer Kante begrenzt, welche
Tuberculum sellae
die vordere Kante einer engen transversalen Furche, des
Sulcus praechiasmatis, bildet, über und hinter der das Chi- Fossa hypophysialis
asma opticum liegt. Die Furche endet beidseits im Fora-
men opticum, durch das der N. opticus und die A. ophthal- Processus clinoideus
mica in die Augenhöhle eintreten. posterior
Hinter dem Sulcus praechiasmatis befindet sich eine Er-
höhung, das Tuberculum sellae. Unmittelbar posterior ist Crista Dorsum sellae
sphenoidalis
Nasenseptum

eine tiefe Senke, die Sella turcica, deren tiefster Anteil die
Fossa hypophysialis ist. Die anteriore Grenze der Sella tur- Lamina Sinus sphenoidalis
perpendicularis
cica wird von zwei kleinen Erhebungen – jeweils einer auf ossis ethmoidalis Os sphenoidale
jeder Seite –, den Processus clinoidei mediales, abgeschlos-
sen. Die posteriore Grenze der Sella wird von einer lang­ Vomer
Pars basilaris
gezogenen Knochenplatte gebildet, dem Dorsum sellae, Processus palatinus ossis occipitalis
das an seinen superioren Winkeln mit zwei Knoten, den maxillae
Processus clinoidei posteriores, endet.
Hinter dem Dorsum sellae liegt eine flache Senke, der
Clivus, der leicht schräg nach hinten verläuft und als Fur-
che auf der Pars basilaris des Os occipitale weiterzieht. Die Os palatinum
Facies laterales des Corpus ossis sphenoidalis sind der Ur-
sprung der beiden Alae majores und enthalten die Lamina Abb. 1.6 
pterygoidea medialis. Über dem Ursprung der beiden Alae
majores befindet sich eine breite Furche, welche die A. ca-
rotis interna und den Sinus cavernosus enthält. Die Facies Seit der Einführung des Operationsmikroskops im Jahre
superior beider Alae majores bildet einen Teil der mittle- 1969 durch Jules Hardy ist die sublabiale transseptale
ren Schädelgrube. Die A. carotis interna zieht durch das transsphenoidale Technik bei Hypophysenoperationen der
Foramen lacerum, eine große, etwa dreieckige Öffnung, Standard bei der Behandlung von Hypophysenadenomen.
die vorn vom Ala major ossis sphenoidalis, hinten von der Inzwischen erfolgen jedoch aufgrund besserer Endoskope
Spitze der Pars petrosa des Os temporale und medial vom in vielen Zentren, an denen Hypophysenoperationen
Corpus ossis sphenoidalis und von der Pars basilaris des durchgeführt werden, endoskopische transnasale Opera­
Os occipitale begrenzt wird. Zur Nase hin hat die Fossa hy- tionen (› Abb. 1.31).
pophysialis Bezug zur Crista sphenoidalis und zur Lamina
cribrosa des Os ethmoidale.
8 1  Hypophyse und Hypothalamus

Hypophysenvorderlappenhormone
und ihre Feedback-Kontrolle
Die quantitative und zyklische Sekretion der trophischen Emotionale und äußere Einflüsse Nucleus paraventricularis
über afferente Nerven
Hypophysenhormone wird auf drei Ebenen streng kontrol-
liert: (1) adenohypophysiotrope Hormone des Hypothala-
mus, die in das Portalsystem abgegeben werden, wirken auf
die hypophysären G-Protein-verknüpften Bindungsstellen
auf der Oberflächenmembran der Zellen, sodass positive
oder negative Signale entstehen, welche die Transkription
der Gene der Hormone und deren Sekretion fördern. (2)
Zirkulierende Hormone der Zielzellen bewirken eine nega-
tive Rückkopplung ihrer trophischen Hormone. (3) Intra-
hypophysäre autokrine und parakrine Zytokine und Nucleus
Wachstumsfaktoren steuern lokal Zellentwicklung und supraopticus
Arteria
-funktion. Zu den hypothalamischen Releasing-Hormonen hypothalamica Neurosekrete des Hypothalamus
gehören Growth-Hormon-releasing-Hormon (GHRH), gelangen über Nervenfasern in
Corticotropin-releasing-Hormon (CRH), TSH-releasing- den primären Plexus des
Hormon (TRH) und Gonadotropin-releasing-Hormon (Gn- hypophysären Portalkreislaufs
Arteria
RH). Die beiden hypothalamischen inhibitorischen Fakto- hypophysialis Hypophysäre Portalvenen leiten
ren sind Somatostatin und Dopamin; sie unterdrücken die superior die Neurosekrete zur Adenohypophyse
Blutspiegel – regulierender Einfluss

Sekretion von Growth-Hormon (GH) bzw. Prolaktin. Die Neurohypophyse


Bestimmte sekretorische
sechs trophischen HVL-Hormone – ACTH (adrenokortiko- Zellen der Adenohypophyse
tropes Hormon), GH, TSH (thyreoideastimulierendes Hor- werden von den
Neurosekreten des
mon), follikelstimulierendes Hormon (FSH), luteinisieren- Hypothalamus
des Hormon (LH) und Prolaktin – werden pulsatil in die beeinflusst
Sinus cavernosi ausgeschüttet und zirkulieren systemisch.
Das hormonelle System aus Hypothalamus, Hypophyse
und Zieldrüse funktioniert durch einen Feedback-Mecha-
nismus, bei dem der Blutspiegel der Zieldrüsenhormone die
Sekretionsrate der Hormone aus Hypophyse und Hypotha- GH
lamus festlegt. Diese Rückkopplung kann „negativ“ erfol-
gen, sodass das Zieldrüsenhormon oder dessen Surrogat die IGF-1
Hypothalamus-Hypophysen-Achse hemmt, oder „positiv“
im Sinne einer Stimulation. Diese Kontrollsysteme können TSH ACTH FSH LH Prolaktin
geschlossene Schleifen sein (Steuerung nur durch die inter-
agierenden trophischen und Zielhormone) oder offen (Ein-
flussnahme auch durch das Zentralnervensystem oder an- Fett-
dere Faktoren). Alle Feedback-Schleifen von Hypothalamus, gewebe
Schild- Ovar Mamma
Hypophyse und Zieldrüse sind zum Teil offen; sie können Neben- Hoden (Milch-
drüse
vom zentralen Nervensystem beeinflusst werden (emotio- nieren- Knochen, Muskeln
produktion)
rinde Muskeln,
nale und exterozeptive Einflüsse), wodurch entweder der Organe (Wachstum)
Normalwert des Feedback-Kontrollsystems verändert oder
die geschlossene Schleife ausgeschaltet werden kann.
Schilddrüsen- Steroid- Testosteron Östrogen, Progesteron
Zudem erfolgt eine Feedback-Hemmung von Hypotha- hormone hormone und Inhibin und Inhibin
lamus und Hypophyse durch andere Faktoren der Zieldrü-
se. So steuert Inhibin, ein heterodimeres Glykoproteinpro-
Abb. 1.7 
dukt der Sertoli-Zellen des Hodens und der ovariellen Gra-
nulosazellen, durch ein negatives Feedback die hypophysä- che, die länger als ein Tag dauern, als infradiane Rhythmen eine Über- oder Unterfunktion erlaubt, ermöglicht der Se-
re FSH-Sekretion. Synthese und Sekretion von Inhibin (z. B. der Menstruationszyklus). Beispiele für zirkadiane rumspiegel des GH-abhängigen Peptids Insulin-like
werden durch FSH induziert. Rhythmen: Die Sekretion von GH und Prolaktin ist kurz nach Growth Factor 1 (IGF-1) aufgrund seiner längeren Halb-
Außerdem werden die Blutspiegel der trophischen und dem Einschlafen am höchsten. Die Cortisolsekretion ist um wertszeit eine bessere Beurteilung. Die zirkulierenden
Zieldrüsenhormone von endogenen Sekretionsrhythmen be- 23 Uhr am niedrigsten und zwischen 2 und 6 Uhr am höchs- Hormonspiegel sind eine Funktion der zirkadianen Rhyth-
einflusst. Die meisten Hormonachsen besitzen einen endoge- ten. Die Testosteronsekretion ist morgens am höchsten. Au- men und der Clearance-Raten der Hormone; Laboratorien
nen Sekretionsrhythmus von 24 Stunden, den zirkadianen ßerdem werden GH, ACTH und Prolaktin in kurzen regelmä- standardisieren die Referenzbereiche der Hormone an-
oder diurnalen Rhythmus, und werden durch Informationen ßigen Pulsen sezerniert, was der pulsatilen Freisetzung der hand der Tageszeit. Bei einer Störung der zirkadianen
von der Retina und aus den hypothalamischen Kernen ge- jeweiligen hypothalamischen Releasing-Faktoren entspricht. Rhythmik besteht der Verdacht auf eine endokrine Dys-
steuert. Der Tractus retinohypothalamicus beeinflusst die Bei der Beurteilung der endokrinen Funktion muss die funktion, beispielsweise besteht bei Verlust der zirkadia-
zirkadianen Impulsgeber des hypothalamischen Nucleus su- zirkadiane und pulsatile Sekretion berücksichtigt werden. nen ACTH-Sekretion mit hohen mitternächtlichen Corti-
prachiasmaticus. Rhythmen mit einer Sekretion mehrmals Während beispielsweise aufgrund der pulsatilen Sekretion solspiegeln in Blut und Speichel ein ACTH-abhängiges
täglich werden als ultradiane Rhythmen bezeichnet und sol- ein einzelner GH-Blutwert keine zuverlässige Aussage über Cushing-Syndrom.
Hypophysenhinterlappen 9

Hypophysenhinterlappen
Der Hypophysenhinterlappen besteht aus Nervengewebe Signalwege des Ursprung von Vasopressin
und wird von den distalen Axonen der Nuclei supraopticus Vorderhirns Zellen des Nucleus
und paraventricularis des Hypothalamus gebildet. Die supraopticus
Axonaler
Axonendigungen speichern neurosekretorische Granula, Nucleus Transport der
paraventri- Sekretions-
die antidiuretisches Hormon (ADH) und Oxytocin, zwei cularis Gefensterte
produkte Kapillare
Nonapeptide aus einem Ring aus sechs Aminosäuren mit Signal-
einer Cystein-Cystein-Brücke und drei Aminosäuren im wege des HHL
Nucleus Hirnstamms
Schwanz, enthalten. In der Embryogenese wandern neuro-
supraopticus
epitheliale Zellen der Auskleidung des III. Ventrikels nach
lateral zum und über das Chiasma opticum und bilden den Neurosekretorische Endigung
Nucleus supraopticus sowie zu den Wänden des III. Vent- Arterien des (HHL)
rikels, wo sie den Nucleus paraventricularis bilden. Die Hypothalamus
Axon
Blutversorgung des Hypophysenhinterlappens erfolgt aus Mit dem Blut erreichen
Axon
den Aa. hypophyseales inferiores und die venöse Drainage Signale SON und PVN Fort- Kollagenraum
in Sinus cavernosus und V. jugularis interna. sätze der
Nervenbahnen der Neurosekretorische
Der Hypophysenhinterlappen dient der Speicherung Pituizyten
Neurohypophyse Vesikel
und Freisetzung von ADH und Oxytocin. Er speichert ge- Mastzelle
nug ADH, um für etwa 30 Tage eine basale Sekretion auf- Herring-Körper
Endothel Fibroblast
rechtzuerhalten und für etwa 5 Tage eine maximale Freiset-
HVL
zung sicherzustellen. Während etwa 90 % der Neurone des
Nucleus supraopticus ADH herstellen und alle seine Axone Basalmembran
HHL Kapillare
im Hypophysenhinterlappen enden, besitzt der Nucleus (Neurohypophyse)
paraventricularis fünf Unterkerne, die neben ADH auch Venöse Drainage des HHL
andere Peptide produzieren (z. B. Somatostatin, CRH, TRH Ort der Vasopressinresorption Arteria hypophysialis inferior
und Opioide). Die Neurone der Unterkerne des Nucleus
paraventricularis reichen bis in Eminentia mediana, Hirn-
stamm und Rückenmark. Der wichtigste stimulatorische
Sekretionsreiz für ADH und Oxytocin ist Glutamat und der
wichtigste inhibitorische Reiz ist γ-Aminobuttersäure (GA-
BA). Wenn ein Sekretionsreiz für ADH oder Oxytocin auf
den Nucleus supraopticus oder Nucleus paraventricularis
einwirkt, entsteht ein Aktionspotenzial, das entlang dem
Axon zum Hypophysenhinterlappen zieht und den Ein-
strom von Kalzium auslöst, das die neurosekretorischen
Granula zur Fusion mit der Zellmembran und Freisetzung
ihres Inhalts in den perivaskulären Raum sowie nachfol-
gend in das gefensterte Kapillarsystem des Hypophysen-
hinterlappens veranlasst.
Das in den neurosekretorischen Granula des Hypophy-
senhinterlappens gespeicherte ADH produziert ein helles
Signal in der T1-gewichteten Magnetresonanztomografie Aufhellung im Hypophysenhinterlappen. Das sa- Ektoper Hypophysenhinterlappen. Das sagittale
(MRT) – den „bright spot“ des Hypophysenhinterlappens. gittale T1-gewichtete MRT zeigt eine Hyperinten- T1-gewichtete MRT zeigt eine Hyperintensität
sität (Pfeil) im posterioren Anteil der Sella turcica. (Pfeil) im posterioren Anteil der Hypophysenstiels.
Dieser findet sich bei den meisten gesunden Menschen
und fehlt bei zentralem Diabetes insipidus. Außerdem Abb. 1.8 
kann der „bright spot“ bei kongenitalen Fehlbildungen
verlagert sein, wenn beispielsweise der Hypophysenhinter-
lappen nicht deszendiert ist, und an der Basis des Hypo-
thalamus oder entlang dem Hypophysenstiel auftreten.
Obwohl der Hypophysenhinterlappen meistens normal
funktioniert, kann dieser „ektope Hypophysenhinterlap-
pen“ mit einer Hypoplasie und unterschiedlich starken
Dysfunktion des Hypophysenvorderlappens einhergehen.
10 1  Hypophyse und Hypothalamus

Manifestationen suprasellärer Erkrankungen


Supraselläre Läsionen, die zu Funktionsstörungen des Hy-
Hypothalamusschädigung Ätiologie
pothalamus führen können, sind Kraniopharyngeome,
Kraniopharyngeom
Dysgerminome, granulomatöse Erkrankungen (z. B. Sar- Dysgerminom
koidose, Tuberkulose, Langerhans-Zell-Histiozytose), eine Ependymom
lymphozytäre Hypophysitis, metastasierende Neoplasien, Gangliozytom
Gliom
die supraselläre Ausbreitung eines hypophysären Tumors, Granulomatöse Erkrankungen
Gliome (z. B. von Hypothalamus, III. Ventrikel, N. opti- Hamartom
cus), Sellachordome, Meningeome, Hamartome, Ganglio- Hypo- Lymphozytäre Hypophysitis
physenstiel- Meningeom
zytome, supraselläre Arachnoidalzysten und Ependymo- schaden Metastasen
me. Sellachordom
Die endokrinen und nichtendokrinen Folgen entstehen Supraselläre Arachnoidalzyste
Supraselläre Ausbreitung
durch die Verdrängung. Aufgrund der engen Beziehung eines Hypophysentumors
zum Chiasma opticum gehen Läsionen des Hypothalamus Somnolenz
oft mit Sehstörungen einher. Zudem sind Kopfschmerzen
und rezidivierendes Erbrechen möglich. Der Hypothala-
mus ist für viele Funktionen der Homöostase, wie Appetit-
kontrolle, Schlaf-wach-Zyklus, Wasserhaushalt, Tempera-
tursteuerung, Funktion des Hypophysenvorderlappens,
zirkadiane Rhythmen und Reize für das parasympathische
und sympathische Nervensystem, zuständig. Das klinische
Bild hängt stärker von der Lage eines Hypothalamuspro-
zesses ab als von dessen Art. Raumforderungen können
eine oder alle vier Regionen des Hypothalamus einbezie-
hen (von anterior nach posterior: präoptische, supraopti-
sche, tuberale und mammäre Region) sowie eine oder alle
drei Zonen (von der Mitte nach lateral: periventrikuläre,
Diabetes insipidus
mediale und laterale Zone). So entsteht Hypersomnolenz
bei Schäden des posterioren Hypothalamus (mammäre
Region), wo der rostrale Anteil des aufsteigenden retikulä-
Hypothyreose
ren Aktivierungssystems liegt. Patienten mit Läsionen des Adipositas Nebennieren-
anterioren (präoptischen) Hypothalamus leiden oft unter oder insuffizienz
Hyperaktivität und Insomnia, Störungen des Schlaf-wach-
Zyklus (z. B. nächtliche Hyperaktivität und Tagesmüdig-
keit) oder Dysthermie (akute Hyperthermie oder chroni-
sche Hypothermie).
Das Appetitzentrum liegt im ventromedialen Hypotha-
lamus und das Sättigungszentrum im medialen Hypotha-
lamus. Destruktive Läsionen des weiter zentral liegenden
Sättigungszentrums führen zu Hyperphagie und Adiposi-
tas, einer recht häufigen Manifestation bei Patienten mit
einer Raumforderung des Hypothalamus. Destruktive Lä-
Hypogonadismus oder Minderwuchs
sionen der weiter lateral liegenden Esszentren können zu Abmagerung (selten) Pubertas praecox (Zwergenwuchs)
Hypophagie, Gewichtsverlust und Kachexie führen.
Die Destruktion der ADH-produzierenden magnozel- Abb. 1.9 
lulären Neurone der Nuclei supraopticus und paraven-
tricularis in der tuberalen Region des Hypothalamus
führen zum zentralen Diabetes insipidus (› Abb. 1.27). zu einer unterschiedlich starken Dysfunktion des Hypo- β-humanem Choriongonadotropin (β-hCG) durch supra-
Dieser entsteht außerdem durch Läsionen (z. B. hoch sit- physenvorderlappens (z. B. sekundäre Hypothyreose, se- selläre Keimzelltumoren.
zende Läsionen des Hypophysenstiels), die den ADH- kundäre Nebenniereninsuffizienz, sekundärer Hypogona- Aufgrund der engen mikroanatomischen Übergänge
Transport durch die magnozellulären Axone stören, die dismus und Wachstumshormonmangel). der Hypothalamusregionen und -zonen weisen Patienten
in Hypophysenstiel und Hypophysenhinterlappen en- Hamartome, Gangliozytome und Keimzelltumoren des mit suprasellärer Krankheit typischerweise nicht nur ei-
den. Polydipsie und Hypodipsie finden sich bei Schäden Hypothalamus können Peptide produzieren, die normaler- nes, sondern viele der besprochenen Dysfunktionssyndro-
des zentralen Osmorezeptors in den anterior-medialen weise nicht vom Hypothalamus sezerniert werden. Da- me auf.
und anterior-lateralen präoptischen Regionen. Der ge- durch weisen die Patienten endokrine Überfunktionssyn-
störte Durstmechanismus führt zu Dehydrierung und drome auf, wie eine Pubertas praecox bei Expression von
Hypernatriämie. Gonadotropin-releasing-Hormon durch Hamartome, Ak-
Da die Funktion des Hypophysenvorderlappens über- romegalie oder Cushing-Syndrom bei Expression von
wiegend durch den Nucleus arcuatus in der tuberalen Re- Growth-Hormon-releasing-Hormon bzw. ACTH-relea-
gion des Hypothalamus gesteuert wird, führen Läsionen sing-Hormon durch Gangliozytome des Hypothalamus
des Bodens des III. Ventrikels und der Eminentia mediana sowie eine Pubertas praecox bei der Expression von
Kraniopharyngeom 11

Kraniopharyngeom
Das Kraniopharyngeom ist bei Kindern und Jugendlichen Ein großes zystisches supraselläres Kranio-
der häufigste Tumor im Bereich der Hypophyse und macht pharyngeom komprimiert das Chiasma
opticum und den Hypothalamus und füllt
etwa 3 % aller intrakraniellen Tumoren sowie bis zu 10 % den III. Ventrikel bis zum Foramen interven-
aller kindlichen Hirntumoren aus. Kraniopharyngeome triculare (Monro) mit Sehstörungen, Diabe-
sind histologisch benigne Epithelioidtumoren, die aus tes insipidus und Hydrozephalus.
Überresten der Rathke-Tasche entstehen. Sie können sehr
groß werden (z. B. Durchmesser >  6 cm) und in den III.
Ventrikel sowie benachbarte Hirnstrukturen eindringen.
Diese Tumoren liegen für gewöhnlich über der Sella turci-
ca, drücken auf das Chiasma opticum und reichen bis in
den III. Ventrikel. Seltener liegen Kraniopharyngeome in
der Sella, komprimieren die Hypophyse und erodieren oft Nach Entleerung des
die knöchernen Abgrenzungen der Sella turcica. Befunde Zysteninhalts über
und Symptome, die vor allem durch Verdrängung entste- einen frontotemporalen
Lappen wird der Tumor
hen, treten für gewöhnlich in der Jugend auf und nur sel- vorsichtig unter dem
ten jenseits eines Alters von 40 Jahren. Zu den Verdrän- Chiasma opticum nach
gungssymptomen gehören Sehverluste durch Kompressi- vorne gezogen.
on des Chiasma opticum, ein Diabetes insipidus durch In-
vasion oder Durchtrennung von Hypothalamus oder
Hypophysenstiel, eine Dysfunktion des Hypothalamus
(z. B. Adipositas mit Hyperphagie, Hypersomnolenz, Stö-
rung der Temperatursteuerung), eine unterschiedlich star-
ke HVL-Insuffizienz (z. B. Wachstumshormonmangel mit
Kleinwuchs in der Kindheit, Hypogonadismus, Nebennie-
reninsuffizienz, Hypothyreose), eine Hyperprolaktinämie
durch Kompression des Hypophysenstiels oder Schädi-
gung der dopaminergen Neurone des Hypothalamus, Intraselläres zystisches Kraniopharyngeom,
Hirndruckzeichen (z. B. Kopfschmerzen, Strahlerbrechen, das die Hypophyse komprimiert und zum
Hypopituitarismus führt. MRT (Sagittalschnitt) eines zystischen
Papillenödem, Optikusatrophie), Symptome des Hydroze-
suprasellären Kraniopharyngeoms
phalus (z. B. kognitive Einschränkungen und Verwirrt-
heit), wenn große Tumoren den Liquorfluss behindern,
sowie Hirnnervenlähmungen bei Invasion des Sinus caver-
nosus.
Die Röntgenbefunde sind diagnoseweisend. Konventio-
nelle Röntgenaufnahmen und die Computertomografie
(CT) zeigen unregelmäßige supraselläre Kalzifikationen.
Die Magnetresonanztomografie (MRT) zeigt typische mul-
tilobuläre zystische Strukturen, die meist suprasellär lie-
gen, aber auch von der Sella ausgehen können. Die zysti-
schen Regionen enthalten häufig eine trübe, cholesterin-
haltige, visköse Flüssigkeit. Die Wände der zystischen und
Histologischer Schnitt: Kraniopharyngeom MRT (Koronalschnitt) eines suprasel-
soliden Komponenten bestehen aus Wirbeln und Strängen (H & E Färbung, x 125) lären Kraniopharyngeoms
von Epithelzellen, die durch ein lockeres Netz aus Sternzel-
len getrennt sind. Bei interzellulären Epithelbrücken und Abb. 1.10 
Keratohyalin wird der Tumor als Adamantinom einge-
stuft.
Zu den Behandlungsoptionen von Patienten mit Kra-
niopharyngeomen gehören Beobachtung, endonasale
transsphenoidale Operationen bei kleineren intrasellären
Tumoren, Kraniotomien bei größeren suprasellären
­Tumoren, die stereotaktische Strahlentherapie oder eine
Kombination dieser Modalitäten. Die meisten dieser Be-
handlungsansätze führen zu einer unterschiedlich ausge-
prägten HVL- oder HHL-Insuffizienz (oder beides) mit
entsprechendem Hormonmangel. Außerdem sind nach
der Behandlung Rezidive möglich (≈ 40 %), da der Tumor
auch an benachbarten Strukturen adhäriert, sodass eine
Langzeitbeobachtung erforderlich ist.
12 1  Hypophyse und Hypothalamus

Sehstörungen durch Hypophysentumoren


Das Chiasma opticum liegt über dem Diaphragma sellae.
Der häufigste Hinweis darauf, dass ein Hypophysentumor
die Grenzen der Sella turcica überschritten hat, sind Seh-
störungen durch den Druck des Tumors auf das Chiasma
opticum. Häufig kommt es durch Druck des Tumors auf
die kreuzenden zentralen Fasern und Aussparung der
nichtkreuzenden lateralen Fasern des Chiasmas zu einer
bitemporalen Hemianopsie. Erste Veränderungen sind
normalerweise eine Vergrößerung des blinden Flecks, der Bitemporale
Verlust des Farbensehens (v. a. rot) und eine keilförmige Hemianopsie
Sehstörung in den oberen temporalen Quadranten, die
sich allmählich vergrößert, den gesamten Quadranten ein-
nimmt und sich anschließend auch auf die unteren Quad-
ranten ausdehnt.
Die Art des Gesichtsfeldausfalls hängt von der Lage des
Chiasmas in Bezug zur Hypophyse und der Richtung des Nervi optici
Tumorwachstums ab. In etwa 10 % der Fälle liegt das Chi- Hypophysentumor mit Unterbrechung der
asma nicht in seiner üblichen Position direkt über dem Kompression oder Invasion Kreuzung der nasalen
des Chiasma opticum Anteile der Retina- Tractus opticus
Diaphragma, sondern fast vollständig anterior oder poste-
fasern am Chiasma
rior des Diaphragma sellae. Außerdem gibt es eine Lateral- opticum
verlagerung des Chiasmas, wodurch sein rechter oder lin-
ker Schenkel über dem Diaphragma liegt. Bei anormaler
Befestigung des Chiasmas kann das Adenom lange Zeit
nach oben wachsen, bevor es zu ernsthaften Sehstörungen
kommt. Bilaterale zentrale Skotome entstehen durch eine
Schädigung des posterioren Anteils des Chiasmas und zei-
gen an, dass das Chiasma fixiert und der Tumor groß ist. In
anderen Fällen eines fixierten Chiasmas kann der Tumor
so wachsen, dass er den Tractus opticus und nicht das Chi-
asma komprimiert und so zu einer homonymen Hemian-
opsie führen. Derartige Defekte bedeuten jedoch nicht in
jedem Fall, dass das Chiasma fixiert ist, sondern können
auch durch eine laterale Ausdehnung unter einem normal
platzierten Chiasma in den Temporallappen entstehen.
Weitere mögliche Sehstörungen sind ein unilaterales zent-
rales Skotom, Schwachsichtigkeit (Amblyopie) eines Au-
ges durch Kompression des Nervus opticus und eine infe-
riore Quadrantenhemianopsie, vermutlich durch einen
MRT eines hypophysären MRT eines hypophysären Makro- MRT eines hypophysären Makro-
großen Tumor, der die Aa. cerebri anteriores in die Dorsal-
Makroadenoms mit Aus- adenoms mit Ausbreitung nach adenoms mit Ausbreitung nach
fläche des normal platzierten Chiasmas drückt. breitung nach suprasellär und suprasellär und bilateral in die suprasellär, bilateral in die Sinus
Meist besteht eine primäre Optikusatrophie, die aber in den rechten Sinus caver- Sinus cavernosi. Das Chiasma cavernosi und in das Os sphe-
bei Läsionen hinter dem Chiasma fehlen kann. Ein Papil- nosus. Das Chiasma opticum opticum ist komprimiert und es noidale. Das Chiasma opticum
ist leicht angehoben, die besteht bitemporaler Sehverlust ist stark komprimiert mit komp-
lenödem ist zwar selten, kann aber bei großen Tumoren, Gesichtsfelder aber normal. im oberen Quadranten. letter bitemporaler Hemianopsie.
die zu einem erhöhten Hirndruck führen, entstehen. Wenn
der Druck auf die optischen Leitungsbahnen nachlässt Abb. 1.11 
(z. B. durch eine Operation oder Medikamente), können
sich die Gesichtsfelder normalisieren. Allerdings hängt die
Erholung der Sehfunktion von Ausmaß und Dauer der De-
formierung des Tractus opticus ab. Gesichtsfelddefekte nus cavernosus oder nach inferior bis in den Sinus spheno-
lassen sich bei der klinischen Untersuchung anhand des idalis reichen. Diese Struktur zeigt erhebliche Varianten,
Blickwinkels erkennen, in dem ein Objekt, wie der Finger von einer dichten, engmaschigen Membran bis zu einem
des Untersuchers, vom Patienten erkannt wird, wenn er kleinen Kranz mit einer weiten infundibulären Öffnung.
geradeaus blickt. Für eine exakte Bestimmung von Größe Häufig gibt das Diaphragma dem Druck von unten nach.
und Form des Gesichtsfelddefekts ist eine quantitative Pe- Sie liegt für gewöhnlich direkt dem Diaphragma auf und
rimetrie erforderlich. ist von ihm nur durch eine potenzielle Spalte getrennt. Oft
Manche Hypophysentumoren wachsen so stark, dass und insbesondere bei einer gut entwickelten Cisterna chi-
sie die Sella vergrößern; die Sehbahn wird nur deshalb asmatica kann das Chiasma opticum bis zu 1 cm über dem
nicht geschädigt, weil das Diaphragma sellae fest ist und Diaphragma liegen, sodass ein eindringender Tumor viel
eine Ausbreitung zum Chiasma verhindert. In diesen Fäl- Platz zur Ausdehnung hat, bevor er die Sehbahn kompri-
len kann der Hypophysentumor nach lateral bis in den Si- miert.
Nichttumoröse Veränderungen von Hypophyse und Hypophysenstiel 13

Nichttumoröse Veränderungen von Hypophyse


und Hypophysenstiel
Nichttumoröse Läsionen der Hypophyse, die sich funk­
tionseinschränkend auswirken können, sind die lympho-
zytäre Hypophysitis, granulomatöse Erkrankungen (z. B.
Sarkoidose, Tuberkulose, Langerhans-Zell-Histiozytose,
Wegener-Granulomatose), Kopftraumen mit Schädelba-
sisfraktur, Eisenüberladung (z. B. Hämochromatose, Hä-
mosiderose), intraselläre Karotisaneurysmen, primär leere
Sella, zystische Hypophyseninfektion (z. B. Enzephalitis,
Hypophysenabszess), Mutationen in Genen, die für Tran- Suprasellär Intrasellärer HVL Intrasellärer HHL
skriptionsfaktoren der Hypophyse kodieren und die Ent-
Hypothalamussymptome Unterschiedlich starke Diabetes insipidus
wicklung von Mittellinienanomalien. (Adipositas, Somnolenz) mit HVL-Unterfunktion
Die lymphozytäre Hypophysitis ist eine Autoimmuner- oder ohne Hypopituitarismus
krankung mit Lymphozyteninfiltrat und Vergrößerung der und/oder Diabetes insipidus
Hypophyse mit nachfolgender selektiver Destruktion der Lymphozytäre Hypophysitis und granulomatöse Erkrankungen
Hypophysenzellen. Die Krankheit manifestiert sich meist in Ausmaß und Art des Hypopituitarismus hängen von Größe und Lage der Beteiligung ab.
der Spätschwangerschaft oder postpartal. Typische Symp-
tome sind Kopfschmerzen sowie der Mangel von einem
oder mehreren Hypophysenhormonen. Oft sind vorzugs-
weise die basophilen HVL-Zellen betroffen. Bei diesen Pati-
enten kann ein Panhypopituitarismus vorliegen (mit Dia-
betes insipidus). In der Magnetresonanztomografie (MRT)
zeigt sich für gewöhnlich eine homogene, kontrastanrei-
chernde Sellamasse mit Beteiligung des Hypophysenstiels.
Die Hypophysenhormone fehlen für gewöhnlich perma-
nent, gelegentlich erholt sich die Funktion jedoch.
Die granulomatöse Hypophysitis kann durch eine Sar-
koidose, Tuberkulose, Langerhans-Zell-Histiozytose oder Trauma Schädelfraktur, Blutung Unterschiedlich starker Hypopituitarismus
Wegener-Granulomatose entstehen. Sie kann Hypothala-
mus, Hypophysenstiel und Hypophyse einbeziehen und
zum Hypopituitarismus mit Diabetes insipidus führen.
Ein Kopftrauma mit Schädelbasisfraktur kann einen hy-
pophysären Hormonmangel verursachen, der zur unzurei-
chenden Sekretion von HVL- und HHL-Hormonen führt.
Die Eisenüberladung bei Thalassämie mit Hämochro-
matose und Hämosiderose kann auch die Hypophyse be-
treffen. Die Eisenüberladung hat häufig einen selektiven
Gonadotropinmangel zur Folge. MRT einer diffus anrei- Angiografie eines MRT einer primär leeren
Der Begriff Syndrom der leeren Sella bezeichnet eine ver- chernden lymphozytären intrasellären Sella
Hypophysitis, welche die Karotisaneurysmas
größerte Sella turcica, die nicht vollständig mit Hypophy- Sella ausfüllt und bis zum
sengewebe ausgefüllt ist. Ein sekundäres Syndrom der lee- Chiasma opticum reicht
ren Sella tritt auf, wenn ein Hypophysenadenom die Sella
vergrößert, dann aber operativ entfernt oder durch eine Die Bildgebung ist bei nicht tumorösen Sellaprozessen diagnostisch wegweisend und erlaubt
Strahlentherapie oder einen Infarkt beschädigt wird. Beim deren Zuordnung.
primären Syndrom der leeren Sella kann durch einen De-
fekt im Diaphragma sellae Liquor eintreten und die Sella Abb. 1.12 
vergrößern (≤ 50 % der Patienten mit primärem Syndrom
der leeren Sella haben einen benignen erhöhten Hirn- für die Differenzierung eines Zelltyps verantwortlich, wel- kombinierten Mangel der hypophysären Hormone: GH,
druck); die Hypophysenfunktion ist meist intakt. Das im cher der Vorläufer der somatotropen, laktotropen, thyreo­ Prolaktin, TSH, LH und FSH (› Abb. 1.13).
MRT nachweisbare Hypophysengewebe wird gegen den tropen und gonadotropen Zellen ist. Das von POU1F1 ko- Angeborene Mittellinienanomalien können zu strukturel-
Sellaboden gedrückt. dierte Protein, das kurz und unmittelbar nach dem durch len Hypophysenanomalien führen (z. B. Hypophysenaplasie
Der Hypopituitarismus ist auch mit Mutationen von Ge- PROP1 kodierten Protein wirkt, ist für die Differenzierung oder -hypoplasie). Kraniofaziale Entwicklungsstörungen kön-
nen assoziiert, die für Transkriptionsfaktoren kodieren, der Vorläuferzellen der somatotropen, laktotropen und in nen Lippen-Gaumen-Spalten, eine basale Enzephalozele, Hy-
deren Expression für die Differenzierung der HVL-Zellen geringerem Umfang auch der thyreotropen Zellen zustän- pertelorismus und eine Optikushypoplasie mit unterschied-
erforderlich ist (z. B. HESX1, LHX3, LHX4, PROP1, dig. TBX19 ist für die spezifische Differenzierung der korti- lich starker hypophysärer Dysplasie und Aplasie verursachen.
POU1F1 [vormals PIT1], TBX19 [oder TPIT]). Am häufigs- kotropen Zellen erforderlich. Da die von HEXS1, LHX3 und Durch eine kongenitale basale Enzephalozele kann die Hypo-
ten verursachen PROP1-Mutationen den familiären und LHX4 kodierten Proteine früh in der Pituizytendifferenzie- physe durch das Dach des Sinus sphenoidalis hernieren und
sporadischen kongenitalen Hypopituitarismus. PROP1 ist rung wirken, verursachen Mutationen dieser Gene einen so zu Hypophyseninsuffizienz und Diabetes insipidus führen.
14 1  Hypophyse und Hypothalamus

Hypophysenvorderlappeninsuffizienz
bei männlichen Kindern und Jugendlichen
Die am häufigsten bei Kindern und Jugendlichen mit Hy- Kein Wachstumshormon vorhanden Hypophysenvorderlappen
pophysenvorderlappeninsuffizienz fehlenden Hormone Wachstumshormon
sind die Gonadotropine, luteinisierendes Hormon (LH)
und follikelstimulierendes Hormon (FSH). Gonadotropin-
mangel kann allein oder in Kombination mit anderen Hypophysäre
Gonadotropine
HVL-Mangelzuständen auftreten. Bei fehlenden Gonado- (FSH und LH) fehlen
tropinen ist die Pubertät von Jungen verzögert und es ent-
wickeln sich keine sekundären Geschlechtsmerkmale
(›  Abb.  4.7). Penis und Prostata bleiben klein und das
Skrotum entwickelt keine Fältelung, der Larynx vergrö-
ßert sich nicht und die Stimme behält ihre kindliche hohe
Tonlage. Gelegentlich bildet sich Schambehaarung, die
aber meist dünn und fein ist. Achselbehaarung entwickelt
sich entweder nicht oder bleibt dünn. Der Bartwuchs
bleibt aus.
Durch die fehlenden Androgene schließen sich die
Epiphysenfugen verspätet, sodass das Längenwachstum
in Anwesenheit von normalem Growth-Hormon (GH)
und Insulin-like Growth Factor 1 länger andauert als nor-
mal. Das Längenwachstum ist in den Extremitäten beson-
ders ausgeprägt, weswegen Arme und Beine unverhält-

Kein Androgen
nismäßig lang werden. Es entstehen eunuchoide Propor- Kein Androgen
tionen; der Unterkörper ist länger (von den Fußsohlen bis Panhypo-
zum Schambein) als der Oberkörper (vom Schambein bis pituitarismus Selektiver hypophysärer
(hypophysärer Gonadotropinmangel
zur Kalotte). Außerdem übersteigt die Armspanne die
Zwergenwuchs) (hypophysärer Eunuchoidismus)
Körperlänge im Stand (normalerweise sind beide iden-
tisch). Im 3. Lebensjahrzehnt schließen sich die Epiphy-
senfugen auch bei unbehandelten eunuchoiden Männern.
Die Gabe von Testosteron führt prompt zum Epiphysen- Fehlende Stimulation,
schluss. Nach Epiphysenschluss findet sich bei Erwachse- daher infantile Hoden
nen mit HVL-Hormon-Mangel kein exzessives Längen-
wachstum.
Das klinische Bild des sekundären Hypogonadismus
hängt beim Jugendlichen davon ab, ob auch andere HVL-
Hormone fehlen oder nicht. Fehlt in der Kindheit auch
Hypophysäre Ursachen: Hypothalamische Ursachen:
GH, entsteht ein deutlicher Kleinwuchs. Er besteht, wenn
ein Kind mindestens zwei Standardabweichungen unter ▶ Hypophysenadenom ▶ Raumforderung
▶ Hypophysenzyste (z.B. Kraniopharyngeom)
der mittleren Körperlänge für Kinder gleichen Geschlechts ▶ Hypophysenoperation ▶ Bestrahlung
und Alters liegt, häufig unter dem 3. Größenperzentil. Die ▶ Infiltrat (z.B. lymphozytäre Hypophysitis) (z.B. wegen eines Gehirntumors)
drei Wachstumsphasen sind Säuglingsalter, Kindheit und ▶ Infarkt (z.B. Sheehan-Syndrom) ▶ Infiltrat (z.B. Sarkoidose)
Pubertät. Das infantile Wachstum folgt in den ersten 2 Le- ▶ Apoplex ▶ Trauma mit Schädelbasisfraktur
▶ Genetische Erkrankung ▶ Infektion (z.B. Virusenzephalitis)
bensjahren einem rapiden, aber abnehmenden Wachs- (z.B. POU1F1-Mutation) ▶ Panhypopituitarismus
tumsmuster mit einem durchschnittlichen Wachstum von ▶ Primäres Syndrom der leeren Sella (hypophysärer Zwergenwuchs)
30 cm. Es besteht eine statistisch signifikante und positive ▶ Sellametastasen ▶ Fehlendes Wachstumshormon
Korrelation zwischen der Körpergröße im Alter von 2 Jah-
ren und der Endgröße des Erwachsenenalters. In der Kind- Abb. 1.13 
heit erfolgt das Wachstum relativ konstant mit einer Ge-
schwindigkeit von 5–7 cm pro Jahr. In der Pubertät kommt tes mellitus, ein Vitamin-D-Mangel, eine Hypothyreose
es zu einem Wachstumsschub von 8–14 cm jährlich. Die und das Cushing-Syndrom zu Kleinwuchs.
häufigsten Ursachen von Kleinwuchs sind ein genetischer Zum klinischen Bild tragen zudem Mangelzustände
Kleinwuchs und Wachstumsrückstand. Abgesehen vom weiterer HVL-Hormone bei. So führt ACTH-Mangel zu
GH-Mangel führen häufig Nierenerkrankungen, Krebser- ­orthostatischer Hypotonie, Tachykardie, Erschöpfung,
krankungen (und deren Behandlung), eine Glukokortiko- Anorexie, Gewichtsverlust, Hyponatriämie und Hypoglyk­
idtherapie, Lungenerkrankungen (z. B. Mukoviszidose), ämie. TSH-Mangel kann zu Müdigkeit, Kälteintoleranz,
Herzerkrankungen (z. B. kongenitale Herzerkrankungen), Obstipation, Gesichtsschwellungen mit periorbitalem
gastrointestinale Erkrankungen (z. B. Zöliakie, entzündli- Ödem, Hauttrockenheit, Bradykardie und verzögerter Re-
che Darmerkrankungen), ein schlecht eingestellter Diabe- laxationsphase der Muskeleigenreflexe führen.
Hypophysenvorderlappeninsuffizienz bei Erwachsenen 15

Hypophysenvorderlappeninsuffizienz bei Erwachsenen


Bei der Hypophysenvorderlappeninsuffizienz werden
Fältelung
durch eine Erkrankung von Hypophyse oder Hypothala-
mus weniger hypophysäre Hormone abgegeben. Häufigste Myxödem des Gesichts
Ursache ist die Kompression einer normalen Hypophyse Blässe
durch ein Hypophysenadenom. Weitere Ursachen der Hy- Verlust der
pophysenvorderlappeninsuffizienz sind Hypophysenzys- Achsel-
ten, Hypophysenoperationen, eine Bestrahlung der Hypo- behaarung
physe, Infiltrate (z. B. lymphozytäre Hypophysitis, Hämo- Mamma-
atrophie
chromatose), Infarkt (z. B. Sheehan-Syndrom), Apoplex,
Niedriger
genetische Erkrankungen (z. B. pit-1-Mutation, POU1F1-
Blutdruck
Mutation), das primäre Syndrom der leeren Sella und Me-
tastasen in der Sella. Hypothalamuserkrankungen, die zu Hypoglykämie,
Hyponatriämie,
einem unterschiedlich starken Hypopituitarismus führen, Eosinophilie
sind Raumforderungen (z. B. Kraniopharyngeom, Ger­
Verlust der
minom, Metastasen), eine Strahlentherapie (z. B. bei Ge-
Schambehaarung
hirn- oder nasopharyngealen Malignomen), Infiltrate (z. B.
Sarkoidose, Langerhans-Zell-Histiozytose), Traumen mit Genitale und
Gonaden-
Schädel-Basis-Fraktur und Infektionen (z. B. Virusenze-
atrophie
phalitis, tuberkulöse Meningitis).
Amenorrhö, Infertilität,
Die Symptome einer Hypophysenvorderlappeninsuffi-
Trockenheit und Atrophie
zienz können langsam oder plötzlich auftreten, leicht der Vagina
oder schwer sein und die Sekretion einzelner, mehrerer
Reduzierte Libido,
oder aller Hypophysenhormone betreffen. Der Hypophy- Infertilität, erektile
seninfarkt (›  Abb.  1.18) ist ein Beispiel für eine akut Dysfunktion
einsetzende Symptomatik durch den abrupten Verlust
Asthenie,
der ACTH-Sekretion, während sich langsam wachsende trockene Haut,
hormoninaktive Hypophysenadenome und eine Bestrah- reduzierte
lung der Hypophyse über Jahre manifestieren. Als Pan- Muskelmasse
hypopituitarismus wird der Mangel aller Hypophysen-
hormone bezeichnet. Häufiger ist ein partieller Hypopi-
tuitarismus. Allgemein ist die Sekretion von Wachtums- Hypophysäre Ursachen:
hormon und Gonadotropinen häufiger betroffen als die ▶ Hypophysenadenom
von ACTH und TSH.
▶ Hypophysenzyste
▶ Hypophysenoperation
Klinisch kann ein sekundärer Hypogonadismus durch ▶ Infiltrat (z.B. lymphozytäre Hypophysitis)
Gonadotropinmangel im Vordergrund stehen. Bei lang ▶ Infarkt (z.B. Sheehan-Syndrom)
dauerndem Mangel der gonadalen Steroide entwickeln die ▶ Apoplex
▶ Genetische Erkrankung (z.B. POU1F1-Mutation)
Betroffenen feine Falten im Bereich von Augen, Mund und ▶ Primäres Syndrom der leeren Sella
Wangen. Meist besteht eine, gemessen an der schwachen ▶ Sellametastasen
Anämie, sehr starke Blässe. Achsel- und Schambehaarung Hypothalamische Ursachen:

verschwinden. Bei Frauen treten Amenorrhö, Infertilität, ▶ Raumforderung (z.B. Kraniopharyngeom)


▶ Bestrahlung (z.B. wegen eines Gehirntumors)
Scheidentrockenheit und -atrophie, Hitzewallungen, ▶ Infiltrat (z.B. Sarkoidose)
Mammaatrophie, Osteoporose und ein Libidoverlust auf. ▶ Trauma mit Schädelbasisfraktur
Bei Männern führt die sekundäre Gonadeninsuffizienz zu ▶ Infektion (z.B. Virusenzephalitis)
Infertilität, Libidoverlust, reduzierter Vitalität, Hodenver-
kleinerung, erektiler Dysfunktion und Osteoporose. Abb. 1.14 
Bei Erwachsenen führt der GH-Mangel zu einem allge-
meinen Krankheitsgefühl, zu erhöhter Fettmasse, redu- Die Nebenniereninsuffizienz führt zu Hypotonie, As­
zierter Muskelmasse, erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre thenie, Gewichtsverlust, Eosinophilie und anfallsartiger
Erkrankungen und reduzierter Knochenmineraldichte. ­Übelkeit und Erbrechen, oft mit spontaner Hypoglykämie.
Der Prolaktinmangel kann zum Ausbleiben der post- Da die Aldosteronsekretion der Nebennierenrinde er­
partalen Laktation führen. halten ist, führt die sekundäre Nebenniereninsuffizienz
Die Hypothyreose führt zu subnormaler Körpertempe- weder zum Salzverlustsyndrom noch zur Hyperkaliämie
ratur, Kälteintoleranz, einer geringen Stoffwechselrate, (›  Abb.  3.24). Auch fehlt die für die primäre Neben­
Müdigkeit, Hauttrockenheit, periorbitaler Schwellung niereninsuffizienz typische Hyperpigmentierung (› Abb.
(Myxödemgesicht), Bradykardie, Anämie, einer verzöger- 3.22). Allerdings führen die primäre und sekundäre Ne-
ten Relaxationsphase der Muskeleigenreflexe und Obstipa- benniereninsuffizienz infolge einer unzureichenden ADH-
tion (› Abb. 2.14, › Abb. 2.15). Der kombinierte Abfall Sekretion und der fehlenden Wirkung von Cortisol auf die
der Schilddrüsenhormone und des Testosterons kann zum Nieren, das die Ausscheidung von freiem Wasser fördert,
Ausfall des lateralen Drittels der Augenbrauen führen. zur Hyponatriämie.
16 1  Hypophyse und Hypothalamus

Selektiver und partieller Hypopituitarismus


Als selektiver und partieller Hypopituitarismus wird der Leichte Hypophysenvorderlappeninsuffizienz
Verlust von mindestens einem oder allen Hypophysenhor-
Hypophysenadenom
monen bezeichnet. Von Panhypopituitarismus spricht Postoperativ
man nur, wenn das Syndrom durch den Verlust aller Hor- Nach Bestrahlung
Ätiologie Hypophysärer Apoplex
monfunktionen der Hypophyse, auch der Neurohypophy- Lymphozytäre Hypophysitis
se, entsteht (›  Abb.  1.16, ›  Abb.  1.27). Das klinische Hypophysenzyste
Hypothalamuserkrankung
Bild ist abhängig von der Geschwindigkeit des Hormon-
verlusts (z. B. plötzlich bei hypophysärem Apoplex Gonadotropin- TSH ACTH ACTH und GH
[› Abb. 1.18] bzw. langsam bei einem langsam wachsen- mangel normal normal MSH normal normal
den Hypophysentumor) sowie von der Anzahl der betrof-
fenen Hypophysenhormone.
Zuerst versagen häufig die gonadotropen Hypophysen-
zellen, vermutlich weil sie empfindlicher auf Störungen
Männer Frauen
reagieren als die anderen HVL-Zellen. Bei Kindern mit Verlust der Verlust der Normale Normale
leichter Hypophysenschädigung tritt die Pubertät verzö- Körperbehaarung Achsel- und Schilddrüsen- Normale Neben- Pigmentierung
Infertilität Schambehaarung funktion nierenfunktion
gert oder gar nicht auf. Sofern das Wachstumshormon in Normales Wachstum
↓ Libido Amenorrhö
normaler Menge vorhanden ist und die anderen Hypophy- ↓ Vitalität Infertilität und normale Ent-
↓ Hodengröße Scheidentrockenheit wicklung, abgesehen
senfunktionen nicht beeinträchtigt sind, überwiegt das von den Auswirkungen
Erektile Hitzewallungen
Wachstum der langen Knochen und es kommt zum eunu- Dysfunktion Mammaatrophie des Gonadotropinmangels
choiden Habitus (› Abb. 1.13). Männer und Frauen mit Kinder
erworbenem sekundärem Hypogonadismus entwickeln Pubertas tarda
normalerweise nur langsam Symptome (›  Abb.  1.14). Übermäßiges Wachstum der Röhrenknochen (eunuchoider Habitus)
Der Serumspiegel von Testosteron bei Männern und von
Mittelschwere Hypophysenvorderlappeninsuffizienz
Estradiol bei Frauen liegt unter den Referenzbereichen
Hypophysenadenom
und der Spiegel der Gonadotropine luteinisierendes Hor- Postoperativ
mon (LH) und follikelstimulierendes Hormon (FSH) ist Nach Bestrahlung
Ätiologie Hypophysärer Apoplex
unverhältnismäßig normal oder niedrig. Lymphozytäre Hypophysitis
Bei Patienten mit Hypopituitarismus tritt meist frühzei- Hypophysenzyste
Hypothalamuserkrankung
tig ein Wachstumshormonmangel auf und die möglichen
Symptome werden bei Erwachsenen (z. B. reduziertes All- Partieller
Gonadotropin-
TSH- ACTH- Partieller ACTH-
gemeinbefinden, erhöhte Fettmasse, reduzierte Muskel- mangel
Mangel Mangel und MSH-Mangel GH-Mangel
masse) oft auf andere Ursachen zurückgeführt, während
beim Wachstumshormonmangel des Kindes eine Verlang-
samung des Längenwachstums im Vordergrund steht. Die
Diagnostik erfolgt durch die Bestimmung des Serumspie-
gels von Insulin-like Growth Factor 1 und die Reaktion von Männer Frauen Erwachsene
Verlust der Verlust der Hypo- Nebennieren- Unter- ↓ Allgemeinbefinden
Wachstumshormon auf eine Provokation (z. B. insulinin- Körper- Achsel- und schiedlich ↑ Fettmasse
thyreose insuffizienz nur
duzierte Hypoglykämie, Arginininfusion oder die Gabe behaarung Scham- (evtl. mit starke ↓ Muskelmasse
durch Stress
Infertilität behaarung Wachstums- Blässe
von Growth-Hormone-releasing-Hormon). (Krankheit oder Kinder
↓ Libido Amenorrhö störung)
Bei schwereren Hypophysenschäden kann die thyreo- Operation) ↓ Wachstums-
↓ Vitalität Infertilität
↓ Hodengröße Scheidentrockenheit geschwindigkeit
trope und nachfolgend auch die kortikotrope Funktion ge-
Erektile Hitzewallungen Kleinwuchs
stört sein. Die Serumspiegel von Thyroxin (total und frei) Dysfunktion Mammaatrophie
liegen unter dem Referenzbereich und TSH ist inadäquat
normal oder niedrig. Die Symptome der primären Hypo- Kinder
Pubertas tarda
thyreose (› Abb. 2.14, › Abb. 2.15, › Abb. 2.16) sind Übermäßiges Wachstum der Röhrenknochen (eunuchoider Habitus)
nicht von denen der sekundären Hypothyreose zu unter-
schieden. Gelegentlich stehen hypothyreote Symptome im Abb. 1.15 
Vordergrund und bei Behandlung von Patienten mit
gleichzeitiger sekundärer Nebenniereninsuffizienz mit Le- sin II und Blutkalium) nicht von der normalen Hypophy- gel bestehen. Bei einem partiellen Hypopituitarismus auf-
vothyroxin kann die Clearance der reduziert gebildeten senfunktion abhängen. Die Serumspiegel von Cortisol, grund eines Hypophysen- oder Sellatumors liegen oft auch
Cortisolmenge reduziert sein, wodurch eine zusätzliche dessen Messwert morgens um 8 Uhr unter dem Referenz- Symptome durch eine tumorspezifische Hypersekretion
metabolische Belastung des Patienten entsteht und eine bereich liegt, und ACTH sind für gewöhnlich nicht mess- von Hypophysenhormonen (z. B. Akromegalie, Hyperpro-
Nebennierenkrise gefördert wird. bar (› Abb. 3.24). laktinämie oder Cushing-Syndrom) oder Verdrängungs-
Die sekundäre Nebenniereninsuffizienz unterscheidet Oft ist Prolaktin das bei progressivem Hypopituitaris- symptome (z. B. Sehverlust, Doppelbilder oder Kopf-
sich von der primären in zwei wesentlichen Punkten: (1) mus am besten erhaltene hypophysäre Hormon und sein schmerzen) vor.
durch den Verlust von ACTH und MSH (melanozytensti- Fehlen zeigt sich häufig erst bei der postpartalen Unfähig- Patienten mit Mangel von einem oder mehreren Hypo-
mulierendes Hormon) kann eine Blässe vorliegen, die in keit zur Laktatproduktion. physenhormonen sprechen gut auf eine Hormonersatzthe-
keinem Verhältnis zur gelegentlich bestehenden modera- Der selektive Verlust eines Hypophysenhormons kann rapie an. Sofern die ursächliche Läsion nicht progressiv ist,
ten Anämie steht, und (2) die adrenale Aldosteronsekreti- auch bei lymphozytärer Hypophysitis auftreten; bei diesen besteht eine ausgezeichnete Langzeitprognose.
on bleibt intakt, da die wichtigsten Regulatoren (Angioten- Patienten kann beispielsweise ein selektiver ACTH-Man-
Schwere Hypophysenvorderlappeninsuffizienz (Panhypopituitarismus) 17

Schwere Hypophysenvorderlappeninsuffizienz
(Panhypopituitarismus)
Schwere Symptome einer Hypophysenvorderlappeninsuf- Schwere Hypophysenvorderlappeninsuffizienz
fizienz treten nur bei fast vollständiger Zerstörung der Ausgedehntes, des-
Adenohypophyse auf. Bei progressiver Zerstörung (> 75 %) truierendes Makro-

Ätiologie
adenom oder
verschlechtert sich der leichte Hypogonadismus und durch Kraniopharyngeom
eine Hypothyreose und Nebenniereninsuffizienz treten Postpartale Nekrose
Unfall
progressiv Allgemeinsymptome, wie Asthenie, Fatigue, Postoperativ
Appetitverlust und Kälteintoleranz, auf. Die komplette Hy- Gonadotropin- TSH- ACTH- MSH-
GH-Mangel
pophysenvorderlappeninsuffizienz kann nach einer Hypo- mangel Mangel Mangel Mangel
physenoperation aufgrund eines Makroadenoms auftreten.
Bei dieser Krankheit findet sich grundsätzlich eine go-
nadale Atrophie. Auch die sekundären Geschlechtsmerk-
Männer Frauen
male bilden sich zurück. Bei Frauen schrumpfen die Ovari- Kinder Erwachsene Verlust der Verlust der Hypothyreose Nebennieren- Blässe
en und werden klein und fibrös. Der Uterus bildet sich bis ↓ Wachs- ↓ Allge- Körper- Achsel- und
tumsge- mein- insuffizienz
auf infantile Ausmaße mit einer extrem dünnen Endomet- behaarung Schambehaa-
schwin- befinden Infertilität rung
riumschicht zurück. Die äußeren Genitalien schrumpfen digkeit ↑ Fett- ↓ Libido Amenorrhö
ebenso wie die Vagina, die ein glattes, atrophes Epithel Klein- masse ↓ Vitalität Infertilität
wuchs ↓ Muskel- ↓ Hoden- Scheiden-
entwickelt. Die Mammae bilden sich zurück und die Areo-
masse größe trockenheit
lae verlieren ihre Pigmentierung. Bei Männern ist der Pe- Erektile Hitzewallungen
nis klein, sind die Hoden geschrumpft und ohne Fältelung Dysfunktion Mammaatrophie
und ist die Prostata stark atrophiert. Bei beiden Geschlech-
Kinder
tern ist die Schilddrüse klein und die Follikel sind mit ei- Pubertas tarda
nem niedrigen kubischen Epithel ausgekleidet. Die GH-Mangel schließt eunuchoiden Habitus aus
Schrumpfung der Nebennierenrinde ist in Zona fasciculata
Panhypopituitarismus
und Zona reticularis am ausgeprägtesten. Die Zona glome-
rulosa, der Ort der Aldosteronproduktion, ist im Gegen- Ausgedehnter

Ätiologie
Tumor (meist
satz zu den anderen beiden Schichten nicht ACTH-abhän- Kraniopharyngeom)
gig. Der allgemeine Aufbau der Nebennierenrinde bleibt Postpartale Nekrose
erhalten, aber die Zellen enthalten nur wenig Lipid. Unfall
Typisch ist eine, gemessen an der vorhandenen Anämie, MSH- und
ADH- Gonadotropin- TSH- ACTH- ACTH-Mangel
zu starke Blässe, die vermutlich Folge des Mangels von
GH-Mangel Mangel mangel Mangel Mangel
ACTH und MSH ist. Der Verlust der Muskelmasse ist zwar
multifaktorieller Ursache, vermutlich leistet das Wachs-
tumshormon aber einen wichtigen Beitrag. Kinder neigen
Männer Frauen
zur Entwicklung einer Hypoglykämie, gleichzeitig bestehen Verlust der Verlust der
Kinder Erwachsene Diabetes Hypo- Nebennieren- Blässe
oft ein Mangel der adrenalen Glukokortikoide und des Körper- Achsel- und thyreose insuffizienz
↓ Wachs- ↓ Allgemein- insipidus
Wachstumshormons sowie eine reduzierte Nahrungsauf- behaarung Scham-
tums- befinden (latent, Infertilität behaarung
nahme. geschwin- ↑ Fett- solange ↓ Libido Amenorrhö
digkeit masse Neben- ↓ Vitalität Infertilität
Der Begriff Panhypopituitarismus sollte den Fällen vor-
Klein- ↓ Muskel- nieren- ↓ Hoden- Scheidentrockenheit
behalten bleiben, in denen alle Funktionen von Adenohy- wuchs masse hormone größe Hitzewallungen
pophyse und Neurohypophyse betroffen sind. Patienten vorhanden Erektile Mammaatrophie
mit langsam progressiven destruktiven Läsionen entwi- sind oder Dysfunktion
gegeben
ckeln oft zuerst einen Diabetes insipidus, der verschwindet, werden)
sobald die Adenohypophyse so stark betroffen ist, dass eine
sekundäre Nebenniereninsuffizienz entsteht. Dieser Ant­ Kinder
Pubertas tarda
agonismus zwischen ADH und den Glukokortikoiden zeigt GH-Mangel schließt eunuchoiden Habitus aus
sich am Wiederauftreten des Diabetes insipidus, wenn die-
se Patienten Cortisol in ausreichend hoher Dosis erhalten. Abb. 1.16 
Die Behandlung eines Mangels von ACTH, TSH, LH
oder FSH erfolgt genauso wie bei einem primären Hor- Die Behandlung von Patienten mit LH- und FSH-Man- Wachstumshormon wird bei Kindern mit Hypopituita-
monmangel der entsprechenden Zieldrüse. So wird bei gel hängt davon ab, ob ein Kinderwunsch besteht. Bei rismus grundsätzlich gegeben, bei Erwachsenen jedoch
ACTH-Mangel Hydrocortison (oder ein anderes Glukokor- Männern ohne Kinderwunsch ist eine transdermale Testo­ optional.
tikoid) gegeben, um das normale zeitliche Muster und die steronersatztherapie die Methode der Wahl. Die Testo­ Das einzige Symptom des Prolaktinmangels ist die Un-
entsprechende Dosierung der Cortisolsekretion nachzuah- sterondosis wird so angepasst, dass mittlere normale fähigkeit zu stillen.
men. Testo­steronspiegel im Serum erreicht werden. Bei Kinder- Patienten mit Diabetes insipidus werden mit Desmo-
Patienten mit TSH-Mangel werden mit Levothyroxin wunsch erhalten die Männer Gonadotropine. Frauen er- pressin behandelt.
behandelt. Therapieziel ist ein Serumspiegel des freien halten eine Östrogen-Gestagen-Ersatztherapie und bei
Thyroxins im mittleren bis normalen Bereich. Kinderwunsch eine Ovulationsinduktion.
18 1  Hypophyse und Hypothalamus

Postpartaler Hypophyseninfarkt (Sheehan-Syndrom)


Die Hypophyse vergrößert sich während der Schwanger-
schaft (vor allem aufgrund einer laktotropen Hyperplasie)
und weil ihre portalvenöse Versorgung sehr anfällig gegen- Starker
Blutdruckabfall
über Veränderungen des arteriellen Blutdrucks ist. Im Jahr Postpartale Blutung
1937 schlug Sheehan vor, dass bei schwerer postpartaler
Uterusblutung Spasmen der Aa. infundibulares, die von
den hypophysären Portalvenen drainiert werden, zum Hy-
pophyseninfarkt führen können. Bei einer Unterbrechung
der Durchblutung für mehrere Stunden infarzieren die
meisten HVL-Gewebe; sobald die Durchblutung wieder-
einsetzte, kam es in Stiel und Adenohypophyse zur Throm-
bose. Der nekrotische Bereich der Adenohypophyse wurde
organisiert und bildete eine fibröse Narbe. Sheehan mut-
maßte, dass Varianten in Ausmaß und Dauer der Spasmen
zu unterschiedlich großen Nekrosen führten. Inzwischen
ist bekannt, dass ein sekundärer Infarkt durch die man- Narbe

gelnde Durchblutung der Adenohypophyse verantwortlich Rand mit


ist. Allerdings ist noch unklar, ob der Infarkt Folge einer relativ
normalem
Vasokonstriktion, einer Thrombose oder einer Gefäßkom- Normale Hypophyse Schwangerschafts- Thrombose, Nekrose Gewebe
pression ist. bedingte Hypophysen- und Narbenbildung
Bei etwa der Hälfte der postpartalen Hypophyseninfark- hyperplasie

te sind etwa 97 % des Hypophysenvorderlappens betroffen,


während die Pars tuberalis und ein kleiner Teil der Facies
superior der Adenohypophyse ausgespart sind. Dieser
Überrest behält seine strukturellen Verbindungen mit dem Fehlende Laktation
Prolaktinmangel
Hypothalamus und erhält Portalvenenblut aus dem neura- (oft erstes postpartales
Zeichen)
len Anteil des Hypophysenstiels. Ein weiterer HVL-Über-
rest, der gelegentlich in diesen Fällen gefunden wird, ist -
ACTH
ein kleiner Parenchymbereich am lateralen Drüsenpol oh- n g el
Ma
ne vaskuläre und neuronale Verbindungen zum Stiel und Nebenniereninsuffizienz
Hypothalamus. In anderen Fällen verbleibt an der Sella- (akute initialer Schock, d
Verlust der Scham- und un l
wand unter der Kapsel eine dünne Parenchymschicht. Die- S H- nge
Körperbehaarung, Asthenie, F -M a
se peripheren Überreste erhalten eine kleine Blutversor- Hypoglykämie) LH
an -
l
ge
H

gung aus der Kapsel. Bis zu einem Verlust von 50 % des
TS
M

Drüsengewebes kann eine normale Hypophysenfunktion Gonadeninsuffizienz


aufrechterhalten werden, bei einem Verlust von 75 bzw. (Amenorrhö)
90 % der Zellen der Adenohypophyse besteht jedoch eine
partielle bzw. komplette Hypophysenvorderlappeninsuffi- Hypothyreose
zienz. Wenn mehr als 30 % der Drüse erhalten sind, reicht Unterschiedlich starke Hypophyseninsuffizienz,
die verbliebene Funktion in der Regel aus, um eine akute für gewöhnlich ohne Diabetes insipidus
Hypophyseninsuffizienz zu verhindern.
ACTH = Corticotropin, FSH = follikelstimulierendes Hormon, LH = luteinisierendes Hormon,
Das klinische Bild reicht von einem hypovolämischen MSH = Melanozyten-stimulierendes Hormon, TSH = Thyreotropin.
Schock (mit Uterusblutung und Glukokortikoidmangel)
bis zum allmählichen Beginn einer partiellen bis komplet- Abb. 1.17 
ten Hypophysenvorderlappeninsuffizienz und ist nur dar-
an zu erkennen, dass postpartal kein Stillen möglich ist sol um 8 Uhr, freies Thyroxin, Prolaktin, Estradiol und In-
und eine Amenorrhö besteht. Diese Patientinnen können sulin-like Growth Factor 1. Das Sheehan-Syndrom ist einer
alle Symptome eines partiellen oder kompletten Hypo­ der wenigen Zustände mit Hypoprolaktinämie. Die Mag-
pituitarismus aufweisen (› Abb. 1.15, › Abb. 1.16). Der netresonanztomografie zeigt Zeichen eines ischämischen
akute Glukokortikoidverlust kann unerkannt tödlich sein. Infarkts in einer vergrößerten Hypophyse mit nachfolgen-
Diese Patientinnen benötigen eine lebenslange Ersatzthe- der Schrumpfung über mehrere Monate und schließlich
rapie mit den Hormonen der hypophysären Zieldrüse. Ein mit Hypophysenatrophie und Syndrom der leeren Sella.
Diabetes insipidus ist hingegen selten. Wegen der Fortschritte in der Geburtshilfe ist das Shee-
Der Verdacht auf ein Sheehan-Syndrom besteht bei han-Syndrom inzwischen nicht mehr die häufigste Ursa-
Frauen mit anamnestischer postpartaler, transfusions- che des postpartalen Hypopituitarismus. Die häufigste Ur-
pflichtiger Blutung, die postpartal eine Lethargie, Anore- sache der postpartalen Hypophysenfunktionsstörung ist
xie, einen Gewichtsverlust, eine Laktationsstörung oder eine lymphozytäre Hypophysitis (› Abb. 1.12).
Amenorrhö aufweisen oder Achsel- oder Schambehaarung In der normalen Hypophyse von Nichtschwangeren
verlieren. Zur Diagnostik gehört die Messung der Serum- sind Infarkte sehr selten und treten im Rahmen eines hä-
spiegel der hypophysenabhängigen Zielhormone – Corti- morrhagischen Schocks auf.
Hypophyseninfarkt 19

Hypophyseninfarkt
Der Hypophyseninfarkt, die akute Blutung in die Hypophy-
se, ist zwar selten, aber ein endokriner Notfall, dessen Komprimiertes
Chiasma opticum
prompte Diagnose und Behandlung kritisch sind. Typisch
sind akute schwere Kopfschmerzen (oft beschrieben als Komprimierter
Hirnnerv III
„schlimmste Kopfschmerzen, die ich jemals hatte“), Sehver-
lust (das Blut nimmt den Weg des geringsten Widerstands, Hämorrhagischer
dehnt sich nach superior aus und komprimiert das Chiasma Hypophysentumor
opticum), Gesichtsschmerz, Übelkeit und Erbrechen sowie
Hypophyse
Augennervenlähmung (z. B. Ptose, Diplopie) durch Ein-
klemmung der Hirnnerven III, IV und VI in den Sinus ca-
vernosus. Außerdem zeigen die Patienten oft die Symptome
einer meningealen Reizung und Bewusstseinsstörungen.
Bei erhöhtem Hirndruck kommt es zu vermehrter Schläf-
rigkeit und Stupor, sodass eine operative Dekompression
erforderlich wird. Bei Beteiligung des Hypothalamus treten
Störungen der sympathischen Autoregulation mit Arrhyth-
mie und Atemstörungen auf. Im Liquor finden sich beim
Hypophyseninfarkt oft Erythrozyten und eine erhöhte Pro-
teinkonzentration. Dies kann ein differenzialdiagnostisches
Problem bei der Abgrenzung des Hypophyseninfarkts von
Komprimiertes Chiasma opticum
Meningitis und Subarachnoidalblutung darstellen.
Der am akutesten auftretende Hormonmangel ist die se-
Blutung
kundäre Nebenniereninsuffizienz, die zu Hypotonie und Ne-
bennierenkrise führen kann. Hypophyseninfarkte treten
meist bei bereits vorhandenen hypophysären Makroadeno- Hypophysentumor

men oder Zysten auf. Die Blutung kann auch spontan auftre-
ten oder durch ein Schädeltrauma, Gerinnungsstörungen Hypophyse (Hirnanhangsdrüse)
(z. B. idiopathische thrombozytopenische Purpura) oder An-
tikoagulanzien (z. B. Heparin, Cumarinen) ausgelöst werden.
Selten entsteht ein Infarkt in einem Hypophysentumor durch
die Gabe eines Hypothalamus-releasing-Hormons (z. B. Go-
nadotropin-releasing-Hormon-Agonisten bei Patienten mit
einem Gonadotropin produzierenden Adenom) oder durch
die Gabe einer Substanz zur Behandlung von Hypophysentu-
moren (z. B. Bromocriptin bei einem Prolaktin produzieren-
den Hypophysentumor). Die rapide Expansion des Sellain-
halts führt zu akuten Verdrängungssymptomen. Mehr als
50 % der Hypophyseninfarkte sind die initiale klinische Ma-
nifestation eines Hypophysentumors. Das Risiko für Hypo-
physeninfarkte ist nicht alters- oder geschlechtsabhängig. MRT eines Hypophyseninfarkts. Das koronale Bild (links) zeigt einen partiell zystischen Hypo-
Diagnoseweisend ist die Magnetresonanztomografie physentumor in der Sella mit hämorrhagischer Komponente, der über die Sella hinausragt.
(MRT) der Hypophyse. Sie zeigt für gewöhnlich Zeichen Das sagittale Bild (rechts) zeigt einen Flüssigkeitsspiegel im Bereich einer kürzlichen Blutung.

einer intrahypophysären oder intraadenomatösen Blu- Abb. 1.18 


tung, doppelte Flüssigkeitsspiegel und eine Kompression
des normalen Hypophysengewebes. Die Hormonwerte be- und der Infarktschwere festgelegt. Die schnellste und effek- mögen wiederherzustellen. Daher ist es oft nicht angebracht,
legen in der Regel eine komplette Hypophysenvorderlap- tivste Methode zur Dekompression der Sella turcica und der bei einem ansonsten stabilen Patienten auf eine spontane
peninsuffizienz (einschließlich Prolaktin). Aufgrund der umgebenden Strukturen ist häufig eine neurochirurgische Besserung von Gesichtsfeldausfällen zu warten. Bei Patien-
Anatomie des Hypophysenkreislaufs und der Aussparung Intervention, die bei Bewusstseinsstörungen und anderen ten mit normalem Gesichtsfeld ohne Hirnnervenlähmungen
der infundibulären Durchblutung (Aa. hypophysiales infe- Hirndrucksymptomen indiziert ist. Wenn die Sehbahn be- kann eine Beobachtung erfolgen. Nach einem Hypophysen-
riores) ist der Hypophysenhinterlappen nur selten von ei- einträchtigt wird, ist die operative Dekompression auch bei infarkt sollte in Stresssituationen eine Glukokortikoidgabe
nem Infarkt betroffen. Daher ist ein Diabetes insipidus bei fehlenden Symptomen indiziert, um eine längere Ischämie, erfolgen. Erholt sich die Hypophysenfunktion nicht, muss
einem Hypophyseninfarkt selten. die zu einer irreversiblen Störung der Nervenfunktion führt, eine Langzeitersatztherapie mit dem Hormon der Zieldrüse
Hypophyseninfarkte verlaufen klinisch mit unter- zu vermeiden. Obwohl der Zeitpunkt der operativen Inter- erfolgen.
schiedlicher Dauer und Schwere, sodass die Wahl des ge- vention die Heilung von Augenmuskeln nicht zu beeinflus- Wichtig ist, dass Nekrosen und Hämorrhagien in Hypo-
eigneten Eingriffs schwerfällt. Ziel der Behandlung ist die sen scheint, bessert eine Operation innerhalb einer Woche physentumoren weitaus häufiger sind als das klinische
Reduktion der lokalen Kompression auf die benachbarten nach dem Infarktereignis bei einem wachen, stabilen Patien- Syndrom des Hypophyseninfarkts, vor allem bei klinisch
Strukturen wie die Sehbahn. ten das Sehvermögen stärker als eine Operation, die erst stummen ACTH-produzierenden Adenomen, von denen
Neben den anatomischen Überlegungen muss auch der 1  Woche nach dem Ereignis stattfindet. Obgleich sich die mehr als 50 % Einblutungen aufweisen. Insgesamt treten
endokrine Status ermittelt und behandelt werden. Der Zeit- eingebluteten Bereiche der Hypophyse im Laufe der Zeit re- bei 10–15 % der Hypophysenadenome vorwiegend kli-
punkt der Therapie wird individuell anhand der Symptome sorbieren, erfolgt die Resorption zu langsam, um das Sehver- nisch stumme Einblutungen auf.
20 1  Hypophyse und Hypothalamus

Hypophysärer Riesenwuchs
Hypophysärer Riesenwuchs tritt auf, wenn vor dem
Schluss der Epiphysenfugen bei einem Kind oder Jugendli-
chen ein Hypophysentumor, der Wachstumshormon (GH)
Das MRT (Koronalschnitt) zeigt einen großen
produziert, entsteht. Beim Erwachsenen (nach dem GH-produzierenden Hypophysentumor bei einem
Schluss der Wachstumsfugen) gibt es kein Längenwachs- 16-jährigen Jungen mit Gigantismus.
tum, daher führt der gleiche Tumor zu Veränderungen der
Akren, der Akromegalie (› Abb. 1.20).
Hypophysärer Riesenwuchs ist selten und kann bei Be-
ginn in der Kindheit zu einer erheblichen Körpergröße
führen. Der nachweislich größte Mensch mit hypophysä-
7
rem Riesenwuchs war 272 cm groß. Unbehandelt errei-
chen diese Menschen eine Endgröße von etwa 213 cm. Die
GH-produzierenden Hypophysentumoren treten bei hypo-
physärem Riesenwuchs meist sporadisch auf, können aber
auch Teil eines Syndroms sein, wie der multiplen endokri- 6
nen Neoplasie Typ 1 (› Abb. 8.1), des McCune-Albright-
Syndroms (›  Abb.  4.11) und des Carney-Komplexes
(› Abb. 3.12).
Häufig entsteht hypophysärer Riesenwuchs durch ein
5
GH-produzierendes Hypophysenadenom, selten kann aber
auch ein ektoper Tumor GH-releasing-Hormon (GHRH)
abgeben oder eine Funktionsstörung des Hypothalamus
Feet and inches

mit Hypersekretion von GHRH vorliegen.


Neben dem beschleunigten Längenwachstum entwi- 4
ckeln Patienten mit hypophysärem Riesenwuchs auch
langsam die Symptome der Akromegalie, wie Weichgewe-
bewucherungen, eine progressive dentale Malokklusion
(Unterbiss), eine tiefe Stimme, Kopfschmerzen, eine übel
3
riechende Hyperhidrose, fettige Haut, eine proximale
Muskelschwäche, einen Diabetes mellitus, eine Hyper­
tonie, ein obstruktives Schlafapnoesyndrom und kardiale
Funktionsstörungen. Die Verdrängungssymptome von
GH-produzierenden Makroadenomen der Hypophyse 2 Mann mit hypophysärem Riesenwuchs
im Vergleich zu einem normalwüchsigen
(> 10 mm) ähneln denen anderer Makroadenome der Hy- Mann (daneben kann eine Akromegalie
pophyse (z. B. Gesichtsfeldausfälle, Okulomotoriuspare- mit Zeichen einer sekundären Hypo-
sen, Kopfschmerzen und Hypophyseninsuffizienz). physeninsuffizienz vorliegen)
Wichtig ist, dass die meisten Kinder mit beschleunig-
1
tem Längenwachstum keinen hypophysären Riesenwuchs
aufweisen. Häufiger sind eine Pubertas praecox, geneti-
scher Großwuchs und eine Hyperthyreose.
Hohe GH-Plasmaspiegel sind beim hypophysären Rie-
senwuchs nicht diagnoseweisend. Stattdessen handelt es
sich um eine Ausschlussdiagnose nach Ausschluss anderer
Ursachen. Die biochemische Diagnostik erfolgt anhand Abb. 1.19 
von zwei Kriterien: einem nicht durch orale Glukosebelas-
tung (75–100 g) unter 0,4 ng/dl supprimierbaren GH-Spie-
gel und einem erhöhten Serumspiegel (alters- und ge- Bei gesichertem hypophysärem Riesenwuchs besteht
schlechtsentsprechend) des Insulin-like Growth Factor 1 grundsätzlich eine Behandlungsindikation. Ziele sind das
(IGF-1). Auch das Serumprolaktin sollte bestimmt wer- Vermeiden der Langzeitfolgen des GH-Überschusses, die
den, da hypophysäre Neoplasien bei Kindern oft von den Entfernung der intrasellären Raumforderung und der Er-
mammosomatotropen Zellen ausgehen, sodass auch eine halt des normalen Hypophysengewebes und seiner Funk­
Hypersekretion von Prolaktin vorliegen kann. Ergänzend tion. Behandlungsoptionen sind Operationen, eine geziel-
zur Labordiagnostik erfolgen bei hypophysärem Riesen- te  Bestrahlung und Medikamente. Die transsphenoidale
wuchs eine MRT der Hypophyse und eine Gesichtsfeldtes- ­Adenektomie durch einen erfahrenen Neurochirurgen ist
tung durch quantitative Perimetrie. Sofern die Bildgebung die Behandlung der Wahl und sollte eventuell durch ei-
der Hypophyse kein Adenom nachweisen kann, sind eine ne  Gamma-Knife-Bestrahlung, eine Arzneimitteltherapie
Bestimmung von GHRH im Plasma sowie eine CT von oder beides ergänzt werden.
Thorax und Abdomen indiziert, um einen ektopen GHRH-
produzierenden Tumor auszuschließen (z. B. Pankreaskar-
zinom, kleinzelliges Bronchialkarzinom).
Akromegalie 21

Akromegalie
Ein chronischer Überschuss von Wachstumshormon (GH)
durch einen GH-produzierenden Hypophysentumor führt
zum klinischen Syndrom der Akromegalie, die als erstes
Ein chronischer GH-Exzess
Hypophysensyndrom im Jahr 1886 von Pierre Marie be- führt unter anderem zu
schrieben wurde und unbehandelt mit einer erhöhten vermehrtem akralem und
Weichgewebewachstum,
Morbidität und Mortalität einhergeht. Die jährliche Inzi- Vergröberung der Gesichtszüge,
denz wird auf 3 Erkrankungsfälle auf 1 Million Einwohner Prognathie, Rundrücken und
geschätzt; trotzdem ist das GH-produzierende Hypophy- progressiver dentaler Malokklusion
(Unterbiss).
senadenom der zweithäufigste hormonaktive Hypophy-
sentumor. Symptome eines chronischen GH-Überschusses
sind ein verstärktes Wachstum von Akren und Weichge-
weben, eine progressive dentale Malokklusion (Unterbiss),
eine degenerative Arthritis durch das vermehrte Wachs-
tum von Knorpel und Synovialis im Gelenk, eine tiefe, so-
nore Stimme, Kopfschmerzen, eine übel riechende Hyper-
hidrose, eine fettige Haut, eine perineurale Hypertrophie
mit Nerveneinklemmung (z. B. Karpaltunnelsyndrom), ei-
ne proximale Muskelschwäche, eine Kohlenhydratintole-
ranz (initial oft Manifestation eines Diabetes mellitus),
Hypertonie, Kolontumoren, ein obstruktives Schlafapnoe-
syndrom und Herzfunktionsstörungen. Die Verdrän-
gungssymptome von GH-produzierenden Makroadeno-
men der Hypophyse (>  10 mm) ähneln denen anderer
Makroadenome der Hypophyse (z. B. Gesichtsfeldausfälle,
Das MRT (Koronalschnitt) zeigt ein 2,1 cm
Okulomotoriusparesen, Kopfschmerzen und Hypophysen- großes hypophysäres Makroadenom, das
insuffizienz). auf der rechten Seite den Sellaboden aus-
Typisch bei Patienten mit Akromegalie sind die Ver- höhlt, in den rechten Sinus cavernosus
sowie in das Chiasma opticum über der
gröberung der Gesichtszüge, die Prognathie, die nach Sella turcica reicht.
vorn geneigte Körperhaltung, die schaufelartigen Hände
und die breiten Füßen. Oft nehmen Schuh- und Hand-
schuhgröße, Ring- oder Hutgröße langsam, aber vom Pa-
tienten, von seiner Familie und vom Hausarzt unbemerkt
zu. Häufig vergehen zwischen dem Auftreten der ersten
Symptome und der Diagnosestellung 8,5 Jahre. Hilfreich
bei der Diagnosestellung sind alte Fotografien des Pati-
enten.
Hohe GH-Plasmaspiegel sind beim hypophysären Rie-
senwuchs nicht diagnoseweisend. Der basale GH-Plasma-
spiegel ist bei schlecht eingestelltem Diabetes mellitus,
chronischem Leber- oder Nierenversagen oder einer Pro- Das MRT (mittlerer Sagittalschnitt) zeigt
tein-Kalorien-Malnutrition, wie der Anorexia nervosa, er- ein hypophysäres Makroadenom, das
bis in den Sinus sphenoidalis und den
höht. Die Diagnose der Akromegalie beruht auf zwei Krite- suprasellären Bereich reicht.
rien: einem nicht durch orale Glukosebelastung (75–100 g)
unter 0,4 ng/dl supprimierbaren GH-Spiegel und einem Abb. 1.20 
­erhöhten Serumspiegel (alters- und geschlechtsentspre-
chend) des Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1, einem
GH-abhängigen Wachstumsfaktor, der für viele GH-Wir- Bei allen Patienten mit Akromegalie besteht grundsätz- rung der Weichgewebeveränderungen ist oft eine Kombi-
kungen verantwortlich ist und früher als Somatomedin C lich eine Behandlungsindikation. Ziele sind das Vermei- nation aus oraler und plastischer Chirurgie indiziert (z. B.
bezeichnet wurde). Die Serumspiegel von IGF-1 sind nur den der Langzeitfolgen des GH-Überschusses, die Entfer- mandibuläre Osteotomien, Rezession der Supraorbitalbö-
selten falsch positiv erhöht; in der Schwangerschaft steigen nung der intrasellären Raumforderung und der Erhalt des gen, Rhinoplastiken und Zungenverkleinerung). Behin-
sie auf das Zwei- bis Dreifache des alters- und ge- normalen Hypophysengewebes und seiner Funktion. Be- dernde hypertrophe Osteoarthropathien der Hüften und
schlechtsentsprechenden oberen Normwerts. Die Labor- handlungsoptionen sind Operationen, eine gezielte Be- anderer großer Gelenke machen oft einen Gelenkersatz er-
untersuchungen werden bei Akromegalie durch eine MRT strahlung und Medikamente. Die transsphenoidale Aden- forderlich. Aufgrund des erhöhten Risikos für kolorektale
der Hypophyse und eine Gesichtsfeldtestung durch quan- ektomie durch einen erfahrenen Neurochirurgen ist die Adenome und Karzinome sollten bei Patienten mit Akro-
titative Perimetrie ergänzt. Sofern die Bildgebung der Hy- Behandlung der Wahl und sollte eventuell durch eine megalie regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen mittels Ko-
pophyse kein Adenom nachweisen kann, sind eine Bestim- Gamma-Knife-Bestrahlung, eine Arzneimitteltherapie loskopie erfolgen.
mung von GHRH im Plasma sowie eine CT von Thorax oder beides ergänzt werden.
und Abdomen indiziert, um einen ektopen GHRH-produ- Nach der erfolgreichen operativen Behandlung bilden
zierenden Tumor auszuschließen (z. B. Pankreaskarzinom, sich die Weichgewebe deutlich zurück, die knöchernen
kleinzelliges Bronchialkarzinom). Veränderungen sind jedoch irreversibel. Nach Stabilisie-
22 1  Hypophyse und Hypothalamus

Prolaktinproduzierender Hypophysentumor
Prolaktinproduzierende Hypophysentumoren (Prolakti-
nome) sind die häufigsten hormonaktiven Hypophysentu-
moren. Es handelt sich um monoklonale Adenome aus
laktotropen Zellen, die infolge sporadischer Mutationen
auftreten. Trotzdem sind sie aber auch die häufigsten Hy-
pophysentumoren bei multipler endokriner Neoplasie
Typ  1 (›  Abb.  8.1). Außerdem sind mehr als 99 % der
Prolaktinome benigne. Etwa 10 % der prolaktinproduzie- Das Prolaktin-produzierende Makroadenom
renden Hypophysentumoren sezernieren aufgrund einer führt bei suprasellärer Ausdehnung zu Gesichts-
feldstörungen und bei lateraler Ausdehnung
somatotropen oder mammasomatotropen Komponente (Sinus cavernosus) zu Hirnnervenlähmungen
Bei prämenopausalen Frauen führt die Hyper-
auch Wachstumshormon. (z.B. Diplopie, Ptose), Kopfschmerzen und
prolaktinämie zu einer bilateralen spontanen
einem unterschiedlich starken Hypopituitarismus.
Bei Frauen führen prolaktinproduzierende Mikroade- Galaktorrhö.
nome (≤ 10 mm größter Durchmesser) für gewöhnlich zur Serielle kraniale MRT (Koronal-
sekundären Amenorrhö mit oder ohne Galaktorrhö. Bei schnitte) eines Patienten mit einem
9 mm großen Prolaktin-produzierenden
Männern hingegen verursachen kleine Prolaktinome keine hypophysären Mikroadenom (Pfeile).
Symptome, sodass sie erst diagnostiziert werden, wenn sie Zum Diagnosezeitpunkt (linkes Bild)
so groß sind, dass Verdrängungssymptome auftreten. Die- betrug die Serumprolaktinkonzentration
280 ng/ml. Das rechte Bild wurde 6 Monate
se späte Diagnosestellung ist auch für die meisten postme- nach Normalisierung der Serumprolaktin-
nopausalen Frauen typisch. Verdrängungssymptome von konzentration durch einen Dopamin-
agonisten aufgenommen. Die Prolak-
prolaktinproduzierenden Makroadenomen sind bei supra- tinomgröße nahm um mehr als 50 % ab
sellärer Ausdehnung Gesichtsfelddefekte, bei lateraler (rechtes Bild).
Ausdehnung (Sinus cavernosus) Hirnnervenlähmungen
(z. B. Diplopie, Ptose), Kopfschmerzen und ein unter- Kraniales MRT (links koro-
naler, rechts sagittaler Schnitt)
schiedlich ausgeprägter Hypopituitarismus mit Kompres- eines Patienten mit einem
sion des normalen Hypophysengewebes. 6,5 cm großen Prolaktin-produ-
Die Hyperprolaktinämie reduziert bei Männern und zierenden hypophysären Ma-
kroadenom. Der Tumor enthält
Frauen die Gonadotropinsekretion. Bei Männern führt der verstreut zystische Bereiche,
hypogonadotrope Hypogonadismus zur Hodenatrophie, zu der größte liegt rechts inferior
einem niedrigen Serumspiegel von Testosteron, zur Abnah- frontal und deformiert das fron-
tale Ventrikelhorn mit leichter
me der Libido, zu sexuellen Funktionsstörungen, reduzier- Verschiebung über die Mittel-
tem Bartwuchs und zur Abnahme der Muskelmasse. Da linie nach links. Der Tumor win-
Männer kein Östrogen zur Vorbereitung der Brustdrüsen det sich um den superioren
und lateralen Rand des Sinus
besitzen, entsteht nur selten eine Galaktorrhö. Bei prämeno- cavernosus. Der Patient zeigt
pausalen Frauen kommt es jedoch bei Hyperprolaktinämie Gesichtsfeldausfälle und Sym-
zu einer bilateralen spontanen oder exprimierbaren Galak- ptome eines sekundären Hypo-
gonadismus. Die Ausgangs-
torrhö (› Abb. 4.26). Außerdem führt der prolaktinabhän- konzentration von Prolaktin im
gige hypogonadotrope Hypogonadismus bei Frauen zu einer Serum betrug 6100 ng/ml.
sekundären Amenorrhö und Östrogenmangelsymptomen. Kraniales MRT (links korona-
Ein lange bestehender Hypogonadismus kann bei Frauen ler, rechts sagittaler Schnitt)
desselben Patienten 6 Monate
und Männern zu Osteopenie und Osteoporose führen. nach Normalisierung der Se-
Allgemein verhalten sich die Serumspiegel von Prolak- rumprolaktinkonzentration mit einem Dopaminagonisten. Das MRT zeigt eine ausgeprägte Schrump-
tin proportional zur Größe des Prolaktinoms. So führt ein fung. Die Gesichtsfeldausfälle verschwanden und die Hypophysenfunktion normalisierte sich.
5 mm großes Prolaktinom zu einem Serumprolaktinspie-
Abb. 1.21 
gel von 50–250 ng/ml (Normalbereich, 4–30 ng/ml) und
Prolaktinome mit einem Durchmesser >  2 cm zu Serum­ tion, auch wenn der Patient keine Tumorsymptome auf- der Patienten lassen sich prolaktinproduzierende Adeno-
prolaktinspiegeln von > 1.000 ng/ml. Daneben gibt es Ein- weist. Behandlung der Wahl ist bei gegebener Indikation me durch die Langzeitbehandlung mit einem Dopamina-
zelfälle, in denen kleine Prolaktinome eine sehr hohe Se- (z. B. bei sekundärem Hypogonadismus bei Männern oder gonisten heilen. Daher sollte in gewissen Abständen (z. B.
kretionskapazität für Prolaktin besitzen (z. B. Serumpro- prämenopausalen Frauen oder bei Makroadenomen) die alle 2  Jahre) ein Auslassversuch über 2 Monate erfolgen,
laktin >  1.000 ng/ml) und es gibt auch den umgekehrten orale Gabe eines Dopaminagonisten (z. B. Cabergolin oder um festzustellen, ob die Hyperprolaktinämie rezidiviert.
Fall von Makroadenomen mit ausgesprochen geringer Bromocriptin), der den Serumspiegel von Prolaktin rasch Patienten mit Makroprolaktinomen mit Ausdehnung in
Prolaktinproduktion (z. B. Serumprolaktin < 200 ng/ml). und effektiv senkt und das laktotrope Adenom verkleinert. den Sinus sphenoidalis sollten auf die mögliche Liquor-
Die Behandlung von prolaktinproduzierenden Hypo- Der Serumprolaktinspiegel sollte während der Behandlung Rhinorrhö hingewiesen werden, die bei Schrumpfung des
physentumoren richtet sich nach den Befunden und Sym- alle 2 Wochen kontrolliert und die Dosis von Bromocriptin Tumors auftreten kann und einen sofortigen neurochirur-
ptomen der Hyperprolaktinämie und den Verdrängungs- oder Cabergolin so lange erhöht werden, bis der Prolaktin- gischen Eingriff erforderlich macht, um einen Pneumoze-
effekten der intrasellären Raumforderung. So kann ein zu- spiegel im Normbereich liegt. Etwa 3–6 Monate nach dem phalus und eine bakterielle Meningitis zu verhindern. So-
fällig bei einer postmenopausalen Frau entdecktes 4 mm Erreichen eines normalen Serumspiegels von Prolaktin fern die Patienten den Dopaminagonisten nicht vertragen
großes prolaktinproduzierendes Mikroadenom unbehan- sollte die Tumorschrumpfung durch eine MRT der Hypo- (z. B. Übelkeit, Benommenheit, Verwirrtheit oder lebhafte
delt beobachtet werden. Da prolaktinproduzierende Mak- physe bestätigt werden. Die Mindestdosis des Dopamin­ Träume) oder der Tumor nicht auf diese Behandlung an-
roadenome der Hypophyse immer größer werden, besteht agonisten, die zur Normoprolaktinämie führt, sollte le- spricht, sollte eine transsphenoidale Operation oder eine
bei Makroadenomen fast immer eine Behandlungsindika- benslang weiter gegeben werden. Bei einem kleinen Teil Gamma-Knife-Bestrahlung erwogen werden.
ACTH-produzierender Hypophysentumor 23

ACTH-produzierender Hypophysentumor
ACTH-produzierende Hypophysenadenome führen zur ACTH-produzierendes Mikroadenom
überschüssigen Sekretion von Cortisol aus den Nebennieren
mit den für das Cushing-Syndrom typischen Symptomen
(›  Abb.  3.9). ACTH-produzierende Hypophysentumoren
sind in der Regel benigne Mikroadenome (≤ 10 mm größter
Durchmesser), gelegentlich Makroadenome und sehr selten
Karzinome. Die Behandlung erfolgt durch eine transspheno-
idale selektive Adenektomie. Der Operationserfolg zeigt sich
durch das Abklingen des Cushing-Syndroms und eine intak- Winziges Adenom
te Funktion von Hypophysenvorder- und -hinterlappen. Mittelgroßes ACTH-
produzierendes Adenom
Die Operation erfolgt häufig endonasal (mit einem En-
doskop) durch den Sinus sphenoidalis (transsphenoidal)
und durch den Sellaboden (›  Abb.  1.31). Kortikotrope
Adenome sind basophil und färben immunhistochemisch
positiv für ACTH an. Das Nachbargewebe des Adenoms
weist meist infolge der Atrophie der normalen ACTH-pro-
duzierenden Zellen Crooke-Hyalin auf. Bei präoperativer
Lokalisation eines Mikroadenoms mittels MRT oder Pro-
bennahme aus dem Sinus petrosus liegt die Heilungsrate
bei 80–90 % (› Abb. 3.10). Eine fehlende Heilung beruht
bei Mikroadenomen entweder auf deren geringer Größe,
sodass sie bei der Operation übersehen werden, oder auf
einer nicht zugängigen Lage (z. B. Sinus cavernosus). Die
MRT sollte mit einem starken Magnetfeld (z. B. 3 Tesla)
und Gadolinium erfolgen. Etwa die Hälfte der ACTH-pro-
duzierenden Hypophysentumoren ist so groß, dass sie mit- Crooke-Hyalin (Mann-Färbung, x400) Basophiles Adenom (Mann-Färbung, x125)
tels MRT gefunden werden können. Außerdem besteht bei
etwa 10 % der Gesunden ein sichtbares Mikroadenom in
der MRT, sodass der Nachweis eines kleinen intrasellären
Adenoms in der MRT bei einem Patienten mit Cushing-
Syndrom unspezifisch für ein ACTH-produzierendes Ade-
nom ist. Die geringe Heilungsrate (≈ 60 %) von Makroade-
nomen beruht in der Regel auf einer Beteiligung des Sinus
cavernosus, die eine vollständige Resektion verhindert.
Diese Patienten sollten am Operationstag intravenös eine
Glukokortikoiddosis erhalten (z. B. Hydrocortison 100 mg).
Am Morgen nach der Operation sollte der Serumcortisol-
spiegel (vor einer weiteren Glukokortikoidgabe) bestimmt
werden, um eine Kurzzeitheilung zu belegen, die durch
­einen niedrigen Serumcortisolspiegel gekennzeichnet ist Auf dem kranialen MRT (Koronarschnitt) impo- Das kraniale MRT (Sagittalschnitt) zeigt ein
(z. B. < 1,8 μg/dl). Treten Symptome eines akuten Glukoko- niert das 4 mm große ACTH-produzierende 4 mm großes ACTH-produzierendes Adenom
Adenom (Pfeil) auf der linken Sellaseite als (Pfeil) zwischen Hypophysenhinter- und
kortikoidentzugs auf, bevor der Serumspiegel verfügbar ist, rundes hypodenses Knötchen -vorderlappen
sollte die Stressdosis eines Glukokortikoids gegeben werden
(z. B. Hydrocortison 2 × 100 mg/d i. v.). Anschließend wird Abb. 1.22 
die Glukokortikoiddosis täglich reduziert und die Patienten
mit einer oralen Dosis, die dem Doppelten der Standarder- die Blutentnahme sollte vor der morgendlichen Einnahme um wieder ein Cushing-Syndrom auszulösen. Klinisch ma-
satzdosis entspricht (z. B. Prednison jeden Tag 10 mg mor- von Hydrocortison erfolgen. Der Serumcortisolspiegel nifestiert sich ein derartiges Rezidiv durchschnittlich nach
gens und 5 mg um 16 Uhr), aus dem Krankenhaus ent­ steigt langsam aus einem nicht nachweisbaren Bereich auf 3–4 Jahren. Daher sollten alle Patienten jährlich auf ein
lassen. Diese Dosis sollte sich jedoch an der Schwere des Werte >  10 μg/dl. Sobald dies geschieht, kann das Hydro- Rezidiv kontrolliert werden.
präoperativen Hypercortisolismus orientieren, um einen cortison über 2 Wochen ausgeschlichen und abgesetzt wer- Patienten mit Cushing-Syndrom haben perioperativ ein
schweren Steroidentzug zu vermeiden. Anschließend wird den. Durch dieses postoperative Management müssen Pati- erhöhtes Thromboserisiko, sodass Maßnahmen zur Prophy-
die Glukokortikoiddosis langsam über 4–6 Wochen bis zur enten mit typischem hypophysärem Cushing-Syndrom für laxe einer tiefen Beinvenenthrombose ergriffen werden soll-
Standardersatzdosis ausgeschlichen. Die hypothalamischen etwa 12 Monate nach der kurativen Operation Glukokorti- ten (einschließlich Mobilisierung am 1. postoperativen Tag).
CRH-Neurone und die atrophierten kortikotropen HVL- koide einnehmen. Die Symptome des Cushing-Syndroms Sofern ein Patient mit hypophysärem Cushing-Syn-
Zellen brauchen Monate, um sich von der chronischen Sup- klingen langsam über 6 Monate nach der Operation ab. drom durch einen transsphenoidalen Eingriff nicht geheilt
pression zu erholen. Die meisten Patienten tolerieren 8–12 Selbst bei niedrigem postoperativem Serumcortisol- wird, kann entweder erneut eine transsphenoidale Opera-
Wochen nach der kurativen Operation die tägliche Einmal- spiegel besteht weiterhin ein Rezidivrisiko – wenn ein klei- tion oder eine bilaterale laparoskopische Adrenalektomie
gabe eines kurz wirksamen Glukokortikoids (z. B. 15–20 mg ner Teil lebensfähiger kortikotroper Adenomzellen bei der erfolgen. Seltener eingesetzte Verfahren sind die Strahlen-
Hydrocortison an jedem Morgen). Alle 6 Wochen sollte der Operation nicht entfernt wird, vermehren sie sich im Laufe therapie der Sella oder eine pharmakologische Senkung
Serumcortisolspiegel um 8 Uhr morgens bestimmt werden; der Zeit und bilden irgendwann ausreichend viel ACTH, der adrenalen Cortisolproduktion.
24 1  Hypophyse und Hypothalamus

Nelson-Syndrom
Das Nelson-Syndrom bezeichnet die progressive Vergröße-
ACTH-produzie-
rung eines ACTH-produzierenden Hypophysentumors rendes Adenom,
nach bilateraler Adrenalektomie zur Behandlung eines hy- Mikroadenom ACTH normal oder
pophysären Cushing-Syndroms. Während zum Zeitpunkt (≤ 10 mm) leicht erhöht
oder Makroadenom
der transsphenoidalen Operation eine selektive Adenekto- (≥ 10 mm)
mie die Behandlung der Wahl beim ACTH-produzierenden
Adenom ist (› Abb. 1.22), besteht bei Erfolglosigkeit der
Keine vermehrte
Hypophysenoperation eine Indikation für eine laparosko- ACTH normal Pigmentierung

In
pische Adrenalektomie. Lässt sich der Hyperkortisolismus oder leicht erhöht

hib
it io
durch die bilaterale Adrenalektomie beheben, nimmt das

n
negative Feedback auf die ACTH-produzierenden Tumor-
zellen bei Ersatz physiologischer Glukokortikoiddosen ab Hyperplastische
Nebennieren
und das Adenom kann wachsen. Das Nelson-Syndrom tritt
nur bei wenigen Patienten auf, bei denen nach einer erfolg-
losen transsphenoidalen Operation eine bilaterale Adrenal- Cortisol aus den
ektomie erfolgte. Die meisten ACTH-produzierenden Mi­ Nebennieren stark erhöht
kroadenome vergrößern sich in dieser Situation nicht. Cushing-
Syndrom
Wird ein hypophysäres Cushing-Syndrom durch ein
ACTH-produzierendes Makroadenom (>  10 mm größter
Durchmesser) verursacht, besteht jedoch nach bilateraler
Adrenalektomie ein hohes Risiko für eine Tumorvergröße-
rung.
Beim Nelson-Syndrom kommt es durch den deutlich er- Ein Hypophysen-
höhten Blutspiegel von Proopiomelanocortin und ACTH tumor wird sichtbar
zur Hyperpigmentierung der Haut sowie durch die raum- oder ein residuelles ACTH stark erhöht
Makroadenom ver-
fordernde Wirkung des wachsenden Hypophysentumors größert sich nach
zu Verdrängungssymptomen (z. B. Gesichtsfeldausfälle, bilateraler laparo-
Okulomotoriuslähmungen, Hypopituitarismus und Kopf- skopischer
Adrenalektomie
schmerzen). Wie bei der Addison-Krankheit (› Abb. 3.22) Vermehrte
entsteht die generalisierte Hyperpigmentierung durch ACTH stark Pigmentierung
ACTH-abhängige Zunahme der Melaninproduktion in den erhöht
Melanozyten der Epidermis. Die Streckseiten (z. B. Knie,
Knöchel, Ellenbogen) und andere mechanisch beanspruch- Hyperplastische
te Bereiche (z. B. Gürtellinie, BH-Verschluss) sind oft noch Neben-
stärker hyperpigmentiert. Weitere Bereiche mit starker nieren Das
entfernt Cushing-
­Hyperpigmentierung sind die Innenseiten der Lippen, die Kein Cortisol aus Syndrom
Wangenschleimhaut, Zahnfleisch und harter Gaumen, den Nebennieren klingt ab, aber
­jüngere Operationsnarben, die Areolae, Sommersprossen Exogen zugeführtes es kommt zur
Cortisol deckt zwar Pigmentierung
und die Palmarfalten. (Letzteres kann bei Dunkelhäutigen den physiologischen und Zeichen ei-
normal sein.) Die Fingernägel weisen eine streifige dunkle Bedarf, reduziert nes Hypo-
Zeichnung auf, die von den Nagelbetten ausgeht. Bei Ver- aber weder den Hypo- physen-
physentumor noch tumors
dacht auf ein Nelson-Syndrom erfolgt eine MRT der Sella die ACTH-Produktion (Sehstörungen)
zum Nachweis der intrasellären Raumforderung. Außer-
dem ist die ACTH-Konzentration im Blut stark erhöht (z. B. Abb. 1.23 
> 1.000 pg/ml; Normalbereich 10–60 pg/ml).
Bei Patienten mit hypophysärem Cushing-Syndrom, bei
denen eine bilaterale Adrenalektomie erfolgt ist, sollte für ven Tumoren gibt es keine effektive medikamentöse The-
etwa 10 Jahre jährlich eine MRT der Hypophyse erfolgen. rapie. Temozolomid wird derzeit bei aggressiven Hypo-
Zeigen serielle MRT-Aufnahmen ein Tumorwachstum, physentumoren oder -karzinomen untersucht.
kann eine gezielte Bestrahlung des Tumors erwogen wer- Trotz der Bedenken bezüglich der möglichen Entwick-
den. Sofern verfügbar, ist die Gamma-Knife-Radiochirur- lung eines Nelson-Syndroms sollte die Heilung eines
gie die Behandlung der Wahl bei ACTH-produzierenden ­Cushing-Syndroms durch eine bilaterale laparoskopische
Nelson-Tumoren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Adrenalektomie nicht verworfen werden, wenn die trans-
Hypophysenadenomen wachsen diese Neoplasien jedoch sphenoidale Operation nicht kurativ war. Ein unbehandel-
trotz der Strahlentherapie oft aggressiv weiter. Bei ausge- tes Cushing-Syndrom kann zum Tode führen, während
dehnter Beteiligung des Sinus cavernosus sind mehrere das Nelson-Syndrom in der Regel behandelt werden kann.
Hirnnervenlähmungen möglich. Für diese lokal aggressi-
Hormoninaktiver Hypophysentumor 25

Hormoninaktiver Hypophysentumor
Hormoninaktive Hypophysentumoren werden entweder
zufällig entdeckt (z. B. bei einer kranialen MRT aufgrund
anderer Symptome) oder aufgrund der Verdrängungssym-
ptome einer intrasellären Raumforderung (z. B. Gesichts-
feldausfälle). In Autopsiestudien finden sich hypophysäre
Mikroadenome (größter Durchmesser ≤ 10 mm) recht häu-
fig bei etwa 11 % aller untersuchten Hypophysen. Hypo-
physäre Makroadenome (größter Durchmesser >  10 mm)
sind eher selten. Die adenohypophyseale Ursprungszelle
wird durch eine immunhistochemische Untersuchung der
resezierten Hypophysenadenome geklärt. Häufig handelt es
Chiasma opticum
sich um gonadotrope Makroadenome; die meisten produ-
zieren jedoch keinen Gonadotropinüberschuss, sodass kei- Tumor
ne Symptome eines Hormonüberschusses auftreten. Die
zweithäufigsten hormoninaktiven Makroadenome sind
nichtbasophile oder azidophile Nullzelladenome (chromo-
phobe Adenome), benigne Neoplasien der Adenohypophy- Gonadotropin produzierendes
Adenom mit Sellavergrößerung
se, die immunhistochemisch negativ auf HVL-Hormone
anfärben. Selten sind laktotrope, somatotrope und ACTH-
produzierende Hypophysenadenome klinisch stumm.
Die Verdrängungssymptome von hormoninaktiven
Makroadenomen veranlassen in der Regel zur Evaluation
mittels MRT. Bei suprasellärer Ausdehnung kommt es zur Kompression des Chiasma
Kompression des Chiasma opticum mit allmählicher supe- opticum durch ein klinisch
riorer bitemporaler Quadrantenanopsie, die in eine kom- nicht funktionelles
hypophysäres
plette bitemporale Hemianopsie übergehen kann Makroadenom
(› Abb. 1.11). Aufgrund des allmählichen Auftretens be-
merken die Patienten den Sehverlust oft erst, wenn er er-
heblich ist. Weitere Verdrängungssymptome einer sich
vergrößernden intrasellären Raumforderung sind Doppel-
bilder (bei Ausdehnung in den Sinus cavernosus und
Kompression des N. oculomotorius), eine unterschiedlich
starke Hypophyseninsuffizienz (durch Kompression der
normalen Hypophyse) und Kopfschmerzen.
Das MRT ist das Verfahren der Wahl zur Evaluation der
Sella und der umgebenden Strukturen und stellt die supra-
selläre und paraselläre Ausdehnung des Makroadenoms
dar. Bei allen Patienten mit Makroadenomen sollte nach ei-
ner tumorbedingten Überfunktion, einem kompressionsbe-
dingten Hypopituitarismus und Gesichtsfeldstörungen ge-
sucht werden. Hormoninaktive Makroadenome gehen we- Nullzelladenom (Mann-Färbung, x100) MRT (Sagittalschnitt) der suprasellären
gen der Kompression des Hypophysenstiels und weil das Ausdehnung eines klinisch nicht funktionellen
hypophysären Makroadenoms
Dopamin (inhibitorischer Faktor für das Prolaktin) die lak-
totropen HVL-Zellen nicht erreichen kann, oft mit einer Abb. 1.24 
leichten Hyperprolaktinämie einher (z. B. einem Serumpro-
laktinspiegel von 30–200 ng/ml). Die laktotropen Hypophy-
senzellen sind die einzigen HVL-Zellen, die unter konstan- Hypophysentumoren. Zuwarten ist bei älteren Patienten
ter inhibitorischer Kontrolle durch den Hypothalamus ste- mit normalem Gesichtsfeld gerechtfertigt, während bei
hen. Bei allen Patienten mit Makroadenomen sollten auch Sehverlust grundsätzlich eine Intervention erfolgen sollte.
weitere hypophysäre Hormone bestimmt werden, wie das Die transsphenoidale Operation (› Abb. 1.31) behebt die
luteinisierende Hormon, das follikelstimulierende Hormon, Gesichtsfeldausfälle sofort und führt zur dauerhaften Hei-
die α-Untereinheit der Glykoproteinhormone, die gonada- lung. Auch eine präoperativ vorhandene Hypophysen-
len Zielhormone (Östrogen bei Frauen und Testosteron bei insuffizienz klingt oft wieder ab. Die Effizienz der trans-
Männern), Insulin-like Growth Factor 1, ACTH, Cortisol, sphenoidalen Operation wird durch eine postoperative
TSH und freies Thyroxin. Ein Diabetes insipidus ist bei Pati- MRT (in der Regel 3 Monate postoperativ) sowie durch die
enten mit benignen Tumoren der Adenohypophyse selten. Blutspiegel der sekretorischen Adenomprodukte, die vor
Behandlungsziele sind die Behebung der Verdrän- der Operation erhöht waren (z. B. α-Untereinheit der Gly-
gungssymptome (z. B. Sehverlust) und der Erhalt der Hy- koproteinhormone), überprüft. Rezidiviert das Hypophy-
pophysenfunktion. Derzeit gibt es keine effektiven medi- senadenom nach der transsphenoidalen Operation, erfolgt
kamentösen Behandlungsoptionen bei hormoninaktiven eine stereotaktische Gamma-Knife-Strahlentherapie.
26 1  Hypophyse und Hypothalamus

Sekretion und Wirkung von Oxytocin


Die physiologischen Wirkungen von Oxytocin sind die Ak- Psychogene Reize
tivierung der glatten Muskeln, um den Milchfluss beim Nucleus paraventricularis
Oxytocin
Stillen zu ermöglichen, und die Anregung der peripartalen wandert hypothalami (Ort der
Wehentätigkeit. Die milchproduzierenden Anteile der entlang den Oxytocinproduktion)
Mamma sind zahlreiche Alveolen-Cluster aus milchprodu- Nerven-
fasern
zierenden (glandulären) Zellen, die von spezialisierten
Myoepithelzellen umgeben sind. Prolaktin fördert die
Milchproduktion in den endokrinologisch vorbereiteten
Oxytocinaufnahme durch den
Mammae. Die Alveoli sind durch Milchgänge miteinander primären Portalplexus und Weiter-
verbunden, die zu den großen, in die Mamille mündenden leitung über die Portalvenen zur
Ausführungsgängen führen. Die Drüsenzellen besitzen Adenohypophyse
Oxytocinrezeptoren und verursachen bei Aktivierung
myoepitheliale Kontraktionen. Außerdem wirkt Oxytocin
auf die duktalen myoepithelialen Zellen, um den Milch-
fluss zur Mamille zu beschleunigen. Die Aktivierung der
mamillären taktilen und Mechanorezeptoren durch den Oxytocinaufnahme
Saugreiz sendet ein afferentes Signal zum Rückenmark durch die Kapillaren
und vom Rückenmark zu den oxytocinergen Neuronen in des Hinterlappens
den Nuclei supraoptici und paraventriculares. Daraufhin
wird Oxytocin pulsatil aus dem Hypophysenhinterlappen
Prolaktin stimuliert
freigesetzt, das die Pumptätigkeit der Alveoli erhöht und die Milchproduktion
die Milchentleerung aus den Alveoli verbessert. Ohne Oxy- in der endokrin
tocin werden beim Stillen nur etwa 30 % der gespeicherten präparierten Brust
Milch abgegeben. Es gibt eine Latenzphase von etwa 30 Se- Oxytocin führt zur
kunden zwischen dem Beginn des Stillens und der Milch- Milchaustreibung

förderung. Auch psychogene Reize können bei stillenden Afferente Reize


von der Mamille
Müttern den Milchfluss anregen. Durch Veränderungen
von Östrogen und Progesteron bei der Entbindung wird
die Modulation der Laktationsreaktion sowohl durch Be-
einflussung der Oxytocinsynthese als auch durch Sekretion Oxytocin führt zur
Uteruskontraktion
und Beeinflussung der Oxytocinrezeptoren erleichtert.
Oxytocin ist ein wirkungsvolles Uterotonikum und löst
Kontraktionen aus. Außerdem nimmt die Oxytocinsekre-
Afferente Reize durch
tion während der Austreibungsphase der Geburt zu. Wäh- Zervixdilatation oder
rend der Schwangerschaft wird der Uterus durch die Wir- vaginale Stimulation
kungen von Progesteron und Relaxin in einem Ruhezu-
stand gehalten. Die Weheneinleitung erfolgt durch eine
relative Zunahme der Östrogenaktivierung und eine Ab- Abb. 1.25 
nahme der Progesteronaktivierung. Die Reaktivität des
Uterus auf Oxytocin nimmt während der Entbindung all-
mählich bis auf das 200-Fache zu.
Die Gabe von synthetischem Oxytocin ist eine klinisch
etablierte Methode zur Weheninduktion. Dazu wird Oxy-
tocin intravenös in ansteigender Dosis verabreicht, bis sich
die Wehen normal weiterentwickeln, alle 2–3 Minuten
starke Kontraktionen auftreten oder die Uterusaktivität
150–350 Montevideo-Einheiten erreicht (Spitzenwert der
Kontraktionen in mmHg, gemessen mit einem internen
Monitor und multipliziert mit der Wehenfrequenz in 10
Minuten). Bei der Gabe von Uterotonika verhindert die
kontinuierliche Überwachung der fetalen Herzfrequenz
und der Uterusaktivität die Induktion einer exzessiven
oder inadäquaten Wehentätigkeit. Weitere Methoden zur
Weheninduktion sind „Membranstripping“, Amniotomie,
die intravaginale Gabe von Prostaglandin E2 oder E1 und
Mammastimulation.
Sekretion und Wirkung von ADH 27

Sekretion und Wirkung von ADH


ADH (oder Vasopressin) ist das wichtigste Hormon der Vermehrte ADH-Sekretion Gehemmte ADH-Sekretion
Wasserhomöostase und der Osmolalität der Körperflüssig- Osmolalität der Körper- Osmolalität der Körper-
keiten. Sekretion und Wirkung von ADH werden durch flüssigkeiten erhöht flüssigkeiten reduziert
Reduziertes Blutvolumen Erhöhtes Blutvolumen
osmotische und Druck-/Volumenfaktoren gesteuert. Die Reduzierter Blutdruck Erhöhter Blutdruck
Plasmaosmolalität wird kontinuierlich von Osmorezepto- Angiotensin II Atriales natriuretisches Peptid
+ –
Schmerzen Ethanol
ren überwacht, die sich außerhalb der Blut-Hirn-Schranke Stress
im Organum vasculosum laminae terminalis befinden (ne- Übelkeit und Erbrechen Wasser- und Elektrolytaus-
ben dem anterioren Hypothalamus nahe der anterioren tausch zwischen Blut und
Gewebe: normal oder
Wand des III. Ventrikels) und von fenestrierten Kapillaren Zellen der Nuclei pathologisch (Ödem)
mit Blut versorgt werden. Die normale Osmolalität der ex- paraventricularis und
supraopticus erhalten Informa-
trazellulären Flüssigkeit, die überwiegend vom Serumnat- Flüssigkeitsaufnahme
tionen von Osmorezeptoren
riumspiegel abhängt, liegt beim Gesunden bei 282 bis (Überwachung der Osmolalität (oral oder parenteral)
287  mosmol/kg. Entscheidend für die Aufrechterhaltung der Körperflüssigkeiten), peri-
pheren Barorezeptoren
dieses Normalbereichs sind (1) die sehr sensitive, von Os- (Überwachung von Blutdruck
Wasser- und Elektrolyt-
morezeptoren gesteuerte Anpassung der ADH-Sekretion verlust über den Darm
und Blutvolumen) und höheren
(Erbrechen, Diarrhö),
an Veränderungen der Plasmaosmolalität, (2) die prompte Nervenzentren
die Körperhöhlen (As-
Anpassung der Urinosmolalität an Veränderungen des ADH wandert an
zites, Erguss) oder extern
ADH-Plasmaspiegels und (3) die kurze Halbwertszeit von (Schweiß, Blutverluste)
den Nervenfasern
90 % des gefilterten
ADH (≈ 15 Minuten). Somit führt eine leichte Zunahme herab und wird von
Wassers werden im
den Kapillaren der
der Plasmaosmolalität zum prompten Anstieg der Urin- proximalen Tubulus Die Glomeruli
Neurohypophyse
konzentration und eine geringfügige Abnahme der Osmo- und in der Henle- filtern in
aufgenommen
Schleife gemeinsam 24 Stunden
lalität zur prompten Wasserdiurese. ADH mit Salzen reabsorbiert etwa 180 l
Im Laufe von 24 Stunden werden von den Glomerula (15–20 l/d) Flüssigkeit
180 l isoosmotische Flüssigkeit in das proximale Konvolut ADH erhöht die Durchlässig-
gefiltert. Von dem gefilterten Wasser werden unabhängig keit der kortikalen Sammel-
rohre für Wasser, sodass es Na+ Na+
von ADH 90 % im proximalen Tubulus resorbiert. Der pas- O
O
gemeinsam mit dem aktiv re- H2
sive Wassertransfer hängt von der aktiven Resorption der H2
absorbierten Salz reabsorbiert Na+
löslichen Bestandteile ab (z. B. Natrium und Chlorid), die wird
das Wasser entlang dem osmotischen Gradienten mit­

H2
O
nehmen, sodass der Urin im proximalen Tubulus isoos­ O
ADH erhöht die Durchlässigkeit H2
motisch zum Plasma bleibt. Die Rückresorption von Was- der medullären Sammelrohre
ser im distalen Sammelrohr erfolgt ADH-abhängig. Die für Wasser, sodass es durch

H2O
­Henle-Schleife und das Sammelrohr der Niere sind kritisch die hohe Osmolalität des
H2O

Na+
Nierenmarks reabsorbiert wird
für die Vermeidung von Wasserverlusten. Das Gegen- Na+
Na+ Na+
stromprinzip der Henle-Schleife erzeugt eine hohe Os­
H2O

Na+ Na+ Na+


molalität im Nierenmark. Im aufsteigenden oder distalen

H2O
Unter dem Einfluss des anti-
Schenkel der Henle-Schleife wird Natrium gemeinsam diuretischen Hormons werden Na+ Na+ Na+
H2O

mit Wasser aktiv aus dem tubulären Urin in die intersti­ täglich 14–16 l reabsorbiert, Na+ Na+
tielle Flüssigkeit des Nierenmarks transportiert, die da- sodass in 24 Stunden 1–2 l Urin Na+
ausgeschieden werden Na+ Na+
durch sehr hyperton wird. Durch die Undurchlässigkeit
dieses Schenkels der Henle-Schleife für Wasser wird der in Der aufsteigende Schenkel der Henle-Schleife ist
wasserundurchlässig, reabsorbiert aktiv Salz und erzeugt
den distalen Tubulus eindringende Urin hypoton gegen- eine hohe Osmolalität des Nierenmarks
über dem Plasma. Ohne ADH bleiben der distale Tubulus
und die Sammelrohre überwiegend undurchlässig für Abb. 1.26 
Wasser, sodass die Nieren stark verdünnten Urin abgeben.
Bei maximaler ADH-Sekretion erreicht die Urinosmola­
lität ein Plateau von 1.000–1.200  mosmol/kg, das durch durch ADH erhöht den intrazellulären Spiegel von zykli- Auch die Wasserzufuhr ist ein Schlüsselfaktor der Was-
die maximale Osmolalität des inneren Nierenmarks be- schem Adenosinmonophosphat (cAMP) durch Aktivie- serhomöostase. Eine erhöhte Plasmaosmolalität führt
grenzt wird. Ohne ADH werden täglich 14–16 l Urin ausge- rung der Adenylatzyklase. cAMP aktiviert die Proteinkina- ebenso wie eine Abnahme des intravasalen Volumens zu
schieden. se A, die Aquaporin-2 phosphoryliert und die Fusion von Durst. Dieser wird durch Osmorezeptoren im anterioren
ADH erhöht über den V2-Rezeptor der epithelialen Aquaporin-2-haltigen intrazytoplasmatischen Vesikeln Hypothalamus und durch Barorezeptoren im Thorax regu-
Hauptzellen die Wasserdurchlässigkeit der Sammelrohre, mit den apikalen Plasmamembranen der Hauptzellen in- liert. Zum Durstgefühl kommt es in der Regel bei einer Zu-
sodass ein osmotisches Gleichgewicht zwischen Urin und duziert. Durch die deutliche Zunahme der wasserleitenden nahme der Plasmaosmolalität um 2 %. Aufgrund der un-
hypertonem Interstitium des Nierenmarks entsteht. Da- Poren in der apikalen Plasmamembran steigt die apikale kontrollierten Flüssigkeitszufuhr (z. B. Kaffee, Tee, Erfri-
durch wird Wasser aus dem Urin in die medullären inter- Wasserdurchlässigkeit. Die aquaporinhaltigen Vesikel schungsgetränke und Wasser aus der Nahrung) ist Durst
stitiellen Blutgefäße extrahiert: Die Urinkonzentration werden abhängig von den intrazellulären cAMP-Spiegeln kein wichtiger Kontrollmechanismus; beim Gesunden
steigt und das Urinvolumen sinkt. Aquaporine sind intra- in die Membran oder aus ihr heraus geleitet, sodass eine wird überschüssiges Wasser täglich durch die osmoregu-
zelluläre Organellen oder Wasserkanäle, die den raschen minutengenaue Steuerung der renalen Wasserausschei- lierte ADH-Sekretion ausgeschieden.
Wassertransport über die Zellmembranen der Sammel- dung möglich ist, die sich am zirkulierenden ADH-Spiegel
rohre vermitteln. Die Aktivierung der V2-Rezeptoren orientiert.
28 1  Hypophyse und Hypothalamus

Zentraler Diabetes insipidus


„Diabetes insipidus“ bedeutet wörtlich, dass ein großes Versagen der Osmorezeptoren
Urinvolumen (Diabetes) vorliegt, das geschmacklos ist
(insipid). Beim zentralen Diabetes insipidus wird vermin- Ätiologie
dert ADH abgegeben, sodass es zu Polydipsie und Poly- Tumor
Kraniopharyngeom
urie kommt. Der ADH-Mangel kann durch Krankheiten Germinom
oder Raumforderungen entstehen, welche die Osmore- Metastasen us
Mamma ptic
zeptoren des Hypothalamus, die Nuclei supraopticus oder ao
Lunge pr
su
paraventricularis oder den superioren Anteil des Tractus Niere s i alis
Lymphom und Leukämie c leu hys
supraopticohypophysealis betreffen. Es müssen etwa 90 % Kolon Nu l e us hypop
c
Im Nu tico
der ADH-Neurone zerstört sein, damit ein symptomati- Melanom Im raop yse
Trauma s u p oph
scher Diabetes insipidus auftritt. Da der Hypophysenhin- u r o hyp
Schädelfraktur e
er N
terlappen ADH nur speichert, aber nicht produziert, füh- Hämorrhagie In d
Operativ ACTH

t
ren Schäden durch intraselläre Hypophysentumoren

hl
Infiltrate

fe
er
meist nicht zum Diabetes insipidus. Die häufigsten Ursa- Langerhans-Zell-Histiozytose Reabsorption im

od
chen sind Traumen (z. B. Neurochirurgie, geschlossenes Sarkoidose proximalen Konvolut

rt
zie
Wegener-Granulomatose normal (90 % des Filtrats

du
Schädeltrauma), primäre Hirntumoren oder Metastasen Lymphozytäre Infundibulo-

re
werden hier mit oder
und infiltrative Erkrankungen. Zentraler Diabetes insipi- hypophysitis Glomeruläre

H
ohne antidiuretisches

AD
DI der Schwangerschaft Filtration Neben-
dus kann durch eine Schwangerschaft exazerbieren oder Hormon reabsorbiert)
Genetisch normal nieren-
erstmals auftreten, da der ADH-Katabolismus durch die Familiärer zentraler DI hormone
plazentare Überproduktion des Enzyms Cysteinamino- (Mutationen des Arginin-
Bei Zerstörung
Vasopressin-Gens)
peptidase (Vasopressinase) erhöht ist. der Adeno-
Wolfram-(DIDMOAD-) hypophyse
Bei zentralem Diabetes insipidus setzen meist plötzlich Syndrom
Polyurie und Durst mit Appetit auf Kaltgetränke ein. Häu- ACTH
Nephrogen
fig erwachen die Patienten mehrmals in der Nacht, um reduziert
Mangelndes Ansprechen
Wasser zu lassen und zu trinken – oft eiskaltes Wasser. Bei auf ADH Nebenieren-
ambulanter Vorstellung führen die Patienten oft eine gro- hormone
ße Thermoskanne mit Eiswasser mit sich. Die Polyurie Ohne ADH keine Re- reduziert
absorption von Wasser in
hängt vom ADH-Mangel ab. Die Urinausscheidung kann den kortikalen und Filtration
von 3 l/d bei leichtem partiellem Diabetes insipidus bis zu medullären Sammelrohren reduziert
mehr als 10–15 l/d bei schwerem Diabetes insipidus betra-
Linderung des
gen. Bei Patienten mit gleichzeitiger Hypophysenvorder- Diabetes insipidus
lappeninsuffizienz ist mit der reduzierten glomerulären
Filtration eine sekundäre Nebenniereninsuffizienz assozi- Kortikosteroidgabe
Urinausscheidung erhöht kann zur Manifestation
iert (mit Reduktion des Blutdrucks, des Herzminutenvolu- eines latenten Diabetes
(5–15 Liter/24 Stunden)
mens und der Nierendurchblutung), sodass die Urinaus- insipidus führen
scheidung abnimmt. Bei Patienten mit partiellem Diabetes
insipidus erhöht der Glukokortikoidmangel auch die Abb. 1.27 
ADH-Freisetzung. Diese Effekte werden bei Glukokortiko-
idgabe umgekehrt und der Diabetes insipidus wird „de-
maskiert“, sodass es rasch zur Polyurie kommt. ADH langsam aus dem degenerierenden Hypophysenhin- Lunge, Nieren, Lymphom, Leukämie, Kolon oder Mela-
Auch eine Neurochirurgie der Sella (transkraniell oder terlappen freigesetzt wird und bei übermäßiger Flüssig- nom) können die Hypothalamus-Hypophysen-Region
transsphenoidal) sowie stumpfe Schädeltraumen mit keitsgabe eine Hyponatriämie entstehen kann, und (3) ­betreffen und zu einem zentralen Diabetes insipidus füh-
Auswirkungen auf Hypothalamus und Hypophysenhin- ein permanenter Diabetes insipidus nach Erschöpfung ren.
terlappen können zum Diabetes insipidus führen. Bei bis der ADH-Speicher des Hypophysenhinterlappens. Bei 10 Patienten mit Langerhans-Zell-Histiozytose haben we-
zu 50 % der Patienten tritt innerhalb von 24 Stunden nach bis 25 % aller Patienten, die an der Hypophyse operiert gen der Infiltration von Hypothalamus und Hypophyse ein
einer Hypophysenoperation ein transienter zentraler Dia- werden, tritt nur die zweite dieser drei Phasen auf und es hohes Risiko für die Entwicklung eines zentralen Diabetes
betes insipidus auf, der nach einigen Tagen wieder ab- entsteht nie ein Diabetes insipidus, da das Operationst- insipidus. Weitere infiltrative Erkrankungen, die zu einem
klingt. Bei minimalinvasivem endoskopischem transna- rauma nur einige der Axone betraf. Die Folge ist eine in- zentralen Diabetes insipidus führen können, sind eine Sar-
salem transsphenoidalem Vorgehen liegt die Inzidenz des adäquate ADH-Sekretion, wobei die intakten Axone wei- koidose, eine Wegener-Granulomatose und eine autoim-
postoperativen permanenten Diabetes insipidus <  5 %, terhin funktionieren und die Manifestation eines Diabe- mune lymphozytäre Infundibulohypophysitis.
bei transkraniellen Operationen und größeren Tumoren tes insipidus verhindern. Diese transiente inadäquate Der familiäre zentrale Diabetes insipidus ist eine auto-
mit Hypothalamusbeteiligung (z. B. Kraniopharyngeom) ADH-Sekretion kann ernste Folgen haben, wie eine deut- somal-dominante Erkrankung durch Mutationen in dem
jedoch bei bis zu 30 %. Neurochirurgische oder traumati- liche Hyponatriämie, die etwa 7 Tage postoperativ ihren für das antidiuretische Hormone kodierenden Gen
sche Schäden des Hypothalamus führen oft zu einer drei- Spitzenwert erreicht und mit Kopfschmerzen, Übelkeit, (ADH-Gen). Das falsch gefaltete und mutierte Prohor-
phasigen Reaktion: (1) einer initialen polyurischen Phase Erbrechen und Krampfanfällen einhergeht. Diese Ereig- mon von ADH akkumuliert im endoplasmatischen Reti-
(Beginn innerhalb von 24 Stunden postoperativ und Dau- nisabfolge lässt sich verhindern, wenn der Patient ange- kulum der Nuclei supraopticus und paraventricularis und
er für bis zu 5 Tage) aufgrund der reduzierten ADH-Frei- wiesen wird, „in den ersten 2 postoperativen Wochen nur führt zum Zelltod. Daher entwickeln Kinder mit autoso-
setzung durch den axonalen Schock und die fehlende bei Durst zu trinken“. mal-dominanter Krankheit einen progressiven ADH-
Weiterleitung des Aktionspotenzials, (2) eine antidiureti- Primäre Hirntumoren (z. B. Kraniopharyngeom, Ger- Mangel und Symptome treten häufig erst mehrere Mona-
sche Phase (Tage 6–12), in deren Verlauf das gespeicherte minom) oder zerebrale Metastasen (z. B. von Mamma, te und Jahre nach der Geburt auf.
Langerhans-Zell-Histiozytose bei Kindern 29

Langerhans-Zell-Histiozytose bei Kindern


Die Langerhans-Zell-Histiozytose – früher als Histiocyto-
sis X, eosinophiles Granulom, Hand-Schüller-Christian-
Krankheit oder Letterer-Siwe-Krankheit bezeichnet – ist
eine Erkrankung der Langerhans-Zellen, dendritischer
Zellen aus dem Knochenmark, die eine Schlüsselrolle bei
der Antigenverarbeitung haben. Normale Langerhans-
Zellen, die in Epidermis, Lymphknoten, Thymusepithel
und bronchialer Mukosa vorkommen, verarbeiten Antige-
ne und wandern dann in die Lymphgewebe, wo sie als Ef-
fektorzellen T-Zell-Antworten auslösen. Bei der Langer-
hans-Zell-Histiozytose besteht eine Immunfunktionsstö-
rung unbekannter Ursache und die Langerhans-Zellen
verlieren ihre Fähigkeit zur Antigenpräsentation.
Bei Kindern ist die Langerhans-Zell-Histiozytose mit
3–5 Fällen auf 1 Million jährlich selten. Die Krankheit
Antidiuretisches Duraherd der
kann sich lokalisiert oder diffus manifestieren. Bei der lo- Hormon reduziert Langerhans-Zell-
kalisierten Form sind Knochen, Haut oder Lymphknoten Histiozytose im
beteiligt. Bei Säuglingen können bräunlich livide Papeln Bereich des Hypo-
thalamus und des
auftreten, die in der Regel benigne und innerhalb von Hypophysenstiels mit
1 Jahr selbstlimitierend verlaufen. Später kann jedoch eine Diabetes insipidus
Multisystemerkrankung auftreten. Bei Verdacht auf eine
auf die Haut begrenzte Erkrankung sollte mittels CT von
Thorax und Abdomen sowie Knochenmarkbiopsie bestä-
tigt werden, dass keine anderen Veränderungen vorliegen. Vermehrte Urinausscheidung
Später in der Kindheit manifestiert sich die auf die Haut
beschränkte Langerhans-Zell-Histiozytose mit einem ro-
ten, papulären Ausschlag von Hals, Achseln, Abdomen,
Rücken, Leiste oder Kopfhaut.
Die kindliche Langerhans-Zell-Histiozytose manifes-
tiert sich oft am Knochen, in der Regel mit lytischen Schä-
delläsionen, die bei der Evaluation von lokalisierten
Schmerzen und Erythem festgestellt werden. Weitere be-
troffene Knochen sind Rippen, Halswirbelkörper, Hume-
rus und Femur. Die Läsionen können über den Knochen
hinausgehen und Verdrängungssymptome auslösen. So
kann die Beteiligung von Schädelbasis, maxillofazialem
Knochen und Sellabeteiligung zu Hörverlust, Exophthal-
mus, Hirnnervenlähmungen und Diabetes insipidus füh-
ren. Auf Röntgenaufnahmen des Schädels zeigt sich eine Osteolytische Osteolytische Herde der Lungenbeteiligung
Knochenläsionen Langerhans-Zell-Histiozytose
ausgedehnte Schädelbeteiligung mit unregelmäßig ge- im Schädel (Landkartenschädel)
formten Aufhellungen („Landkartenschädel“). Der Diabe-
tes insipidus ist die häufigste endokrine Manifestation der Abb. 1.28 
Langerhans-Zell-Histiozytose und kann zum initialen
Symptomenkomplex gehören (›  Abb.  1.27). Bei diesen
Patienten besteht zudem eine unterschiedlich stark ausge- rax (›  Abb.  1.29). In der Lunge kann die Langerhans-
prägte Hypophysenvorderlappeninsuffizienz. Bei Patien- Zell-Histiozytose eine diffuse Fibrose mit Dyspnoe auslö-
ten mit gestörter Hypophysenfunktion findet sich häufig sen. Bei Patienten mit diffuser Erkrankung kommt es oft
eine Verdickung des Hypophysenstiels. zur Knochenmarkbeteiligung. Gelegentlich verursachen
Daneben kann sich die Langerhans-Zell-Histiozytose Läsionen von Kleinhirn oder Basalganglien eine Ataxie
als isolierte Lymphadenopathie manifestieren. Oft sind die und kognitive Dysfunktion.
zervikalen und mediastinalen Lymphknoten betroffen. Früher wurde die Langerhans-Zell-Histiozytose als
Die diffuse Multisystemerkrankung betrifft häufig Leber Hand-Schüller-Christian-Krankheit bezeichnet, wenn die
und Milz. Patienten mit Leberbeteiligung zeigen oft die Trias aus Schädeldefekten, Diabetes insipidus und Exoph-
Symptome eines Gerinnungsfaktorenmangels, erhöhte Bi- thalmus vorlag, als Letterer-Siwe-Krankheit, wenn die Ma-
lirubinwerte und ein niedriges Serumalbumin. Durch die nifestation mit ausgedehnter Multiorganbeteiligung (z. B.
Splenomegalie sind Zytopenien möglich. Bei Lungenbetei- Haut, Lungen, Leber, Milz, Lymphknoten, Knochenmark,
ligung manifestiert sich die Langerhans-Zell-Histiozytose Lymphknoten) einherging, und als eosinophiles Granulom,
zystisch-nodulär; das erste Zeichen ist oft ein Pneumotho- wenn auf den Knochen beschränkte Läsionen vorlagen.
30 1  Hypophyse und Hypothalamus

Langerhans-Zell-Histiozytose bei Erwachsenen


Disseminierte Langerhans-Zell-Histiozytose an Axilla, Hals und Rumpf
Die Langerhans-Zell-Histiozytose – früher als Histiocyto-
sis X, eosinophiles Granulom, Hand-Schüller-Christian-
Krankheit oder Letterer-Siwe-Krankheit bezeichnet – ist
eine Erkrankung der Langerhans-Zellen, dendritischer
Zellen aus dem Knochenmark, die eine Schlüsselrolle bei
der Antigenverarbeitung haben. Normale Langerhans-
Zellen, die in Epidermis, Lymphknoten, Thymusepithel
und bronchialer Mukosa vorkommen, verarbeiten Antige-
ne und wandern dann in die Lymphgewebe, wo sie als Ef-
fektorzellen T-Zell-Antworten auslösen. Bei der Langer-
hans-Zell-Histiozytose besteht eine Immunfunktionsstö- -
Das sagittale kraniale MRT zeigt
eine 1 cm große, anreichernde
rung unbekannter Ursache und die Langerhans-Zellen supraselläre Läsion (Pfeil) bei
verlieren ihre Fähigkeit zur Antigenpräsentation. Langerhans-Zell-Histiozytose.
Bei Erwachsenen ist die Langerhans-Zell-Histiozytose Beachte auch die fehlende Auf-
hellung des Hypophysenhinter-
mit 1–2 Fällen auf 1 Million jährlich selten. Das mittlere lappens bei diesem Patienten
Alter bei Diagnosestellung beträgt 32 Jahre. Am häufigsten mit Diabetes insipidus.
sind dermatologische Symptome (Ausschlag), gefolgt von
pulmonalen Symptomen (z. B. Husten, Dyspnoe, Tachy­
pnoe), Schmerzen (z. B. Knochenschmerzen), Diabetes in-
sipidus, systemischen Symptomen (z. B. Fiebergewichts-
verlust), Lymphadenopathie, Ataxie und Gingivahypertro-
phie. Aufgrund des vielfältigen Bilds und der Seltenheit
der Erkrankung wird sie oft jahrelang nicht erkannt.
Manchmal wird in der Kindheit ein offenbar isolierter Dia-
betes insipidus diagnostiziert, weil sich erst im Laufe des Thorax-CT mit den für die pulmo-
Lebens Symptome anderer Lokalisationen entwickeln. Bei nale Langerhans-Zell-Histiozytose
typischen multiplen Lungenzysten.
etwa 25 % der Patienten tritt durch eine Langerhans-Zell- Beachte auch den rechts lateralen
Infiltration von Hypothalamus und Hypophysenstiel ein kleinen Pneumothorax (Pfeile).
dann irreversibler Diabetes insipidus auf.
Das Exanthem der Langerhans-Zell-Histiozytose ist pa-
pulär und pigmentiert (rot, braun). Die Größe der Papeln
schwankt zwischen 1 mm und 1 cm. Vor allem in den In-
tertrigines ulzerieren die Hautläsionen.
Da häufig Mandibula, Kalotte, Röhrenknochen, Becken,
Skapula, Wirbelkörper oder Rippen betroffen sind, können
initial Kieferschmerzen oder lockere Zähne vorliegen. Die
dentalen Röntgenaufnahmen zeigen Erosionen der Lamina
dura und scheinbar schwebende Zahnwurzeln. In 75 % der
Fälle treten vor allem bei Kindern und jungen Erwachsenen
Schichten von Langer- Nester von Eosinophilen Mehrkernige Riesen- Lipidakkumulation in
polyostotische eosinophile Granulome auf. Die Läsionen hans-Zell-Histiozyten mit zwischen den Langer- zellen in Granulations- Makrophagen und
sind druckschmerzhaft und geschwollen. Die Röntgenauf- reichlich rosafarbenem hans-Zellen gewebe Riesenzellen
nahmen zeigen runde Läsionen mit abgeschrägtem Rand. Zytoplasma und gefältel-
ten, stark gefurchten
Ein isolierter Lungenbefall kann sich durch einen Pneu- Kernen
mothorax manifestieren. Die pulmonale Langerhans-Zell-
Histiozytose wird durch Rauchen exazerbiert. Das Thorax- Abb. 1.29 
Röntgen zeigt ein diffuses Infiltrat mit einer Honigwaben-
lunge. Die CT zeigt die für die Langerhans-Zell-Histiozyto- zialblutbild, Leberwerte, Gerinnungswerte und die gleich- mein ist die Prognose bei einer Erkrankung jenseits des
se typischen Knoten und Zysten. zeitige Bestimmung der Serum- und Urinosmolalität im Alters von 2 Jahren und bei Beteiligung von höchstens vier
Die Diagnose wird durch Biopsie gestellt. In der Patholo- nüchternen Zustand. Röntgenologisch werden das Skelett, Organsystemen günstiger.
gie zeigt sich ein gemischtzelliges Infiltrat mit Proliferation der Schädel und der Thorax untersucht. Weitere Untersu- Die Behandlung anhand der prognostischen Einstufung
von unreifen klonalen Langerhans-Zellen. Oft finden sich chungen erfolgen symptomabhängig (z. B. dentale Rönt- erfolgt mit Cladribin (2-Chlordeoxyadenosin) oder einer
auch andere Entzündungszellen (z. B. Eosinophile, Makro- genaufnahmen, MRT des Schädels, Thorax-CT, Lungen- Kombination mehrerer Chemotherapeutika (z. B. Vinblas-
phagen, Granulozyten und Lymphozyten). Auch mehrker- funktionstests, Knochenmarkbiopsie). tin, Etoposid, Methotrexat und 6-Mercaptopurin), Gluko-
nige Riesenzellen können vorhanden sein, die ebenso wie Die Prognose hängt zum Teil vom Erkrankungsalter, kortikoiden (topisch oder systemisch) und Strahlenthera-
die Makrophagen phagozytär sind, Cholesterin ansammeln von der Anzahl der beteiligten Organe und dem Ausmaß pie. Solitäre Knochenläsionen können kürettiert und/oder
können und wie Schaumzellen aussehen. Immunhistoche- der Funktionsstörung der Organe ab (z. B. Hyperbilirubin- lokalisiert bestrahlt werden. Antizytokine werden derzeit
misch wird die Diagnose durch die positive Anfärbung auf ämie). Während somit ein Erwachsener mit einer solitären untersucht. Bei fehlendem Ansprechen auf die Standard-
S100-Protein, Vimentin, CD1a und Antilangerin bestätigt. Knochenläsion (eosinophiles Granulom) eine ausgezeich- therapien kann eine Knochenmarktransplantation erwo-
Bei Erstdiagnose muss das Krankheitsausmaß ermittelt nete Prognose hat, ist sie bei einem Säugling mit aus­ gen werden.
werden. Typische Laboruntersuchungen sind ein Differen- geprägtem Multiorganbefall deutlich schlechter. Allge-
Hypophysenmetastasen 31

Hypophysenmetastasen
Metastasen in der Hypophyse sind eine seltene Ursache ei-
ner intrasellären Raumforderung. Bei der autoptischen
Untersuchung der Hypophyse von an Krebs erkrankten Pa-
tienten finden sich in 3,5 % der Fälle Metastasen. Häufig
sind derartige Metastasen klinisch stumm und für einen
Nachweis mittels CT oft zu klein. Im Laufe des Lebens ma-
nifestieren sie sich oft mit einem Diabetes insipidus, Seh-
störungen (z. B. bitemporale Hemianopsie), Kopfschmer-
zen, Hirnnervendefekte (z. B. Lähmungen der Hirnnerven
III oder IV) und einem unterschiedlich starken Hypopitui-
tarismus. Oft besteht durch die unterbrochene Weiterlei-
tung von Dopamin durch den Hypophysenstiel zur Sup-
pression der normalen Prolaktinproduktion eine leichte
Hyperprolaktinämie (d. h. ein Serumprolaktin <  200 ng/
ml). Die Primärtumoren befinden sich oft (nach Häufig-
keit) in Mamma, Lunge, Niere, Kolon, Haut (Melanom),
Prostata, Schilddrüse, Magen, Pankreas, Nasopharynx,
Lymphknoten, Uterus und Leber. Mamma- und Bronchial-
karzinome metastasieren am häufigsten in die Hypophyse.
In etwa 80 % der Fälle wird die Hypophysenmetastase nach
oder zur gleichen Zeit mit dem Primärtumor festgestellt; 1. Mamma
das Intervall beträgt durchschnittlich 3 Jahre. Am längsten
ist das Intervall zwischen der Diagnose des Primärtumors
und der Entdeckung der Hypophysenmetastase beim
Mammakarzinom und am kürzesten beim Bronchialkarzi- 2. Lunge
nom. Die meisten Patienten haben noch Meta­stasen an
mindestens fünf anderen Stellen zusätzlich zur Sellaregion.
Die häufigsten Lokalisationen extrahypophysealer Meta­
stasen sind Lymphknoten, Lunge und Knochen. 3. Niere
Die Metastasierung in die Hypophyse erfolgt hämato-
gen, über die Portalgefäße, als direkte Ausdehnung von
parasellären Lokalisationen oder der Schädelbasis oder
durch meningeale Ausbreitung aus der suprasellären Zis- 4. Rektum und Sigmoid
terne. Die Metastasierung erfolgt vermutlich aufgrund der
direkten arteriellen Versorgung aus den Aa. hypophyseales
vor allem in den Hypophysenhinterlappen. Da der Hypo-
physenvorderlappen keine direkte arterielle Versorgung 5. Melanom
besitzt (› Abb. 1.3), entstehen Metastasen im Hypophy-
senvorderlappen in der Regel durch direkte Ausbreitung
aus dem Hypophysenhinterlappen.
Hypophysenmetastasen können ein Hypophysenade-
nom nachahmen. In der Regel weisen das klinische Bild,
die neurologische Bildgebung und die endokrinologischen
Daten auf ein hormoninaktives Hypophysenadenom hin. Abb. 1.30 
Daher sollten Metastasen immer in die Differenzialdiag-
nostik von Hypophysentumoren einbezogen werden. Da
ein Diabetes insipidus für ein benignes Hypophysenade- ne palliative Strahlentherapie, der gezielte Ersatz der hypo-
nom sehr ungewöhnlich ist (<  1 %), besteht bei Diabetes physären Zielhormone und eine primär gegen den Tumor
insipidus und rasch wachsendem Hypophysentumor gerichtete Chemotherapie am günstigsten. Eine Total­
hochgradiger Verdacht auf intraselläre Metastasen. Zur resektion der diffusen, invasiven, vaskulären und hämor-
Bestätigung der Metastase ist eine Biopsie erforderlich. rhagischen Metastasen ist oft nicht möglich. Die operative
Hypophysenmetastasen sind prognostisch ungünstig; Verkleinerung der intrasellären Metastasen kann bei Ge-
die 1-Jahres-Mortalität liegt bei 70 %. Aufgrund der sichtsfelddefekten durch eine Kompression des Chiasma
schlechten Prognose von intrasellären Metastasen sind ei- opticum hilfreich sein.
32 1  Hypophyse und Hypothalamus

Hypophysenoperationen
Die drei wichtigsten Ziele einer Hypophysenoperation sind
Kraniotomie 1930er- bis 1960er-Jahre
(1) die komplette Resektion des Hypophysenadenoms, so-
dass Gesichtsfelddefekte korrigiert werden und das Hor-
monüberschusssyndrom (z. B. Akromegalie, Cushing-Syn-
drom) behoben wird, (2) die Vermeidung von Komplikati-
onen (z. B. Liquorrhinorrhö, neurologischer Schaden) und
Transseptal 1969 bis 1990er-Jahre
(3) der Erhalt von funktionellem Hypophysengewebe, um
einen Hypopituitarismus zu verhindern. Die Fähigkeit,
diese drei Ziele zu erreichen, hängt von der Erfahrung des
Operateurs sowie von Größe, Lage und Konsistenz des
­Hypophysentumors ab. Während die Heilungsrate bei Mi­
kroadenomen (Durchmesser ≤  10 mm) 80–90 % beträgt,
liegt sie bei Makroadenomen (Durchmesser > 10 mm) bei
50–60 %. Bei Hypophysentumoren mit einem Durchmes-
ser > 20 mm sinkt die chirurgische Heilungsrate auf 20 %.
Außerdem ist die Lokalisation des Hypophysentumors ein
wichtiger Einflussfaktor auf die Heilungsrate; für gewöhn-
lich verhindert die Invasion des Sinus cavernosus eine
komplette Resektion. Manche Tumoren mit deutlicher su-
prasellärer Ausdehnung können das Chiasma opticum Transnasal 1990er-Jahre bis Gegenwart
und/oder den Hypothalamus einbeziehen, sodass bei einer
kompletten Resektion die Gefahr von Sehverlusten und
Hypothalamusschäden besteht. Die meisten Hypophysen-
adenome sind weich und lassen sich leicht kürettieren. Bei
sehr fibröser Konsistenz ist eine komplette Resektion je-
doch schwierig.
Die sublabiale transseptale transsphenoidale Hypophy-
senoperation wurde Anfang des 20. Jahrhunderts entwi-
ckelt, aber wegen der hohen infektionsbedingten Mortali-
tät wieder verlassen. Bis 1969 erfolgte der Zugang zur Sella
durch eine transfrontale Kraniotomie mit signifikanter
Morbidität und Mortalität. Durch die Entwicklung des
Operationsmikroskops und die Verfügbarkeit von Anti-
biotika wurde der sublabiale transseptale transsphenoidale
Zugang zur Hypophyse in den 1970er-Jahren wieder auf-
gegriffen. Bei diesem Zugang zum Sinus sphenoidalis er-
folgt eine sublabiale Inzision zur Nasenhöhle mit Entfer-
nung des Nasenseptums. Nach Eindringen in den Sinus
sphenoidalis besteht Zugang zur Sella turcica. Nach der
Tumorresektion wird das Nasenseptum ersetzt, sodass
postoperativ eine Nasentamponade erforderlich ist. Kom-
Sublabialer transseptaler transsphenoidaler Endoskopischer transnasaler transsphenoidaler
plikationen sind die Perforation des Nasenseptums und Operationszugang
Operationszugang
ein permanentes Taubheitsgefühl in Frontzähnen und
Oberlippe. Der sublabiale transseptale transsphenoidale Abb. 1.31 
Zugang zur Sella wurde durch direkte transnasale Zugänge
ersetzt.
Beim direkten transnasalen transsphenoidalen Zugang, sphenoidalis vorgeschoben, das Sinusostium aufgeweitet Zu den seltenen, aber schweren intraoperativen Kom-
der in den 1990er-Jahren eingeführt wurde, ist keine exter- und der posteriore Anteil des Vomers entfernt, sodass der plikationen gehören Verletzungen der Pars cavernosa der
ne Inzision erforderlich. Die Operation erfolgt mit Operati- Zugang zum Sinus sphenoidalis frei ist. Nach der Platzie- A. carotis und der Sehbahn, Schäden der Hirnnerven III,
onsmikroskop oder Endoskop. Beim mikroskopischen rung eines selbsthaltenden Nasenspekulums erfolgen der IV, V und VI sowie Liquorlecks. Mögliche postoperative
Verfahren wird ein langes, schmales Spekulum direkt in Eintritt in die Sella turcica und die Durchführung der neu- Komplikationen sind intraselläre Hämatome, Liquorrhi-
das Nasenloch eingeführt und bis zum Ostium sphenoidale rochirurgischen Phase der Operation wie beim sublabialen norrhö, Meningitis und Hypopituitarismus.
vorgeschoben. Die Schleimhautinzision erfolgt am posteri- transseptalen Zugang. Nach Tumorresektion wird das Na- Mehr als 90 % der intra- und parasellären Tumoren las-
oren Anteil der Atemwege in der Nase ohne Schädigung senspekulum entfernt, das Nasenseptum wieder mittig sen sich transnasal entfernen. Der transkraniale Ansatz ist
des Nasenseptums. Im Sinus sphenoidalis ist die anteriore ausgerichtet und ein Mullverband angelegt. Operations- Läsionen vorbehalten, die bis in die mittlere Schädelgrube
Sellawand zu erkennen, die unter direkter mikroskopi- und Anästhesiezeit sowie Krankenhausverweildauer sind reichen oder eine große, komplexe supraselläre Kompo-
scher Sicht eröffnet wird, sodass der Tumor entfernt wer- beim endoskopischen transnasalen Zugang zur Hypophyse nente aufweisen.
den kann. Das transnasale Verfahren kann auch endosko- geringer als beim sublabialen transseptalen Vorgehen. Die
pisch durchgeführt werden. Dazu wird das Endoskop meisten Patienten bleiben nur eine Nacht im Kranken-
durch ein Nasenloch bis zur anterioren Wand des Sinus haus.
KAPITEL

2 Schilddrüse
34 2  Schilddrüse

Anatomie von Schilddrüse und Nebenschilddrüsen


Die 15–25 g schwere Schilddrüse liegt medial zwischen La­
A. facialis Platysma (entfernt)
rynx und Trachea und lateral zwischen Karotisscheide und M. digastricus
M. sternocleidomastoideus. Die lateralen Schilddrüsenlap­ V. facialis
(Venter anterius)
anterior
pen sind 3–4 cm lang und 1,5–2 cm breit. Der Isthmus ist M. mylohyoideus
R. marginalis Glandula
1,2–2 cm lang und 2 cm breit und überquert die Trachea mandibularis submandibularis
zwischen dem I. und II. Ring. In › Abb. 2.1 (oberes Bild) n. facialis
Os hyoideum
V. retromandibularis
wurden Haut, subkutanes Fett und Platysma entfernt und Glandula parotis
auf der rechten Halsseite die Lamina superficialis fasciae V. facialis communis M. omohyoideus
(entfernt)
cervicalis freigelegt. Sie umschließt die Vv. jugularis exter­
V. jugularis externa M. thyrohyoideus
na und anterior sowie die Nn. transversi colli. Subkutanes M. sternocleido-
Fett und Platysma enthalten viele Gefäße, sodass ohne V. jugularis anterior mastoideus (entfernt)
Hautschädigung eine breite operative Freilegung möglich Cartilago thyroidea A. carotis communis
V. communicans V. jugularis interna
ist, indem Lappen aus Haut, subkutanem Fett und Platys­
(Vv. jugularis anterior M. sternohyoideus
ma abgehoben werden. Die so freigelegten Venen und Ner­ und facialis communis) M. sternothyroideus
ven werden initial belassen und erst später gemeinsam mit Äste des Ansa cervicalis
den darunter liegenden Muskeln bewegt. N. transversus colli
Glandula thyroidea
Auf der linken Halsseite (› Abb. 2.1, oberes Bild) wur­ Nn. supra- M. omohyoideus
claviculares
den die Lamina superficialis fasciae cervicalis, die V. jugu­
laris externa, die Nn. transversi colli und der M. sternoclei­
domastoideus entfernt. Dadurch sind der M. omohyoide­
us, die Ansa cervicalis, der wichtige Ansatz des kürzesten
inneren Prätrachealmuskels, des M. sternothyroideus, so­
wie der gesamte Verlauf des M. thyrohyoideus longus zu
erkennen. Die gesamte Faszienschicht wurde in der Mittel­
Klavikula
linie bis nach unten inzidiert, sodass die medialen Ränder Platysma
des M. sternohyoideus zu erkennen sind. Diese Muskeln,
M. sternocleido-
die sich normalerweise in der Mittellinie treffen, wurden mastoideus (entfernt)
M. sternocleidomastoideus M. sternothyroideus
partiell zurückgezogen, sodass Schilddrüse und Ringknor­
pel, Schilddrüsenisthmus und die darunter liegende Tra­
chea exponiert sind. V. jugularis anterior Platysma
Die V. jugularis anterior drainiert ebenso wie die V. ju­ Glandula thyroidea M. sternohyoideus
gularis externa das Blut aus Pharynx und oberem Halsan­ Trachea M. sternothyroideus
teil. Sie erhält Zuflüsse vom superfiziell liegenden Platys­ Glandula parathyroidea
M. omohyoideus
ma, von den prätrachealen Muskeln (Mm. sternohyoideus, V. jugularis interna
M. sternocleidomastoideus
sternothyroideus und omohyoideus) tief darunter und A. carotis communis N. laryngeus recurrens
mehrere kleine Zuflüsse aus dem oberen Larynx. Bei der N. laryngeus A. thyroidea inferior
Exposition von Schilddrüse, Nebenschilddrüsen und Tra­ recurrens
M. scalenus anterior
N. vagus
chea müssen möglichst viele dieser Gefäße durch Zurück­ M. longus colli
N. phrenicus
ziehen erhalten werden, anstatt sie zu durchtrennen, um Wirbelkörper (HWK5)
Truncus
ein unnötiges Ödem zu vermeiden. Diese anterioren Ve­ sympathicus Mm. scaleni medius
nen sind stark dilatiert, wenn Tumoren der Schilddrüse und posterior
Ösophagus
oder anderer tief im Hals liegender Organe auf eine der
beiden Vv. jugulares internae drücken. Abb. 2.1 
Auch die sensiblen, regenerationsfähigen Nn. transversi
colli sollten geschont werden. Dies gilt jedoch nicht für die
beiden unteren Äste des N. facialis. Bei Durchtrennung des prätrachealen Muskeln zwischen Lamina superficialis und In ›  Abb.  2.2 (oberes Bild) werden die Organe des
Ramus marginalis mandibularis kommt es zum Hängen Lamina praetrachealis. Dieser Knoten drainiert Pharynx Halses und das anteriore superiore Mediastinum mit den
der Unterlippe auf der gelähmten Seite. Die Ansa cervicalis oder Larynx, nicht aber die Schilddrüse oder tiefere Gewe­ vorderen Halsmuskeln und den Knochen des oberen Tho­
verläuft über den anterioren medialen Anteil der Karotis­ be. Daher ist er bei einer akuten Pharyngitis oder Laryngi­ rax entfernt. Wenn zunächst Schilddrüse, Nebenschild­
scheide und sollte erhalten werden. Bei Freilegung dieses tis vergrößert, nicht aber bei Thyreoiditis oder Tracheitis. drüsen und Thymus exponiert werden, sind ihre anterio­
Nervs muss beachtet werden, dass unmittelbar vor ihm ein Die Exposition von Schilddrüse, Nebenschilddrüsen ren, lateralen und posterioren Oberflächen von einer
kleiner Ast der A. thyreoidea superior nach unten zieht und Thymus erfolgt durch Zurückziehen der prätrachealen schlecht abgegrenzten lockeren Faszie (der sog. falschen
und Äste zum posterioren Rand des Muskels sowie zum und präthyreoidalen Muskeln. Die breiteste Freilegung Schilddrüsenkapsel) umgeben, durch die sich Drüsen, La­
Nerv abgibt. Die Durchtrennung dieses Nervs führt zu wird erzielt, wenn die Muskeln horizontal durchtrennt rynx und Trachea beim Schlucken nach oben und unten
postoperativen Schluckstörungen. und die Enden nach oben und unten zurückgebogen wer­ bewegen können. Beim Schlucken lässt sich fast die ge­
Die anterior der präthyreoidalen Muskeln liegenden den. Eine gute Sicht auf den oberen Schilddrüsenpol erfor­ samte anteriore Oberfläche beider Schilddrüsenlappen
Lymphgefäße in der Lamina superficialis fasciae cervicalis dert oft die Transsektion des inneren Muskels. palpieren.
sind nicht zu erkennen. Lymphknoten sind selten; der Die Lage des Ösophagus, der sich leicht rechts der Mit­ Die Schilddrüse ist asymmetrisch. Der rechte Lappen ist
­erste konsistent vorhandene Knoten liegt unmittelbar vor tellinie befindet (› Abb. 2.1, unteres Bild), liegt nahe dem doppelt so groß wie der linke, der rechte obere Pol reicht
dem Schilddrüsenisthmus in der Mittellinie zwischen den normalerweise größeren rechten Schilddrüsenlappen. weiter in den Hals hinauf und der untere Pol weiter nach
Anatomie von Schilddrüse und Nebenschilddrüsen 35

(Fortsetzung)

unten. Bei Dextrokardie verhält sich die Lappengröße um­ Frontalansicht


gekehrt.
Os hyoideum
Es gibt vier wichtige Varianten. Fast 15 % der Bevölke­
Membrana thyrohyoidea
rung besitzen einen Pyramidenlappen, der sich bei diffusen A. carotis externa
Cartilago thyroidea
Schilddrüsenprozessen vergrößert und gelegentlich Sitz ei­ (Lamina)
A. und V.
nes Tumors ist. Bei der zweiten Anomalie geht das Schild­ thyroidea superior Lig. cricothyroideum
drüsengewebe posterior über die Hauptschilddrüse hinaus medianum

(etwa 5 % der Bevölkerung). Die anatomische Trennung A. carotis communis M. cricothyroideus

kann palpabel sein und ist dann auf einen Tumor verdäch­ Cartilago cricoidea
V. jugularis interna
tig. Die Fusionsstörung des Isthmus in der Mittellinie und Lobus
das Fehlen eines Großteils des lateralen Lappens, oft der un­ V. thyroidea media pyramidalis
Glandula
Lobus dexter
teren Hälfte des linken Lappens, sind seltene Varianten bei thyroidea
A. thyroidea inferior Lobus sinister
< 1 % der Bevölkerung. Bei fehlender Isthmusfusion fühlen Isthmus
sich die medialen Seiten der lateralen Lappen oft wie Tumo­ V. thyroidea inferior
Nll. praetracheales
ren an, diagnoseweisend ist die Palpation eines Tracheal­
Truncus
rings anstatt des Isthmus. Auch das Fehlen der unteren thyrocervicalis
Hälfte eines lateralen Lappens kann zu der Fehlannahme N. vagus (X)
führen, dass die obere Hälfte ein Schilddrüsenknoten ist. A. und V.
subclavia
Das untere Bild von › Abb. 2.2 ist eine Seitansicht der
Organe der rechten Halsseite nach Entfernung der Hals­ N. vagus (X) 1. Rippe (entfernt)
muskeln, der rechten Klavikula und des Sternums. Lage N. laryngeus recurrens (links)
und Größe der normalen Nebenschilddrüsen sind variabel. N. laryngeus
recurrens (rechts)
Häufig sind es vier Drüsen, zwei obere und zwei untere.
V. cava superior
Selten gibt es eine fünfte Drüse, die bei der Operation ent­
deckt werden muss, falls sie adenomatös verändert und Aortenbogen
hormonaktiv oder hyperplastisch ist (z. B. bei multipler
endokriner Neoplasie Typ 1). Die oberen Drüsen sind kon­ Ansicht von rechts lateral
stanter vorhanden und besser abgegrenzt als die unteren,
oft auch deutlich größer und daher leichter zu finden. Sie
liegen in der Ebene hinter der Schilddrüse vom oberen
Schilddrüsenpol bis zu den unteren Ästen der A. thyroidea R. externus n. laryngei
inferior. Bei pathologischer Vergrößerung können sie ins M. constrictor superioris
pharyngis inferior
posteriore Mediastinum verlagert sein. Die unteren Drü­ Glandula parathyroidea
sen, die aus einem höheren Kiemenbogen als die oberen superior
A. carotis communis
Drüsen und embryologisch gemeinsam mit dem Thymus Lobus dexter glandulae
thyroideae (nach vorn
hinabwandern, liegen weiter verstreut über oder hinter der gebogen)
A. thyroidea inferior
Schilddrüse und unten im anterioren Mediastinum bis auf
Glandula parathyroidea
Höhe des Thymus. N. laryngeus inferior
Die Lymphgefäße und -knoten im oberen Bild von recurrens
› Abb. 2.2 folgen einem konstanten Muster. Am leichtes­ Ösophagus
ten sind diejenigen in der vorderen Mittellinie zu ertasten.
Der oberste liegt unmittelbar über dem Schilddrüsenisth­
mus vor dem Ringknorpel und medial des eventuell vor­ Abb. 2.2 
handenen Pyramidenlappens; es handelt sich um eine kon­
stante Gruppe aus fünf Lymphknoten, die als Delphi-
Lymphknoten bezeichnet wird. Wenn er an einem Schild­ entlang der Karotisscheide (Jugulariskette) sowie die wei­ den Ringknorpel. Insbesondere nach bilateraler Durch­
drüsenkarzinom oder einer Hashimoto-Thyreoiditis ter lateral gelegenen Knoten in der Fossa supraclavicularis. trennung dieses Nervs kommt es zu einer verwaschenen
beteiligt ist, kann er oft präoperativ palpiert werden. Die Die Virchow-Lymphknoten sind die untersten der Jugula­ Sprache.
prätrachealen Knoten unter dem Schilddrüsenisthmus riskette am oberen Ende des Ductus thoracicus. Diese Durch ihren unterschiedlichen Ursprung nehmen die
sind schwerer zu identifizieren, da sie in Fett eingelagert Knoten können bei Schilddrüsen- und Nebenschilddrü­ beiden Nn. laryngei recurrentes einen unterschiedlichen
sind und eine weniger konstante Lage haben als der Del­ senkarzinomen sowie bei Metastasen von Karzinomen au­ Verlauf. Der rechte Nerv verläuft diagonal von lateral nach
phi-Knoten. Die anderen Lymphknotengruppen sind (in ßerhalb des Halses beteiligt sein. medial hinauf, während der linke durch den Aortenbogen
der Reihenfolge ihrer chirurgischen Bedeutung) die Kno­ Die motorischen Nn. laryngei sind in beiden Bildern an seinem Ursprung gegen Trachea und Ösophagus ge­
ten auf der lateralen Schilddrüsenoberfläche entlang der von › Abb. 2.2 gut zu erkennen. Der N. laryngeus superi­ drückt wird und in der Rinne zwischen Trachea und Öso­
V. thyroidea lateralis, die Knoten entlang der oberen Aus­ or gibt einen motorischen Ast zum M. cricothyroideus ab. phagus nach oben verläuft. Durch diesen konstanten Ver­
dehnung des N. laryngeus recurrens hinter dem Schilddrü­ Dieser Muskel spannt das Stimmband durch Zug an der lauf lassen sich beide leicht aufsuchen.
senlappen, die Knoten im Kieferwinkel und diejenigen Vorderseite des Schildknorpels nach unten in Richtung auf
36 2  Schilddrüse

Entwicklung von Schilddrüse und Nebenschilddrüsen


Pharynx A. Pharynx und Nachbarstrukturen: 4. Entwicklungswoche

Zu Beginn des 2. Entwicklungsmonats hat sich aus dem 4. Aortenbogen 1. Kiementasche


Anteil des ursprünglich tubulären entodermalen Vor­
darms kaudal der (oralen) Membrana buccopharyngealis 4. Kiemenspalte 1. Kiemenspalte
der Pharynx gebildet. Er ist zu diesem Zeitpunkt noch sehr
breit, dorsoventral komprimiert und besitzt auf jeder Seite
eine Reihe von vier lateralen Ausstülpungen, die Kiemen­ 4. Kiemen- A. carotis
tasche interna
taschen (› Abb. 2.3A und B). Jede Kiementasche steht in
enger Beziehung zu einem Aortenbogen und liegt gegen­
über einer Kiemenfurche (› Abb. 2.3A). Aorta 1. Aortenbogen
dorsalis
Bei bestimmten im Wasser lebenden Spezies löst sich
das Gewebe in der Tiefe der Kiemenfurchen und an den Trachea
Fortsätzen der Kiementaschen auf, sodass Verbindun­ Processus
maxillaris
gen zwischen Rachenhöhle und Körperoberfläche entste­ Ösophagus
hen (Kiemenspalten). Beim Menschen können Kiemen­
Desintegrierte
spalten in Form eines schmalen, epithelausgekleideten bukkopharyngeale
Gangs persistieren (Halsfistel), der von der Rachenhöhle Membran
Lungenknospe
bis zu einer Öffnung nahe der Ohrmuschel (1. Kiemen­
bogengang) oder am Hals (2. und 3. Kiementasche) 4. Kiemenbogen Herz Glandula thyroidea 1. Kiemenbogen (mandibulär)
reicht (› Abb. 2.4). Bei weniger stark ausgeprägter An­
omalie besteht entweder ein Halsdivertikel oder eine mit B. Pharynx (Ansicht von ventral): C. Pharynx und Abkömmlinge
Epithel ausgekleidete Halszyste. Ein blindes Divertikel 4. Entwicklungswoche (6.–7. Entwicklungswoche)
kann unterschiedlich weit vom Pharynx nach außen
oder innen reichen. Zysten können auf beiden Seiten in Mundhöhle
Pharynxhöhle Foramen Zunge
der Tiefe des Halses liegen und erst zu Beschwerden füh­ Glandula thyroidea caecum
ren, wenn sie sich im postnatalen Leben infizieren oder
mit Flüssigkeit füllen. I
Kiementasche

Aus dem zentralen Lumen des embryonalen Pharynx 1. Kiementasche


entsteht der adulte Pharynx (› Abb. 2.4). Aus dem 1., am II
2. Kiementasche
weitesten zephal gelegenen Kiementaschenpaar entstehen Larynxepithel
III 3. Kiementasche
beidseits Tuba auditiva (Eustachi-Röhre), Cavum tympani Glandula
(Mittelohr) und die innere Schleimhautauskleidung des IV
parathyroidea III
Lobus lateralis
Trommelfells. Die 1. Kiemenfurchen, die den Taschen ge­ Thymus glandulae thyroideae
genüber liegen, werden beidseits zum Meatus acusticus Trachea 4. Kiemen-
tasche
(Gehörgang) und zur äußeren Epithelabdeckung des Lungenknospe Isthmus glandulae
Trommelfells. Aus der 2. Kiementasche geht die Epithelab­ thyroideae
Ösophagus
deckung der Tonsillae palatinae hervor. Die letztgenann­ Trachea
ten Taschen gehen überwiegend in der Rachenwand auf Ösophagus Glandula parathyroidea IV
und sind als pharyngeale Ausstülpungen an der Bildung
der Fossa supratonsillaris beteiligt (› Abb. 2.4). Abb. 2.3 

Schilddrüse Bis der Überrest des Ductus thyroglossus verschwun­ Organlage der Schilddrüse umgibt, differenziert sich in das
den ist, wird der Schilddrüsensack in eine solide Zellmasse Drüsenstroma und seine dünne Kapsel aus elastischen Fa­
Zwischen der 1. und 2. Kiementasche entsteht in der Mit­ umgewandelt. Am Ende der 7. Entwicklungswoche ist die sern.
tellinie der ventralen Rachenoberfläche ein sackförmiges sich entwickelnde Schilddrüse halbmondförmig und wan­ Der Ductus thyroglossus kann als Fistelgang, der vom
entodermales Divertikulum (der Schilddrüsensack), aus dert auf die Höhe der sich entwickelnden Trachea Foramen caecum linguae bis zum Larynx offen ist, oder in
dem später als erstes glanduläres Derivat des Pharynx das (›  Abb.  2.3C). Diese Wanderung entsteht, weil die Form mehrerer Blindtaschen (Thyreoglossuszysten,
Schilddrüsenparenchym hervorgeht (›  Abb.  2.3A). So­ Schilddrüse zurückgelassen wird, während der Pharynx › Abb. 2.4 und › Abb. 2.5) persistieren.
bald es kurz vor Ende der 4. Entwicklungswoche auftritt, nach vorn wächst. Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden Aus persistierenden Anteilen des Duktus können akzes­
bildet es fast sofort zwei Lappen, die durch einen schma­ (lateralen) Schilddrüsenlappen (lateral), jeder auf einer sorische Schilddrüsen oder eine mediane Fistel entstehen,
len, hohlen Hals verbunden sind. Dieser Hals ist der Duc­ Seite der Trachea, in der Mittellinie über einen sehr schma­ die nach außen am Hals endet. Persistiert ein Teil des Duc­
tus thyroglossus, da sein pharyngeales Ende am Übergang len Isthmus aus sich entwickelndem Schilddrüsengewebe tus thyroglossus auf Höhe des Zungenbeins, dann zieht er
zwischen ventralem Pharynxboden und Zunge liegt. Der verbunden (› Abb. 2.3C). durch diesen Knochen hindurch (› Abb. 2.4).
Gang obliteriert und atrophiert dann langsam ab der 6. Die Schilddrüsenfollikel entstehen während der 8. Ent­ Der variable Pyramidenlappen der Schilddrüse entsteht
Entwicklungswoche. Seine Verbindung mit dem Pharynx wicklungswoche und lagern im 3. Entwicklungsmonat durch Retention und Wachstum des unteren Endes des ob­
führt jedoch an der Spitze des V-förmigen Sulcus termina­ Kolloid ein. Am Ende des 4. Entwicklungsmonats entste­ literierten Ductus thyreoglossus. Gelegentlich ist er über
lis auf dem Zungenrücken zu einer permanenten Grube, hen neue Follikel nur noch durch Ausknospung und Tei­ ein meist links der Mittellinie verlaufendes Ligament oder
dem Foramen caecum (› Abb. 2.3C, › Abb. 2.4). lung bereits vorhandener Follikel. Das Mesenchym, das die Muskelband mit dem Schildknorpel oder dem Zungenbein
Entwicklung von Schilddrüse und Nebenschilddrüsen 37

(Fortsetzung)

verbunden. Der Pyramidenlappen atrophiert allmählich


Ursprung
und findet sich daher häufiger bei Kindern als bei Erwach­
Gehörgang
senen.
1. Kiemen- Cavum typmani
Es gibt noch weitere Varianten der Schilddrüse. So kann tasche Trommelfell
der Isthmus sehr groß sein, rudimentär oder fehlen. Die Rachenfistel
Laterallappen können unterschiedlich groß sein oder beide
fehlen, sodass nur der Isthmus vorhanden ist. Die Drüsen­ 1. Kiemen- Meatus acusti-
form kann eher einem „H“ als einem Hufeisen ähneln. Sel­ spalte cus externus
ten liegt die Drüse an der Zungenbasis (Zungenschilddrü­ 1. und Ohrmuschel
se) oder tief unter dem Sternum. Das komplette Fehlen der 2. Kiemen-
bogen Nasopharynx
Drüse oder das Versagen der Drüsenfunktion fällt erst ei­
Weicher
nige Wochen postpartal auf, da der Fetus über die Plazenta Gaumen (Velum)
ausreichend mit mütterlichen Schilddrüsenhormonen ver­ Oropharynx
sorgt wird, um eine normale Entwicklung sicherzustellen. 2. Kiemen- Fossa supratonsillaris
Ohne postnatalen Hormonersatz entsteht eine kongenitale tasche Epithel der
Tonsilla palatina
Hypothyreose.
Zunge (entfernt)
Vordere Foramen caecum
Rachen- Persistierender
Nebenschilddrüsen und Thymus wand Ductus thyreoglossus
Os hyoideum (entfernt)
3. Kiemen- Aberrante Glandula
Während der 5. und 6. Entwicklungswoche differenziert tasche parathyroidea III
sich das entodermale Epithel des dorsalen Anteils der dista­
2. Kiemen-
len Enden der 3. und 4. Kiementaschen in die Organanlagen tasche Rachenfistel
der Nebenschilddrüsen. Gleichzeitig differenzieren sich die Glandula
ventralen Anteile der distalen Enden der 3. Kiementasche in 4. Kiemen- parathyroidea IV
die Organanlage des Thymus (› Abb. 2.3C). Auch aus den tasche Glandula
ultimobranchialis
ventralen Anteilen der distalen Enden der 4. Kiementasche
Vordere Lobus pyramidalis
entsteht eine Organanlage des Thymus, die aber bald ver­ Rachen- und lateralis der
schwindet, ohne zum adulten Thymus beizutragen. wand Glandula thyreoidea
Häufig entstehen zwei Paar Nebenschilddrüsen. Am 3. Kiemen-
Glandula
parathyroidea III
Ende der 6. Entwicklungswoche verlieren die Organanla­ tasche
Persistierender
gen der Nebenschilddrüsen und des Thymus ihre Verbin­ Thymusstrang
dung mit den Kiementaschen und obliterieren das Lumen A. carotis
der 3. und 4. Kiementasche. Nebenschilddrüsengewebe communis
3. Kiemen- Rachen-
aus der 3. Kiementasche und die Organanlage des Thymus tasche fistel
wandern während der 7. Entwicklungswoche in kaudome­
diale Richtung. Während der 8. Entwicklungswoche ver­ Manubrium
sterni
größern sich die unteren Enden der Organanlage des Thy­
mus und fusionieren oberflächlich in der Mittellinie. Die Aberrante
bilobären unteren Enden wandern weiter hinab ins obere 3. Kiemen- Glandula para-
tasche thyroidea III
Mediastinum hinter das Manubrium sterni. Dabei verlän­ Thymus
gern sich die oberen Enden der Organanlage schwanzähn­ Herz
lich und verschwinden für gewöhnlich wieder. Gelegent­
lich persistieren sie eingelagert in die Schilddrüse oder als Abb. 2.4 
isolierte Thymusnester oder -stränge.
Nebenschilddrüsengewebe aus der 3. Kiementasche
wandert mit der Organanlage des Thymus und kommt für Da sich die Nebenschilddrüsen aus der 4. Kiementasche rischen Drüsen liegen etwas entfernt von der Schilddrüse.
gewöhnlich auf Höhe des kaudalen Schilddrüsenendes kaum verlagern, ziehen die Nebenschilddrüsen aus der Die Nebenschilddrüsen produzieren Parathormon, das für
zum Halt, wo es die inferioren Nebenschilddrüsen des Er­ 3. Kiementasche auf ihrem Weg nach kaudal an ihnen vor­ das Kalzium- und Phosphatgleichgewicht sorgt.
wachsenen bildet. Diese liegen in der zervikalen Faszien­ bei. Daher bilden die Nebenschilddrüsen aus der 4. Kie­ Der Thymus ist ein bei Säuglingen auffälliges Organ. Er
scheide der Schilddrüse und sind hinten an der Kapsel der mentasche die superioren Nebenschilddrüsen des Erwach­ erreicht seine größte relative Ausdehnung im Alter von et­
beiden lateralen Schilddrüsenlappen befestigt, haben je­ senen in der Faszienhülle der Schilddrüse, die hinten an wa 2 Jahren und wächst dann bis zur Pubertät. Anschlie­
doch auch eine eigene Kapsel. Gelegentlich steigt das Ne­ der Kapsel jedes lateralen Schilddrüsenlappens auf Höhe ßend bildet sich der Thymus allmählich zurück und wird
benschilddrüsengewebe mit der Organanlage des Thymus der unteren Grenze des Ringknorpels befestigt sind. Varia­ durch Fett ersetzt. Dadurch ist der Thymus des Erwachse­
weiter nach unten und liegt dann im Thorax nahe dem tionen von Anzahl, Größe und Lage der Nebenschilddrü­ nen zwar von gleicher Größe und Form wie im Kindesal­
Thymus. sen sind häufig. Sowohl die regulären als auch die akzesso­ ter, besteht aber überwiegend aus Fettgewebe.
38 2  Schilddrüse

Fehlbildungen der Schilddrüse


Aberrante oder anormale Lokalisationen von Schilddrü­
sengewebe lassen sich durch die anormale embryonale Mi­
Aberrante und normale
gration der Schilddrüse und ihre räumliche Nähe zu den
Lokalisationen von
lateralen Schilddrüsenanlagen erklären. Diese anormale Schilddrüsengewebe
Lage des Schilddrüsengewebes lässt sich durch die emb­
ryologische Entwicklung der Schilddrüse erklären, die
beim Menschen etwa am 17. Entwicklungstag entsteht und
aus dem Verdauungstrakt hervorgeht. Der mediane Anteil
der Schilddrüse bildet sich aus einer ventralen Ausstülpung
des Pharynxbodens auf Höhe der 1. und 2. Kiementasche. Lingual
Die laterale Schilddrüsenanlage aus dem Bereich der
4. Kiementasche wird in die mediane Schilddrüsenanlage Intralingual
eingelagert und bildet einen kleinen Teil des endgültigen
Schilddrüsenparenchyms. Die Schilddrüsenanlage verlän­ Tractus thyreoglossus
gert und vergrößert sich nach lateral, wobei sich der pha­
ryngeale Anteil zu einem schmalen Stiel kontrahiert, dem Sublingual
Ductus thyroglossus. Dieser atrophiert anschließend und
hinterlässt an seinem Ursprungsort auf der Zunge nur eine Thyreoglossuszyste
kleine Grube, das Foramen caecum. Normalerweise wächst
die Schilddrüse weiter und wandert dabei nach kaudal. Prälaryngeal
Anomales Schilddrüsengewebe kann vom Zungenrü­
Normal
cken bis zum Herzen im Mediastinum vorkommen. Auf
dem Zungenrücken persistierendes Schilddrüsengewebe
Intratracheal
ist recht häufig (Zungenschilddrüse) und kann das einzige
vorhandene Schilddrüsengewebe sein. Es lässt sich oft
Substernal
durch eine Szintigrafie mit radioaktiv markiertem Iod
nachweisen, das in der Zungenschilddrüse, nicht aber an
der üblichen Stelle im vorderen Hals angereichert wird.
Intralinguale und sublinguale Reste des Schilddrüsenge­
webes wurden beschrieben, sind aber ungewöhnlich. Der
Ductus thyroglossus atrophiert in der Regel vollständig.
Bleibt dies aus, kann er als Zyste in der Mittellinie des
Halses persistieren, irgendwo zwischen der Zungenbasis
und dem Zungenbein. Daher besteht bei sich vergrößern­
den Zysten unmittelbar unterhalb des Kinns in der Mittel­
linie der Verdacht auf eine Thyroglossuszyste. Gelegentlich
können solche Zysten Schilddrüsengewebe enthalten, das
radioaktives Iod einlagern kann.
Substernales aberrantes Schilddrüsengewebe im Medi­
astinum entsteht nur selten durch Fehlbildungen, sondern
entspricht Drüsenresten aus der Zeit der Kaudalwanderung
der Schilddrüse. Häufig jedoch entsteht substernales Zungenschilddrüse Szintigrafie, Zungenschilddrüse
Schilddrüsegewebe durch Herabwachsen einer Knotenstru­
ma. Auch prälaryngeales Schilddrüsengewebe, das an ei­ Abb. 2.5 
nem sehr langen Pyramidenlappen oder an einer Thyro­
glossuszyste befestigt ist, kommt vor. Intratracheale Schild­
drüsenreste sind, wenn auch selten, ebenfalls beschrieben. Die medizinische Bedeutung von aberrantem Schild­
Eine „laterale aberrante Schilddrüse“ kann aus Kiemenge­ drüsengewebe ist recht beschränkt. Gelegentlich ist auf­
webe, das nicht mit der medianen Schilddrüse fusioniert grund entzündlicher Veränderungen oder seltener einer
ist, entstehen. Der Nachweis eines mikroskopischen Karzi­ Vergrößerung mit Hyperthyreose eine operative oder ra­
noms bei manchen Patienten mit sogenanntem lateralem diotherapeutische Intervention erforderlich. Die exakte
aberrantem Schilddrüsengewebe legt nahe, dass es sich da­ Interpretation dieser Läsionen erfordert die Kenntnis ihrer
bei oft um Metastasen eines gut differenzierten, niedrig ma­ embryologischen Abstammung.
lignen papillären Schilddrüsenkarzinoms handelt.
TSH-Wirkung auf die Schilddrüse 39

TSH-Wirkung auf die Schilddrüse


Die Hypothalamus-Hypophysen-Achse steuert die Schild­
drüsenfunktion. Bei einer Fehlfunktion von Hypothala­ TSH-
mus oder Hypophysenvorderlappen nehmen das Schild­ produ-
zierender
drüsengewebe sowie die Produktion und Sekretion von Hypo-
Schilddrüsenhormonen ab. Das an der Schilddrüse angrei­ physen-
fende hypophysäre Hormon ist das Glykoprotein TSH tumor
(thyreoideastimulierendes Hormon) aus den thyreotropen
TSH niedrig TSH normal TSH erhöht
Zellen der Hypophyse. Es ist der wichtigste Regulator von oder fehlend
Schilddrüsenstruktur und -funktion. TSH besteht aus ei­
ner α- und einer β-Untereinheit. Die α-Untereinheit be­
steht aus 92 Aminosäuren und ist identisch mit der
α-Untereinheit des luteinisierenden Hormons, des follikel­
stimulierenden Hormons und des humanen Choriongona­
dotropins. Die β-Untereinheit von Glykoproteinhormonen
ist funktionsfestlegend. Die in den thyreotropen Zellen
hergestellte β-Untereinheit ist ein Protein aus 112 Amino­
säuren. Das hypothalamische TSH-releasing-Hormon
(TRH) ist ein modifiziertes Tripeptid (Pyroglutamylhisti­
Vermindertes Normales
dylprolinamid), das die Transkription der beiden Unter­
Schilddrüsenvolumen Schilddrüsenvolumen Erhöhtes Schilddrüsenvolumen
einheiten erhöht, während die Schilddrüsenhormone
(Thyroxin [T4] und Triiodothyronin [T3]) die Transkripti­
on supprimieren. Beim Gesunden liegt der TSH-Serum­
spiegel bei 0,3–5,0 mIU/l. Er ist bei primärer Hypothyreose
und sekundärer Hyperthyreose (z. B. durch einen TSH-
produzierenden Hypophysentumor) erhöht und bei pri­
märer Hyperthyreose reduziert. Der TSH-Serumspiegel
variiert pulsatil und zirkadian – kurz vor dem Einschlafen Flache Follikelzellen Kubische Follikelzellen
Zylindrische Follikelzellen,
kommt es zu einem nächtlichen Anstieg. reduziertes Kolloid
T4 und T3 beeinflussen die Sekretion von TRH und TSH
durch negatives Feedback. Es besteht ein umgekehrter li­
nearer Zusammenhang zwischen dem Serumspiegel von TSH: niedrig TSH: normal TSH: hoch
freiem T4 und dem Logarithmus von TSH. Somit ist der
TSH-Serumspiegel bei intakter Hypothalamus-Hypophy­ Freies T4: niedrig Freies T4: normal Freies T4: hoch
sen-Achse ein sehr sensibler Indikator der Schilddrüsen­
funktion. Gesamt-T3: niedrig Gesamt-T3: normal Gesamt-T3: hoch
Die Schilddrüsenzellen exprimieren den TSH-Rezeptor,
der ein Mitglied der Glykoprotein-G-gekoppelten Rezep­ 131
I-Aufnahme: gering 131
I-Aufnahme: normal 131
I-Aufnahme: vermehrt
torfamilie ist. Der TSH-Rezeptor bindet an Gs und indu­
ziert ein Signal über die Phospholipase C und intrazellulä­
ren Kalzium-Signalwege, die den Iodeinstrom, die H2O2- Abb. 2.6 
Produktion und die Iodierung von Thyreoglobulin steuern.
Die durch zyklisches Adenosinmonophosphat vermittelte
Signalgebung durch die Proteinkinase A steuert die Iod­ und die Aufnahme von radioaktivem Iod ist normal. Bei
aufnahme und Transkription von Thyreoglobulin, Thyreo­ einer Fehlfunktion von Hypothalamus oder Hypophyse
peroxidase und die Natriumiodid-Symporter-mRNAs mit entsteht eine sekundäre Hypothyreose mit verkleinerter
nachfolgender Produktion von Schilddrüsenhormon. Au­ Schilddrüse (bei der körperlichen Untersuchung oft nicht
ßer TSH bindet der TSH-Rezeptor auch thyreoideasti­ palpabel), abgeflachten Follikelzellen, niedrigem TSH-
mulierende Antikörper (erhöht bei Basedow-Krankheit) Spiegel (oder zu niedrig angesichts der niedrigen Schild­
und thyreoideablockierende Antikörper (erhöht bei Hashi­ drüsenhormone), einem Spiegel von freiem T4 und Ge­
moto-Thyreoiditis). In hohen Konzentrationen aktivieren samt-T3 unter dem Referenzbereich und einer geringen
auch die eng verwandten Glykoproteinhormone luteinisie­ Aufnahme von radioaktivem Iod. Bei TSH-produzieren­
rendes Hormon und Choriongonadotropin den TSH-Re­ den Hypophysentumoren ist die Schilddrüse vergrößert
zeptor, was zur physiologischen Hyperthyreose der Früh­ und imponiert bei der körperlichen Untersuchung als feste
schwangerschaft beiträgt. Struma. Die Follikelzellen sind zylindrisch und das Kolloid
Bei intakter Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen- reduziert. Der TSH-Spiegel liegt im Normalbereich oder ist
Achse ist die Schilddrüse normal groß mit kuboiden Folli­ leicht erhöht, obwohl das freie T4 und das Gesamt-T3 über
keln. Die TSH-Konzentration liegt ebenso wie die Serum­ dem Normalbereich liegen und vermehrt radioaktives Iod
spiegel von freiem T4 und Gesamt-T3 im Referenzbereich eingelagert wird.
40 2  Schilddrüse

Physiologie der Schilddrüsenhormone


Der Beitrag der Schilddrüse zur Ökonomie des Körpers be­
GI-
steht in Synthese, Speicherung und Sekretion von Schild­ Hypophysen- Blut
Trakt
drüsenhormonen, die für Wachstum, Entwicklung und vorderlappen
den normalen Stoffwechsel erforderlich sind. Die Schild­ I–

drüsenfunktionen hängen vom Iodstoffwechsel ab. Durch Follikelzellen


Iodierung von Thyrosin entstehen Thyroxin (Tetraiodthy­
ronin, T4) und Triiodothyronin (T3).
Anorganisches Iod (I–) wird im Gastrointestinaltrakt I–
rasch resorbiert und zirkuliert als Iodid im Blut, bis es von TSH
der Schilddrüse oder den Speicheldrüsen abgefangen oder
von den Nieren ausgeschieden wird. Die Schilddrüse extra­ Kolloid
hiert Iod mithilfe des Natrium-Iod-Symporters (NIS) ge­ TSH

tor
Re SH-
gen einen 25fachen Konzentrationsgradienten aus dem

zep
Thyreoglobulin

T
Plasma. Zur NIS-Funktion ist ein Natriumgradient über Tg Tg
die basolaterale Membran erforderlich. Der Transport von
2 Natriumionen erlaubt den Transport von 1 Iodatom. Au­ THOX2 Tg + I–
ßerdem transportiert NIS auch TcO4–, das klinisch zur
Schilddrüsenszintigrafie verwendet wird, und Kaliumper­ H2O2
chlorat (KClO4–), das die Iodaufnahme in die Schilddrüse TPO
2 Na+ 2 Na+ TSH
blockieren kann. Die Transkription des NIS-Gens und die
NIS T4
Halbwertszeit von Protein werden durch TSH verstärkt. I– I– I– I– T3
Pendrin Tg
Außerdem gelangt Iod durch das Iodotyrosindehalogena­ Dhal-1
I–
se-1-Isoenzym (Dhal-1) in die Zellen, die Monoiodotyro­
sin (MIT) und Diiodotyrosin (DIT) deiodiert.
Grund- MIT, DIT
Pendrin ist ein Glykoprotein, das an der apikalen Gren­ umsatz T4 TSH
T3
ze der follikulären Schilddrüsenzellen exprimiert wird, wo I– T4 + T3 T4 + T3 Tg
es den Transfer von Iodid in das follikuläre Kolloid erleich­
Und andere
tert. Nach seinem pendrinvermittelten Transfer ins Kollo­ Zellfunktionen
Apikale
id wird das Iodid von der Thyreoperoxidase (TPO) oxi­ Membran
Körperzelle
diert, um die Iodierung zu MIT und DIT zu erleichtern.
Thyreostatika (z. B. Propylthiouracil, Methimazol, Carbi­
mazol) hemmen die TPO-Funktion. TPO benötigt H2O2,
Basolateralmembran
das von der thyreoidalen Oxidase 2 (THOX2) erzeugt wird,
was bei Iodexzess gehemmt wird. Die organischen Kom­
ponenten von Iod werden in der Schilddrüse als Teil von
Thyreoglobulin gespeichert (Molekulargewicht 660  kD). Leber
Außerdem katalysiert TPO die Kopplung von 2 DIT-Mole­ Niere
külen zu T4 und von 1 MIT-Molekül und 1 DIT-Molekül zu
T3. T4 und T3 werden im Kolloid als Teil des Thyreoglobu­
linmoleküls gespeichert – auf jedes Thyreoglobulinmole­
kül kommen 3–4 T4-Moleküle. TSH stimuliert die Mobili­ Iod Schilddrüsen-
Essigsäurederivate hormonmetaboliten
sierung von Thyreoglobulin aus dem Kolloid durch Mikro­ Pyruvatderivate im Urin
pinozytose, sodass Phagolysosomen mit Proteasen, freiem
T4, T3, DIT und MIT entstehen. T4 und T3 werden aus dem Abb. 2.7 
Phagolysosom über die basolaterale Zellmembran ins Blut
transportiert. Dieser Vorgang wird durch ein großes Iod­
angebot gehemmt, was therapeutisch bei der Basedow- ronin (T2). Das Vorhandensein dieser Deiodinasen in ver­ derum an die DNA bindet. T3 hat eine 15-mal höhere
Krankheit zum Einsatz kommt. DIT und MIT werden schiedenen Zelltypen regelt die lokale Wirkung der Schild­ ­ indungsaffinität für den Schilddrüsenhormonrezeptor
B
durch Dhal-1 deiodiert und das Iod wieder in das Follikel­ drüsenhormone. als T4.
lumen verbracht. T4 und T3 sind nur schlecht wasserlöslich und im Blut T4 und T3 werden vom Leber- und Nierengewebe in ihre
Das Verhältnis von T4 zu T3 in Thyreoglobulin beträgt an Plasmaproteine gebunden: thyroxinbindendes Globulin Pyruvat- und Acetoacetat-Derivate und schließlich zu Iod
etwa 15 : 1 und nach Freisetzung aus der Follikelzelle etwa (TBG), T4-bindendes Präalbumin (Transthyretin) und Al­ abgebaut. Diese Metaboliten werden in der Leber konzent­
10  :  1. (Der Unterschied entsteht durch die 5’-Deiodie­ bumin. TBG besitzt eine Iodthyronin-Bindungsstelle je riert und zu Glukuronsäure konjugiert, mit der Galle aus­
rung.) Die Deiodierung kann durch Propylthiouracil ge­ Molekül. Die Affinität von TBG ist für T3 20-mal geringer geschieden, im Dünndarm hydrolysiert und reabsorbiert.
hemmt werden. T4 wird nur in der Schilddrüse hergestellt. als für T4. Hinsichtlich des Gehalts an gespeicherten Hormonen
Obwohl T3 aus der Schilddrüse abgegeben wird, entstehen Von den thyroxinbindenden Proteinen treten T4 und T3 ist die Schilddrüse einzigartig. Jedes Gramm Schilddrüsen­
75 % des Gesamt-T3 durch die periphere 5’-Deiodierung in die Körperzellen ein, wo sie ihre überwiegend kalorige­ gewebe speichert etwa 250 μg T4, das sind etwa 5 mg T4 in
von einem der Iodatome im äußeren Ring von T4. T4 und nen metabolischen Wirkungen entfalten (Anhebung des 20 g Schilddrüse. Daher überrascht es nicht weiter, dass es
T3 können durch 5-Deiodierung des inneren Rings inakti­ Grundumsatzes). Schilddrüsenhormone wirken durch bei einer akuten Schilddrüsenentzündung zur Hyperthyre­
viert werden. Dabei entstehen reverses T3 und Diiodothy­ Bindung an den Schilddrüsenhormon-Rezeptor, der wie­ ose kommt.
Basedow-Krankheit 41

Basedow-Krankheit
Die Basedow-Krankheit beschreibt eine Autoimmuner­ Nervosität
Schwitzen
krankung der Schilddrüse mit Hyperthyreose, Struma, Or­ Übererregtheit
bitopathie sowie gelegentlich mit einer infiltrativen Der­ Gesichtsrötung
Rastlosigkeit
mopathie (prätibial oder umschriebenes Myxödem). Base­ Emotionale Instabilität
dow-Krankheit und Hyperthyreose dürfen nicht synonym Schlaflosigkeit
verwendet werden, weil manche Patienten mit Basedow- Gewichtsverlust
Krankheit nur eine Orbitopathie, aber keine Hyperthyreo­
se aufweisen. Außerdem gibt es neben der Basedow-
Palpable Lymphknoten Exophthalmus
Krankheit noch andere Ursachen einer Hyperthyreose. Bei
der Basedow-Krankheit entsteht die Hyperthyreose durch Struma
(evtl. mit Schwirren)
Autoantikörper gegen den TSH-Rezeptor, die den Rezep­ Dyspnoe
tor aktivieren und die Synthese und Sekretion der Schild­
drüsenhormone (Thyroxin [T4] und Triiodothyronin [T3])
und das Schilddrüsenwachstum stimulieren. Brustvergrößerung
(beim Mann
Die Basedow-Krankheit ist bei Frauen häufiger als bei Gynäkomastie) Palpitation, Tachykardie
Männern (8 : 1), mit einer Häufung im gebärfähigen Alter,
obwohl sie auch bereits in der Kindheit oder in sehr hohem Warme,
samtige Haut
Alter auftreten kann. Obgleich die vergrößerte Schilddrüse Appetitsteigerung
und der Exophthalmus die Leitsymptome dieser Krankheit
Muskelschwund
sind, sind tatsächlich fast alle Körpersysteme betroffen, so­ Diarrhö (gelegentlich)
dass es sich um eine systemische Erkrankung handelt. Die
Schilddrüse ist diffus vergrößert (Struma) und mindestens Pulsbe-
schleunigung Tremor
doppelt so groß wie normal. Oft ist der rechte Schilddrü­
senlappen etwas größer als der linke und in der Regel ist
Warme, Trommelschlägelfinger
auch der Pyramidenlappen vergrößert. Nur selten ist die feuchte (bei manchen Patienten
Schilddrüse bei der Basedow-Krankheit nicht palpabel ver­ Handflächen mit schwerem Exoph-
größert. Durch die vermehrte Durchblutung der Drüse thalmus)
entsteht ein auskultierbares Geräusch und manchmal auch
ein palpables Schwirren über den oberen Polen. Histolo­
gisch bestehen eine Hyperplasie der kolloidarmen Follikel Oligomenorrhö
und vermehrte Zellhöhen mit hochprismatischen Azinus­ oder Amenorrhö
zellen, die papilläre Einstülpungen in die Follikel auf­ Muskelschwäche,
Ermüdbarkeit
weisen können. Später sind multifokale lymphozytäre
­Infiltrate (überwiegend T-Zellen) und gelegentlich sogar
Lymphfollikel (überwiegend B-Zellen) im Schilddrüsenpa­
renchym vorhanden. Umschriebenes
Die Funktion der hyperplastischen Schilddrüse ist deut­ Myxödem
lich beschleunigt, was sich an der vermehrten Aufnahme
und dem Abbau von radioaktivem Iod und dem erhöhten
Spiegel von T4 und T3 zeigt, die den Sauerstoffverbrauch
und den Grundumsatz erhöhen und die Serumspiegel von
Gesamtcholesterin und High-Density-Lipoprotein-Chole­
sterin senken. Die erhöhten Spiegel von T4 und T3 verursa­ Abb. 2.8 
chen zahlreiche physikalische und psychologische Sym­
ptome. Patienten mit dieser Krankheit sind meistens ner­
vös, agitiert, unruhig und leiden unter Schlafstörungen, Stoffwechselleistung auch gerötet sein, oft mit vermehrter pisch ist der Haarverlust im myxödematösen Bereich, wo­
Persönlichkeitsveränderungen und emotionaler Labilität. Schweißbildung. Gelegentlich besteht eine Vitiligo, eine bei vereinzelte Haarfollikel mit einem Haar die Diagnose
Außerdem bestehen Konzentrationsstörungen, Verwirrt­ weitere Autoimmunerkrankung. Gelegentlich tritt bei der nicht ausschließen. Umschriebene Myxödeme finden sich
heit und eine Störung des Ultrakurzzeitgedächtnisses. Basedow-Krankheit eine Onycholyse auf (Hohlnägel), die fast immer bei schwerer und progressiver Orbitopathie.
Bei der körperlichen Untersuchung zeigen Patienten Ablösung der weichen Nägel vom Nagelbett. Manchmal Außerdem geht die Basedow-Krankheit mit Trommel­
mit Basedow-Krankheit einen feinschlägigen Tremor, der tritt bei schwerer progressiver Orbitopathie an den Unter­ schlägelfingern und -zehen einher (Akropachie).
am besten zu erkennen ist, wenn sie ein Papiertuch zwi­ schenkeln (prätibiales Myxödem) eine infiltrative Dermo­ Die Überaktivität des Sympathikus führt bei den meisten
schen den ausgestreckten Fingern halten sollen. Die erhöh­ pathie auf, die mit einer bräunlichen, gummiartigen, nicht Patienten mit Hyperthyreose zu starrem Blick und erwei­
ten Spiegel von T4 und T3 sowie der vermehrte Sauerstoff­ eindrückbaren Verdickung von Kutis und Subkutis und li­ terter Lidspalte. Letztere zeigt sich, wenn der Patient dem
verbrauch und die generalisierte Vasodilatation erhöhen vider Hautverfärbung des meist lateralen unteren Unter­ Finger des Untersuchers in vertikaler Richtung mit dem
das Herzminutenvolumen mit Palpitation und Sinustachy­ schenkeldrittels einhergeht. Das klassisch lokalisierte prä­ Blick folgt. Dabei ist beim Blick nach unten die Sklera über
kardie. Die gesteigerte Herzaktion kann zu Vorhofflim­ tibiale Myxödem kann mit Knötchen (mit einem Durch­ der Pupille zu erkennen. Die Orbitopathie ist einzigartig
mern und Herzinsuffizienz führen. messer von bis zu 1 cm) auf der Tibia bis zu Kniehöhe ein­ für die Basedow-Krankheit (› Abb. 2.10).
Die Haut der Patienten ist warm und samtig (wegen der hergehen. Diese Läsion kann auch auf den Unterarmen Die erhöhte Stoffwechselrate führt trotz gesteigerten
reduzierten Keratinschicht). Sie kann durch die erhöhte vorkommen und Füße und sogar Zehen einbeziehen. Ty­ Appetits zum Gewichtsverlust und zum Abbau bestimmter
42 2  Schilddrüse

(Fortsetzung)

Muskeln mit Muskelschwäche. Die Hyperthyreose hat


Atrophie der
­unterschiedliche Auswirkungen auf den Glukosestoff­ Schultermuskulatur
wechsel, typisch ist jedoch eine Nüchternhyperglykämie.
Temporal-
Eine schwere Hyperthyreose kann zu einer erhöhten Stuhl­
muskelatrophie
frequenz und Malabsorption führen.
Bei Frauen ist der Serumspiegel des Gesamt-Estradiols
erhöht, da der Serumspiegel von sexualhormonbindendem
Hängendes
Globulin erhöht ist. Allerdings sind die Serumspiegel von
Augenlid
freiem Estradiol niedrig und von luteinisierendem Hor­

Muskeln
mon erhöht, was zu einer Oligomenorrhö und sogar Ame­
norrhö führt, die bei Euthyreose wieder abklingt. Auch bei
hyperthyreoten Männern sind die Serumspiegel von sexu­
alhormonbindendem Globulin erhöht, was sich in einem
erhöhten Serumspiegel des Gesamtcholesterins, einem
niedrigen Spiegel des freien Testosterons und einer leich­
ten Erhöhung des Serumspiegels von luteinisierendem
Hormon widerspiegelt. Die Aromatisierung von Testoste­
ron zu Estradiol ist vermehrt, was oft zur Gynäkomastie,
einer reduzierten Libido und sexuellen Funktionsstörun­ Tremor
gen führt.
Patienten mit Basedow-Krankheit weisen profunde
Muskelveränderungen auf. Typisch ist eine Atrophie der
Mm. temporales, der Schultergürtelmuskeln und der Mus­
keln der unteren Extremität, vor allem des M. quadriceps
femoris. Es besteht eine Muskelschwäche und oft können
diese Patienten keine Treppen steigen oder eigenständig
aus einem Stuhl aufstehen. Die Muskelschwäche trägt auch
zur Dyspnoe bei. Typisch sind ein Tremor sowie ein deutli­
ches Zittern bei der Beinstreckung und die Unfähigkeit,
Haut

Herz

das ausgestreckte Bein länger als 1 Minute in der Luft zu


halten.
Überschüssiges T4 und T3 regt die Knochenresorption
an, wodurch die Spongiosa reduziert und die Porosität der
Kortikalis erhöht wird. Die Dichte der Kortikalis ist häufig
stärker betroffen als die der Spongiosa. Der hohe Knochen­ Erhöhte Frequenz
umsatz wird durch Messung der Serumspiegel von Osteo­ Erhöhtes Herzminutenvolumen
Infiltrative (so lange, bis Herzinsuffizienz auftritt)
kalzin und knochenspezifischer alkalischer Phosphatase
Dermopathie Meist kaum oder gar nicht vergrößert
ermittelt. Bei manchen Patienten führt die vermehrte Kno­ (prätibiales Myxödem)
chenresorption zur Hyperkalzämie. Diese hemmt die Se­
kretion von Parathormon und die Genese von 1,25-Dihyd­ Abb. 2.9 
roxyvitamin D mit beeinträchtigter Kalziumresorption
und erhöhter Kalziumausscheidung mit dem Urin. Da­
durch entsteht bei lange bestehender Hyperthyreose ein Das erhöhte Herzminutenvolumen ist Folge des erhöhten
erhöhtes Fraktur- und Osteoporoserisiko. Grundumsatzes und des erhöhten Sauerstoffbedarfs der
Die ersten Beschreibungen der Basedow-Krankheit be­ Gewebe. Die Schilddrüsenhormone verstärken die norma­
trafen Patienten mit Strumen und einer gewissen Herz­ len kardialen und systemischen Wirkungen der Katechol­
insuffizienz. Typisch bei Patienten mit Hyperthyreose sind amine. Bei etwa 15 % der Patienten besteht Vorhofflim­
zahlreiche kardiale Symptome. In der Regel ist die Herzfre­ mern, insbesondere bei Patienten über 60 Jahre. Bei den
quenz beschleunigt. Es besteht eine Herzinsuffizienz mit meisten Patienten kommt es bei Wiederherstellung der
erhöhtem Herzminutenvolumen und trotz des erhöhten Euthyreose zur spontanen Konversion des Vorhofflim­
Venendrucks eine verkürzte Zirkulationszeit. Oft liegt eine merns in einen normalen Sinusrhythmus. Die meisten kar­
systolische Hypertonie vor. Eine Herzvergrößerung findet diovaskulären Symptome lassen sich durch eine periphere
sich nur bei ausgeprägter Herzinsuffizienz oder vorbeste­ Betablockade kontrollieren, die unabhängig von einer Wir­
hender Herzerkrankung. Das Herz weist keine typischen kung auf die Serumspiegel von T3 und T4 auch die Schweiß­
anatomischen oder mikroskopischen Veränderungen auf. produktion reduzieren und die Lidspalte verkleinern.
Endokrine Orbitopathie 43

Endokrine Orbitopathie
Die endokrine Orbitopathie ist eine Autoimmunerkran­
kung der retroorbitalen Gewebe mit leichten bis extrem
schweren, progressiv verlaufenden Augensymptomen, vor
allem Proptose und Periorbitalödem.
Oft besteht bei einer Hyperthyreose (unabhängig von
der Ursache) eine vergrößerte Lidspalte (durch Kontrakti­
on des M. levator palpebrae) mit starrem Blick. Letzterer
kann einer Proptose ähneln und muss mit einem Exoph­
thalmometer objektiviert werden (siehe unten). Oft ist das
Augenlid hochgezogen, wird also bei Blicksenkung nicht
über den Bulbus nach unten geschoben. Außerdem kann
das Augenlid beim Blick nach oben rascher als der Bulbus
nach oben bewegt werden.
Die endokrine Orbitopathie geht oft mit Begleitsympto­
men, wie einer echten Proptose, einer Bindehautinfektion,
Mittelschwere Ophthalmopathie
einem Bindehautödem (Chemose), einem Periorbitalödem,
einer Konvergenzschwäche und der Lähmung von einem
oder mehreren extraokulären Muskeln, einher. Oft klagen die
Patienten über vermehrten Tränenfluss (vor allem bei grel­
lem Licht, Wind oder kalter Luft), ein Fremdkörpergefühl im
Auge und ein unangenehmes Völlegefühl in der Augenhöhle.
Bei Aufforderung zur Blickwendung fällt eine signifikante
Schwäche von einem oder mehreren extraokulären Muskeln
auf. Die Patienten klagen oft über verschwommenes Sehen
oder über Doppelbilder beim Blick nach oben oder zur Seite.
Es besteht eine Proptose mit einem Abstand zwischen
dem Kanthus vor der Kornea von mehr als 20 mm bei wei­
ßen Patienten und mehr als 22 mm bei schwarzen Patien­
ten, gemessen mittels Exophthalmometer. Die Proptose
kann asymmetrisch und durch ein periorbitales Ödem mas­
kiert sein. Nützlich ist oft eine Testung der Druckresistenz
des Auges und des Orbitainhalts. Dies erfolgt durch Aufle­
gen der Finger auf das über dem Augapfel geschlossene Lid
und den Versuch, ihn nach innen zu drücken. Normaler­
weise lässt sich der Augapfel leicht und ohne Widerstand
Elastizitätstestung
nach hinten schieben; bei Patienten mit schwerer Orbitopa­
thie nimmt die Resistenz deutlich ab und bei manchen lässt
sich der Augapfel nicht nach hinten schieben, was ein prog­
nostisch schlechtes Zeichen ist. Die Progression kann so
rasch und ausgeprägt sein, dass sich die Augenlider nicht
schließen lassen, sodass Korneaulzera auftreten. Diese Ulze­
ra können sich infizieren und zum Augenverlust führen. Schwere progressive Ophthalmopathie
Selten besteht ein Papillenödem, eine Papillitis oder eine
Retrobulbärneuritis, wodurch es zur Erblindung kommt. Abb. 2.10 
Die Pathogenese der endokrinen Orbitopathie hängt
mit der Volumenzunahme im Retroorbitalraum – der ex­ Abgesehen von einem hohen Titer von TSH-Rezeptor- der endokrinen Orbitopathie und dem Beginn einer Hyper­
traokulären Muskeln und der retroorbitalen Binde- und Antikörpern wurden mehrere weitere Risikofaktoren für die thyreose. Die Orbitopathie geht der Hyperthyreose bei 20 %
Fettgewebe – durch eine Entzündung und die Akkumulati­ Entwicklung einer Orbitopathie bei Patienten mit Basedow- der Patienten voraus, tritt bei 40 % gleichzeitig mit ihr auf,
on von hydrophilen Glykosaminoglykanen (GAG) (z. B. Krankheit identifiziert. Die endokrine Orbitopathie ist eben­ bei 20 % während der Behandlung der Hyperthyreose und
Hyaluronsäure) zusammen. Durch die GAG-Akkumulati­ so wie die Hyperthyreose bei Frauen häufiger, wobei Män­ bei weiteren 20 % in den 6 Monaten nach Diagnosestellung.
on in diesen Geweben, eine Veränderung des osmotischen ner eine schwerere Orbitopathie entwickeln. Zigarettenrau­ Die meisten Patienten können erfolgreich durch Kopf­
Drucks und einen erhöhten Flüssigkeitsgehalt wird der chen erhöht nachweislich das Risiko für eine Orbitopathie hochlagerung während der Nacht und häufiges Eintropfen
Bulbus nach vorn geschoben und die Funktion der extra­ und deren Schwere. Rauchen scheint die GAG-Produktion von Kochsalzlösung in die Augen am Tage und Tragen ei­
okulären Muskeln behindert. Die extraokulären Muskeln und die Adipogenese zu erhöhen. Die Radioiodtherapie der ner Sonnenbrille im Freien behandelt werden. Bei schwe­
sind geschwollen und mit T-Lymphozyten infiltriert. Letz­ Hyperthyreose scheint die Orbitopathie ausgeprägter als ei­ ren Symptomen (z. B. Chemosis, Diplopie) kann eine Glu­
tere spielen vermutlich auch eine Schlüsselrolle bei der Pa­ ne subtotale Thyreoidektomie oder thyreostatische Therapie kokortikoidtherapie in Betracht gezogen werden. Operati­
thogenese der Krankheit. Die T-Zellen scheinen vom TSH- zu verschlechtern und kann sie auch auslösen. Durch die Be­ onen zur Orbitadekompression werden erwogen, wenn die
Rezeptor-Antigen aktiviert zu werden. Es besteht ein posi­ handlung der Hyperthyreose verkleinert sich zwar die Lid­ Orbitopathie trotz der Glukokortikoidtherapie fortschrei­
tiver Zusammenhang zwischen der Schwere der Orbitopa­ spalte, die endokrine Orbitopathie wird aber nicht behoben. tet, das Sehvermögen gefährdet ist oder bei schwerer Pro­
thie und dem Serumspiegel der TSH-Rezeptor-Antikörper. Außerdem besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen ptose eine kosmetische Indikation besteht.
44 2  Schilddrüse

Schilddrüsenpathologie bei Basedow-Krankheit


Bei der Basedow-Krankheit ist die Schilddrüse am stärks­
ten von anatomischen Veränderungen betroffen, wobei Symphysis Os hyoideum
mandibulae
auch in anderen Organen typische Veränderungen mög­
lich sind. Die beim gesunden Erwachsenen normalerweise
15–20 g wiegende Schilddrüse ist bei Basedow-Krankheit
in der Regel 2–4-mal so groß und kann sogar um den Fak­
tor 10 vergrößert sein. Nur selten fehlt die Schilddrüsen­
vergrößerung bei der Basedow-Krankheit. Die Schilddrüse
ist mehr oder weniger symmetrisch diffus vergrößert und
gestaut, was sich gut in der Szintigrafie nach Gabe einer
Testdosis von radioaktivem Iod darstellen lässt. Wie hier
gezeigt, reichern derart veränderte Schilddrüsen radioakti­
ves Iod gleichmäßig diffus an. Trotz der diffusen Verände­ Fossa jugularis
rung und offensichtlichen Symmetrie der Schilddrüse fan­
Szintigrafie
den einige Chirurgen einen Lappen – wenn auch nur ge­
ringfügig – stärker vergrößert als den anderen. Typisch ist
eine gut tastbare Vergrößerung des Pyramidenlappens,
der über den Isthmus auf die eine oder andere Seite der Mittelgroße diffuse Struma
Trachea reicht. Die vergrößerte Schilddrüse imponiert bei
der Palpation fest, glatt und gummiartig. Typisch ist die
starke Durchblutung, die zu einem Strömungsgeräusch
(meist über den oberen Polen beider Schilddrüsenlappen
zu hören) sowie gelegentlich zu einem tastbaren Schwirren
über den Seitenlappen führt. Unbehandelt ist die Schild­ Diffuse Vergrößerung
drüse stark vaskularisiert und brüchig und kann intraope­ und Stauung der Schilddrüse
(Die gestrichelte Linie zeigt die
rativ stark bluten.
normale Drüsengröße)
Histologisch ist die unbehandelte Schilddrüse diffus hy­
perplastisch. Für gewöhnlich enthalten die Follikel kein
Kolloid mehr. Das verbliebende Kolloid färbt kaum an und
zeigt Randvakuolen. Die Schilddrüsenzellen sind hypertro­
phiert und hyperplastisch. Die normalerweise flach kubi­
schen Azinuszellen werden hochkubisch oder zylindrisch
und sind doppelt so hoch wie die normalen Azinuszellen
der Schilddrüse. Manchmal besteht eine so ausgeprägte
Azinuszellhyperplasie, dass es zur intraazinären papillären
Einfaltung kommt.
Neben der deutlichen Hyperplasie besteht auch eine er­
höhte Avidität für radioaktiv markiertes Iod. Die normale
Iodaufnahme beträgt nach 6 Stunden 3–16 % und nach 24
Stunden 8–25 %; bei Basedow-Krankheit beträgt sie fast
immer > 50 % und kann sogar 80–90 % erreichen.
Bei einigen wenigen Patienten mit lange bestehender Diffuse Hyperplasie Hyperplasie mit Lymphozyteninfiltrat
Basedow-Krankheit geht die Hyperplasie mit signifikanten
bis ausgedehnten Lymphozyteninfiltraten (überwiegend Abb. 2.11 
T-Lymphozyten) des Schilddrüsenparenchyms einher; ge­
legentlich können auch große Lymphfollikel vorhanden
sein. Die Lymphozyteninfiltrate verringern sich unter thy­ sich vermehrt Flüssigkeit und Fett (›  Abb.  2.10). Diese
reostatischer Therapie. Die Größe der follikulären Epithel­ Muskeln sind ebenso wie die Skelettmuskeln ödematös ge­
zellen korreliert mit der Größe des lokalen Lymphozyten­ schwollen mit Rundzellinfiltraten, Hyalinisierung, Fragmen­
infiltrats, was eine lokale Stimulation der Schilddrüsenzel­ tierung und Destruktion. Die Hyperthyreose kann sich direkt
len durch TSH-Rezeptor-Antikörper nahelegt. oder indirekt auf das zentrale und das periphere Nervensys­
Weitere anatomische und funktionelle Veränderungen tem auswirken, ebenso die autoimmune Natur der Basedow-
finden sich an Augen, Haut, Skelettmuskeln, Nervensystem, Krankheit (z. B. Myasthenia gravis). Das Herz kann vergrö­
Herz, Leber, Thymus und Lymphgeweben. Die Augen treten ßert sein, weist aber keine typischen oder pathologischen
oft aus den Augenhöhlen und die äußeren Augenmuskeln Veränderungen auf. In der Regel sind Thymus und Lymph­
sind vergrößert und ödematös; im Retroorbitalraum finden gewebe im Sinne einer einfachen Hypertrophie vergrößert.
Klinisches Bild bei toxischem Adenom und toxischer Knotenstruma 45

Klinisches Bild bei toxischem Adenom


und toxischer Knotenstruma
Die Hyperthyreose bei toxischem Adenom und toxischer Nervosität,
Geringeres Schwitzen Geringer
Knotenstruma entsteht durch hormonaktive Adenome, Übererregbarkeit,
als bei Basedow-Krankheit als bei
die zweithäufigste Ursache einer Hyperthyreose nach der Rastlosigkeit,
Basedow-
emotionale Labilität,
Basedow-Krankheit. Bei der Knotenstruma führen die von Krankheit
Patienten meistens Schlaflosigkeit
TSH unabhängigen Follikelzellen zur Hyperthyreose. Das ≥ 40 Jahre alt
Keine Ophthalmopathie
klinische Bild dieser Form der Hyperthyreose unterschei­
det sich in einigen wichtigen Punkten von der Basedow- Geringerer Muskelschwund
als bei Basedow-Krankheit Knotenstruma
Hyperthyreose. Patienten mit Knotenstruma sind oft älter
als 40 Jahre und es sind häufig seit Langem ein oder meh­ Nicht so warme Haut
Deutliche Dyspnoe wie bei Basedow-
rere Knoten in der Schilddrüse bekannt. Es bestehen Krankheit
grundsätzlich kardiovaskuläre Symptome, sodass zuerst Deutliche Tachykardie,
Geringere Brustver-
die Überweisung zum Kardiologen und erst dann zum En­ größerung oder oft Vorhofflimmern,
dokrinologen erfolgt. Die Patienten klagen über starke Gynäkomastie als oft Herzinsuffizienz
bei Basedow- Geringerer Tremor als
Luftnot und es besteht eine Tachykardie, die oft mit Vor­ Krankheit bei Basedow-Krankheit
hofflimmern einhergeht. Bei einer Herzinsuffizienz treten
Geringerer Gewichts-
alle entsprechenden Symptome und Befunde auf, einzige verlust als bei Keine Trommelschlägel-
Ausnahme ist die im Gegensatz zur Basedow-Krankheit Basedow-Krankheit finger, keine
Nagelveränderungen
normale Zirkulationszeit. Außerdem haben diese Patien­
Sehr schneller Puls Geringere Muskelschwäche
ten keine Orbitopathie und nur selten retrahierte Augenli­
als bei Basedow-Krankheit
der oder minimal vergrößerte Lidspalten. Es besteht weder Handflächen weniger Kein prätibiales Myxödem
eine Akropachie der Schilddrüse noch ein prätibiales Myx­ feucht als bei
Basedow-Krankheit
ödem. Die Muskelschwäche ist bei dieser Form der Hyper­
thyreose nicht so ausgeprägt wie bei der Basedow-Krank­
heit und auch der Grundumsatz ist weniger stark erhöht; Patientinnen
diese Patienten sind weder besonders nervös noch reizbar. meist postmenopausal
In der Regel besteht kein deutlicher Gewichtsverlust oder
Muskelschwund, wie er für die Basedow-Krankheit typisch Knöchelödem
(Herzinsuffizienz)
ist. Da ein Großteil der weiblichen Patienten postmeno­
pausal ist, fehlen die bei der Basedow-Krankheit oft vor­
handenen Störungen des Menstruationszyklus.
Die Pathogenese des toxischen Adenoms und der toxi­
Grund- Blutuntersuchungen:
schen Knotenstruma hängt oft mit aktivierenden somati­ umsatz TSH reduziert
schen Mutationen des für den TSH-Rezeptor kodierenden Mittelstark Freies T4 erhöht
erhöht Gesamt-T3 erhöht
Gens zusammen. Die toxische Knotenstruma ist in Gegen­
Laborbefunde

(25–30 %) TSH-Rezeptor-Antikörper negativ


den mit unzureichender Iodversorgung häufiger, während Gesamt- und HDL-Cholesterin reduziert
Geschlechtshormonbindendes Globulin erhöht
die Inzidenz solitärer toxischer Schilddrüsenadenome 131
I-Aufnahme Estradiol erhöht (bei Männern und Frauen)
nicht von der Iodaufnahme abzuhängen scheint. Weniger stark er- Osteokalzin und knochenspezifische alkalische
Die Patienten haben leicht erhöhte Serumspiegel von höht als bei Base- Phosphatase erhöht
dow-Krankheit (40 bis
freiem Thyroxin (T4) und Gesamt-Triiodothyronin (T3) 55 %), beschränkt auf
und die Serumspiegel von Gesamtcholesterin und HDL- hormonaktives Adenom
Cholesterin sind leicht reduziert.
Bei der Diagnostik sind Untersuchungen mit radioaktiv Abb. 2.12 
markiertem Iod sehr hilfreich, vor allem wenn es fokal an­
gereichert wird. Obwohl das radioaktiv markierte Iod
nicht in gleichem Umfang wie bei der klassischen Base­ T3 erfolgt durch die Gabe von Thionamiden, eine Radio­ den behandelt werden. Die Radioiodtherapie ermöglicht
dow-Krankheit aufgenommen wird, erfolgt sie überwie­ iodtherapie oder eine Operation. eine dauerhafte Heilung; es löst einen ausgedehnten Gewe­
gend durch das hormonaktive Adenom, während das übri­ Bei älteren Patienten mit kardiovaskulärer Grunder­ beschaden aus und zerstört das autonome Adenom inner­
ge Schilddrüsengewebe nahezu gar kein Iod aufnimmt. Bei krankung sind häufig Thionamide (Methimazol und Pro­ halb von 2–4 Monaten nach der Behandlung. Da das Ra­
toxischer Knotenstruma finden sich jedoch meist ein oder pylthiouracil) die initiale Behandlung der Wahl. Im Gegen­ dioiod überwiegend von hormonaktiven Adenomen aufge­
mehrere fokale Bereiche mit vermehrter Aufnahme von satz zur Basedow-Hyperthyreose, die nach dem Absetzen nommen wird und das dazwischen liegende normale
radioaktiv markiertem Iod; einige dieser Patienten weisen des Thionamids in Langzeitremission gehen kann, rezidi­ Schilddrüsengewebe hormoninaktiv ist, sind die meisten
auch hormoninaktive („kalte“) Knoten auf. viert die Hyperthyreose durch ein toxisches Adenom oder Patienten nach der Radioiodtherapie euthyreot. Wegen der
Die Behandlung der Hyperthyreose zielt auf die Sym­ eine toxische Knotenstruma jedoch nach Absetzen der geringeren Heilungsrate der Radioiodtherapie bei sehr
ptomlinderung und die Reduktion der übermäßigen Pro­ Substanz. Ziel der Thionamidgabe ist das Erreichen einer großen toxischen Knotenstrumen ist in diesen Fällen eine
duktion von Schilddrüsenhormonen ab. Viele der hyper­ Euthyreose vor der definitiven Behandlung (z. B. Radioiod­ Operation das Verfahren der Wahl.
metabolen Symptome der Hyperthyreose lassen sich durch therapie oder Operation). Junge, sonst gesunde Patienten
Betablocker kontrollieren. Die Normalisierung von T4 und müssen vor der definitiven Therapie nicht mit Thionami­
46 2  Schilddrüse

Pathophysiologie von toxischem Adenom


und toxischer Knotenstruma
Hormonaktive Adenome der Schilddrüse sind die zweit­
häufigste Ursache der Hyperthyreose. Das Syndrom tritt in
der Regel bei Patienten auf, die zuvor eine hormoninaktive
Knotenstruma hatten. Im typischen Fall handelt es sich
um eine Frau mittleren Alters, die mit kardiovaskulären
Beschwerden, die von Palpitationen und Dyspnoe bis zu
chronischem Vorhofflimmern und manifester Herzinsuffi­
zienz reichen können, vorstellig wird. Die hyperthyreote
Herzinsuffizienz hat einige typische Merkmale, die zur Un­
tersuchung der Schilddrüse veranlassen sollten. Es besteht
eine Herzinsuffizienz mit erhöhtem Herzminutenvolumen
und trotz des erhöhten Venendrucks eine verkürzte Zirku­
lationszeit. Weitere extrathyroidale Veränderungen bei ei­
ner Hyperthyreose durch hormonaktive Adenome sind
selten. Es treten weder die für die Basedow-Krankheit typi­
schen Augensymptome noch die Akropachie der Schild­
Szintigrafie
drüse, das prätibiale Myxödem oder die Muskelschwäche
auf. Überaktives Adenom
Das typische Bild dieser Erkrankung findet sich bei den
wenigen Patienten, die nur ein einziges hormonaktives
Adenom in der Schilddrüse aufweisen, das signifikant ver­
größert sein kann, während der Rest der Schilddrüse aus­
gespart ist. Im Rest der Drüse finden sich keine palpablen
Knoten und sie kann sogar kleiner sein als normal. In der­
artigen Fällen besteht ein eindrucksvoller Unterschied
zwischen dem kleinen oder nicht tastbaren verschonten
Lappen und dem einzelnen großen Knoten im anderen
Lappen. Strömungsgeräusche und Schwirren sind für hor­
monaktive Schilddrüsenadenome untypisch. Bei Gabe ei­
ner Testdosis von radioaktiv markiertem Iod zeigt die
Szintigrafie nach 24 Stunden, dass das gesamte Iod im
Knoten angereichert wurde, während der Rest der Drüse
keinerlei Iod aufgenommen hat.
Makroskopisch ist der Knoten oft rot und die übrige
Drüse blass.
Histologisch zeigt das hormonaktive Adenom eine
gleichmäßige Hypertrophie und Hyperplasie der Azinus­
zellen. Vereinzelt sind papilläre Einfaltungen vorhanden,
die aber bei der diffusen Drüsenhyperplasie der Basedow-
Krankheit weitaus häufiger auftreten. Ein lymphozytäres
Infiltrat findet sich nicht. Der Rest der Drüse hat sich zu­
rückgebildet. Die Azinuszellen sind mit 12–14 μm höher Drüsenrest – Involution Adenom – Hyperplasie
als normal, während die Zellhöhe im verschonten Gewebe
oft mit 5–6 μm niedriger ist als normal. Abb. 2.13 
Das toxische Adenom ist ein echtes follikuläres Ade­
nom mit einer von mehreren somatischen Punktmutatio­
nen in dem für den TSH-Rezeptor kodierenden Gen, die in vielen von ihnen Anteile entdifferenzierter Adenome unterscheiden sich vom umgebenden Gewebe. Diese mul­
zur Aktivierung des TSH-Rezeptors in Abwesenheit von finden, während andere unterschiedlich stark differenziert tinodulären Schilddrüsen enthalten inmitten von suppri­
TSH führen. sind und wieder andere gut differenziert und funktionell. miertem normalem Schilddrüsengewebe multiple solitäre
Die häufigere hormonaktive „multinoduläre“ adenoma­ Die bei solitären toxischen Adenomen nachgewiesenen hormonaktive und hormoninaktive Adenome.
töse Struma tritt bei Patienten auf, die schon lange vor der somatischen Mutationen des TSH-Rezeptor-Gens finden
Hyperthyreose unter einer Knotenstruma litten. Dabei fin­ sich gelegentlich auch bei toxischen Knotenstrumen, kön­
den sich in der Drüse mehrere Adenome. Einige dieser nen aber von Knoten zu Knoten verschieden sein. Die Ra­
Knoten können hochgradig entdifferenzierte Adenome dioioduntersuchung zeigt eine Anreicherung in mehr als
sein und selten finden sich in einem der Knoten auch kan­ einem Knoten, während die Iodaufnahme im restlichen
zeröse Veränderungen. Bei einer Untersuchung aller mul­ Schilddrüsengewebe meist supprimiert ist. Histopatholo­
tinodulären Schilddrüsen würde man feststellen, dass sich gisch ähneln die funktionellen Bereiche Adenomen und
Klinisches Bild der Hypothyreose beim Erwachsenen 47

Klinisches Bild der Hypothyreose beim Erwachsenen


Symptome

Die primäre Hypothyreose wurde zwar erst 1874 beschrie­ Trockenes, brüchiges Haar Lethargie, Gedächtnisstörungen,
ben, ist aber eine häufige Endokrinopathie, die bei Frauen verlangsamte Denkprozesse
(evtl. Psychosen)
7–8-mal häufiger als bei Männern auftritt. Das klinische
Bild hängt davon ab, wie stark der Schilddrüsenhormon­
mangel ist und wie schnell die Serumspiegel von Thyroxin Verdickte Zunge,
Sprachverlangsamung
(T4) und Triiodthyronin (T3) abgesunken sind. Eine all­ Ödem von Gesicht
mählich einsetzende Hypothyreose wird oft jahrelang und Augenlidern
nicht diagnostiziert und die Patienten führen ihre Sympto­ Tiefe, heisere Stimme
me auf das Alter zurück. Außerdem wird das klinische Bild
der Hypothyreose von Begleiterkrankungen beeinflusst. Kälteintoleranz
Herzvergrößerung,
Bei einer Hypothyreose durch eine Erkrankung von Hypo­ leise Herztöne
thalamus oder Hypophyse stehen oft die Symptome einer
sekundären Nebenniereninsuffizienz, ein Hypogonadis­ Vermindertes
mus oder ein Diabetes insipidus im Vordergrund. Schwitzen Diastolische
Hypertonie (oft)
Die Pathophysiologie der Hypothyreose beruht auf
einer „Verlangsamung“ der meisten Stoffwechselprozes­ Raue (follikuläre
se. Oft sind die Patienten lethargisch mit verlangsamten Keratose), kalte,
trockene, gelbliche
Denkabläufen, verlangsamter Sprache, Kälteintoleranz, (Karotinämie) Haut
Obstipation und Bradykardie. Typisch ist trockenes,
brüchiges Haar, das eine etwaige Naturkrause verloren
hat. Bei ausgeprägter Hypothyreose kann eine Psychose Langsamer
entstehen. Durch die subkutane Akkumulation von Gly­ Puls
kosaminoglykanen entsteht ein Ödem an Gesicht und Menorrhagie
Augenlidern (periorbitales Ödem). Die Zunge ist dick (später auch
Amenorrhö)
und die Stimme tief und heiser mit verarmter Stimm­
melodie. Schwäche
Die Haut ist aufgrund der reduzierten Schweißbildung
Aszites
kühl und trocken und kann rau sein. Oft tritt an den
Streckseiten von Armen und Beinen, am lateralen Thorax
und an den Oberschenkelaußenseiten sowie gelegentlich
auf den Schultern eine an Schleifpapier erinnernde folliku­
läre Hyperkeratose auf. Die Haut an Händen und im Ge­
sicht verfärbt sich oft gelblich im Sinne einer Karotinämie. Refraktärzeiten
der Reflexe verlängert
Die Fingernägel sind brüchig und reißen leicht ein. Oft fällt
das Haar im lateralen Drittel der Augenbrauen aus. Vitili­
go und Alopezie sind bei polyendokriner Autoimmunin­
suffizienz möglich.
Der Puls ist bei Hypothyreose meist verlangsamt und es
besteht eine diastolische Hypertonie; Letztere entsteht
durch den erhöhten peripheren Gefäßwiderstand. Das Abb. 2.14 
Herzminutenvolumen ist reduziert und oft besteht eine be­
lastungsabhängige Dyspnoe. Typisch für eine ausgeprägte,
lange bestehende Hypothyreose ist eine diffuse Herzver­
größerung durch die myxödematöse Flüssigkeit im Myo­
kard und durch Perikardergüsse, die mit Pleuraergüssen
und sogar mit einem Aszites einhergehen können. Die
Herztöne sind leise. Der Cholesterinstoffwechsel ist redu­
ziert, sodass eine Hypercholesterinämie entsteht.
Die belastungsabhängige Dyspnoe entsteht auch durch
eine Schwäche der Atemmuskeln. Einige der Patienten
weisen eine Hypoxie und Hyperkapnie auf. Eine Makro­
glossie kann zu einem obstruktiven Schlafapnoesyndrom
beitragen.
Jüngere weibliche Patienten können eine so starke Me­
norrhagie entwickeln, dass eine Kürettage erforderlich ist.
Im späteren Verlauf tritt oft eine reversible sekundäre
Amenorrhö auf. Bei primärer Hypothyreose mit erhöhtem
TSH-Spiegel kann es durch die Stimulation der Prolaktin­
48 2  Schilddrüse

(Fortsetzung)

abgabe aus den laktotropen Zellen der Hypophyse zu Hy­


perprolaktinämie und Galaktorrhö kommen.
Neurologische Befunde sind eine verlängerte Relaxations­
zeit des Achillessehnenreflexes und eine allgemeine
Schwäche. Recht häufig findet sich ein Karpaltunnelsyn­
drom. Bei Hyponatriämie, Hyperkapnie und Hypothermie
besteht der Verdacht auf eine seltene Komplikation, das
Myxödemkoma. Es wird bei einer schweren Hypothyreose
durch die Gabe von Opiaten sowie durch Infektionen und
Traumen ausgelöst.
Die gelegentlich vorhandene hypochrome Anämie kann
mikrozytär oder normozytär oder seltener normochrom
und makrozytär sein. Bei polyglandulärer Insuffizienz
kann eine perniziöse Anämie vorhanden sein. Die bei hy­
pothyreoten prämenopausalen Frauen auftretende Menor­ Makroglossie mit dentalen Impressionen
rhagie kann zur Eisenmangelanämie und eine reduzierte
Clearance von freiem Wasser zur Hyponatriämie führen.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen primärer
(durch Erkrankungen der Schilddrüse selbst) und zentra­
ler Hypothyreose (durch Erkrankung von Hypophyse oder
Hypothalamus). Bei zentraler Hypothyreose kam es bei Pa­
tientinnen oft postpartal zu starken Blutungen, zur Unfä­
higkeit zu stillen und zum Ausbleiben des Menstruations­
zyklus nach dem Puerperium. Häufig gehen die Symptome
der Hypophyseninsuffizienz (z. B. Amenorrhö ohne Hitze­
wallungen) dem Myxödem um einige Zeit voraus. Die Pa­
tientinnen klagen über extreme Schwäche, Somnolenz,
Kälteintoleranz, Gedächtnisstörungen und kognitive Ver­
langsamung. Bei der körperlichen Untersuchung unter­ Typische Fazies bei Hypothyreose:
vergröberte Gesichtszüge, dicke Lippen, trockene Haut, geschwollene Augenlider,
scheiden sie sich von Patienten mit primärer Hypothyreo­ gedämpfter, lethargischer Gesichtsausdruck, raues Haar
se durch das Fehlen weiterer Hypophysenhormone. Da­
durch haben Patienten mit zentraler Hypothyreose oft
­feineres, weicheres Haar, keine Achsel- oder Schambehaa­
rung, ein kleines Herz (im Gegensatz zum vergrößerten
Herzen beim primären Myxödem), eine gewisse Hypoto­
nie und eine weniger trockene und nichtschuppende Haut.
Anamnese und körperliche Untersuchung liefern zwar
Anhaltspunkte für die Unterscheidung zwischen primärer
und sekundärer Hypothyreose, entscheidend sind aber die Pummelige Hände,
Serumspiegel von TSH und freiem T4. Bei der primären eingerissene Nägel, trockene,
Hypothyreose liegt der Serumspiegel von TSH in der Regel faltige Haut, Hyperkeratose am Ellenbogen
über und der Serumspiegel von freiem T4 normalerweise
unter dem Referenzbereich. Bei der zentralen Hypothyreo­ Abb. 2.15 
se durch eine Funktionsstörung von Hypothalamus oder
Hypophyse ist der Serumspiegel von TSH, gemessen am
reduzierten Serumspiegel von freiem T4, unverhältnismä­
ßig niedrig. Die Anreicherung von radioaktiv markiertem
Iod ist bei beiden Formen der Hypothyreose reduziert.

Ätiologie

Am häufigsten ist die primäre Hypothyreose mit reduzier­


ter Sekretion von T4 und T3. Sie entsteht, wenn Schilddrü­
sengewebe zerstört oder entfernt oder atrophiert und
durch fibröses Gewebe ersetzt wird. Wenn eine Struma
durch die Gabe von Medikamenten, welche die Iodination
hemmen, oder durch einen Defekt des für die Synthese von
Schilddrüsenhormonen erforderlichen Enzyms keine
Schilddrüsenhormone produzieren kann, entsteht eben­
Klinisches Bild der Hypothyreose beim Erwachsenen 49

(Fortsetzung)

falls eine primäre Hypothyreose. Eine weitere Ursache ist


eine chronische Autoimmunthyreoiditis, wie die Hashi­
moto-Thyreoiditis. Die zentrale Hypothyreose entsteht
durch die reduzierte Freisetzung von TSH-releasing-Hor­
mon aus dem Hypothalamus oder von TSH aus der Hypo­
physe.
Die häufigste Ursache der primären Hypothyreose ist
die Hashimoto-Thyreoiditis, am zweithäufigsten sind iat­

Primäre Hypothyreose
rogene Ursachen. So entwickeln die meisten Patienten
nach einer Thyreoidektomie aufgrund einer hormoninak­
tiven Struma oder einer Basedow-Krankheit eine primäre
Hypothyreose. Bei der Basedow-Krankheit erfolgt meist Nach Behandlung der Basedow-Krankheit
Nach Thyreoidektomie mit radioaktivem Iod
eine Radioiodtherapie, um die Schilddrüse komplett zu
zerstören und eine primäre Hypothyreose herbeizuführen.
Die Hashimoto-Thyreoiditis ist die häufigste spontane Ur­
sache der primären Hypothyreose und auch nach einer
subakuten oder akuten Thyreoiditis kann eine vorüberge­
hende primäre Hypothyreose entstehen (›  Abb.  2.22).
Typisch für eine Hashimoto-Thyreoiditis ist ein hoher Se­
rumspiegel von Thyreoperoxidase-Antikörpern.
Eine zentrale Hypothyreose entsteht durch zahlreiche
Prozesse des Hypophysenvorderlappens, die zum Verlust Nach akuter Thyreoiditis Nach Hashimoto-Thyreoiditis
der TSH-Sekretion führen. Ein TSH-Mangel kann isoliert
Zentrale Hypothyreose (hypothalamisch oder hypophysär)

auftreten (z. B. bei lymphozytärer Hypophysitis) oder häu­


figer im Rahmen einer kompletten HVL-Insuffizienz
(› Abb. 1.16) durch eine Entzündung, einen Infarkt (z. B.
postpartale Apoplexie), primäre Neoplasien, Metastasen,
infiltrative Krankheiten (z. B. Sarkoidose, Langerhans-
Zell-Histiozytose, Hämochromatose), Operationen, Schä­
deltraumen oder Strahlentherapie (› Kap. 1). Bei diesen TSH-Mangel TSH-Mangel TSH-Mangel
Patienten ist zur ätiologischen Klärung eine kraniale MRT
indiziert.

Behandlung

Primäre und sekundäre Hypothyreosen werden durch die


Postpartaler Destruktiver Isolierter TSH-Mangel
tägliche orale Gabe von L-Thyroxin behandelt. Die Dosis Hypophyseninfarkt Hypophysentumor (z.B. lymphozytäre
wird bei Patienten mit primärer Hypothyreose anhand des Hypophysitis)
TSH-Serumspiegels angepasst. Ziel ist ein TSH-Spiegel in Panhypopituitarismus
der Mitte des Referenzbereichs. Bei zentraler Hypothyreo­
se ist der TSH-Serumspiegel nutzlos, sodass die Dosisan­ Abb. 2.16 
passung anhand des Serumspiegels von freiem T4, der im
mittleren Referenzbereich liegen sollte, erfolgt. Vor der
Einleitung der L-Thyroxin-Therapie muss bei zentraler
­Hypothyreose jedoch die Hypothalamus-Hypophysen-Ne­
bennieren-Achse untersucht werden. Da L-Thyroxin den
Cortisolstoffwechsel beschleunigt, kann es bei unbehan­
delter Nebenniereninsuffizienz eine Addison-Krise auslö­
sen.
50 2  Schilddrüse

Kongenitale Hypothyreose
Die kongenitale Hypothyreose ist die häufigste vermeidba­
re, behandelbare Ursache geistiger Retardierung. Der spä­
tere Intelligenzquotient verhält sich umgekehrt proportio­
nal zum Alter bei Diagnosestellung, weshalb eine frühzeiti­
ge postpartale Diagnose entscheidend ist. Die häufigste
Ursache ist eine Schilddrüsendysgenesie, wie ihr kongeni­
tales Fehlen (Agenesie), eine Hypoplasie oder eine Ektopie. Athyreote kongenitale Kongenitale Hypothyreose
Hypothyreose (sporadisch) mit Struma (endemisch,
Seltener hängt die kongenitale Hypothyreose mit hor­mon­ sporadisch, genetisch)
inaktiven Strumen oder mit Strumen zusammen, die an­

140
geborene Fehler der Schilddrüsenhormon-Biosynthese
aufweisen. Die Synthesedefekte werden meist autosomal-

130
rezessiv vererbt und umfassen Störungen der Thyreoper­
oxidase-Aktivität, einen anormalen Iodtransport und

120
anormale Thyreoglobulinmoleküle. Dieses Krankheitsbild Säugling mit nur
leichten Zeichen
tritt bevorzugt in Gebieten mit endemischer Struma auf,

110
einer kongenitalen
die kongenitale hypothyreote Struma wurde aber auch in Hypothyreose
Gegenden beobachtet, für die Strumen ungewöhnlich sind.

100
Die zentrale (hypothalamische oder hypophysäre) Hy­
pothyreose ist eine weitaus seltenere Ursache der kongeni­

90
talen Hypothyreose (1 von 100.000 Lebendgeburten) und
lässt sich nur durch Bestimmung des Serumspiegels von T4

80
nachweisen. Sie kann im Rahmen von Mittellinienfehlbil­

Zentimeter
dung auftreten (z. B. Lippen-Gaumen-Spalte, septoopti­

70
sche Dysplasie) und mit dem Mangel anderer HVL-Hor­
mone einhergehen.

60
Bei der Geburt können nur leichte oder gar keine kör­
Ältere
perlichen Symptome der kongenitalen Hypothyreose vor­

50
Patientin
liegen, da ein Teil des mütterlichen T4 die Plazentaschran­ mit unbe-
ke passieren kann. In mehr als 85 % der Fälle tritt die kon­ handelter
40
kongeni-
genitale Hypothyreose sporadisch auf und wird daher taler Hypo-
30

nicht vermutet. In der Mitte der 1970er-Jahre wurde in den thyreose


USA ein landesweites Neugeborenen-Screeningprogramm
20

entwickelt. Dabei erfolgt 24–48 Stunden postpartal die Be­


stimmung von TSH, T4 oder beiden auf einer Testkarte aus
10

Fersenblut. Anhand dieser Daten schwankt die Inzidenz Kleinkind mit


deutlichen Zeichen
erhöhter TSH-Serumspiegel abhängig von geografischer einer unbehandelten
Lage und Rasse zwischen 1 auf 2.000 und 1 auf 32.000 Le­ kongenitalen Hypothyreose
bendgeborene. Bei weiblichen Neugeborenen ist die kon­
genitale Hypothyreose etwa doppelt so häufig wie bei
männlichen. Durch einen raschen Schilddrüsenhormoner­
satz lassen sich die sonst unvermeidbaren Behinderungen
verhindern.
Unbehandelt entwickeln Kinder mit kongenitaler Hy­ Abb. 2.17 
pothyreose ähnliche Symptome wie Erwachsene mit Hy­
pothyreose, allerdings mit einigen wichtigen Unterschie­
den. Skelettwachstum und Reifung sind verzögert und es Kinder mit unbehandelter kongenitaler Hypothyreose handen. Auch bei jugendlichen Patienten mit unbehandel­
besteht eine deutliche geistige Retardierung mit reduzier­ haben ein rundes Gesicht mit stumpfem Gesichtsausdruck ter kongenitaler Hypothyreose findet sich oft viel feines,
ter Intelligenz. Die Entwicklung von Ossifikationszentren und gelblicher Farbe. Die Augenlider sind geschwollen kurzes Lanugohaar auf Schultern, Oberarmen und Gesicht.
ist verzögert und die Epiphysen zeigen eine typische und die Lidspalten meist eng, aber horizontal. Die Nase ist Die körperlichen Merkmale von Kindern mit kongeni­
Sprenklung. Ossifikation, Epiphysenschluss und Dentition oft flach und dick, die Lippen verdickt. Der Mund steht of­ taler Hypothyreose ähneln denen von Kindern mit Triso­
sind verzögert. Die Schädelbasis ist häufig kurz mit Persis­ fen und die große, dicke Zunge ragt aus dem Mund. Die mie 21. Patienten mit Trisomie 21 haben feinere Gesichts­
tenz der präsphenoidalen und postsphenoidalen Knorpel­ Stimme ist flach und rau. Der Hals ist in der Regel kurz züge, keine raue Haut, schräg gestellte Augen, eine Vierfin­
zentren, die normalerweise im 8. Entwicklungsmonat ver­ und dick. Die Haut ist trocken und kühl und nicht ein­ gerfurche und überstreckbare Gelenke. Außerdem liegen
knöchern. Aufgrund der verzögerten Ossifikation der drückbar ödematös geschwollen. Häufig besteht eine deut­ die Serumspiegel von TSH und T4 bei Trisomie 21 im Refe­
membranösen Knochen ist die Stirnnaht oft breit und die liche Hyperkeratose über der vorderen Bauchwand. Die renzbereich.
anterioren Fontanellen sind außergewöhnlich groß. Haare sind fein, stumpf, trocken und oft nur spärlich vor­
Euthyreote Struma 51

Euthyreote Struma
Die euthyreote (nichttoxische) Struma tritt weltweit auf, ist
aber in Iodmangelgebieten am häufigsten. Bei der Iodman­
gelstruma besteht eine typische Vergrößerung der Schild­
drüse, sodass bei Jungen und Mädchen etwa zum Zeitpunkt
der Pubertät eine mittelgroße, nichttoxische, diffuse Struma
entsteht. Manche Strumen sind zunächst diffus und werden
später knotig, verhärten partiell und bilden zystische Berei­
che. Knotenstrumen sind mehr oder weniger symmetrisch
oder auch sehr asymmetrisch. Unbehandelt kann eine der­
artige Struma bis unter das Sternum herabwachsen, sodass
eine intrathorakale Struma entsteht. Mit zunehmender
Strumagröße und insbesondere bei Lage hinter dem Ster­
num treten durch die Verdrängung von Trachea, Ösopha­
gus, Nerven oder Jugularvenen obstruktive Symptome auf,
da der Thoraxeingang klein ist (≈ 5 × 10 cm) und knöcherne
Grenzen besitzt (lateral die Rippen, posterior der 1. Brust­
wirbelkörper und anterior Manubrium und Sternum). In
der Regel wachsen multinoduläre Strumen sehr langsam Euthyreote, diffuse Struma mittlerer Größe
und es entwickeln sich schleichend obstruktive Symptome.
Erstes Symptom einer substernalen Struma ist oft eine Be­
lastungsdyspnoe. Mit zunehmender Tracheaobstruktion Große diffuse Struma
tritt ein Stridor auf. Weitere Symptome durch das Thoracic-
Inlet-Syndrom sind eine Dysphagie, eine Stimmbandläh­
mung durch Kompression des N. laryngeus und ein Horner-
Syndrom durch Kompression des zervikalen Sympathikus­
ganglions. Bei der körperlichen Untersuchung lässt sich die
obere Brustkorbenge durch das Pemberton-Zeichen nach­
weisen. Dazu wird der Patient gebeten, die Arme 1 Minute
lang senkrecht nach oben zu halten; bei deutlicher Gesichts­
rötung, Zyanose oder Stridor gilt ein Thoracic-Inlet-Syn­
drom als gesichert.
Gelegentlich kann eine Knotenstruma in einem Bereich
plötzlich an Größe zunehmen, sodass Schmerzen entstehen,
die zum Ohr, in Halsstrukturen oder in die Schulter weiter­
geleitet werden. Ursache ist oft die Blutung in einen Follikel
oder in ein Adenom oder eine große Schilddrüsenzyste.
In derartigen multinodulären Strumen finden sich un­
terschiedliche Adenomformen mit unterschiedlicher His­
tologie. Manche sind hormonaktiv und können zur Hyper­
thyreose führen (sogenannter heißer Knoten, › Abb. 2.12
und › Abb. 2.13). In diesen multinodulären Strumem ist Knoten-
strumen
Krebs weitaus seltener als bei einzelnen Schilddrüsenkno­
ten, trotzdem ist ein Karzinom in einer multinodulären
Struma nicht ausgeschlossen. Abb. 2.18 
Eine Hyperthyreose wird durch Messung des TSH-Spie­
gels ausgeschlossen. Der Ultraschall der Schilddrüse hilft
bei der Beurteilung der Struktur der suprasternalen Kom­
ponente einer multinodulären Struma. Die Ausdehnung
einer substernalen Struma lässt sich mittels CT oder MRT
bestimmen. Bei deutlichen Knoten lässt sich die Pathophy­
siologie durch eine Feinnadelaspiration unter sonografi­
scher Kontrolle ermitteln.
Indikationen für die operative Entfernung derartiger
Schilddrüsen sind: (1) kosmetische Gründe, aus denen der
Patient die Entfernung der Drüse wünscht, (2) eine plötzli­
che Vergrößerung der Drüse, vor allem wenn der wachsen­
de Bereich hart und daher malignomverdächtig ist, und (3)
vor allem die Korrektur obstruktiver Symptome durch die
Einklemmung von Trachea oder Ösophagus durch die
Schilddrüse.
52 2  Schilddrüse

Makroskopische Pathologie der Struma


Der Begriff „Struma“ bezeichnet eine Vergrößerung der
Schilddrüse. Allgemein hängt die Prävalenz der Struma
von der Iodaufnahme mit der Nahrung ab. Daher sind
Strumen in Iodmangelgebieten endemisch. Im Frühstadi­
um ist die nichttoxische Struma für gewöhnlich diffus und
gleichmäßig vergrößert mit Größenzunahme des Pyrami­
denlappens. Dies wird als diffuse, nichttoxische oder kollo­
ide Struma bezeichnet. Hormoninaktive Strumen sind bei
Frauen 8-mal häufiger und zeigen sich oft in der Jugend
oder bei einer Schwangerschaft. Derartige Drüsen sind
mindestens 2–3-mal größer als normal. Der Patient be­
merkt die Erkrankung, weil anderen der verdickte Hals
auffällt, sich Hemdkragen zu eng anfühlen oder Schluck­
störungen auftreten. Große Strumen können die Trachea
komprimieren und zu einem Stridor führen. Möglicher­
weise besteht eine obere Einflussstauung. Die meisten ein­ Diffuse Kolloidstruma
fachen und multinodulären Strumen sind euthyreot.
Bei der körperlichen Untersuchung ist die Drüse fest,
aber nicht verhärtet. Bei fortschreitender Struma wird die
Schilddrüse im Laufe des Lebens makroskopisch asymme­
trisch und multinodulär und es zeigen sich signifikante
Veränderungen in Größe und Struktur der Knoten. Bei
sehr lange bestehender Knotenstruma finden sich Blutun­
gen in verschiedenen Drüsenbereichen, Zysten, eine Fibro­
se und sogar Kalzifizierungen. Im Thorax-Röntgen führen
asymmetrische Strumen typischerweise zur Lateralverla­
gerung der Trachea; außerdem kann die retrosternale Aus­
dehnung einer derartigen Struma bei Verkalkung eine int­ Knotenstruma mit Knoten
rapulmonale Kalzifikation vortäuschen. unterschiedlicher Struktur
Die Schnittfläche einer Kolloidstruma ist gleichmäßig und Größe
bernsteinfarben und durchscheinend. Kolloidstrumen
können 40–1.000 g oder mehr wiegen. Die Schilddrüsen­
form ist verändert und knotig, wobei einige Knoten partiell
oder komplett von der Drüse getrennt sind. Makrosko­
pisch zeigen sich knotige, fibrotische, hämorrhagische und
kalzifizierte Bereiche. Manche Knoten weisen zystische
Veränderungen auf, andere eine verdickte fibröse Bindege­
webskapsel und sie ähneln einem follikulären Neoplasma.
Die Feinnadelbiopsie mit Zytologie der kolloiden Kno­
ten zeigt in der Regel kolloide und gemischte Zellpopulati­
onen mit relativ wenigen Zellen im Aspirat. Die für ge­ Lange bestehende Knotenstruma mit Einblutungen,
wöhnlich bei der zytologischen Untersuchung nachgewie­ Zystenbildung, Fibrose und Kalkeinlagerungen
senen Zelltypen sind follikuläre Zellen mit einheitlichen
Abb. 2.19 
Kernen, Entzündungszellen und oxyphile Zellen. Hyper­
zelluläre Foci in einer multinodulären Struma ähneln einer
follikulären Neoplasie.
Histologisch kann eine kolloidale Knotenstruma jede Selten finden sich in diesen Knoten unterschiedliche
Form von benignen Adenomen enthalten: hochgradig ent­ Karzinomformen, wie differenzierte Schilddrüsenkarzino­
differenzierte trabekuläre Muster oder als frühestes Diffe­ me (papilläre und follikuläre). Sie sind jedoch in multi­
renzierungsstadium eine tubuläre Struktur, Mikrofollikel nodulären Strumen seltener als bei einzelnen Adenomen.
oder ein hyperplastisches Adenom. Die Follikel, die in der Das Thoracic-Inlet-Syndrom ist die wichtigste Indikation
Regel von einem abgeflachten, zurückgebildeten Epithel für eine therapeutische Intervention und es muss immer
ausgekleidet sind, können einen Durchmesser von bis zu die Möglichkeit eines kleinen Malignoms in Erwägung ge­
2 mm erreichen. Große Follikel können auch zu zystischen zogen werden.
Bereichen verschmelzen.
Ätiologie der euthyreoten Struma 53

Ätiologie der euthyreoten Struma


Die Entwicklung einer nichttoxischen Struma, einer euthy­
Ätiologische Faktoren bei euthyreoter Struma
reoten Schilddrüsenvergrößerung (diffus oder nodulär), Iodmangel
Ernährungsbedingt
die nicht durch eine Neoplasie oder eine Entzündung be­ Thyreotropin-(TSH-)Rezeptor-Störung
dingt ist, lässt sich für gewöhnlich auf genetische oder Um­ TSH-Rezeptor-Mutationen
Blockade des Natriumiodid-Symporters (NIS)
gebungsfaktoren zurückführen, welche die Sekretion von Iod
Thiozyanat (z.B. Millet, Cassava)
Schilddrüsenhormonen reduzieren, worauf die Hypophyse Perchlorat
mit der vermehrten Ausschüttung von TSH reagiert. So NIS-Genmutationen
Pendrinfunktionsstörung
führt ein Iodmangel zur verminderten Produktion von T4 Pendred-Syndrom Blut Follikelzellen
Hemmung der Thyreoidperoxidase (TPO)
und T3 in der Schilddrüse mit erhöhter TSH-Sekretion, die Thyreostatika (z. B. Propylthiouracil,
das Wachstum der Schilddrüse fördert. Iodmangel ist für Methimazol, Carbimazol) TSH
Thioharnstoff
gewöhnlich geografisch bedingt, da Wasser und Erde nur Phenole
Babassu-Kokosnuss
wenig Iod enthalten, insbesondere in den Bergen und un­ TPO-Genmutationen Kolloid
ter früheren Gletschern. Etwa 1 Milliarde Menschen leben Hemmung der Synthese und Funktion von
TSH

Re TSH-
tor
Thyreoglobulin
weltweit in Iodmangelgebieten und haben ein Risiko für Thyreoglobulin

zep
Bakterielle Verschmutzung (Aktivierung von Strumigenen)
Tg-Genmutationen
eine endemische Struma. Der Serumspiegel von Iod wird Hemmung der Freisetzung von Schilddrüsenhormonen Tg Tg
zum Teil durch Iodid ersetzt, das durch Deiodination von Iod (z.B. Meeresalgen)
Reduzierte Sensibilität gegenüber Schilddrüsen-
Iodthyroninen in peripheren Geweben aufrechterhalten hormonen THOX2
Mutationen des Schilddrüsenhormonrezeptorgens Tg + I–
wird. Letztendlich ist die Ernährung die wichtigste Quelle. Defekte der transmembranösen Schilddrüsen-
Die Schilddrüse benötigt täglich 75 μg Iod. In Nordamerika hormontransporter H2O2
Defekte der Deiodinasen
beträgt die tägliche Aufnahme von Iod 150–300 μg. Durch TPO
die Verwendung von iodiertem Speisesalz wurde die Inzi­ 2 Na+ 2 Na+
denz der Iodmangelstruma erheblich reduziert. Seitdem ist NIS T4
I– I– I– I– T3
die Beeinträchtigung oder Störung der Synthese von Tg
Pendrin
Schilddrüsenhormonen die häufigste Ursache der Struma. Reduzierte Dhal-1 I– I–
Es werden immer mehr Krankheitsbilder als Ursachen Hemmung des
Hypophysen-
der kongenitalen Hypothyreose und der nichttoxischen vorderlappens MIT, DIT
Struma erkannt, bei denen kongenitale Defekte eines Stoff­ T4 T TSH
3
wechselschritts, der für den intrathyroidalen Metabolis­ T4 + T3 T4 + T3 Tg
mus von Iod oder für die Synthese von Schilddrüsenhor­ Vermehrte
mon erforderlich ist, vorliegen. So gibt es inzwischen eini­ TSH-Freisetzung
ge Familien mit Struma und kongenitaler Hypothyreose
mit verschiedenen Mutationen des für den Natrium-Iod-
Symporter (NIS) kodierenden Gens mit einem Defekt des
Iodtransports. Mutationen der für die Synthese von Thy­
reoglobulin (Tg), Thyreoperoxidase (TPO) und TSH-Re­
zeptor verantwortlichen Gene führen jeweils zur nichttoxi­
schen Struma. Allerdings finden sich bei den meisten der­
Hyperplasie Hyperplasie Involution von
artigen Strumen keine Mutationen. Drüse und
plus Adenom
Beim Pendred-Syndrom ist die Schilddrüsenhormon­ Adenomen
synthese gestört und es besteht ein sensorineuraler Hör­ Hämorrhagie,
Zystenbildung,
verlust. Pendrin, das für den Iodtransport in das Lumen Fibrose,
der follikulären Schilddrüsenzellen verantwortliche Prote­ Kalkeinlagerungen
in, dient auch dem Ionen-Flüssigkeitstransport in der
Kochlea. Abb. 2.20 
Kongenitale Defekte der Organifizierung von Schilddrü­
senhormon führen zur Struma. Beispielsweise sind das
kongenitale Fehlen von TPO sowie die inadäquate Produk­ In einer länger bestehenden Schilddrüsenhyperplasie
tion von Wasserstoffperoxid durch die Thyreoidoxidase 2 entstehen unterschiedliche Arten von Knoten, die unvoll­
(THOX2) strumigen. ständig von einer Kapsel umgeben sind. Auf eine extreme
Einer partielle Resistenz gegen Schilddrüsenhormone Hyperplasie folgt eine Erschöpfung oder Involution. Das
können Mutationen des für den Schilddrüsenhormonre­ Epithel flacht ab, die Follikel füllen sich mit viskösem Kol­
zeptor kodierenden Gens (in der Regel Mutationen in der loid und schließlich treten hämorrhagische Zysten auf, von
T3-bindenden Domäne des Schilddrüsenrezeptor-β-Gens) denen einige fibrosieren oder kalzifizieren. Selten entsteht
oder Defekte der Schilddrüsenhormon-Transmembran­ in solch einer hyperplastischen Drüse ein Karzinom.
transporter sowie der für die intrazelluläre Aktivierung
von T3 zu T4 zuständigen Deiodinasen zugrunde liegen. Bei
Schilddrüsenhormonresistenz bestehen in der Regel eine
euthyreote Struma sowie über den Normalbereich erhöhte
Serumspiegel von T3 und T4.
54 2  Schilddrüse

Chronische lymphozytäre Thyreoiditis und Riedel-Struma


Chronische lymphozytäre (Hashimoto-) Hashimoto-Thyreoiditis
Thyreoiditis

Weltweit ist die Hashimoto-Thyreoiditis in Iodmangelregi­


onen die häufigste Ursache der primären Hypothyreose.
Diese chronische Autoimmunthyreoiditis geht mit zirku­
lierenden Antikörpern gegen Schilddrüsenantigene (Thy­
reoperoxidase und Thyreoglobulin) und einer diffusen
lymphozytären Infiltration der Schilddrüse einher. Sie ist
ebenso wie andere Autoimmunerkrankungen bei Frauen
häufiger (♀ : ♂ = 8 : 1). Außerdem besteht eine genetische
Prädisposition. Obwohl der Hormonvorrat der Schilddrü­
se ausreicht, um den Spiegel viele Jahre lang im Normbe­
reich zu halten, nimmt die Funktion irgendwann ab und
aus der subklinischen Hypothyreose wird eine klinische. Schilddrüsenperoxidase
und Thyreoglobulin Histologie bei Hashimoto-Thyreoiditis.
Häufig manifestiert sich die Hashimoto-Thyreoiditis im
Mischung aus hyperplastischen und
Alter von 20–40 Jahren. Pathologisch finden sich in der Antigene atrophischen Follikeln mit diffusem
Schilddrüse ein ausgeprägtes Lymphozyteninfiltrat (T- und Lymphozyteninfiltrat
Antikörper
B-Zellen), eine Follikeldestruktion und lymphoide Keim­
zentren.
Bei der körperlichen Untersuchung ist die Struma meis­ Messung der Konzentration der Antikörper gegen
Schilddrüsenperoxidase und Thyreoglobulin im Serum
tens asymptomatisch mit gewelltem Rand und höckeriger B-Zellen im Schilddrüsengewebe
Oberfläche. und extrathyreoidalen lymphatischen Gewebe

Nachdem die Diagnose der Hashimoto-Thyreoiditis Riedel-Struma


durch die erhöhten Antikörper gegen Thyreoperoxidase
und Thyreoglobulin gesichert und eine primäre Hypothy­
reose mit erhöhtem Serum-TSH belegt wurde, erfolgt eine
Behandlung mit L-Thyroxin. Eine Schilddrüsenbiopsie ist
zur Diagnose einer Hashimoto-Thyreoiditis meist nicht er­
forderlich. Außer bei symptomatischer, sehr großer Stru­
ma besteht üblicherweise keine Operationsindikation.

Riedel-Struma

Die Riedel-Struma (fibröse Thyreoiditis) ist eine seltene,


chronische, proliferative, invasive und fibrosierende
Schilddrüsenveränderung, die bevorzugt bei Männern vor­
Verlagerung und/ Vergrößerte
kommt. Sie kann so ausgedehnt sein, dass sie Trachea und Histologie der Riedel-Struma.
oder Kompression Schilddrüse
Ösophagus und die darüber liegenden Muskeln und Faszi­ Infiltrat aus Makrophagen und
von Trachea und Eosinophilen mit Follikelatrophie (Pfeile)
en verlagert und/oder komprimiert. Die Ursache dieser Ösophagus und ausgeprägter diffuser Fibrose
primär fibrosierenden Erkrankung ist unbekannt; einige
Patienten weisen auch eine retroperitoneale und mediasti­ Abb. 2.21 
nale Fibrose auf.
Mikroskopisch findet sich eine diffuse Schilddrüsenfib­
rose mit Infiltraten aus Makrophagen und Eosinophilen. to-Thyreoiditis sind oft die Antikörper gegen Thyreoper­
Typisch ist eine hölzerne Konsistenz. Die nicht betroffenen oxidase und Thyreoglobulin erhöht. Diese Patienten sind
Drüsenanteile zeigen unterschiedlich viele persistierende jedoch oft euthyreot mit normalem TSH-Serumspiegel. Bei
Azini, die vom umgebenden dichten, fibrösen Stroma verdächtigem körperlichem Untersuchungsbefund wird
komprimiert werden. die Diagnose der Riedel-Struma durch eine Schilddrüsen­
Bei der körperlichen Untersuchung imponiert eine biopsie bestätigt.
steinharte, oft asymmetrisch vergrößerte Schilddrüse, die Durch Glukokortikoide oder Tamoxifen kann die Pro­
mit den Nachbarstrukturen, aber nicht mit der Haut ver­ gression aufgehalten oder der fibrotische Prozess beendet
bunden ist. werden. Bei fortschreitender symptomatischer Trachea­
Die Patienten klagen über ein Druck- und Engegefühl kompression ist eine operative Intervention erforderlich.
im Hals, Dysphagie und Heiserkeit. Wie bei der Hashimo­
Subakute Thyreoiditis 55

Subakute Thyreoiditis
Typisch für die subakute Thyreoiditis (subakute granulo­
matöse Thyreoiditis, akute, nichteitrige Thyreoiditis oder
Thyreoiditis de Quervain) ist das plötzliche Auftreten von 40,5
40

Temperatur [°C]
Symptomen einer Hyperthyreose: Fieber, Erschöpfung, Krankheitsgefühl
39,4
Myalgien und eine stark druckschmerzhafte Vergrößerung Dysphagie 38,8
der Schilddrüse. Diese seltene Krankheit ist bei Frauen 38,3
37,7
5-mal häufiger als bei Männern. Die Schilddrüse ist in der 37,2 Fieber
Regel asymmetrisch bis auf das 1,5- bis 2-Fache vergrö­ 36,6
ßert. Die Schilddrüsenschmerzen strahlen in die Kieferge­ 1 2 3 4 5 6 7
lenke oder Ohren aus. Die Schilddrüse sowie die Lymph­ Tage
knoten neben der Drüse sind druckschmerzhaft und der
Ins Ohr ausstrahlende Schmerzen
Patient klagt über Dysphagie.
Ursache scheinen Virusinfektionen zu sein; häufig ist
der Thyreoiditis eine obere Atemwegsinfektion vorausge­ Sichtbar vergrößerte Schilddrüse (einseitig betont)
gangen. Es kommt zur Schilddrüsenentzündung, Follikel­
schädigung und Freisetzung des gespeicherten T4 und T3,
sodass zunächst eine symptomatische Hyperthyreose ent­
steht, auf die eine Hypothyreose folgt. Die Hyperthyreose Druckschmerz-
hafte prätracheale
persistiert bis zur Erschöpfung der Schilddrüsenspeicher, Lymphknoten
was in der Regel 2–8 Wochen dauert. Mit Abklingen der Schmerzhaft
Entzündung regenerieren die Follikel und schließlich nor­ tastbare
malisiert sich auch die Schilddrüsenfunktion. Schilddrüse
Bei der körperlichen Untersuchung ist die Schilddrüse
symmetrisch vergrößert und deutlich druckschmerzhaft. Sehr geringe Aufnahme von
Manche Patienten verweigern die Halspalpation sogar. I (radioaktiv markiertem Iod)
131
↑T4
Die Biopsie zeigt eine entzündliche Reaktion mit Infilt­ ↑T3 Entzündlich bedingte
raten aus Lymphozyten und Neutrophilen. Es finden sich ↑Thyreoglobulin Blockade
nebeneinander Nekrosen und Schäden der Schilddrüsen­
follikel.
Im Labor finden sich erhöhte Serumspiegel von freiem
T4, Gesamt-T3 und Thyreoglobulin sowie niedrige TSH-
Spiegel. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) ist in der
Regel auf > 50 mm/h beschleunigt und es besteht eine Leu­
kozytose. Bei der Radioiod-Szintigrafie (131I) reichert die
entzündete Schilddrüse kaum Iod an – die Aufnahme in­
nerhalb von 24 Stunden beträgt oft nur 1–2 %. Die Kombi­
nation aus niedriger 131I-Aufnahme, normalen oder erhöh­
ten Serumspiegeln von T4 und T3, erhöhtem Serumthyreo­
globulin, supprimiertem TSH und beschleunigter BSG ist
diagnoseweisend. Die subklinische und postpartale Thy­
reoiditis gehen mit ähnlichen Befunden einher, allerdings Diffus infiltriertes Schilddrüsenstroma
fehlen Halsschmerzen und BSG-Beschleunigung.
Die Behandlung konzentriert sich auf Schmerzkontrolle Abb. 2.22 
und eine symptomatische Therapie der Hyperthyreose. In
der Regel werden für 2–8 Wochen entweder nichtsteroida­
le Antiphlogistika oder Glukokortikoide gegeben. Die
Symptome der Hyperthyreose (z. B. Tremor, Angst, Palpi­
tationen) können mit einem Betablocker behandelt wer­
den.
Die sich an die Hyperthyreose anschließende hypothy­
reote Phase kann subklinisch oder symptomatisch verlau­
fen. Bei hypothyreoten Symptomen wird für 6–8 Wochen
L-Thyroxin verabreicht, bis sich die Schilddrüsenfunktion
wieder normalisiert hat.
56 2  Schilddrüse

Papilläres Schilddrüsenkarzinom
Das papilläre Schilddrüsenkarzinom ist eines der drei vom
Schilddrüsenepithel ausgehenden Karzinome. (Die ande­
ren beiden sind das follikuläre und das anaplastische Kar­
zinom.) Es ist mit etwa 75 % der häufigste maligne Tumor
der Schilddrüse. Seine Inzidenz ist im 4. und 5. Lebens­
jahrzehnt am höchsten und tritt bei Frauen 2,5-mal häufi­
ger auf als bei Männern. Papilläre Schilddrüsenkarzinome
können sehr klein oder gut tastbar sein. Häufig findet sich
ein einzelner Knoten in der Schilddrüse. Durch den Ein­
satz von CT und Ultraschall werden derartige Tumoren oft
zufällig entdeckt.
Das papilläre Schilddrüsenkarzinom kann multizent­ Zwei Tumorabschnitte mit deutlichen
risch auftreten. Oft finden sich bei einem Patienten mit papillären Projektionen
Halslymphknoten, der bei der Feinnadelaspiration papillä­
res Schilddrüsengewebe enthält, ≥  2 Läsionen in der Multiple Herde möglich
Meistens solitärer
Schilddrüse. Dabei handelt es sich oft um intraglanduläre
hormoninaktiver Knoten
Metastasen und mindestens die Hälfte enthält Zellen ande­
ren klonalen Ursprungs.
Histologisch besitzt das papilläre Schilddrüsenkarzi­
nom in der Regel eine Kapsel und besteht aus papillären
Strängen aus fein vaskularisiertem Gewebe, das mit ein-
oder mehrschichtigem kubischem und hochprismati­
schem Epithel ausgekleidet ist. Schilddrüsenkolloid und
-follikel fehlen beim reinen papillären Schilddrüsenkarzi­ Selten ins Skelett
nom. Die ovalen Nuklei sind typischerweise vergrößert mit
hypodensem Chromatin und weisen zytoplasmatische
„Pseudoeinschlüsse“ auf (redundante Kernmembran). Bei
etwa 50 % der papillären Schilddrüsenkarzinome finden Sehr selten ins
sich kalzifizierte vernarbte Überreste von Tumorpapillen Gehirn
(Psammomkörper). Etwa 10 % der papillären Schilddrü­
senkarzinome gehören zur follikulären Variante und ent­
halten zusätzlich Follikelgewebe. Obwohl sie zum Diagno­
sezeitpunkt meist kleiner sind, besitzen sie allgemein die
Metastasierung: vor allem in die regionalen
gleiche Prognose wie das gemeine papilläre Schilddrüsen­ Lymphknoten (zervikal und mediastinal)
karzinom. Die aggressivere großzellige Variante hingegen
(1 % der papillären Schilddrüsenkarzinome) ist bei Diag­
nosestellung größer und verläuft öfter invasiv als die ge­
meinen Formen. Seltenere, aggressivere Varianten sind
das klarzellige, das insuläre, das oxyphile und das diffus-
sklerosierende Karzinom.
Das papilläre Schilddrüsenkarzinom metastasiert oft in
die Halslymphknoten und oberen Mediastinallymphkno­ Sekundärer Lungenbefall (hämatogene Ausbreitung)
ten. Bei Diagnosestellung hat es bei nur 2 % der Patienten
den Hals überschritten und ist meist in die Lunge und sel­ Abb. 2.23 
tener in den Knochen eingedrungen. (Weitere seltene Me­
tastasierungsorte sind Gehirn, Leber, Niere und Nebennie­
ren.) Lungenmetastasen imponieren im Thorax-Röntgen Bei einem Durchmesser > 1 cm oder bekannten Lymph­ frage, das auf die vorgenannten Behandlungen nicht ange­
oder der Thorax-CT als miliäre Knötchen, die vom Hilus knotenmetastasen ist die Thyreoidektomie mit zentraler sprochen hat. Derzeit werden bei therapierefraktären Kar­
aus nach außen streuen. Skelettmetastasen sind selten und zervikaler Lymphadenektomie die Behandlung der Wahl. zinomen molekularbiologische Therapien untersucht (z. B.
überwiegend bei älteren Patienten. Bei Invasion anderer Halsgewebe (z. B. Trachea, Ösopha­ Tyrosinkinasehemmer). Alle Patienten sollten postopera­
Das papilläre Schilddrüsenkarzinom ist eines der am gus) sind größere Eingriffe erforderlich, bei solitärem pa­ tiv L-Thyroxin erhalten, um die wachstumsfördernde Wir­
wenigsten aggressiven und malignen humanen Karzinome pillärem Schilddrüsenkarzinom mit einem Durchmesser kung des hypophysären TSH auf das papilläre Schilddrü­
und führt in den meisten Fällen nicht zum Tod, obwohl <  1 cm kann ein weniger aggressives Vorgehen gewählt senkarzinom zu verhindern.
dies prinzipiell möglich ist. Es gibt drei Risikofaktoren für werden (z. B. Lobektomie und Isthmusektomie). Adjuvant
Karzinomrezidive und eine erhöhte Mortalität: Alter bei und auf individueller Basis kann eine Therapie mit radio­
Diagnosestellung > 45 Jahre, großer Tumor (Durchmesser aktivem Iod 131 (131I) erfolgen. Eine externe Strahlenthe­
> 7 cm) und Weichgewebeinvasion (z. B. Trachea, Ösopha­ rapie kann bei Metastasen, die nicht resektabel sind und
gus). Weitere Faktoren, die das Rezidivrisiko erhöhen, nicht auf die 131Iod-Therapie ansprechen, erwogen werden.
sind männliches Geschlecht, Multizentrizität, zahlreiche Eine systemische Chemotherapie kommt bei aggressivem,
Lymphknotenmetastasen (> 10) und ein Alter < 7 Jahre. symptomatischem papillärem Schilddrüsenkarzinom in­
Follikuläres Schilddrüsenkarzinom 57

Follikuläres Schilddrüsenkarzinom
Das follikuläre Schilddrüsenkarzinom ist eines der drei
vom Schilddrüsenepithel ausgehenden Karzinome. (Die
anderen beiden sind das papilläre und das anaplastische
Karzinom.) Es ist nach dem papillären Karzinom mit 10 %
der zweithäufigste maligne Tumor der Schilddrüse. Im
Vergleich zum papillären Karzinom tritt es häufiger bei äl­
teren Menschen auf. Am höchsten ist seine Inzidenz im
Alter zwischen 40 und 60 Jahren, außerdem tritt es bei
Frauen 3-mal häufiger auf als bei Männern. Das follikuläre
Schilddrüsenkarzinom kommt weltweit bevorzugt in Iod­
mangelgebieten vor.
Das follikuläre Karzinom tritt als kleiner Knoten oder Primärtumor Metastase
als große Raumforderung in der Schilddrüse auf und im
Gegensatz zum papillären Karzinom findet sich meist nur
ein intrathyreoidaler Herd. Die Feinnadelaspiration mit Meistens solitärer hormoninaktiver Knoten
Zytologie kann nicht zwischen follikulärem Karzinom und
benignem follikulären Adenom unterscheiden. Eindeutige
Hinweise auf ein follikulärem Karzinom ergeben sich nach
dem En-bloc-Geweberesektat durch die Tumorkapsel oder
eine Gefäßinvasion.
Histologisch findet sich ein recht gut organisiertes folli­
kuläres Muster mit kleinen, oft irregulären Follikeln mit
hochkubischem Epithel. Die organisierteren Follikel ent­
halten häufig Kolloid. Es finden sich keine Hinweise auf
ein papilläres Schilddrüsenkarzinom (z. B. Psammomkör­
per). Oft besteht ein Gefäßeinbruch oder ein Kapseldurch­
bruch. Das minimalinvasive follikuläre Karzinom ist eine
Unterform mit Kapsel und guter Prognose. Sehr invasive
follikuläre Karzinome brechen jedoch in die Blutgefäße
und das benachbarte Schilddrüsengewebe ein und haben
eine schlechte Prognose.
Die meisten follikulären Schilddrüsenkarzinome sind Hämatogene Ausbreitung
in Lunge und Knochen
monoklonal und etwa 40 % sind mit somatischen Punkt­
mutationen des RAS-Onkogens assoziiert und haben eine
schlechtere Prognose.
Das follikuläre Schilddrüsenkarzinom metastasiert oft
hämatogen. Bei 15 % der Patienten finden sich zum Zeit­
punkt der Diagnosestellung bereits Fernmetastasen. Häu­
fig sind Knochen und Lunge betroffen (seltener Leber, Ge­
hirn, Harnblase und Haut). Die Halslymphknoten sind
seltener befallen als beim papillären Schilddrüsenkarzi­
nom. Die Biopsie von Skelettmetastasen erbringt oft nor­ Selten Befall der Halslymphknoten
males Schilddrüsengewebe.
Das follikuläre Schilddrüsenkarzinom verläuft meist ag­ Abb. 2.24 
gressiver als das papilläre. Negative prognostische Fakto­
ren sind ein größerer Tumor, Fernmetastasen und Gefäß­
invasion. Das Inselkarzinom ist eine schlecht differenzierte kel. Durch die postoperative Radioiodtherapie werden im
Form mit schlechterer Prognose und das oxyphile Karzi­ Organbett verbliebenes Schilddrüsengewebe und Mikro­
nom ist eine onkozytäre Variante (› Abb. 2.26). metastasen zerstört. Anschließend wird L-Thyroxin gege­
Das follikuläre Schilddrüsenkarzinom wird ähnlich be­ ben, um das hypophysäre TSH und dessen Wachstumsreiz
handelt wie das papilläre. Therapie der Wahl ist die totale auf etwaige residuelle Karzinomzellen zu supprimieren.
Thyreoidektomie mit zentraler zervikaler Lymphknoten­ Bei nichtresektablem Primärtumor oder Metastasen er­
dissektion. Wichtig für die Operationsplanung ist ein prä­ folgt eine externe Strahlentherapie. Bei einigen wenigen
operativer Ultraschall des Halses mit Kartierung der Patienten mit refraktärer Erkrankung auf die vorgenann­
Lymphknoten. Die Zellen des follikulären Karzinoms kön­ ten Maßnahmen ist eine systemische Chemotherapie er­
nen radioaktiv markiertes Iod (131I) aufnehmen, allerdings forderlich, außerdem profitieren sie von molekularbiologi­
nicht so gut wie die Zellen der normalen Schilddrüsenfolli­ schen Medikamenten (z. B. Tyrosinkinasehemmern).
58 2  Schilddrüse

Medulläres Schilddrüsenkarzinom
Das medulläre Schilddrüsenkarzinom geht von den para­
follikulären C-Zellen im oberen Anteil der Schilddrüsen­
lappen aus und macht etwa 3 % aller Schilddrüsenmaligno­
me aus. Da die C-Zellen der Neuralleiste entstammen, ist
das medulläre Schilddrüsenkarzinom klinisch-histologisch
betrachtet eher ein neuroendokriner als ein Schilddrüsen­
tumor.
In etwa 80 % der Fälle tritt das medulläre Karzinom spo­
radisch auf, 20 % treten im Rahmen einer multiplen endo­
krinen Neoplasie Typ 2 (MEN 2) oder als familiäres me­
dulläres Schilddrüsenkarzinom (FMTC) hereditär auf.
Sporadische Karzinome manifestieren sich in der Regel im
Alter von 40–60 Jahren als solitäre Knoten mit leichter Be­
vorzugung des weiblichen Geschlechts. Die Diagnose er­
folgt durch Feinnadelaspiration des Knotens. Zum Diag­
nosezeitpunkt weist mehr als die Hälfte der Patienten mit
der sporadischen Form Metastasen auf, die typischerweise
die regionalen Lymphknoten betreffen. Meist Befall
der Hals-
Das medulläre Karzinom produziert Kalzitonin und die
lymphknoten
deutlich erhöhten Serumspiegel können zu einer schweren
Diarrhö führen. Aufgrund der neuroendokrinen Embryo­
logie kann es noch weitere Hormone produzieren, die zu
jeweils typischen Symptomen, wie einem Cushing-Syn­
drom bei Überproduktion von Cortisol, führen.
Histologisch besteht das medulläre Schilddrüsenkarzi­
nom aus balkenförmig angeordneten, eng gepackten Zel­
len, die sich deutlich hinsichtlich Hyperchromatismus und
Kerngröße unterscheiden. Für gewöhnlich produzieren die
Zellen Kalzitonin, Galektin 3 und karzinoembryonales An­
tigen.
Leber Niere
Das familiäre medulläre Schilddrüsenkarzinom ist mit
Mutationen des RET-Protoonkogens assoziiert und mani­ Seltenere Lokalisation von Metastasen
festiert sich im Rahmen von MEN 2A oder MEN 2B oder
davon unabhängig. Bei MEN 2 beträgt seine Penetranz
100 %. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.
Bei MEN 2B tritt eine aggressivere Form auf, weswegen in
den ersten Lebensjahren eine prophylaktische Thyreoidek­
tomie erfolgen sollte. Patienten mit familiärem Karzinom,
das nicht früh im Leben erkannt wird, entwickeln häufig Lunge
im Alter von 20–30 Jahren Symptome. Bei bekanntem Ri­ (feine Knötchen) Skelett
siko ist jedoch eine Diagnose vor der klinischen Manifesta­ Häufigste Lokalisation von Metastasen
tion möglich. Nachdem die typische Mutation des RET-
Protoonkogens festgestellt wurde, sollte eine genetische Abb. 2.25 
Testung von Verwandten erfolgen.
Auch bei sporadischen Karzinomformen sollte eine ge­
netische Testung auf Mutationen des RET-Protoonkogens Behandlung der Wahl ist die totale Thyreoidektomie.
erfolgen, da etwa 7 % der Patienten diese Mutation aufwei­ Die Prognose hängt zum Teil vom Alter bei der Diagnose­
sen. Dies erleichtert die genetische Testung von Verwand­ stellung ab (je älter der Patient, umso schlechter die Prog­
ten und deren operative Behandlung vor dem Auftreten nose). Bei familiärem Karzinom hängt die Prognose vom
von Metastasen. Alter zum Zeitpunkt der Thyreoidektomie ab; am höchsten
Bei allen Patienten mit medullärem Karzinom sollten sind die Heilungsraten bei sehr jungen Patienten. Postope­
ein primärer Hyperparathyreoidismus und ein Phäochro­ rativ sollte der Serumspiegel von Kalzitonin kontrolliert
mozytom (Komponenten von MEN 2) im Labor ausge­ werden, um die operative Heilung zu bestätigen. Die Meta­
schlossen werden. Außerdem sollte präoperativ der Se­ stasierung erfolgt in Hals, Mediastinum, Lunge, Leber,
rumspiegel von Kalzitonin bestimmt werden. Je höher er Knochen und Nieren. Persistierende, nichtresektable Me­
ist, umso wahrscheinlicher bestehen bereits Metastasen, tastasen können mit molekularbiologischen Medikamen­
sodass die Thyreoidektomie nicht kurativ sein wird. ten behandelt werden (z. B. Tyrosinkinasehemmern).
Oxyphiles Schilddrüsenkarzinom 59

Oxyphiles Schilddrüsenkarzinom
Das oxyphile Schilddrüsenkarzinom ist eine Variante des
follikulären Schilddrüsenkarzinoms und macht 3–4 % aller
Schilddrüsenmalignome aus. Es wird auch als onkozytäre
Variante des follikulären Schilddrüsenkarzinoms bezeich­
net. Das oxyphile Schilddrüsenkarzinom besteht zu min­
destens 75 % aus typischen Onkozyten. Die eosinophilen
oxyphilen Zellen lassen sich durch ihr reichliches Zyto­
plasma, die ovalen Kerne mit prominenten Nukleoli und
die eng gepackten Mitochondrien erkennen. Die Prognose
des oxyphilen Schilddrüsenkarzinoms ist schlechter als die
des häufigeren follikulären Schilddrüsenkarzinoms, au­
Trabekulär Plexiform
ßerdem geht es mit einer höheren Rezidivrate in den loka­
len Lymphknoten einher. Die Diagnosestellung erfolgt
meist im Alter zwischen 40 und 70 Jahren (Median 61 Jah­
re). Das oxyphile Schilddrüsenkarzinom tritt bei Frauen
doppelt so häufig auf wie bei Männern.
Das oxyphile Schilddrüsenkarzinom manifestiert sich
in der Regel als schmerzloser, solitärer Knoten, der entwe­
der kaum tastbar ist oder einen gesamten Schilddrüsenlap­
pen involvieren kann.
Makroskopisch zeigt sich ein mahagonibrauner Tumor.
Histologisch finden sich typische helle, durchscheinende,
eosinophile und granuläre hochkubische bis niedrigzylin­
drische Zellen, die balkenförmig angeordnet sein können,
wobei jeder Balken von zahlreichen dünnwandigen Kapil­
laren versorgt wird, oder sie sind streifenförmig in Ge­
flechten angeordnet, die auch durch zahlreiche Kapillaren
getrennt werden. Kolloid findet sich kaum oder fehlt ganz.
Die Kerne sind hyperchromatisch und pleomorph mit pro­
minenten eosinophilen Nukleoli. Die Zellen des oxyphilen
Schilddrüsenkarzinoms enthalten viele Mitochondrien. Sekundär in die und die Lunge
Die Diagnose basiert auf dem Kapseldurchbruch, dem Ge­ regionalen Lymphknoten (feine Knötchen)
fäßeinbruch oder der Metastasierung.
Etwa 5 % der Patienten weisen zum Diagnosezeitpunkt
Fernmetastasen in Lunge oder Knochen auf. Regionale
Lymphknotenmetastasen finden sich in etwa 25 % der Fäl­
le. Weniger als 10 % der oxyphilen Schilddrüsenkarzinome
reichern Radioiod an.
Die Prognose von Patienten mit oxyphilem Schilddrü­
senkarzinom ist abhängig vom Vorhandensein von Metas­
tasen bei Diagnosestellung, dem Alter des Patienten, der Metastasierung: vor allem ins Skelett
Größe des Primärtumors und der lokalen extrathyreoida­
len Invasion. Allgemein verläuft das oxyphile Schilddrü­ Abb. 2.26 
senkarzinom aggressiver als das papilläre und das folliku­
läre. Die postoperative Rezidivrate beträgt etwa 35 %.
Fernmetastasen sind der stärkste negative prognostische
Faktor. Das oxyphile Schilddrüsenkarzinom verläuft bei
Männern aggressiver als bei Frauen.
Die Behandlung erfolgt genauso wie beim follikulären
Schilddrüsenkarzinom. Häufig wird eine totale Thyreoid­
ektomie mit ipsilateraler zentraler zervikaler Lymphkno­
tendissektion durchgeführt. Die Radioiodtherapie scheint
das Behandlungsergebnis von Patienten mit oxyphilem
Schilddrüsenkarzinom nicht zu verbessern. Bei nichtre­
sektablem Primärtumor kann eine externe Bestrahlung
erfolgen. Außerdem profitieren Patienten mit refraktärer
Erkrankung von molekularbiologischen Medikamenten
(z. B. Tyrosinkinasehemmern).
60 2  Schilddrüse

Anaplastisches Schilddrüsenkarzinom
Das anaplastische Schilddrüsenkarzinom ist eines der drei
vom Schilddrüsenepithel ausgehenden Karzinome. (Die
anderen beiden sind das papilläre und das follikuläre Kar­
zinom.) Während das papilläre und das follikuläre Schild­
drüsenkarzinom differenzierte Schilddrüsenkarzinome
sind, ist das anaplastische Schilddrüsenkarzinom undiffe­
renziert. Das anaplastische Schilddrüsenkarzinom gehört
zu den bösartigsten und tödlichsten beim Menschen vor­
kommenden Karzinomen und macht etwa 2 % aller Schild­
drüsenkarzinome aus. Es tritt in der Regel jenseits eines
Alters von 50 Jahren auf (mittleres Alter 65 Jahre) und be­
Riesenzellen Spindelzellen
trifft in etwa zwei Drittel der Fälle Frauen.
Das anaplastische Schilddrüsenkarzinom ist ein schnell
wachsender, schmerzhafter Halstumor, der hormoninak­
tiv ist. Oft kann der Patient präzise angeben, wann es be­
gonnen hat (oft vor Kurzem) und er klagt über Verdrän­
gungssymptome, wie Dyspnoe, Dysphagie, Heiserkeit,
Husten und Druckschmerzen oder spontane Schmerzen
im Tumor. Mögliche Allgemeinsymptome sind Gewichts­
verlust, Anorexie, Erschöpfung und Fieber. Bei der Unter­
suchung findet sich ein großer (Durchmesser oft > 5 cm),
harter Knoten, der oft fixiert und in der Regel schmerzhaft
ist. Die darüber liegende Haut kann überwärmt und gerö­
tet sein. Oft findet sich eine zervikale Adenopathie. Die
Trachea kann seitenverlagert sein und es kann eine Stimm­
bandlähmung vorliegen. Wenn der Tumor den Thoraxein­
gang verlegt, kann ein Vena-cava-superior-Syndrom vor­
liegen.
Bei etwa 20 % der Patienten mit anaplastischem Schild­
drüsenkarzinom ist anamnestisch ein differenziertes (pa­ Rasch wachsender Halstumor
pilläres oder follikuläres) Schilddrüsenkarzinom bekannt
und bei etwa 50 % eine Struma. Somit scheint es vermut­
lich durch einen Entdifferenzierungsschritt aus differen­
zierten Schilddrüsentumoren hervorzugehen (z. B. Verlust
eines Tumorsuppressorproteins oder erworbene aktivie­
rende Mutation).
Die Diagnose wird durch eine Feinnadelaspiration oder
operative Biopsie gestellt. Histologisch handelt es sich um
einen soliden, stark anaplastischen Tumor, der überwie­
gend aus Plattenepithelzellen besteht, aber auch verstreut
viele große Riesenzellen enthält.
Dieser hochmaligne Tumor metastasiert nur selten Kompression und Invasion der Trachea
stark. Sein rasches Wachstum erfolgt lokal begrenzt mit
Invasion der umgebenden Halsstrukturen (z. B. Muskeln, Abb. 2.27 
Lymphknoten, Larynx, Trachea, Ösophagus und große
Halsgefäße). Häufig kommt es zum Tod durch Kompressi­
on der Trachea und Ersticken. Die Metastasierung erfolgt beschränkt zu sein scheint, sollte eine totale Thyreoidekto­
überwiegend in die Lunge. Außerdem metastasiert das mie erfolgen. Oft kommt es aber innerhalb von Monaten
anaplastische Schilddrüsenkarzinom in Knochen, Thorax­ zu einem Rezidiv, auch wenn die Läsion bei der Operation
haut, Leber, Herz, Nieren und Nebennieren. scheinbar vollständig entfernt wurde. Postoperativ ist eine
Die Computertomografie von Hals und Thorax hilft bei adjuvante externe Bestrahlung möglich. Es gibt keine ku­
der Therapieplanung und bei der Überwachung des Thera­ rative Therapie für das metastasierte anaplastische Schild­
pieansprechens. Ein Karzinomdurchmesser < 6 cm und die drüsenkarzinom. Eine Chemotherapie mit Substanzen wie
Beschränkung auf die Schilddrüse bedeuten ein längeres Paclitaxel führt zum temporären Ansprechen. Nur sehr
Überleben. selten überleben die Patienten > 12 Monate nach Diagno­
Das anaplastische Schilddrüsenkarzinom ist fast nie ku­ sestellung. Im Grunde liegt die Letalität bei 100 %.
rativ operabel. Wenn die Erkrankung auf die Schilddrüse
Schilddrüsenmetastasen 61

Schilddrüsenmetastasen
Vermutlich aufgrund der starken Durchblutung von etwa
560 ml/100 g Gewebe/min (eine Durchblutungsrate, die
nur von den Nebennieren übertroffen wird) ist die Schild­
drüse oft von Metastasen betroffen. Die Prävalenz von
Schilddrüsenmetastasen schwankt zwischen 1,25 % in
nicht ausgewählten Autopsiestudien und 24 % bei Autop­
siestudien an Patienten, die an ausgedehnten Krebserkran­
kungen verstarben. Bei präoperativer Feinnadelaspiration
finden sich in etwa 5 % der Schilddrüsen Metastasen. Bei
einem Schilddrüsenknoten und bekannter Krebserkran­
kung sollte immer zunächst an eine Metastase gedacht 4. Kopf- und
Halsmalignom
werden.
Patienten mit Schilddrüsenmetastasen können Verdrän­
gungssymptome aufweisen (z. B. Heiserkeit, Dysphagie,
Stridor oder Halstumor), sind aber häufig asymptomatisch.
Der Schilddrüsenknoten wird bei einer körperlichen Unter­ 2. Lunge
suchung oder zufällig bei einer bildgebenden Untersu­
chung (z. B. Positronen-Emissionstomografie) im Rahmen
des Tumorstagings entdeckt. Zur Diagnostik erfolgt eine
Feinnadelaspiration, die hoch sensitiv und hoch spezifisch
ist. 3. Mamma
Die Primärtumoren befinden sich (in absteigender Häu­
figkeit) in Nieren (Klarzellkarzinom), Lunge, Mamma,
Kopf und Hals, Gastrointestinaltrakt (Kolon, Ösophagus,
Magen) und Haut (Melanom). Weitere Lokalisationen von
Primärtumoren, die in die Schilddrüse metastasieren, sind 1. Niere
Uterus, Ovar, Prostata, Pankreas, Nebenschilddrüsen und
Sarkome. Meist manifestieren sich die Metastasen inner­
halb von 3 Jahren nach Resektion des Primärtumors in der
Schilddrüse, wobei auch Intervalle von bis zu 26 Jahren be­
schrieben sind (bei einem Patienten mit Nierenzellkarzi­ 5. Gastrointestinal-
trakt (Kolon,
nom). Ösophagus, Magen)
Die Schilddrüsenmetastase kann die einzige offensicht­
liche Metastase sein. Obwohl es keine Einigung über die
Bedeutung der Operation bei diesen Patienten gibt, emp­
fehlen die meisten Endokrinologen und endokrinen Chir­
6. Melanom
urgen die Lobektomie. Bei größeren Metastasen oder Be­
teiligung beider Schilddrüsenlappen kann eine fast totale
Thyreoidektomie erforderlich sein. Häufig handelt es sich
um einen palliativen Eingriff, wobei die aggressive operati­
ve Behandlung von Schilddrüsenmetastasen bei Patienten
mit isoliertem metastasiertem Nierenzellkarzinom kurativ
war. Bei Metastasen, die sich nicht vollständig entfernen
lassen, kann eine externe Bestrahlung erwogen werden. Abb. 2.28 
Bei multiplen Metastasen ist eine systemische Chemothe­
rapie indiziert.
KAPITEL

3 Nebenniere
Entwicklung der Nebennieren 65

Entwicklung der Nebennieren


Spinalganglion
Ektoderm
Rückenmark
Neuralleiste Ganglion des
Sensibles Neuron Truncus sympathicus
eines Spinalganglions
Neuralrohr Aorta
(Rückenmark) Präaortales
Ganglion

Chorda dorsalis Anlage der


Viszeralmotorisches
Nebennierenrinde
Neuron eines sympa-
4. Entwicklungswoche thischen Ganglions Mesonephros A. mesenterica dorsalis
Keimepithel der
zukünftigen Gonade Darm
Serosaauskleidung (Peritoneum) des
Chromaffine Zelle abdominalen Zöloms (Peritonealhöhle)

Ganglion des Truncus sympathicus 6. Entwicklungswoche


Primitive
Nebennierenrinde

Definitive Aorta
Nebennierenrinde
Nebenniere

Präaortales Ganglion Peritonealhöhle

Niere

Chromaffine Zellen wandern Ductus para- Ureter


zur Anlage der Nebennieren- mesonephricus
rinde, dringen in sie ein und (Müller-Gang) Rektum (entfernt)
bilden die Medulla
Ovar

8. Entwicklungswoche
7. Entwicklungswoche

Abb. 3.1 

Die erste ausführliche Beschreibung der Anatomie der schwindet, ein Drittel ihres Gewichts. Die bei der Geburt wicklungswoche), bekommen Massen dieser einwandern-
­Nebennieren erfolgte 1563 durch Bartholomeo Eustachi. dünne äußere, permanente Rinde differenziert sich, sobald den chromaffinen Zellen Kontakt mit der Rinde und drin-
Jede Nebenniere besteht aus Rinde und Mark und ist von sich die innere primitive Rinde zurückbildet. Die Differen- gen medial in sie ein. In der Mitte der Fetalzeit sind einige
einer Kapsel umgeben. Die Rinde entstammt dem mesen- zierung der permanenten Nebennierenrinde in die drei der chromaffinen Zellen in den zentralen Anteil der Rinde
chymalen und das Mark dem ektodermalen Gewebe. In Zonen der adulten Drüse (Zona glomerulosa, Zona fasci- gewandert. Einige der chromaffinen Zellen bilden Para-
der 5.–6. Entwicklungswoche entsteht die Nebennieren- culata und Zona reticularis) ist jedoch erst im 3. Lebens- ganglien, das sind Ansammlungen chromaffiner Zellen auf
rinde als Proliferation von Zölomepithelzellen der benach- jahr beendet und hängt von der vorübergehenden Expres- beiden Seiten der Aorta. Der größte Cluster chromaffiner
barten Urogenitalleiste. Die Zellen proliferieren rasch, pe- sion von Transkriptionsfaktoren ab (z. B. steroidogener Zellen außerhalb des Nebennierenmarks liegt in Höhe der
netrieren das retroperitoneale Mesenchym und bilden die Faktor 1, Zona-glomerulosa-spezifisches Protein und In- A. mesenterica inferior und wird als Zuckerkandl-Organ
primitive Rinde. Diese wird bald von einer dünnen Lage ner-zone-Antigen). bezeichnet. Es ist beim Fetus recht stark ausgebildet und
kompakt angeordneter Zellen umschlossen, aus denen die Aus der Neuralleiste gehen bestimmte ektodermale Zel- im 1. Lebensjahr eine wichtige Katecholaminquelle.
permanente Rinde wird; auch hierbei handelt es sich um len hervor, verlassen ihren Ursprungsort und differenzie- Echte akzessorische Nebennieren aus Mark und Rinde
Zölomepithelzellen. In der 8. Entwicklungswoche hat das ren sich in die sympathischen Neurone des vegetativen sind beim Erwachsenen selten und liegen dann im Plexus
Rindengewebe eine enge Beziehung zum kranialen Nieren- Nervensystems. Allerdings differenzieren nicht alle Zellen coeliacus oder in der Nierenrinde. Nebennierenreste sind
pol. Gegen Ende der 8. Woche hat die Rinde eine beträcht- der primitiven autonomen Ganglien in Neurone. Aus eini- hingegen häufig und befinden sich in der Regel in der Nähe
liche Größe erreicht, trennt sich von seiner peritonealen gen werden endokrine Zellen, die als chromaffine Zellen der Nebennieren. Beim Erwachsenen kann akzessorisches
Mesothelzellschicht und wird von einer Bindegewebskap- bezeichnet werden, da sie durch Chromsalze braun anfär- versprengtes Rinden- oder Markgewebe in der Milz, im
sel eingeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt ist die sich entwi- ben. Die zytoplasmatischen Granula werden bei der Anfär- Retroperitonealraum unter den Nieren, entlang der Aorta
ckelnde Nebenniere weitaus größer als die sich entwi- bung mit Chromsäure aufgrund der Oxidierung von Adre- und im Becken vorkommen. Da die Nebennieren in der
ckelnde Niere. nalin und Noradrenalin zu Melanin dunkel. Einige der Frühentwicklung nahe der Gonaden liegen, kann sich auch
Die primitive oder fetale Rinde stellt bei der Geburt den chromaffinen Zellen wandern von den primitiven autono- im Samenstrang, am Hoden im Skrotum, am Ovar oder im
Großteil der Nebenniere. Bis zur 2. Lebenswoche verlieren men Ganglien neben der sich entwickelnden Nebennieren- Lig. latum uteri akzessorisches Gewebe befinden. Sehr sel-
die Nebennieren infolge der Degeneration der massigen rinde ein und bilden das Nebennierenmark. Sobald die ten kann nur eine Nebenniere vorhanden sein.
Rinde, die bis zum Ende des 1. Lebensjahres ganz ver- Nebennierenrinde klar abgrenzbar ist (im Laufe der 7. Ent-
66 3  Nebenniere

Anatomie und Gefäßversorgung der Nebennieren


Die Nebennieren sind zwei kleine, dreieckige Strukturen, Transabdominale Freilegung der rechten Nebenniere
die retroperitoneal den oberen Nierenpolen aufliegen. Sie Leber (nach oben gezogen)
Aa. suprarenales superiores (aus der A. phrenica inferior)
liegen auf der hinteren Bauchwand beidseits der Wirbel-
säule auf Höhe der 11. Rippe sowie lateral des 1. Lenden- V. cava inferior (nach medial gezogen)
wirbelkörpers und wiegen in der Regel jeweils 3,5–6,0 g.
V. suprarenalis
Die Drüsenoberfläche ist unterschiedlich stark gewellt
oder knotig. Jede Drüse ist 2–3 cm breit, 4–6 cm lang und Nebenniere
0,3–0,6 cm dick. Die Nebennieren sind von lockerem Bin-
degewebe umgeben, das viel Fett enthält und von einer Peritoneum (Schnittrand)

dünnen, fibrösen Kapsel umgeben ist, die über zahlreiche


fibröse Bänder an der Drüse befestigt ist. Die goldgelben
Drüsen unterscheiden sich farblich vom blasseren umge- Äste der Aa. suprarenales mediae
benden Fettgewebe. Die Schnittfläche zeigt eine goldene (aus der Aorta abdominalis)
Rindenschicht und eine flache Masse aus dunklerem (röt-
lich-braunem) Markgewebe. Duodenum (nach unten gezogen)
Die rechte Nebenniere ist pyramidal oder dreieckig und
liegt etwas höher und weiter lateral als die linke. Ihre pos-
teriore Oberfläche liegt in der Nähe des rechten Zwerch- A. suprarenalis inferior (aus der A. renalis)
fellschenkels. Die Drüse liegt retroperitoneal und grenzt
superior an den posteroinferioren Rand des rechten Leber- Fascia renalis Transabdominale Freilegung der linken Nebenniere
lappens sowie medial an den rechten Rand der V. cava in- (Gerota)
Rechte Niere
A. phrenica inferior sinistra
ferior. Die Pyramidenbasis liegt nahe dem anteromedialen (nach unten gezogen)
Aspekt des oberen rechten Nierenpols. Aa. suprarenales superiores
Pankreas und Milz
Die linke Nebenniere ist lang gezogen oder halbmond- (nach oben gezogen)
förmig und etwas größer als die rechte. Sie liegt weiter zen-
tral und ihr medialer Rand überragt oft den lateralen Rand V. splenica Fascia renalis (Gerota)
der Aorta abdominalis. Ihre posteriore Oberfläche liegt in
enger Beziehung zu Zwerchfell und Nn. splanchnici. Die A. suprarenalis media
Nebenniere
oberen zwei Drittel der Drüse liegen hinter der posterioren
Aorta
peritonealen Wand der Bursa omentalis. Das untere Drittel
Linke Niere
liegt nahe der posterioren Fläche des Corpus pancreaticus
Flexura duodenojejunalis
und der Milzgefäße.
Die reiche Gefäßversorgung der Nebennieren hat folgende
Eigenheiten: A. renalis inferior
1. Im Gegensatz zu anderen Organen laufen Arterien und
Venen in der Regel nicht zusammen. Peritoneum
V. suprarenalis (Schnittrand)
2. Die arterielle Versorgung ist mit bis zu 12 Arterien sehr
ausgeprägt.
3. Das venöse Blut wird fast vollständig durch einen ein- Linke Kolonflexur (nach medial gezogen)

zelnen, großen venösen Stamm geleitet, der leicht auf- A. und V. renalis sinistra
findbar ist.
Das arterielle Blut erreicht die Nebennieren über unter- Abb. 3.2 
schiedlich viele dünne, kurze, astförmige Arterien, welche
die Nebennieren in einem arteriellen Kreislauf umgeben
(› Abb. 3.5). Man unterscheidet drei Typen: kurze Kap- medialen Seite der rechten Nebenniere am Übergang vom Operationsverfahren
selarterien, intermediäre Rindenarterien und lange Äste, oberen zum mittleren Drittel. Die V. suprarenalis sinistra
die durch Rinde, Mark und Sinusoide ziehen. Diese kleinen liegt inferomedial und drainiert direkt in die V. renalis si- Das Vorgehen bei der Operation der Nebennieren erfolgt
Arterien sind Endäste der A. phrenica inferior und bilden nistra. Oft mündet die V. phrenica inferior sinistra in die abhängig vom pathologischen Prozess, von der Tumorgrö-
superior die A. suprarenalis superior (entlang dem super­ A. suprarenalis sinistra, bevor Letztere in die V. renalis ße, der Patientengröße und vorausgegangener Operatio-
ioren medialen Organrand). Die A. suprarenalis media mündet. nen. Es gibt kein universell geeignetes Verfahren und das
geht von der Aorta ab und die A. suprarenalis inferior am Die arteriellen und venösen Kapillaren in der Nebennie- Entfernen der erkrankten Drüse oder eines adrenalen Tu-
inferomedialen Rand der Nebenniere aus der A. renalis. re unterstützen die Funktion von Rinde und Mark. So mors kann gelegentlich sehr schwierig sein.
Ergänzend finden sich weitere Äste von Gefäßen in der Nä- fließt cortisolreiches Blut von der Rinde zum Mark, wo
he der Drüse, wie der A. ovarica bei Frauen und der A. tes- Cortisol die Aktivität der Phenylethanolamin-N-Methyl-
ticularis beim Mann (links). transferase erhöht, die Noradrenalin zu Adrenalin um- Offene transabdominale Adrenalektomie
Das venöse Blut der rechten Nebenniere drainiert durch baut. Extraadrenales chromaffines Gewebe besitzt keine
die V. suprarenalis dextra in die V. cava. Diese Vene ist mit derart hohen Cortisolspiegel und kann daher nur Noradre- Der Patient liegt auf dem Rücken. Die Inzision erfolgt als
4–5 mm kurz und verläuft in einer Rinne auf der antero- nalin produzieren. erweiterter Subkostalschnitt oder als Mittelschnitt bei
Anatomie und Gefäßversorgung der Nebennieren 67

(Fortsetzung)

engem Rippenwinkel oder bilateraler Nebennieren­ V. cava inferior Aa. phrenicae inferiores
erkrankung. Der Zugang zur linken Nebenniere erfolgt Ösophagus
durch das Lig. gastrocolicum in die Bursa omentalis. Die Aa. suprarenales V. phrenica inferior sinistra
linke Nebenniere wird durch Anheben der Facies inferior superiores dextrae
Aa. suprarenales
des Pankreas, Eröffnung der Gerota-Faszie und Herab- superiores sinistrae
ziehen des oberen Nierenpols freigelegt. Der Zugang zur
rechten Nebenniere erfolgt durch Mobilisierung der V. suprarenalis
dextra Linke
rechten Kolonflexur nach inferior und Anheben des
Nebenniere
rechten Leberlappens.

Truncus
A. suprarenalis coeliacus
Offene posteriore Adrenalektomie media dextra

Diese Technik geht seltener mit Schmerzen, Ileus und Rechte


A.
anderen Komplikationen einher als die ventrale. Der Pa- suprarenalis
Nebenniere
media sinistra
tient liegt auf dem Bauch und die Inzision erfolgt kurven-
förmig von der 10. Rippe (4 cm neben der Medianlinie)
bis zum Beckenkamm (8 cm neben der Medianlinie) oder
nach lateral über die 12. Rippe mit einer kleinen vertika-
len paravertebralen Verlängerung nach oben. Die 12.
Rippe wird reseziert, die Pleura nach oben gebogen und
die Gerota-Faszie eröffnet.

Laparoskopische transabdominale
Adrenalektomie

Seit ihrer Erstbeschreibung 1992 hat sich die laparosko-


pische Adrenalektomie rasch zum Verfahren der Wahl
bei einseitiger Adrenalektomie, einem Tumor <  8 cm
und fehlenden Malignomzeichen entwickelt (z. B. Invasi-
on benachbarter Strukturen). Postoperative Genesungs-
A. suprarenalis
zeit und die Langzeitmorbidität sind bei der laparosko- inferior sinistra
pischen im Vergleich zur offenen Adrenalektomie signi-
fikant reduziert. Der Patient liegt in lateraler Dekubitus- A. und V. V. suprarenalis
lage, sodass die zu operierende Seite oben liegt. In renalis dextra sinistra
gerader Linie werden vier Trokare 1–2 cm unter dem A. suprarenalis A. und V. renalis
Rippenrand platziert. Rechts werden Leber und Gallen- inferior dextra sinistra
Aorta abdominalis
blase nach oben gezogen und das Retroperitoneum er-
öffnet. Links werden die linke Kolonflexur und das Co- A. mesenterica superior
V. cava inferior
lon descendens nach inferior und medial mobilisiert,
sodass der obere Nierenpol freigelegt und das Retroperi- Abb. 3.3 
toneum eröffnet wird.

Schlüssel zur erfolgreichen


Posteriore retroperitoneale Nebennierenoperation
endoskopische Adrenalektomie
Wichtig für eine erfolgreiche Operation sind die geeignete
Diese minimalinvasive posteriore Technik wird von eini- Patientenauswahl, die Kenntnis der Anatomie, vorsichtiger
gen Chirurgen bei Patienten bevorzugt, bei denen bereits Umgang mit den Geweben, sorgfältige Hämostase und Er-
Oberbauchoperationen von anterior durchgeführt wurden. fahrungen mit der verwendeten Technik. Mögliche Ano-
Der Patient liegt auf dem Bauch und es werden drei Troka- malien der Gefäßversorgung sollten bekannt sein. Die Drü-
re verwendet. Ein Gasdruck von 20–25 mmHg schafft aus- se muss vorsichtig behandelt werden, da sie brüchig ist und
reichend Raum für die Operation im Retroperitoneum. eine Verletzung die vollständige Entfernung erschwert.
68 3  Nebenniere

Innervation der Nebennieren


Truncus vagalis anterior N. phrenicus sinister
Im Verhältnis zu ihrer Größe sind die Nebennieren stärker
N. phrenicus dexter Truncus vagalis posterior
innerviert als andere Organe. Die sympathischen prägang-
A. phrenica inferior
lionären Fasern der Drüsen sind die Axone von Zellen der A. phrenica inferior
sinistra und Plexus
dextra und Plexus
Columnae intermediolaterales der untersten 2–3 thoraka- Linke Nebenniere
Rechte Nebenniere
len und der höchsten 1–2 limbalen Spinalsegmente. Sie
N. splanchnicus N. splanchnicus
verlassen die Vorderwurzeln der entsprechenden Spinal- major sinister
major dexter
nerven, ziehen in den weißen Rami communicantes zum Plexus coeliacus
N. splanchnicus
homolateralen Truncus sympathicus und verlassen diesen minor dexter
und Ganglien
mit den Nn. splanchnici major, minor und imus, die zu N. splanchnicus
N. splanchnicus minor sinister
den Ganglia coeliaca, aorticorenalia und renalia ziehen. Ei-
minimus dexter Ganglia
nige der Fasern enden in diesen Ganglien, die meisten aorticorenalia
Ganglion renale
durchqueren sie jedoch ohne Umschaltung und treten in
dextrum und N. splanchnicus
zahlreiche kleine Nerven ein, die beidseits außerhalb des Plexus minimus sinister
Plexus coeliacus zu den Nebennieren ziehen. Diese Nerven renalis
dexter
enthalten Fasern aus den terminalen Anteilen der Nn.
Ganglion renale
splanchnici major und minor und kommunizieren mit sinistrum und
dem homolateralen N. phrenicus und dem Nierenplexus. Plexus renalis
Auch auf den adrenalen Nerven und im Nebennierenmark sinister
liegen kleine Ganglien; ein Teil der sympathischen Fasern
Truncus Truncus sympathicus sinister
wird in diesen Ganglien umgeschaltet. sympathicus dexter
Die parasympathischen Fasern gelangen mit den Rami N. splanchnicus lumbalis sinister I

coeliaci des Truncus vagalis posterior zum Plexus coelia- N. splanchnicus lumbalis dexter I
Ganglion mesentericum superium
cus. Manche von ihnen sind an der Innervation der Neben- Rückenmark
Columna intermediolateralis
nieren beteiligt und werden in den Ganglien nahe der Drü- (Seitenhorn der grauen Substanz) Nebenniere
se umgeschaltet.
Th5 Medulla Kortex
Auf jeder Seite bilden die adrenalen Nerven einen Ple-
Nn. splanchnici
xus adrenalis entlang dem medialen Rand der Nebenniere. Postganglionäre
(präganglionäre Fasern)
Ein feiner Plexus subcapsularis überzieht die Drüse mit Th6 Fasern für die
feinen Filamenten, in die gelegentlich Ganglionzellen ein- Ganglion coeliacum Blutgefäße
Th7
gelagert sind und von denen Faszikel oder einzelne Fasern
durch die Rinde zum Mark ziehen, ohne dabei die Rinden- Th8
zellen, wohl aber die Rindengefäße zu versorgen. Die meis-
ten dieser Äste des Plexus adrenalis dringen jedoch nahe Truncus sympathicus
dem oder im Hilum als kompakte Bündel in die Drüse ein,
von denen einige die Aa. suprarenales begleiten. Diese
Bündel ziehen durch die Rinde zum Mark, wo sie sich stark
verzweigen und überwiegend synaptisch in der Umgebung
Präganglionäre Fasern zu
der medullären chromaffinen Zellen enden. Einige Fasern
den Zellen des Neben-
invaginieren die Plasmamembranen dieser Zellen, penet- nierenmarks
rieren sie aber nicht. Die präganglionären sympathischen
Fasern enden direkt an den medullären Zellen, da diese Abb. 3.4 
Zellen sympathischen Ursprungs und Homologe von sym-
pathischen Ganglienzellen sind. Andere Fasern innervie-
ren die Nebennierengefäße, auch die zentrale Vene. balen Rückenmarks weitergeleitet werden. Die präganglio-
Im Rahmen der Kampf-oder-Flucht-Reaktion geben das nären sympathischen Fasern verlassen das Rückenmark
Nebennierenmark und das sympathikoneuronale System und bilden in den paravertebralen und präaortalen Gangli-
Katecholamine ab. Dadurch kommt es zur Vasokonstrikti- en des Truncus sympathicus Synapsen. Die präganglionä-
on in Haut und Organen mit nasskalter Haut, Angst, Er- ren Axone aus den unteren thorakalen und den lumbalen
regtheit, Aufstellen der Körperhaare, Tachykardie, dila- Ganglien innervieren über den N. splanchnicus das Ne-
tierten Pupillen, Hyperventilation, Hyperglykämie, redu- bennierenmark und verzweigen sich zwischen den Mark-
zierter gastrointestinaler Motilität und reduzierter Urin- zellen. In den Ganglien ist Acetylcholin der Neurotrans-
ausscheidung. Diese Reaktion wird durch neurale Reize mitter, während die postganglionären Fasern Noradrena-
von mehreren Gehirnbereichen ausgelöst (z. B. Hypothala- lin abgeben. Die chromaffine Zelle des Nebennierenmarks
mus, Pons und Medulla), die zu Synapsen auf den Zellkör- entspricht einer postganglionären Faser und besitzt als
pern der Columnae intermediolaterales des thorakolum- chemische Transmitter Adrenalin und Noradrenalin.
Histologie der Nebennieren 69

Histologie der Nebennieren


Die Nebennieren bestehen aus zwei unterschiedlichen en- Kapsel
dokrinen Geweben, der Nebennierenrinde und dem Ne-
bennierenmark, mit jeweils unterschiedlicher embryologi- Zona
glomerulosa
scher Abstammung, Struktur und Funktion. Beim Erwach-
senen macht die Rinde etwa 90 % des Organs aus und um-
gibt vollständig das dünne innere Mark. Histologisch
besteht die Rinde überwiegend aus radial ausgerichteten Klarzellen (x 700,
HE-Färbung)
Zellsträngen. Während der Embryogenese wanderten die
künftigen Markzellen durch die Rinde ein. Bei der Geburt Zona
fasciculata
besteht neben der dünnen äußeren permanenten Rinde die
fetale Rinde als dickes Band, das sich schnell zurückbildet.
Die Epithelzellen der Nebennierenrinde haben in der
Regel einen zentralen Kern und mindestens zwei gut abge-
grenzte Nukleoli. Das Zytoplasma enthält unterschiedlich Kompakte Zellen
Zona
viele fetthaltige Vakuolen, Mitochondrien und den Golgi- reticularis (x 700, HE-Färbung)
Apparat.
In der Nebennierenrinde werden anhand der Zellgrup- C V
Medulla
pierung und der Verteilung der Zellstränge drei konzentri-
sche Zellschichten oder Zonen unterschieden. In der dün- Normale menschliche Neben- G Menschliche Nebenniere
nen äußersten Zona glomerulosa bilden die Zellen Zellnes- niere nach Gabe von ACTH
ter. In der mittleren und breitesten Schicht, der Zona fasci- Medulla (x 700, V = Venöse Kapillare
Nebennieren- Chromaffinfärbung) C = Kapillare
culata, bilden die Zellen parallele säulenartige Stränge. Die G = Ganglionzelle
arterie (eine
ganz innen liegende Zona reticularis grenzt an das Mark von vielen)
und enthält netzartige Zellgebilde. Struktur und Funktion Kapselplexus
der beiden inneren Zonen sind ADTH-abhängig. Die Zona Kapsel
glomerulosa hingegen bleibt auch in Abwesenheit von Kapsel
Definitive
ACTH strukturell und funktionell erhalten. Unter norma- Glomerulosa Rinde
len Umständen enthalten die Epithelzellen an der inneren
Kortikale
Rindengrenze weniger Fettvakuolen und werden als kom- Kapillaren
pakte Zellen von den fettreichen hellen Zellen des mittleren Fasciculata Fetale
Rindenanteils abgegrenzt. Bei ACTH-Stimulation vergrö- Rinde (mit
ßert sich die Schicht der kompakten Zellen auf Kosten der Mark-
dunklen
arteriole
hellen Zellen. Zellen, aus
Reticularis denen das
Hauptaufgabe der Zona glomerulosa ist die Sekretion Mark ent-
von Aldosteron, einem Mineralokortikoid mit Einfluss auf Mark- steht)
den Natrium- und Kaliumhaushalt. Die Funktion der Zona kapillaren

glomerulosa ist unabhängig von der übrigen Nebennieren- Mark


rinde. Die Kontrolle der Aldosteronsekretion erfolgt über Zentralvene
den renalen juxtaglomerulären Apparat und das Renin-
Schematische Zeichnung der intrinsischen Nebenniere eines
Angiotensin-System. Die Zona fasciculata und die Zona Gefäße der Nebenniere Neugeborenen
Muskelfasern
reticularis sind im Grunde eine funktionelle Einheit, deren
Hauptaufgabe die Sekretion des Glukokortikoids Cortisol
sowie einiger adrenaler Androgene ist. Cortisol spielt eine Abb. 3.5 
wichtige Rolle beim Eiweißabbau, erleichtert die Gluko-
neogenese und supprimiert Entzündungsreaktionen.
Die Nebenniere wird über 30–50 kleine Arterien mit schen dicken Strängen aus glatter Muskulatur, die longitu-
Blut versorgt, die an unterschiedlichen Stellen die Kapsel dinal in ihrer Wand verlaufen, in die zentrale Nebennie-
penetrieren und den kapsulären Gefäßplexus bilden. Sie renvene.
speisen die Kapillaren, die radial durch die Rinde ein­ Das Nebennierenmark besteht aus zylindrischen Zellen,
strahlen und die Zellstränge teilen. Das Nebennierenmark welche die Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und
wird venös und arteriell versorgt. Kapillaren von der Rinde Dopamin abgeben. Da Katecholamine durch das Oxidans
ziehen als venöse Kapillaren in das Mark; ein paar me­ Kaliumdichromat leicht dunkel anfärben, wird das Nieren-
dulläre Arteriolen durchqueren die Rinde und bilden die mark oft als chromaffines Gewebe bezeichnet. Die prägang-
arteriellen Kapillaren des Marks. Beide Gefäßarten ver­ lionären sympathischen Fasern treten in das Mark ein und
einen sich zu Venen, die in die einzige große zentrale Ne- enden direkt auf den Parenchymzellen oder den verstreut
bennierenvene münden. Die venösen Gefäße treten zwi- liegenden sympathischen Ganglionzellen.
70 3  Nebenniere

Biosynthese und Metabolismus der


Nebennierenrindenhormone
Die Nebennierenrinde produziert Glukokortikoide, Mine-
Stress
ralokortikoide, adrenale Androgene (17-Ketosteroide), Ös- Zerebraler
ng
trogene und Gestagene. Manche davon sind biologisch
Kortex
p plu
ko
hoch potent, andere relativ inaktiv. Die sekretorische Akti- ck

e
vität und das Wachstum der Zona fasciculata und der Zona Hypothalamus tiv
ga
reticularis werden durch die hypophysäre Sekretion von Ne
ACTH gesteuert, die Sekretion von Aldosteron aus der Zo-
na glomerulosa durch Angiotensin II, Kalium und (in ge- CH2OH
ringerem Umfang) ACTH. Die hypophysäre ACTH-Sekre- Pfortader- C=O
Cortisol HO OH
tion unterliegt einer Feedback-Regulation: Bei Abnahme kreislauf
CRH-


c1
des Cortisonspiegels im Blut nehmen die pulsatile Sekreti- Sekretion 11 O

50
P4
on von ACTH-releasing-Hormon (CRH) und ACTH zu Adenohypophyse
11-Deoxycortisol
und erhöhen die Cortisolspiegel, die wiederum die weitere

1
c2
Freisetzung von CRH und ACTH hemmen. Die Feedback- 21

50
Kontrolle der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-

P4
Deoxycorticosteron
Achse wird von einer diurnalen Variation der ACTH-Se- ACTH 17-Hydroxyprogesterone
1 P450c11β 11
kretion begleitet. Pulsfrequenz und -amplitude von ACTH c2
0
45

7
sind zwischen 2 und 8 Uhr morgens am höchsten. Nach

c1
P 21 Corticosteron

50
17 e
8  Uhr nimmt die Sekretion von ACTH und Cortisol all- ind

P4
r
mählich ab und erreicht in den späten Abendstunden ih- 21 22 23 r en +
26 n nie P450c11AS 18
ren Tiefstpunkt. Der zirkadiane Rhythmus hängt vom 111218 20 24 25 Progesteron be
1 19 13 17 16 27 Ne CH2OH
Schlaf-wach- und Tag-Nacht-Rhythmus ab. Bei Übersee- 2 14 15
3 10 9 8

O=

C=O
reisen kann es 10–14 Tage dauern, bis sich der zirkadiane HO 4 5 6 7 HO H-C
D
HS

Rhythmus an die neue Zeitzone anpasst. Cholesterin 3


Der diurnale Rhythmus der Cortisolsekretion ist beim O


StAR 30 P450scc Aldosteron
Cushing-Syndrom aufgehoben unabhängig davon, ob das P450c17
Syndrom durch einen primäreren Nebennierentumor, ei- Δ5-Pregnenolon 17 17α-Hydroxypregnenolon
P450c17 O
ne eutope oder eine ektope ACTH-Überproduktion verur- 17
Dehydroepiandrosteron
sacht wird. Die Feedback-Hemmung von ACTH durch P450c17
17 3βHSD 4
Cortisol kann jederzeit durch einen übergeordneten Me- HO O
17βHSD3 Androstendion
chanismus (z. B. Stress) unterbrochen werden. Belastende 17
Reize (z. B. Fieber, Trauma, Hypoglykämie, Hypotonie), Testosteron O
Kennzeichnung des Aro 17βHSD2
die den zerebralen Kortex erreichen, heben die inhibieren- Wirkorts des jeweiligen P4 mata
50 se
de Wirkung der Formatio reticularis oder des limbischen Enzyms am Steroidkern
mit einem Ring: Es
Systems auf die Zentren des Hypothalamus im Bereich von tra
dio
l
Nucleus tuberoinfundibularis und Eminentia mediana auf. OH
Außerdem fördert ADH die ACTH-Freisetzung. Proin- OH
flammatorische Zytokine (z. B. Interleukine) erhöhen die
HO Estradiol
ACTH-Sekretion direkt oder durch Anhebung der CRH- O e
as
Sekretion. Je größer der Stress ist, umso mehr ACTH wird Gonaden Testosteron at 0
o m 5
produziert. Die obere Sekretionsgrenze für Cortisol beträgt Ar P4
etwa 250 mg/d.
Abb. 3.6
Von Acetat abgeleitetes Cholesterin wird in der Neben-
nierenrinde gespeichert. Sein Steranring aus 4 Kohlenwas-
serstoffringen (3 Cyclohexanringe und ein einzelner Cyclo- stimmte Glia- und Nervenzellen des Gehirns). Die Rolle der Das steroidogene akut regulatorische Protein (StAR) ver-
pentanring) wird durch Enzyme modifiziert, die Hydroxyl- verschiedenen steroidogenen Gewebe hängt davon ab, wie bringt Cholesterin von der äußeren zur inneren Mitochon-
gruppen in den Ring einbringen (Hydroxylasen), Wasser- dieser Prozess reguliert und wie Pregnenolon anschließend drienmembran, wo durch die geschwindigkeitsbestim-
stoff aus einer Hydroxylgruppe (Dehydrogenasen) oder metabolisiert wird. Die meisten steroidogenen Enzyme ar- mende Abspaltung der Steroidseitenkette von Cholesterin
Wasserstoff aus einer CH-Gruppe entfernen (Oxidasen). beiten unidirektional, sodass die Akkumulation des Pro- durch ein Cleavage-Enzym (P450scc) Pregnenolon ent-
Die chemische Struktur bestimmt die Funktion. So unter- dukts keine vermehrte Produktion des Substrats zur Folge steht. StAR wird durch einen Anstieg der intrazellulären
scheiden sich die Glukokortikoide durch eine α-Ketolgruppe hat. Während zudem die P450-vermittelten Hydroxylie­ Konzentration von zyklischem Adenosinmonophosphat
und eine 11-Hydroxylgruppe. Die Spaltung von Cholesterin rungen und Spaltungen der Kohlenstoffbindungen irre­ (cAMP) nach Reaktivierung von ACTH induziert. P450scc
zu Pregnenolon (dem C21-Vorläufer aller aktiven Steroid- versibel sind, sind die Reaktionen der Hydroxysteroid- und die CYP11B-Enzyme (11β-Hydroxylase und Aldoste-
hormone) und Isocaproaldehyd ist der kritische erste Dehydro­genase reversibel. Glukokortikoide und Gestagene ronsynthetase) sind mitochondriale Enzyme und benöti-
Schritt und erfolgt nur an bestimmten Stellen im Körper besitzen 21 Kohlenstoffatome (C21-Steroide), Androgen be- gen ein Elektronen-Shuttle-System (Adrenodoxin/Adre-
(z. B. Nebennierenrinde, testikuläre Leydig-Zellen, ovariel- sitzt 19 Kohlenstoffatome (C19-Steroide) und Östrogene ha- nodoxinreduktase) zur Oxidierung von Steroiden, wäh-
le Theka-Zellen, Trophoblastzellen der Plazenta sowie be- ben 18 Kohlenstoffatome (C18-Steroide). rend 17α-Hydroxylase und 21-Hydroxylase im endoplas-
Biosynthese und Metabolismus der Nebennierenrindenhormone 71

(Fortsetzung)

Leber
Blutkreislauf ↑ Bei oraler Östrogengabe, Schwanger- tochondrien. In der Zona glomerulosa bauen P450c11β
schaft oder aktiver Hepatitis und Aldosteronsynthase (P450c11AS) Deoxycorticosteron
CBG ↓ Bei Zirrhose, nephrotischem Syndrom,
CBG Plasmozytom oder Hyperthyreose
zu Corticosteron um. P450c11AS ist auch für die 18-Hy­
Cortisol
11β -HSD1 droxylierung und 18-Methyloxidierung von Corticosteron
Cortisol Cortison
zu Aldosteron über das Zwischenprodukt 18-Hydroxycor-
Inaktivierung (Reduktion und Hydroxylierung): ticosteron erforderlich. Während die Aldosteronsekretion
Freies
Konjugation, vor allem mit Glukuronsäure
Cortisol durch die begrenzte Expression von CYP11B2 auf die Zona
≈ 10 %
Inaktivierung (Reduktion und Hydroxylierung): glomerulosa beschränkt ist, kann diese kein Cortisol pro-
Konjugation mit Glukuronsäure
Cortisol duzieren, da sie keine CYP17 exprimiert. In der Zona reti-
Albumin cularis fördern hohe Spiegel von Cytochrom b5 die
Inaktivierung: Konjugation, vor allem mit Sul-
fat und weniger mit Glukuronsäure
17,20-Lyase-Aktivität der 17α-Hydroxylase und die Pro-
duktion von DHEA, das durch die 3β-Hydroxysteroid-
Angiotensin II Angiotensinogen Dehydrogenase zu Androstendion umgebaut oder in der
Hohes Zona reticularis durch die DHEA-Sulfotransferase (SUL-
Kalium
T2A1) zu DHEA-S sulfatiert wird. Androstendion kann
ACTH Renin durch die 17β-Ketosteroidreduktase (17β-HSD3) in Ne-
Niere Cortison 20–130 μg/24 h
11β- bennieren oder Gonaden zu Testosteron umgebaut wer-
Cortisol 10–50 μg/24 h
HSD2 den.
Cortisol
Cortison
Tetra- und Dihydrocortisol Unter normalen Umständen werden in 24 Stunden 10
und Cortisonglukuronid bis 20 mg Cortisol und 0,1–0,15 mg Aldosteron produziert.
sowie andere C21-Derivate
Aldosteron 5–10 mg/24 h Die erwachsene Nebenniere produziert in 24 Stunden etwa
4 mg DHEA, 10 mg DHEA-S, 1,5 mg Androstendion und
Aldosteron 1–5 μg/24 h
0,05 mg Testosteron. Testosteron hat die 60fache androge-
3-Oxoderivat ne Potenz des potentesten 17-Ketosteroids (mit einem
5–15 μg/24 h
17-Ketosteroide
Sauerstoffatom in Position 17). Die adrenalen Androgene
Tetra- und Dihydro-
aldosteronglukuronid machen bei prämenopausalen Frauen etwa 50 % der zirku-
20–30 μg/24 h lierenden Androgene aus. Die Nebennieren produzieren
kleine Mengen von Estradiol (gebildet aus Testosteron)
17-Ketosteroide: Sulfate
(und Glukuronide)
und Estron (gebildet aus Androstendion). Beide werden
5–15 mg/24 h nach der Menopause wichtig, wenn die Nebennieren bei
Frauen die einzige Östrogenquelle sind.
Etwa 90 % des Plasmacortisols sind überwiegend an Corti-
sol-binding Globulin (CBG) und in geringerem Umfang an
Albumin gebunden. Die hepatische CBG-Produktion ist
bei Patientinnen, die oral Östrogene einnehmen (z. B. orale
Kontrazeptiva oder postmenopausaler Hormonersatz), bei
Schwangeren und bei aktiver Hepatitis erhöht. Reduziert
sind die CBG-Plasmaspiegel bei Zirrhose, nephrotischem
Syndrom, multiplem Myelom und Hyperthyreose. Bei der
Cortisolbestimmung muss die Summe des gebundenen
und des freien Serumcortisols ermittelt werden; der CBG-
Spiegel hat einen erheblichen Einfluss auf die gemessenen
Abb. 3.6
Cortisolspiegel, die bei oraler Östrogeneinnahme hoch und
bei niedrigen CBG-Spiegeln reduziert sind. In diesen Fäl-
matischen Retikulum liegen und der Elektronentransfer koidsynthese. (Die Zona glomerulosa exprimiert kein len wird der freie oder ungebundene Cortisolspiegel oder
durch Nikotinamidadenindinukleotidphosphat durch das P450c17.) P450c17 besitzt auch 17,20-Lyase-Aktivität, die die renale Ausscheidung von freiem Cortisol, das freie
Enzym P450-Oxidoreduktase (P450 OR) erfolgt. Die zur Produktion der adrenalen C19-Androgene führt (Dehy- Urincortisol (entspricht etwa 1 % der totalen Cortisolsekre-
17,20-Lyase-Aktivität von 17α-Hydroxylase setzt Flavo- droepiandrosteron [DHEA] und Androstendion). Der tion), gemessen.
protein b5 voraus, das als allosterischer Kofaktor der überwiegende Teil der adrenalen Androstendionprodukti- Die Plasmahalbwertszeit von Cortisol liegt bei 60 bis
CYP17- und P450-OR-Interaktion fungiert. on hängt von der Konversion von Dehydroepiandrosteron 120 Minuten. Die Interkonversion von Cortisol und Corti-
Im Zytoplasma wird Pregnenolon durch die durch die 3β-HSD zu Androstendion ab. Die 21-Hydroxy- son durch die 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (11β-
3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (3β-HSD) mit Dehy­ lierung von Progesteron in der Zona glomerulosa oder von HSD) steuert die lokale Kortikosteroidwirkung. Es gibt
dro­genierung der 3-Hydroxyl-Gruppe und Isomerisierung 17-Hydroxyprogesteron (Zona fasciculata) erfolgt durch zwei 11β-HSD-Isozyme: 11β-HSD1 wird vor allem in der
der Doppelbindung an C5 zu Progesteron umgebaut. Pro- die 21-Hydroxylase (P450c21) zu Deoxycorticosteron bzw. Leber exprimiert und baut Cortison zu Cortisol um,
gesteron wird durch die Aktivität der 17α-Hydroxylase 11-Deoxycortisol. Der letzte Schritt der Cortisolbiosyn­ 11β-HSD2 liegt in der Nähe der Mineralokortikoidrezepto-
(P450c17) zu 17-Hydroxyprogesteron hydroxyliert. Die these – die Konversion von 11-Deoxycortisol zu Cortisol ren von Niere, Kolon und Speicheldrüsen und inaktiviert
17-Hydroxylierung ist eine Voraussetzung der Glukokorti- durch die 11β-Hydroxylase (P450c11β) – erfolgt in den Mi- Cortisol zu Cortison. Durch reduzierte 11β-HSD2-Aktivität
72 3  Nebenniere

(Fortsetzung)

Gene, Lokalisationen und Substrate der adrenalen steroidogenen Enzyme

Enzymname Abkürzung Gen Vorkommen Substrat

Spaltung von Cholesterinseitenketten


P-450scc CYP11A1 ZG, ZF, ZR, Gonaden, Plazenta, Gehirn Cholesterin
(Desmolase)

3β-Hydroxysteroiddehydrogenase
3β-HSD1 HSD3B1 Plazenta, Leber, Gehirn Pregnenolon, 17α-OH-Pregnenolon
(3 β-HSD1) (Typ-I-Isozym)

3β-Hydroxysteroiddehydrogenase DHEA, Pregnenolon,


3β-HSD2 HSD3B2 ZG, ZF, ZR, Gonaden
(3β-HSD2) (Typ-II-Isozym) 17α-OH-Pregnenolon

Pregnenolon, 17α-OH-Pregnenolon,
17α-Hydroxylase/17,20-Lyase P-450c17 CYP17 ZF, ZR, Gonaden, Gehirn
Progesteron, 17α-OH-Progesteron

21-Hydroxylase P-450c21 CYP21A2 ZG, ZF, ZR Progesteron, 17α-OH-Progesteron

11-Deoxycortisol,
11β-Hydroxylase P-450c11β CYP11B1 ZG, ZR, Gehirn
11-Deoxycorticosteron

Deoxycorticosteron,
Aldosteronsynthase P-450c11AS CYP11B2 ZG, Gehirn, Herz
18-OH-Corticosteron

Gonaden, Plazenta, Gehirn, Knochen,


Aromatase P-450arom CYP19A1 Testosteron, Androstendion
Fett

17β-Ketosteroidreduktase 17β-HSD1 HSD17B1 Gonaden, Plazenta, Mamma Estron

17β-Hydroxysteroiddehydrogenase 17β-HSD2 HSD17B2 Weit verbreitet Estradiol, Testosteron

17β-Ketosteroidreduktase 17β-HSD3 HSD17B3 Gonaden Androstendion

11β-Hydroxysteroiddehydrogenase 1 11β-HSD1 HSD11B1 Leber, Gehirn, Plazenta, Fett Cortison

11β-Hydroxysteroiddehydrogenase 2 11β-HSD2 HSD11B2 Niere, Kolon, Speicheldrüsen, Plazenta Cortisol

Abkürzungen: DHEA = Dehydroepiandrosteron, ZF = adrenale Zona fasciculata, ZG = adrenale Zona glomerulosa, ZR = adrenale Zona reticularis

Abb. 3.7 

entsteht ein Mineralokortikoidexzess. Cortisol ist ein po- zentration und normale Plasmacortisolspiegel. Die Dia­ xylierung zu Tetrahydrocortisol und Tetrahydrocortison
tentes Mineralokortikoid und bei Enzymmangel akkumu- gnose wird durch den Nachweis eines anormalen Quotien- und rascher Konjugierung mit Glukuronsäure und Aus-
lieren hohe Cortisolspiegel in der Niere. Somit verhindert ten von Cortisol zu Cortison im 24-Stunden-Sammelurin scheidung mit dem Urin. Somit erfolgt der Cortisolstoff-
11β-HSD2 normalerweise, dass physiologische Glukokor- gestellt (z. B. > 10 : 1). Der Mineralokortikoidexzesss durch wechsel vornehmlich in Leber und Niere.
tikoide am nichtselektiven Mineralokortikoidrezeptor wir- ektope ACTH-Sekretion, der oft bei Patienten mit Cus- Aldosteron wird auch in der Leber metabolisiert, wo es
ken, indem es sie in die inaktive 11-Ketokomponente Cor- hing-Syndrom auftritt, hängt mit der hohen Cortisolpro- eine Tetrahydroreduktion durchläuft und von den Nieren
tison umwandelt. Die 11β-HSD2-Aktivität kann hereditär duktion zusammen, welche die 11β-HSD2-Aktivität über- als 3-Glukuronidtetrahydroaldosteron ausgeschieden wird.
oder sekundär durch pharmakologische Hemmung durch steigt. Von diesem Konjugat werden täglich 20–30 μg mit dem
Glycyrrhizinsäure, den aktiven Wirkstoff der Süßwurzel Normalerweise ist die Cortisonkonzentration im Urin Urin ausgeschieden. Außerdem finden sich 5–15 μg/d des
(Glycyrrhiza glabra), reduziert sein. Der klinische Phäno- etwa 2–3-mal höher als die Cortisolkonzentration. Der Aldosteron-3-Oxoglukuronsäure-Konjugats als hydroly-
typ von Patienten mit Mineralokortikoidexzess umfasst Umbau von Cortisol und Cortison folgt ähnlichen Wegen sierbares Aldosteron. Ein weitaus kleinerer Teil von Aldos-
Hypertonie, Hypokaliämie, metabolische Alkalose, niedri- mit Reduktion der Doppelbindung von C4–5 zu Dihydro- teron (1–5 μg) taucht als freie Form im Urin auf.
ge Plasmareninaktivität, niedrige Plasmaaldosteronkon- cortisol oder Dihydrocortison mit anschließender Hydro-
Die biologischen Wirkungen von Cortisol 73

Die biologischen Wirkungen von Cortisol


Kohlenhydrat-, Protein- und Blutkreislauf
Leber
Fettstoffwechsel Muskel Abbau von Vermehrte Glykogenspeicherung
Aminosäuren Vermehrte Glukoneogenese
Durch ihre Wirkungen auf den Glykogen-, Protein- und (antianabo-
lische
Fettstoffwechsel erhöhen Glukokortikoide die Blutglukose. Muskel- Wirkung)
schwund Fettab-
In der Leber fördern sie durch Hemmung des glykogenmo-
Vermehrte lagerung
bilisierenden Enzyms (Glykogenphosphorylase) und durch Glukose- (zentripetal)
Resorption von Vermehrte
Aktivierung der Glykogensynthetase die Glykogenablage- Knochenmatrix ausschüttung
Abgabe
rung und durch Aktivierung der Glukoneogenese-Enzyme von Insulin Diabetes
(Glukose-6-Phosphatase und Phosphoenolpyruvatkinase) Vermehrte
Magensäure-
die hepatische Glukoseabgabe. Im Fettgewebe aktivieren Ca+
Erschöpfung der Betazellen produktion,
Kalziumresorption Gestörte Kalziumabsorption
sie die Lipolyse und erhöhen so die Serumspiegel der freien Ulkusbildung
oder -ver-
Fettsäuren. Aufgrund ihrer positiv synergistischen Wir- schlimmerung
kung mit anderen Hormonen (z. B. Glukagon und Kate­ Vermehrte renale
Initial vermehrte Kalziumausscheidung
chol­amine) führen erhöhte Konzentrationen zur Insulinre- Freisetzung H 2O
sistenz und erhöhen die Blutglukose. Dadurch unterstützen von Antikörpern Erhöhte glomeruläre
Filtration (Wasserdiurese)
Glukokortikoide kurzfristig die Stressreaktion, die für eine
Lymph-
rasche und starke Reaktion Glukose benötigt. Bei Langzeit- knotenlyse Schließlich reduzierte K+, H+
überschuss wirken Glukokortikoide diabetogen. Außerdem Antikörperproduktion Na+ Kaliumverlust
verstärken sie die Adipogenese, vor allem der viszeralen, Natriumretention
zentralen Fettdepots (zentripetale Fettverteilung).
Lymphozytopenie Noradrenalin
Erhöhte neurale Angiotensin II
Erregbarkeit Aufrechterhaltung des arteriolären Tonus
Haut, Muskel und Bindegewebe Eosinopenie und des Blutdrucks (durch Noradrenalin
und Angiotensin II)

Ein Glukokortikoidüberschuss wirkt katabol und führt zur Neutrophilie


Deaminierung der Aminosäuren aus der Muskulatur in der
Leber mit Muskelabbau und proximaler Muskelschwäche.
Die reduzierte Proteinsynthese und die vermehrte Resorp- Antiphlogistische Wirkung Polyzythämie Antiallergische Wirkung
tion der Knochenmatrix führen bei Kindern zum Wachs-
tumsstopp. Glukokortikoide reduzieren die Kollagensyn- Abb. 3.8 
these und -produktion, hemmen die Epithelzellteilung und
die DNA-Synthese. Gefäßmuskulatur. Außerdem erhöhen sie die Angiotensi- gen sind Depression, Euphorie, Psychose, Apathie oder
nogensynthese. Lethargie möglich. Die erhöhte Neuroexzitabilität führt oft
zur Schlaflosigkeit. Bei Glukokortikoidmangel sind De-
Knochen- und Kalziumstoffwechsel pression und Müdigkeit möglich. Glukokortikoide können
Antiphlogistische Wirkung durch Erhöhung des intraokulären Drucks ein Glaukom
Ein Glukokortikoidüberschuss führt durch Hemmung der auslösen. Dabei erhöhen sie die Kammerwasserprodukti-
Osteoblastenfunktion und vermehrte Resorption der Kno- Glukokortikoide supprimieren autoimmune und entzünd- on und behindern dessen Drainage.
chenmatrix zu Osteopenie und Osteoporose. Die wichtigs- liche Reaktionen. Sie reduzieren die Zahl der Lymphozyten
te Knochenkomplikation ist die Osteonekrose (avaskuläre im Blut (durch Umverteilung aus dem intravasalen Kom-
Nekrose) durch Apoptose der Osteozyten mit fokalem partiment in Milz, Lymphknoten und Knochenmark), Gastrointestinaltrakt
Rückgang und Kollaps des Knochens (v. a. des Femurkop- hemmen die Immunglobulinsynthese, stimulieren die lym-
fes). Außerdem hemmt er die intestinale Kalziumresorpti- phozytäre Apoptose und hemmen die Produktion proin- Supraphysiologische Glukokortikoiddosen erhöhen durch
on und erhöht die renale Kalziumausscheidung, sodass ei- flammatorischer Zytokine. Sie erhöhen die Zahl der Neu- die vermehrte Sekretion von Salzsäure und Pepsin und die
ne negative Kalziumbalance entsteht. trophilen im Blut und reduzieren die Zahl der Eosinophi- verminderte Schleimbildung im Magen das Risiko für pep-
len. Weitere antiinflammatorische Mechanismen sind die tische Ulzera.
Hemmung der Monozytendifferenzierung in Makrophagen
Blutdruckkontrolle und deren phagozytärer und zytotoxischer Aktivität sowie
die Reduktion der lokalen Entzündungsreaktion durch Un- Endokrine Effekte
Glukokortikoide erhöhen die glomeruläre Filtrationsrate, terdrückung der Wirkungen von Histamin und Plasmino-
den Natriumtransport im proximalen Tubulus und die genaktivatoren sowie durch Störung der Prostaglandinsyn- Glukokortikoide reduzieren direkt die TSH-Sekretion und
Clearance von freiem Wasser. Ein Glukokortikoidüber- these. Bei pharmakologischer Dosierung von Glukokorti- hemmen die Aktivität der 5‘-Deiodinase, die Thyroxin zu
schuss übersteigt die Kapazität des renalen Isoenzyms 2 koiden kann eine leichte Polyzythämie auftreten. Triiodthyronin umbaut. Außerdem hemmen sie die pulsa-
der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (11β-HSD2), so- tile Abgabe von Gonadotropin-releasing-Hormon aus der
dass es durch Wirkung am Mineralokortikoidrezeptor Hypophyse.
(› Abb. 3–6, › Abb. 3–7) zu Natriumretention und Ka- Zentrales Nervensystem und Augen
liumverlust an der Niere kommt. Normalerweise erhöhen
Glukokortikoide die Sensitivität für pressorische Wirkstof- Bei Glukokortikoidüberschuss oder -mangel sind Verhal-
fe, wie Katecholamine und Angiotensin II, in der glatten tensveränderungen und bei pharmakologischen Dosierun-
74 3  Nebenniere

Cushing-Syndrom – klinisches Bild


Das Cushing-Syndrom ist ein Symptomenkomplex, der Gesichtsplethora Schütteres
Kopfhaar
durch eine längere Exposition mit supraphysiologischen
Glukokortikoidspiegeln entsteht. Die häufigste Ursache ist
die Einnahme synthetischer Glukokortikoide zur Behand-
Mondgesicht
lung entzündlicher Zustände, das exogene oder iatrogene
Cushing-Syndrom. Das endogene oder spontane Cushing- Fettablagerungen:
dorsozervikal
Syndrom ist selten und entsteht durch die Überproduktion („Büffelnacken“) supraklavikulär
von ACTH (ACTH-abhängiges Cushing-Syndrom) oder
Hirsutismus
die primäre adrenale Überproduktion von Glukokortiko­
iden (ACTH-unabhängiges Cushing-Syndrom).
Obwohl das Cushing-Syndrom selten ist, finden sich oft
Dünne Haut
Zeichen eines Hypercortisolismus. Die Aufgabe des Arztes
Hämatomneigung
ist es, (1) das Cushing-Syndrom zu erkennen, (2) das en- (Ekchymosen)
dogene Cushing-Syndrom mit biochemischen Tests zu be-
stätigen, (3) die Ursache des Cushing-Syndroms zu ermit-
teln und (4) eine definitive Behandlung durchzuführen.
Typische Befunde und Symptome des Cushing-Syndroms Stammfettsucht
sind Gewichtszunahme mit zentraler (zentripetaler) Adiposi-
tas, Rundung des Gesichts mit Fettablagerung in den Fossae
temporales und den Wangen („Mondgesicht“) und Plethora,
supraklavikuläre Fettpolster, dorsozervikale Fettpolster („Büf-
felnacken“), Hämatomneigung („spontane“ Ekchymosen), Rote Striae
dünne, rissige pergamentpapierartige Haut (Sichtbarkeit der
subkutanen Blutgefäße), schlechte Wundheilung, livide Striae
(in der Regel mit einem Durchmesser > 1 cm an Abdomen,
Flanken, Axilla, Mammae, Hüften und Innenschenkeln), Hy-
perpigmentierung über den Streckseiten und Palmarfalten (in Dünne Arme und Beine
mit proximaler Muskelschwäche
der Regel bei deutlich erhöhten ACTH-Spiegeln), ausgedünn-
tes Kopfhaar, proximale Muskelschwäche mit Muskelabbau
und dünnen Extremitäten, emotionale und kognitive Verän-
derungen (z. B. Reizbarkeit, Weinen, Depression, Schlaflosig-
Hängebauch
keit, Unruhe), Hirsutismus und Hyperandrogenismus (z. B.
Akne), Hypertonie, Osteopenie und Osteoporose mit Wirbel-
körperkompressionsfrakturen, lumbale Rückenschmerzen
(durch Wirbelkörperkompressionsfrakturen, Muskelschwund
und Lordose durch die abdominale Gewichtszunahme), Nie-
rensteine, Glukoseintoleranz und Diabetes mellitus (durch die
glukokortikoidinduzierte Glukoneogenese und periphere In-
sulinresistenz durch das vermehrte Körperfett), Polyurie, Hy-
perlipidämie, opportunistische und Pilzinfektionen (z. B. mu-
Schlechte Wundheilung
kokutane Kandidose, Pityriasis versicolor), Menstruationsstö-
rungen (Oligomenorrhö oder Amenorrhö) und Infertilität.
Außerdem weisen Kinder mit Cushing-Syndrom eine allge-
meine Adipositas mit Wachstumsretardierung auf.
Die klinischen Merkmale des Cushing-Syndroms kön-
nen langsam im Laufe der Zeit auftreten, sodass ein Ver-
Osteoporose, komprimierte
gleich des aktuellen Aussehens des Patienten mit alten Fo- Wirbel (Fischwirbel)
tografien hilfreich ist. Viele der vorgenannten Befunde und
Symptome sind häufig und nicht typisch (z. B. Adipositas, Abb. 3.9 
Hypertonie, gestörte Glukosetoleranz, Menstruationsstö-
rungen). Der klinische Verdacht auf ein Cushing-Syndrom kortikalem Karzinom häufiger. Die häufigste Form der Ge- droms oder adrenokortikalen Karzinoms sind eine ausge-
nimmt bei gleichzeitigem Vorliegen mehrerer Symptome sichtsbehaarung beim Cushing-Syndrom ist bei Frauen prägte Hypokaliämie und schwere Hypertonie häufiger. Bei
zu (z. B. supraklavikuläre Fettpolster, breite livide Striae, dünnes Vellushaar im Bereich von Koteletten, Wangen Messung der Knochendichte haben die meisten Patienten mit
proximale Muskelschwäche). Aufgrund der katabolischen und Oberlippe. Adrenale Adenome als Ursache des Cushing-Syndrom eine Osteoporose. Die Ursachen sind mul-
Effekte der Glukokortikoide auf den Skelettmuskel geben ­Cushing-Syndroms produzieren in der Regel nur Cortisol. tifaktoriell und umfassen eine reduzierte intestinale Kalzium-
die meisten Patienten Probleme beim Treppensteigen und Das Labor zeigt eine Nüchternhyperglykämie, eine Hyper- resorption, eine vermehrte Knochenresorption, eine redu-
dem Aufstehen aus dem Sitzen ohne Abstützen an. Corti- lipidämie, eine Hypokaliämie (durch die Glukokortikoidwir- zierte Knochenbildung und eine reduzierte renale Kalziumre-
sol besitzt keine androgene Aktivität und Hirsutismus und kung am Mineralokortikoidrezeptor), eine Leukozytose mit absorption. Diese Patienten haben auch ein erhöhtes Risiko
Akne hängen vom Androgenexzess ab und sind bei Frauen relativer Lymphopenie und eine Albuminurie. Bei schwerer für eine Thrombophlebitis und thromboembolische Ereignis-
mit ACTH-abhängigem Cushing-Syndrom oder adreno- Hypercortisolämie im Rahmen eines ektopen ACTH-Syn- se. Unbehandelt kann ein Cushing-Syndrom letal verlaufen.
Diagnostik des Cushing-Syndroms 75

Diagnostik des Cushing-Syndroms


Suchtests Die Evaluation des Cushing-Syndroms erfolgt in 3 Schritten:
1. Screening: Das Screening sollte beginnen mit:
Der Suchtest erfolgt durch Messung der 24-Stunden-Urin- a. Messung des freien Cortisols b. 23 Uhr Speichelcortisol c. Serumcortisol im Tagesverlauf
ausscheidung von freiem Cortisol, der Cortisolkonzentra- im 24-Stunden-Urin (UFC) Stopfen
Blutentnahmen um 8 Uhr und 16 Uhr
tion im Speichel um 23 Uhr und der Serumcortisolspiegel Bei normaler Cortisolausscheidung Der
um 8 und 16 Uhr. Leider ist die Diagnose des Cushing- im 24-Stunden-Urin und klinisch Patient legt
Tupfer
hohem Verdacht auf ein Cushing- den Tupfer
Syndroms in der Regel nicht einfach. So schließt eine nor-
Syndrom sind wiederholte Bestim- in den Mund, ohne ihn mit
male renale Cortisolausscheidung ein Cushing-Syndrom mungen im 24-Stunden-Sammel-
Einsatz den Fingern zu berühren, und
nicht aus, sie ist bei 10–15 % der Patienten mit Cushing- urin indiziert. rollt ihn dort 2 Minuten lang.
Syndrom bei einer von vier Messungen normal. Außerdem Anschließend wird der Tupfer
können alle Formen des endogenen Cushing-Syndroms wieder in den Einsatz gesteckt,
24-Stunden- der in das Zentrifugalröhrchen
zyklisch Cortisol produzieren, was die biochemische Urin-Sammel- Zentrifugal- gesteckt wird, das mit dem
­Dokumentation und Interpretation der Suppressionstests röhrchen Stopfen verschlossen wird. d. Nächtlicher DST
container
erschwert. Bei starkem klinischem Verdacht auf ein
­Cushing-Syndrom und normaler Cortisolausscheidung im
Urin sind mehrere 24-Stunden-Messungen des Urincorti- 2. Bestätigungstest: ... sollte mit einem 2-tägigen nied- Der DST ist ein
Bei positivem Screening und rig dosierten DST ein autonomer weiterer Screening-
sols indiziert (einmal monatlich für 4 Monate). Der Wert
einem freien Urincortisol Hypercortisolismus bestätigt werden test. Dabei wird
kann auch bei Alkoholismus, Depression, schweren Er- < 200 μg/24 h ... Dexamethason 0,5 mg um 23 Uhr 1 mg
krankungen oder hohem Urinvolumen (> 4 l) erhöht sein. alle 6 Stunden Dexamethason
In der Tandem-Massenspektroskopie beträgt das obere Li- für 48 Stunden eingenom-
mit des Referenzbereichs für die Cortisolausscheidung im Erste 24- Zweite 24- men und ...
Stunden- Stunden-
24-Stunden-Sammelurin 45 μg (124 nmol). Phase Phase
Die 24-Stunden-Urin-
Die Cortisolspiegel im Speichel um 23 Uhr besitzen eine sammlung zur Mes- 6 Uhr 6 Uhr
Sensitivität von 92 % für das Cushing-Syndrom. Eine feh- sung der Ausschei- ... am nächsten Morgen um
12 Uhr 12 Uhr
lende diurnale Variation spricht für eine autonome Gluko- dung von freiem Cor- 8.00 Uhr das Serumcortisol
tisol beginnt am Mor- 18 Uhr 18 Uhr
kortikoidsekretion. bestimmt.
gen der zweiten 24 Uhr 24 Uhr
Der Dexamethason-Hemmtest ist ein weiterer Suchtest. 24-Stunden-Periode. 6 Uhr
Dazu wird um 23  Uhr 1 mg Dexamethason gegeben und
am nächsten Morgen um 8 Uhr das Serumcortisol gemes-
3. Ätiologische Testing: Sie sollte erst nach Bestätigung des Cushing-Syndroms erfolgen.
sen, das beim Gesunden unter 1,8 μg/dl (50 nmol/l) suppri- a. Plasma-ACTH c. Probennahme aus dem Sinus petrosus
miert ist. Weitere Ursachen für die fehlende Supprimier- Die Plasmakonzentration von ACTH inferior.
barkeit von Cortisol im Dexamethason-Hemmtest neben definiert den Hypercortisolismus als Sie erfolgt bei Patienten mit ACTH-abhängi-
ACTH-abhängig oder ACTH-unabhängig. gem Cushing-Syndrom ohne Hypophysen-
dem Cushing-Syndrom sind Einnahmefehler von Dexame- tumor im MRT.
thason, ein erhöhter Spiegel von cortisolbindendem Glo- Hypophyse
bulin (z. B. mit Östrogentherapie oder Schwangerschaft), Katheter in die Sinus petrosi inferiores
Adipositas, die Einnahme von Medikamenten, die den
Dexamethasonstoffwechsel beschleunigen (z. B. Antiepi-
leptika, Phenobarbital, Primidon, Rifampicin), Nierenin-
suffizienz, Alkoholismus, psychiatrische Erkrankungen
(z. B. Depression), Stress oder Laborfehler.

b. Kraniales MRT. Bei allen Patienten mit d. Abdominales CT. Bei Patienten mit ACTH-
Bestätigungstests ACTH-abhängigem Cushing-Syndrom ist ein unabhängigem Cushing-Syndrom zeigt eine
MRT der Hypophyse mit Gadolinium-Diethylen- Computertomografie der Nebennieren meist
Bei einer 24-Stunden-Urinausscheidung von freiem Corti- triaminpentaessigsäure indiziert. die Art der Erkrankung.
sol > 200 μg/24 h (> 552 nmol/24 h) und klinischem Bild
eines Cushing-Syndroms sind weitere Untersuchungen er- Abb. 3.10 
forderlich. Bei „weichen“ klinischen Befunden und einer
Ausscheidung < 200 μg/24 h (< 552 nmol/24 h) sollte durch Erkrankung können im niedrig dosierten Dexamethason- gig (ACTH nicht nachweisbar) eingestuft. Bei ACTH-abhän-
den niedrig dosierten Dexamethasontest (Dexamethason test eine Suppression aufweisen. gigem Cushing-Syndrom ist grundsätzlich eine MRT der
0,5 mg p. o. alle 6 h für 48 h) ein autonomer Hypercortiso- Hypophyse mit Gadopentetat-Dimeglumin indiziert. Bei
lismus ausgeschlossen werden. Eine 24-Stunden-Urinaus- Nachweis eines Hypophysentumors (≥  4 mm) und klini-
scheidung von freiem Cortisol > 10 μg/24 h (28 nmol/24 h) Klassifikation schen Veränderungen im Sinne einer hypophysären Erkran-
bestätigt die Diagnose. Der niedrig dosierte Dexametha- kung sind in der Regel keine weiteren Untersuchungen erfor-
sontest ist jedoch bei Weitem nicht perfekt (Sensitivität Die Subtypenevaluation sollte individualisiert und erst dann derlich. Kleine hypophysäre Läsionen (< 4 mm) finden sich
79 %, Spezifität 74 % und Genauigkeit 71 %). Der Test erfolgen, wenn das Cushing-Syndrom bestätigt ist. Viele der oft beim Gesunden und gelten als unspezifisch; hier sollte
funktioniert bei geringem Verdacht auf ein Cushing-Syn- Tests sind bei schwerem klinischem Cushing-Syndrom über- ebenso wie bei einer in der MRT normalen Hypophyse ein
drom am besten. Bei starkem klinischem Verdacht schließt flüssig und würden die lebensrettende Therapie nur unnötig Sinus-petrosus-Katheter durchgeführt werden. Bei ACTH-
eine normale Suppression ein ACTH-abhängiges Cushing- hinauszögern. Der Hypercortisolismus wird als ACTH-ab- unabhängigem Cushing-Syndrom ergibt sich die Art der Ne-
Syndrom nicht aus; Patienten mit leichter hypophysärer hängig (normal hohe ACTH-Spiegel) oder ACTH-unabhän- bennierenerkrankung in der Regel in der CT.
SpecialChar_Bold_6pt

76 3  Nebenniere

Pathophysiologie des Cushing-Syndroms


Keine Hemmung der ACTH-Sekretion durch erhöhte Cortisolspiegel

Bei normaler Sella turcica


ACTH produ- weist das MRT den Tumor
in 50 % der Fälle nach Ektope ACTH-
zierendes Produktion eines
Mikroadenom Lungenkarzinoids
der Hypophyse ACTH-
produzierendes
Makroadenom
der Hypophyse

Bei vergrößerter Sella turcica


weist das MRT den Tumor in
100 % der Fälle nach.

ACTH mittelstark erhöht ACTH stark erhöht


Beide Nebennierenrinden
überaktiv oder
hyperplastisch

Keine vermehrte Pigmentierung Vermehrte Pigmentierung

Cortisol

Nebennierenandrogene (z.B. DHEA)

Deoxycorticosteron (DOC)

Abb. 3.11

Das endogene Cushing-Syndrom ist entweder ACTH-abhän- ACTH-abhängiges Cushing-Syndrom Zellveränderungen finden sich bei allen Formen des Hy-
gig oder ACTH-unabhängig. Das ACTH-abhängige Cushing- percortisolismus (z. B. ektopem, adrenalem und exogenem
Syndrom führt zur bilateralen Nebennierenrindenhyperpla- Häufig besteht ein hypophysäres Cushing-Syndrom. Etwa ACTH). Es handelt sich um eine Atrophie der normalen
sie. Die häufigste Ursache des endogenen Hypercortisolismus 95 % der ACTH-produzierenden Hypophysentumoren ACTH-produzierenden basophilen Hypophysenzellen
ist ein ACTH-produzierendes Hypophysenadenom (Cushing- sind Mikroadenome (≤ 10 mm), die in der Hälfte der Fälle durch das negative Cortisol-Feedback, gegen das die Ade-
Syndrom), seltener sind Tumoren, die ACTH (ektopes ACTH- nicht mittels MRT nachweisbar sind. Die ACTH-Serum- nomzellen relativ resistent sind. Der Serumspiegel von
Syndrom) oder Corticotropin-releasing-Hormon (CRH) pro- spiegel von Patienten mit ACTH-produzierenden Mikro­ ­Dehydroepiandrosteronsulfat (DHEA-S), einem ACTH-
duzieren. Sehr selten ist eine eutope CRH-Überproduktion adenomen liegen in der Regel im Normalbereich, sind aber abhängigen adrenalen Androgen, ist bei hypophysärem
verantwortlich. Das ACTH-unabhängige Cushing-Syndrom in Anbetracht des Hypercortisolismus unangebracht. Im ­Cushing-Syndrom leicht erhöht. Die Behandlung der Wahl
entsteht durch ein Nebennierenadenom oder -karzinom, eine Gegensatz dazu liegen die ACTH-Serumspiegel bei ACTH- bei ACTH-produzierenden Hypophysyentumoren ist die
ACTH-unabhängige makronoduläre Nebennierenhyperplasie produzierenden Makroadenomen in der Regel über dem selektive transnasale endoskopische Adenomektomie.
(AIMAH) oder eine primäre pigmentierte noduläre adreno- Referenzbereich und können zur Hyperpigmentierung Nichthypophysäre, exzessiv ACTH-produzierende Tu-
kortikale Erkrankung (PPNAD) (› Abb. 3.12). führen. Die erhöhten ACTH-Serumspiegel führen zu einer moren führen zum ektopen ACTH-Syndrom mit deutli-
Das klinische Bild hängt von der Pathophysiologie ab. bilateralen Nebennierenrindenhyperplasie und zur exzes- cher bilateraler Nebennierenrindenhyperplasie und Hy-
Bei exzessiv erhöhten adrenalen Androgenen (z. B. bei ek- siven Cortisolproduktion. Die Nebennierenrinden sind in percortisolismus. Die erhöhten Cortisol-Serumspiegel
topem ACTH-Syndrom oder Nebennierenrindenadenom) der Regel leicht hyperplastisch und wiegen jeweils 6–12 g hemmen die Freisetzung von CRH aus dem Hypothalamus
können Hirsutismus, Akne und ein zurückweichender (normalerweise jeweils 4–6 g). Beim ektopen ACTH-Syn- und von ACTH aus der Hypophyse. Die häufigste Ursache
Haaransatz vorhanden sein. Bei deutlich erhöhten Corti- drom wiegen die Nebennieren in der Regel jeweils > 12 g. ist ein bronchialer Karzinoidtumor. Andere möglicherwei-
solspiegeln (z. B. beim ektopen ACTH-Syndrom) bestehen Die Befunde und Symptome sowie die Pathologie des se ACTH-produzierende Tumoren sind das kleinzellige
oft eine schwere Hypertonie und Hypokaliämie. Wenn sich Cushing-Syndroms entstehen vor allem durch Cortisol. Bronchialkarzinom, das medulläre Schilddrüsenkarzinom,
der Hypercortisolismus langsam über mehrere Jahre ent- Aber auch die adrenalen Androgene können erhöht sein das Thymuskarzinoid, pankreatische neuroendokrine Tu-
wickelt (z. B. hypophysäres Cushing-Syndrom, AIMAH und es kann eine exzessive Mineralokortikoidwirkung vor- moren und das Phäochromozytom. Der Mineralokortikoid­
oder PPNAD), stehen oft zentrale Adipositas, Osteoporose handen sein. Bei ACTH-produzierenden Hypophysenade- exzess durch die ektope ACTH-Sekretion entsteht durch
und proximale Muskelschwäche im Vordergrund. Bei nomen färbt das Mikroadenom immunhistochemisch auf die hohe Cortisolproduktion, welche die Kapazität der
deutlich erhöhten ACTH-Spiegeln steht oft die Hyperpig- ACTH an, während das umgebende nichttumoröse korti- 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 2 übersteigt, so-
mentierung der Haut im Vordergrund. kotrope Gewebe oft hyalinisiert ist (Crooke-Zellen). Diese dass Cortisol freien Zugang zum Mineralokortikoidrezep-
Pathophysiologie des Cushing-Syndroms 77

(Fortsetzung)

Hemmung des hypothalamischen CRH und des hypophysären ACTH Nachweisgrenze). Für gewöhnlich erzeugen nur Nebennie-
renadenome mit einem Durchmesser ≥  2,5 cm ausrei-
chend hohe Cortisolmengen, um ein klinisches Cushing-
Beidseitige primäre Atrophie der
Syndrom auszulösen. Behandlung der Wahl bei einem
Nebennierenerkrankung kontralateralen
Nebennierenrinde isolierten Nebennierenadenom ist die unilaterale laparo­
skopische Adrenalektomie.
Nebennierenkarzinome können auf das Organ be-
Fehlendes
oder sehr schränkt sein oder metastasiert haben (regionale Lymph-
Primär pigmentierte noduläre niedriges ACTH knoten oder Fernmetastasen in Lunge und Leber). Auch
adrenokortikale Erkrankung (PPNAD) hier atrophieren die umgebende und die kontralaterale
Einseitige primäre
Nebennierenerkrankung Nebennierenrinde. Etwa die Hälfte der Nebennierenkarzi-
Nebennieren- nome produziert ein oder mehrere Hormone (z. B. Gluko-
karzinom kortikoide, Mineralokortikoide, adrenale Androgene). Bei
Nebennieren-
ACTH-unabhängige massive adenom
Nebennierenhyperplasie hormonaktiven Nebennierenkarzinomen ist der Serum-
(AIMAH) spiegel von DHEA-S in der Regel erhöht. Außerdem be-
steht oft eine übermäßige Produktion von DOC und Aldo-
steron mit hypokaliämischer Hypertonie. Die Behandlung
erfolgt möglichst durch eine offene Laparotomie mit En-
bloc-Resektion des Tumors. Selbst bei offenbar kurativer
Operation besteht eine hohe Rezidivrate mit einer 5-Jah-
res-Überlebensrate von 30 %.
Cortisol:
Leicht erhöht: hypophysä- Die bilaterale makronoduläre Nebennierenhyperplasie
res Mikroadenom, (Nebennierengewicht in der Regel jeweils 100–500 g) ent-
Nebennierenandrogene: Mineralokortikoide Wirkung: AIMAH, PPNAD
Niedrig: Nebennierenadenom,
Mittelstark erhöht: steht gelegentlich durch die inadäquate Expression eutoper
Niedrig: Nebennierenadenom, hypophysäres Makro-
AIMAH, PPNAD AIMAH, PPNAD adenom,
Rezeptoren (z. B. Gastric inhibitory Polypeptide, β-adrenerg,
Normal: hypophysäres Mikroadenom Normal: hypophysäres Mikroadenom
Erhöht: ektope ACTH-Produktion, Erhöht: ektope ACTH-Produktion,
Nebennierenadenom ADH, Serotonin oder luteinisierendes Hormon) oder die
Deutlich erhöht:
Nebennierenkarzinom, hypo- Nebennierenkarzinom, hypo- ektope ACTH-Produktion, vermehrte Expression eutoper Rezeptoren. Der Mechanis-
physäres Makroadenom physäres Makroadenom Nebennierenkarzinom mus der wahllosen Expression eutoper Rezeptoren ist unbe-
kannt. Häufig besteht ein leichtes und langsam fortschrei-
tendes Cushing-Syndrom. Sofern möglich, erfolgt eine bila-
Akne Mittelstarke Hypertonie Gewichtszunahme mit Stammfettsucht terale laparoskopische Adrenalektomie.
Klinisches Bild

Hirsutismus Mondgesicht und Plethora


Schütteres Haupthaar Supraklavikuläre und dorsozervikale Die primäre pigmentierte noduläre adrenokortikale Er-
Klitorishyperplasie (selten) Fettablagerungen
Mammaatrophie Hämatomneigung und krankung tritt sporadisch oder familiär (als Teil des Car-
Erhöhte Libido gestörte Wundheilung
Dunkellivide Striae ney-Komplexes) auf (› Abb. 3.12). Der Hypercortisolis-
Proximale Muskelschwäche mus entsteht durch multiple pigmentierte, autonome Kno-
Na+: leicht erhöht Neutrophilie ten in der Nebennierenrinde. Die Patienten sind meist
DHEA-S: erhöht K+: normal oder niedrig Relative Lymphopenie (< 20 %)
Androstendion: erhöht Plasmareninaktivität: Relative Eosinopenie jung und weisen leichte Zeichen eines Hypercortisolismus,
Blut

Testosteron: erhöht gering Hyperglykämie


DOC oder Aldosteron: Cortisol: erhöht und fehlende eine deutliche Osteoporose (vermutlich aufgrund des lan-
hoch Tagesvariabilität ge bestehenden leichten Hypercortisolismus vor der Diag-
Urin Speichel

Mitternächtliches Speichelcortisol: nosestellung) sowie oft ein zyklisches Cushing-Syndrom


erhöht
auf. Initial sind die Cortisolspiegel in Serum und Urin er-
17-Ketosteroide: erhöht Aldosteron im 24- 24-Stunden-Urincortisol: erhöht
Stunden-Urin: erhöht Hyperkalzurie höht, ACTH ist ebenso wie DHEA-S supprimiert. Beim
Dexamethason-Suppressionstest kommt es zum parado-
xen Anstieg des freien Cortisols im Urin. Die Nebennieren
Abb. 3.11
sind in der Regel normal groß und häufig mit schwarzen,
braunen oder roten Knötchen mit einer Größe von 1 mm
bis 3 cm übersät. Die meisten Knoten haben einen Durch-
tor hat. Bei schwerem ACTH-abhängigem Cushing-Syn- ACTH-unabhängiges Cushing-Syndrom messer < 4 mm und liegen verstreut in der angrenzenden
drom können auch die Spiegel von Deoxycorticosteron atrophierten Rinde. Die primäre pigmentierte noduläre
(DOC) erhöht sein und zur Hypertonie und Hypokaliämie Bei einem cortisolproduzierenden benignen Nebennieren- adrenokortikale Erkrankung kann im Rahmen des Carney-
dieser Erkrankung beitragen. Kurative Behandlung der rindenadenom besteht durch das negative Feedback des Komplexes auftreten, der mit fleckiger Hautpigmentierung
Wahl ist die Totalresektion des ACTH-produzierenden Cortisolexzesses eine vollständige Hemmung der hypotha- (pigmentierte Lentigines und blaue Nävi im Gesicht, ein-
Tumors. Ist dies nicht möglich, sollte eine bilaterale lapa- lamischen CRH- und hypophysären ACTH-Produktion. schließlich Augenlidern, Lippenrand, Konjunktiven, Skle-
roskopische Adrenalektomie in Erwägung gezogen wer- Daher sind die kontralaterale und die ipsilaterale Neben- ren, auf Labien und Skrotum), Myxomen (Vorhof, Haut
den. nierenrinde in der Umgebung des cortisolproduzierenden und Mammae), großzelligen verkalkenden Sertoli-Zell-
Bei ektoper CRH-Produktion durch Tumoren (z. B. Adenoms atrophiert. Nebennierenadenome produzieren Tumoren des Hodens, wachstumshormonproduzierenden
Bronchialkarzinoid, Phäochromozytom) kommt es zur in der Regel nur Cortisol, sodass die ACTH-abhängigen Hypophysenadenomen und psammomatösen melanoti-
Hyperplasie der ACTH-produzierenden Hypophysenzel- adrenalen Androgene (gemessen als DHEA im Blut und schen Schwannomen einhergeht. Behandlung der Wahl ist
len und exzessiven ACTH-Produktion. 17-Ketosteroide im Urin) sehr niedrig sind (oft unter der die bilaterale laparoskopische Adrenalektomie.
78 3  Nebenniere

Cushing-Syndrom bei primärer pigmentierter


nodulärer adrenokortikaler Erkrankung
Cushing-Syndrom bei einer Patientin mit Carney-Komplex
Eine seltene Form des Cushing-Syndroms ist die spora-
disch oder familiär (als Teil des Carney-Komplexes) auftre-
tende ACTH-unabhängige primäre pigmentierte noduläre
adrenokortikale Erkrankung (PPNAD). Der Hypercortiso-
lismus entsteht durch multiple, pigmentierte, autonome
Knoten in der Nebennierenrinde. Oft haben die Patienten
die typischen Symptome eines Hypercortisolismus, wie
zentrale Gewichtszunahme, Hyperglykämie, proximale
Muskelschwäche, livide abdominelle Striae, Hypertonie
und Menstruationsstörungen. Die Patienten sind häufig
Typisch für den Carney-Komplex
jung und weisen leichte Zeichen eines Hypercortisolismus, ist eine fleckige Hautpigmentie-
eine deutliche Osteoporose (vermutlich aufgrund des lange rung. Die pigmentierten Lentigines
bestehenden leichten Hypercortisolismus vor der Diagno- und blauen Nävi finden sich im
Gesicht, einschließlich der
sestellung) sowie oft ein zyklisches Cushing-Syndrom auf. Augenlider, der Vermiliongrenze
Initial sind die Cortisolspiegel in Serum und Urin erhöht, der Lippen, den Konjunktiven,
ACTH ist ebenso wie DHEA-S supprimiert. der Sklera, sowie an Labien und
Skrotum.
Die Nebennieren sind in der Regel normal groß und
meist mit schwarzen, braunen oder roten Knötchen mit ei- Weitere mögliche Merkmale
ner Größe von 1 mm bis 3 cm übersät. Die meisten Knoten des Carney-Komplexes sind:
haben einen Durchmesser < 4 mm und liegen verstreut in Myxome: Herzvorhof,
der angrenzenden atrophierten Rinde. Die Nebennieren kutan (z. B. Augenlid)
und Mamma
sind entweder normal groß (z. B. 4 g) oder leicht vergrößert
Testikuläre großzellige
(z. B. 5–15 g). Die Zellen in den Knoten enthalten braune kalzifizierende Sertoli-Zell-
Tumoren
Pigmentgranula (Lipofuscin) und sind kugelförmig mit
Wachstumshormon-produzie-
klarem oder eosinophilem Zytoplasma. Die primäre pig- rende Hypophysenadenome
mentierte noduläre adrenokortikale Erkrankung kann im
Psammomatöse melanoti-
Rahmen des Carney-Komplexes auftreten, der mit fleckiger sche Schwannome
Hautpigmentierung (pigmentierte Lentigines und blaue
Nävi im Gesicht, einschließlich Augenlidern, Lippenrand,
Konjunktiven, Skleren, auf Labien und Skrotum), Myxo-
men (Vorhof, Haut und Mammae), großzelligen verkal-
kenden Sertoli-Zell-Tumoren des Hodens, wachstumshor-
monproduzierenden Hypophysenadenomen und psam-
momatösen melanotischen Schwannomen einhergeht.
Bei etwa der Hälfte der Patienten mit primärer pigmen-
tierter nodulärer adrenokortikaler Erkrankung findet sich
ein Carney-Komplex, der bei etwa 60 % familiär auftritt.
Bislang wurden Mutationen in drei Genen mit der Erkran-
kung in Verbindung gebracht: PRKAR1A, PDE11A und Die Nebennieren sind bei PPNAD meistens normal groß und mit
MYH8. Da es aber auch Familien mit Carney-Komplex, schwarzen, braunen oder roten Knötchen übersät. Die meisten der
Pigmentknoten haben einen Durchmesser < 4 mm und befinden
aber ohne Mutationen in einem dieser Gene gibt, wird der- sich im angrenzenden atrophischen Kortex.
zeit noch nach weiteren Loci gesucht. Bei etwa 70 % der
Patienten mit Carney-Komplex finden sich heterozygote Abb. 3.12 
inaktivierende Mutationen von PRKAR1, einem Tumor-
suppressorgen, das für die regulatorische 1α-Untereinheit
der Proteinkinase A kodiert. In den meisten familiären Fäl-
len scheint der Carney-Komplex autosomal-dominant ver-
erbt zu werden. Bei Patienten mit isolierter primärer pig-
mentierter nodulärer adrenokortikaler Erkrankung sind
zudem Keimbahnmutationen von PRKAR1A möglich.
Kurative Behandlung der Wahl bei der primären pig-
mentierten nodulären adrenokortikalen Erkrankung ist
die bilaterale laparoskopische Adrenalektomie.
Häufige Enzymblöcke der Steroidsynthese 79

Häufige Enzymblöcke der Steroidsynthese


Der genetisch bedingte Mangel von Enzymen, die an der Hauptblockaden, die zur kongenitalen adrenalen Hyperplasie führen
Cortisolsynthese beteiligt sind, wird als Enzymblock der Ste- 21 20 22 23
12 18 17 24 26
roidsynthese bezeichnet. 16 25
1 19 11 13 27
Chemische Veränderungen
Defekte von StAR 2 9 14 15
3 10 5 8
I oder Mangel von 7 Cholesterin Mineralokortikoide
P450scc (CYP11A1) HO 4 6
I. Kongenitale lipoide adrenale Mangel von CH3 Glukokortikoide
II I
Hyperplasie 3β-HSD (HSD3B2) C=O Androgen

III
Mangel von 17α-Hy- Estrogen
III CH3
droxylase (P450c17)
Das steroidogene akut-regulatorische Protein (StAR) 5-Pregnenolon C=O
HO CH3 OH
bringt Cholesterin von der äußeren zur inneren Mitochon- Mangel von 21-Hy-
IV II C=O
drienmembran, wo die Cholesterin-Monooxygenase in ei- droxylase (P450c21)
nem geschwindigkeitsbestimmenden Schritt durch Ab- Mangel von HO
V 11β-Hydroxylase 17α-Hydroxypregnenolon
spaltung der Seitenkette Cholesterin zu Pregnenolon um- O
(P450c11β) Progesteron
baut. Mutationen des für StAR kodierenden Gens führen
CH3 17,20-lyase
zur autosomal-rezessiv vererbten kongenitalen lipoiden III
C=O O
adrenalen Hyperplasie, der schwersten CAH-Form mit OH
IV
Mangel aller adrenalen und gonadalen Steroidhormone
CH2OH
und einer ACTH-induzierten Akkumulation von Choleste- O HO
C=O 17-Hydroxyprogesteron
rinestern in der Nebennierenrinde. Der Defekt der Steroid- Dehydroepiandrosteron
CH2OH
synthese verschlechtert sich mit dem Alter. IV C=O 17,20-
OH
O lyase
11-Deoxycorticosteron
CH2OH II O OH
II. 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase- V O
C=O 11-Deoxycortisol
Mangel HO CH2OH 17β-HSD3
V
C=H
HO OH O 17β-HSD2 O
Die 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (3β-HSD) wandelt
O Androstendion Testosteron
Pregnenolon durch Dehydrierung der 3-Hydroxyl-Gruppe Corticosteron Cortisol Aromatase Aromatase
in eine Ketogruppe und Isomerisierung der Doppelbindung P450c11AS O
H CH2OH 11β- 11β- P450 P450
CH2OH
an C5 zu Progesteron um. Das Typ-1-Isoenzym von 3β-HSD O=C C=O HSD2 HSD1 O OH
HO C=O
(3β-HSD1) kommt in Plazenta, Leber sowie Gehirn und das O OH
Typ-2-Isoenzym (3β-HSD2) in Nebennierenrinde und Go-
naden vor. Mutationen des für 3β-HSD kodierenden Gens O HO HO
O
(HSD3B2) führen zu einer seltenen CAH-Form mit Mangel Aldosteron Cortison Estron Estradiol
von Cortisol, Aldosteron und gonadalen Steroiden. Auf-
grund des 3β-HSD2-Blocks akkumulieren Δ5-Pregne­no­lon, Abb. 3.13 
17α-Hydroxypregnenolon, Dehydroepiandrosteron (DHEA)
und DHEA-Sulfat (DHEA-S).
IV. 21-Hydroxylase-Mangel Weitere enzymatische Schritte

III. 17α-Hydroxylase-Mangel Die 21-Hydroxylierung von Progesteron in der Zona glo- In der Zona glomerulosa konvertiert die Aldosteronsyntheta-
merulosa und 17-Hydroxyprogesteron in der Zona fascicu- se (P450c11AS) Corticosteron über 18-Hydroxycorticosteron
Progesteron wird durch die 17α-Hydroxylase (P450c17) zu lata erfolgt durch die 21-Hydroxylase (P450c21). Dabei zu Aldosteron. Die Aldosteronsekretion ist durch die be-
17-Hydroxyprogesteron hydroxyliert. Die 17-Hydroxylie- entstehen 11-Deoxycorticosteron bzw. 11-Deoxycortisol. grenzte Expression der Aldosteronsynthetase auf die Zona
rung ist eine Voraussetzung der Glukokortikoidsynthese. Der 21-Hydroxylase-Mangel ist mit 90 % die häufigste glomerulosa beschränkt, die kein Cortisol produzieren kann,
(Die Zona glomerulosa exprimiert kein P450c17). Außer- Form der CAH. Er wird autosomal-rezessiv vererbt und da sie keine 17α-Hydroxylase exprimiert. In der Zona reticu-
dem besitzt P450c17 17,20-Lyase-Aktivität, die zur Pro- führt zur vermehrten ACTH-abhängigen Produktion von laris fördern hohe Spiegel von Cytochrom b5 die 17,20- 
duktion von adrenalen C19-Androgenen führt (DHEA und Progesteron, 17-Hydroxyprogesteron und adrenalen And- Lyase-Aktivität der 17α-Hydroxylase und die Produktion
Androstendion). Der 17α-Hydroxylase-Mangel ist eine rogenen. von DHEA, das durch die 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase
weitere seltene Form der CAH durch Mutationen in zu Androstendion umgebaut oder in der Zona reticularis
CYP17A1, die autosomal-rezessiv vererbt wird und zur durch die DHEA-Sulfotransferase zu DHEA-S sulfatiert wird.
vermehrten ACTH-abhängigen Produktion von 11-Deoxy- V. 11β-Hydroxylase-Mangel Androstendion kann durch die 17β-Ketosteroidreduktase
corticosteron und Corticosteron führt, die beide eine mi- (17β-HSD3) in Nebennieren oder Gonaden zu Testosteron
neralokortikoide Wirkung haben, sodass es zu Hypokali­ Der letzte Schritt der Cortisolsynthese ist die Konversion umgebaut werden. Die beiden Isoenzyme der 11β-Hydroxy­
ämie und Hypertonie kommt. Die fehlende 17,20-Lyase- von 11-Deoxycortisol zu Cortisol durch die 11β-Hy­droxy­ steroid-Dehydrogenase (11β-HSD) regeln die lokale Kortiko-
Aktivität führt zur reduzierten Produktion von Androgen lase (P450c11β). Der 11β-Hydroxylase-Mangel ist die steroidwirkung mit zwei Isoenzymen. Typ 1 (11β-HSD1)
und Estrogen, da das Androgensubstrat, das zu Östroge- zweithäufigste Form der CAH. Er wird autosomal-rezessiv wird primär in der Leber exprimiert und baut Cortison zu
nen aromatisiert wird, fehlt. vererbt und führt zur ACTH-abhängigen Akkumulation Cortisol um, während Typ 2 (11β-HSD2) im Mineralokorti-
von 11-Deoxycortisol, 11-Deoxycorticosteron und adrena- koidrezeptor in Niere, Kolon und Speicheldrüsen vorkommt
len Androgenen. Ursache sind CYP11B1-Mutationen. und Cortisol durch Umwandlung zu Cortison inaktiviert.
80 3  Nebenniere

Klassische kongenitale adrenale Hyperplasie


Hypothalamus Geringe oder keine Hemmung der hypothalamischen CRH- oder
Die kongenitale adrenale Hyperplasie (CAH) bezeichnet
der hypophysären ACTH-Produktion wegen des Cortisolmangels
klinische Erkrankungen mit verminderter Cortisolproduk-
tion durch Enzymblöcke in der Cortisolsynthese Pigmentierung durch
Adeno-
(› Abb. 3.13). Bei reduzierter Cortisolproduktion kommt hypophyse
erhöhtes ACTH
es zur sekundären ACTH-induzierten Ansammlung von
Steroidvorläufern mit eigener Aktivität am Mineralokorti-
koid- oder Androgenrezeptor. Außerdem kann es abhän-
Cortisol
gig vom fehlenden Enzym zur Reduktion der Mineralokor-
tikoid- oder Androgenproduktion kommen. Abhängig von 11B
Starke loc
der Mutation und dem Ausmaß der Proteinfunktionsstö- ACTH- ka
de
Erhöhung 11-Deoxycortisol
rung kann der Mangel der adrenalen Enzymaktivität
schwer oder leicht sein. Die schwersten Formen der CAH
werden als klassisch bezeichnet, die leichteren als spät ma- 11-Deoxycorticosteron
21B
nifest oder nichtklassisch (› Abb. 3.16). loc
Nebennieren- ka
de
rindenhyper- 21
plasie 17α-Hydroxyprogesteron

Kongenitale lipoide adrenale Hyperplasie 17


Blockade 11
Cholesterin Progesteron
Mutationen der Gene, die für das steroidogene akut-regula-
Blockade 20 Corticosteron
torische (StAR) oder das Cleavage-Enzym der Steroidsei- 3 Blockade
tenketten (P450scc) codieren, führen zur kongenitalen li- 18
poiden adrenalen Hyperplasie, der schwersten CAH-Form Δ5-Pregnenolon
Aldosteron
mit Mangel aller adrenalen und gonadalen Steroidhormone 17
und einer ACTH-induzierten Akkumulation von Choleste- 17-Hydroxypregnenolon
rinestern in der Nebennierenrinde. Neugeborene mit kon-
genitaler lipoider Hyperplasie zeigen häufig kurz nach der Adrenale Androgene
Geburt die Symptome einer deutlichen Nebenniereninsuf- (stark erhöht wegen der
fizienz (z. B. Hyperemesis, Hypotonie, Hyperkaliämie, fehlenden Cortisolhemmung
von ACTH und 21-Blockade)
Hyponatriämie). Wegen der fehlenden testikulären Andro-
Fettige Hyperplasie der Nebennierenrinde
genproduktion besteht trotz 46,XY-Karyotyp ein weibli-
ches äußeres Genitale (› Abb. 4–13, › Abb. 4.15). Die
Serumspiegel von Cortisol und Aldosteron sind reduziert,
während ACTH-Serumspiegel und Plasmareninaktivität
erhöht sind. Unbehandelt verläuft die kongenital lipoide
adrenale Hyperplasie tödlich. Die Behandlung erfolgt durch
Gabe von Glukokortikoiden und Mineralokortikoiden.

HE-Färbung Fettfärbung
3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-
Mangel

Die 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (3β-HSD) wandelt Abb. 3.14


Pregnenolon zu Progesteron um. Mutationen des für
3β-HSD codierenden Gens (HSD3B2) führen zu einer sel-
tenen CAH-Form mit Mangel von Cortisol, Aldosteron drostendionspiegel bei dieser Form der CAH nicht erhöht. kortikoide Wirkung haben, sodass es zu Hypokaliämie und
und gonadalen Steroiden. Das klinische Bild der CAH Im ACTH-Test zeigt sich eine starke Zunahme der Serum- Hypertonie kommt. Die fehlende 17,20-Lyase-Aktivität
durch 3β-HSD-Mangel ähnelt dem durch StAR-Mangel. spiegel von Δ5-Pregnenolon und DHEA. Die Patienten führt zur reduzierten Produktion von Androgen und Estro-
Die Säuglinge zeigen Symptome des Cortisol- und des Al- werden mit Glukokortikoiden und Mineralokortikoiden gen, da das Androgensubstrat, das zu Östrogenen aromati-
dosteronmangels. Das überschüssige Dehydroepiandro­ sowie in der Pubertät mit gonadalen Steroiden behandelt. siert wird, fehlt. Symptome zeigen sich oft erst in der Puber-
steron (DHEA) kann bei 46XX-Karyotyp zu einer leichten tät, wenn bei 46,XX-Karyotyp eine primäre Amenorrhö
Virilisierung führen. Der Phänotyp von Säuglingen mit auftritt, die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerk-
46,XY-Karyotyp reicht von normal über eine Hypospadie 17α-Hydroxylase-Mangel male ausbleibt und eine Hypertonie sowie eine Hypokali­
bis zu einem weiblichen äußeren Genitale. Es gibt auch ämie auftreten. Phänotypisch weibliche Patienten mit
Spätformen des 3β-HSD-Mangels (›  Abb.  3.16). Neben Progesteron wird durch die 17α-Hydroxylase (P450c17) zu 46,XY-Karyotyp fallen für gewöhnlich erst durch Ausblei-
Hyperkaliämie, Hyponatriämie, Cortisol- und Aldosteron- 17-Hydroxyprogesteron hydroxyliert. Der 17α-Hydroxylase- ben der Pubertät auf. Sie haben weibliche äußere Genitali-
mangel sind die Serumspiegel von DHEA und DHEA-Sul- Mangel ist eine seltene Form der CAH durch Mutationen in en, intraabdominelle Hoden, eine kurze Vagina, aber weder
fat (DHEA-S) erhöht. Da die adrenale Produktion von An- CYP17A1, die autosomal-rezessiv vererbt wird und zur ver- Uterus noch Eileiter. Außerdem bestehen Hypertonie und
drostendion überwiegend von der Konversion von DHEA mehrten ACTH-abhängigen Produktion von 11-Deoxycor- Hypokaliämie (› Abb. 4–15). Das Labor zeigt eine Hypo-
zu Androstendion durch die 3β-HSD abhängt, sind die An- ticosteron und Corticosteron führt, die beide eine mineralo- kaliämie, eine niedrige Plasmareninaktivität und einen re-
Klassische kongenitale adrenale Hyperplasie 81

(Fortsetzung)

Cortisol, 11-Deoxycorticosteron und Aldosteron reduziert


(von den letzten beiden beim Salzverlustsyndrom). Die Se-
Cortisolmangel oder vollständiges Fehlen
rumspiegel von Progesteron, 17-Hydroxyprogesteron, An-
Teilblockade der Aldosteron- und Cortisolproduktion, sodass es
nicht zu Salzverlust und Kreislaufkollaps kommt, wohl aber zur Virilisierung drostendion und ACTH sind ebenso wie die Plasmarenin-
durch die exzessive adrenale Androgenproduktion aktivität in der Regel erhöht. In den USA und vielen ande-
Starker Block ren Ländern erfolgt ein Neugeborenen-Screening auf den
(Salzverlust- Plus 21-Hydroxylase-Mangel durch Messung von 17-Hydroxy-
syndrom) Maskulinisierung
Na und Virilisierung progesteron in einer getrockneten Blutprobe.
H2O Dehydrierung
durch überschüssige
Übermäßiger Kreislaufkollaps adrenale Androgene
Salzverlust durch Cortisol- und
durch Aldosteron- Aldosteronmangel 11β-Hydroxylase-Mangel
und Cortisolmangel
Der Mangel von 11β-Hydroxylase-Mangel (P450c11β) ist
die zweithäufigste Form der CAH. Neugeborene mit
46,XX-Karyotyp weisen bei starkem Mangel der 11β-Hy­
11-Deoxycorticosteron, droxylase-Funktion intersexuelle Genitalien auf und Neu-
potentes Mineralokortikoid, Plus
Maskulinisierung geborene mit 46,XY-Karyotyp eine Penisvergrößerung. Bei
stark erhöht
(hypertensives Syndrom) und Virilisierung CYP11B1-Mutationen besteht noch eine Restaktivität von
durch überschüs- 11β-Hydroxylase; sie manifestieren sich in der Kindheit
sige adrenale
Periphere Gefäßkontraktion mit Hypertonie und Pubertas praecox oder bei jungen Er-
Androgene
wachsenen mit Hypertonie, Akne, Hirsutismus und Oligo-
menorrhö oder Amenorrhö. Während 11-Deoxycortisol
keine Glukokortikoidaktivität besitzt, wirkt 11-Deoxycor-
ticosteron am Mineralokortikoidrezeptor und kann bei
Überproduktion zu Hypertonie, Hypokaliämie, niedriger
Plasmareninaktivität und niedrigem Aldosteron-Serum-
spiegel führen. Außerdem finden sich erhöhte Serumspie-
gel von 11-Deoxycortisol, 11-Deoxycorticosteron, DHEA,
DHEA-S, Androstendion und Testosteron.
Wenn ein 46,XX-Fetus in utero Androgenen (46,XY-isosexuelle Gonadotropin-
ausgesetzt wird, kommt es zur Androgenisierung unabhängige Pubertas praecox)
des äußeren Genitales Mineralokortikoidexzess
(46,XX-Erkrankung der sexuellen Entwicklung)

Die Interkonversion von Cortisol und Cortison durch die


11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (11β-HSD) steuert
Aufgrund der fehlenden
Androgenproduktion in den die lokale Kortikosteroidwirkung. Es gibt zwei 11β-HSD-
Hoden haben 46,XY-Neuge- Isozyme: 11β-HSD1 baut Cortison zu Cortisol um und
Mangel aller borene ein weibliches äußeres
11β-HSD2 inaktiviert Cortisol zu Cortison. Durch redu-
adrenalen und Genitale
gonadalen Steroid- (46,XY-Erkrankung der sexuellen zierte 11β-HSD2-Aktivität entsteht ein Mineralokortikoid­
hormone Entwicklung) exzess. Cortisol ist ein potentes Mineralokortikoid und bei
Enzymmangel akkumulieren hohe Cortisolspiegel in der
Abb. 3.14 Niere. Somit verhindert 11β-HSD2 normalerweise, dass
physiologische Glukokortikoide am nichtselektiven Mine-
ralokortikoidrezeptor wirken, indem es sie in die inaktive
duzierten Serumspiegel von Aldosteron. Die Serumspiegel cortisol. Der 21-Hydroxylase-Mangel ist mit 90 % der Fälle 11-Ketokomponente Cortison umwandelt. Die 11β-HSD2-
von ACTH, Progesteron, 11-Deoxycorticosteron, LH und die häufigste Form der CAH. Der klassische 21-Hydroxyla- Aktivität kann hereditär oder sekundär durch pharmako-
FSH sind erhöht, während die Serumspiegel von 17-Hydro- se-Mangel manifestiert sich im Kleinkindalter mit den ty- logische Hemmung durch Glycyrrhizinsäure, den aktiven
xyprogesteron, 11-Deoxycortisol, Cortisol, DHEA, DHEA- pischen Symptomen einer Nebenniereninsuffizienz mit Wirkstoff der Süßwurzel (Glycyrrhiza glabra), reduziert
S, Androstendion, Testosteron und Estradiol reduziert sind. Androgenexzess. Bei Kindern mit 46,XX-Karyotyp beste- sein. Der klinische Phänotyp von Patienten mit Mineralo-
Die Behandlung erfolgt mit Glukokortikoiden und gonada- hen intersexuelle Genitalien (› Abb. 4.12). Abhängig von kortikoidexzess umfasst Hypertonie, Hypo­kali­ämie, meta-
len Steroiden. der Schwere des Enzymmangels und dessen Auswirkun- bolische Alkalose, niedrige Plasmareninaktivität, niedrige
gen auf die Mineralokortikoidsynthese wird der klassische Plasmaaldosteronkonzentration und normale Plasmacor-
21-Hydroxylase-Mangel als Salzverlustsyndrom oder ein- tisolspiegel. Die Diagnose wird durch den Nachweis eines
21-Hydroxylase-Mangel fache Virilisierung bezeichnet. Bei beiden Formen wird die anormalen Quotienten von Cortisol zu Cortison im
Diagnose durch den deutlich erhöhten (mehr als das 24-Stunden-Sammelurin gestellt (z. B. > 10 : 1). Der Mine-
Die 21-Hydroxylierung von Progesteron in der Zona glo- Sechsfache über dem oberen Normwert) Serumspiegel von ralokortikoidexzesss durch ektope ACTH-Sekretion, der
merulosa oder von 17-Hydroxyprogesteron in der Zona 17-Hydroxyprogesteron gestellt. In Grenzfällen ist zum oft bei Patienten mit Cushing-Syndrom auftritt, hängt mit
fasciculata erfolgt durch die 21-Hydroxylase (P450c21). Nachweis des Enzymblocks ein ACTH-Test erforderlich. der hohen Cortisolproduktion zusammen, welche die
Dabei entstehen 11-Deoxycorticosteron bzw. 11-Deoxy- Außerdem ist der Serumspiegel von 11-Deoxycortisol, 11β-HSD2-Aktivität übersteigt.
82 3  Nebenniere

Biologische Wirkung der adrenalen Androgene


Bei beiden Geschlechtern produziert die Nebennierenrinde Erhöhte Zirkulation Leber
Androgen: Dehydroepiandrosteron (DHEA), DHEA-Sulfat Muskelmasse
Muskel
(DHEA-S), Androstendion und Testosteron. Adrenale An-
drogene haben eine unterschiedlich starke anabole Wir- Aminosäuren
(anabole
kung und erhöhen die Muskelmasse. Sie stimulieren in der Wirkung)
Pubertät die Bildung der männlichen sekundären Ge-
schlechtsmerkmale, wie Bartwuchs, Rückgang des Haaran-
satzes, Talgdrüsenhypertrophie und Akne, Larynxvergrö-
ßerung mit Tieferwerden der Stimme, sekundäre Ge-
schlechtsbehaarung in Achseln und Schambereich, Haar-
wuchs auf der Brust und im Bereich der Mamillen sowie die Ablagerung von
Knochenmatrix
Entwicklung eines Phallus. Die wichtigste Testosteronquel-
le beim Mann sind die Hoden, bei den meisten Frauen hin- Ca
Kalzium-
gegen sind die Nebennieren die primäre Quelle. Ein wichti- ablagerung
ges Merkmal der primären Nebenniereninsuffizienz bei
Frauen ist der Verlust der Achsel- und Schambehaarung.
Die Adrenarche ist ein biochemisches Ereignis mit An- Kleiner Beitrag
stieg der adrenalen Androgene etwa im Alter von 6–8 Jah- der gonadalen
Wirkung auf
ren. Die Pubarche ist ein phänotypisches Ereignis mit die Phallus- Adrenarche
Wachstum der geschlechtstypischen Scham- und Achsel- entwicklung
behaarung. Adrenale Androgene sind die wichtigsten Fak- nach der
Pubertät
toren für das Auftreten der Achsel- und Schambehaarung
bei Mädchen; normalerweise geht der Haarwuchs auf den Rückgang des
Haaransatzes
Labien dem in den Axillen voraus. Bei Jungen ist die Be-
Talgdrüsenhyper-
deutung der adrenalen Androgene wegen der dominanten trophie (Akne)
Rolle der testikulären Androgenproduktion weniger klar.
Adrenale Androgene scheinen für die Einleitung der Pu-
bertät und die Reifung des Hypothalamus-Hypophysen-
Gesichtshaar
Gonaden-Komplexes wichtig zu sein. Von einer vorzeiti-
gen Adrenarche und Pubarche spricht man, wenn die
Schambehaarung bei Mädchen unter 8 Jahren und bei Jun- Achselhaar
gen unter 9 Jahren auftritt. Die prämature Adrenarche ist
bei Mädchen häufiger und führt zu höherer Endgröße, ver- Kehlkopf-
mehrtem Körpergeruch und Akne und einem um 1–2 Jah- vergrößerung
re höheren Knochenalter.
Vermutlich haben adrenale Androgene weitere, noch
unbekannte physiologische Funktionen. DHEA-S kann als
großes Depot von Geschlechtshormonen dienen. Es wird in
den peripheren Geweben zu Testosteron und Estradiol um-
Scham-
gebaut; eine Sulfatase konvertiert DHEA-S zu DHEA, das behaarung
dann durch die 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase zu An-
drostendion umgebaut wird. Aus Androstendion wird dann
durch die 17β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Testosteron Abb. 3.15 
oder durch die P450-Aromatase Estradiol. Außerdem wirkt
DHEA als Neurosteroid im zentralen Nervensystem, wobei radiol), Polyzythämie, erhöhte Leberenzyme und Peliosis
der DHEA-Rezeptor noch nicht identifiziert wurde. hepatitis (nur bei oraler Einnahme von 17α-alkylierten
Androgene (anabole) Steroide werden missbräuchlich Androgenen), affektive Störungen und aggressives Verhal-
von Sportlern zur Erhöhung von Muskelmasse und kör- ten, reduzierte Serumspiegel von High-Density-Lipoprote-
perlicher Leistungsfähigkeit eingenommen. Die Prävalenz in-Cholesterin, erhöhte Serumspiegel von Low-Density-
des Missbrauchs ist schwer abschätzbar, aber etwa 6 % der Lipoprotein-Cholesterin, Virilisierung bei Frauen (z. B.
Jungen und 2 % der Mädchen auf High Schools geben eine Hirsutismus, Schläfenglatze, Akne, Tieferwerden der Stim-
einmalige Einnahme an. Anabole Steroide sind vom Inter- me und Klitorisvergrößerung), vorzeitiger Epiphysen-
nationalen Olympischen Komitee und von der National schluss und Wachstumshemmung in der Jugend. Manche
Collegiate Athletic Association im Wettkampfsport verbo- Sportler nehmen weitere Medikamente ein, um die sicht-
ten. Oft nehmen Sportler mehrere leistungssteigernde Sub- baren Effekte hoch dosierter anaboler Steroide zu kaschie-
stanzen ein (z. B. gleichzeitig, nacheinander, in zunehmen- ren, z. B. humanes Choriongonadotropin zur Aufrechter-
der Dosis oder intermittierend). Unerwünschte Wirkun- haltung der Hodengröße, einen Aromatasehemmer oder
gen sind die Suppression der endogenen Hodenfunktion Östrogenrezeptorantagonisten gegen die Gynäkomastie
(mit transienter Infertilität und reduzierter Hodengröße), und einen 5α-Reduktasehemmer zur Prävention von Glat-
Gynäkomastie (durch den Umbau von Testosteron in Est- zenbildung und Akne.
Adulte androgenitale Syndrome 83

Adulte androgenitale Syndrome


Adulte androgenitale Syndrome sind Erkrankungen mit
überschießenden adrenalen Androgenwirkungen beim Er-
wachsenen. Ursachen des adrenalen Androgenexzesses Nicht aus-
beim Erwachsenen sind die spät manifeste (nichtklassi- ACTH reichend Cortisol
sche) kongenitale adrenale Hyperplasie (CAH), die famili- Zurückweichender zur Hemmung
Haaransatz, des hypophy-
äre Glukokortikoidresistenz, das Cushing-Syndrom und Akne sären ACTH
Schläfenglatze
androgenproduzierende adrenale Neoplasien. Aufgrund
Gesichts-
des Vorhandenseins potenterer testikulärer Androgene hirsutismus
Verlust der
bleibt der adrenale Androgenexzess beim Mann wegen der weiblichen Androgener
fehlenden Symptomatik oft unentdeckt. Frauen mit An­ Körperform Flush Nicht klassische (late-onset)
dro­gen­über­schuss zeigen in der Regel eine unterschiedlich kongenitale adrenale Hyperplasie
starke Maskulinisierung und Menstruationsstörungen Variable Pig- Familiäre Glukokortikoidresistenz
mentierung ACTH-abhängiges Cushing-Syndrom
(› Abb. 4.14, › Abb. 4.15).
Hirsutismus ist das Auftreten eines männlichen Behaa- Kleine Brüste
rungsmusters bei der Frau (z. B. Wangen, Oberlippe, Kinn, Männliche
Thoraxmitte, männliche Schambehaarung, Oberschenkel­ Schambe-
haarung
innenseiten und Mittellinie des Rückens). Virilisierung ist
eine schwerere Form des Androgenexzesses mit den Sym­
ptomen der Maskulinisierung bei Frauen, wie zunehmen- Überschüs-
sige adrenale
der Muskelmasse, Verlust der weiblichen Körperkonturen, Androgene Nebennierenhyperplasie
Tieferwerden der Stimme, Mammaatrophie, Klitorismega-
lie, Schläfenglatzen und androgener Flush (Plethora von
Gesicht, Hals und oberer Thoraxhälfte). Die Klitoris ist Das abdomi-
< 10 mm lang und < 7 mm breit. nale CT (axia-
Muskulöse les Bild) zeigt
Arme und ein unregelmä-
Beine ßiges, inhomo-
genes, 13,4 cm
Nichtklassische kongenitale adrenale Klitoris- großes rechts-
Hyperplasie vergrößerung seitiges Neben-
nierenkarzinom
Generalisierter (Pfeil)
Bei der Spätform oder nichtklassischen Form (auch als Er-
Hirsutismus
wachsenentyp, abgeschwächte oder inkomplette adrenale
Hyperplasie bezeichnet) können partielle Enzymblöcke
von 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase, 21-Hydroxylase
und 11β-Hydroxylase zu Hirsutismus, Menstruationsstö-
rungen und unterschiedlich starker Virilisierung führen.
Der Verdacht auf einen spät manifesten 3β-Hydroxysteroid-
Dehydrogenase-Mangel besteht bei symptomatischen
Frauen mit deutlich erhöhtem Serumspiegel von Dehydro-
Nebennierenadenom Nebennierenkarzinom
epiandrosteronsulfat (DHEA-S) und niedrigem Andros-
tendionspiegel. Die Diagnose wird durch einen ACTH-Sti-
mulationstest und den Nachweis von deutlich erhöhtem Abb. 3.16 
17-Hydroxypregnenolon und DHEA ohne Anstieg von
17-Hydroxyprogesteron und Androstendion gesichert. Familiäre Glukokortikoidresistenz Androgenproduzierende adrenale
Das klinische Bild des spät manifesten 21-Hydroxylase- Tumoren
Mangels kann identisch mit dem des 3β-Hydroxysteroid- Familiäre Glukokortikoidresistenz entsteht durch Mutatio-
Dehydrogenase-Mangels sein, allerdings mit anderem La- nen des Glukokortikoid-Rezeptorgens. Sie hemmen die Androgenproduzierende adrenale Tumoren sind selten.
borprofil. Beim 21-Hydroxylase-Mangel liegen die Basal- Wirkung von Cortisol, erhöhen die ACTH-Sekretion und Ein Androgenexzess findet sich häufiger beim adrenokor-
spiegel von Progesteron, 17-Hydroxyprogesteron und An­ verstärken die adrenokortikale Hyperplasie. Gleichzeitig tikalen Karzinom als bei Nebennierenadenomen. Häufig
drostendion über dem Normbereich und steigen nach nimmt die Produktion der adrenalen Androgene (z. B. wird übermäßig DHEA produziert, gefolgt von Androsten-
ACTH-Stimulation jeweils stark an. Ein partieller Block DHEA) und Mineralokortikoide (z. B. 11-Deoxycorticoste- dion und Testosteron. Die Unterscheidung zwischen Ade-
der 11β-Hydroxylase führt zu erhöhten Serumspiegeln von ron) zu. Daher entsteht ein sehr ähnliches klinisches Bild nom und Karzinom erfolgt in der Regel präoperativ mittels
11-Deoxycortisol, 11-Deoxycorticosteron, DHEA und An- wie beim späten 11β-Hydroxylase-Mangel mit Androgen­ Computertomografie (CT). Während sich testosteronpro-
drostendion. Neben den Symptomen des Androgenexzes- exzess, Hypertonie und Hypokaliämie. duzierende Adenome in der CT meist klein (z. B. Durch-
ses können die Betroffenen bei 11β-Hydroxylase-Mangel messer = 1 cm), homogen und mit geringer Dichte darstel-
unter Hypertonie und Hypokaliämie leiden. Zur Bestäti- len, haben androgenproduzierende adrenokortikale Karzi-
gung der Diagnose ist oft ein ACTH-Test erforderlich. Die ACTH-abhängiges Cushing-Syndrom nome fast immer einen Durchmesser > 4 cm (durchschnitt-
Behandlung der spät manifesten CAH erfolgt mit Gluko- lich 10 cm), sind inhomogen und haben eine höhere Dichte.
kortikoidersatz zur Suppression der überschüssigen Bei der ACTH-Überproduktion kommt es zur übermäßi-
ACTH-Produktion in einer Dosis unterhalb der Cushing- gen Produktion von adrenalen Androgenen und schwa-
Schwelle. chen Mineralokortikoiden (› Abb. 3.9).
84 3  Nebenniere

Biologische Wirkung von Aldosteron


Die Aldosteronsekretion wird von Angiotensin II, Hyper-
Blutvolumen Renale Faktoren Hyperkaliämie Kardiale Faktoren
kaliämie und (in geringerem Umfang) durch ACTH stimu-
liert und durch den atrialen natriuretischen Faktor und
Hypokaliämie gehemmt. Etwa 50–70 % des Serumaldoste-

Reize
rons sind an Albumin oder schwach an Corticosteroid- Blutverlust
binding Globulin gebunden; 30–50 % liegen in freier Form
vor. Aldosteron hat eine relativ kurze Halbwertszeit von Renin
15–20 Minuten und wird in der Leber rasch zu Tetrahy­ Atriales natriuretisches Peptid
droaldosteron inaktiviert. Der normal periphere Serum- Angiotensin II

spiegel von Aldosteron liegt bei 0–21 ng/dl.


Die klassischen Funktionen von Aldosteron sind die Re-
gulierung des extrazellulären Volumens und die Kontrolle
des Kaliumhaushalts. Diese Effekte werden durch Binden
von freiem Aldosteron an den Mineralokortikoidrezeptor
im Zytosol der Epithelzellen vermittelt, vornehmlich in Stimulation Hemmung
den distalen Nierentubuli, wo der Austausch von Natrium Glomerulus
gegen Kalium und Wasserstoffionen erleichtert wird. Die Al
Wirkung von Angiotensin II auf Aldosteron erfolgt durch do
ste
eine Feedback-Schleife, an der auch das extrazelluläre ro Renaler Tubulus
n
Flüssigkeitsvolumen beteiligt ist und deren wichtigste Auf-
gaben die Modifikation der Natriumhomöostase und die Nebenniere
Blutdruckregulation sind. Eine Natriumrestriktion akti- Kortex
Zirkulierendes Blut
viert die Renin-Angiotensin-Aldosteron-Achse. Die Effek-
te von Angiotensin II auf Nebennierenrinde und Nierenge- K+ Na+ Aldosteron retiniert
Schweißdrüse Na+
fäße fördern die renale Natriumkonservation. Bei Suppres- H 2O Natrium und Wasser
sion der Reninfreisetzung und des Serumangiotensins Speicheldrüse K+
sinkt die Aldosteronsekretion, Nierendurchblutung und Na+
K+
Natriumverlust steigen. Die Renin-Angiotensin-Aldoste- Verstärkt die
Darm K+ H+ Ausscheidung von
ron-Schleife reagiert sehr empfindlich auf den Natriumge- Na+ Kalium und Wasser-
halt der Nahrung. Ein Natriumexzess erhöht die Sensibili- H2O stoffionen
tät der renalen und peripheren Gefäße und reduziert die
Sensibilität der Nebennieren auf Angiotensin II. Natrium- Aldosteron erhöht
Zunahme der extra- das Blutvolumen
restriktion wirkt entgegengesetzt. Diese Feinabstimmung zellulären Flüssigkeit H 2O
und des Natriums Na+
scheint kritisch für die Aufrechterhaltung einer Natrium­ K+
homöostase zu sein, ohne chronische Auswirkungen auf
den Blutdruck zu haben. Aldosteron wirkt
unterstützend bei der
Mineralokortikoidrezeptoren werden gewebespezifisch Blutdruckerhöhung
exprimiert. Die Gewebe mit den höchsten Konzentratio-
nen dieser Rezeptoren sind distales Nephron, Kolon und
Hippocampus. Niedrigere Spiegel finden sich im restlichen
Gastrointestinaltrakt, in den Schweißdrüsen, den Speichel-
drüsen und dem Herzen. Nach Transport in den Nukleus
führt die Bindung an bestimmte Domänen der Zielgene Abb. 3.17 
zur vermehrten Expression.
Eine wichtige Rolle scheint dabei der aldosteronabhän-
gigen Kinase zuzukommen, deren vermehrte Expression ralokortikoiden, wie renalen hämodynamischen Faktoren rung des zytosolischen Mineralokortikoidrezeptors ver-
den apikalen Natriumkanal modifiziert, sodass es zum und ein erhöhter Spiegel von atrialem natriuretischem mittelt; sie umfassen jedoch keine Modifizierung des Nat-
­vermehrten Transport von Natriumionen über die Zell- Peptid, auftreten. rium-Kalium-Gleichgewichts. Aldosteronvermittelte Ak­
membran kommt. Die zunehmende intraluminale Negati- Neben den klassischen Genomaktionen durch die Aldo- tionen sind die Expression von mehreren Kollagengenen,
vität verstärkt die Sekretion von Kalium durch die tubulä- steronbindung an zytosolische Rezeptoren haben Minera- von Genen, welche die Gewebewachstumsfaktoren kont-
ren Zellen und von Wasserstoffionen durch die interstitiel- lokortikoide akute, nichtgenomische Wirkungen durch die rollieren, wie Transforming Growth Factor β und Plasmi-
len Zellen. Glukokortikoide und Mineralokortikoide bin- Aktivierung eines unbekannten Rezeptors der Zelloberflä- nogen-Aktivator-Inhibitor Typ 1, sowie von inflammatori-
den mit gleicher Affinität an den Mineralokortikoidrezeptor. che. An dieser Aktion ist ein G-Protein-Signalweg beteiligt schen Genen. Die resultierenden Wirkungen führen zu
Die Wirkspezifität erfolgt in vielen Geweben durch das sowie eventuell die Modifikation des Natrium-Wasser- Mikroangiopathie sowie zur akuten Nekrose und Fibrose
Vorhandensein eines glukokortikoidabbauenden Enzyms, stoff-Austausches. Dieser Effekt wurde an epithelialen und in zahlreichen Geweben, wie Herz, Gefäßen und Niere. Für
der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase, die eine Interak- nichtepithelialen Zellen nachgewiesen. diese Schädigung sind keine erhöhten Aldosteronspiegel
tion von Glukokortikoiden mit dem Rezeptor verhindert. Aldosteron hat weitere, nichtklassische Wirkungen erforderlich; kritischer Faktor scheint ein Ungleichgewicht
Mineralokortikoid-Escape bezeichnet die Gegenregula­ überwiegend auf nichtepitheliale Zellen. Diese Aktionen zwischen Volumen oder Natriumgleichgewicht und Aldo­
tionsmechanismen, die 3–5 Tage nach Zufuhr von Mine­ sind zwar vermutlich genomisch und daher durch Aktivie- steronspiegel zu sein.
Primärer Aldosteronismus 85

Primärer Aldosteronismus
Leitsymptome des erstmals 1955 von Jerome Conn be- Mechanismen bei primären Aldosteronismus
schriebenen primären Aldosteronismus sind Hypertonus,
supprimiertes Renin und erhöhte Aldosteronsekretion. Natriure-
Die häufigsten Subtypen sind der bilaterale idiopathische tische
Hyperaldosteronismus und das aldosteronproduzierende Hauptwir-
kung im
Adenom. Die weitaus seltenere unilaterale adrenale Hyper- Angiotensinogen ↓ Reninsekretion Atriales medullären
plasie entsteht durch Hyperplasie der Zona glomerulosa natriure- Sammel-
vorwiegend einer Nebenniere. Es sind zwei Formen des fa- Angiotensin I Autonome ↑ Plasmavolumen tisches rohr
exzessive ↓ Urinnatrium Peptid
miliären Hyperaldosteronismus beschrieben. Der Typ I,
Angiotensin II Aldosteron- Stimulation der Natriumausschei-
der glukokortikoidsupprimierbare Aldosteronismus, wird sekretion Mineralokortikoidrezeptoren dung (Aldo-
autosomal-dominant vererbt und geht mit einer unter- steron-Escape)
schiedlich starken Überproduktion von Aldosteron einher, Aldosterone
die durch Glukokortikoide supprimierbar ist. Der Typ II Andere natriuretische
↑ K+-, H+-Exkretion Hormone, Druckna-
Die autonome Aldosteronsekretion
bezeichnet familiäre aldosteronproduzierende Adenome, ↑ Na+- H2O-Reabsorption triurese und Zunahme
durch ein Nebennierenadenom oder
idiopathischen Hyperaldosteronismus oder beide. Sehr eine -hyperplasie stimuliert die der NaCl-Transporter
selten erfolgt die Aldosteronüberproduktion durch eine renalen Mineralokortikoidrezeptoren, werden aktiviert und
erhöht die Natrium- und Wasser- ↑ Plasmavolumen führen zur Natriumex-
extraadrenale Neoplasie (z. B. Ovar). kretion und verhindern
reabsorption und damit auch das
Der primäre Aldosteronismus ist die häufigste Ursache Herzminutenvolumen. periphere Ödeme.
der sekundären Hypertonie (5 % der Fälle). Meist besteht Das erhöhte Herzminuten- Vermehrte Kalium-
keine Hypokaliämie, sondern eine asymptomatische, volumen und der erhöhte ausscheidung im Urin
leichte oder schwere Hypertonie. Der Aldosteronüber- periphere Gefäßwiderstand
führen zur Hypertonie.
schuss führt zum renalen Verlust von Kalium und Wasser- Der erhöhte Gefäßwiderstand
stoffionen. Bei Hypokaliämie bestehen häufig begleitend ist Folge der Autoregulation
eine Alkalose, eine Nykturie und Polyurie (durch ein hypo- der Durchblutung bei Zu- Hypokaliämie
nahme des Herzminuten- ↑ Peripherer ↑ Herzminuten-
kaliämisch bedingtes Versagen der renalen Konzentrati- volumens. Außerdem Gefäßwiderstand volumen
onsfähigkeit), Palpitationen, Muskelkrämpfe sowie ein wirkt Aldosteron direkt auf
positives Chvostek- und Trousseau-Zeichen. Bei Hyperto- die Gefäßmuskulatur. ↑ Blutdruck
nie und Hypokaliämie, therapierefraktärer Hypertonie,
Hypertonie und adrenalem Inzidentalom, Beginn der Hy- Klinisches Bild
pertonie bei unter 20-Jährigen oder schwerer Hypertonie
Primärer Aldosteronismus
sollte ein primärer Aldosteronismus ausgeschlossen wer- Plasmaaldosteronkonzentration
den. Suchtest ist eine einfache ambulante Blutentnahme (PAC) > 15 ng/dl
+
morgens zwischen 8 und 10 Uhr (Quotient aus Plasma­ Die hypokaliämische Alkalose Plasmareninaktivität (PRA)
aldosteron und Plasmareninaktivität) beim sitzenden Pa­ kann zum Chvostek- und < 1 ng/ml/h
tienten. Die vorherige Einnahme von Antihypertensiva ist Trousseau-Zeichen führen.
↑ Verhältnis PAC : PRA
möglich, außer Mineralokortikoidrezeptorantagonisten ↑ Muskelschwäche
und hoch dosiertem Amilorid. Da der Quotient bei Hypo- und -krämpfe
Bestätigungstestung
kaliämie falsch negativ ist, sollte ein etwaiger Kaliumman-
↑ Plasmaaldosteron-
gel zuvor behoben werden. Spezifität und Sensitivität die- konzentration (PAC) Subtyptestung
ses Suchtests liegen bei etwa 75 %. Bei allen Patienten mit
↓ Plasmareninaktivität Das CT (axiales
erhöhtem Quotienten sollte als Bestätigungstest ein Aldo­ Bild) zeigt ein 1 cm
(PRA)
steron-Suppressionstest durchgeführt werden. großes aldosteron-
↑ Polyurie und Nykturie produzierendes
Die unilaterale Adrenalektomie bei aldosteronproduzie- ↑ Blutdruck Adenom (Pfeil) im
rendem Adenom oder unilateraler adrenaler Hyperplasie lateralen Anteil der
normalisiert die Hypokaliämie bei allen Patienten. Auch rechten Nebenniere.
die Hypertonie wird bei allen Patienten gebessert sowie bei
30–60 % geheilt. Bei idiopathischem Hyperaldosteronis-
Abb. 3.18 
mus wird die Hypertonie nur selten durch eine uni- oder
bilaterale Adrenalektomie korrigiert. Da der idiopathische
Hyperaldosteronismus und der glukokortikoidsuppri- adenome (≤ 1 cm) oder bilaterale Makroadenome dar. Da- vaskuläre Morbidität erhöht, sollte bei allen Patienten eine
mierbare Aldosteronismus medikamentös behandelt wer- her ist für eine korrekte Therapieentscheidung eine Neben- Normalisierung des Aldosteronserumspiegels oder eine
den, ist bei Patienten mit Operationswunsch eine präzise nierenvenenblutentnahme unerlässlich (› Abb. 3.19). Blockade der Mineralokortikoidrezeptoren angestrebt
Subtypbestimmung wichtig, die zunächst mittels Neben- Behandlungsziel ist die Prävention der mit Hypertonie, werden. Die unilaterale laparoskopische Adrenalektomie
nieren-CT erfolgt. Findet sich in der CT bei einem Patien- Hypokaliämie und kardiovaskulärem Schaden assoziierten ist eine ausgezeichnete Behandlungsoption bei aldosteron-
ten < 40 Jahre mit primärem Aldosteronismus ein kleines, Morbidität und Mortalität. Die Behandlung des primären produzierendem Adenom oder unilateraler adrenaler Hy-
einzelnes, hypodenses Makroadenom (> 1 cm und < 2 cm) Aldosteronismus erfolgt ursachenabhängig. Die Blut- perplasie. Bei idiopathischem Hyperaldosteronismus und
und ist die kontralaterale Nebenniere unauffällig, kann ei- drucknormalisierung sollte nicht das einzige Ziel sein. Mi- glukokortikoidsupprimierbarem Aldosteronismus sollten
ne unilaterale Adrenalektomie erwogen werden. Oft stellt neralokortikoidrezeptoren finden sich nicht nur in Niere Mineralokortikoidrezeptorblocker gegeben werden.
die CT normal erscheinende Nebennieren, minimale uni- und Kolon, sondern auch in Herz, Gehirn und Blutgefä-
lateral verdickte Nebennierenschenkel, unilaterale Mi­kro­ ßen. Da die Überproduktion von Aldosteron die kardio-
86 3  Nebenniere

Nebennierenvenenblutentnahme
bei primärem Aldosteronismus
Die meisten Patienten mit primärem Aldosteronismus
Katheter in den Nebennieren- Nebenniere
­haben entweder einen bilateralen idiopathischen Hyper­ venen zur Messung des Aldosteron
V.
aldosteronismus, der am besten mit Mineralokortikoid­ Aldosterongehalts produzieren-
phrenica
des Adenom
rezeptorblockern behandelt wird, oder ein unilaterales inferior
aldo­steronproduzierendes Adenom, das durch eine unila- Niere
terale laparoskopische Adrenalektomie behandelt wird
(› Abb. 3.18). Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die
adrenale CT nur in etwa 50 % der Fälle die Aldosteronquel-
le lokalisieren kann und dass bei Patienten mit primärem
Aldosteronismus, die eine operative Therapie ihrer Hyper-
tonie wünschen, die Nebennierenvenenblutentnahme sehr
entscheidend ist.
Wichtig für eine erfolgreiche Blutentnahme aus der Ne-
bennierenvene sind eine sorgfältige Auswahl und Vorbe-
reitung der Patienten, Erfahrung mit der Technik, ein defi-
niertes Vorgehen und eine korrekte Auswertung. Entschei-
dend ist ein schriftliches Protokoll. Die meisten Zentren
verwenden eine kontinuierliche ACTH-Infusion (50 μg/h
ab 30 Minuten vor der Probennahme und bis zu deren En-
de) (1) zur Minimierung stressinduzierter Fluktuationen V. cava Inferior
der Aldosteronsekretion während der nichtsimultanen Ne-
bennierenvenenblutentnahme, (2) zur Maximierung des
Cortisolgradienten zwischen V. suprarenalis und V. cava
inferior und somit zur Bestätigung einer erfolgreichen
Blutentnahme aus der V. suprarenalis und (3) zur Maxi-
mierung der Aldosteronsekretion aus einem aldosteron-
produzierenden Adenom.
Die Vv. suprarenales werden sequenziell transfemoral
unter fluoroskopischer Sicht katheterisiert. Die korrekte
Lage der Katheterspitze wird durch Injektion einer kleinen V. iliaca communis
Kontrastmittelmenge bestätigt. Die Blutentnahme erfolgt
durch vorsichtige Aspiration aus beiden Vv. suprarenales.
Eine erfolgreiche Katheterisierung kann mehrere Kathe-
Lig. inguinale
terkonfigurationen erforderlich machen; eventuell erleich- V. iliaca externa
tert die Dampfformung der Katheterspitze während des
Verfahrens den Zugang zu den Vv. suprarenales und das
Anlegen von seitlichen Löchern nahe der Katheterspitze
die Blutentnahme.
Die V. suprarenalis dextra tritt mehrere Zentimeter über
der V. renalis dextra von posterior in die V. cava inferior V. femoralis
ein. Sie ist aus mehreren Gründen schwieriger zu katheteri-
sieren als die linke; sie ist kurz, hat einen geringen Durch- Katheter in den Vv. femorales
messer und verläuft oft gewunden, sodass die Katheterspit-
ze in der Intima hängen bleibt und die Blutentnahme er- Abb. 3.19 
schwert wird. Aufgrund ihrer Kürze verschiebt sich die
Katheterlage oft atemabhängig. Selten mündet sie gemein- lis. Sie lässt sich meist rasch katheterisieren und die Blut- re, da dies zeitaufwändiger ist; anschließend erfolgt fast
sam mit einem Lebervenenast, sodass eine spezielle Kathe- entnahme lässt sich leicht durchführen. immer rasch die linksseitige Entnahme. Die letzte Probe
terform erforderlich ist. Zudem verwechseln manche Ärzte Die letzte Probe muss aus einer Hintergrundquelle ohne stammt aus der V. iliaca externa. Dadurch werden in kur-
die V. suprarenalis dextra mit den benachbarten kleinen Beimischungen aus den Vv. suprarenales stammen. Tradi- zer physiologischer Abfolge drei Blutproben entnommen,
Lebervenenästen, die oft in der Nähe der Nebennieren in tionell erfolgt die Entnahme aus der V. cava inferior, ob- in denen jeweils die Spiegel von Aldosteron und Cortisol
die V. cava inferior eintreten. Eine Kontrastmittelinjektion wohl die V. iliaca externa besser geeignet wäre. Diese ent- bestimmt werden. Alle Blutproben werden in Verdünnun-
hilft bei der Abgrenzung dieser Venen voneinander. hält keine Zuflüsse aus dem linken Nebennierenbett, das gen von 1 : 1, 1 : 10 und 1 : 50 untersucht; entscheidend
Die V. suprarenalis sinistra mündet bei fast allen Pati- selten in eine große linke gonadale Vene drainiert, die sind die Absolutwerte.
enten nahe dem Dach der V. renalis sinistra und dem late- nach kaudal zur V. iliaca interna zieht. In erfahrenen Zentren beträgt die Komplikationsrate
ralen Rand der Wirbelsäule in die V. phrenica inferior. Um den zeitlichen Abstand zwischen den beiden Ne- ≤  2,5 %. Mögliche Komplikationen sind symptomatische
Daher erfolgt die linksseitige Blutentnahme häufig aus der bennierenvenenblutentnahmen möglichst kurz zu halten, Leistenhämatome, Nebennierenblutungen und eine Dis-
V. phrenica inferior nahe der Mündung der V. suprarena- erfolgt die Entnahme zunächst aus der rechten Nebennie- sektion der V. suprarenalis.
Renin-Angiotensin-Aldosteron-System und renovaskuläre Hypertonie 87

Renin-Angiotensin-Aldosteron-System und
renovaskuläre Hypertonie
Aldosteron wird unter dem Einfluss von Angiotensin II, Pathophysiologie der renovaskulären Hypertonie bei einseitiger Nierenarterienstenose
Kalium und ACTH in der Zona glomerulosa produziert. Normale Niere Ischämische Niere
Renin ist ein Enzym, das vor allem aus dem juxtaglomeru- Der hohe Perfusionsdruck Normale oder ver- Die Stenose redu- Stimulation der Produktion
verhindert die Reninproduktion mehrte Nierendurch- ziert die Nieren- von Renin, Angiotensin II
lären Apparat der Nieren stammt. Seine Abgabe ins Blut ist und Natriumreabsorption blutung durchblutung und Aldosteron mit Na-
der geschwindigkeitsbestimmende Schritt des Renin-An- triumretention durch die
reduzierte Nierenperfusion
giotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) und wird durch
vier Faktoren festgelegt: (1) die Macula densa, eine spezia-
lisierte Zellgruppe im distalen Tubulus, die als Chemore-
zeptoren zur Überwachung von Natrium und Chlorid die- +
nen, (2) die juxtaglomerulären Zellen, die als Druckrezep-

toren die Dehnung der Arteriolenwand und damit den re-
nalen Perfusionsdruck erfassen, (3) das sympathische Renin
Nervensystem, das die Freisetzung von Renin vor allem
abhängig von der aufrechten Körperhaltung moduliert,
und (4) humorale Faktoren, wie Kalium, Angiotensin II Natrium-
Natrium- exkre- Na+
und atriale natriuretische Peptide. Dadurch ist die Renin- ausschei- tion H2 O
dung (Druck- Aldosteron
freisetzung am höchsten, wenn der renale Perfusionsdruck natriurese) Angiotensinogen
niedrig oder im Tubulus wenig Natrium vorhanden ist Drucknatriurese kompensiert die
(z. B. Nierenarterienstenose, Nierenblutung, Dehydrie- Natriumretention durch die Aldosteron
ischämische Niere
rung). Supprimiert wird die Reninfreisetzung bei erhöh-
Angiotensin I
tem renalem Perfusionsdruck (z. B. Hypertonie) und natri-
ACE +
umreicher Ernährung. Direkt wird die Reninfreisetzung
durch eine Hypokaliämie erhöht und durch eine Hyperka- Angiotensin II Blutdruck
liämie reduziert. Vasokonstriktion
Angiotensinogen, ein in der Leber synthetisiertes α2-
Ursachen der renovaskulären Hypertonie
Globulin, ist das Substrat von Renin und wird von ihm in
Fibromuskuläre Dysplasie
Angiotensinpeptide umgebaut. Durch die Wirkung von
Renin auf Angiotensinogen entsteht Angiotensin I, das aus Atherosklerotische Nierenarterienstenose
10 Aminosäuren nach der präsegmentalen Frequenz be-
Schwere konzentrische
steht und biologisch inaktiv ist. Angiotensin II, die biolo- Atherosklerose der Nierenarterie
gisch aktive Hauptform von Angiotensin, entsteht durch mit Lipidablagerung, Kalkablagerung
Abspaltung der beiden carboxyterminalen Peptide von und Thrombose
Longitudinalschnitt einer fibromuskulären
Angiotensin I durch das Angiotensin-converting-Enzym Dysplasie mit unterschiedlicher muraler Dicke
(ACE). ACE liegt in den Zellmembranen der Lunge und
den intrazellulären Granula bestimmter Gewebe, die An-
giotensin II produzieren. Angiotensin II erhält über den Renales Arteriogramm.
Die Athero- Typisches perlschnur-
Angiotensinrezeptor ein normales extrazelluläres Volu- sklerose artiges Bild durch den
men und einen normalen Blutdruck aufrecht, in dem es (1) ist die häufigste Wechsel zwischen
Ursache der Stenosen und aneurys-
die Aldosteronsekretion in der Zona glomerulosa durch Nierenarterien- matischen Dilatationen
vermehrte Transkription der Aldosteronsynthetase stenose
(CYP11B2) erhöht, (2) die glatte Gefäßmuskulatur kontra- CT-Angiogramm. Das renal Arteriogramm ist der diagnostische Gold-
Bilaterale atherosklerotische standard und dient zur Beurteilung der Schwere der
hiert und dadurch den Blutdruck erhöht und die Nieren- Nierenarteriensklerose Nierenarterienstenose
durchblutung drosselt, (3) Noradrenalin und Adrenalin
aus dem Nebennierenmark freisetzt, (4) die Aktivität des Abb. 3.20 
sympathischen Nervensystems durch Verstärkung des
zentralen sympathischen Outputs und damit der Noradre-
nalinabgabe aus den sympathischen Nervenendigungen Die Überproduktion von Aldosteron führt über zwei eines Alters von 55 Jahren, einem akuten Blutdruckanstieg
erhöht und (5) die ADH-Freisetzung fördert. Wege zur Hypertonie: (1) die mineralokortikoidinduzierte bei zuvor stabilen Werten, einer mittelschweren bis schwe-
Die typischen Aldosteronfunktionen sind die Regula­ Expansion von Plasma und extrazellulärem Flüssigkeitsvo- ren Hypertonie und unklaren Nierenatrophie oder bei ei-
tion des extrazellulären Volumens und die Kontrolle der lumen und (2) die Zunahme des peripheren Gefäßwider- nem akuten Anstieg des Serumkreatinins unmittelbar
Kaliumhomöostase durch Bindung von freiem Aldosteron stands. Die renovaskuläre Krankheit, die durch Athero­ nach Therapiebeginn mit einem ACE-Hemmer oder An-
an den Mineralokortikoidrezeptor im Zytosol der Epithel- sklerose oder eine fibromuskuläre Dysplasie entsteht, ist giotensin-Rezeptorblocker. Diagnostischer Goldstandard
zellen, vor allem in der Niere. Mineralokortikoidrezeptor eine korrigierbare Ursache der sekundären Hypertonie. der Nierenarterienstenose ist die renale Arteriografie, wo-
werden gewebespezifisch exprimiert. Die höchsten Kon- Der Verdacht besteht bei Beginn des Hypertonus vor dem bei als Suchtests mehrere weniger invasive Verfahren in-
zentrationen finden sich im distalen Nephron, Kolon und 30. Lebensjahr (v. a. bei fehlender Familienanamnese und frage kommen (z. B. Magnetresonanzangiografie, CT-An-
Hippocampus und niedrigere Spiegel im restlichen Gastro- fehlenden weiteren Risikofaktoren, wie Adipositas), einer giografie, Duplex-/Doppler-Sonografie).
intestinaltrakt und im Herzen. initial schweren Hypertonie (≤  160/100 mm Hg) jenseits
88 3  Nebenniere

Akute Nebenniereninsuffizienz – Nebennierenkrise


Die akute Nebenniereninsuffizienz oder Nebennierenkrise
Kreislaufkollaps, deutliche Hypotonie
ist ein unbehandelt tödlich verlaufender endokriner Not-
fall. Im Vordergrund stehen Dehydrierung und kardiovas-
kulärer Kollaps. Eine Nebennierenkrise kann auftreten bei:
Patienten mit bekannter primärer Nebenniereninsuffizi-
enz nach Absetzen der Glukokortikoidersatztherapie oder
bei Nichterhöhung der Dosis im Rahmen akuter Erkran-
kungen; Patienten mit nicht diagnostizierter primärer Ne-
benniereninsuffizienz unter starker Belastung (z. B. Infek-
Nachweis von
tion, Operation) und Patienten mit Nebennierennekrose
Meningokokken aus
durch eine intraadrenale Blutung oder einen Infarkt. We- Blut, Liquor und/oder
gen der intakten Mineralokortikoidsekretion kann die Ne- Rachenabstrich
bennierenkrise in diesen Fällen auch bei sekundärer Ne-
benniereninsuffizienz sowohl bei Hypopituitarismus als
auch bei exogener Glukokortikoidzufuhr auftreten.
Bei Kreislaufkollaps und bekannter Infektion, Trauma,
Antikoagulation (z. B. Heparin oder Cumarin) oder Gerin-
nungsstörung (z. B. Antiphospholipidsyndrom) besteht
der Verdacht auf eine adrenale Blutung, die mit Schmer-
zen im oberen Rückenbereich, Flanken- oder Bauch-
schmerzen einhergehen kann. Intraadrenale Blutungen
Ausgedehnte Purpura, Schock,
sind bei schwerer Septikämie möglich, vor allem bei Kin- Erschöpfung, Zyanose
dern mit Pseudomonas-aeruginosa-Septikämie. Die fulmi-
Hämorrhagische
nante Meningokokkensepsis (Waterhouse-Friderichsen- Zerstörung der
Syndrom) kann zur hämorrhagischen Zerstörung beider Nebenniere
Nebennieren führen und tritt vor allem bei Kindern und
jungen Erwachsenen auf. Die Patienten leiden unter ausge-
dehnter Purpura, Meningitis, Erschöpfung und Schock.
Die initialen Symptome einer Meningitis durch Neisseria
meningitidis sind plötzliches Fieber (in der Regel bipha- Typischer Fieberverlauf
sisch), Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, kognitive
40,6
Ausfälle und Myalgien. Bei 20 % der Patienten entwickeln
sich rasch eine Verbrauchskoagulopathie und Purpura ful-
Temperatur, °C

minans. Die Purpura fulminans geht mit Hautblutungen


und -nekrosen durch vaskuläre Thrombosen und die Ver-
brauchskoagulopathie einher.
Neben dem Schock haben Patienten mit Nebennieren- 37,8
krise in der Regel weitere Symptome, wie Anorexie, Übel-
keit, Erbrechen, generalisierte Bauchschmerzen, Lethargie,
Fieber oder Verwirrtheit. Auch die Symptome einer bis-
lang unbekannten primären Nebenniereninsuffizienz kön- 1 2
nen vorliegen (z. B. Hyperpigmentierung, Gewichtsverlust, Tage
Hyponatriämie, Hyperkaliämie). Werden diese Symptome
nicht erkannt und stehen Fieber und Bauchschmerzen im Abb. 3.21 
Vordergrund, wird oft fälschlicherweise ein akutes Abdo-
men diagnostiziert und ein unnötiger chirurgischer Ein-
griff durchgeführt. schen Ansprechen, (3) ätiologische Diagnostik (z. B. Infek-
Die empirische Behandlung einer Nebenniereninsuffizi- tion) und (4) häufige Kontrolle der Serumelektrolyte, des
enz sollte bei allen schwer kranken Patienten mit Schock Säure-Basen-Haushalts, der Serumglukose und der Nie-
erfolgen, die nicht auf Volumengabe und Pressoren an- renwerte. Die Hydrocortisongaben werden mit 100 mg int-
sprechen. Bei nicht diagnostizierter Nebenniereninsuffizi- ravenös alle 6–8 Stunden fortgesetzt, bis die Grundkrank-
enz sollten folgende Behandlungsmaßnahmen noch vor heit abklingt. Anschließend wird die Dosis täglich um 50 %
einer Abklärung einer etwaigen Nebenniereninsuffizienz bis zur Erhaltungsdosis reduziert.
erfolgen: (1) intravenöse Bolusgabe von Hydrocortison- Bei jedem Patienten müssen alle Ursachen der Neben-
Natriumsuccinat in einer Dosis von 100 mg, (2) rasche Vo- niereninsuffizienz und eine autoimmune Genese berück-
lumengabe mit Glukose in physiologischer Kochsalzlösung sichtigt werden. Außerdem sollte nach anderen hormonel-
(2–4 l über die ersten 4 Stunden) abhängig von dem Aus- len Störungen (primäre Hypothyreose, Diabetes mellitus,
maß der Dehydrierung, dem Vorhandensein anderer kar- Hypoparathyreoidismus und Gonadeninsuffizienz) und
diovaskulärer oder renaler Erkrankungen und dem klini- grundsätzlich nach dem Auslöser gesucht werden.
Chronische primäre Nebenniereninsuffizienz – Addison-Krankheit 89

Chronische primäre Nebenniereninsuffizienz –


Addison-Krankheit
Die normale Nebennierenrinde besitzt eine große funktio-
nelle Reserve; die Nebenniereninsuffizienz manifestiert sich Pigmentierung
klinisch erst, wenn mehr als 90 % der Rinde zerstört wurden. der Schleimhäute

Somit hängt das klinische Bild der Nebenniereninsuffizienz


von der Geschwindigkeit und dem Ausmaß der Nebennie- Hautpigmentierung
renrindenzerstörung ab. Erfolgt diese langsam progredient,
wird der Patient oft erst bei einer Krankheit (z. B. Infektion)
Dunklerwerden
oder Belastung (z. B. Trauma, Operation) durch eine Nieren-
der Haare
krise symptomatisch. Die typischen chronischen Symptome, In 80 % der Fälle autoimmun
wie Müdigkeit, allgemeine Schwäche, diffuse Myalgien und Sommer- mit Nebennierenrindenatrophie
Arthralgien, Anorexie, Gewichtsverlust, Übelkeit, Erbrechen, sprossen

Bauchschmerzen, psychiatrische Symptome, Ohrknorpel- Vitiligo Hypotonie


verkalkung (Männer), orthostatischer Schwindel, Hypoto-
nie, Hyperpigmentierung (Haut und Haar), Hyponatriämie, Pigmentan-
häufung an
Hyperkaliämie und Anämie, entstehen durch die Glukokor- den Mamillen
tikoid- und Mineralokortikoidinsuffizienz. Die Hyponatri­ und an Be-
reichen mit
ämie entsteht durch Verdünnung, inadäquate ADH-Sekre­ Hautreibung
tion und reduzierte renale Clearance von freiem Wasser. Hy-
potonie und Schwindel beim Aufstehen sind Folge von Mine-
ralokortikoid- und Glukokortikoidmangel; bei manchen
Patienten klingt ein langer bekannter Hypertonus plötzlich Pigment- In <10 % der Fälle Tuber-
anhäufung kulose der Nebennieren
ab. Die vor allem bei Kindern mit Nebenniereninsuffizienz in Hautfalten
ausgeprägte Hypoglykämie manifestiert sich oft nach länge- und Narben
rem Fasten. Eine Frühdiagnose der Nebenniereninsuffizienz
Ausfall der
ist wegen der unspezifischen Symptome schwierig. Scham- und
Die generalisierte Hyperpigmentierung entsteht durch Achselbehaa-
rung
die ACTH-induzierte erhöhte Melaninproduktion in den Gewichtsverlust,
Melanozyten der Epidermis. Besonders betroffen sind Auszehrung:
Anorexie
meist die Streckseiten (z. B. Knie, Knöchel, Ellenbogen) Erbrechen
und andere Friktionsbereiche (z. B. Gürtellinie, BH-Rie- Diarrhö Andere Ursachen:
Metastasen
men). Weitere stark hyperpigmentierte Bereiche sind die Muskelschwäche Infektionen
Innenflächen der Lippen, die Wangenschleimhaut, das Adrenale Blutung
Zahnfleisch, der harte Gaumen, neue Operationsnarben, Adrenoleukodystrophie
Kongenital adrenale Hypoplasie
Areolae, Sommersprossen und Handfalten. (Letzteres ist Bilaterale Adrenalektomie
bei dunkelhäutigen Menschen oft normal.) Die Fingernä- Medikamentös
gel zeigen lineare dunkle Bänder, die von den Nagelbetten
ausgehen. Bei adäquatem Glukokortikoidersatz klingt die Dunkle gerade,
vom Nagelbett
Hyperpigmentierung über mehrere Monate ab, Narben ausgehende
können dauerhaft verändert bleiben. Vitiligo (depigmen- Linien in den
tierte Haut) entsteht durch die autoimmune Zerstörung Nägeln.

der Melanozyten und betrifft etwa 20 % der Patienten mit


autoimmuner primärer Nebenniereninsuffizienz. Abb. 3.22 
Bei Frauen mit primärer Nebenniereninsuffizienz bilden
sich aufgrund der fehlenden adrenalen Androgensekretion
oft Achsel- und Schambehaarung zurück und es besteht ein nen von NR0B1 [DAX1] oder NR5A1 [SF-1]), bilaterale de die Krankheit, die bei Frauen dreimal häufiger ist als bei
Libidoverlust. Bei Männern finden sich diese Symptome Adrenalektomie und Arzneimittel (z. B. Mitotan, Ketocon­ Männern, als Schmidt-Syndrom bezeichnet. Der Erbgang er-
nicht, da die Hoden die wichtigste Androgenquelle sind. azol). Bei fast allen Patienten mit autoimmuner primärer folgt autosomal-rezessiv, autosomal-dominant oder polygen.
Die häufigste Ursache der primären Nebenniereninsuf- Nebenniereninsuffizienz finden sich Antikörper gegen Das seltenere autosomal-rezessive polyendokrine Au-
fizienz hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. 1855, als sie 21-Hydroxylase, während sie bei anderen Ursachen fehlen. toimmunsyndrom Typ 1 betrifft vor allem Frauen und hat
erstmals von Thomas Addison bei Autopsien von 11 Pati- Etwa die Hälfte der Patienten mit autoimmuner Neben- bei Menschen finnischer oder skandinavischer Abstam-
enten mit primärer Nebenniereninsuffizienz beschrieben niereninsuffizienz hat eine oder mehrere weitere endokrine mung die höchste Prävalenz (› Abb. 8.6). Ursache sind
wurde, war es noch die Tuberkulose; heute ist es die Au- Autoimmunerkrankungen, gelegentlich besteht ein polyen- Mutationen des Autoimmun-Regulator-Gens (AIRE). Ers-
toimmunerkrankung (etwa 80 % der Fälle). Weitere selte- dokrines Autoimmunsyndrom Typ 2. Die Patienten sind in te Symptome, die meist in der Kindheit oder in der frühen
ne Ursachen sind Metastasen (z. B. Lymphom, Lungen- der Regel 20–40 Jahre alt und leiden unter einer primären Jugend auftreten, sind in der Regel ein Hypoparathyreo­
krebs, Brustkrebs, Melanom), Infektionen (z. B. Pilze, HIV, Nebenniereninsuffizienz sowie unter einer autoimmunen idismus oder eine chronische mukokutane Kandidose.
Tuberkulose), adrenale Blutungen, Adrenoleukodystro- Schilddrüsenerkrankung (z. B. Hashimoto-Thyreoiditis, Ba- Kurz darauf (im Durchschnitt nach 15 Jahren) entsteht ei-
phien, die kongenitale adrenale Hypoplasie (z. B. Mutatio- sedow-Krankheit) und Diabetes mellitus Typ 1. Früher wur- ne primäre Nebenniereninsuffizienz.
90 3  Nebenniere

Laborbefunde und Behandlung der primären


Nebenniereninsuffizienz
Neben dem Cortisolmangel durch die primäre Nebennie-
reninsuffizienz fehlen auch Aldosteron und adrenale Andro-
gene. Daher geht die primäre Nebenniereninsuffizienz auch
mit Hyponatriämie und Hyperkaliämie einher. Die Hypona- Keine Hemmung von ACTH
triämie ist mit einer inadäquaten Zunahme der ADH-Sekre-
tion und einer cortisolbedingten Abnahme der freien Was-
ser-Clearance der Niere assoziiert. Die Hyperkaliämie ent- ACTH
steht direkt durch die fehlende Aldosteronwirkung am Mi- erhöht
neralokortikoidrezeptor. Gemessen an der Hyperkaliämie
und der erhöhten Plasmareninaktivität, sind die Aldoste-
ronspiegel in Blut und Urin zu niedrig. Hypotonie und De- Atrophie der gesamten
hydrierung können zu einer sekundären Niereninsuffizienz Nebennierenrinde
und einem Anstieg des Serumkreatinins führen. In der Regel Pigmentierung
bestehen eine normochrome, normozytäre Anämie und ei-
Mark
ne Neutropenie mit relativer Lymphozytose.
Die Serumspiegel der adrenalen Androgene, Dehydro-
epiandrostendionsulfat (DHEA-S), Androstendion und
Testosteron sind ebenso niedrig wie die Urinausscheidung
von 17-Ketosteroiden in 24 Stunden. Die reduzierte adre- Aldosteron fehlt 17-Ketosteroide Cortisol fehlt
oder sehr niedrig fehlen oder sehr niedrig oder sehr niedrig
nale Androgensekretion führt bei Frauen zum Verlust der
Scham- und Achselbehaarung.
Das Serumcortisol ist niedrig und der Serumspiegel von
ACTH hoch. Außerdem ist die 24-Stunden-Ausscheidung Hyperpigmentierung
von Cortisol mit dem Urin reduziert. Bei symptomatischen Hypotonie Geringe Scham- und Müdigkeit
Achselbehaarung bei Frauen
Klinisches Bild

Patienten reicht für die Diagnose ein ACTH-Serumspiegel Allgemeine Schwäche


Verlust von Muskelmasse Diffuse Myalgien und Arthralgien
um 8 Uhr von > 500 pg/ml bei einem gleichzeitig gemesse- Verlust der Libido bei Frauen Anorexie und Gewichtsverlust
nen Cortisol-Serumspiegel von > 5 μg/dl. In diesen Fällen Übelkeit und Erbrechen
Bauchschmerzen
ist kein ACTH-Test erforderlich. Bei Patienten mit primä-
Hypotonie
rer Nebenniereninsuffizienz verändert sich der Cortisol-
Serumspiegel im ACTH-Test nicht gegenüber dem Aus-
Blutvolumen niedrig DHEA-S niedrig ACTH –––––––––––– hoch
gangswert (Ausgangswert meist <  5 μg/dl und Anstieg Na+ niedrig Androstendion niedrig Anämie,
K+ erhöht Testosteron niedrig normozytäre, normochrome,
nach ACTH-Gabe auf < 7 μg/dl), während der Spitzenwert Kreatinin (bei Frauen) Hämoglobin ––––––––– niedrig
erhöht
Blut

unter 18 μg/dl bleibt. Aldosteron niedrig Neutropenie


Plasmarenin- Relative Lymphozytose
Der Glukokortikoidersatz sollte nach den Vorgaben in aktivität niedrig Mittelschwere Hypoglykämie
› Abb. 3.24 erfolgen. Die Patienten sollten (1) die Gluko- Cortisol ––––––––––––––– niedrig
unzureichender Anstieg nach
kortikoiddosis bei starker körperlicher Belastung (z. B. Fie- ACTH-Gabe
ber >  38,3 °C, akute Krankheit, Zahnextraktion) um das
Zwei- bis Dreifache erhöhen, (2) einen Arzt aufsuchen,
Aldosteron –––––– niedrig 17-Ketosteroide–––––– niedrig Cortisol ––––––––––––––– niedrig
wenn die Glukokortikoiddosis wegen Stress mehr als 3 Tage
Urin

(< 5 μg/24 h) (< 5 mg/24 h) (< 10 μg/24 h)


erhöht werden muss, (3) wegen der Gefahr eines
­Cushing-Syndroms die längere Einnahme höherer Dosen
vermeiden, (4) wissen, dass die Glukokortikoiddosis bei see- Abb. 3.23 
lischem Stress, Kopfschmerzen und Bagatellerkrankungen
nicht erhöht werden muss, (5) sich die erhöhte Glukokorti-
koiddosis intramuskulär verabreichen, falls eine orale Ein- Anleitung und Einübung der Selbstinjektionstechnik. Abge- Bei sekundärer Nebenniereninsuffizienz ist die Renin-
nahme wegen Übelkeit oder Erbrechen unmöglich ist, und laufene Medikamente sollten prompt erneuert werden. Angiotensin-Aldosteron-Achse intakt, sodass kein Mine-
(6) einen Notfallpass mitführen, der die Diagnose („Neben- Bei Operationen unter Allgemeinanästhesie müssen die ralokortikoidersatz, der bei primärer Nebenniereninsuffi-
niereninsuffizienz“) und die Wörter „Cortisongabe“ enthält, Glukokortikoidstressdosen gegeben werden. In der Regel zienz hingegen wichtig ist, erfolgen muss. Aldosteron ist
sodass bei Bewusstlosigkeit die korrekte Cortisonmenge ge- werden am Morgen vor der Operation und abends danach nicht zur Therapie geeignet. Fludrocortison ist ein sehr po-
geben werden kann. Entscheidend für den Therapieerfolg intramuskulär je 20–40 mg Methylprednisolon verab- tentes Steroid und die einzige dazu eingesetzte Substanz.
ist, dass der Patient diese Anweisungen verstanden hat. reicht. Am 1. und 2. postoperativen Tag wird die Dosis auf In der Regel werden 1  ×  50–200 μg/d oral eingenommen
Der Patient sollte drei mit Dexamethason 4 mg (4 mg/ml) 20 mg und 10 mg intramuskulär alle 12 Stunden ausge- (meist 100 μg/d). Die Dosis wird anhand des Serumkali-
gefüllte Spritzen erhalten, die er zu Hause, auf der Arbeits- schlichen. Die Dosishöhe richtet sich nach dem klinischen umspiegels titriert. Bei zu niedriger Dosis können eine
stelle und nach Möglichkeit auch ständig bei sich trägt (ohne Bild des Patienten. Bei täglicher Einnahme von Fludrocor- Hyponatriämie und eine Hyperkaliämie entstehen, bei zu
sie extremer Wärme auszusetzen). Die Dosis kann alle 8 tison ist häufig keine ergänzende Gabe von Mineralokorti- hoher Dosis Hypertonie, Gewichtszunahme und Hypokali-
Stunden wiederholt werden, wenn die Symptome der Krank- koiden erforderlich, bis die orale Einnahme postoperativ ämie. Die meisten Patienten sollen ihre Natriumaufnahme
heit persistieren und kein Arzt in der Nähe ist. Wichtig ist die fortgesetzt werden kann. auf etwa 150 mmol/d beschränken.
Laborbefunde und Behandlung der sekundären Nebenniereninsuffizienz 91

Laborbefunde und Behandlung der sekundären


Nebenniereninsuffizienz
Die Symptome einer sekundären (hypophysärer ACTH- Isolierter ACTH-Mangel bei Panhypopituitarismus durch Neoplasie, Zyste,
Autoimmunhypophysitis Metastasen, Operation oder Infarkt der Hypophyse
Mangel) oder tertiären (hypothalamischer CRH-Mangel)
Nebenniereninsuffizienz ähneln bis auf ein paar wichtige
Ausnahmen denen der primären Nebenniereninsuffizienz.
ACTH wirkt stimulierend auf die Melanozyten, sodass Pa-
tienten mit primärer Nebenniereninsuffizienz (hohen
ACTH-Spiegeln) eine dunkle Hyperpigmentierung aufwei-
sen (vor allem in den Handfalten und auf den Streckseiten) Gonado-
tropine
und leicht im Sonnenlicht bräunen. Die sekundäre Neben- ACTH fehlt TSH Antidiuretisches Wachstums- fehlen
niereninsuffizienz (niedrige ACTH-Spiegel) geht hingegen oder niedrig fehlt oder Hormon fehlt hormon fehlt oder
niedrig oder niedrig oder niedrig niedrig
mit Blässe und Lichtüberempfindlichkeit sowie aufgrund
der intakten Renin-Angiotensin-Aldosteron-Achse mit ei- Keine Pigmentierung
ner normalen Aldosteronsekretion und Normokaliämie Nebennierenrinde
Fasciculata und
einher. Daher ist auch eine Dehydrierung seltener. Reticularis
Medulla
Oft besteht durch die inadäquate Zunahme der ADH- atrophiert
Sekretion und reduzierte freie Wasser-Clearance der Nie- Etwas Hypo- Diabetes Zwergen- Amenorrhö,
ren eine Hyponatriämie. Bei Kindern tritt durch den Glomerulosa thyreose insipidus wuchs Libidoverlust,
verbleibt Aldosteron 17-Ketosteroide Cortisol fehlt (manchmal) (wenn vor Azoospermie
gleichzeitigen Wachstumshormonmangel bei sekundärer normal fehlen oder sehr niedrig oder sehr niedrig Pubertät);
Nebenniereninsuffizienz häufig eine Hypoglykämie auf. In niedrige
Blutglukose
der Regel bestehen eine normochrome, normozytäre An­
ämie und Neutropenie mit relativer Lymphozytose. Keine Dehydrierung Verlust der Scham- Erschöpfung
Wichtig ist bei der sekundären Nebenniereninsuffizienz, behaarung bei Frauen Allgemeine Schwäche
Klinisches Bild

dass klinisches Bild und Laborbefunde oft von dem sellären Verlust der Diffuse Myalgien und
Muskelmasse Arthralgien
oder hypothalamischen Prozess und dem dadurch bedingten Anorexie und Ge-
Mangel oder die Überproduktion von Hormonen bestimmt wichtsverlust
Übelkeit und Erbrechen
werden. Möglich sind eine Hypothyreose, ein Diabetes insi- Bauchschmerzen
pidus, ein Wachstumshormonmangel und ein sekundärer
Hypogonadismus. Aufgrund der bei Nebenniereninsuffizi-
Na+ – niedrig bis DHEA-Sulfat – niedrig ACTH – niedrig
enz reduzierten freien Wasser-Clearance manifestiert sich normal Androstendion – niedrig Anämie, normozytäre, Typische Fazies bei
ein Diabetes insipidus oft erst nach Glukokortikoidersatz. K+ – normal Testosteron normochrome, Hämo- Panhypopituitarismus:
Kreatinin – normal (bei Frauen) – niedrig globin – niedrig hellbraune Haut,
Auch Verdrängungssymptome (z. B. Gesichtsfeldausfälle, Aldosteron – normal Neutropenie, relative „Krähenfüße“
Kopfschmerzen) durch den Sella- oder Hypothalamustumor
Blut

Plasmareninaktivität Lymphozytose
sind möglich. Beim Panhypopituitarismus haben die Patien- – normal bis hoch Blutglukose – niedrig
Cortisol – niedrig
ten oft ein typisches Gesicht mit hellbrauner Haut, feinen (geringer Anstieg nach
Gesichtsfältchen und Krähenfüßen sowie eine Ausdünnung ACTH-Gabe)
des lateralen Augenbrauendrittels mit Hypothyreose und
Hypogonadismus. Außerdem fehlt ACTH als einziges Hypo-
Aldosteron – normal
physenhormon (isolierte sekundäre Nebenniereninsuffizi- 17-Ketosteroide –
Urine

bis niedrig (Be- Cortisol – niedrig


enz); häufig besteht eine lymphozytäre Hypophysitis. niedrig (< 5 mg/24 h)
reich 2–20 μg/24 h)
Durch die starke Reninproduktion sind die Aldosteron-
spiegel in Blut und Urin in der Regel normal. Die Serum- Abb. 3.24 
spiegel der adrenalen Androgene, von DHEA-S, Andro­
stendion und Testosteron, sind ebenso niedrig wie die
Urin­ausscheidung von 17-Ketosteroiden in 24  Stunden. ACTH wird nicht therapeutisch eingesetzt, da es paren- gendliche Einzeldosis gegeben werden. Die Dosierung
Die reduzierte adrenale Androgensekretion führt bei Frau- teral gegeben werden muss, allergische Reaktionen auslö- richtet sich nach der klinischen Einschätzung der Sympto-
en zum Verlust der Scham- und Achselbehaarung. sen kann und teuer ist. Oft werden Hydrocortison, Corti- me eines Glukokortikoidmangels oder -überschusses. Eine
Das Serumcortisol ist niedrig und der Serumspiegel von sonacetat oder Prednison gegeben. Der Abbau der synthe- Leberenzyminduktion durch Rifampicin oder Phenobarbi-
ACTH hoch. Außerdem ist die 24-Stunden-Ausscheidung tischen Steroide unterliegt individuellen Schwankungen tal beschleunigt den Abbau der Glukokortikoide in der Le-
von Cortisol mit dem Urin reduziert. Bei symptomatischen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Da- ber, sodass die Erhaltungsdosis erhöht werden muss. Auf-
Patienten reicht für die Diagnose ein ACTH-Serumspiegel her geben die meisten Ärzte das wichtigste von der Neben- grund der kurzen Halbwertszeit von Hydrocortison ist der
um 8 Uhr von > 500 pg/ml bei einem gleichzeitig gemesse- nierenrinde produzierte Glukokortikoid, Hydrocortison. Serumspiegel von Cortisol kein zur Dosistitration geeigne-
nen Cortisol-Serumspiegel von > 5 μg/dl. In diesen Fällen Es wird versucht, den zirkadianen Rhythmus der Cortisol- ter Marker. Zur Stressdosierung siehe › Abb. 3.23.
sind kein ACTH-Test und keine insulininduzierte Hy­ produktion nachzuahmen, indem zwei Drittel der Gluko-
poglyk­ämie erforderlich. Bei Patienten mit sekundärer kortikoiddosis (10–15 mg) morgens und ein Drittel (5 bis
­Nebenniereninsuffizienz steigt der Cortisol-Serumspiegel 10 mg) vor dem Abendessen gegeben werden. Eine spätere
60  Minuten nach ACTH-Gabe langsam an, erreicht aber abendliche Gabe führt zur Schlaflosigkeit. Bei partiellem
nur einen Spitzenwert < 18 μg/dl. ACTH-Mangel können geringere Dosen oder eine mor-
92 3  Nebenniere

Nebennierenmark und Katecholamine


Das Nebennierenmark bildet den zentralen Anteil der Ne-
benniere und macht 10 % des Gesamtvolumens der Neben-
niere aus. Die Markzellen werden als chromaffine Zellen
(die mit Chromsalzen braun anfärben) oder Phäochromo-
zyten bezeichnet. Die zytoplasmatischen Granula färben Präaortale
Ganglien CH2–CH – COOH
sich durch Chromsäure dunkel aufgrund der Oxidation NH2
von Adrenalin und Noradrenalin zu Melanin. Die chrom- nici
nch
affinen Zellen differenzieren sich im Mark nach Stimula­ pla OH
Truncus .s
Nn Tyrosin
tion durch Cortisol; außerdem wandern einige chromaffi- sympathicus Neben-
nieren-
ne Zellen aus und bilden die Paraganglien, Ansammlungen OH CH2 – CH2–NH2
mark
chromaffiner Zellen auf beiden Seiten der Aorta. Das Ge- Neben- CH–CH2–NH
T10 OH
T11 nierenrinde CH3 OH
hirn steuert die Sympathikusaktivität über Impulse aus OH Kon
T12 Dopamin
Pons, Medulla und Hypothalamus, die von deren Neuro- L1 OH durch Cversion
stim ortisol- OH
nen an die präganglionären sympathischen Neurone wei- ulat CH – CH2– NH2
Adrenalin ion
tergeleitet werden. Die Axone der unteren thorakalen und
OH
oberen lumbalen präganglionären Neurone (Th10–L1) in- OH
nervieren die Zellen des Nebennierenmarks direkt über die Cortisol
Noradrenalin
Nn. splanchnici. Belastende Reize (z. B. Myokardinfarkt,
Anästhesie, Hypoglykämie) führen zur Produktion von
Katecholaminen im Nebennierenmark. Acetylcholin aus ++++
+ Nor
adr
den präganglionären sympathischen Fasern stimuliert die ena
lin
+ ++++ Adr
nikotinergen cholinergen Rezeptoren und depolarisiert die ena
++ lin
chromaffinen Zellen mit Aktivierung der spannungsab- +++
hängigen Kaliumkanäle und nachfolgender Exozytose des +
++++
Inhalts der Sekretvesikel. +
Als Katecholamine werden Substanzen bezeichnet, die ++++

Katechol (Ortho-Dihydroxybenzen) und eine Seitenkette Blutdruck- Glukose


erhöhung Erhöhtes ++++
Herzminuten- Grund-
mit einer Aminogruppe enthalten, den Katecholkern. Ad- umsatz Glykogen
volumen
renalin wird im Nebennierenmark produziert und gespei- erhöht Bronchodilatation;
gastrointestinale
chert und in das Blut abgegeben. Noradrenalin wird darü- Hemmung Glykogenolyse,
Hyperglykämie Zerebrale
ber hinaus auch in den peripheren sympathischen Nerven OH Adrenalin Übererreg-
produziert und gespeichert. Dopamin, der Vorläufer von CH – CH2–NH < 20 μg/24 h barkeit
Noradrenalin, kommt im Nebennierenmark und in den CH3 +++
CH3O Metanephrin
peripheren sympathischen Nerven vor und dient vor allem OH < 400 μg/24 h
Neutrophilie
als Neurotransmitter im zentralen Nervensystem (ZNS). OH O Niere Eosinopenie +++
Lipolyse
Katecholamine beeinflussen viele kardiovaskuläre und CH – C– OH Vanillin-
metabolische Prozesse. Unter anderem erhöhen sie Herz- mandelsäure
CH3O < 6 mg/24 h
frequenz, Blutdruck, Myokardkontraktilität und die Lei- OH

tungsgeschwindigkeit im Herzen. Die physiologischen Re- Normeta-


OH nephrin ++ +++
aktionen auf Katecholamine werden über drei adrenerge CH – CH2–NH2 < 900 μg/24 h
Rezeptortypen (α, β, DA) und ihre Subtypen (α1, α2, β1, β2, CH3O Noradrenalin
OH < 80 μg/24 h
β3, DA1, DA2) vermittelt. Der postsynaptische α1-Rezeptor
vermittelt eine Kontraktion der glatten Muskeln und der
Gefäßmuskeln; bei Stimulation kommt es zur Vasokonst- Abb. 3.25 
riktion und zum Blutdruckanstieg. Die α2-Rezeptoren lie-
gen in den präsynaptischen sympathischen Nervenendi-
gungen und hemmen die Freisetzung von Noradrenalin; thischen Nervenendigungen führt. Die β3-Rezeptoren hören zur Standardtherapie von Angina pectoris, Hyperto-
bei Stimulation werden der Sympathikotonus und der steuern Energieverbrauch und Lipolyse. DA1-Rezeptoren nie und Herzrhythmusstörungen. Die Gabe von β2-
Blutdruck reduziert. Daher werden die zentralen α2-Ago­ finden sich in den zerebralen, renalen, mesenterialen und Agonisten (Terbutalin und Albuterol) führt zur Relaxation
nisten Clonidin, α-Methyldopa und Guanfacin zur antihy- koronaren Gefäßen; eine Stimulation führt zur Vasodilata- der Bronchialmuskulatur; diese Substanzen werden oft zur
pertensiven Therapie eingesetzt. Der β1-Rezeptor vermit- tion dieser Gefäßbetten. Die präsynaptischen DA2-Rezep- Inhalation bei Asthma verordnet.
telt Effekte auf das Herz und spricht besser auf Isoprotere- toren liegen in sympathischen Nervenendigungen, sympa-
nol als auf Adrenalin oder Noradrenalin an; die Stimulati- thischen Ganglien und im Gehirn; bei Stimulation hem-
on hat positive inotrope und chronotrope Effekte auf das men sie die Freisetzung von Noradrenalin, die ganglionäre
Herz, erhöht die Reninsekretion in der Niere und die Lipo- Überleitung und die Prolaktinfreisetzung.
lyse in den Adipozyten. Der β2-Rezeptor bewirkt eine Rela- Fast alle Körperzellen besitzen adrenerge Rezeptoren.
xation der glatten Muskeln von Bronchien, Gefäßen und Die pharmakologische Entwicklung selektiver α- und
Uterus, sodass die Stimulation zu Bronchodilatation, Va- β-adrenerger Agonisten und Antagonisten bedeutet für die
sodilatation in der Skelettmuskulatur, Glykogenolyse und Behandlung zahlreicher Krankheiten einen großen Fort-
vermehrter Freisetzung von Noradrenalin aus den sympa- schritt. β1-Antagonisten, wie Atenolol und Metoprolol, ge-
Synthese, Speicherung, Sekretion, Metabolismus und Inaktivierung von Katecholaminen 93

Synthese, Speicherung, Sekretion, Metabolismus


und Inaktivierung von Katecholaminen
Synthese OH OH OH OH OH OH
OH OH OH OH OH
Katecholamine entstehen durch Hydroxylierung und De-
TH AADC DBH PNMT
carboxylierung aus Tyrosin. Tyrosin stammt aus der Nah-
rung oder wird in der Leber aus Phenylalanin hergestellt Katecholkern HCH HCH HCH HCOH HCOH
und gelangt durch aktiven Transport in die Neuronen und HC–COOH HC–COOH HCH HCH HCH
chromaffinen Zellen. Tyrosin wird durch die Tyrosin­ NH2 NH2 NH2 NH2 HNCH3
Tyrosin Dopa Dopamin Noradrenalin Adrenalin
hydroxylase im geschwindigkeitsbestimmenden Schritt zu
Biosynthese der Katecholamine. Der Begriff „Katecholamine“ stammt von der Katecholstruktur (Orthodihydroxybenzen)
3,4-Dihydroxyphenylalanin (Dopa) umgebaut. Erhöhte und einer Seitenkette mit einer Aminogruppe – dem „Katecholkern“ (links). Tyrosin wird im geschwindigkeitsbestim-
menden Schritt durch die Tyrosinhydroxylase (TH) zu 3,4-Ddihydroxyphenylalanin (Dopa) umgebaut; durch diesen
­intrazelluläre Spiegel der Katechole reduzieren die Akti­ Schritt besteht die Möglichkeit, ein Phäochromozytom mit einem TH-Inhibitor, α-Methylparatyrosin (Metyrosin), zu be-
vität der Tyrosinhydroxylase. Die Transkription von Ty­ handeln. Aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC) wandelt Dopa in Dopamin um. Dopamin wird durch die
Dopamin-β-Hydroxylase (DBH) zu Noradrenalin umgebaut und dieses durch die Phenylethanolamin-N-Methyltransfe-
rosinhydroxylase wird durch Glukokortikoide, cAMP-­ rase (PNMT) zu Adrenalin. Cortisol ist Kofaktor der PNMT, weswegen adrenalinproduzierende Phäochromozytome
abhängige Proteinkinasen, kalzium-/phosphatabhängige fast immer im Nebennierenmark liegen.
Proteinkinase und kalzium-/calmodulinabhängige Pro­ OH OCH3
teinkinase stimuliert. α-Methylparatyrosin (Metyrosin) ist OH COMT OH
ein Tyrosinhydroxylase-Inhibitor, der therapeutisch bei
katechol­aminproduzierenden Tumoren eingesetzt werden MAO
HCOH MAO HCOH OCH3
kann. HCH OH HCH OH
OH
Die aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase kataly- HNCH3 OH HNCH3 OH
Adrenalin Metanephrin
siert die Decarboxylierung von Dopa zu Dopamin. Dop­ HCOH
amin wird aktiv in die granulierten Vesikel transportiert, MAO HCOH COMT COOH MAO
MAO Vanillinmandel- HCH
wo es durch das kupferhaltige Enzym Dopamin-β- OH COOH säure (VMA) COOH COMT
OCH3
Hydroxylase zu Noradrenalin hydroxyliert wird; Kofaktor OH
OH
Dihydroxyphenyl-
Dihydroxymandelsäure essigsäure
und Hydrogendonor ist Ascorbinsäure. Das Enzym ähnelt OH OCH3 OCH3
COMT OH OH
strukturell der Tyrosinhydroxylase und besitzt vermutlich OH
HCOH
HCOH
die gleichen transkriptionsregulatorischen Elemente. Bei- HCH
HCH
de Enzyme werden durch Glukokortikoide und cAMP-ab- NH2 HCH HCH HCH
NH2 COMT MAO
hängige Kinasen stimuliert. Diese Reaktionen finden in Noradrenalin Normetanephrin HCH HCH COOH
NH2 Homovanillin-
den syn­aptischen Vesikeln der adrenergen Neurone des NH2 säure (HVA)
Dopamin 3-Methoxytyramin
zentralen und peripheren Nervensystems sowie in den Katecholaminmetabolismus. Der Abbau der Katecholamine erfolgt durch 2 Enzyme. Die Katechol-O-Methyltrans-
ferase (COMT) baut Adrenalin zu Metanephrin um sowie Noradrenalin durch Meta-O-Methylierung zu Normeta-
chromaffinen Zellen des Nebennierenmarks statt. Im Ne- nephrin. Metanephrin und Normetanephrin werden durch oxidative Deaminierung durch die Monoaminooxidase
bennierenmark wird Noradrenalin aus den Granula ins (MAO) zu Vanillinmandelsäure (VMA) umgebaut. Außerdem oxidiert die MAO Adrenalin und Noradrenalin zu
Dihydroxymandelsäure, die dann von der COMT zu VMA umgebaut wird. Dopamin wird von der MAO und COMT
Zytoplasma abgegeben, wo es vom zytosolischen Enzym zu Homovanillinsäure (HVA) abgebaut.
Phenylethanol­amin-N-Methyltransferase (PNMT) zu Ad-
renalin, das in andere Speichervesikel verbracht wird, um- Abb. 3.26 
gebaut wird. An der N-Methylierung durch PNMT sind als
Methyldonor S-Adenosylmethionin sowie Sauerstoff und und 131I-MIBG zur Behandlung maligner katecholamin- Stoffwechsel und Inaktivierung
Magnesium beteiligt. Die PNMT-Expression wird durch produzierender Tumoren geeignet ist. Die Aufnahme von
Glukokortikoide gesteuert. Katecholaminen und MIBG wird durch Reserpin ge- Katecholamine werden durch Wiederaufnahme in die sym-
hemmt. pathischen Nervenendigungen oder durch enzymatische
Belastende Reize (z. B. Myokardinfarkt, Anästhesie, Verstoffwechslung aus dem Plasma entfernt und nach Sulfat-
Speicherung und Sekretion Hypoglykämie) führen zur Produktion von Katecholami- konjugation renal ausgeschieden. Der Abbau findet überwie-
nen im Nebennierenmark. Acetylcholin aus den prägang- gend in der Zelle statt, in der sie auch synthetisiert werden.
Katecholamine werden in elektronendichten Granula ge- lionären sympathischen Fasern stimuliert die nikotiner- Die O-Methylierung im Nebennierenmark ist die Haupt-
speichert, die auch Adenosintriphosphat (ATP), Neuro- gen cholinergen Rezeptoren und depolarisiert die chrom- quelle von Metanephrin (COMT baut Adrenalin zu Meta-
peptide (z. B. Adrenomedullin, ACTH, vasoaktives intesti- affinen Zellen mit Aktivierung der spannungsabhängigen nephrin um) und eine wichtige Quelle von Normetaneph-
nales Polypeptid), Kalzium, Magnesium und Chromogra- Kaliumkanäle und nachfolgender Exozytose des Inhalts rin (COMT baut Noradrenalin zu Normetanephrin um)
nin enthalten. Die Aufnahme in die Speichervesikel erfolgt der Sekretvesikel. Noradrenalin moduliert durch Aktivie- durch Methylierung der 3-Hydroxy-Gruppe, bei der S-Ade-
durch aktiven Transport mithilfe von vesikulären Monoa- rung der α2-Rezeptoren auf der präsynaptischen Memb- nosylmethionin, Methyldonor und Kalzium erforderlich
mintransportern (VMAT). Die ATP-abhängige VMAT- ran seine eigene Freisetzung. Die Stimulation der präsyn- sind. Metanephrin und Normetanephrin werden von der
Pumpe sorgt für einen steilen elektrischen Gradienten. Für aptischen α2-Rezeptoren hemmt die Noradrenalinfrei­ Monoaminooxidase (MAO) durch oxidative Deaminierung
jedes transportierte Monoamin wird ATP hydrolysiert und setzung (Wirkungsweise einiger Antihypertensiva, wie in Vanillinmandelsäure (VMA) umgewandelt. Die MAO
werden 2 Wasserstoffionen vom Vesikel ins Zytosol trans- Clonidin und Guanfacin). Die initiale biologische Halb- kann auch Adrenalin und Noradrenalin zu 3,4-Dihydroxy-
portiert. 123Iod- und 131Iod-markierte Metaiodbenzylgua- wertszeit der zirkulierenden Katecholamine liegt bei 10 mandelsäure oxydieren, die dann von der COMT zu VMA
nidine (MIBG) werden von VMAT in die Speichervesikel bis 100 Sekunden. Da etwa die Hälfte der Katecholamine umgebaut wird. In den Speichervesikeln ist Noradrenalin
des Nebennierenmarks transportiert, weswegen 123I-MIBG im Plasma in lockerer Bindung an Albumin vorliegt, fluk- vor dem Abbau durch die MAO geschützt. MAO und
zur Lokalisierung katecholaminproduzierender Tumoren tuieren die Plasmaspiegel der Katecholamine stark. COMT metabolisieren Dopamin zu Homovanillinsäure.
94 3  Nebenniere

Phäochromozytom und Paragangliom


Katecholaminproduzierende Tumoren, die von den Adrenales Phäochromozytom
Episodische oder
chromaffinen Zellen des Nebennierenmarks und den sym- Eine vermehrte Dopaminsekretion sporadische Hypertonie
pathischen Ganglien ausgehen, werden als Phäochromozy- weist auf einen malignen Tumor hin
tome bzw. katecholaminproduzierende Paragangliome be-
zeichnet. Da klinisches Bild und Behandlung dieser Tumo-
ren gleich sind, verwenden viele Ärzte den Begriff Phäo-
chromozytom für beide Entitäten. Die Unterscheidung
zwischen Phäochromozytom und Paragangliom ist jedoch
wegen assoziierter Neoplasien, des Malignomrisikos und
der genetischen Testung wichtig. Katecholaminproduzie- Der Tumor produziert Zunahme des peripheren Widerstands
rende Tumoren sind mit einer jährlichen Inzidenz von 2–8 immer mehr Katecholamine und des Blutdrucks durch Vasokonstriktion
(meistens Noradrenalin und
Fällen auf 1 Million Einwohner selten. Trotzdem müssen Adrenalin) und Metanephrine
sie bedacht, bestätigt, lokalisiert und reseziert werden, weil
(1) die assoziierte Hypertonie durch die Tumorresektion Das Phäochromozytom ist ein Tumor der chromaffinen Zellen, der exzessiv
geheilt wird, (2) die Gefahr tödlicher Attacken besteht, (3) Katecholamine produziert, sodass es zum Anstieg des peripheren Gefäßwiderstands
und zur Hypertonie kommt.
mindestens 10 % der Tumoren maligne sind und (4) 10 bis
20 % der Tumoren familiär auftreten, sodass bei den Ange- Klinisches Bild des Phäochromozytoms

hörigen entsprechende Untersuchungen zur Frühdiagnose


Die Diagnose wird biochemisch
führen können. durch den Nachweis erhöhter
Kopfschmerzen
Der Zusammenhang zwischen Nebennierenmarktumo- Konzentrationen fraktionierter
Gesichtsblässe, Katecholamine und Metanephrine
ren und den Symptomen wurde erstmals 1886 von Fränkel im Blut und im 24-h-Sammelurin
Diaphorese
erkannt. Er berichtete über das 18-jährige Fräulein Minna gestellt.
Roll, das unter intermittierenden Attacken mit Palpitatio- 24-Stunden-
Sammelurin
nen, Angst, Schwindel, Kopfschmerzen, Thoraxschmer-
zen, Kaltschweißigkeit und Erbrechen klagte. Sie hatte ei-
nen harten, nicht wegdrückbaren Puls und eine Retinitis
und starb trotz Champagnertherapie und Etherinjektio-
nen. Bei der Autopsie wurden bilaterale Nebennierentu-
moren entdeckt, die zunächst für Angiosarkome gehalten Angst
wurden, durch eine positive Chromaffinreaktion aber spä- Übelkeit

ter als Phäochromozytome bestätigt wurden. Palpitationen/


Der Begriff Paragangliom wurde 1908 eingeführt und Thoraxschmerz
bezeichnete einen extraadrenalen chromaffinen Tumor Schwäche

der Paraganglien. Der Begriff Phäochromozytom, der im Epigastrischer


Blutdruck Schmerz
Jahre 1912 wegen der Dunkelfärbung durch die Oxidation
Tremor
der intrazellulären Katecholamine bei Dichromatexpositi-
on von Pick vorgeschlagen wurde, beruht auf den griechi- Die Symptome sind Folge der exzes-
siven Katecholaminsekretion und für Nach biochemischer Bestätigung eines Katecholamin produ-
schen Wörtern phaios (dunkel), chroma (Farbe) und cyto- gewöhnlich paroxysmal. Wegen des zierenden Tumors sollte zur Tumorsuche initial eine CT
ma (Tumor). Im Jahr 1926 entfernten Roux in Lausanne, vermehrten Einsatzes der CT und des oder MRT erfolgen. Auf dem axialen (oben links) und koro-
Schweiz, und Mayo in Rochester, Minnesota, erfolgreich familiären Screenings werden bei 50 % naren (oben rechts) kontrastmittelverstärkten Abdomen-CT
der Patienten bereits asymptomatische ist ein Phäochromozytom der linken Nebenniere (Pfeil) zu
operativ adrenale Phäochromozytome. Im Jahr 1929 wur- Phäochromozytome diagnostiziert. erkennen.
de entdeckt, dass Phäochromozytome große Mengen einer
pressorisch wirkenden Substanz enthalten, die als Adrena- Abb. 3.27 
lin (1936) und Noradrenalin (1949) identifiziert wurden.
Im Jahr 1950 wurde beobachtet, dass Patienten mit Phäo-
chromozytom vermehrt Adrenalin, Noradrenalin und dergrund (z. B. Schwindel, Präsynkope, Synkope), vor al- raabdominelle Druckerhöhung (z. B. Lageänderungen,
Dop­amin mit dem Urin ausscheiden. lem bei Patienten mit überwiegend adrenalin- oder dop­ Heben, Defäkation, Sport, Koloskopie, Schwangerschaft,
Katecholaminproduzierende Tumoren treten bei Män- aminproduzierenden Tumoren. Trauma) ausgelöst werden. Die Symptome der Attacken
nern und Frauen gleich häufig und vorwiegend in der 3.–5. Die Symptome können auch in Attacken auftreten und unterscheiden sich zwar interindividuell sehr stark, sind
Lebensdekade auf. Bei Kindern sind sie selten und treten dabei sehr unterschiedlich ausfallen, meist bestehen Palpi- aber beim selben Patienten meist stereotyp. Sie können
meist multifokal im Rahmen eines hereditären Syndroms tationen, Blässe, Tremor, Kopfschmerzen und Schwitzen. mehrmals täglich oder nur einmal im Monat auftreten.
auf. Die Symptome beruhen auf den pharmakologischen Eingangs wird oft ein Engegefühl im Thorax mit Kurzat- Die Attacken dauern in der Regel 15–20 Minuten, kön-
Effekten der hohen Plasmakatecholaminspiegel. Möglich migkeit und nachfolgenden Palpitationen beschrieben, die nen aber auch weitaus kürzer sein oder mehrere Stunden
ist eine dauerhafte (bei etwa 50 % der Patienten) oder par- sich in der Regel zu pochenden Kopfschmerzen weiterent- andauern. Die meisten Patienten mit derartigen Attacken
oxysmale (bei etwa 1⁄3 der Patienten) Hypertonie. Bei den wickeln. Die periphere Vasokonstriktion führt zu kühlen haben jedoch kein Phäochromozytom.
übrigen Patienten ist der Blutdruck normal. Die Blut- oder kalten Händen und Füßen und Gesichtsblässe. Häufig Weitere klinische Hinweise auf einen katecholaminpro-
drucklabilität entsteht durch die episodische Freisetzung treten gegen Ende der Attacke ein erhöhtes Wärmeempfin- duzierenden Tumor sind eine hypertensive Retinopathie,
von Katecholaminen, den chronischen Volumenmangel den und Schwitzen auf. Die Attacken können spontan auf- eine orthostatische Hypotonie, Angina, Übelkeit, Obstipa­
und die gestörten sympathischen Reflexe. Eventuell stehen treten oder durch Haltungsänderungen, Angst, Medika- tion (evtl. mit Megakolon), Hyperglykämie, Diabetes melli-
die Symptome einer orthostatischen Hypotonie im Vor- mente (z. B. Metoclopramid, Anästhetika), Sport oder int- tus, Hyperkalzämie, Raynaud-Phänomen, Livedo reticula-
Phäochromozytom und Paragangliom 95

(Fortsetzung)

ris, Polyzythämie und Verdrängungssymptome durch den Mögliche Lokalisationen von Phäochromozytomen und Paragangliomen
Tumor. Obwohl die Hyperkalzämie Zeichen einer multip-
len endokrinen Neoplasie Typ 2 (MEN 2) sein kann, be-
steht sie häufig isoliert und klingt nach der Tumorresektion
Produktion von Noradrenalin
wieder ab. Die Sekretion von Calcitonin erfolgt katechol­
aminabhängig, sodass das Serumcalcitonin bei katechol­ Produktion von Adrenalin
und Noradrenalin
aminproduzierenden Tumoren oft erhöht ist und nicht mit
einer MEN 2 zusammenhängt. Nüchternhyperglykämie
und Diabetes mellitus entstehen zum Teil durch die
α-adrenerge Hemmung der Insulinfreisetzung. Beim Para-
gangliom der Harnblase finden sich eine schmerzlose
­Hämaturie und paroxysmale Attacken nach Miktion und
Defäkation. Einige andere ebenfalls produzierte Hormone, Truncus
sympathicus
die das klinische Bild dominieren können, sind ACTH
(­Cushing-Syndrom), Parathormon-related-Peptid (Hyper- Aortenbogen
kalzämie), ADH (Syndrom der inadäquaten ADH-Sekre­
tion), vasoaktives intestinales Peptid (wässrige Diarrhö)
und Growth-Hormone-releasing-Hormone (Akromegalie). Zwerchfell

Kardiomyopathie und Stauungsherzinsuffizienz sind die


vermutlich am häufigsten vom Arzt übersehenen Sympto- Milz
me des Phäochromozytoms. Die dilatative oder hypertro-
phe Kardiomyopathie ist nach Tumorresektion oft voll-
ständig reversibel. Myokarditis und Myokardinfarkt mit Nebennierenmark

angiografisch normalen Koronararterien werden ebenfalls


meistens nicht auf ein Phäochromozytom zurückgeführt. Abdominelle Aorta
Die Myokarditis ist durch ein entzündliches Zellinfiltrat
und eine fokale Kontraktionsbandnekrose gekennzeichnet. Niere
Viele der körperlichen Untersuchungsbefunde sind mit
dem genetischen Syndrom assoziiert, das für ein Phäochro-
Corpora paraaortica
mozytom prädisponiert, wie retinale Angiome, ein marfa-
noider Habitus, Café-au-lait-Flecken, axilläres Freckling,
subkutane Neurofibrome und Schleimhautneurome auf Ovar

Augenlidern und Zunge. Manche Patienten mit Phäochro-


mozytom sind vermutlich infolge einer Desensibilisierung Harnblasenwand
der Adrenorezeptoren durch die chronische Stimulation
trotz der hohen Katecholaminspiegel asymptomatisch. Hoden
Die Beschreibung katecholaminproduzierender Tumo-
ren kann mit der Zehnerregel erfolgen: 10 % liegen extra-
adrenal, 10 % treten bei Kindern auf, 10 % sind multipel
oder bilateral, 10 % rezidivieren nach der Resektion, 10 %
sind maligne, 10 % sind familiär und 10 % der benignen,
sporadischen adrenalen Phäochromozytome werden als
Inzidentalome entdeckt. Diese Regel ist jedoch nicht prä­
zise. So zeigen aktuelle Studien, dass bis zu 20 % der Abb. 3.28 
­kate­chol­aminproduzierenden Tumoren familiär sind. Auf-
grund der häufigeren Durchführung von CT-Unter­
suchungen und familiärer Gentestung wird das Phäo­ Phäochromozytome liegen in den Nebennieren und ha- rialarterien zurückbleiben. Ungewöhnliche Lokalisationen
chromozytom bei bis zu 50 % der Patienten vor dem ben einen durchschnittlichen Durchmesser von 4,5 cm. sind: Vorhofseptum, Samenstrang, Vagina, Skrotum und
Auftreten von Symptomen entdeckt. Häufig sind diese zu- Paragangliome treten überall in chromaffinen Geweben Sakrokokzygealbereich. Während Paragangliome in Kopf
fällig bei asymptomatischen Patienten entdeckten Tumo- auf, auch im paraaortalen Truncus sympathicus, im Zu- und Hals (z. B. Glomangiome, Glomustumoren, Chemo-
ren klein (z. B. < 3 cm), sie können aber auch bis zu 10 cm ckerkandl-Organ (am Ursprung der A. mesenterica infe­ dektome) in der Regel vom parasympathischen Gewebe
groß sein. rior), in der Harnblasenwand und entlang dem Truncus ausgehen und keine überschüssigen Katecholamine und
Die Diagnosesicherung erfolgt biochemisch durch den sympathicus in Hals oder Mediastinum. Früh postnatal Metanephrine produzieren, gehen Paragangliome in Me-
Nachweis erhöhter Konzentrationen fraktionierter Kate- sind die extraadrenalen sympathischen paraganglionären diastinum, Abdomen und Becken meist vom sympathi-
cholamine und fraktionierter Metanephrine in Blut oder Gewebe sehr stark ausgebildet und degenerieren dann, schen chromaffinen Gewebe aus und produzieren im
24-Stunden-Sammelurin. Die Tumorsuche sollte erst er- ­sodass nur Reste im N. vagus, in den Aa. carotideae, im Überschuss Kate­chol­amine und Metanephrine.
folgen, wenn die Diagnose bestätigt wurde. Aortenbogen, in den Pulmonalgefäßen und den Mesente-
96 3  Nebenniere

Nebennierenmetastasen
Nebennierenmetastasen sind häufig. Vermutlich hängt
dies mit den hohen Glukokortikoidspiegeln und der rei-
chen Blutversorgung zusammen, letztlich ist der Grund
aber unbekannt. In der Autopsie finden sich bei 50 % der
Patienten mit disseminiertem Bronchial- oder Mamma-
karzinom, bei 30 % der Patienten mit Melanom und bei
15 % der Patienten mit Magen- oder Kolonkarzinom Ne-
bennierenmetastasen. In der Hälfte der Fälle bestehen die
Metastasen beidseits. Eine klinisch manifeste Nebennie-
renmetastase oder Nebenniereninsuffizienz tritt jedoch
nur bei 4 % der Patienten mit in die Nebennieren metasta-
sierenden Tumoren auf, da der überwiegende Teil der Ne-
bennierenrinde beider Nebennieren zerstört sein muss,
damit die Unterfunktion manifest wird.
Wenn früher Nebennierenmetastasen im Laufe des Le- 1. Lunge
bens entdeckt wurden, bestanden häufig langsam zuneh-
mende Symptome der primären Nebenniereninsuffizienz
(z. B. Müdigkeit, Myalgien, Übelkeit, Anorexie, orthostati-
sche Hypotonie, Hyperpigmentierung) oder Flanken- 4. Mamma
schmerzen. Heute sind asymptomatische Nebennierenme-
tastasen häufiger, da sie beim Staging mittels Computerto-
mografie oder Positronen-Emissionstomografie entdeckt
werden. Häufigster histologischer Typ ist das Adenokarzi- 2. Magen
nom. Oft liegen die Primärtumoren (in abnehmender Häu-
figkeit) in Lunge, Magen, Niere, Mamma, Kolon, Haut
(Melanom) und Pankreas. Bei Menschen asiatischer Ab-
stammung sind Nebennierenmetastasen von Primärtumo- 3. Niere
ren des Ösophagus, der Leber und der Gallenwege häufi-
ger. In etwa 70 % der Fälle werden die Nebennierenmeta­
stasen gleichzeitig mit dem Primärtumor diagnostiziert;
bei den restlichen Patienten werden sie in der Regel im 5. Rektum
und Sigmoid
Laufe von 7–30 Monaten nach der Diagnose des Primärtu-
mors entdeckt. Am längsten ist das Intervall zwischen Dia-
gnose des Primärtumors und Entdeckung der Nebennie-
renmetastasen bei Patienten mit Lymphom, Mammakarzi- 6. Melanom
nom, Nierenzellkarzinom und kolorektalem Karzinom.
Die akkurate Typisierung der Metastase erfolgt meist
durch eine Feinnadelaspiration unter Ultraschall- oder
Röntgenkontrolle und immunzytochemischen Verfahren.
Vor der Biopsie sollte ein zufällig entdecktes adrenales
Phäochromozytom durch entsprechende biochemische
Untersuchungen ausgeschlossen werden.
Fast 100 % der Patienten haben noch weitere Metas­
tasen. Nebennierenmetastasen sind ein prognostisch Abb. 3.29 
schlechtes Zeichen mit einer 1-Jahres-Überlebensrate von
20 %. Besser ist die Überlebensrate nach operativer Entfer-
nung der Metastasen. Langzeitüberlebende nach operati- Operationsrisiko geeignet. Ablativverfahren sind die Ra-
ver Behandlung von Nebennierenmetastasen sind be- diofrequenzablation, die Kryoablation und die chemische
schrieben. Vor Kurzem wurde die endoskopische Nadelab- Ablation. Die meisten dieser Verfahren werden perkutan
lation der Nebennieren bei kleinen (größter Durchmesser unter Röntgenkontrolle ambulant durchgeführt. Mögliche
< 5 cm) Nebennierentumoren angewandt. Dieses Verfah- intraoperative Komplikationen sind eine hypertensive Kri-
ren mit minimaler Morbidität ist für Patienten mit hohem se und die Schädigung benachbarter Gewebe.
KAPITEL

4 Fortpflanzung
98 4  Fortpflanzung

Gonadendifferenzierung
Einflussfaktoren der normalen und Undifferenziertes Stadium
anormalen Gonadendifferenzierung
Tubuli mesonephrici

Ob sich die Gonadenanlagen in Hoden oder Ovar differenzie- Nebenniere

ren, wird durch die genetischen Informationen auf X- und Y- Chorda nephrogenica
Müller-Gang
Chromosom bestimmt. Die Differenzierung aller anderen
anatomischen und funktionellen Geschlechtsmerkmale er- Wolff-Gang
folgt sekundär durch die Wirkung der testikulären bzw. ova- Tubuli
riellen Sekrete auf die jeweilige primordiale Struktur. Das Y- mesonephrici

Medulla
Chromosom enthält Gene, durch die aus den primitiven Go- Mesenchym
naden Hoden werden, selbst wenn mehr als ein X-Chromo-
som vorhanden ist. Normale Ovarien entstehen nur, wenn Primäre
Keimstränge
zwei X-Chromosomen vorhanden sind. Fehlt eines (Karyotyp
45X0, Turner-Syndrom), entstehen primitive Stranggonaden.
Verdicktes
Viele Patienten mit kongenitaler Gonadendysgenesie Zölomepithel

Kortex
durch meiotische Nondisjunction weisen einen anormalen Primordiale
Karyotyp auf, manche jedoch auch normale Geschlechts- Keimzellen
Vergrößerung der (einwandernde)
chromosomen oder andere chromosomale Aberrationen. Genitalleiste Genitalleiste
Bei Mosaiken weisen die verschiedenen Gewebe multiple Fehlende Expression von
SRY, SOX9 und Anti-Müller- SRY steuert die SOX9-Expression;
Zelllinien mit unterschiedlichen Chromosomensätzen auf. Hormon, Repression der XX XY SOX9 steuert die Transkription von
Mosaike entstehen durch mitotische Nondisjunction oder autosomalen hoden- Anti-Müller-Hormon
Chromosomenverluste nach der Befruchtung. Manchmal induzierenden Gene
kommt es zu Deletionen oder Translokationen kleiner Frau (primitives Ovar) Mann (primitiver Hoden)
Chromosomenfragmente. Wenn diese Umlagerungen im Ductus epididymidis
Bereich der geschlechtsbestimmenden Gene liegen, kann Reste des Ductus mesonephricus Vas deferens Ductuli efferentes
der Effekt auf die Gonadendifferenzierung genauso stark (Gartner-Gang, Epoophoron, Paroophoron)
Rete testis
sein wie bei komplett fehlendem Geschlechtschromosom. Rete Medulla Kortex
ovarii Medulla
In wieder anderen Fällen führen Mutationen der ge-
schlechtsbestimmenden Gene zu fehlerhaften Enzymen
mit gestörter Gonadenstruktur oder Hormonsekretion.

Stadien der Gonadendifferenzierung

Indifferent
Tunica
Zölomepithel albuginea
In der 6. Entwicklungswoche besteht die Gonadenanlage aus
(Keimepithel)
einer gut abgegrenzten Genitalleiste, die entlang der dorsa- Tunica vaginalis
len Mesenterialwurzel verläuft. Der kortikale Anteil der Leis- Primäre Oogonien
Ovum Sich Interstitielle Zellen
te besteht aus eine Kloake mit Zölomepithelzellen, aus denen Keimstränge
(degenerierend) Granulosazellen entwickelnde Spermatogonien
das reife Ovar entsteht. In diesen oberflächlichen Schichten Thekazellen Primordialfollikel
Primäre Keimstränge
finden sich auch große primordiale Keimzellen, die sich in Sekundärer Keimstrang (primitive Tubuli seminiferi)
Oogonien oder Spermatogonien differenzieren können.
Der medulläre oder innere Anteil der primitiven Gona- Abb. 4.1 
de besteht aus Mesenchym, in dem dicht zusammengela-
gerte Epithelzellen die primären Keimstränge bilden. Der stränge vereint sich mit Teilen des Zölomepithels (die pri- AMH. Vermutlich gibt es einen Mechanismus zur Unter-
medulläre Anteil differenziert sich zum Hoden weiter. mordiale Keimzellen enthalten) zu den Tubuli seminiferi. Der drückung autosomaler hodeninduzierender Gene (z. B.
überwiegende Teil der Kortex wird jedoch durch Tunica albu- SOX9) und zur Aktivierung von Genen, die zur Bildung ei-
ginea und Tunica vaginalis isoliert, die einzigen Überreste des nes Ovars führen (z. B. WNT4 und NR0B1 [DAX1]). Zu
Testikuläre Differenzierung Kortex im reifen Hoden. Etwa in der 8. Entwicklungswoche diesem Zeitpunkt proliferiert der Kortex stark. Die sekun-
finden sich reichlich Leydig-Zellen, welche die für die Ent- dären Keimstränge dringen in das Innere der Gonade ein
Der Hoden entsteht durch den Einfluss des SRY-Gens (auf wicklung der äußeren Geschlechtsorgane wichtigen Androge- und nehmen dabei die primordialen Keimzellen mit. Aus
dem Y-Chromosom) und eines assoziierten Homeobox-Gens, ne produzieren. Die Leydig-Zellen verschwinden kurz nach Fragmenten der sekundären Keimstränge entstehen die
SOX9 (ein autosomales Gen). SRY steuert die Expression von der Geburt und treten erst zu Beginn der Jugend wieder auf. Primordialfollikel. Während sich das Ovar bildet, ziehen
SOX9, das wiederum die Transkription des Anti-Müller-Hor- sich die primären Keimstränge zum Hilum zurück und las-
mons (AMH) in den Vorläuferzellen der Sertoli-Zellen, das sen die Stromazellen und Bindegewebszellen zurück. Im
zur Rückbildung der Müller-Gänge führt, reguliert. Aus dem Ovarielle Differenzierung Ovar persistieren die Leydig-Zellen und das Rete ovarii als
inneren Anteil der primären Keimstränge wird ein Rohrsys- medulläre Überreste. Die Kortexproliferation klingt nach
tem, das die Tubuli seminiferi mit dem Ductus mesonephri- Die Ovarien entstehen mehrere Wochen später als die etwa 6 Monaten ab.
cus (Wolff-Gang) verbindet. Der periphere Anteil der Keim- ­Hoden durch die fehlende Expression von SRY, SOX9 und
Differenzierung der Gonadengänge 99

Differenzierung der Gonadengänge


Bei beiden Geschlechtern besitzen die frühen Embryonen
Undifferenziert
identische Gonadenanlagen, aus denen Hoden oder Ovari-
en werden können, und zwei Sätze innere Gonadengänge Gonaden
jeweils für die männliche und weibliche Differenzierung.
Aus den Müller-Gängen können die Eileiter, der Uterus Mesonephros (Wolff-Körper)
und der obere Anteil der Vagina und aus den Wolff-Gän-
gen der Ductus deferens und die Samenblasen entstehen.
Wolff-Gang
Aus dem Mesonephros, der die proximalen Urnierengänge
enthält, wird der Nebenhoden.
Müller-Gänge
Im Laufe des 3. Entwicklungsmonats vollenden die
Müller- oder Wolff-Gänge in der Regel ihre Entwicklung,
während sich der andere Satz zurückbildet. Allerdings per- Harnblase (zur Seite gezogen)
sistieren bis ins Erwachsenenalter Überreste des anderen
Gangsystems. Bei der Frau finden sich die mesonephri- Sinus urogenitalis
schen Strukturen Epoophoron, Paroophoron und Gartner-
Gang, beim Mann findet sich der einzige Überrest des
Müller-Gangs in der Regel auf der Hodenspitze. Frau Mann

Die Richtung, in die sich die Gonadengänge differenzie- Ovar Hoden


ren, ist direkte Folge der vorausgegangenen Differenzierung Der Wolff-Gang
Degenerierender
der Gonadenanlage. Der Hoden entsteht durch den Einfluss degeneriert
Müller-Gang
und der Müller-
des SRY-Gens (auf dem Y-Chromosom) und eines assoziier- Gang persistiert Persistierender
ten Homeobox-Gens, SOX9 (ein autosomales Gen). SRY in Abwesenheit Wolff-Gang
von SRY (Ductus deferens)
steuert die Expression von SOX9, das wiederum die Trans­
kription des Anti-Müller-Hormons (AMH) in den Vor-
läuferzellen der Sertoli-Zellen reguliert, was durch Apoptose
Eileiter
und epithelialen Umbau des Mesenchyms zur Rückbildung
Gartner-Gang
der Müller-Gänge führt. In der 10. Entwicklungswoche sind Epoophoron Ductus deferens
die Müller-Gänge in der Regel nicht mehr vorhanden; an- Appendix Vesicula seminalis
schließend vollenden die Abkömmlinge des mesonephri- vesiculosa
Utriculus prostaticus
schen Systems ihre normale männliche Entwicklung. Paroophoron
Prostata
Die Ovarien entstehen durch die fehlende Expression Ovar Cowper-Drüse
von SRY, SOX9 und AMH. Vermutlich gibt es einen Me- Uterus
Ductus deferens
Lig. teres uteri
chanismus zur Unterdrückung autosomaler hodenindu- Obere Vagina Appendix epididymidis
zierender Gene (z. B. SOX9) und zur Aktivierung von Ge- Überrest des Appendix testis
nen, die zur Bildung eines Ovars führen (z. B. WNT4 und Wolff-Gangs
Nebenhoden
Urethra
NR0B1 [DAX1]). Dabei bilden die Müller-Strukturen Ute- Ductus efferentes
Untere Vagina
rus und Eileiter und die mesonephrischen Strukturen ver- Skene-Gang Hoden
kümmern. Die weibliche Entwicklung setzt keine ovariel- Bartholin-Drüse Gubernaculum
len Sekretionen voraus, da sich Uterus und Eileiter auch Bei der Frau kommt es in Abwesenheit von SRY, Beim Mann steuert das SRY-Gen auf dem
bei vollständig fehlenden Gonaden normal entwickeln. SOX9 und Anti-Müller-Hormon zur Differenzierung Y-Chromosom die Expression von SOX9. Dieses
SRY ist ganz offensichtlich der Schlüsselfaktor der Hoden- des Ovars. Die Müller-Strukturen werden zu Uterus steuert die Transkription von Anti-Müller-Hormon,
und Eileitern und die Wolff-Gänge veröden. durch das die Müller-Gänge degenerieren und
entwicklung, wobei viele andere Faktoren unterdrückt oder die Wolff-Gänge persistieren und differenzieren.
aktiviert werden müssen, damit sich ein normaler Hoden
entwickelt. Dies zeigt sich daran, dass es 46,XX-Männer mit Abb. 4.2 
Hoden gibt, die kein Y-Chromosom besitzen, und 46,XY-
Frauen mit Gonadendysgenesie und intaktem SRY-Gen. So-
mit tragen auch nicht mit dem Y-Chromosom zusammen-
hängende Faktoren entscheidend zur Hodenentwicklung bei.
100 4  Fortpflanzung

Differenzierung der äußeren Genitalien


Vor der 9. Entwicklungswoche besitzen beide Geschlechter
Fetales Fetales Mütterliches
einen Sinus urogenitalis und ein identisches äußeres Er- testikuläres adrenales Androgen
Indifferent Androgen Androgen über die Pla-
scheinungsbild. In diesem indifferenten Stadium besteht
Glans-Bereich (Testosteron) (Hyperplasie) zenta (Tumor
das äußere Genitale aus einem Genitalhöcker, unter dem vor der 12. Woche vor der 12. Ent- oder exogenes

Genitalhöcker
die Urethralgrube liegt, die seitlich von den Urethralfalten Epithelhöcker wicklungs- Testosteron
und Labioskrotalwülsten begrenzt wird. Die männlichen Urogenitalfalte woche oder Gestagene)

und weiblichen Abkömmlinge dieser Strukturen zeigt Urogenitalspalt


› Abb. 4.3. Lateraler Genitalwulst
(Labioskrotalwulst)
Der Urogenitalspalt entsteht sogar noch früher, wenn
sich die Analmembran von der einzelnen Kloakenöffnung Analhöcker Störungen
Anuspit Führt normaler- führen bei
trennt. Anschließend münden die Blase und beide Gona- weise zur Maskulini- Mädchen
dengänge in diesen Sinus. sierung von zu derselben
Jungen Wirkung
Die Vagina entsteht als Ausstülpung des Sinus urogeni-
talis im Bereich der Sinovaginalhöcker und verschmilzt
Frau Mann
mit dem distalen Ende der Müller-Gänge. Etwa zwei Drit- Glans
Glans
tel der Vagina entstammen dem Sinus urogenitalis und et- Epithelhöcker
Epithelhöcker
wa ein Drittel dem Müller-Gang. Peniskörper
Klitoris- Urogenital-
Bei der normalen männlichen Entwicklung verbleibt körper spalt
nur ein kleiner Rest der Vagina, da die Müller-Strukturen Urogenitalfalten Urogenital-
atrophieren, bevor sich diese Ausstülpung weiter entwi- falten
Urogenitalspalt
Raphe penis
ckelt hat. Beim männlichen Pseudohermaphroditismus Labioskrotal-
verbleibt jedoch ein großer Überrest dieses vaginalen Di- wulst
Analhöcker
Analhöcker
vertikels als blind endende Vaginaltasche. Anus
Anus
Bei der normalen weiblichen Entwicklung wird die Va-
gina durch herabwachsendes Bindegewebe nach posterior Meatus
Klitoriskörper urethrae
geschoben, sodass sie bis zur 12. Entwicklungswoche eine
Vorhaut Glans penis
eigene externe Öffnung hat. Beim weiblichen Pseudoherm-
Glans clitoridis Vorhaut
aphroditismus ist das Wachstum dieses Septums gehemmt,
Meatus urethrae Peniskörper
sodass es zur Persistenz des Sinus urogenitalis kommt.
Labium minus Raphe penis
Zu diesem Zeitpunkt unterscheiden sich männliches
und weibliches äußeres Genitale grundsätzlich bezüglich Vestibulum
Skrotum
Lage und Größe des Vaginaldivertikels, der Phallusgröße Labium majus
Raphe perinei
und des Fusionsgrads der Urethralfalten und des Labio­ Vagina
Raphe perinei Perineale
skrotalwulsts. Gewebe mit
Ebenso wie bei den Gonadengängen entwickelt sich auch Perineale Gewebe M. sphincter
mit M. sphincter ani externus
das äußere Genitale ohne hormonelle Einflüsse weiblich. ani externus
Zur Maskulinisierung kommt es durch die Wirkung von Anus Anus
androgenen Hormonen während der Differenzierung, nor-
malerweise von Testosteron aus den Leydig-Zellen der feta-
Weibliche und männliche Weiterentwicklungen des Sinus urogenitalis und der externen Genitalien
len Hoden. Der für die Maskulinisierung kritische Faktor ist
jedoch nicht die Quelle der Androgene, sondern der Zeit- Weibliches Derivat Primordialstruktur Männliches Derivat
punkt der Ausschüttung und die Menge. Beim weiblichen Vagina (untere zwei Drittel) Sinus urogenitalis Utriculus prostaticus (Vagina masculina)
Glandulae paraurethrales Prostata
Pseudohermaphroditismus durch die kongenitale adrenale Bartholin-Drüsen Bulbourethraldrüse (Cowper)
Hyperplasie produzieren die fetalen Nebennieren so viel Klitoris Externe Genitalien Penis
Androgen, dass es zu einer gewissen Maskulinisierung der Corpora cavernosa Genitalhöcker Corpora cavernosa
äußeren Genitalien kommt. Außerdem kann das androgen Glans clitoridis Glans penis

wirkende Hormon aus dem mütterlichen Blut stammen. Labia majora Urethrafalten Corpus spongiosum (inkl. penile Urethra)

In der 12. Entwicklungswoche ist die Vagina nach pos- Labia minora Labioskrotalwülste Skrotum
terior gewandert, sodass die Androgenwirkung nicht mehr
zur Fusion der Urethralfalten und Labioskrotalwülste füh- Abb. 4.3 
ren kann. Eine Klitorishypertrophie kann jedoch jederzeit
während der Fetalentwicklung und sogar noch nach der
Geburt entstehen.
Testosteron- und Östrogensynthese 101

Testosteron- und Östrogensynthese


Drei Drüsen, die aus der Zölomhöhle hervorgehen – Ne-
Hypothalamus
bennierenrinde, Ovar und Hoden –, produzieren unter
dem Einfluss tropischer Hormone aus der Hypophyse Adenohypophyse
(ACTH und Gonadotropine) Steroidhormone. Die Spal- Östrogene
Östrogene
tung von Cholesterin in Pregnenolon (der C21-Vorläufer (und Androgene) Gonadotropine Gonadotropine (und Androgene)
hemmen die
aller Steroidhormone) und Isocaproaldehyd ist der kriti- hemmen die
Gonadotropine
Gonadotropine
sche erste Schritt, der nur in einer begrenzten Anzahl von Cortisol hemmt ACTH Cortisol hemmt ACTH
Geweben möglich ist (Nebennierenrinde, Leydig-Zellen
ACTH
des Hodens, Theka-Zellen des Ovars, Trophoblastzellen
Cholesterin
der Plazenta sowie bestimmte Gliazellen und Nervenzellen CH3
des Gehirns). Die Rollen der verschiedenen steroidogenen Granulosa- C=O O
Gewebe werden dadurch festgelegt, wie dieser Prozess re- zellen
guliert und Pregnenolon anschließend metabolisiert wird. Ovar
HO HO
Androgene besitzen 19 Kohlenstoffatome (C19-Steroide) Pregnenolon Dehydro-
und Östrogene 18 Kohlenstoffatome (C18-Steroide). CH3 epiandrosteron
Pregnenolon wird durch die 17α-Hydroxylase (P450c17) C=O

zu 17α-Hydroxypregnenolon umgebaut. P450c17 besitzt zu-


Theka- Neben- Neben-
dem 17,20-Kyase-Aktivität, sodass adrenale C19-Androgene nieren- O Leydig-
zellen Progesteron nieren-
entstehen (DHEA und Androstendion). Die adrenale And- rinde rinde Zellen
rostendionproduktion hängt überwiegend von der Konversi-
on von DHEA zu Androstendion durch die 3β-Hydroxy­ O OH
steroid-Dehydrogenase ab. Androstendion kann in den Ne-
bennieren und den Gonaden durch die 17β-Ketosteroid-
O O
Reduktase (17β-HSD3) zu Testosteron umgebaut werden. Androstendion Testosteron
Androstendion und Testosteron sind Sekretionspro-
dukte der Leydig-Zellen, die reichlich im Hoden, aber nur OH O OH
OH
in geringer Menge im Hilusbereich des Ovars vorkommen.
Beim Mann entstehen 95 % des Testosterons (7 mg/d)
HO HO HO
nach Stimulation durch luteinisierendes Hormon in den Estriol Estron Estradiol
Hoden. Die lokale Wirkung von Testosteron kann durch
Transport auf Plasmaproteinen
Konversion in das potentere Dihydrotestosteron durch die
5α-Reduktase verstärkt werden. Diese lokale Amplifika­ Östrogene Testosteron
tion findet am Haarfollikel und in der Prostata statt. Testo­ Leber

steron ist im Blut am sexualhormonbindenden Globulin Konjugation 17-Ketosteroide


gebunden. In der Leber erfolgt die Konjugation mit Gluku-
ronsäure. Der Großteil des wasserlöslichen konjugierten
Testosterons wird renal ausgeschieden, ebenso ein kleiner
Niere
Teil des freien, nicht konjugierten Testosterons.
Gallen-
DHEA, ein Vorläufer von Androstendion und Testoste- gänge
ron, findet sich vor allem in der 17-Ketosteroid-Fraktion
17-Ketosteroide
des Urins und stammt überwiegend aus der Nebennieren-
rinde. Dieses schwache Androgen stellt mehr als 60 % der
Testosteron (gesamt)
17-Ketosteroide. Normalerweise scheiden Männer mehr Darm
17-Ketosteroide aus als Frauen, vermutlich weil die Hoden
Östrogene
ebenfalls DHEA und noch zahlreiche andere 17-Ketostero-
ide beisteuern.
Das Ovar enthält mindestens drei verschiedene Sekreti-
onszonen: die Granulosa-Zellen des Follikels (Östrogenbil-
Vorläufer
dung), die Thekazellen (produzieren eher Androgene) und und Androgene Östrogene
die Hiluszellen (überwiegend Androgenbildung). Das Gestagene
Gleichgewicht dieser drei zellulären Elemente stellt eine
normale Weiblichkeit sicher, während ein Ungleichge- Abb. 4.4 
wicht zur Androgenisierung führt. Außerdem gibt es im
Ovar die Zellen des Corpus luteum, die den Großteil des
Progesterons produzieren. typisch für Östrogene. Estradiol ist potenter als Estron; das erfolgt in der Leber durch Konversion in weniger aktive
Testosteron und Androstendion sind die Vorläufer von biologisch sehr schwache Estriol ist ein reines Exkretions- Östrogene (d. h. Estradiol → Estron → Estriol), die Oxida­
Estradiol bzw. Estron. Ihre Hydroxylierung führt zu einer produkt. tion in total inerte Komponenten oder Konjugation zu
Abfolge von Reaktionen, in deren Folge der A-Ring des Im Blut sind die Östrogene an sexualhormonbinden- Glukuronsäure. Wegen der biliären Sekretion besteht ein
Steroidkerns aromatisiert wird. Diese Aromatisierung ist dem Globulin und Albumin gebunden. Die Inaktivierung ausgeprägter enterohepatischer Kreislauf.
102 4  Fortpflanzung

Normale Pubertät
Zeitlicher Ablauf Tanner-Entwicklungsstadien der Mamma

Obwohl sie oft als eigenständiges Ereignis betrachtet


wird, gehört die Pubertät zur lebenslangen Entwicklung
der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Die Pu-
bertät ist der biologische Übergang, während dessen sich
die sekundären Geschlechtsmerkmale entwickeln, ein
Wachstumsschub auftritt, die Fertilität hergestellt wird
und psychosoziale Veränderungen auftreten. Die Adren-
arche ist die adrenale Komponente der pubertären Rei-
fung und geht der Gonadarche (der Reifung der Hypotha-
lamus-Hypophysen-Gonaden-Achse) häufig voraus. Die
Thelarche bezeichnet die pubertäre Entwicklung der
Brustdrüse.
Vor der Pubertät unterscheiden sich Jungen und Mäd-
chen in ihrer Entwicklung nur bezüglich der Anatomie ih-
rer Geschlechtsorgane. Bei weißen Mädchen beginnt die Stadium 1 Stadium 2 Stadium 3
Pubertät im Mittel im Alter von 10,6 Jahren (Bereich: 7–13 Elevation nur der Mamille Brustknospe: Elevation von Weitere Vergrößerung von
Mamma und Mamille als Mamma und Areola ohne
Jahre) und bei afroamerikanischen Mädchen mit 8,9 Jah- kleiner Hügel mit Vergrößerung Konturunterbrechung
ren (Bereich: 6–13 Jahre). Bei Jungen beginnt die Pubertät des Durchmessers der Areola
im Mittel mit 11 Jahren (Bereich: 9–14 Jahre) und bei
manchen afroamerikanischen Jungen zwischen 8 und 9
Jahren.
Die Faktoren, die zur Reifung des Gonadotropin-relea-
sing-Hormon-Pulsgenerators und damit zur Pubertät füh-
ren, sind zahlreich und noch nicht vollständig bekannt.
Einer der Faktoren ist das Körpergewicht; an dem Mecha-
nismus scheint Leptin beteiligt zu sein, ein in den Adipozy-
ten produziertes Hormon. In Tiermodellen zum Leptin-
mangel bleibt die Pubertät aus, kann aber durch Leptin­
gabe induziert werden.
Die meisten körperlichen Veränderungen im Rahmen
der Pubertät beruhen auf dem Anstieg der Produktion von
Androgen und Östrogen in den Gonaden und der adrena-
len Zona reticularis. Die Gonaden werden durch das lutei-
nisierende Hormon (LH) und das follikelstimulierende
Hormon (FSH) aus der Hypophyse stimuliert, die norma-
lerweise bis zu diesem Zeitpunkt nicht in klinisch relevan-
ter Menge sezerniert werden. Für die Adrenarche scheinen
ACTH und ein noch unbekannter adrenaler androgensti- Stadium 4
Stadium 5
mulierender Faktor (evtl. hypophysären Ursprungs) ver- Areola und Mamille heben sich von
Reifes Stadium: nur noch die Mamille steht vor,
der Brustoberfläche ab und bilden
antwortlich zu sein. die Areola ist Teil der allgemeinen Brustkontur
den sekundären Brusthügel
Nur die Nebennieren und die Gonaden können Andro-
gene und Östrogene produzieren. Etwa zeitgleich zur Ver- Abb. 4.5 
größerung der adrenalen Zona reticularis und vermehrten
adrenalen Produktion von Androgenen nimmt auch die
ovarielle Aktivität zu. Androgene aus Nebennieren und Wachstumsphase wachsen Jungen im Mittel um 10 cm Oberkante des Ramus pubis dividiert durch den Abstand
Ovarien beschleunigen das Wachstum und das Auftreten mehr als Mädchen. Bei Mädchen hängt der normale Wachs- zwischen der Fußsohle und Oberkante des Ramus pubis.
von Schambehaarung, später auch Achselhaar, Seborrhö tumsschub von Wachstumshormon, Insulin-like Growth Es beträgt bei beiden Geschlechtern bei der Geburt etwa
und Akne. Androgene und Östrogene fördern die Reifung Factor 1 (IGF-1) und Östrogen ab und bei Jungen von 1,7, im Alter von 1 Jahr etwa 1,4, im Alter von 10 Jahren
der Epiphysen und nach dem Epiphysenschluss nimmt die Wachstumshormon, IGF-1, Östrogen und Testosteron. Er- etwa 1,0 und bei Erwachsenen etwa 0,92. Eunuchoide Pro-
Wachstumsrate rapide ab. höhte Estradiolspiegel scheinen in der Pubertät die Hypo- portionen (reduzierter Quotient) entstehen bei Hypogona-
Etwa 18 % der erwachsenen Endgröße werden während thalamus-Hypophysen-Aktivität zu fördern, sodass Pulsam- dismus mit verzögertem Epiphysenschluss und verlänger-
des pubertären Wachstumsschubs erzielt. Obwohl Mädchen plitude und -frequenz des Wachstumshormons zunehmen. tem Wachstum der Extremitäten sowie bei Östrogenrezep-
während der Pubertät etwas langsamer wachsen, ­erreichen Die Serumspiegel von IGF-1 erreichen während der Puber- tormangel oder gestörter Östrogensynthese. Bei Östrogen-
sie die höchste Wachstumsgeschwindigkeit etwa 2 Jahre frü- tät einen Höchstwert und bleiben auch nach dem pubertä- überschuss (Aromatase-Überschuss) kommt es hingegen
her als Jungen. Bei Jungen beträgt die maximale Wachs- ren Wachstumsschub noch für etwa 2 Jahre erhöht, bevor zur beschleunigten Skelettreifung, zu erhöhtem Ober-/
tumsgeschwindigkeit im mittleren Alter von 13,5 Jahren et- sie in den erwachsenen Referenzbereich absinken. Unterkiefer-Quotient und Kleinwuchs.
wa 9,5 cm/Jahr und bei Mädchen im mittleren Alter von 11,5 Das Verhältnis zwischen Ober- und Unterkörper ist de- Bei Mädchen werden etwa 50 %, beim Jungen etwas
Jahren etwa 8,3 cm/Jahr. Aufgrund der längeren pubertären finiert als der Abstand von der Kopfoberseite und der mehr als 50 % des Gesamtkörperkalziums während der Pu-
Normale Pubertät 103

(Fortsetzung)

bertät als Knochenmineral abgelagert. Nach der Pubertät Tanner-Entwicklungsstadien der weiblichen Schambehaarung
besitzen Jungen 50 % mehr Gesamtkörperkalzium als
Mädchen. Während der Pubertät nimmt die Hüftbreite bei
Mädchen stärker zu, bei Jungen werden die Schultern brei-
ter. Durch das Wachstum des Os acetabuli verbreitert sich
bei Mädchen der Beckeneingang. Männer besitzen 50 %
mehr Mager- und Skelettmasse als Frauen und Frauen all-
gemein doppelt so viel Körperfett wie Männer (in Oberar-
men, Oberschenkeln und oberem Thorax). Durch kardio-
vaskuläre Veränderungen während der Pubertät vergrö-
ßert sich die aerobe Reserve.
Marshall und Tanner entwickelten ein Staging-System Stadium 1 Stadium 2
zur Dokumentation der Abfolge der Veränderungen der Das Vellushaar des Schamhügels entspricht dem Wenig, kaum pigmentiertes, flaumiges Haar
auf der vorderen Bauchwand auf den Labien, das glatt oder nur leicht gekräuselt ist
sekundären Geschlechtsmerkmale. Die Tanner-Stadien
basieren auf sichtbaren Befunden und unterteilen die pu-
bertäre Entwicklung von Mammae und Schambehaarung
bei Mädchen sowie des Genitales und der Schambehaa-
rung bei Jungen in 5 Stadien. Stadium 1 ist das präpubertä-
re Stadium und Stadium 5 der Zustand beim Erwachsenen.

Weibliche Pubertät

Die drei wichtigsten phänotypischen pubertären Ereignis-


se bei Mädchen sind der Wachstumsschub, die Brustent-
wicklung (Thelarche, durch die ovarielle Östrogensekreti- Stadium 4
Stadium 3
on) sowie das Wachstum der Achsel- und Schambehaa- Ausbreitung spärlicher, dunkler, rauer und Das Haar entspricht dem des Erwachsenen,
rung (durch Androgene aus Ovarien und Nebennieren). gekräuselter Haare über den Schambereich bedeckt aber einen kleineren Bereich als bei
den meisten erwachsenen Frauen und erreicht
Bei Mädchen ist in der Regel die Zunahme der Wachs- kaum die Innenseiten der Oberschenkel
tumsgeschwindigkeit das erste Anzeichen der Pubertät.
Die meisten Mädchen wachsen nach der Menarche nur
noch um 2,5 cm. Mamma und Schambehaarung entwi-
ckeln sich in der Regel synchron. Da aber Abweichungen
möglich sind, werden sie getrennt eingestuft. Die Pubertät
beginnt im Mittel im Alter von 10,6 Jahren (Bereich: 7 bis
13 Jahren).
Die pubertäre Brustvergrößerung (Thelarche) entsteht
durch die Zunahme von Drüsen- und Bindegewebe. Größe
und Form der Brüste sind durch genetische Faktoren, Er-
nährungsfaktoren und die Östrogenexposition bestimmt. Stadium 5
Anfangs kann die Brustentwicklung einseitig und dann Quantitativ und qualitativ erwachsene Schambehaarung mit deutlicher
Dreiecksform und Ausbreitung auf die Innenseiten der Oberschenkel,
asynchron auftreten. Präpubertär (Tanner-Stadium 1) ist nicht aber entlang der Mittellinie auf die vordere Bauchwand
nur die Mamille erhaben (› Abb. 4.5). Im Tanner-Stadi-
um 2 findet sich eine Brustknospe mit Erweiterung der Abb. 4.6 
areolären Durchmesser und Elevation von Mamma und
Mamille als kleinem Hügel. Das Tanner-Stadium 2 der
Brustentwicklung beginnt im Mittel im Alter von 10,3 Jah- der vorderen Bauchwand unterscheidet (› Abb. 4.6). Im Während der Entwicklung der Schambehaarung durch-
ren. Im Tanner-Stadium 3 vergrößern sich Mamma und Tanner-Stadium 2 tritt erstmals in einem mittleren Alter läuft die Vaginalschleimhaut östrogenabhängige Verände-
Mamille weiter, grenzen sich aber noch nicht von der Um- von 10,4 Jahren entlang den Schamlippen schwach pig- rungen. Die Vaginalschleimhaut ist nicht mehr präpuber-
gebung ab. Im Tanner-Stadium 4 überragen Mamille und mentierte, glatte oder leicht gekräuselte Schambehaarung tär rötlich-glitzernd, sondern verdickt sich durch die Ver-
Areola das Hautniveau der Mamma als sekundärer Hügel. auf. Im Tanner-Stadium 3 verteilt sich das Haar dünn über hornung des Vaginalepithels und wird stumpfer. Mehrere
Im Tanner-Stadium 5 ist die reife Mamma mit Rezession den Schambereich, wird gröber, dunkler und stärker ge- Monate vor der Menarche sondert sie klares oder weißli-
der Areola und nur noch erhabener Mamille vorhanden. kräuselt. Im Tanner-Stadium 4 findet sich Haar vom Er- ches Sekret ab. Die Länge der Vagina nimmt zu, Labia mi-
Der Durchmesser der Mamille nimmt von 3–4 mm in den wachsenentyp, das aber eine kleinere Fläche abdeckt als nora et majora verdicken sich und werden faltig. Die Kör-
Tanner-Stadien 1–3 auf durchschnittlich 9 mm im Tan- bei den meisten Erwachsenen und nicht bis auf die Innen- perkonturen werden runder. Im Mons pubis entsteht ein
ner-Stadium 5 zu. fläche der Oberschenkel reicht. Im Tanner-Stadium 5 ent- Fettpolster, und die Klitoris vergrößert sich. Der Uterus
Beim präpubertären Mädchen (Tanner-Stadium 1 der sprechen Verteilung (Einbeziehung der Innenseiten der verändert seine präpubertäre Länge von 3 bis auf 8 cm. Das
Schambehaarung) findet sich Vellushaar über dem Scham- Oberschenkel), Menge und Art der Schambehaarung der- Endometrium beginnt in den ersten Pubertätsstadien mit
bereich, das sich nicht von der übrigen Körperbehaarung jenigen beim Erwachsenen. der Proliferation.
104 4  Fortpflanzung

(Fortsetzung)

Die erste Menstruation (Menarche) tritt im Durchschnitt Tanner-Entwicklungsstadien der Schambehaarung und des Genitales beim Mann
im Alter von 12,8 Jahren auf bzw. 1–3 Jahre nach Beginn
der Pubertät, in der Regel im Tanner-Stadium 4. Erste
Ovulationen finden erst einige Monate später statt. Bis da-
hin ist die Menstruation oft unregelmäßig und selbst dann
sind anovulatorische Zyklen für die ersten 2 Jahre nach der
Menarche häufig. Progesteron entsteht nur, wenn nach
dem Eisprung Gelbkörper gebildet werden. Sofern dies ge-
schieht, wird das proliferative Endometrium in den sekre-
torischen Typ umgewandelt. Die meisten ovariellen Pri-
mordialfollikel enthalten die Ovarien in der 20. fetalen Stadium 1 Stadium 2
Penis, Hoden und Skrotum haben dieselbe Hoden und Skrotum vergrößern sich. Die Skro-
Entwicklungswoche. Danach entstehen keine zusätzlichen Größe wie im Kleinkindalter. talhaut ändert ihre Konsistenz und rötet sich.
Keimzellen mehr. Unter Gonadotropinstimulation wäh- Das Vellushaar des Schambereichs entspricht Wenig, kaum pigmentiertes Haar an der
rend der Pubertät werden die Eierstöcke mikrozystisch dem der vorderen Bauchwand. Peniswurzel, das glatt oder nur leicht gekräuselt ist
und entwickeln Follikel mit einem Durchmesser > 4 mm.
Das Volumen der Ovarien nimmt während der Pubertät
von 0,2–1,6 ml auf 2,8 bis 15 ml zu.
Die Achselbehaarung entwickelt sich bei 70 % der Mäd-
chen im Alter von 12 Jahren. Zur Akne, dem manchmal
offensichtlichsten Zeichen der Pubertät bei Mädchen,
kommt es durch adrenale und ovarielle Androgene. Akne
ist eine Dysfunktion der Haarfollikel mit Okklusion und
Entzündung infolge der Androgenstimulation. Auch das
Gesicht von Jungen und Mädchen verändert sich in der
Pubertät: Nase, Unterkiefer, Oberkiefer und Stirnhöhlen
Stadium 3 Stadium 4
vergrößern sich. Bei Mädchen vergrößert sich die Hypo-
Das Längenwachstum des Penis übertrifft seine Di- Weiteres Wachstum des Penis und Entwicklung der Glans;
physe während der Pubertät von zuvor durchschnittlich 6 ckenzunahme, Hoden und Skrotum wachsen weiter. weitere Größenzunahme von Hoden und Skrotum.
auf 10 mm im Tanner-Stadium 5. Das spärliche Haar ist rauer, gekräuselter und Das Haar entspricht dem des Erwachsenen, bedeckt aber
dunkler und breitet sich über die Pubes aus. einen kleineren Bereich als bei den meisten erwachsenen
Männern und erreicht kaum die Innenseiten der Oberschenkel.

Männliche Pubertät

Die drei wichtigsten phänotypischen pubertären Ereignis-


se bei Jungen sind der Wachstumsschub, die Genitalent-
wicklung (durch die hypophysären Gonadotropine und
das testikuläre Testosteron) sowie die Entwicklung von
Achsel- und Schambehaarung (durch die adrenalen und
testikulären Androgene). Das erste Zeichen der Pubertät
bei Jungen ist in der Regel das Hodenwachstum, das
durchschnittlich 6 Monate später auftritt als die Brustent- Stadium 5
Form und Größe der Genitalien entsprechen denen des Erwachsenen.
wicklung bei Mädchen.
Quantitativ und qualitativ erwachsene Schambehaarung in Form eines
Das Hodenvolumen korreliert mit den Pubertätsstadien umgekehrten Dreiecks mit Ausbreitung auf die Innenseiten der Oberschenkel
und wird durch Vergleich der Hoden mit Modellen (Orchi-
dometer) mit Volumina von 1 bis 35 ml ermittelt. Die Grö- Abb. 4.7 
ßenzunahme beruht vornehmlich auf dem Wachstum der
Tubuli seminiferi, in denen präpuberal vor allem Sertoli-
Zellen vorkommen, während beim erwachsenen Mann Im Tanner-Stadium 1 (präpubertär) sehen Penis, Ho- Im Tanner-Stadium 1 der Schamhaarentwicklung
Keimzellen vorherrschen. Durch die erhöhten LH-Spiegel den und Skrotum aus wie in der frühen Kindheit fi­ ndet sich über dem Schambereich Vellushaar, das sich
der Pubertät treten die adulten Leydig-Zellen auf. Die (›  Abb.  4.7). Im Tanner-Stadium 2 (meistens im Alter nicht vom Körperhaar der Bauchdecke unterscheidet
Spermatogenese beginnt im Alter von 11–15 Jahren. Ab von 11,2 Jahren) vergrößern sich Hoden und Skrotum all- (›  Abb.  4.7). Im Tanner-Stadium 2 erscheinen wenige
einem Hodenvolumen >  4 mm kann mit dem Einsetzen mählich, rötet sich die Skrotalhaut und verändert ihre glatte oder leicht gekräuselte Haare an der Unterseite des
der Pubertät gerechnet werden. Bei Erwachsenen beträgt Konsistenz. Im Tanner-Stadium 3 beginnt das Penis- Penis. Im Tanner-Stadium 3 beginnt sich das Haar dünn
das Hodenvolumen durchschnittlich 29 ml, der rechte Ho- wachstum (v. a. in die Länge und weniger in die Breite); über den Schambereich auszubreiten, wird stärker gekräu-
den ist meist etwas größer als der linke und der linke Ho- Hoden und Skrotum vergrößern sich weiter. Im Tanner- selt, dunkler und gröber. Im Tanner-Stadium 4 sind die
den hängt meist tiefer im Hodensack als der rechte. Die Stadium 4 wächst der Penis weiter (in Länge und Breite) Haare vom Erwachsentyp, bedecken aber eine kleinere Flä-
Phalluslänge sollte im erschlafften Zustand gemessen wer- und die Eichelentwicklung beginnt. Hoden und Skrotum che als bei den meisten Erwachsenen und sparen die In-
den. Sie beträgt präpubertär etwa 6 cm und beim Erwach- vergrößern sich weiter und die Skrotalhaut wird dunkler. nenseite der Oberschenkel aus. Im Tanner-Stadium 5 ent-
senen im Mittel 12 cm. Normalerweise beginnt die Puber- Im Tanner-Stadium 5 haben die Genitalien Erwachsenen- spricht die Schambehaarung in Art, Menge und Verteilung
tät bei Jungen im Alter von 9–14 Jahren. größe und -form und vergrößern sich nicht mehr. derjenigen bei Erwachsenen.
Normale Pubertät 105

(Fortsetzung)

Hormonelle Abläufe in der weiblichen und männlichen Pubertät

Frau Mann

Höhere Gehirn- GnRH-Pulsgenerator Höhere Gehirn-


zentren „triggern“ zentren „triggern“ Zurückweichen
(Leptin, Kisspeptin, (Leptin, Kisspeptin, der Haargrenze
Gewicht, Ernährung) Gewicht, Ernährung)

Zunehmende
GnRH Akne
Zunehmende Akne Zunehmende
Gesichts-
Zunehmende Hypophysengonado- behaarung
Achselbehaarung tropine steigen ACTH
Kehlkopf-
vergrößerung
FSH (tiefere
Brust-
entwicklung LH Stimme)

Uterusver- Anstieg der Anstieg


Nebennieren- Muskel-
größerung adrenalen Nebennieren- der adrenalen
rinden entwicklung
Androgene rinden Androgene

Einsetzen der
Menstruation Zunehmende
Achsel-
Vergrößerung der behaarung
Vergrößerung der
Zunehmende retikulären Zone retikulären Zone Evtl. geringe
Scham-
behaarung Brust-
Hoden vergrößerung
Ovarien

Zunehmende
Scham-
Östrogen- behaarung
Östrogene produktion
erhöht Penis,
Prostata
Vaginalepithel und
verkörnt Testosteron- Samen-
Progesteron-
anstieg bläschen
produktion
vergrößern
sich
Körperkonturen
werden runder LH wirkt auf die Thekazellen und stimuliert LH wirkt auf die interstitiellen Leydig-Zellen
die Androgenproduktion sowie auf die Granulosa- zur Stimulation der Testosteronproduktion. Beschleunigter
zellen und stimuliert die Progesteronproduktion. FSH und Testosteron veranlassen die Sertoli- Epiphysen-
FSH veranlasst die Granulosazellen zur Zellen zur Stimulation der Spermatogenese. schluss
Beschleunigter
Stimulation der Produktion von Östrogen aus
Epiphysenschluss
Androgenen.

Abb. 4.8 

Während der Pubertät verlängern sich die Stimmbänder Die Achselbehaarung taucht im Alter von 14 Jahren auf.
und vergrößern sich Larynx, Ringknorpel und Kehlkopf- Akne durch die testikulären und adrenalen Androgene
muskeln. Zwischen den Tanner-Stadien 3 und 4 der Geni- tritt in einem Durchschnittsalter von 12 Jahren auf (Be-
talentwicklung verändert sich die Stimmlage stark. Das reich: 9–15 Jahre) und findet sich während der gesamten
Durchschnittsalter, in dem die erwachsene Stimme er- Pubertät. Die pubertäre Gynäkomastie tritt bei etwa 50 %
reicht wird, beträgt 15 Jahre. Während des Tanner-Stadi- der sich normal entwickelnden Jungen in einem Alter von
ums 3 der Schamhaarentwicklung tritt der erste Bartwuchs im Mittel 13 Jahren auf und klingt in der Regel spontan
auf, zunächst an den Ecken der Oberlippe und auf den über 1–2 Jahre ab (› Abb. 4.25).
Wangen, dann unterhalb der Unterlippe und schließlich Auch das Gesicht von Jungen und Mädchen verändert
(nach Erreichen der Tanner-Stadien 5 für Schambehaa- sich in der Pubertät: Nase, Unterkiefer, Oberkiefer und
rung und Genitalien) bis zu den Koteletten und zum Kinn. Stirnhöhlen vergrößern sich.
106 4  Fortpflanzung

Pubertas praecox
Inadäquate Cortisolaus-
schüttung gemessen am
hypophysären ACTH Überschuss adrenalen Androgens
Typ: on
Läsi hemmt hypophysäre Gonadotropine
e n traler he ZNS- Früh-
Z e
nisc isch ls-
Orga idiopath nRH-Pu ACTH Kon ACTH-
e r G
od
ng d
es
normal adre genital Überschuss Suppression der Gonadotropine
reifu rators Hypophysäre
Hyp nale e
ge n e Gonadotropine erpl
asie
(FSH und LH)
Normale Nebennierenrinden-
erreichen adulte
Nebennierenrinden hyperplasie
Spiegel

Starke Zunahme der adrenalen Androgene


Verfrühte
normale
Sekretion des
testikulären
Androgens

Adulter Hoden Adulter Hoden Infantiler Hoden Infantiler Hoden

Evtl.
Hoden vergrößert und reif Pigmentierung Weiterhin infantile
Hoden

Blutuntersuchungen: Blutuntersuchungen:
LH: ↑ LH: altersentsprechend
FSH: ↑ FSH: altersentsprechend
Testosteron: ↑ Testosteron: normal
17-OHP: normal 17-OHP: ↑
DHEA-S: normal DHEA-S: ↑
Androstendion: normal Androstendion: ↑
hCG: normal hCG: normal

Abb. 4.9 

Bei der Pubertas praecox beginnt die Pubertät bei Mädchen Geschwindigkeit und Abfolge der pubertären Veränderun- tome mit einem hohen Krampfanfallrisiko einher. Seltene
< 8 Jahren und bei Jungen < 9 Jahren. Die Ursache können gen entsprechen denen der im normalen Alter beginnenden Ursachen sind gonadotropinsezernierende Hypophysen-
gutartig sein (normale Variante der frühen Adrenarche) Pubertät. Die Serumspiegel von LH, FSH, Testosteron und tumoren. Auch eine Androgenexposition (exogen oder en-
oder ernster (malignes Germinom). Bei geschlechtsent- Estradiol entsprechen denen der normalen Pubertät. Das dogen) kann zur Reifung des GnRH-Impulsgebers und zur
sprechenden Geschlechtsmerkmalen spricht man von einer Knochenalter ist erhöht und das Wachstum beschleunigt. zentralen Pubertas praecox führen.
isosexuellen Pubertas praecox. Eine Virilisierung bei Mäd- Trotz der meist idiopathischen Ätiologie ist bei Mäd-
chen oder Feminisierung bei Jungen wird als kontrasexuelle chen eine kraniale MRT indiziert, um eine ZNS-Erkran-
Pubertas praecox bezeichnet. Die Pubertas praecox ist bei kung auszuschließen. Bei Jungen ist die zentrale Pubertas Gonadotropinunabhängige Pubertas
Mädchen10-mal häufiger und meistens zentral bedingt. praecox zur Hälfte idiopathisch und durch ZNS-Anoma­ praecox
lien bedingt. Infrage kommen Hamartome des Tuber cine-
reum, die GnRH-neurosekretorische Neuronen enthalten Die periphere oder gonadotropinunabhängige Pubertas
Gonadotropinabhängige Pubertas und als ektopische GnRH-Impulsgeber fungieren, Astrozy- praecox (auch Pseudopubertas praecox) entsteht durch die
praecox tome, Ependymome, Hypothalamus- oder Optikusgliome überschüssige gonadale oder adrenale Sekretion von Ös-
bei Patienten mit Neurofibromatose Typ 1, eine Neoplasie trogen oder Testosteron. Sie folgt in der Regel weder in ih-
Die zentrale oder echte Pubertas praecox ist gonadotropin- im Bereich des Hypothalamus (z. B. Kraniopharyngeom), rem Verlauf noch in ihrer Geschwindigkeit der normalen
abhängig und beruht auf der vorzeitigen Reifung des Gona- die den hinteren Hypothalamus einklemmt, Nebenwir- Pubertät (z. B. Beginn mit Menarche). Abhängig von der
dotropin-releasing-Hormon-Impulsgebers, was bei Mäd- kungen einer ZNS-Bestrahlung (z. B. bei Tumoren oder Art des Hormonüberschusses kann die gonadotropinun-
chen 20-mal häufiger ist als bei Jungen. Oft wird diese Form Leukämie), Hydrozephalus, entzündliche ZNS-Erkran- abhängige Pubertas praecox isosexuell oder kontrasexuell
der Pubertas praecox durch einen ZNS-Prozess ausgelöst, kungen (z. B. Sarkoidose), angeborene Spaltbildungen und sein. Die Serumspiegel von LH und FSH sind supprimiert.
trotzdem kann die Ursache bei 90 % der betroffenen Mäd- Pinealistumoren. Hamartome des Tuber cinereum sind Mögliche Ursachen einer isosexuellen gonadotropinun-
chen nicht identifiziert werden. Symptome sind bei Mäd- keine echten Tumoren, sondern angeborene Fehlbildun- abhängigen Pubertas praecox bei Mädchen sind exogene
chen die vorzeitige Entwicklung der Mamma (Thelarche) gen, die in der MRT als isodense Füllung der präpontinen, Östrogene (z. B. östrogenhaltige Cremes und Salben), folli-
und der Schambehaarung (Pubarche) und bei Jungen die interpedunkularen und posterioren suprasellären Zisterne kuläre ovarielle Zysten, ovarielle Neoplasien (z. B. Granulo-
vorzeitige Pubarche und Hodenentwicklung (Gonadarche). erscheinen. Bei einem Durchmesser > 1 cm gehen Hamar- sazelltumor, Gonadoblastom und Leydig-Zell-Tumor), ös-
Pubertas praecox 107

(Fortsetzung)

A Überschüssiges Androgen aus dem Tumor


N uto Adrenaler Androgenexzess hemmt Testikulärer Leydig-Zell- hemmt die hypophysäre Gonadotropin-
rin ebe no die hypophysären Gonadotropine Tumor oder Nebennieren-
de nn me ausschüttung
nt ier r resttumor bei kongenita-
um en ler adrenaler Hyperplasie
or -
ACTH normal Bei Neben-
Gonadotropine supprimiert
oder nierenrest- Beim Leydig-Zell-Tumor
supprimiert tumor ist ein ist ACTH normal
Kontralaterale ACTH-Exzess
Nebennierenrinde möglich Adrenales
Androgenexzess normal oder Androgen
durch den Tumor hypoplastisch bei Leydig-
Zell-Tumor normal, bei
kongenitaler adrenaler
Hyperplasie erhöht

Androgen-
Infantile Infantile überschuss
Hoden Hoden durch den
Tumor

Hoden bleiben infantil Infantile Hoden


Tumor

Blutuntersuchungen: Leydig-Zell-Tumor Testikulärer Nebennierenrest


LH: altersentsprechend Blutuntersuchungen: Blutuntersuchungen:
FSH: altersentsprechend LH: altersentsprechend LH: altersentsprechend
Testosteron: ↑ oder normal FSH: altersentsprechend FSH: altersentsprechend
17-OHP: normal Testosteron: ↑ Testosteron: normal
DHEA-S: ↑ oder normal 7-OHP: normal 17-OHP: ↑
Androstendion: ↑ oder normal DHEA-S: normal DHEA-S: ↑
hCG: normal Androstendion: normal Androstendion: ↑
hCG: normal hCG: normal

Abb. 4.10 

trogenproduzierende Nebennierentumoren und das McCu- Bei Jungen mit isosexueller peripherer Pubertas praecox Jungen exogene Östrogene (z. B. östrogenhaltige Cremes und
ne-Albright-Syndrom. Letzteres ist mit Mutationen in dem kommen diagnostisch infrage: testikuläre Leydig-Zell-Tu- Salben) und östrogenproduzierende Nebennierentumoren.
Gen (GNAS) verbunden, das für die α-Untereinheit des moren (meist gutartig), Keimzelltumoren, die humanes
Guanosin-Triphosphat-bindenden Proteins codiert, das an Chorion-Gonadotropin (hCG) produzieren (hCG ist ein
der Aktivierung der Adenylatzyklase beteiligt ist. Ursache LH-Rezeptor-Agonist) und an Stellen mit embryonalen Inkomplette Pubertas praecox
ist eine postzygotische somatische Mutation, weswegen das Keimzellen entstehen (Zirbeldrüse, hinteres Mediastinum,
Ausmaß der Gewebebeteiligung vom Zeitpunkt der Mutati- Leber [malignes Hepatom und Hepatoblastom], Retroperi- Bei der inkompletten Pubertas praecox treten Thelarche
on während der Entwicklung abhängt. Das McCune-Alb- toneum und Hoden). Keimzelltumoren sind maligne, kön- oder Adrenarche früher auf, ohne dass das Knochenalter
right-Syndrom geht mit der Trias aus gonadotropinunab- nen aber indolent (z. B. Dysgerminom) oder aggressiver erhöht ist. Die vorzeitige Thelarche kann ohne andere Pu-
hängiger Pubertas praecox, unregelmäßig umrandeten Ca- (z. B. Chorionkarzinom, embryonales Karzinom) sein. bertätszeichen bei sich normal entwickelnden Mädchen
fé-au-lait-Flecken, welche die Mittellinie normalerweise Weitere Differenzialdiagnosen sind androgenproduzie­ auftreten. Allerdings kann ein Teil der Mädchen mit vor-
nicht kreuzen, und knöcherner fibröser Dysplasie (z. B. Hy- rende Nebennierentumoren und die kongenitale adrenale zeitiger Thelarche oder Adrenarche eine gonadotropinab-
perostose der Schädelbasis und Gesichtsasymmetrie) ein- Hyperplasie (z. B. 21-Hydroxylase-Mangel oder seltener hängige Pubertas praecox entwickeln. Außerdem kann die
her (›  Abb.  4.11). Abhängig von der Gewebeverteilung 11β-Hydroxylase-Mangel). Außerdem können Jungen inkomplette Pubertas praecox durch eine lang existieren-
der somatischen Mutation können weitere endokrine Hy- ­autosomal-dominante aktivierende Keimbahnmutationen de, unbehandelte primäre Hypothyreose entstehen.
perfunktionen auftreten, wie das Cushing-Syndrom (bil­ im LH-Rezeptor-Gen aufweisen, die für eine frühe Ent-
aterale adrenale Hyperplasie), eine Hyperthyreose, ein Hy- wicklung von Leydig-Zellen mit Testosteronsekretion
perparathyreoidismus (Adenom oder Hyperplasie), eine ­prädisponieren. Das McCune-Albright-Syndrom kann bei Diagnostik und Behandlung
hypophosphatämische Vitamin-D-resistente Rachitis und Jungen auftreten, ist aber nur halb so häufig wie bei Mäd-
Gigantismus (mammosomatotrope Hyperplasie). Die Pu- chen. Die gezielte Anamnese und körperliche Untersuchung lie-
bertas praecox im Rahmen eines McCune-Albright-Syn- Ursachen der kontrasexuellen gonadotropinunabhängi- fern Hinweise auf die Ursache der Pubertas praecox. Kopf-
droms beginnt in der Regel in den ersten 2 Lebensjahren gen Pubertas praecox bei Mädchen sind exogene Androgene schmerzen, Sehstörungen oder Symptome eines Diabetes
mit Menstruationsblutungen durch autonom funktionie- (z. B. Testosteron-Gel), androgenproduzierende Nebennie- insipidus lenken den Verdacht auf eine Raumforderung im
rende ovarielle luteinisierte Follikelzysten. rentumoren und die kongenitale adrenale Hyperplasie, bei Bereich des Hypothalamus. Alle vorhandenen Angaben
108 4  Fortpflanzung

(Fortsetzung)

zur Körpergröße sollten in eine Wachstumskurve eingetra-


gen werden. Bei der körperlichen Untersuchung sollte die Östrogenüberschuss
Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale nach hemmt die hypophysäre
LH- und FSH-Sekretion
Tanner beurteilt werden (›  Abb.  4.5, ›  Abb.  4.6,
› Abb. 4.7). Gemessen werden beim Jungen das Hoden-
Östrogensekretion
volumen und die Penislänge und beim Mädchen der durch einen Granu-
Durchmesser des Brustgewebes. Außerdem sollte auf das losazelltumor des
Niedrige Ovars (selten ein
Vorhandensein mehrerer Café-au-lait-Flecken geachtet hypophysäre Niedrige Gonadoblastom)
werden. Bei der Neurofibromatose Typ 1 sind sie unschär- Gonadotropine hypophysäre
Gonadotropine
fer begrenzt als beim McCune-Albright-Syndrom. Die
neurologische Untersuchung liefert Hinweise auf zugrun-
de liegende ZNS-Prozesse. Bei der Bauch- und Beckenun-
tersuchung wird auf Leber- und Ovarialtumoren geachtet.
Bei der zentralen Pubertas praecox sind die Hoden sym-
metrisch vergrößert, bei Leydig-Zell-Tumoren ist ein Ho- Follikuläre
Follikuläre Ovarialzyste
den knotig vergrößert. Ebenfalls ermittelt wird das Kno- Ovarialzyste
chenalter und mit dem chronologischen Alter verglichen. Adulter
Östrogenspiegel
Die basalen Serumspiegel von LH, FSH, Estradiol, Testo­
steron, 17-Hydroxyprogesteron (17-OHP), Dehydroepian-
drosteron-Sulfat (DHEA-S) und Androstendion helfen bei
der Unterscheidung zwischen zentraler und peripherer
Pubertas praecox. Bei allen Patienten mit Pubertas praecox
sollten das Serum-TSH sowie in ausgewählten Fällen der McCune-Albright-Syndrom
Serumspiegel von β-hCG und α-Fetoprotein gemessen Auftreten von
werden. Gegebenenfalls muss ein GnRH-Stimulationstest Achselbehaarung
Auftreten und Schweißdrüsen
für LH durchgeführt werden, um eine zentrale Pubertas von Achsel-
Entwicklung der
praecox zu bestätigen, bei der LH nach GnRH-Gabe an- behaarung und
Mamma
Schweiß-
steigt. drüsen Evtl. tastbarer
Bei Patienten mit gonadotropinabhängiger Pubertas Tumor oder
Entwicklung Vergrößerung
praecox ist eine kraniale MRT und bei gonadotropinunab- der Mamma des Abdomens
hängiger Pubertas praecox eine abdominale und gonadale Café-au-lait- Scham-
Pigment- behaarung
Bildgebung indiziert. flecke
Die Behandlung erfolgt abhängig von Ursache und Fort- und fibröse
Dysplasie Irreguläre oder zyklische
schreiten der Pubertas praecox. Wird bei gonadotropinab-
Uterusblutung
hängiger Pubertas praecox eine ZNS-Läsion entdeckt, sind
Scham-
die Behandlungsmöglichkeiten in der Regel klar. Ein Dys- behaarung
germinom wird in der Regel durch eine Biopsie bestätigt
und dann mit Strahlentherapie, Chemotherapie oder bei-
dem behandelt. Bei idiopathischer gonadotropinabhängi-
ger Pubertas praecox (Ausschlussdiagnose) erfolgt die Be-
Hyperplastisches
handlung mit einem GnRH-Agonisten zum Arrest der pu- Östrogener Vaginalabstrich Endometrium
bertären Entwicklung zur Verbesserung der Körperend-
größe mit Vergleich zu unbehandelten Patienten. Abb. 4.11 
Die Behandlung der gonadotropinunabhängigen Puber-
tas praecox richtet sich nach der Quelle des Sexualhormon-
überschusses. So wird der Androgenüberschuss bei konge-
nitaler adrenaler Hyperplasie durch einen 21-Hydoxylase-
Mangel sehr effektiv mit Glukokortikoiden behandelt.
Gonadendysgenesien 109

Gonadendysgenesien
46,XX Störungen der Geschlechtsdifferenzierung: Androgenexzess
Klassifikation
2. Cortisolproduktion
reicht zur Hemmung
Männlicher und weiblicher Phänotyp sind bei der Geburt der hypophysären
in der Regel gut zu erkennen. Ein zweideutiges Genitale, ACTH-Ausschüttung
nicht aus 3. ACTH stark erhöht Virilisierender
das bei 1 von 4.000 Geburten vorkommt, kann die Ge- Tumor
schlechtszuordnung erschweren. Bei kongenitalen Abwei- Orale oder
4. Nebennierenrinden- parenterale Gabe
chungen zwischen externen Genitalien und gonadalem 1. Adrenokortikaler androgener
hyperplasie
oder chromosomalem Geschlecht treten Gonadendysge- Enzymdefekt Hormone
(Testosteron
nesien auf. Aus klinischer Sicht unterscheidet man wie oder Gestagene)
folgt:
1. Geschlechtschromosomale Gonadendysgenesien
– Turner-Syndrom: 45,X Mütterliches
– Klinefelter-Syndrom: 47,XXY Androgen über
5. Stark erhöhtes die Plazenta
– Gemischte Gonadendysgenesie: 45,X/46,XY adrenales Androgen
– Chimärismus: 46,XX/46,XY Nicht progressive
2. 46,XX-Gonadendysgenesien (virilisierte XX-Frau) Progressive Virilisierung Maskulinisierung
– Störungen der gonadalen Entwicklung (Gonaden- Das Fetalstadium bei Androgenexposition bestimmt das Ausmaß der Maskulinisierung
dysgenesie, ovotestikuläre und testikuläre Gonaden- der Genitalien.
dysgenesien) Früh (vor der 12. Woche: schwer) Spät (leicht)
– Androgenüberschuss (fetal, maternal) Eileiter
3. 46,XY-Gonadendysgenesien (unzureichend virilisierter Ovarien
Uterus
XY-Mann)
– Störungen der Hodenentwicklung (komplette und
partielle Gonadendysgenesie, ovotestikuläre Gona-
dendysgenesien, Hodenregression)
– Störungen der Androgensynthese oder -wirkung
Vagina Vagina
(kongenitale adrenale Hyperplasie, Mutationen des Sinus urogenitalis Urethra Vagina
Sinus urogenitalis
LH-Rezeptors, 5α-Reduktase-2-Mangel)
Das Geschlecht besteht aus dem chromosomalen Ge-
schlecht (z. B. 46,XX oder 46,XY), dem phänotypischen
Geschlecht (z. B. männliche oder weibliche externe Geni-
talien) und dem gonadalen Geschlecht (z. B. Vorhanden-
sein von Ovarien oder Hoden). Bei Gonadendysgenesien
verlaufen die Entwicklung von chromosomalem, phänoty- Penile Urethra (Hypospadie Klitorisvergrößerung: Vagina Einfache Klitoris-
pischem oder gonadalem Geschlecht atypisch. Mögliche oder normal); Vagina mündet mündet an der Klitorisbasis in den vergrößerung,
in die Urethra (Sinus urogenitalis), Sinus urogenitalis, partielle Fusion Genitalien sonst normal
Ursachen der Intersexualität sind die kongenitale adrena- Fusion der Labien (Skrotum) der Labien (Scrotum bifidum)
le Hyperplasie (46,XX-Gonadendysgenesie) und die parti-
elle Androgenresistenz (46,XY-Gonadendysgenesie). Aus Abb. 4.12 
praktischen Gründen erfolgt die Einteilung in eine ge-
schlechtschromosomale Form, eine testikuläre Entwick-
lungsstörung und eine Störung der Hodenentwicklung Gonadales Geschlecht AMH und Inhibin B. Die AMH-Sekretion (unter Einfluss
mit Androgenisierung (46,XY-Gonadendysgenesie, männ­ von SOX9 und anderen Transkriptionsfaktoren) beginnt in
licher Pseudohermaphroditismus) sowie in Störungen der Das gonadale Geschlecht wird durch das Vorhandensein der 7. Entwicklungswoche und führt zur Rückbildung der
ovariellen Entwicklung und Androgenüberschuss (46,XX- von Ovarien oder Hoden bestimmt. SRY auf dem Y-Chro- Müller-Strukturen (Uterus, Eileiter und obere zwei Drittel
Gonadendysgenesien, weiblicher Pseudoherm­aphro­ditis­ mosom führt zur Hodenentwicklung (›  Abb.  4.1, der Vagina). Bei einem männlichen Chromosomensatz
mus). › Abb. 4.2). Durch Expression von SRY und SOX9 prolife- (46, XY) sind AMH oder sein Rezeptor mutiert. Bei einer
rieren mesonephrische Zellen und wandern in die sich ent- Sertoli-Zell-Dysfunktion können die Müller-Gänge persis-
wickelnden Hoden ein. An der normalen Hodenentwick- tieren und sich ein Hodenhochstand (46,XY-Gonadendys-
Chromosomales Geschlecht lung sind mehrere Faktoren beteiligt. Die normale ovarielle genesie) entwickeln (› Abb. 4.14). Ist nur die Steroidsyn-
Entwicklung hängt von der Expression von Faktoren ab, these der Leydig-Zellen gestört, persistieren die Müller-
Das chromosomale Geschlecht wird bei der Befruch- welche die Hodenentwicklung verhindern, sowie durch die Gänge nicht, weil die AMH-Produktion in den Sertoli-Zel-
tung festgelegt und führt zu männlichen 46,XY- oder fehlende AMH-Expression. len nicht betroffen ist.
weiblichen 46,XX-Zygoten. Bei meiotischer Non-Dis- In der 9. Entwicklungswoche beginnt die Androgenpro-
junction kann Material der Geschlechtschromosomen duktion in den fetalen Leydig-Zellen im 1. und 2. Trime-
in Spermium oder Ovum verloren gehen oder hinzu- Phänotypisches Geschlecht non unter Einfluss von plazentarem humanem Choriongo-
kommen (Aneupleudie), sodass Chromosomensätze nadotropin und im 3. Trimenon unter Einfluss von LH aus
wie 47,XXY (Klinefelter-Syndrom) und 45,X (Turner- Männliches Geschlecht der fetalen Hypophyse. Nach Aufnahme von Chole­sterin in
Syndrom) entstehen. Eine mitotische Non-Disjunction die Leydig-Zellen stimuliert LH das steroidogene akut-re-
in der Zygote kann zu einem Mosaik führen (z. B. Die Geschlechtsdifferenzierung wird durch Steroid- und gulatorische Protein zur Migration von der äußeren zur
45,X/46,XX). Peptidhormone vermittelt. Die Sertoli-Zellen produzieren inneren Membran der Mitochondrien. Anschließend wird
110 4  Fortpflanzung

(Fortsetzung)

46,XY Störungen der Geschlechtsdifferenzierung: Androgenresistenz


die Cholesterin-Seitenkette durch P450scc (CYP11A1) ge-
spalten, sodass Pregnenolon entsteht, das durch β-Hydro­
xy­steroid-Dehydrogenase Typ 2 (HSD3B2) in Progesteron
3 oder durch 17α-Hydroxy­lierung unter Einfluss von
P450c17 (CYP17) zu 17-Hy­droxypregnenolon, das wie­
derum weiter von P450c17 zu Dehydroepiandrosteron
(DHEA) umgewandelt wird. DHEA wird durch die 3β-Hy­
droxysteroid-Dehydrogenase Typ 2 in Androstendion um-
gewandelt und dieses durch die 17β-Hydroxysteroid-
Dehydrogenase Typ 3 (HSD17B3) zu Testosteron. Testo­
steron wird von der 5α-Reduktase Typ 2 in Dihydrotesto­
steron umgewandelt, das eine hohe Affinität für den
Androgenrezeptor hat und die Androgenisierung der
­externen Genitalien und des Sinus urogenitalis vermittelt.
Die Testosteronproduktion stabilisiert die Wolff-Struk­
turen (Vas deferens, Nebenhoden und Samenblase, Normales äußeres weibliches Genitale
› Abb. 4.2). Aus dem Sinus urogenitalis werden Prostata (oder leicht maskulinisiert) mit blind endender Vagina
und prostatische Harnröhre. Der Genitalhöcker wird zur
Peniseichel. Die Urogenitalfalten fusionieren zum Penis-
schaft und aus den Labioskrotalfalten wird das Skrotum.
Der Descensus testis erfolgt in zwei Stufen: transabdomi-
nal und transinguinal. Der transabdominale Deszensus
wird von den Hoden eingeleitet, beginnt in der 12. Ent-
wicklungswoche und hängt von der Kontraktion und Ver-
dickung des Gubernaculum testis und der transinguinale
Dezcensus von LH und Androgenen ab.

Weibliches Geschlecht

Bei Frauen bilden die Müller-Strukturen den Uterus, den Relativ normaler weiblicher
Habitus (Inguinalhernien)
oberen Anteil der Vagina und die Eileiter. Die Wolff-Gänge
degenerieren ohne die lokale testikuläre Testosteronproduk-
Operative Freilegung der Hoden in den Leisten,
tion. Eine normale Uterusentwicklung ist auch in Abwesen- die Laparotomie zeigt das vollständige Fehlen von
heit von Ovarien möglich. Der Sinus urogenitalis wird zum Uterus, Eileitern und Ovarien.
unteren Anteil der Vagina und zur Urethra (›  Abb.  4.2).
Aus dem Genitalhöcker wird die Klitoris, aus den Urogenital-
falten die Labia minora und aus den Labioskrotalfalten die
Labia majora. Etwa in der 16. Entwicklungswoche exprimie-
ren die Ovarien LH- und FSH-Rezeptoren. Die FSH-Serum- Typische Hodenhistologie bei Kryptorchismus
spiegel erreichen in der 20. Woche ihren Höchstwert, wenn (In-situ-Neoplasie oben links)
in den Ovarien die Primärfollikel entstehen. Die fetalen Ova-
rien produzieren nur sehr wenig Östrogen. Abb. 4.13 
Bei Androgenexposition eines Fetus mit weiblichem
Chromosomensatz (46,XX) in utero (z. B. aus der Neben-
nierenrinde bei kongenitaler adrenaler Hyperplasie) rosexuelle, homosexuelle und bisexuelle Neigung. Die psy- Geschlechtschromosomale
kommt es zur Androgenisierung der externen Genitalien chosoziale Entwicklung ist komplex und hängt zum Teil Gonadendysgenesien
(›  Abb.  4.12). In diesem Fall ist ein Uterus vorhanden von pränatalen endokrinen und kongenitalen chromoso-
und die Testosteronkonzentrationen sind nicht hoch ge- malen Faktoren ab. Das Y-Chromosom scheint kein wich- Eine geschlechtschromosomale Aneuploidie führt z. B. zu
nug, um die Wolff-Strukturen zu stabilisieren. tiger Faktor zu sein; so entwickeln sich phänotypische Klinefelter-Syndrom (47,XXY) und Turner-Syndrom
Frauen mit kompletter Androgenresistenz trotz 46,XY- (45,X) (›  Abb.  4–17, ›  Abb.  4.18, ›  Abb.  4.19,
Karyotyp psychosozial zu Frauen. Die psychosoziale Ent- › Abb. 4.20).
Psychische Entwicklung wicklung kann sich verändern; so können Kinder mit
5α-Reduktase-Mangel die Geschlechterrollen in der Ado-
Die Geschlechtsidentität ist die Selbstwahrnehmung als leszenz ändern. Gemischte Gonadendysgenesie
weiblich oder männlich und die Geschlechterrolle bezieht Der Phänotyp ist äußerst variabel und hängt von der
sich auf geschlechtsspezifische Verhaltensweisen (z. B. Grunderkrankung ab. Die Klärung der Grundlage ist für Das 45,X/46,XY-Mosaik ist eine Form der gemischten
körperliche Aggression, Spielzeugvorlieben, Peer-Group- die Geschlechtszuordnung, die Behandlung und die medi- ­Gonadendysgenesie, die mit zahlreichen Phänotypen der
Interaktionen). Sexuelle Orientierung bezeichnet die hete- zinischen Auswirkungen wichtig. äußeren Genitalien einhergeht (normale weibliche Genita­
Gonadendysgenesien 111

(Fortsetzung)

46,XY-Störungen der Geschlechtsdifferenzierung


lien, Klitorishypertrophie, Zwitter-Genitalien, Hypospa­
Linker Hoden Linker Ductus deferens
dien oder normale männliche Genitalien). Linker Eileiter
Die gonadalen Phänotypen reichen von ovarähnlichem
Stroma mit Primordialfollikeln über intraabdominelle
Stranggonaden bis zu normalen Hoden im Skrotum. Bei
gestörter AMH-Produktion in den Sertoli-Zellen können
Müller-Strukturen vorhanden sein (›  Abb.  4.14). Die
körperlichen Symptome reichen von denen des Turner-
Syndroms (z. B. Kleinwuchs) bis zu einem normalen
männlichen Phänotyp.
Bei nur minimal androgenisierten Genitalien wird das Infantiler
Kind meist als Mädchen erzogen. In diesem Fall sollten die Uterus
dysgenen intraabdominellen Gonaden entfernt werden
Rechter
und sollte zum Zeitpunkt der Pubertät eine Östrogenthera- Eileiter
pie erfolgen. Sofern ein Uterus vorhanden ist, sollten auch
Gestagene gegeben werden.
Rechter
Wenn nur eine Hypospadie vorliegt, wird das Kind
Hoden
meist als Junge erzogen. Die Hypospadie wird operiert und Müller-Gang-Syndrom, bei dem Hoden, Uterus und Eileiter
nicht deszendierte Hoden werden entfernt. Zum Zeitpunkt im Herniensack liegen
der Pubertät kann eine Testosterontherapie erforderlich
sein.
Bei stark intersexuellen Genitalien ist ein multidiszipli-
näres Vorgehen unter Einbindung des Patienten erforder-
lich. Bei als Mädchen aufgewachsenen Patienten, die we-
gen des fehlenden Uterus infertil sind, ist eine urogenitale
Operation mit Gonadektomie erforderlich. Bei als Jungen
aufgewachsenen Patienten sind eine Gonadektomie und
eine Operation der Hypospadie indiziert; die erektile
Funktion ist beeinträchtigt. Normaler männlicher Habitus Meist für Kryptorchismus typische Hodenatrophie;
Chimärismus  46,XX/46,XY-Chimärismus entsteht mit Inguinalhernie gelegentlich erhaltene Spermatogenese
durch eine doppelte Befruchtung oder eine Fusion von
Möglichkeiten der männlichen Geschlechtsentwicklung
Ova. Ipsi- oder kontralateral kann in einer Gonade ovariel-
les und testikuläres Gewebe vorhanden sein (Hermaphro-
ditismus verus, siehe Besprechung der 46,XX-Gonaden-
dysgenesien).

46,XX-Gonadendysgenesien Androgenresistenz mit Testikuläre Dysgenesie mit Müller-Gang-Syndrom durch eine


normaler Sekretion und unterschiedlich starkem Mangel Dysfunktion der Sertoli-Zellen oder
Ursachen der 46,XX-Gonadendysgenesie sind Störungen Funktion des Anti-Müller- von Androgenen und Anti-Müller- Mutationen des für das Anti-Müller-
Hormons Hormon und dadurch zahlreichen Hormon oder seinen Rezeptor
der ovariellen Entwicklung (ovotestikuläre bzw. testikuläre Symptomen codierenden Gens
Gonadendysgenesie) und Androgenüberschuss (kongeni-
tale adrenale Hyperplasie, Hyperandrogenämie in utero). Abb. 4.14 
Häufig ist die Ätiologie von XX-Virilisierungen jedoch un-
klar.
Kongenitale adrenale Hyperplasie  Sie ist die häufigs- gewebe entsteht durch eine SRY-Translokation oder eine rielles und testikuläres Gewebe auf (z. B. Ovotestes). Bei
te Ursache der Virilisierung bei weiblichem Chromoso- SOX9-Duplikation, die mittels Fluoreszenz-in-situ-Hybri- der seltensten Form befindet sich auf einer Seite ein Ho-
mensatz (46,XX) (›  Abb.  4.12). Oft fehlt die 21α- disierung nachgewiesen werden. den und auf der anderen ein Ovar, wobei Letzteres oft in
Hydroxylase (CYP21A2) der Steroidsynthese, seltener die Ovotestikuläre Gonadendysgenesien (Hermaphrodi- seiner normalen anatomischen Position liegt, während
11β-Hydroxylase und die 3β-Hydroxysteroid-Dehy­dro­ tismus verus)  Bei der ovotestikulären Gonadendysge- Hoden oder Ovotestis in der Regel nicht deszendiert sind.
genase (› Abb. 3.13, › Abb. 3.14). nesie sind in der ipsi- oder kontralateralen Gonade ovari- Die Gonadengänge entwickeln sich meist gemäß der Go-
Hyperandrogenämie in utero  Die Androgenexpositi- elles und testikuläres Gewebe vorhanden (› Abb. 4.15). nade. So findet sich auf der Seite des Ovars oder Ovotestis
on eines XX-Fetus in utero kann zur Virilisierung mit nor- Die meisten dieser Patienten haben einen 46,XX-Karyotyp häufig ein Hemiuterus. Auch Menarche und Thelarche
malen weiblichen inneren Genitalien führen und es gibt vermutlich zahlreiche Ursachen. Seltener be- sind möglich.
(› Abb. 4.12). Weitere Ursachen neben der kongenitalen steht ein 46,XX/46,XY-Chimärismus durch Doppelbe- Wenn ausreichend Hodengewebe vorhanden ist, entstehen
adrenalen Hyperplasie sind Thekaluteinzysten und ein pla- fruchtung oder Fusion zweier Eizellen. Meistens findet in der Pubertät sekundäre männliche Geschlechtsmerk-
zentarer Aromatasemangel. sich bei der ovotestikulären Gonadendysgenesie auf einer male. Die Geschlechtsbestimmung bei Kindern mit ovotes-
Testikuläre Gonadendysgenesien  Diese 46,XX-Gona- Seite ein Ovotestis und auf der anderen Seite ein Ovar oder tikulärer Gonadendysgenesie erfolgt ähnlich wie bei der
dendysgenesie mit Hinweisen auf hormonaktives Hoden- ein Hoden. Etwa 30 % der Patienten weisen beidseits ova- gemischten Gonadendysgenesie.
112 4  Fortpflanzung

(Fortsetzung)

Ovotestikuläre Störung der Geschlechtsdifferenzierung


46,XY-Gonadendysgenesien

Ursachen der unzureichenden Virilisierung männlicher


Säuglinge (46,XY-Gonadendysgenesie) sind Störungen
von Hodenentwicklung, Androgensynthese oder Andro-
genwirkung. Bei der reinen Gonadendysgenesie (Swyer- Hermaphroditismus Hermaphroditismus
Syndrom) kommt es durch eine unzureichende AMH-Pro- verus mit männ- verus mit weib-
lichem Habitus lichem Habitus
duktion oder -Wirkung zur Persistenz der Müller-Struktu-
ren und zum Ausbleiben der Androgenisierung der äuße-
ren Genitalien (› Abb. 4.14). Die partiellen testikulären
Dysgenesien führen zu intersexuellen Genitalien mit/ohne
Uterus und Vagina. Leichtere Varianten manifestieren
sich mit Hypospadie, Mikropenis oder Infertilität. Neben
Fällen unklarer Ursache wurden auch viele molekular­
Ovotestis
genetische Veränderungen gefunden (Mutationen der (eiähnlicher
­folgenden Gene: SRY, Steroidogenic-factor-1-Gen [SF1], Ovar Körper im Tubulus
­Androgenrezeptor-Gen [AR], LH-Rezeptor-Gen [LHCGR], seminiferus)
Wilms-Tumor-related-Gen [WT1], Sex-determining-Re­
gion-Y-Box-9-Gen [SOX9], Desert-Hedgehog-homolog-Gen
[DHH], Aristaless-related-Homeobox-Gen [ARX], TSPY-
like-1-Gen [TSPYL1]).
Eine reduzierte Androgensynthese kann auch durch ei-
ne kongenitale adrenale Hyperplasie bei 17α-Hydroxylase-
Mangel, 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-Mangel, man-
gelnder P450-Seitenkettenspaltung und Mangel des steroi-
dogenen akutregulatorischen Proteins (lipoide Hyperpla-
sie) entstehen. Weitere Ursachen sind LH-Rezeptor-Defekte Ovar
(die zur Leydig-Zell-Hyperplasie führen) sowie ein Mangel
von 5α-Reduktase oder 17β-Hydroxysteroid-Dehydroge­ Uterus unicornis
nase Typ 3 (häufigster Defekt der Testosteronsynthese).
Der 5α-Reduktase-Mangel ist eine autosomal-rezessive Er-
krankung, bei der trotz männlichen Karyotyps (46,XY), bi-
lateralen Hoden und normaler Testosteronbildung die ex-
terne Virilisierung während der Embryogenese durch ei-
nen Defekt der Umwandlung von Testosteron zu Dihydro-
testosteron ausbleibt.
Ursache der reduzierten Androgenwirkung ist ein in-
komplettes oder komplettes Androgen-Resistenz-Syn-
drom (› Abb. 4.13), das früher als testikuläre Feminisie-
rung bezeichnet wurde. Die Androgenresistenz entsteht
Hoden
durch Mutationen im Androgenrezeptorgen (AR), sodass
die Virilisierung trotz vorhandener Hoden und normaler
Testosteronproduktion fehlt (komplette Form) oder nur Abb. 4.15 
partiell stattfindet. Die partielle Androgenresistenz wird
oft bei Säuglingen mit intersexuellen Genitalien, Mädchen
im Jugendalter mit Zeichen der Virilisierung, Jungen im Diagnostik und Behandlung F­ luoreszenz-in-situ-Hybridisierung mit einer SRY-Sonde
Jugendalter mit Pubertas tarda oder Gynäkomastie und in- und ein Ultraschall von Bauch und Becken zum Nachweis
fertilen Männern diagnostiziert. Die komplette Form fällt Die Evaluation von Säuglingen mit intersexuellen Genitali- von Uterus, Gonaden und Vagina. Dadurch soll ermittelt
bei jungen Mädchen häufig erst durch Leistenhernien, la- en umfasst eine Familienanamnese zur Suche nach weite- werden, ob eine geschlechtschromosomale Gonadendys-
biale Tumoren oder eine primäre Amenorrhö auf. Diese ren Betroffenen, die Medikamentenanamnese der Mutter genesie, eine 46,XX-Gonadendysgenesie oder eine 46,XY-
phänotypischen Frauen besitzen bei einem 46X,Y-Karyo- während der Schwangerschaft sowie die Untersuchung der Gonadendysgenesie vorliegt, wonach sich dann die weitere
typ keine sekundäre Geschlechtsbehaarung und keinen äußeren Genitalien mit der Suche nach Gonaden in Labien Diagnostik richtet.
Uterus und haben einen Testosteronspiegel im männli- und Leistenkanal, eine Labordiagnostik zum Ausschluss Die Ursache hat wichtige Auswirkungen auf Ge-
chen Referenzbereich. Hier sollte eine Gonadektomie er- einer kongenitalen adrenalen Hyperplasie (z. B. Serum- schlechtszuordnung, Behandlung, Entartungsrisiko der
folgen, um die Tumorbildung in den kryptorchiden Hoden elektrolyte, ACTH, 17-Hydroxyprogesteron, 11-Deoxycor- kryptorchiden Hoden, zukünftige Fertilität und Beratung
zu verhindern. tisol, Cortisol und DHEA), eine Karyotypisierung mit von Patient und Familie.
Störungen des chromosomalen Geschlechts 113

Störungen des chromosomalen Geschlechts


Viele Störungen der Geschlechtsdifferenzierung lassen
Meiose (Eizelle und Konzeptions- Meiose
sich auf numerische Chromosomenaberrationen oder Oozyte (Spermium) Spermatozyt
Polkörperchen) produkt
morphologische Veränderungen der Geschlechtschromo-
44
somen zurückführen. Der Mensch besitzt 46 Chromoso- 22 XX 22 X
44 X 44
men – 22 paarige Autosomen (der Größe nach von 1 bis 22 Normale Frau, 23,X
Normal 23,X
nummeriert) und ein Paar Gonosomen (XX oder XY). Bei XX 22 44 46,XX XY
XY 22 Y
der Mitose verdoppelt sich jedes dieser 46 Chromosomen X Nor-
46,XX 46,XY
23,X maler Mann, 46,XY 23,Y
exakt, sodass die Tochterzellen wieder den diploiden Satz
enthalten. Die Keimzellen durchlaufen einen anderen Tei- 44
22 XXX 22 X
lungsprozess, bei dem jede primäre Spermatozyte oder pri- 44 XX 44
Triple-X-Syndrom, 23,X
märe Oozyte zwei meiotische Teilungen durchläuft, sodass 24,XX 46,XXX
XX 44 XY
entweder vier Spermatozyten oder zwei Ova und zwei Po- 22 Kline- XXY 22 Y
46,XX O felter- 46,XY
larkörperchen entstehen. Jede dieser Zellen enthält einen Maternale 22 Syndrom, 47,XXY 23,Y
Non-Disjunktion oder
haploiden Satz aus 23 Chromosomen. Das chromosomale 44
22 XO 22 X
Geschlecht wird bei der Befruchtung festgelegt, bei der 44 O 44
Turner-Syndrom, 23,X
zwei haploide Gameten – Spermium und Ovum – eine dip- 22 46,X0
XX 44 XY
loide Zygote mit 46 Chromosomen bilden. Jedes normale 22 YO 22 Y
46,XX X 46,XY
Ovum besitzt ein X-Chromosom und ein normales Sper- 24,XX Letal, 45,Y0 23,Y
mium, entweder ein einzelnes X-Chromosom oder ein ein- 44
22 XXY 22 XY
zelnes Y-Chromosom. Die obere Zeile des Bilds auf dieser Paternale 44 44
X Klinefelter-Syndrom, 24,XY
Seite zeigt eine normale meiotische Teilung. Non-Disjunktion 23,X 47,XXY
Numerische Chromosomenaberrationen entstehen XX 22 44 XY
XO 22 O
46,XX X 46,XY
durch eine fehlerhafte Meiose der parentalen Gametozyten 23,X Turner-Syndrom, 46,X0 22
oder durch eine fehlerhafte Mitose der Zygote nach der Be-
fruchtung. Idealerweise führt die Meiose zur exakten Hal- Abb. 4.16 
bierung der Chromosomenzahl und zur exakten Replika­
tion der 46 Chromosomen; gelegentlich verrutscht aber ein
Chromosom auf der Spindel und wandert zur falschen Sei- ­Meiose der Gametogenese bei einem der Elternteile. Mosa-
te. In diesem Fall enthält eine Tochterzelle ein überzähliges ike wie 46,XY/47,XXY entstehen durch Fehler bei der Mi-
Chromosom und ist defekt. Dieses Phänomen wird als tose einer Zygote mit initial normalem Chromosomensatz.
Non-Disjunction bezeichnet und kann während der Meiose Das Triple-X-Syndrom (47,XXX), oder die Trisomie X,
oder während der Mitose stattfinden. Die Befruchtung die- tritt bei 1 von 1.000 lebendgeborenen Mädchen auf. Ob-
ser anormalen Gameten führt zu einer Zygote mit anorma- wohl sie phänotypisch normal sind, sind Frauen mit die-
ler Zahl der Geschlechtschromosomen. Beispiele für gono- sem Karyotyp oft überdurchschnittlich groß, haben ein er-
somale Aneuploidien sind 45,X, 47,XXY, 47,XXX und höhtes Risiko für Lernstörungen und einen Entwicklungs-
45,Y. Zygoten ohne X-Chromosom (z. B. 45,Y) sind nicht rückstand von Sprechen, Sprach- und motorischen Fertig-
lebensfähig. keiten. Die sexuelle Entwicklung und die Fertilität sind
Der 45,X-Karyotyp (Turner-Syndrom), der bei etwa 1 normal.
von 2.500 lebendgeborenen Mädchen auftritt, entsteht Die Karyotypisierung erfolgt anhand der DNA von Leu-
durch Non-Disjunction oder Verlust eines Chromosoms kozyten aus dem peripheren Blut. Die zytogenetische Dia-
während der Gametogenese bei einem Elternteil. In einem gnostik gonosomaler Anomalien erfolgt durch Ermittlung
Drittel der Fälle ist das paternale X-Chromosom (Xp) vor- von Chromosomenzahl und -banden, Fluoreszenzfärbung
handen und in den übrigen zwei Dritteln ein mütterliches des Y-Chromatins und Fluoreszenz-in-situ-Hybridisie-
(Xm). Etwa 25 % der Patientinnen mit Turner-Syndrom rung (FISH). Gelegentlich erfordert der Nachweis eines
weisen ein chromosomales Mosaik auf (z. B. 45,X/46,XX), Mosaiks die Karyotypisierung anderer Gewebe (z. B. Haut
das durch Fehler bei der Mitose einer Zygote mit initial oder Gonaden). Selbst nach diesen ergänzenden Verfahren
normalem Chromosomensatz entstehen. sind manchmal weitere molekulargenetische Techniken
Das Klinefelter-Syndrom, das bei etwa 1 von 1.000 le- erforderlich. So kann das Sex-determining-Region-Y-Gen
bendgeborenen Jungen auftritt, entsteht durch zusätz­ (SRY) auf dem Y-Chromosom auf das X-Chromosom
liches X-chromosomales Material, meistens 47,XXY und transloziert werden, sodass ein 46,XX-Mann entsteht. Zu-
seltener 48,XXXY, 46,XY/47,XXY-Mosaike und 46,XX dem können SRY-Mutationen zu einer 46,XY-Frau mit
(phänotypische Männer). Der 47,XXY-Karyotyp entsteht Gonadendysgenesie führen. Anormale SRY-Sequenzen
durch Non-Disjunction der Gonosomen während der werden durch molekulargenetische Testung identifiziert.
114 4  Fortpflanzung

Klinefelter-Syndrom
47,XXY-Karyotyp
Das Klinefelter-Syndrom ist die häufigste genetische Ursa-
che des primären Hypogonadismus. Es tritt bei etwa 1 von
FSH
1.000 lebendgeborenen Jungen auf. Das Klinefelter-Syn- Hypophysäre Gonadotropine
LH
Hypophysenvorderlappen
drom entsteht, wenn überschüssiges X-chromosomales
Material vorliegt, meistens 47,XXY und seltener 48,XXXY,
46,XY/47,XXY-Mosaike und 46,XX (phänotypischer
Mann). Der 47,XXY-Karyotyp entsteht durch Non-Dis-
junction der Geschlechtschromosomen während der
­Meiose bei der Gametogenese bei einem Elternteil
(› Abb. 4.16). Mosaike wie 46,XY/47,XXY entstehen bei
gestörter Mitose in einer Zygote mit initial normalem
Chromosomensatz. Das überschüssige X-Chromosom
führt bis zur Jugend zu wenigen bis gar keinen Anomalien.
Dann entwickeln die Betroffenen kleine, feste Hoden mit Brustvergrößerung
(Gynäkomastie)
hyalinisierten Tubuli seminiferi und verklumpte Leydig-
Zellen, eine Azoospermie, einen kleinen Phallus, eine Gy-
näkomastie, einen leichten bis mittelschweren Eunuchoi-
dismus, eine reduzierte Virilisierung und erhöhte Serum- Tubulus mit
Sertoli-Zellen
spiegel von LH und FSH. Hoden Mammahistologie
Die eunuchoiden Körperproportionen entstehen durch Androgen
den Testosteronmangel und den verzögerten Epiphysen-
schluss. Trotz der fast immer vorhandenen Infertilität zei-
gen diese Männer eine inadäquate Maskulinisierung von
einem mäßig schweren Eunuchoidismus bis zu einem fast
normalen männlichen Phänotyp. Die Blutspiegel von LH
und FSH sind in der Regel durch eine Fehlfunktion der
Leydig-Zellen bzw. der Tubuli seminiferi erhöht. Das Aus- Späte pubertäre Hoden- Dichtes Stroma
Sklerosierte
maß der Gynäkomastie ist hoch variabel und mit dem Aus- insuffizienz (Klinefelter,
Tubuli
nicht eunuchoidale
maß des Testosteronmangels assoziiert. Variante)
In den Gonaden finden sich unregelmäßig verteilt Tu-
buli und Tubulusnarben, die durch lockeres Bindegewebe
getrennt sind, sowie Klumpen von Leydig-Zellen. Oft tre-
ten vermehrt Leydig-Zellen auf, die in Nestern die Konfi-
guration von Adenomen annehmen können. Die nichthya-
linisierten Tubuli sind unterschiedlich groß. Manche ent-
halten nur Sertoli-Zellen, andere Keimzellen in frühen
Reifungsstadien. Die Basalmembran der Tubuli seminiferi
ist verdickt und sklerosiert und viele Tubuli enthalten gro-
ße Hyalinablagerungen. Oft fehlt die elastische Membran ↓ LH
↓ FSH
oder ist unterentwickelt. Vor der Jugend sind die Hoden
recht normal, wobei geringfügige histopathologische Ver- ↓ Testosteron
änderungen möglich sind.
Männer mit Klinefelter-Syndrom weisen meistens kei- Abb. 4.17 
ne kongenitalen Anomalien auf (wie beim Turner-Syn-
drom), gelegentlich bestehen eine leichte mentale Retar-
dierung, Angstzustände oder Depressionen. Außerdem Der 47,XYY-Karyotyp führt zu phänotypisch norma- Die Symptome des Hypogonadismus werden in der Re-
haben sie oft psychosoziale Probleme, z. B. durch mangeln- len Männern mit in der Regel normaler Hodenfunktion gel effektiv mit Testosteronersatz behandelt. Die Testoste-
de Einsichtsfähigkeit, erschwerte soziale Interaktionen, und Fertilität. Männer mit diesem Karyotyp haben ein rondosis sollte so angepasst werden, dass der Serumspiegel
schlechtes Urteilsvermögen und kognitive Defekte bei der erhöhtes Risiko für Lernstörungen und Sprachverzöge- im mittleren Normalbereich liegt.
Wortverarbeitung. rung.
Außerdem besteht bei diesen Patienten ein erhöhtes Ri- Der Verdacht auf ein Klinefelter-Syndrom besteht bei
siko für die Entwicklung von Lungenerkrankungen (z. B. allen großwüchsigen Männern im Jugendalter mit Gynä-
Emphysem, Bronchiektasien), Krebserkrankungen (z. B. komastie und kleinen Hoden. Die Diagnose wird durch
mediastinale Keimzelltumoren, Mammakarzinom), Dia- Karyotypisierung der peripheren Leukozyten bestätigt.
betes mellitus und Varikose. Die Blutspiegel von Testosteron und Inhibin B sind nied-
Phänotypische Männer mit 46,XX-Karyotyp haben ein rig. Der Estradiolspiegel liegt im männlichen Referenzbe-
dem Klinefelter-Syndrom ähnlichen Phänotyp mit Aus- reich. Die Blutspiegel von LH und FSH sind erhöht. Die
nahme von Hypospadien und Minderwuchs. Diese Krank- Samenanalyse zeigt in der Regel eine Azoospermie, ob-
heit entsteht durch Translokation des SRY-Gens vom Y- wohl bei 46,XY/47,XXY-Mosaiken spontane Fertilität be-
Chromosom auf dem kurzen Arm des X-Chromosoms. schrieben ist.
Turner-Syndrom (Gonadendysgenesie) 115

Turner-Syndrom (Gonadendysgenesie)
Das Turner-Syndrom (Gonadendysgenesie) oder die X- Turner-Syndrom: 45,X0-Karyotyp
chromosomale Monosomie ist bei kleinwüchsigen Frauen Lig. teres uteri
Infantiler Uterus
mit primärer Amenorrhö eine wichtige Differenzialdiag- Eileiter Eileiter
nose. Gemäß der klassischen Beschreibung von Turner im Harnblase
Jahre 1938 sind die Patientinnen kleinwüchsig und haben
mehrere sichtbare kongenitale Anomalien, wie einen kur-
zen Hals mit Flügelfell (Pterygium colli), Cubitus valgus
und einen breiten Schildthorax. Diese Erkrankung tritt bei
etwa 1 von 2.500 lebendgeborenen Mädchen auf. Der
45,X0-Karyotyp scheint durch eine Non-Disjunction oder
einen Chromosomenverlust bei der Gametogenese bei ei-
nem der Elternteile zu entstehen (› Abb. 4.16). In einem
Drittel der Fälle ist das paternale X-Chromosom (Xp) vor-
handen und in den übrigen zwei Dritteln ein mütterliches
(Xm). Etwa 25 % der Patientinnen mit Turner-Syndrom
weisen ein chromosomales Mosaik auf (z. B. 45,X/46,XX), Kleinwuchs,
das durch Fehler bei der Mitose einer Zygote mit initial fehlende se-
normalem Chromosomensatz entsteht. Der fast immer kundäre Ge-
schlechtsmerk-
beim Turner-Syndrom vorhandene Kleinwuchs beruht auf male, spärliche
dem Verlust des Short-Stature-Homeobox-Gens (SHOX- Scham-
Gen) in der pseudoautosomalen Region des kurzen Arms behaarung,
Flügelfell,
des X-Chromosoms (Xp22), das für einen osteogenen Fak- Schildthorax,
tor kodiert. Die SHOX-Haploinsuffizienz führt noch zu Cubitus valgus,
weiteren Skelettanomalien, wie Cubitus valgus und kurzen Pigmentnävi
und/oder andere
Metakarpalia IV. angeborene Primitive Stranggonaden; Stroma ohne Keimepithel
Die Pubertät ist überwiegend durch eine primäre Ame- Fehlbildungen
norrhö und ausbleibende sekundäre Geschlechtsmerkmale
gekennzeichnet. Manche Patientinnen mit 45,X/46,XX-
Mosaik durchlaufen eine normale Pubertät und entwickeln
eine sekundäre Amenorrhö, wieder andere haben normale
Menstruationszyklen. Die gynäkologische Untersuchung
zeigt in der Regel einen normalen, aber infantilen Uterus
und Eileiter mit nur rudimentärer Gonadenentwicklung.
In der Regel finden sich fibröse Stranggonaden im Lig. la- Unzureichende Östrogenproduktion der
Gonaden stimuliert eine starke Abgabe von
tum uteri. Das Ausmaß der ovariellen Schädigung ist vari-
hypophysären Gonadotropinen
abel, wie an den diversen klinischen Symptomen und den
möglichen Mosaiken zu erkennen ist.
Patientinnen mit klassischem Turner-Syndrom werden
selten größer als 1,50 m und sind häufig bereits bei der Ge-
burt sowie während der Kindheit sehr klein. Das Verhält- Infantiles weibliches Genitale, oft Hypoplasie
nis zwischen Ober- und Unterkiefer ist bei den meisten der Labia minora
Patientinnen erhöht. Ein kongenitales Lymphödem der
Hände und Füße bei einem weiblichen Neugeborenen ist
ein frühes Zeichen dieser genetischen Krankheit. Neben Abb. 4.18 
dem Kleinwuchs bestehen folgende weitere typische Be-
funde: ein kurzer Hals mit Flügelfell, ein hohes Gaumenge-
wölbe, ein breiter Schildthorax, hypoplastische Mamillen
mit weitem Abstand, verkürzte vierte Metakarpalknochen
und Cubitus valgus. Weitere Befunde sind Mikrognathie,
„Fischmaul“, niedriger Ohrenansatz oder Ohrfehlbildun-
gen, hypoplastische Nägel und ein tiefer Haaransatz im
Nacken, der bis zwischen die Schultern reicht. Pigmentnä-
vi, Teleangiektasien, Sehstörungen (z. B. Strabismus, Am-
blyopie, Ptose) und Ohrfehlbildungen (z. B. Anomalien der
Eustachi-Röhre, die oft zur Otitis media führen) sind häu-
fig. Aortenkoarktationen und weitere Herzfehlbildungen
(z. B. bikuspide Aortenklappe, Elongation des Aortenbo-
gens), Hypertonie, Aortendissektion, Nierenfehlbildungen
(z. B. Hufeisenniere, Anomalien des Ureterabgangs) und
mehrere andere Defekte sind beschrieben.
116 4  Fortpflanzung

(Fortsetzung)

Obwohl die Intelligenz in der Regel normal ist, sind neuro- Turner-Syndrom: 45,X/46,XX-Karyotyp
kognitive Störungen möglich (z. B. Aufmerksamkeits­ Eileiter Infantiler Lig. teres
defizitsyndrom, visuell-räumliche Wahrnehmung). Neuro­ Uterus uteri Eileiter
Harnblase
kognitive Störungen sind häufiger, wenn das vorhandene
X-Chromosom vom Vater stammt. Beispiel für die anorma-
le soziale Wahrnehmung bei diesen Patienten ist die Schwie-
rigkeit, affektive Zuneigung aus der Mimik abzuleiten. Die
Lig. teres Lig. teres
kraniale Magnetresonanztomografie und Positronen-Emis- uteri uteri
sionstomografie zeigen ein reduziertes Gewebevolumen und
einen reduzierten Glukosemetabolismus im rechten Parie-
tal- und Okzipitallappen, was zu den Störungen der visuell-
räumlichen Wahrnehmung beiträgt. Selten findet sich ein
kleines X-Ringchromosom (Karyotyp 46,X,r[X]), das oft mit
einer mentalen Retardierung einhergeht. Häufig bestehen
eine Hypothyreose (Hashimoto-Thyreoiditis), ein sensori-
neuraler Hörverlust, eine Zöliakie und Leberwertverände- Gonade Gonade
rungen. Die hohe Fraktur- und Osteoporoseneigung bei
Frauen mit Turner-Syndrom scheint multifaktoriell bedingt
zu sein, u. a. durch Östrogenmangel und die Haploinsuffizi-
enz der knochenrelevanten Gene auf dem X-Chromosom.
Außerdem entwickeln Patientinnen mit Turner-Syndrom
oft Keloid im Bereich von Operationsnarben.
Bei 45,X/46,XX-Mosaik differenzieren sich die Gonaden
oft besser, sodass im Kortex wenige, aber normal aussehende
Primordialfollikel entstehen. Bei Mädchen mit Primordialfol-
likeln vergrößert sich das Brustgewebe und schwache Menst- Stigmata des Turner-Syndroms
können fehlen Welliges Stroma ohne Keimanteile Ovarialstroma mit wenigen
ruationsblutungen treten auf. Allerdings entstehen diese ös-
Primordialfollikeln
trogenabhängigen Symptome erst spät, sodass im üblichen
Pubertätsalter das klassische Bild des sexuellen Infantilismus
besteht. Solche Mädchen können die Symptome des Turner-
Syndroms aufweisen und sind oft eher eunuchoid und groß-
wüchsig als kleinwüchsig. Bei weniger stark betroffenen
Frauen bestehen nur eine Infertilität und eine subnormale
Entwicklung der östrogenabhängigen Geschlechtsmerkmale. Gonadale Östrogenproduktion kann zur
Prävention einer übermäßigen Ausschüttung
Bei diesen Patientinnen sind Schwangerschaften möglich. hypophysärer Gonadotropine ausreichen
Virilisierungen entstehen eher bei einer gemischten
­Gonadendysgenesie durch Y-Chromosomen-Mosaik
(45,X/46,XY) (›  Abb.  4.14) und seltener durch andere
Karyotypen (z. B. 45,X/47,XYY; 45,X/46XY/47,XYY). Bei Genitale relativ normal, aber infantil; oft Aplasie oder
Hypoplasie der Labia minora
diesen Frauen besteht eine typische Gonadendysgenesie
mit Klitorisvergrößerung, intersexuellen Genitalien, hypo-
spadischem Phallus oder normal erscheinendem Penis
(› Abb. 4.20). Die Hodendifferenzierung reicht bei die-
sen Patientinnen von Stranggonaden bis zu hormonakti- Abb. 4.19 
ven Hoden. Die Geschlechtszuordnung ist häufig schwierig
und erfolgt in der Regel anhand der externen Genitalien.
Sobald das Y-Chromosom-Mosaik bestätigt wurde, ist eine
prophylaktische Gonadektomie indiziert. Maligne Keim-
zelltumoren (z. B. Dysgerminome) können aus Gonado-
blastomen oder dysgenen Gonaden hervorgehen.
Wenn sich der medulläre Anteil der Gonadenanlage bei
45,X/46/XY-Mosaik über das rudimentäre Stadium hinaus
entwickelt, führt die Produktion von gangorganisierenden
Substanzen und Androgen zu einer morphologischen Ent-
wicklung parallel derjenigen der Hoden. Wenn der Hoden
rudimentär bleibt, sind Gonadengänge und externe Geni-
talien intersexuell oder hermaphroditisch. Da die vom Ho-
den produzierte gangorganisierende Substanz unilateral
wirkt, tritt bei ungleich entwickelten Hoden eine asymme-
trische Gangentwicklung auf.
Turner-Syndrom (Gonadendysgenesie) 117

(Fortsetzung)

In den primitivsten rudimentären Hoden sind nur Tubuli-


Turner-Syndrom und gemischte Gonadendysgenesie: 45,X/46,XY-Karyotyp
netze und Leydig-Zell-Nester vorhanden. In anderen Fäl-
Eileiter Rudimentärer Uterus unicornis
len sind solide Zellstränge, die den primären Keimsträn- Lig. teres
gen entsprechen, mit reichlich mesenchymaler Matrix uteri Harnblase
durchsetzt. Die Spektren der Hodenentwicklung spiegeln
sich in allen Stadien der normalen embryonalen Hoden-
entwicklung wider. Das Hormonmuster, das in der Jugend
auftritt, erinnert oft an die Leistung der Leydig-Zellen in
utero. Sofern also diese Zellen in ausreichender Zahl vor-
handen sind, um eine Virilisierung der externen Genitali-
en in utero zu verhindern, produzieren sie in der Jugend
androgene Hormone und führen zur Entwicklung sekun-
därer männlicher Geschlechtsmerkmale. Auch Gonaden,
deren kortikale Anteile sich über das Primitivstadium hin-
aus entwickelt haben, können in der Jugend zu einer ge-
wissen Feminisierung führen.
Das Turner-Syndrom manifestiert sich klinisch zu
­unterschiedlichen Zeitpunkten. Es kann bereits bei der
­Geburt durch typische körperliche Veränderungen, das
Lymph­ödem der Extremitäten und Cutis laxa auffällig Gonade Gonade
sein, in der Kindheit durch einen Wachstumsrückstand, in
der Jugend durch das Ausbleiben der Pubertät und eine
primäre Amenorrhö oder später im Leben durch eine se-
kundäre Amenorrhö. Der Verdacht auf ein Turner-Syn-
drom besteht bei allen präpuberalen Mädchen mit Klein-
wuchs (<  2 Standardabweichungen unter der Durch-
schnittsgröße der Altersgruppe), sie haben mindestens
zwei der körperlichen Merkmale. Früher erfolgte dann ein
Wangenabstrich zum Nachweis des Barr-Körperchens
(nukleäres Heterochromatin). Da dieses Verfahren aber Gonadendysgenesie mit typi- Stroma ohne Keimepithel mit Clus-
nicht ausreichend sensitiv und spezifisch ist, wird es nicht schem Stroma ohne Keimepithel tern unreifer Tubuli seminiferi und
Leydig-Zellen
mehr durchgeführt. Bei Verdacht auf ein Turner-Syndrom
ist eine Karyo­typisierung aus dem peripheren Blut indi-
ziert. Bei etwa 75 % der Patientinnen mit Turner-Syndrom
wird ein 46,X0-Karyotyp nachgewiesen, bei den übrigen
Mosaiken (z. B. 45,X/46,XX). Die Serumspiegel von LH
und FSH sind meist in allen Altersgruppen über den Nor-
Gonadale Androgenproduktion reicht oft zur
malbereich hinaus erhöht. Prävention einer übermäßigen Ausschüttung
Die Behandlung hängt zum Teil vom Alter bei Diagno- hypophysärer Gonadotropine
sestellung und vom Vorhandensein kongenitaler Anoma­
lien ab. Der Minderwuchs entsteht zwar nicht durch
Wachstumshormonmangel, die Gabe von rekombinantem Hypospadischer Phallus und Kryptorchismus
humanem Wachstumshormon in der Kindheit, mit der in
der Regel begonnen wird, wenn die Körpergröße unter das Abb. 4.20 
5. Perzentil absinkt, beschleunigt aber das Wachstum und
führt zu einer höheren Endgröße (der typische Größenzu-
wachs beträgt 5–15 cm). Gründe für eine Östrogenersatz-
therapie sind die Induktion der Geschlechtsentwicklung
sowie die Optimierung der Knochenentwicklung in der Ju-
gend und der kognitiven Funktion. In der Regel beginnt
die niedrig dosierte Östrogenentwicklung etwa im Alter
von 13–14 Jahren. Um eine Endometriumhyperplasie zu
verhindern, wird begleitend zum Östrogen ein Gestagen
gegeben. Zur Behandlung erwachsener Patientinnen gehö-
ren regelmäßige echokardiografische Kontrollen, um kar-
diovaskuläre Anomalien rechtzeitig zu erkennen. Auf-
grund des hohen Hypothyreoserisikos muss einmal jähr-
lich der TSH-Serumspiegel bestimmt werden.
118 4  Fortpflanzung

Hirsutismus und Virilisierung


Hirsutismus ist definiert als männliches Verteilungsmus- 1 2 3 4
ter der Körperhaare bei der Frau. Zu den zahlreichen Ursa-
chen gehören neben der ethnischen oder hereditären Nei-
gung zu überschüssigem Haarwachstum die Hyperplasie
oder Neoplasien der Nebennieren oder Ovarien. Die Virili-
sierung ist eine schwerere Form des Androgenexzesses mit
Zeichen der Maskulinisierung bei einer Frau (vermehrte
Muskelmasse, Verlust der weiblichen Körperform, Tiefer-
werden der Stimme, Mammaatrophie, Klitorishypertro-
phie, Schläfenglatzen) (›  Abb.  3.16). Hypertrichose ist
kein echter Hirsutismus, sondern nur die diffuse Zunahme
der Körperbehaarung bei Frauen oder Männern. Sie kann
medikamentös bedingt sein (z. B. Minoxidil) oder im Rah-
men anderer Erkrankungen auftreten (z. B. Anorexia ner-
vosa, Malnutrition).
Das Haarwachstum erfolgt in drei Phasen: Wachstums­
phase (Anagen), Involutionsphase (Katagen) und Ruhe-
phase (Telogen). Während sich die Anzahl der Haarfollikel
im Laufe des Lebens nicht ändert, gilt dies nicht für ihre
Größe und Form. Haar ist entweder Vellushaar (nicht pig-
mentiert, fein und weich) oder Terminalhaar (pigmentiert,
dick, grob). Vellushaar findet sich fast überall auf der Haut.
Die Wachstumsphase der Terminalhaare wird in andro-
genabhängigen Körperbereichen durch Androgene sowie
durch die Größenzunahme der Haarfollikel und die Zu-
nahme des Haardurchmessers verlängert. Bei Hirsutismus
treten Haare somit in für Frauen untypischen Bereichen
auf (z. B. Gesicht, Thoraxmitte, Abdomen und Rücken).
Beim Haupthaar verkürzen Androgene die Wachstums­
phase und können zur Ausdünnung des Haares führen.
Das Ausmaß des männlichen Haarverteilungsmusters
bei Frauen wird mit der modifizierten Skala von Ferri-
man und Gallwey beurteilt (› Abb. 4.21). Das Wachs-
tum des Terminalhaars wird für neun Bereiche einge-
stuft: Oberlippe, Kinn, Thorax, oberer Rücken, unterer
Rücken, Oberbauch, Unterbauch, Oberarme und Ober-
schenkel. Jedem Bereich wird ein Punktwert von 0–4 zu-
gewiesen (0 = kein Wachstum von Terminalhaar und
4 = vollständige, starke Bedeckung). Die Punktsumme ist
der modifizierte Ferriman-Gallwey-Hirsutismus-Score.
Er beträgt bei den meisten Frauen <  8 Punkte (Höchst-
wert 36); 5–10 % der Frauen haben Punktwerte >  8 im
Sinne eines Hirsutismus. Wichtig ist die ethnische Zuge-
hörigkeit einer Frau. So haben die meisten Ureinwohne- Abb. 4.21 
rinnen Amerikas und Asiatinnen trotz gleich hoher An-
drogenspiegel eine nur geringe Körperbehaarung und
Frauen der Mittelmeerregion erheblich mehr. ron überwiegend zu Estradiol aromatisiert. Die Serum- gelmäßige anovulatorische Menstruationszyklen, Zeichen
Hirsutismus entsteht für gewöhnlich durch eine ver- Testosteronspiegel prämenopausaler Frauen hängen von eines Androgenüberschusses (z. B. Hirsutismus, Akne)
stärkte Androgenwirkung mit Anstieg der Androgenspie- der direkten ovariellen Sekretion ab (ein Drittel) sowie oder erhöhte Androgenspiegel. Das PCOS manifestiert sich
gel oder durch die vermehrte Umwandlung von Testoste- vom peripheren Umbau von Androstendion zu Testoste- für gewöhnlich unmittelbar nach Pubertätsbeginn; die
ron in das potentere Dihydrotestosteron (DHT) im Haar- ron in Fettgewebe und Haut (zwei Drittel). Erhöhte Testo- Symptome schreiten mit dem Alter allmählich fort.
follikel unter Einfluss der 5α-Reduktase. DHT wird vor al- steronspiegel beruhen in der Regel auf der Produktions- Die Hyperthekose ist eine schwere Variante des PCOS
lem im Zielgewebe produziert. Somit hängt die leistung der Ovarien und erhöhte Spiegel von DHEA-S auf und entsteht durch vermehrtes ovarielles Stromagewebe
Androgenwirkung teilweise von der Anzahl der Androgen- derjenigen der Nebennieren, während eine übermäßige mit luteinisierten Thekazellen. Es besteht ein positiver Zu-
rezeptoren und der Aktivität der 5α-Reduktase im Zielge- Produktion von Androstendion in beiden Organen mög- sammenhang zwischen dem Ausmaß von Hyperthekose
webe ab. Die Nebennieren produzieren Dehydroepiandro- lich ist. und Insulinresistenz. Hyperinsulinismus scheint die Proli-
steron (DHEA) und Androstendion. DHEA hat keine di- Das polyzystische Ovarsyndrom (PCOS) ist die häufigs- feration der interstitiellen Thekazellen zu fördern. Bei
rekte androgene Wirkung, sondern wird zu Androstendi- te Ursache des klinisch manifesten Androgenüberschus- manchen Patientinnen kommt es durch die deutlich er-
on umgebaut (das ebenfalls androgen inaktiv ist) und ses. Hirsutismus geht oft mit Adipositas, Amenorrhö und höhten Serumspiegel von Testosteron zur Virilisierung.
dieses wiederum zu Testosteron. Im Ovar wird Testoste- Infertilität einher. Diese Frauen haben in der Regel unre-
Hirsutismus und Virilisierung 119

(Fortsetzung)

Der idiopathische Hirsutismus ist zweithäufigste Diagnose


Gonadendysgenesien
bei Frauen mit Hirsutismus. Er geht mit normalen Menst-
CAH
ruationszyklen und normalen Blutandrogenspiegeln ein- Mütterliches Androgen Geschlechtschromosomale
Hypophysäres Gonadendysgenesie
her, gleichzeitig kann keine andere Ursache für den Hirsu- ACTH wird ACTH- Gemischte Gonadendysgenesie:
tismus gefunden werden. Vermutlich ist bei diesen Patien- durch Cortisol Über- Orale oder 45,X/46,XY
tinnen die Aktivität der kutanen 5α-Reduktase erhöht. nicht aus- schuss Produzierender parenterale Chimärismus: 46,XX/46,XY
reichend Tumor Gabe 46,XX-Gonadendysgenesie
Kongenitale Ursachen einer Virilisierung bei weibli- gehemmt (virilisierte XX-Frau)
chen Neugeborenen sind die kongenitale adrenale Hyper- Plazenta 46,XY-Gonadendysgenesie
plasie (CAH) mit einem Enzymmangel im Cortisolmeta- (mindervirilisierter XY-Mann)
bolismus (›  Abb.  3.13, ›  Abb.  3.14). In diesem Fall
wird das hypophysäre ACTH nicht durch den normalen ↑ Androstendion
↑ DHEA-S
Feedback-Mechanismus gehemmt und die Nebennieren ↑ Testosteron
produzieren im Versuch, Cortisol herzustellen, DHEA und
andere Androgenvorläufer. Dadurch kann es zu Klitorishy-
Klitorishypertrophie
pertrophie und Hirsutismus des Neugeborenen kommen.
Ähnlich den exogen als Tabletten oder Injektionslösungen
in der Frühschwangerschaft zugeführten Androgenen
kann ein Androgenüberschuss durch einen hormonakti-
ven Tumor von Ovar oder Nebenniere bei der Schwange-
ren zu denselben kindlichen Veränderungen führen, da
diese Steroide durch die Plazentaschranke in das Blut des
Iatrogen
Fetus gelangen können. Patientinnen mit spät beginnen- Gabe von Androgenen
der oder nichtklassischer kongenitaler adrenaler Hyper- oder bestimmter Gestagene Hohes Alter
plasie (meistens durch einen partiellen 21-Hydroxylase-
mangel) fallen oft erst nach der Pubertät durch Hirsutis-
mus und Oligomenorrhö auf (›  Abb.  3.16). Daher be-
steht eine große Ähnlichkeit zwischen den klinischen
Bildern von sich spät manifestierender kongenitaler adre-
ACTH
naler Hyperplasie und PCOS.
Androgenproduzierende Sertoli-Leydig-Zell-Tumoren Polyzystische Ovarien Diagnostische Diagnostische
Hauptkriterien Hauptkriterien
(Arrhenoblastom), Granulosa-/Thekazelltumoren und
Late-onset-CAH
Hi­lumzelltumoren gehen mit rasch progredienten Sym­
ptomen eines Androgenüberschusses und deutlich erhöh- Labor und
ten Serumspiegeln von Testosteron einher. Meist beste- Bildgebung
Arrhenoblastom
hen bei derartigen Symptomen größere Sertoli-Leydig- Tumor Thekom
Zell-Tumoren, während ovarielle Hilumzelltumoren klein ↑ Testosteron ↑ Androstendion
Hilumzellen
↑ Verhältnis LH zu ↑ DHEA-S
sind und sich oft der Bildgebung entziehen. Androgen- FSH (PCOS) ↑ Testosteron
produzierende Nebennierentumoren, die weitaus seltener + Befunde des ↑ 17-Hydroxyprogesteron
sind als androgenproduzierende Ovarialtumoren, sind transvaginalen + CT-Befunde der Adenom
Thekose Ovarialultra- Nebenniere Tumor
normalerweise adrenokortikale Karzinome, die im Über- Karzinom
(diffuse Luteinisierung) schalls
maß DHEA produzieren. Selten bilden benigne adreno-
Ovarial Adrenal
kortikale Adenome oder Karzinome Testosteron im Über-
schuss.
Im hohen Alter entsteht Gesichtsbehaarung durch adre- Abb. 4.22 
nale Androgene, die aufgrund der Ovarialinsuffizienz nach
der Menopause nicht mehr durch Östrogene ausgewogen
werden. Fraktion). Manche Krankheiten (z. B. Adipositas, Hypothy- erhöht ist. Differenzialdiagnostische Untersuchungen um-
Hirsutismus und Virilisierung können auch durch an- reose, Lebererkrankungen) reduzieren die SHBG-Bindung fassen die Bestimmung folgender Serumspiegel: DHEA-S
drogen wirkende Medikamente entstehen (z. B. Anaboli- und erhöhen die bioverfügbaren Testosteronspiegel. Daher und Androstendion (bei den meisten androgenproduzie-
ka). Weitere seltene Ursachen sind Cushing-Syndrom und liefert die Messung der bioverfügbaren Testosteronspiegel renden adrenalen Tumoren und oft auch bei kongenitaler
Glukokortikoidresistenz. ein genaueres Bild der Testosteronwirkung als der Gesamt- adrenaler Hyperplasie erhöht), TSH (Ausschluss einer Hy-
spiegel des Testosterons. pothyreose), 17-Hydroxyprogesteron um 8  Uhr vor und
Bei erhöhten Serumtestosteronspiegeln bei Frauen mit nach ACTH-Gabe (bei kongenitaler adrenaler Hyperplasie
Diagnostik Hirsutismus sind die fünf häufigsten Ursachen PCOS, meist anormal), luteinisierendes Hormon (LH) und folli-
nichtklassische kongenitale adrenale Hyperplasie, Hyper- kelstimulierendes Hormon (FSH) (erhöhter LH/FSH-Quo-
Im Blut liegt Testosteron in drei Formen vor: fest gebunden thekose, Hypothyreose und androgenproduzierende ovari- tient bei PCOS). Außerdem wird die Ausscheidung von
am sexualhormonbindenden Globulin (SHBG), locker ge- elle oder adrenale Tumoren. Der Verdacht auf androgen- freiem Cortisol im 24-Stunden-Urin bestimmt (Ausschluss
bunden an Albumin oder frei. Biologisch aktiv sind die produzierende Tumoren besteht, wenn das Serumtestoste- Cushing-Syndrom) und mittels transvaginalen Ultra-
freie und die locker gebundene Fraktion (bioverfügbare ron um mehr als das Dreifache über den oberen Normwert schalls (Ovar) oder CT (adrenal) nach Neoplasien gesucht.
120 4  Fortpflanzung

Einfluss von Geschlechtshormonen auf den weiblichen


Fortpflanzungszyklus von der Geburt bis ins hohe Alter
Von der Geburt bis ins hohe Alter durchlaufen alle weibli- später zur Ausbildung der für die Frau typischen Achselbe- ihn 2 Wochen lang vor der Degeneration. In der Schwan-
chen Säugetiere eine Reihe von biologischen Ereignissen haarung. gerschaft ist der Höhepunkt der Produktion von Chorion-
entsprechend den Phasen Säuglingsalter, Kindheit, Puber- Für die richtige Reihenfolge der Ereignisse eines norma- hormon etwa 90 Tage nach der letzten Regelblutung er-
tät (Geschlechtsreife), fortpflanzungsfähiges Erwachse- len Ovulationszyklus ist ein kompliziertes Gleichgewicht reicht, danach sinkt sie auf ein Plateau. Das Corpus luteum
nenalter und schließlich Postmenopause und Senium. Die aus Stimulation und Reaktion zwischen hypophysären Go- ist für die steigenden Spiegel von Progesteron und Östro-
physiologischen Indices zur Unterscheidung der Phasen nadotropinen und ovariellen Steroiden erforderlich. In der gen im 1.  Trimenon verantwortlich, anschließend über-
hängen in erster Linie von der Sekretion ovarieller Östro- Jugend sowie in den Wechseljahren führen kleinere Stö- nimmt die Plazenta bis zum Ende der Schwangerschaft die
gene ab. rungen zu unregelmäßigen, anovulatorischen Zyklen. Produktion. Im Laufe der Schwangerschaft steigen Östro-
Während die Ovulation die wichtigste Funktion der Ei- Beim reifen Zyklus werden in den ersten 48–72 Stunden gen und Progesteron nahezu linear an und unterdrücken
erstöcke ist, ist ihre Produktion von Östrogenen und Pro- der Menstruation die oberen zwei Drittel des Endometri- durch Hemmung der hypophysären FSH- und LH-Sekreti-
gesteron nicht minder wichtig, um alle Teile des Fortpflan- ums abgestoßen. In den nachfolgenden 2–3 Tagen wird die on die Ovarialaktivität. Die Mammae reagieren auf die zu-
zungsapparats sowie Haut, Haarwachstum, Skelett, Gefäß- blutende Oberfläche unter dem Einfluss von Östrogenen nehmende Steroidstimulation und hypophysäre Prolaktin-
und Elektrolytsystem aufrechtzuerhalten. Außerdem wir- schnell durch eine Epithelproliferation aus untergegange- ausschüttung mit einer Verlängerung der Milchgänge und
ken sich diese Hormone auf die emotionale Stabilität nen Drüsen und Arteriolen, die als Reaktion auf FSH aus -drüsen und ohne Laktation kommt es zur Kongestion.
während der Adoleszenz aus; ihr Gegenstück sind die psy- dem Hypophysenvorderlappen von zahlreichen Ovarial- Der Vaginalabstrich zeigt den deutlichen Effekt der erhöh-
chischen Veränderungen durch den Östrogenmangel nach follikeln gebildet wird, repariert. Am 12. Tag eines typi- ten Progesteronspiegel mit massiver Verklumpung der
der Menopause und nach Oophorektomie. schen 28-Tage-Zyklus aszendiert ein Follikel und reift Zellen und dem Auftreten einer besonderen Intermediär-
Bei Neugeborenen erlaubt die Plazenta das Einwirken schnell heran, gleichzeitig proliferiert das Endometrium schicht, den Navikularzellen der Schwangerschaft.
hoher Konzentrationen von mütterlichen Östrogenen vor und es kommt zur vermehrten Desquamation präkornifi- Das Wochenbett ist eine unterschiedlich lange Phase
der Geburt. Bei weiblichen Säuglingen können die Mam- zierter und kornifizierter Zellen aus der Vagina. Die Frei- der endokrinen Readjustierung. Der massive Rückgang
mae vergrößert sein und gelegentlich lässt sich aus den setzung von LH in der Zyklusmitte am 14. Tag ist für den des Östrogens nach der Plazentageburt und psychoneurale
Mamillen „Hexenmilch“ exprimieren. Die äußeren Genita- Eisprung des reifen Follikels und den Beginn der Progeste- Mechanismen des Saugreflexes führen zur Freisetzung von
lien sind frühzeitig entwickelt und das Endometrium ist ronsekretion aus dem sich rasch entwickelnden Corpus Oxytocin und Prolaktin. Das bereits durch vermehrtes
proliferiert. Die Vaginalschleimhaut besteht aus einem luteum verantwortlich. Die Endometriumdrüsen werden Wachstum vorbereitete Mammagewebe reagiert darauf
mehrschichtigen Epithel. Vaginalabstriche zeigen durch sägezahnartig und sekretorisch; der vaginale Abstrich zeigt mit Milchproduktion und -abgabe. Die Ovarialaktivität ist
die Östrogenstimulierung große, flache, polygonale Zellen eine Regression zu intermediären Zelltypen, die verklum- während der Stillzeit für mehrere Monate, oft auch für
mit kleinen pyknotischen Kernen und umfangreicher Ver- pen und ein gefältetes Zytoplasma enthalten. Bleiben Be- 1  Jahr oder länger in der Schwebe. Allerdings kommt es
hornung. fruchtung und Einnistung aus, degeneriert der Gelbkörper häufig vor dem Abstillen zur Wiederherstellung des Hypo-
Innerhalb von etwa 1 Woche postnatal bilden sich alle etwa am 26. Tag und produziert weder Östrogen noch Pro- physen-Ovar-Zyklus, sodass noch vor der ersten Men­
vorgenannten Zeichen der Östrogenstimulation. Die klei- gesteron. Dadurch schrumpft die Gebärmutterschleim- struation eine erneute Konzeption möglich ist. Die Re­
nen, neugeborenen Ovarien bestehen ausschließlich aus haut, wird ischämisch und wird ab dem 28. Tag mit einer epithelialisierung des rohen, blutenden Plazentabetts im
Primordialfollikeln und enthalten keine zur Östrogenpro- Blutung ausgestoßen. Endo­metrium dauert Tage bis Wochen. Die Vaginal-
duktion befähigten Elemente. Durch die vorbeschriebenen Veränderungen ist die ju- schleimhaut ist dünn und der Abstrich bis zur erneuten
Während der ersten 10 Lebensjahre (Kindheit), von der gendliche Brust mit Verzweigungen und Verlängerung Produktion von Östrogenen in den Ovarien relativ atro-
postnatalen Rezession bis zum Beginn der Pubertät, bilden von Milchgängen (Östrogene) und -drüsen (Progesteron) phisch.
die Ovarien allmählich interstitielles Gewebe aus einer An- gereift. In der zweiten Zyklushälfte kommt es oft zur Stau- Die Menopause ist definiert als die letzte Menstruation
sammlung von fibrösem Stroma, während eine konstante ung in den Lobuli mit erhöhter Empfindlichkeit der Areo- und tritt durchschnittlich in einem Alter von 51,4 Jahren
Abfolge von Primordialfollikel in Atresie degenerieren. lae und Mamillen. auf. Von einer vorzeitigen Ovarialinsuffizienz spricht man
Der Vaginalabstrich zeigt vorwiegend Basal- und Paraba- Östrogen und in geringerem Umfang auch Progesteron bei primärem Hypogonadismus bei einer Frau < 40 Jahre.
salzellen sowie Bakterien und amorphen Débris. Die Mam- führen nicht nur zur transienten Akkumulation von Die Ovarien enthalten keine Follikel mehr, die auf die hy-
mae bleiben infantil. Ödemflüssigkeit im Endometrium (am deutlichsten in der pophysären Gonadotropine ansprechen. Wegen des feh-
Zu Beginn der Pubertät spricht als Erster der Uterus auf sekretorischen Phase), sondern manchmal auch zu einem lenden negativen Feedbacks durch Inhibin und ovarielle
die Östrogene an. Das Endometrium proliferiert und bildet diffusen prämenstruellen Ödem im peripheren Gewebe. Östrogene wird immer mehr FSH produziert. Dieser Ös-
gerade, tubuläre Drüsen. Danach verdickt sich die Vagina Klinisch äußert sich dies durch subjektive Beschreibungen trogenmangel manifestiert sich mit senilen Veränderun-
und bildet ein mehrschichtiges Epithel mit verhornten von Blähungen, erhöhtem Körperumfang und Gewichts- gen von Mamma, Uterus, Vagina, Haut, Knochenskelett
oberflächlichen Zellen. Im Ovar entwickeln sich Primordi- zunahme. und Gefäßsystem.
alfollikel über das Stadium einer ein- oder zweischichtigen In den 10 Jahren der Adoleszenz reagiert das Skelettsys- Kindheit und Senium sind Ruhephasen der gonadalen
Granulosa mit winzigem Antrum und weisen eine mehrere tem auf Östrogen zunächst durch einen Wachstumsschub Aktivität. Die hormonellen Interaktionen während Menst-
Zellen dicke Granulosa- und Theca-interna-Schicht auf. In der langen Knochen sowie anschließend durch einen be- ruationszyklus, Schwangerschaft und Wochenbett hängen
der Mamma zeigen die Areolen eine Pigmentierung und schleunigten Epiphysenschluss – das Gleichgewicht dieser von der entsprechenden Modulationen der Östrogensekre-
eine kuppelartige Veränderung, sodass sie zu kegelförmi- beiden Vorgänge bestimmt die Endgröße. tion ab.
gen Ausstülpungen werden (›  Abb.  4.5). Es kommt zu Nach der Konzeption erhält die frühe Ausschüttung von
Fettablagerungen über Schultergürtel, Hüfte und Gesäß Choriongonadotropin aus den Chorionelementen eines
sowie zur Ausbildung der erwachsenen Beckenform und fest implantierten Embryos den Gelbkörper und bewahrt
Einfluss von Geschlechtshormonen auf den weiblichen Fortpflanzungszyklus von der Geburt bis ins hohe Alter 121

Steuerung der Entwicklung von Follikel, Endometrium und Schwangerschaft

Hypothalamus
Vaginal- Vaginal- Endo- Vaginal- Vaginal-
abstrich epithel metrium Ovar Mamma Hypothalamus Mamma Ovar Endometrium epithel abstrich
Hypophysenvoderlappen

Mütterliches

Mütterliches
Östrogen

Östrogen

Postmenopause
Säugling

Gonadotrope Hormone
Kindheit

FSH, LH und PR

bett
en
W

Woch
Fo achs

a
nt
llik en

ze
el de
Pr llik

a
r

Pl
fo
im el

Reif
er
or

Graa -
di

f Rupturierter um rie
Folli - s lute
al

Ös Corpu ne es
-

tro kel Follikel e


g d s
M

ge De ren rpu
en

n Östrogen plus m
Co teu
st
Pu

Progesteron
ru

lu
ber

at
io

n
t

ro
Pr n,

te
ol io
at

es
ife
ra ru

og
tio n st g

pr
n e a m

en
sp M 8. T ru g
has ft
e Se tro ha
e has 2
ös
r i sc he P u m r sc
Sekreto Se
r
ng
e
14. Tag
h wa
Sc

ron
ste
oge
e ru mpr
S

Serumöstrogen
Adulter Zyklus
Hypophysenhormone Ovar- und Chorionhormone

Follikel-stimulierendes Hormon (FSH) Östrogen

Luteinisierendes Hormon (LH) Progesteron

Prolaktin (PR) Choriongonadotropin

Abb. 4.23 
122 4  Fortpflanzung

Funktionelle und pathologische Ursachen


von Uterusblutungen
Hormonentzugsblutung

Das Endometrium ist das einzige Gewebe im Körper, für


das regelmäßig auftretende Nekrosen mit Abschilferung
Östrogen- Östrogen-
und Blutung gesund sind und kein Zeichen einer Krank- Progesteron- über- Östrogen-
Ungleich- schuss mangel
heit. Diese periodischen Blutungen werden durch ein fein (hohes Alter)
gewicht
abgestimmtes Gleichgewicht aus hypophysären und ovari- Hyperplastisches
ellen Hormonen gesteuert und entstehen durch die Reakti- Anormales und anaplastisches
Normale sekretorisches Endometrium Hypoplastisches
on des Zielgewebes, des Endometriums. Durch das normale Menstruation Endometrium Endometrium
An- und Abfluten von Östrogen und Progesteron im Laufe
des Monatszyklus wird das Endometrium zunächst aufge-
baut und gestützt und dann während einer Blutung abge-
stoßen. Daher folgen Blutmenge und Blutungsdauer einem
bei der jeweiligen Frau immer wiederkehrenden Muster.
Unregelmäßigkeiten weisen auf funktionelle Störungen
Eileiter- oder
oder organische Probleme hin. Nachfolgend werden die Beckenentzündung
Adenokarzinom des Endometritis und
wichtigsten pathologischen Veränderungen besprochen, Endometriums oder Pelvic Inflammatory
die zu Menorrhagien (verstärkte oder verlängerte Blutung) Uterussarkom Disease
oder Metrorrhagien (Schmierblutung oder Zwischenblu- Myom Zysten
tung) führen oder von ihnen begleitet sein können. (submu-
köses)
Die Blutung durch Abnahme oder Entzug der ovariellen Endometrium-
Steroide erklärt die nicht vorhersagbaren persistierenden Endozervikale polypen
Polypen Adenomyose
Östrogenphasen und anovulatorischen Zyklen. Anovulato- Endometriose Tumoren –
Karzinom von
rische Uterusblutungen sind azyklisch sowie von unter- Granulosazell-,
Zervix oder
schiedlicher Dauer und Stärke. Häufige Ursachen sind ju- Thekazell-
Endozervix
karzinom
gendliches Alter, perimenopausaler Status, das polyzysti- Trauma Schanker
sche Ovarsyndrom, Gewichtsverlust, Überanstrengung, Erosion
Lokale Ovarial- oder
Funktionsstörungen der Schilddrüse sowie fortgeschritte- Lokale Uterus- Eileitererkrankungen
ne Leber- oder Nierenerkrankungen. Im normalen Zyklus erkrankungen
Chorionepitheliom
steigt die Östrogenproduktion progressiv mit starkem An- Hyperprolaktinämie
stieg durch den reifenden Follikel bis zum 14. Tag an und
Hypothyreose,
führt zur Proliferation von Stroma, Drüsen und oberfläch- Hyperthyreose
lichen Spiralarterien des Endometriums. Während oder
kurz nach der Ovulation verlangsamt die zunehmende Ab- Auszehrung
gabe von Progesteron aus dem Corpus luteum Wachstum
Fortgeschrit-
und Proliferation und verändert das Gewebe zum sekreto- tene Leber-
rischen Muster. Bleiben Konzeption und Schwangerschaft Ektope Schwangerschaft erkrankung,
aus, bildet sich das Corpus luteum nach 14 Tagen zurück. Cushing-
Abort oder vorzeitige Syndrom Blutdyskrasien und
Die Produktion von Östrogen und Progesteron nimmt ab Blasen-
Plazentaablösung mole Gerinnungsstörungen
und es kommt zur Schrumpfung des Endometriums, Ver-
Placenta praevia
stopfung der Arterien, zu Sauerstoffmangel, Nekrose und
Desquamation. Die Blutung dauert in der Regel 2–7 Tage Gestagene Erkrankungen Systemische Erkrankungen
mit einem Volumen von <  80 ml. Gelegentlich entsteht
durch ein Ungleichgewicht der Östrogen- und Progeste­ Abb. 4.24 
ron­ausscheidung ein gemischtes Endometrium mit proli-
ferierenden und sekretorischen Drüsen in einem anorma- Vagina, Vulva, Urethra, Harnblase oder Darm. Lokale ova- Auch schwangerschaftsbedingte Erkrankungen führen
len Lutealphasemuster mit nachfolgender Menorrhagie. rielle oder Adnexveränderungen sind beispielsweise pri- nicht nur durch Placenta praevia, vorzeitige Plazentalösung,
Die persistierende Östrogenproduktion aus mehreren Fol- märe Malignome, wie zystische oder solide Ovarialtumo- Abtreibungen oder systemische Erkrankungen (› Bild) oft
likeln, die nicht zur Ovulation gelangen, führt zum Aufbau ren, die Steroide sezernieren. Zervixläsionen führen in der zu Uterusblutungen, sondern auch durch Extrauterin-
eines hyperplastischen Endometriums mit Nestern aus Regel nicht zu starken Blutungen, sondern eher zu Zwi- schwangerschaften oder Trophoblasterkrankungen.
anaplastischen Drüsen. Durch die unkoordinierten schen- oder postkoitalen Schmierblutungen. Zahlreiche systemische Krankheiten führen zu anor­
Wachstumsschübe der Follikel schwanken die Serumös- Lokale Uterusveränderungen, die zu anormalen Blutun- malen Blutungen. Gerinnungsstörungen (z. B. Von-Wille­
trogenspiegel. Die sporadische spontane oder medikamen- gen führen, sind Polypen, Myome, Adenomyose (ektopes brand-Krankheit, Gerinnungsfaktorenmangel und Throm-
tös bedingte Abnahme des Serumöstrogens unterminiert Endometrium im Myometrium), Hysterotomienarben, bozytenanomalien), akute Leukämien, fortgeschrittene
die Gefäßversorgung des Endometriums und leitet die Adenokarzinome des Endometriums, Uterussarkome, En- Lebererkrankungen und Antikoagulation führen meist
Veränderungen ein, die unvermeidlich zu Nekrose und dometriummetastasen, arteriovenöse Malformationen des auch an anderen Stellen zu Blutungen. Chronische Krank-
Blutung führen. Uterus, Zervix- und Endozervixkarzinome, Traumen so- heiten, wie Hypothyreose, Hyperthyreose, Hyperprolaktin­
Anormale Blutungen im Genitalbereich können aus wie eine Endometritis und Adnexitis. ämie und Cushing-Syndrom, können die Durchblutung
dem Uterus stammen sowie aus Ovarien, Tuben, Zervix, des Uterus und damit die Plazentafunktion stören.
Gynäkomastie 123

Gynäkomastie
Die Vergrößerung der männlichen Brust durch eine Zu- Physiologisch Idiopathisch Hormon- oder Medikamenteneinnahme
nahme ihrer drüsigen Komponente wird als Gynäkomastie
bezeichnet. Sie reicht von einer kaum sichtbaren, kleinen,
zentralen, subareolären Scheibe aus Mammagewebe bis zur
Ausbildung einer normalen weiblichen jugendlichen Mam- ?
ma. Sie kann uni- oder bilateral auftreten und ist oft
schmerzhaft. Bei Adipositas ist sie oft nur schwer festzustel- Parenteral Oral Topisch
Neonatal Hohes Alter
len, weil sie ganz oder teilweise auf einer Fetteinlagerung (maternales Östrogene, Testosteron, Spironolacton,
(Rückbildung) hCG, Marihuana, anabole Steroide,
beruhen kann (Pseudogynäkomastie). Der erste Schritt bei Östrogen via Pubertär
Plazenta) Haloperidol
der Abklärung einer Gynäkomastie ist die Unterscheidung
zwischen echter Gynäkomastie (Drüsengewebe), Pseudo­
gynäkomastie (Fettgewebe) und Mammakarzinom.
Histopathologisch finden sich vermehrte Milchgänge
und Stroma. Die Milchgänge sind verlängert und verzweigt
mit Knospung und Bildung neuer Gänge, aber ohne Alveo-
len. Außerdem besteht eine epitheliale Hyperplasie.
Gleichzeitig ist das Stroma vermehrt und oft hyalinisiert.
Diese Veränderungen werden durch ein verringertes Ver- Hoden:
hältnis der Androgen-Östrogen-Aktivität verursacht. Die Klinefelter-
Syndrom,
Ursache ist physiologisch (z. B. pubertäre Gynäkomastie) Hunger,
Atrophie,
oder pathologisch (z. B. Hypogonadismus, Arzneimittel, hormonaktive Refeeding
Leberzirrhose, Mangelernährung). Tumoren

Physiologische Formen

Bei Neugeborenen beiderlei Geschlechts ist eine vorüber-


gehende Brustvergrößerung durch das mütterliche Östro- Leber: Zirrhose
gen normal. Bei 50 % der Jungen tritt in der Pubertät eine
leichte, bilaterale, schmerzhafte Gynäkomastie auf (häu- Adrenokortikale
figste Form). Ursache ist die vermehrte Aromatisierung Neoplasien

von Androgenen zu Östrogenen; die Serumöstrogene er-


reichen den für gesunde Männer typischen Bereich, bevor Rückenmark:
Paraplegie, Syringo-
Testosteron entsprechend angestiegen ist. Die pubertäre myelie, Friedreich-
Selläre
Gynäkomastie klingt bei mehr als 90 % der Jungen spontan Schilddrüse: Ataxie, myotone hCG-produzierende
Raumforderung
nach 1–2 Jahren wieder ab. Bleibt sie bis ins Erwachsenen- Basedow-Krankheit Dystrophie pulmonale Neoplasie
alter bestehen, handelt es sich um eine persistierende pu-
bertäre Gynäkomastie. Bei manchen Männern kommt es Abb. 4.25 
später im Leben vermutlich durch den allmählichen Rück-
gang der Testosteronproduktion mit dem Alter zu einer Spironolacton die Wirkung von Testosteron auf die Testo­ produktion nicht betroffen ist. Dadurch sinkt der Andro-
leichten Brustvergrößerung. steronrezeptoren, verstärkt die Aromatisierung von Testo­ gen-Östrogen-Quotient und prädisponiert für eine Gynä-
steron zu Estradiol, reduziert die testikuläre Testosteron­ komastie. Bei verbesserter Ernährung klingt der sekundäre
sekretion und erhöht die Clearance von Testosteron. Hypogonadismus ab und erzeugt einen pubertätsähnli-
Pathologische Formen Primärer (Hodeninsuffizienz) und sekundärer (Hypo- chen Zustand mit verstärkter Gynäkomastie.
physeninsuffizienz) Hypogonadismus ist eine häufige Ursa- Keimzelltumoren der Hoden bilden hCG, das die testi-
Medikamente führen oft zur Gynäkomastie. Seltenere Ur- che der Gynäkomastie. Der primäre Hypogonadismus kann kuläre Testosteronproduktion ankurbelt und auch die Ak-
sachen sind Hypogonadismus (primärer oder sekundärer), durch eine genetische Anomalie (z. B. Klinefelter-Syndrom, tivität der Aromatase der Leydig-Zellen erhöht. Zudem
Leberzirrhose, Unterernährung, Hodentumoren und Hy- › Abb. 4.17) oder durch eine andere Störung der Hoden- kann hCG von Tumoren in Lunge, Magen, Niere und Le-
perthyreose. Oft kann keine Ursache gefunden werden funktion entstehen (z. B. Infektion, Trauma). Sekundärer ber sezerniert werden.
(idiopathische Gynäkomastie). Hypogonadismus entsteht meistens durch eine Krankheit Mehr als 25 % der Männer mit Hyperthyreose haben ei-
Medikamente, die zur Gynäkomastie führen können, oder ein hormoninaktives Makroadenom der Hypophyse, ne Gynäkomastie. Bei ihnen besteht eine vermehrte LH-
sind Antiandrogene (z. B. Flutamid, Spironolacton), Anti- das deren gonadotrope Zellen zerstört. Prolaktinsezernie- Sekretion, die zur vermehrten Produktion und Aromati-
biotika (z. B. Isoniazid, Ketoconazol), onkologische Wirk- rende Hypophysentumoren führen durch die Abnahme von sierung von Testosteron in den Leydig-Zellen führt. Auch
stoffe (z. B. Alkylanzien, Imatinib), Antiulzerosa (z. B. Cime- LH und FSH und nicht durch Prolaktin zur Gynäkomastie. die periphere Aromatisierung von Androgen zu Östrogen
tidin), Herz-Kreislauf-Mittel (z. B. Digoxin, Methyldopa), Bei Leberzirrhose bestehen eine erhöhte Androgenpro- ist verstärkt. Außerdem ist das sexualhormonbindende
illegale Drogen (z. B. Marihuana, Heroin), hormonelle Me- duktion in den Nebennieren und eine verbesserte Aroma- Globulin erhöht, wodurch die Konzentration von freiem
dikamente (z. B. Östrogene, Androgene, anabole Steroide, tisierung zu Östrogenen. Außerdem werden viele Patien- Testosteron sinkt.
humanes Choriongonadotropin [hCG]) und psychoaktive ten mit Leberzirrhose mit Spironolacton behandelt. Selten finden sich bei Patienten mit Gynäkomastie ös-
Substanzen (z. B. Haloperidol, Phenothiazine). Einige dieser Bei schwerer Krankheit und Hunger entsteht ein sekun- trogenproduzierende adrenale Tumoren, überwiegend
Wirkstoffe haben mehrere Wirkmechanismen. So blockiert därer Hypogonadismus, während die adrenale Östrogen- sind es adrenokortikale Karzinome.
124 4  Fortpflanzung

Galaktorrhö
Galaktorrhö (anormale Laktation) bezeichnet die Sekre­ Stimulation des Hypothalamus über sensori- Hypophysentumoren oder -fehlfunktion
tion von milchiger Flüssigkeit aus der Mamma mehr als sche Signalwege
6  Monate nach der Entbindung bei einer nicht stillenden
Frau. Sie tritt meist bilateral, seltener auch unilateral auf
und entweder spontan oder nur durch Exprimierung. Der GH
Beginn kann bis zu einer normalen Stillzeit zurückverfolgt Prolaktin
werden, nach der kein Abstillen erfolgt ist. Bei Männern ist FSH- und
eine Galaktorrhö äußerst selten. LH-Mangel
Für eine normale Laktation und Galaktopoese (Aufrecht-
erhaltung der Laktation) müssen ausreichende Mengen von
Prolaktin aus dem Hypophysenvorderlappen sowie Östrogen Östrogen-
und Progesteron aus den Ovarien für die Gangbildung und mangel

die Entwicklung von Lobuli bzw. Alveoli vorhanden sein. Das Längeres Stillen
Serumprolaktin steigt allmählich während der Schwanger- (oder Manipulation)
Akromegalie
schaft und erreicht bei der Entbindung seinen Höchstwert, Amenorrhö
etwa das Zehnfache des oberen Normwerts bei nicht laktie-
renden Frauen. Der während der Schwangerschaft steigende Afferenzen
von der
Östrogenspiegel fördert die Prolaktinsekretion durch Bin- Mamille
dung an ein Prolaktin-Response-Element an den laktotropen Pro
laktin
Hypophysenzellen. Der Saugreiz hat eine doppelte Wirkung. GH
Er fördert die Laktation und stimuliert die Freisetzung von Benigne zystische Ox
Mastopathie yto
Prolaktin und Oxytocin. Letzteres führt zur Kontraktion der cin
Myoepithelzellen der Azini, wodurch der freie Fluss von
Milch in den größeren Gängen gewährleistet ist. Die Prolak­ Hyperprolaktinämie
tin­sekretion wird durch Dopamin gehemmt, das kontinuier- mit Hypothalamus-
en
Östrog tumor, Hypophysen-
lich vom Hypothalamus freigesetzt wird und die laktotropen stielläsion oder hor-
Zellen über den Hypophysenstiel erreicht. steron moninaktivem
Proge
Die Ursachen der Galaktorrhö sind sehr unterschied- Hypophysentumor

lich, der gemeinsame Weg ist aber die Hyperprolaktin­ Endokrine Beeinflussung
Herpes zoster
der normalen Laktation
ämie. Jeder Prozess (z. B. Hypothalamustumor, Hypophy-
senstielläsionen und Makroadenome der Hypophyse), der
die Weiterleitung von Dopamin aus dem Hypothalamus zu
den laktotropen Hypophysenzellen stört, kann zur Hyper-
prolaktinämie führen. Oft manifestiert sich ein prolak­tin­ Hyperprolaktinämie
sezernierender Hypophysentumor (Prolaktinom) erstmals Psychose mit Prolaktin produ-
zierendem Hypo-
mit einer Galaktorrhö (› Abb. 1.21). Medikamente, wel- physentumor
che die Dopaminwirkung an den Dopaminrezeptoren der Neuroleptika, die
laktotropen Zellen blockieren (z. B. Risperidon, Phenothia- den Dopaminrezeptor
zin, Metoclopramid), können ebenso zur Hyperprolaktin­ blockieren
Thoraxoperationen
ämie führen wie eine primäre Hypothyreose, bei der die
vermehrte Ausschüttung von TRH aus dem Hypothalamus
die Freisetzung von Prolaktin aus den laktotropen Zellen
anregt. Chronisches Nierenversagen führt durch die ver- Störung der hypothalamischen Dopaminwirkung
mehrte Prolaktinsekretion und verminderte metabolische
Clearance zur Hyperprolaktinämie. Abb. 4.26 
Alles, was den Saugreiz beim Stillen eines Säugling si-
muliert (z. B. chronische Stimulation der Mamillen), kann Allgemein wird die Galaktorrhö am effektivsten durch
zur Galaktorrhö führen. Dieser Mechanismus ist auch für die Korrektur der Hyperprolaktinämie behandelt. Therapie
die Galaktorrhö nach Thorakotomie und anderen Brust- der Wahl bei prolaktinsezernierenden Hypophysentumo-
wandwunden, Brustwandverletzungen, Halswirbelsäulen- ren (› Abb. 1.21) sind Dopaminagonisten (z. B. Bromo-
läsionen und Herpes zoster der Brustwand verantwortlich. criptin, Cabergolin). Sie normalisieren das Serumprolaktin
Etwa 50 % der Frauen mit Akromegalie haben eine Ga- und beheben die Galaktorrhö. Obwohl die Hyperprolaktin-
laktorrhö, oft ohne begleitende Hyperprolaktinämie. ämie durch eine Kompression des Hypophysenstiels durch
Wachstumshormon ist selbst ein potentes Laktogen. hormoninaktive Hypophysentumoren mit einem Dop­
Die häufigste Ursache der Galaktorrhö, die etwa 50 % der amin­agonisten korrigiert werden kann, wirken diese Subs-
Fälle ausmacht, ist eine Überempfindlichkeit des Endor- tanzen nicht auf den Tumor selbst. Ist ein Medikament Ur-
gans Brust mit normalem Serumprolaktin und in der Regel sache der Hyperprolaktinämie, sollte auf eine alternative
regelmäßigen Menstruationszyklen. Diese Form der idiopa- Substanz umgestellt werden.
thischen Galaktorrhö tritt in der Regel nach der Entbindung
auf und persistiert bei Wiedereinsetzen der Menstruation.
KAPITEL

5 Pankreas
126 5  Pankreas

Pankreasanatomie und -histologie


Das Pankreas ist ein retroperitoneales Organ, das schräg V. cava inferior
vom Duodenum nach oben zum Milzhilus reicht. Es ist Aorta
Milz
Truncus coeliacus Magen
15–20 cm lang und wiegt 75–100 g. Die vier wichtigsten An- Vena porta
teile des Pankreas sind Kopf, Hals, Körper und Schwanz. Ductus choledochus
Der Pankreaskopf liegt in der C-Schleife des Duodenums, Omentum minus
(freier Rand) Nebenniere
posterior des Mesocolon transversum und anterior der V.
nz
cava, der A. renalis dextra und der beiden Vv. renales. Der hwa
Processus uncinatus bildet den posterioren und medialen Sc
Pankreas
Aspekt des Pankreaskopfes und liegt hinter der V. portae m
m Körper rs u
und den superioren Mesenterialgefäßen. Der Pankreashals Rechte sve
Hals tran

nu
Niere col o n
Meso

de
liegt anterior der V. portae vor den 1. und 2. Lendenwirbel- Kolon

Duo
körpern. Der Pankreaskörper liegt anterior der Aorta am
Linke

s
de
Abgang der A. mesenterica superior. Körper und Schwanz Kopf
ng Niere
ftu
liegen anterior von A. und V. lienalis und der Schwanz ante- A n ha Jejunum
rior der linken Niere. Anterior ist das Pankreas von Perito-
neum bedeckt. Die Basis des Mesocolon transversum setzt
am inferioren Rand von Pankreaskörper und -schwanz an.
Kolon
Embryogenetisch entsteht das Pankreas durch die Fu­
sion der ventralen und dorsalen Knospen. Der Gang von
der kleineren ventralen Knospe verbindet sich direkt mit
dem Ductus choledochus und wird zum Ductus pancreati- Processus uncinatus
cus. Die ventrale Knospe wird zum inferioren Anteil von
Pankreaskopf und Processus uncinatus. Der Gang aus der
größeren dorsalen Knospe drainiert direkt in das Duode- A. und V. mesenterica superior
num und wird zum Ductus pancreaticus minor. Aus der Radix mesenteri
dorsalen Knospe entstehen Körper und Schwanz des Pan­ Ductus pancreaticus accessorius
kreas. Die Gänge beider Anlagen verschmelzen im Pan­ (Santorini) Ductus choledochus
kreaskopf, sodass das exokrine Pankreas überwiegend Ductus pancreaticus
durch den Ductus pancreaticus in den Ductus choledochus 2 (Wirsungianus)
1
drainiert, der an dieser Stelle auf der Medialseite des zwei-
ten Duodenalabschnitts die Ampulla Vateri bildet. Die Ab-
2 2
leitung der pankreatischen und biliären Sekrete wird
durch den Sphincter Oddi, eine Gruppe von Muskelfasern 3
AC
an der Ampulla Vateri, kontrolliert. B
Die Gefäßversorgung des Pankreas erfolgt über zahlrei- 4
che Äste aus der A. mesenterica superior und dem Truncus 1

coeliacus. Die A. gastroduodenalis entspringt aus der A. 1


hepatica communis und versorgt Pankreaskopf und Pro-
2
cessus uncinatus. Körper und Schwanz des Pankreas wer-
den durch mehrere Äste der A. lienalis versorgt. Die A. Gering vergrößerter Schnitt Starke Vergrößerung: Pankreatische Insel:
pancreatica inferior entspringt aus der A. mesenterica durch das Pankreas 1. Azini, Azini, interkalierter Gang A (α-Zelle), B (β-Zelle)
2. Insel, 3. Interlobuläres Septum, und Zymogengranula und C (δ-Zelle).
­superior. Drei Arterien, welche die Aa. lienalis und pan- 4. Interlobulärer Gang 1. Retikulum, 2. Azini
creatica inferior verbinden, verlaufen senkrecht zur Längs-
achse des Pankreas und bilden einen Arterienbogen, der Abb. 5.1 
Kopf und Schwanz des Pankreas versorgt. Die venöse Drai-
nage erfolgt über einen anterioren und einen posterioren
Venenbogen im Pankreaskopf, der in die Vv. portae und Transmitter frei, wie Peptide und Amine (z. B. Somatosta- num drainiert. Die azinären Zellen sind reich an endoplas-
mesenterica drainiert. Die venöse Drainage aus Kopf und tin, Galanin, vasoaktives intestinales Polypeptid und Calci- matischem Retikulum und apikalen eosinophilen zymoge-
Schwanz erfolgt in die V. lienalis. Die Lymphdrainage des tonin-Gene-related-Peptid). Die intensiven abdominellen nen Granula. In den Azini liegen kleine Cluster endokriner
Pankreas erfolgt über ein diffuses Netzwerk aus Lymph­ Schmerzen bei einer Pankreatitis entstehen durch das Zellen, die Langerhans-Inselzellen. Die drei wichtigsten
gefäßen und Lymphknoten. dichte Netz aus afferenten sensiblen Neuronen. endokrinen Zellarten sind die insulinproduzierenden
Die azinären Zellen (exokrine Sekretion), die Inselzellen Das Pankreas besteht zu 85 % aus exokrinen Zellen, zu β-Zellen (75 % der endokrinen Zellen), die glukagonpro-
(endokrine Sekretion) und die Inselgefäße werden von 2 % aus endokrinen Zellen, zu 10 % aus extrazellulärer Ma- duzierenden α-Zellen (20 % der endokrinen Zellen) und
Sympathikus und Parasympathikus innerviert. Der Para- trix und zu 4 % aus Blutgefäßen und Gängen. Die exokri- die somatostatinproduzierenden δ-Zellen (5 % der endo-
sympathikus fördert die endokrine und exokrine Sekreti- nen Zellen sind in Azini (Läppchen) angeordnet, die durch krinen Zellen). In den Inseln liegen die β-Zellen in der Mit-
on, während der Sympathikus sie hemmt. Die das Pankre- Bindegewebsstränge getrennt sind, und mit einem Gang te und sind von α- und δ-Zellen umgeben.
as innervierenden Neurone setzen zudem bestimmte verbunden, der über den Ductus pancreaticus ins Duode-
Exokrine Pankreasfunktionen 127

Exokrine Pankreasfunktionen
Täglich produziert das Pankreas etwa 1 l alkalischen isoos- Sympathische Fasern
Körperkreislauf Vagusfasern
motischen Pankreassaft, der aus den azinären Zellen und Serum- (parasympathisch)
dem Ductus pancreaticus stammt. Der farblose, bikarbo- Chole- amylase und
Sekretin zystokinin -lipase Ganglion coeliacum
nat- und proteinreiche Pankreassaft spielt eine wichtige
Rolle bei der Alkalisierung des Duodenums und der Ver-
dauung. Die azinären Zellen produzieren die für die Ver- Sekretin
dauung der drei Hauptnährstoffe erforderlichen Enzyme:
Sekretin-induzierte
Amylase zur Verdauung von Kohlenhydraten (Stärke), Sekretion Pankreas
Proteasen (z. B. Trypsin) zur Eiweißverdauung und Lipa- (Flüssigkeit und
sen zur Fettverdauung. Die azinären Zellen sind pyra­ Elektrolyte)
midenförmig und weisen mit ihren Spitzen zum Lumen
des Azinus, wo die enzymhaltigen zymogenen Granula mit Neurogene oder
der apikalen Zellmembran verschmelzen, um ihren Inhalt durch Chole-
Pankreatischer Azinus
zystokinin Trypsinogen
abzugeben. Im Gegensatz zu den endokrinen Pankreas­ induzierte Ductus pancreaticus
zellen sind die azinären Zellen nicht spezialisiert und pro- Sekretion Vena portae
(Enzyme)
duzieren alle drei Arten Pankreasenzyme in derselben
Sekretin
Zellart.
Amylase wird in der aktiven Form sezerniert und hyd- Entero- Cholezystokinin
kinase Dextrine
rolysiert Stärke und Glykogen zu den Einfachzuckern Glu- Stärke Ma
kose und Maltose; Letztere wird von Darmmaltasen zu Amylase ltos e
Fettsä e
uren as
Glukose abgebaut. Die proteolytischen Enzyme werden als Fett alt Lymphatisch
Lipase M
Proenzyme sezerniert und müssen im Duodenum aktiviert G
lyz
Protein er
werden. So wird Trypsinogen im Duodenum durch eine ol

Glu
Sekretin
Trypsin
Enterokinase zu Trypsin. Die intrapankreatische Konver- Pe

kos
pti
sion von Trypsinogen wird durch einen pankreatischen de

e
sekretorischen Trypsininhibitor verhindert, um das Pan­ Dünndarm Am Peptid
ino asen
kreas vor Autodigestion zu schützen. Ein weiteres proteo- sä
ure Cholezystokinin
lytisches Enzym, das als Proenzym sezerniert wird, ist n

Chymotrypsinogen, das im Duodenum zum aktiven Chy-


motrypsin wird. Trypsin, Chymotrypsin und andere pro­ Dickdarm
teolytische Enzyme (z. B. Elastase, Carboxypeptidase A
und B, intestinale Peptidasen) spalten die Brücken zwi-
schen Aminosäuren und Peptidketten, sodass kleinere
Peptide entstehen, welche die intestinalen endokrinen Zel-
len zur Freisetzung von Cholezystokinin und Sekretin ver-
anlassen, die wiederum das Pankreas anregen, noch mehr
Verdauungsenzyme und Bikarbonat abzugeben. Die Ami-
nosäuren und Dipeptide werden aktiv in die Enterozyten
transportiert.
Normaler Stuhl des Erwachsenen (Durchschnittswerte):
Die pankreatische Lipase wird in ihrer aktiven Form se- N-Exkretion = 10–15 % der Zufuhr; 1–2 g/d
zerniert und hydrolysiert Triglyzeride zu Fettsäuren und