2018
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Abläufe
Meine
Hausmitteilung
Betr.: »Bild«, Bosch, Art Directors Club, SPIEGEL WISSEN
vereinfachen?
Unter Chefredakteur Julian Reichelt, 37, ist »Bild« In einem System, das
aggressiv wie lange nicht, und auch Reichelt selbst ist
ständig im Kampfmodus. Auf Twitter zieht der frü-
here Kriegsreporter ins Gefecht gegen Russland, er alle verbindet.
wettert gegen die ARD und empört sich über alle, die
ihn kritisieren. Wie viel davon ist Pose? Wie viel
ist Überzeugung? Die SPIEGEL-Redakteure Isabell
Hülsen und Alexander Kühn haben nach Antworten
gesucht und näherten sich dem »Bild«-Chef über
Monate. Sie begegneten dem Hardliner Reichelt, den
es nicht kümmert, wenn er sich unbeliebt macht; aber
sie entdeckten auch den Privatmann Reichelt, der
URBAN ZINTEL / DER SPIEGEL
Die Robert Bosch GmbH, gegründet 1886, galt lange als Vorzeigeunternehmen der
deutschen Wirtschaft, und dieses schmeichelhafte Image verdankte es einem Grund-
satz seines Firmengründers: Robert Bosch verlor lieber Geld als Vertrauen. Für
Mitglieder der jetzigen Firmenspitze scheint das jedoch nicht zu gelten. Schon 2015
ermittelte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen Mitarbeiter des Konzerns, die
Ermittler gingen von Beihilfe im Dieselskandal aus. Nun legen interne Dokumente,
die dem SPIEGEL vorliegen, nahe, dass Bosch möglicherweise eine viel größere Rolle
gespielt hat, als Mitinitiator des weltweiten Betrugs an Umwelt, Behörden und
Dieselkäufern. Frank Dohmen, Simon Hage und Martin Hesse beschreiben die
riskante Doppelstrategie des Unternehmens ab Seite 72
N
ach dem Eklat bei der Echo-Preisverleihung gibt lichung, Frauenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und
es kaum noch jemanden, der die prämierten Rap- Homophobie ab, behauptet der Echo-Veranstalter, der
Songs von Kollegah und Farid Bang öffentlich gut- Bundesverband Musikindustrie. Und warum ist er dann
heißt. Selbst die Mitglieder des Beirats, die den nicht dafür eingestanden, als es ernst wurde?
Preis trotz Bedenken zuließen, verurteilen die Texte jetzt Man muss gar nicht den Aufstand der Anständigen bemü-
scharf. Kulturratspräsident Christian Höppner nennt sie hen wie Gerhard Schröder im Jahr 2000 nach dem Angriff
»widerlich«, Musikratspräsident Martin Maria Krüger sagt, auf die Synagoge in Düsseldorf. Es geht alle an – in einer
sie verletzten in »unerträglicher und abstoßender Weise« Zeit eskalierender Rhetorik, in der Hass geschürt wird
ethische Grundsätze. Warum haben sie dann der Preisver- gegen Juden und Ausländer, gegen Politiker und Repräsen-
gabe zugestimmt? Die künstlerische Freiheit werde »nicht tanten des Staates. Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des
so wesentlich übertreten«, hieß es, dass ein Ausschluss Nationalsozialismus ist Jude in Deutschland unter Jugend-
gerechtfertigt gewesen wäre. lichen wieder zum Schimpfwort geworden, wird Juden
Nicht so wesentlich? geraten, nicht mit Kippa auf die Straße zu gehen. Am Diens-
Die Geschäftsordnung des Echo-Beirats enthält klare tag wurde in Berlin ein Kippa tragender Israeli geschlagen.
Hinweise, wann Inhalte gegen Normen verstoßen, etwa Dass der Angreifer Arabisch sprach, ist keine Entlastung.
wenn sie »verrohend« wirken, zu Wir reden zu Recht über impor-
»Verbrechen oder Rassenhass tierten muslimischen Antisemi-
anreizen«, Gewalt »heroisieren«, tismus, aber was ist mit dem deut-
Menschen, denen Leid angetan schen? Es ist erschreckend, dass
wurde, »in einer die Menschenwür- wir einen Antisemitismusbeauf-
de verletzenden Weise verunglimp- tragten brauchen.
fen«. All das findet sich in den Tex- Warum müssen eigentlich
ten von Kollegah und Farid Bang. immer erst der Zentralrat der
Die Songs sind frauenverach- Juden, das Auschwitz-Komitee
tend, homophob, fremdenfeindlich oder Frau Knobloch protestie-
und gewaltverherrlichend. »Mache ren? Mitunter, so scheint es,
wieder mal ’nen Holocaust«, rappt fürchten wir den Antisemitismus-
Kollegah, er verwendet immer vorwurf mehr als den Antisemi-
ANDREAS RENTZ / GETTY IMAGES
¹ Kraftstoffverbrauch: 4,8 l/100 km (innerorts), 3,8 l/100 km (außerorts), 4,2 l/100 km (kombiniert), CO2-Emissionen (kombiniert): 97 g/km. Energieeffizienzklasse B. Die
angegebenen Werte sind die „gemessenen NEFZ-CO2-Werte“ i. S. v. Art. 2 Nr. 2 Durchführungsverordnung (EU) 2017/1153, die im Einklang mit Anhang XII der Ver-
ordnung (EG) Nr. 692/2008 ermittelt wurden. Die Kraftstoffverbrauchswerte wurden auf Basis dieser Werte errechnet. Aufgrund gesetzlicher Änderungen der
maßgeblichen Prüfverfahren können in der für die Fahrzeugzulassung und ggf. Kfz-Steuer maßgeblichen Übereinstimmungsbescheinigung des Fahrzeugs höhere
Werte eingetragen sein. Die Angaben beziehen sich nicht auf ein einzelnes Fahrzeug und sind nicht Bestandteil des Angebots, sondern dienen allein Vergleichs-
zwecken zwischen verschiedenen Fahrzeugtypen. Die Werte variieren in Abhängigkeit der gewählten Sonderausstattungen. ² Unverbindliche Preisempfehlung des
Herstellers, zzgl. lokaler Überführungskosten. Andere Motorisierungs- und Ausstattungsvarianten gegen Aufpreis möglich. ³ Ein Leasingbeispiel der Mercedes-Benz
Leasing GmbH, Siemensstraße 7, 70469 Stuttgart. Stand 01.04.2018. Ist der Darlehens-/Leasingnehmer Verbraucher, besteht nach Vertragsschluss ein gesetzliches
Widerrufsrecht nach § 495 BGB. Das Angebot gilt vom 01.04. bis zum 30.06.2018 (Auftragseingang), sofern die berechnete Lieferung bis zum 31.12.2018 erfolgt.
Nur solange der Vorrat reicht und nur bei teilnehmenden smart Händlern. 4 Nicht im Leasingangebot enthalten. Abbildungen zeigen Sonderausstattungen.
Delirium
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal Bavaricum
Wir israelisieren uns Die erste Regierungserklärung
Markus Söders (leicht gekürzt)
Das israelische Militär hat in Gaza leider immer noch so aus wie G Meine Damen und Herren, manch
am Wochenende einen vor dem Geldsegen. Aber vermutlich einer glaubt, wir sind im Wirtshaus,
Tunnel zerstört, den die sind die Israelis auch an der Korrup- aber wir sind im Parlament. Wenn
Hamas unter der Grenze tion dort schuld. Politik immer nur ankündigt und
hindurch nach Israel gegra- Manchmal ändert sich die Haltung, nie schafft, was umzusetzen … Ich
ben hatte, um Waffen ins wenn man selbst erlebt, was man bis sage Ihnen nur eins: Wir eröffnen ein
Land zu schmuggeln. »Gewalt dahin nur vom Lesen kannte. Als neues Kapitel der Demokratie in
im Gazastreifen, Israel zerstört Hamas- Israel vor Jahren eine Mauer baute, Bayern. Wir bauen eine Referenz-
Tunnel«, meldete das ZDF anschlie- um sich vor dem Terror aus den Paläs- strecke. Ein Hyperloop-System, tau-
ßend auf seiner Nachrichtenseite. Ich tinensergebieten zu schützen, war die send Kilometer pro Stunde, solar-
wäre nie auf die Idee gekommen, dass Aufregung in Deutschland groß. Das betrieben, ohne Lärmbelästigung.
man als Aggressor gelten könnte, weil änderte sich auch nicht, als die Zahl Bayerische Gemütlichkeit ist ein
man sich vor Terror schützt. Für mich der Attentate nach dem Mauerbau Exportschlager in der Welt – aber
war immer derjenige der Täter, der schlagartig zurückging. Inzwischen
anderen nach dem Leben trachtet. haben wir unsere eigenen Erfahrungen
Aber ich arbeite ja auch nicht in der mit Leuten, die den Koran als Anlei-
Nachrichtenredaktion des ZDF. tung zum Selbstmordattentat lesen.
Die Israelis feiern in diesen Tagen Wenn es in dem Tempo weitergeht, mit
den 70. Jahrestag der Staatsgründung, dem der Terror bislang bei uns Einzug
was nichts daran ändert, dass Israel auf gehalten hat, ist man in Berlin oder
der Anklagebank sitzt und nicht jene München bald nicht mehr viel sicherer
Nachbarn, die Juden sofort ins Meer als in Jerusalem oder Tel Aviv.
treiben würden, wenn sie könnten. Man kann auch sagen, wir israelisie-
Israelkritik gehört bei Leuten, die auf ren uns. Wenn man den Deutschen
ihre einwandfreie Gesinnung stolz heute vorschlagen würde, sie sollten die Konkurrenz schläft nicht. Aus
sind, zum guten Ton. Der Palästinen- die Anschläge als Ausdruck der Ver- Garmisch werden künstliche Glied-
ser hingegen ist so etwas wie das Hät- zweiflung sehen und lieber nach den maßen kommen, jeder Haushalt
schelkind aller anständigen Deutschen. Ursachen des Terrors fragen, anstatt kommt ans Gigabit-Netz, und in die
Niemand hat mehr Hilfsgelder erhal- die Täter zu jagen, hätten sie auch Staatsverwaltung kommt die Block-
ten als die armen Menschen in Gaza kein Verständnis dafür. Man kann das chain. Wir entwickeln einen neuen
und im Westjordanland, sie sind ver- für eine Kapitulation vor der Realität bayerischen Supercomputer mit
mutlich das am höchsten subventio- halten – oder für gesunden Menschen- 150-facher Rechenleistung, der ist
nierte Volk der Welt. Weil das Geld verstand. dann Weltspitze. 18 000 neue Stu-
nicht in Bildung und Infrastruktur denten werden in neuen Bussen über
geflossen ist, sondern in den Bau der An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan bessere Straßen rollen. Wir wollen
Villen der Fatah-Funktionäre, sieht es Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. keine Fahrverbote, wir erfinden sau-
beren Bayernsprit. Wir wollen kei-
nen Nationalpark, wir wollen ein
Kittihawk
Raumfahrtprogramm für suborbitale,
unbemannte Flugkörper, wir nennen
es Bavaria One. Sensible Daten kom-
men in die sichere BayernCloud.
Alles ist sicher, alle bekommen Geld,
auch die einheimische Bevölkerung,
denn man darf sie nicht mehr ver-
gessen, sie hat es verdient.
Krebs wird bekämpft. Herzkrank-
heiten ebenso. Nicht nur in der Stadt,
auch auf dem Land. Das und alles
ist besonders wichtig. Es sind zen-
trale Schlüsselfragen. Nirgends sonst
gibt’s das. Das wird in die Verfas-
sungsgeschichtsbücher eingehen.
Wir werden natürlich nicht alles
schon bis zum Oktober umgesetzt
haben. Stefan Kuzmany
AB 23. APRIL
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Titel
An der Seitenlinie
Diplomatie Unter dem irrlichternden Donald Trump ist die Welt zu einem gefährlichen Ort
geworden. Ausgerechnet in diesem Moment führt die Kanzlerin Deutschland wieder
zurück in die außenpolitische Nische und überlässt Frankreichs Präsidenten Macron das Feld.
N
och hat Emmanuel Macrons Par- kel«, schrieb der britische »Economist«. keinesfalls mitgetragen: »Ich hätte mein
tei En Marche keinen einzigen Die Gefahr sei nicht, dass Deutschland zu Veto eingelegt.«
Abgeordneten im Europäischen stark werde, sondern dass es sich weigern Es ist eine merkwürdige Regression, die
Parlament, doch als der franzö- könnte, die Führungsrolle anzunehmen. Deutschland derzeit erlebt: In der Ukrai-
sische Präsident am Dienstag den Straß- Und heute? Die Welt ist zu einem ge- nekrise war es noch Merkel, die anstelle
burger Plenarsaal betritt, wirkt es, als wäre fährlichen Ort geworden mit einem Kreml- der USA die Initiative ergriff. Kurz zuvor,
er schon der Hausherr. Macron gibt Fede- herrscher, der von der alten Sowjetmacht Anfang 2014, war Verteidigungsministerin
rica Mogherini die Hand, der EU-Chef- träumt, und einem amerikanischen Präsi- Ursula von der Leyen vor der Münchner
diplomatin, er schüttelt die Rechte von denten, der Politik offenbar nicht von Sicherheitskonferenz aufgetreten und hat-
Jean-Claude Juncker, die ihm der Kommis- einem Videogame zu unterscheiden weiß te erklärt, Gleichgültigkeit sei für ein Land
sionschef eilig entgegenstreckt. Viele Ab- (»Missiles, nice and smart«). Der große wie die Bundesrepublik keine Option.
geordnete applaudieren ihm stehend, an- Knall in Syrien blieb am vergangenen Wo- »Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten
dere verschanzen sich hinter Schildern, auf chenende aus, aber das war nicht im Min- verfügen, dann haben wir auch eine Ver-
denen sie die Raketenangriffe auf Syrien desten das Verdienst Merkels, sie stand antwortung, uns zu engagieren.«
geißeln. Macron tritt ans Pult. Dort wartet am Rande, während die Großen die Dinge Trump war im November 2016 kaum
schon der Ausdruck seiner Rede, die ein unter sich ausmachten. zum neuen amerikanischen Präsidenten
schneidiger Militäradjutant soeben abge- Deutschland ist wieder Zaungast der gewählt worden, da verstieg sich die »New
legt hat. Weltpolitik, das lässt sich an vielen Beispie- York Times« sogar zu dem Satz, Merkel
Der Mann, der dem Kontinent nach len zeigen. Die Bundesregierung musste sei nun so etwas wie die letzte Verteidige-
dem Brexit und den Wahlsiegen der Popu- sich ihren Platz beim Anti-Assad-Gipfel in rin des liberalen Westens. Die Kanzlerin
listen neuen Mut eingehaucht hat, lässt hielt diesen Anspruch immer für irre, wo-
keinen Zweifel, was auf dem Spiel steht: mit sie – einerseits – natürlich recht hatte.
»Die illiberale Faszination wird jeden Tag »Merkel hat in Macron Wie soll ein Land den Westen verteidigen,
größer«, warnt er. »Die Antwort ist nicht ihren Meister gefunden. das erst einmal lange Debatten im Bundes-
die autoritäre Demokratie, sondern Auto- tag führen muss, bevor es einen einzigen
rität durch Demokratie.« In jede Lücke, die sie Soldaten in Marsch setzt?
Es sind die ganz großen Linien, die Ma- lässt, stößt er hinein.« Andererseits fühlte sich die Kanzlerin
cron entwirft, er spricht von dem Philoso- durchaus geschmeichelt. Dass sie kurz
phen Alexis de Tocqueville, dem großen nach Trumps Wahl verkündete, noch ein-
Erzähler der amerikanischen Demokratie, der kommenden Woche in Brüssel regel- mal zu kandidieren, hing auch mit dem
während die Bundeskanzlerin sich fast recht erkämpfen, bei den Sanktionen ge- Gefühl zusammen, dass sie in einer irre
zeitgleich in deutlich bescheidenerem Rah- gen Russland im Fall des Doppelagenten gewordenen Welt doch irgendwie unver-
men erst die Genehmigung für ihre Politik Sergej Skripal wurde Berlin von den Ver- zichtbar sei. Und dann, mitten im Wahl-
holen muss. bündeten vor vollendete Tatsachen gestellt. kampf, in einem Bierzelt in Trudering, sag-
Ralph Brinkhaus und Katja Leikert hei- Und in Europa hat nun Macron das Sagen. te sie jenen berühmten Satz, der so klang,
ßen die beiden stellvertretenden Fraktions- Es ist mehr als ein Symbol, dass der fran- als lasse Merkel die Nachkriegsordnung
chefs, die an diesem Dienstag vor den ver- zösische Präsident Anfang der kommen- hinter sich. Die Europäer müssten ihr
sammelten Unionsabgeordneten in Berlin den Woche mit großem Bahnhof im Wa- Schicksal in die eigene Hand nehmen.
ihre Bedenken gegen die Pläne Macrons shington empfangen wird – während Mer- Es waren Worte, die einen Wendepunkt
vortragen. Merkel tut, was sie kann, sie kel am Freitag, kurz vor dem Wochenende, in der europäischen Geschichte hätten
spannt in ihrer Rede den Bogen vom Augs- noch kurz zu einem »Arbeitsbesuch« ins markieren können, aber ernst nahm sie of-
burger Religionsfrieden bis zu den Krisen Weiße Haus huschen darf. fenbar nur Macron, der am 14. Mai 2017
der Gegenwart, Begeisterung erzeugt sie Deutschland steckt wieder in der Ni- zum neuen französischen Präsidenten ver-
keine. Am Ende kommt sie der Fraktion sche, und das liegt nicht nur an der quä- eidigt wurde. Nach knapp einem Jahr im
weit entgegen, sodass es fast scheint, als lend langen Regierungsfindung, wie nun Amt hat er Frankreich zur Lead Nation in
bestimme nicht Merkel die Richtlinien der im Kanzleramt behauptet wird. Merkel Europa gemacht, er steht jetzt da als Ver-
Europapolitik, sondern eine Handvoll Ab- hat in den vergangenen Jahren viel Kredit teidiger von Freiheit und Demokratie.
geordnete, von denen Macron wohl noch verspielt, vor allem wegen der Flüchtlings- Man muss Macron nicht in jedem
nie etwas gehört hat. politik, mit der sie fast alle Verbündeten Punkt folgen. Es gibt gute Gründe dafür,
Es ist noch keine fünf Jahre her, da wur- vor den Kopf gestoßen hat. Dazu kommt, sich einem Militärschlag zu verweigern,
den lange Essays und Leitartikel über die dass Merkel in Berlin nur noch beschränk- der von einem Mann angeführt wird, bei
hegemoniale Macht Deutschlands auf dem te Prokura hat. Jahrelang ließ CSU-Chef dem man nicht weiß, ob er eines Tages
Kontinent geschrieben. »In der EU pas- Horst Seehofer der Bundeskanzlerin in seine Handytastatur mit dem sprichwört-
siert nichts ohne das Einverständnis der der Außenpolitik freie Hand. Nun sagt er, lichen Atomknopf verwechselt. Und wenn
deutschen Bundeskanzlerin Angela Mer- einen Militärschlag gegen Syrien hätte er der künftige Europäische Währungsfonds
Politiker Macron, Merkel am Berliner Schloss: »Der macht Weltpolitik, und ich sitze hier fest«
13
Titel
dazu führt, dass der Reformdruck auf ist es das Dreifache«. Eine jüngere Frau Jean-Claude Juncker nach Macrons Rede
Schuldnerländer im Süden nachlässt, ist sorgt sich wegen der wachsenden Konkur- im Europaparlament.
niemandem gedient. renz durch Arbeiter aus den Nachbarlän- Als Macron im Januar China besuchte,
Dennoch hebt sich der französische Prä- dern, auch Macrons Militärschlag in Syrien steckte Merkel gerade in Koalitionsver-
sident wohltuend von der deutschen Kanz- kommt zur Sprache. Es sind Fragen, die handlungen mit der SPD, die Bundestags-
lerin ab, denn er hat nicht nur den Mut, es dem Präsidenten erlauben, seine euro- wahl lag da schon drei Monate zurück.
Ideen zu formen, sondern er lässt sich von päische Vision auszupacken. Seit 70 Jah- »Der macht Weltpolitik, und ich sitze hier
Widerstand auch nicht entmutigen. ren gebe es keinen Krieg in Europa, sagt fest«, sagte sie in einem besonders lang-
Wenn Macron über Europa spricht, tut er, dank der EU. »Denken Sie bei Ihrem weiligen Moment zu einem Kollegen.
er das voller Engagement, Energie und Lei- nächsten Picon daran!« Macrons Stil unterscheidet sich völlig
denschaft. Er tänzelt in der Saalmitte wie »Für mich gibt es keine rote Linie, nur von Merkels Ansatz. Er scheut sich nicht
ein Boxer im Ring, auf einem kleinen Pult Horizonte«, hat er bei seiner Rede an der vor großen Ideen, vor Pathos und Leiden-
stehen sechs volle Gläser Wasser, fünfein- Sorbonne vor sieben Monaten gesagt. Es schaft. Am ehesten ist Macron in diesem
halb wird er im Laufe des Abends leeren. steckt viel Wagemut in diesem Satz oder Punkt mit Barack Obama vergleichbar, der
Knapp zwei Stunden diskutiert Macron die Lust daran, weiter zu blicken als nur seinen Aufstieg auch der Macht der Rede
am Dienstagabend in Épinal, einem Städt- auf das, was einen unmittelbar umgibt. zu verdanken hatte.
chen am Rande der Vogesen, mit rund Aber es klingt auch Hybris mit, eine Por- Aber im Gegensatz zu Obama hat
300 Menschen über Europa. Es ist sein tion Größenwahn. Macron seinen Worten bisher immer Ta-
erster Bürgerdialog zur Zukunft des Kon- Natürlich spürt Merkel selbst, dass sich ten folgen lassen. Mitte Februar verkün-
tinents. Geht es nach Macron, soll es sol- gerade eine Machtverschiebung abzeich- dete er, dass mit dem Einsatz chemischer
che Veranstaltungen nun in der ganzen EU net. Ihre Rolle als »Königin Europas« hatte Waffen in Syrien eine »rote Linie« über-
geben, auch in Deutschland. viele Schattenseiten, in Griechenland wur- schritten wäre, jenseits derer er militäri-
Macron hat sich keine leichte Adresse de sie mit Hitlerbärtchen gezeigt, Merkel- sche Vergeltung üben werde.
für den Auftakt ausgesucht. Wie vielerorts Puppen wurden verbrannt, aber sie galt Es war nicht nur eine symbolische Aus-
in Frankreich sterben auch in Épinal die eben auch als Frau, an der man nicht vor- sage. Denn Macron benutzte nicht nur
großen Fabriken, Widerstand gegen Euro- beikam, wenn man etwas erreichen wollte. jene Formulierung, die Obama fast sechs
pa gehört hier zur Tradition, der frühere Heute wollen alle mit Macron reden. Jahre zuvor verwendet hatte; Frankreichs
Bürgermeister war einst einer der Haupt- Am Ende von europäischen Gipfelaben- Präsident setzte anschließend tatsächlich
gegner des Maastrichter Vertrags. In Épi- den verschwindet Merkel nun oft nach Raketen gegen Assad ein.
nal, so viel ist klar, wird Macron nichts ge- einem kurzen Statement rasch in ihrem Merkel käme niemals auf die Idee, Ame-
schenkt. Genau deshalb ist er hier. Hotel. Macron hingegen gibt bei solchen rikas Führungsrolle übernehmen zu wol-
Vor der Einführung des Euro habe ein Gelegenheiten in längeren Auftritten len. Sie kennt den maroden Zustand der
Picon, ein Aperitif, »am Tresen fünf Francs« gern den Weltpolitiker. »Frankreich ist wie- Bundeswehr, sie weiß um den Wunsch der
gekostet, erregt sich ein älterer Herr, »jetzt der da«, freut sich Kommissionspräsident Deutschen, nicht in die Konflikte der Welt
verwickelt zu werden. Merkels Erfolg zwei Parteien, die Sozialisten und die Kon- rauf ansprechen. Macron weiß um die
gründete immer auf ihren Pragmatismus. servativen, pulverisiert. Diese hatten über Zwänge der deutschen Kanzlerin. Er weiß,
Erst als sie in der Flüchtlingskrise eine eher Jahrzehnte die Geschicke Frankreichs be- dass es in den Reihen von CDU und CSU
idealistisch anmutende Seite zeigte, be- stimmt. genügend Abgeordnete gibt, die nichts
gann ihre Popularität zu bröckeln. Diese Erfahrung verleiht Macron ein mehr fürchten, als dass Deutschland künf-
Auch das Talent zur Inszenierung, das Selbstbewusstsein, wie es wohl kein fran- tig ein paar Milliarden Euro mehr in die
Macron zweifellos besitzt, geht Merkel zösischer Politiker seit Charles de Gaulle europäische Gemeinschaft investieren
gänzlich ab. Nie käme sie auf die Idee, eine besaß. Wenn er es schaffen sollte, Frank- könnte. Auch deshalb hat er seine Ideen
Siegesrede vor einem nationalen Symbol reich zu revolutionieren, wieso dann nicht längst auf Merkel-Maß gestutzt, in der
zu halten, anders als Macron, der am die EU, Europa, ja das Machtgefüge des Öffentlichkeit jedenfalls.
Abend der Präsidentschaftswahl vor der Westens? So spricht er in Straßburg nur noch von
Glaspyramide des Louvre sprach, einge- einem »Fahrplan, der es erlaubt, einen
läutet übrigens von der Europahymne, Schritt Richtung Bankenunion zu gehen
Beethovens »Ode an die Freude«. Als Im Gegensatz zu Obama und eine Finanzkapazität zu errichten«.
Merkel im Herbst 2013 fast die absolute
Mehrheit geholt hatte und ihre Leute in
hat Macron seinen »Fahrplan«, das klingt schon fast wie die
Kanzlerin.
der Parteizentrale siegestrunken schwarz- Worten bisher immer Merkel und ihr Finanzminister Olaf
rot-goldene Papierfähnchen schwenkten, Taten folgen lassen. Scholz nehmen das mit Genugtuung zur
sammelte sie diese ratzfatz wieder ein. Kenntnis. Schon mehrmals saßen die bei-
Merkels Aufstieg zur »Königin von den im Kanzleramt zusammen, um zu
Europa« folgte keinem Plan, sondern der Macron hat die Franzosen davon über- überlegen, wie sie auf Macron reagieren
Logik der Eurokrise. Sie war die Frau mit zeugt, dass ihre Zukunft in Europa liegt, sollen. Beide sind entschlossen, gemein-
der größten Kasse, das verlieh ihr in Brüs- entsprechend groß ist der Druck jetzt, ein sam mit dem Franzosen beim EU-Gipfel
sel Macht. Sie ging die Krise wie alle an- Jahr vor den Europawahlen, erste Erfolge im Juni einen Zukunftsplan vorzulegen:
deren Krisen an: ohne großen Plan, dafür zu präsentieren. Notfalls, das macht er bei Die Frage ist nur, was da drinstehen soll.
mit viel Verständnis fürs Detail. Am Ende seiner Rede am Dienstag vor dem Europa- Manche Vorschläge des Franzosen hal-
durfte Griechenland in der Gemeinschafts- parlament in Straßburg klar, halt ohne den ten sie für Humbug. Beide sind skeptisch,
währung bleiben, und Europa bekam ei- großen Pakt mit Berlin. ob der von Macron vorgeschlagene euro-
nen Rettungsfonds. Europa sei schon immer auch durch die päische Finanzminister eine gute Idee ist.
Während Merkel versucht, den gordi- Ambitionen »verrückter Menschen« ent- Ähnlich verhält es sich mit einem Haushalt
schen Knoten vorsichtig auseinanderzu- standen, sagt Macron. Das deutsch-fran- für die Eurozone, mit dessen Mitteln Ma-
dröseln, versucht Macron ihn entzweizu- zösische Tandem erwähnt er in seiner cron Konjunkturschwankungen innerhalb
schlagen. Er hat mal eben eine neue poli- Rede mit keinem Wort, »bewusst«, wie er des Währungsraums ausgleichen will. Es
tische Kraft aus dem Boden gestampft und sagt, als ihn die Abgeordneten später da- wäre jedenfalls das erste Budget in der
15
Titel
Wirtschaftsgeschichte, bei dem offenbleibt, den hypernervösen Nicolas Sarkozy und Putin: auf der emotionalen, halb privaten
wofür das Geld eingesetzt wird. schließlich den Unglücksraben François Ebene einen Kontakt aufzubauen, der sich
Den größten Konflikt aber gibt es über Hollande. Am Ende war ihr keiner gewach- dann politisch nutzbar machen lässt.
die Zukunft der Eurozone. Ein Kompro- sen, doch nun scheint sie in Macron ihren Merkel hat das nie gekonnt. Aber sie
miss wäre, den Rettungsschirm ESM zu Meister gefunden zu haben. In jede Lücke, galt noch vor Kurzem als die Frau, die die
einem Europäischen Währungsfonds auf- die sie lässt, stößt er hinein. Männer mit den dicken Egos von Erdoğan
zurüsten. Der könnte, so das Kalkül in Macron erkannte früh, welches Poten- über Putin bis Trump im Zaum halten
Kanzleramt und Finanzministerium, künf- zial in der Präsidentschaft von Donald kann – mit ihrem scharfen Verstand, der
tig eine Art Frühwarnsystem für die Staats- Trump liegt. Vor allem für ihn selbst. Dem »no bullshit«-Haltung und dem Ansatz,
finanzen in der Eurozone abgeben. Dazu französischen Präsidenten gelang das Gefühle so weit wie möglich aus der Poli-
könnte er eine wichtigere Rolle bei der Kunststück, sich zugleich als Antipode und tik herauszuhalten.
Bankenrettung spielen, wie es auch Ma- als oberster Verbündeter des US-Präsiden- Aber Gefühle spielen eben auch in der
cron vorschwebt. ten zu inszenieren. Weltpolitik eine Rolle. Trump hat nicht
Merkel steht vor einer Gratwanderung. Er schüttelte Trump beim G-7-Gipfel vergessen, dass Merkel die Glückwünsche
Sie muss verhindern, dass Macron Geduld so lange die Hand, bis dessen Fingerknö- nach seiner Wahl mit einer kleinen Predigt
oder Gesicht verliert. Zum anderen muss chel weiß hervortraten. Und ließ die Welt verband, Werte wie Demokratie, Freiheit
sie Rücksicht nehmen auf Widerständler umgehend wissen, warum er das getan und Menschenwürde doch bitte im Auge
in den eigenen Reihen. Viele in der Uni- hatte. Für ihn zähle vor allem Stärke, er- zu behalten. Jetzt ist Macron sein Freund,
onsfraktion beäugen die Aktivitäten des zählte Trump einer französischen Wochen- und Merkel bleibt die Rolle der Gou-
französischen Präsidenten mit Argwohn. zeitung. vernante.
»Ich habe überhaupt keine Veranlas- Es war der Beginn einer wunderbaren Der Militärschlag gegen Assad in Syrien
sung, Macrons persönliche Glücksgefühle Freundschaft. Kurz darauf lud Macron den hat Trump und Macron noch enger zu-
zu meinem politischen Programm zu ma- Amerikaner ein, mit ihm zusammen den sammengeschweißt. Die beiden telefonie-
chen«, sagt CSU-Landesgruppenchef Ale- französischen Nationalfeiertag zu bege- ren jetzt fast jeden Tag – so berichten es
xander Dobrindt. Sicher, die CSU haderte hen. Die Bilder dieses 14. Juli 2017 gingen Macrons Berater. »Das gegenseitige Ver-
schon immer mit Merkels Europapolitik, um die Welt: Macron umarmte Trump, trauen ist groß«, sagt ein Diplomat, der
doch in den vergangenen Jahren hatte Par- fast herzte er ihn. Zu viert, mit den Gat- Macron außenpolitisch berät.
teichef Seehofer das Feld Merkel weit- tinnen, dinierte man im Edelrestaurant auf Die Operation gegen das Assad-Regime
gehend überlassen. dem Eiffelturm. planten Trump und Macron zwar mit der
Mit der neuen CSU, so viel ist klar, wird Macron sei »stark« und »smart«, sagt britischen Premierministerin Theresa May,
es keine Reformbeschlüsse geben, die ei- Donald Trump seither. »Er ist mein jedoch komplett ohne die Deutschen. Sie
nen Erfolg bei der bayerischen Landtags- Freund.« kamen gar nicht auf die Idee, Berlin um
wahl im Oktober gefährden könnten. In der kommenden Woche reist Macron militärischen Beistand zu fragen, weil sie
Und selbst auf den CDU-Teil der Frak- auf Einladung des Freundes nach Washing- die Antwort bereits ahnten: ohne uns.
tionsspitze kann Merkel sich nicht mehr ton. Es ist der erste Staatsbesuch über- So blieb man in der Bundesregierung
verlassen. Ein Europapapier der Fraktions- weitgehend ahnungslos, wann und in wel-
vizes Brinkhaus und Leikert war zwar le- chem Umfang die Reaktion auf den Gift-
diglich als Positionsbestimmung deklariert. »Wir sind uns nicht immer gasangriff erfolgen würde. Der einzig ver-
In Wirklichkeit enthielt es eine versteckte einig, aber wir schätzen lässliche Informationskanal bestand zwi-
Drohung in Richtung Kanzleramt. schen Verteidigungsministerin Ursula von
Im Papier wird nämlich explizit auf den uns sehr. Wir haben viel der Leyen und ihrem US-Counterpart
Artikel 23 Abs. 3 des Grundgesetzes ver- gemeinsam.« James Mattis, dem wohl letzten Pragmati-
wiesen, der eine Stellungnahme des ker in der US-Regierung. Von der Leyen
Bundestags bei europäischen Verhandlun- und Mattis telefonieren regelmäßig, auch
gen vorsieht. Was so technisch daher- haupt, den Trump ausrichtet. Drei Tage in den Tagen nach Trumps Twitter-Dro-
kommt, hat in der Praxis enorme Konse- lang wird es um die französisch-amerika- hung gegen Russland.
quenzen: Die Regierung verliert dadurch nische Freundschaft gehen und um die zwi- Durch einen weiteren Draht zum ame-
ihre Handlungsfreiheit, sie kann sich nicht schen Donald und Emmanuel. rikanischen Militärchef Joe Dunford hatte
einfach über die Vorgaben des Parlaments Während Trump für Macron den roten man im Wehrressort so zumindest eine
hinwegsetzen. Dass die Unionsabgeordne- Teppich ausrollt, darf die Kanzlerin nur grobe Idee, wie der Vergeltungsangriff aus-
ten der eigenen Kanzlerin eine solche auf einen eintägigen Arbeitsbesuch hoffen, sehen würde. Nicht ohne Stolz gab man
Möglichkeit vor Augen führen, ist ein und das liegt nicht nur daran, dass es sich das Insiderwissen in den Tagen vor der
ziemlich ungewöhnlicher Vorgang. Auch bei Macron um ein Staatsoberhaupt han- Attacke ans Kanzleramt weiter.
wenn am Ende keine Beschlüsse gefasst delt und bei Merkel bloß um eine Regie- Trump wiederum dankte am vergange-
wurden, war die Botschaft deutlich: »Nach rungschefin. nen Wochenende demonstrativ Frankreich
der Partei hat jetzt auch die Fraktion klar- Macron ist, daran besteht kein Zweifel, und Großbritannien, weil sie sich am Mili-
gemacht, dass sie nicht gewillt ist, die Re- Trumps Ansprechpartner Nummer eins in tärschlag gegen Assad beteiligt hatten.
gierungspolitik einfach zu akzeptieren«, Europa. Zu niemandem hat er eine so per- Deutschland kommt in seiner Lobesliste
sagt ein Mitglied der Fraktionsspitze. sönliche Beziehung. »Wir sind uns nicht schon seit Längerem nicht mehr vor.
Wie aber soll eine derart gefesselte immer einig, aber wir schätzen uns sehr. Die deutsche militärische Zurückhal-
Kanzlerin schwungvoll die Zukunft Euro- Wir haben viel gemeinsam«, sagt Macron. tung kommt im Weißen Haus nicht gut an.
pas gestalten? Selbst wenn sie Ideen dazu Merkel hingegen hat es bislang nicht ge- Berlin hätte sich am Militärschlag gegen
hätte, könnte Merkel sie jetzt wohl nicht schafft, einen halbwegs belastbaren Draht Syrien beteiligen sollen, schrieb etwa Ri-
mehr umsetzen. zu Trump aufzubauen. Zugegeben, das chard Grenell auf Twitter, Trumps Kandi-
Die Kanzlerin hat in ihrer Amtszeit vier Format der Männerfreundschaft steht ihr dat für den US-Botschafterposten in Ber-
französische Präsidenten erlebt. Jacques nicht zur Verfügung, im Grunde macht Ma- lin. Grenells Lage ist bezeichnend für den
Chirac mit seinem gockelhaften Charme, cron es ja wie einst Gerhard Schröder mit traurigen Stand der deutsch-amerikani-
schen Beziehungen: Seit einem Jahr und Rolle. Jetzt hat man größte Mühe, über- abzustimmen. Er schlug vor, die russischen
drei Monaten hat Trump keinen Botschaf- haupt noch irgendwie dabei zu sein. Vertretungen in Frankreich zu schließen
ter in Berlin. Die Demokraten im US- Die Koalition der Willigen will nach und drohte mit einem Alleingang, falls sich
Senat weigern sich, seine Bestellung zu dem Militärschlag von deutschen Vermitt- Deutschland verweigern würde.
bestätigen. lungsbemühungen und Friedensinitiativen Berlin blieb nichts anderes übrig, als
Niemand in Washington versteht die zunächst nichts hören. »Unser Einfluss ist mitzumachen. Am Ende wies die Bundes-
deutsche Haltung zu den Luftschlägen in jetzt erst mal geringer geworden«, sagt ein regierung vier Angehörige der russischen
Syrien – dafür, aber nicht dabei. Anspruch Mitglied der Bundesregierung. Botschaft aus, um im eigenen Lager nicht
und Wirklichkeit deutscher Außenpolitik Zudem scheinen sich die Kanzlerin und völlig isoliert dazustehen.
klaffen zu weit auseinander. Entsprechend ihr neuer Außenminister nicht ganz einig Nun also auch Russland. Jahrelang war
widersprüchlich wirkten die Berliner Er- zu sein in der Frage, wie der politische Pro- die Russlandpolitik Merkels Domäne in
klärungen am Morgen nach der Attacke zess in Syrien organisiert werden soll: Europa. Während der Ukrainekrise erziel-
der westlichen Verbündeten. »Erforderlich Maas will Verhandlungen mit Assad aus- te sie ihre größten außenpolitischen Erfol-
und angemessen« sei der Militäreinsatz ge- schließen, im Kanzleramt sieht man das ge, nie war Deutschlands Bedeutung grö-
wesen, sagte die Kanzlerin. weniger dogmatisch. ßer als in jener langen Nacht in Minsk im
Der Außenminister zeigte im SPIEGEL- Macron und Trump fanden auch im Fall Februar 2015, als sie auf dem Höhepunkt
Gespräch (16/2018) zwar Sympathie für Skripal eine gemeinsame Linie. Nach dem der Kämpfe in der Ostukraine zwischen
den Einsatz der Bundeswehr 1999 in Ju- Anschlag auf den ehemaligen russischen Moskau und Kiew vermittelte und damit
goslawien, um das Morden im Kosovo zu Agenten in Großbritannien zögerte die verhinderte, dass sich der Krieg zum Flä-
stoppen (»Nie wieder Auschwitz«), bei Sy- Bundesregierung, Moskau schnell zu be- chenbrand auswuchs. Damals hatte sie mit
rien allerdings mochte er trotz nach Schät- strafen. Endgültige Beweise fehlen bis heu- François Hollande einen französischen
zungen mittlerweile bis zu fast einer hal- te. Aber die Briten machten Druck, sie for- Präsidenten im Schlepptau, der am Tisch
ben Million Toten keine direkte Linie von derten Solidarität und Sanktionen. Ma- einschlief, während Merkel den Weltfrie-
der Vergangenheit zur Gegenwart ziehen. cron stellte sich auf ihre Seite – gegen die den rettete.
Das sei, so Maas, »nicht die Rolle, die wir Deutschen. Merkel hielt die Amerikaner davon ab,
in Abstimmung mit unseren Partnern ein- In Berlin heißt es, Macron habe den Bri- Waffen an die Ukraine zu liefern. Sie galt
nehmen wollen«. ten und Amerikanern harte Sanktionen als die Person, die, wenn überhaupt je-
Das klang ein bisschen nach der alten angeboten, ohne das vorher mit Merkel mand, bei Putin etwas erreichen kann.
Arbeitsteilung, nach dem Motto: Die einen Doch die unzähligen Telefonate zwischen
schießen, die anderen schlichten. In Wirk- *Am vergangenen Dienstag mit seiner kanadischen Kanzlerin und Kremlherrn erweckten nur
lichkeit spielte Deutschland einfach keine Kollegin Chrystia Freeland. den Anschein eines engen Drahts. Tatsäch-
17
Titel
lich entstand zwischen Merkel und Putin Vor allem aber braucht Deutschland sche Zusammenarbeit in Europa. So sieht
nie ein Vertrauensverhältnis. Inzwischen eine Antwort auf die Frage: Wer sind wir? das übrigens auch der französische Präsi-
ist der russische Präsident seit Jahren nicht Wo stehen wir in der Konfrontation zwi- dent. Als Macron am Donnerstag neben
mehr zu einem bilateralen Besuch in schen Russland und dem Westen? Deutsch- der deutschen Kanzlerin im Berliner Hum-
Deutschland gewesen, Merkel war zuletzt land ist Teil des Westens, aber es kann sei- boldt-Forum stand, wurde er von einem
2016 in Moskau – zum 75. Jahrestag des ne besondere Verbindung nach Russland Journalisten gefragt, ob er sich ein stärke-
Überfalls auf die Sowjetunion. Nun ist nutzen, um dagegenzuwirken, dass der res deutsches Engagement in Syrien ge-
immerhin wieder ein Besuch in Planung. neue Ost-West-Konflikt weiter eskaliert. wünscht hätte.
Das wäre dann auch die erste Erwar- Die deutsche Kanzlerin benötigt, auch Er habe sich in den Tagen vor dem Mi-
tung an die deutsche Außenpolitik, wenn wenn das schwerfällt, einen besseren Draht litärschlag sehr intensiv mit »Madame la
sie ihren Anspruch auf Führung und Ver- zu Trump, auf allen Ebenen wäre es richtig, Chancelière« ausgetauscht, sagte Macron.
antwortung nicht aufgeben will. Deutsch- die Kontakte wieder auszubauen. Macron Aber ein deutscher Einsatz sei schon des-
land muss nach einer Phase der Selbst- macht es ja vor, dass es möglich ist, auf halb nicht realistisch gewesen, weil das aus
beschäftigung außenpolitisch wieder aktiv Washington Einfluss zu nehmen. Es ist im Verfassungsgründen nicht möglich sei. In
werden. deutschen Interesse, dass die Amerikaner einer solch brisanten Lage aber könne man
Macron braucht endlich eine Antwort in Syrien bleiben, um die Kurden gegen nicht »mehrere Wochen auf eine parla-
auf seine Vorschläge zur Eurozone, Berlin die Türkei zu schützen. Aber auch, damit mentarische Debatte warten«.
muss Reformen unterstützen, den Euro- überhaupt eine westliche Macht präsent Macron hätte auch sagen können:
päischen Währungsfonds zum Beispiel. ist, um Russen, Iranern und Türken nicht Kommt endlich raus aus eurer Nische.
Das wird nicht gänzlich ohne Souveräni- das ganze Feld zu überlassen. Matthias Gebauer, Julia Amalia Heyer,
tätsverzicht gehen. Trotzdem heißt es Und schließlich: Auch wenn es richtig Christiane Hoffmann, Peter Müller,
nicht, dass Berlin von dem richtigen Prin- war, dass sich Deutschland an Trumps Ralf Neukirch, René Pfister,
zip der Eurokrise – finanzielle Solidarität Abenteuer am vergangenen Wochenende Christian Reiermann,
nur gegen Strukturreformen – abrücken nicht beteiligt hat – Deutschland kann Christoph Scheuermann,
Christoph Schult
müsste. nicht auf Dauer aus Prinzip militärische
Für die Ukraine braucht es einen neuen Enthaltsamkeit üben. Deshalb wäre es nö-
Anlauf, Außenminister Maas hat das schon tig, den Parlamentsvorbehalt einzuschrän- ‣ Lesen Sie auch auf Seite 34: Im
angekündigt. Ein Land mit mehr als 40 ken. Um überhaupt die Voraussetzung zu SPIEGEL-Gespräch spricht sich Horst
Millionen Einwohnern am Rand der EU, schaffen, dass Deutschland dabei sein Seehofer für eine Vermittlerrolle
das zum Failed State zu werden droht, könnte, wenn ein Einsatz schnell erfolgen Deutschlands zwischen den USA und
Russland aus.
kann Deutschland nicht kaltlassen. muss. Und auch für eine engere militäri-
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D
as Flatiron Building auf der Fifth von einem Zweier-Dinner im Weißen Haus, Amerika zu einer Art Idol wurde, zum
Avenue ist eines dieser Hochhäu- in dem Trump ihn zur Loyalität zwingen Gegenspieler Trumps. Die saftigsten Zitate
ser in Manhattan, die jeder Tou- wollte; und schließlich unterschrieb Comey, aus dem Buch kursierten schon vorige Wo-
rist kennt: dreieckiger Grundriss, natürlich, einen Buchvertrag. che in US-Medien, meist mehr oder weni-
vorn spitz zulaufend, ein eleganter, mon- »Größer als das Amt« heißt das Werk ger persönliche Attacken gegen den Präsi-
däner Keil. Drinnen, im zweiten Stock, auf Deutsch, das diese Woche zeitgleich in denten, den Comey als notorischen Lügner
sieht es schlichter aus. Ein dunkler Flur, mehreren Sprachen erschienen ist. Der Ti- beschreibt, als Bedrohung für die Vereinig-
auf dem Boden Bücherkartons, es riecht tel spielt auch auf die Körpergröße des Au- ten Staaten und den Westen.
nach Filterkaffee. James B. Comey, 57, der tors an, mit 2,03 Metern ist er nur zehn Was dieses Buch spannend macht, ist
frühere FBI-Direktor, zwängt sich in eine Zentimeter kleiner als der Basketballer sein Autor. Comey nimmt den Leser mit
Kammer des Verlags Flatiron Books, der Dirk Nowitzki. Es ist das zweite umfassen- in die New Yorker Halbwelt aus Mafiaclans
die engen Räumlichkeiten belegt. de Enthüllungsbuch der Trump-Ära, nach und Finanzbetrügern, wo er seine Karriere
Er wirkt locker, fast vergnügt – es ist sein »Feuer und Zorn« des Journalisten Michael als Staatsanwalt beginnt. Er erlebt als stell-
einziges Interview mit einem deutschspra- Wolff. Im Gegensatz zu Wolff vertretender Justizminister die
chigen Medium. Comey ist nach seiner öf- aber kann Comey einen exklu- Debatte um Folter im irakischen
fentlichen Demütigung auf dem Zenit sei- siven, langfristigen Zugang ins Gefängnis Abu Ghuraib mit, bis
nes Ruhms angelangt. Vor fast genau einem Innerste der Macht vorweisen – ihn Obama zum Chef des FBI er-
Jahr, am 9. Mai 2017, warf ihn Donald außerdem besitzt er das gefähr- nennt. Sein Vorgänger und Men-
Trump in einer unerhörten Wutaktion aus liche Wissen eines Juristen, der tor ist übrigens ebenjener Robert
dem Amt, weil das FBI dem Präsidenten das Räderwerk von Washington Mueller, der dem Präsidenten seit
in dieser »Russland-Sache« – wie er sie in- und auswendig kennt. Comeys Rauswurf als Russland-
nannte – zu nahe gekommen war. Seither Comey schreibt mit der Präzi- Sonderermittler zusetzt.
hat Comey Trump auf verschiedenste sion eines Staatsanwalts, dem Ta- Trump steht nun durch seine Af-
Weise das Leben schwer gemacht. Er lent eines Romanciers und dem James fären, Mueller, die FBI-Ermittlung
spielte der Presse Aufzeichnungen zu, die Ehrgeiz eines begabten Narzissten. Comey: gegen seinen Anwalt Michael Co-
Größer als
er als FBI-Direktor nach Begegnungen mit Sein überwölbendes Thema sind das Amt.
hen sowie das Comey-Buch stär-
Trump angefertigt hatte, die sogenannten die Prinzipien guter, ethischer Füh- Droemer; ker unter Druck denn je. Und das
Comey-Memos; er erzählte vor einem Se- rung. Er weiß, dass er, der einstige 384 Seiten; in einer Zeit, in der ihn auch die
natsausschuss in literarischer Detailtiefe Republikaner, für das linksliberale 19,99 Euro. Weltpolitik herausfordert.
20
BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Comey, lassen Sie uns hielt eine Rede vor Mitarbeitern. Sie wa- es ist sehr wichtig, dass wir nicht einfach
gleich zur Sache kommen. ren in einem großen Raum versammelt, abstumpfen. Unsere Anführer dürfen sich
Comey: Ja. Haut drauf, haut drauf! an dessen Rückwand drei Fernsehbildschir- nicht auf diese Weise verhalten. Wir kön-
SPIEGEL: Sie haben ein Buch über gute me hingen. Ich sprach über die Werte des nen das nicht als eine Art Hintergrundrau-
Führung geschrieben, in dem es bei Wei- FBI und unsere Mission, als ich plötzlich schen akzeptieren.
tem nicht nur, aber doch sehr viel um Do- die Meldung auf den Bildschirmen sah: SPIEGEL: Sie greifen Trump in Ihrem Buch
nald Trump geht. Und nun haben Sie auch »Comey tritt zurück.« Ich dachte, es sei aber auch persönlich an und schreiben,
noch gesagt, Trump sei »moralisch unge- ein Scherz meiner Mitarbeiter. Ich sagte: dass er klein wirke, mit einem orangefar-
eignet«, Präsident zu sein. Warum? »Da habt ihr euch aber viel Arbeit ge- benen Teint und hellen Halbmonden unter
Comey: Wer über Frauen spricht und sie macht.« Dann wechselte die Nachricht zu den Augen, vermutlich von der Schutzbril-
behandelt, als wären sie ein Stück Fleisch, »Comey gefeuert«. Eine bizarre Erfahrung. le im Solarium. Sie erwähnen sogar, dass
wer dauernd große und kleine Lügen ver- SPIEGEL: Wollten Sie sich mit dem Buch seine Hände kleiner seien als Ihre. Beschä-
breitet und wer bei den Vorgängen in Char- an Trump rächen? digen Sie mit diesen etwas billigen Atta-
lottesville im vergangenen Jahr eine mo- Comey: An Rache bin ich wirklich nicht cken nicht Ihr eigenes Argument über Mo-
ralische Äquivalenz sah zwischen Rechts- interessiert. Eigentlich würde ich das alles ral und Anstand?
extremisten und jenen, die gegen sie viel lieber nicht tun, aber ich habe mir ge- Comey: Ich finde nicht, dass das Angriffe
protestierten – der ist in meinen Augen sagt: Ich kann nützlich sein, vor allem jetzt. sind, so habe ich das zumindest nicht be-
moralisch ungeeignet, Präsident zu sein. Ich habe eine Pflicht, das zu tun. Und des- absichtigt, und ich glaube auch nicht, dass
Ich habe es auch deshalb gesagt, weil nach halb tue ich es. sie so verstanden werden können. Ich bin
»Feuer und Zorn« die Frage kursierte, ob SPIEGEL: Der Präsident hat Sie einen zum ersten Mal Autor, mein Verleger hat
er aus gesundheitlichen Gründen ungeeig- »Schleimbolzen«, einen »Lügner«, einen mir den Tipp gegeben: Nimm den Leser
net sei. Dafür wiederum habe ich keine »Leaker« genannt, und klargemacht, dass mit, zeig ihm, was dir durch den Kopf geht,
Anzeichen gesehen. Sie ins Gefängnis gehörten. Ihre Reaktion? er soll mit dir im selben Raum sein. Und
SPIEGEL: Es ist fast genau ein Jahr her, Comey: Erstens ein Schulterzucken. Und als ich zum ersten Mal Trump gegenüber-
dass Donald Trump Sie überraschend als zweitens: Das kann uns allen nicht gleich- stand, fiel mir sein oranges Gesicht auf –
Direktor des FBI gefeuert hat. Wie haben gültig sein. Es ist nicht normal in diesem er hatte diese Ringe unter den Augen, auch
Sie das damals erlebt? Land, dass der Präsident sagt, ein Bürger sein Haar war sehr beeindruckend. Ich
Comey: Es war surreal. Ich war gerade zu müsse ins Gefängnis. Das steht nicht im wollte mich nicht über die Größe seiner
Besuch im FBI-Büro in Los Angeles und Einklang mit amerikanischen Werten, und Hände lustig machen. Ich erinnerte mich
ALEX BRANDON / AP
Gefeuerter Comey vor dem Senat am 8. Juni 2017, FBI-Chef Comey mit Präsident Trump im Weißen Haus am 22. Januar 2017
daran, dass es im Wahlkampf einmal diese Comey: Sein einziges Referenzsystem sein sollte. Vielleicht, weil ich überrascht,
Episode mit der Größe von Trumps Hän- scheint intern zu sein: Was ist gut für mich? fassungslos war. Aber ich weiß auch nicht,
den gab. Daran musste ich denken, als ich Was bringt mir die Bestätigung, die ich wie viele Leute sagen würden: »Herr Prä-
ihm zum ersten Mal die Hand schüttelte – brauche? sident, das dürfen Sie nicht sagen.« In ge-
wie groß ist sie? SPIEGEL: Sie schreiben, er habe von An- wisser Weise habe ich das ja aber getan,
SPIEGEL: Sie haben wirklich nicht erwar- fang an versucht, Sie zu einer Art Kompli- weil ich auf seine Bitte zunächst mit
tet, dass Trump zurückschlägt, wenn Sie ze zu machen. Bei einem Treffen im Wei- Schweigen reagierte und, obwohl es
über die Größe seiner Hände schreiben? ßen Haus schien er Sie sogar auf die Wan- schwierig war, überhaupt zu Wort zu kom-
Comey: Der Gedanke ist mir nie gekom- ge zu küssen. men, immer wieder erwähnte, wie wichtig
men. (Er grinst.) Comey: Dieser angebliche Kuss war kein die Distanz zwischen dem Präsidenten,
SPIEGEL: Sie trafen Trump zum ersten Mal Kuss. Aber die Szene war kaum auszuhal- dem Justizministerium und dem FBI ist.
Anfang Januar 2017, als Sie ihn mit den ten, sie spielt sich bis heute in meinem Trotzdem kam er wieder darauf zurück
Chefs von CIA und NSA zur Einmischung Kopf in Zeitlupe ab. Ich wollte mit allen und fragte noch einmal.
Russlands in die Präsidentschaftswahl in- Mitteln vermeiden, dass es so aussieht, als SPIEGEL: Am Ende haben Sie beide sich
formierten. Das Treffen im Trump Tower stünde ich dem Präsidenten nahe. Seit Wa- dann auf »ehrliche Loyalität« geeinigt.
in New York erinnerte Sie an die Begeg- tergate gibt es in den USA eine Tradition, Comey: Ja. Er sagte noch einmal, dass er
nung mit einem Mafiaboss. Wie kommen dass das FBI eine Distanz zum Präsidenten Loyalität brauche, und ich sagte: »Sie wer-
Sie darauf? einhält – zu große Nähe war damals einer den von mir immer Ehrlichkeit bekom-
Comey: Ich kenne die Mafia gut von mei- der Fehler von FBI-Chef J. Edgar Hoover. men.« Er antwortete: »Das ist es, was ich
ner Arbeit als Staatsanwalt in Manhattan SPIEGEL: An jenem Tag empfing Trump will. Ehrliche Loyalität.« Das habe ich
in den Neunzigerjahren. Als der gewählte die Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden, dann akzeptiert, um irgendwie aus dieser
Präsident und sein Team sofort darüber um ihnen für ihre Arbeit während seiner unangenehmen Konversation herauszu-
sprachen, was der beste politische »Spin« Amtseinführung zu danken. Sie als FBI- kommen und auch weil ich dachte, dass
für dieses Russland-Thema wäre, während Chef wollten zuerst gar nicht hingehen … ich klargemacht hätte, wie er »ehrliche
wir noch mit am Tisch saßen, da drängte Comey: Als ich dann dort war, habe ich Loyalität« verstehen soll.
sich dieses Bild in meinen Kopf. Es fühlte versucht, mich mit meinem blauen Anzug SPIEGEL: Bei Ihrem ersten Treffen mit
sich an wie der Versuch eines Mafiabosses, zwischen den blauen Vorhängen unsicht- Trump am 6. Januar 2017 mussten Sie ihm
Neulinge in die Familie zu integrieren. Ich bar zu machen. Nach der ganzen Aufre- von einem Bericht des britischen Ex-
versuchte, das Bild zu verdrängen, es wirk- gung mit Hillary Clinton war ich besorgt, Spions Christopher Steele erzählen. Darin
te erst ein wenig dramatisch auf mich, aber dass ein falscher Anschein entstehen könn- wird unter anderem behauptet, er sei in
es kam wieder, auch bei weiteren Treffen. te. Aber Trump rief mich zu sich. Ich ging Moskau in einem Hotelzimmer mit Pros-
SPIEGEL: Trump als Mafiaboss – ist das quer durch den Raum, entschlossen, mich tituierten gewesen. Was haben Sie ihm ge-
nicht ein bisschen übertrieben? nicht umarmen zu lassen. Das konnte ich nau gesagt?
Comey: Ich sage nicht, dass er Beine bricht, zwar vermeiden, aber Trump zog mich Comey: Ich wollte ihn darauf aufmerksam
Brandbomben in Läden wirft oder Last- nach unten und flüsterte mir ins Ohr: »Ich machen, dass dieses Material in der Welt
wagen entführt. Aber der Führungsstil äh- freue mich wirklich auf unsere Zusammen- ist. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich die
nelt sich. In der Mafia ist der Boss alles, arbeit.« Weil die Kameras auf der anderen Anschuldigungen glaube – aber wir von
das oberste Gebot ist Loyalität. Die meis- Seite waren, haben alle, auch meine Kin- den Sicherheitsbehörden dachten, es sei
ten ethisch verantwortlichen Anführer ha- der, einen Kuss gesehen, obwohl da keiner unsere Pflicht, ihn zu informieren. Ich
ben externe Referenzpunkte, an denen sie war. Das sah gar nicht gut aus. habe nicht alle Details genannt. Ich habe
sich bei Entscheidungen orientieren – sei SPIEGEL: Es kam dann zu einem mittler- von Prostituierten in Russland gesprochen,
es Philosophie, Religion, Logik, Tradition, weile berühmten Abendessen zu zweit. aber ich hielt es nicht für notwendig,
Geschichte. Aber bei den Mafiachefs, mit Dort verlangte Trump, dass Sie ihm Ihre über den Teil zu sprechen, der auch als
denen ich über die Jahre zu tun hatte, geht persönliche Loyalität zusichern. Warum »golden shower« bezeichnet wird. Mir war
es immer nur um den Boss. Was kannst haben Sie nicht einfach gesagt, dass sich das alles sehr unangenehm. Ich schaute
du für mich tun, wie dienst du mir? Mich dieses Ansinnen nicht gehört? auf mich selbst herunter und dachte: Was
erinnerte das an Trumps Führungskultur. Comey: Das ist eine sehr gute Frage. Viel- mache ich hier? Wie bin ich hier hinein-
SPIEGEL: Trump geht es nur um Trump? leicht, weil ich nicht so stark bin, wie ich geraten?
SPIEGEL: Sie haben ihm also nicht gesagt, zwischen allgemein bekannt ist, dass ein schen Kämpfe. Und wenn Trump aus dem
dass die Prostituierten laut dem Bericht Mitarbeiter Trumps mit einem Vertreter Amt gejagt wird, zementieren sich nur un-
aufeinander uriniert haben sollen? Russlands in Kontakt war. Es ging darum, sere Differenzen. Wir sollten besser bei der
Comey: Nein, das habe ich nicht. E-Mails zu erhalten, die Hillary Clinton nächsten Wahl für unsere Werte eintreten.
SPIEGEL: Wie hat er reagiert? schaden könnten. Ich weiß nicht, welche SPIEGEL: Machen Sie sich Sorgen, dass
Comey: Abwehrend. Er hat mich sehr Schlüsse daraus folgen werden, aber wenn Trump Sonderermittler Mueller feuern
schnell unterbrochen und fing an, über die Mueller seine Arbeit zu Ende machen darf, könnte?
Anschuldigungen zu reden, die etliche Frau- wird er die Wahrheit herausfinden. Comey: Natürlich mache ich mir Sorgen.
en gegen ihn erhoben hatten. Er stellte mir SPIEGEL: Hat Trump die Justiz behindert, Es wäre ein enormer Fehler und ein An-
die Frage – ich denke, sie war rhetorisch als er Ihnen nahelegte, die Ermittlungen griff auf den Rechtsstaat. Es wäre auch aus
gemeint –, ob er aussehe wie ein Typ, der gegen seinen kurzzeitigen Sicherheitsbe- praktischer Sicht ein Fehler, denn so wich-
die Dienste von Huren brauche. Das Ge- rater Michael Flynn einzustellen, und Sie tig der Sonderermittler ist, ich bin mir si-
spräch geriet nach meinem Gefühl außer darauf schließlich entließ? cher, dass die Arbeit von anderen fortge-
Kontrolle, und da habe ich ihm gesagt, dass Comey: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. setzt würde. Um das zu verhindern, müss-
wir nicht gegen ihn persönlich ermitteln. Es gibt Indizien dafür, dass er sich der Jus- te der Präsident jede einzelne Person im
Ich dachte, das sollte er wissen, weil klar tizbehinderung schuldig gemacht hat, vor Justizministerium und im FBI feuern, und
war, dass die Medien bald darüber berich- allem im Zusammenhang mit dem Treffen, das kann er nicht.
ten würden. Eine unserer Aufgaben beim in dem es um Flynn ging. In dieser Sache SPIEGEL: Muellers Ermittlung dreht sich
FBI ist es, das Präsidentenamt zu beschüt- bin ich ein Zeuge, ich kann nicht sagen, auch um die Frage, ob der Präsident die
zen. Und wenn jemand in Gefahr ist, er- zu welchem Schluss der Sonderermittler Justiz behindert hat, dafür sind Sie einer
presst zu werden, dann gehen wir unter an- kommt. der wichtigsten Zeugen. Besteht nicht die
derem so vor, dass wir die betroffene Per- SPIEGEL: Sollte gegen Trump ein Amts- Gefahr, dass Sie sich durch Ihr Buch und
son informieren, dass wir davon wissen. enthebungsverfahren eingeleitet werden? Ihre deutlichen Kommentare über den Prä-
SPIEGEL: Hat Trump verstanden, dass es Comey: Zunächst einmal werden die Ge- sidenten selbst beschädigen?
um etwas Ernstes geht? setze, die Fakten und unsere Verfassung da- Comey: Das ist eine begründete Frage,
Comey: Ich glaube schon, denn später rief rüber entscheiden. Aber ich hoffe, auch aber ich denke das nicht. Meine Aussage
er mich wieder an, weil er mit mir darüber wenn es seltsam klingen mag, dass es kein ist abgeschlossen, ich habe vor dem Senat
reden wollte. Impeachment-Verfahren gibt. Denn damit darüber Auskunft gegeben. Ich habe Me-
SPIEGEL: Das FBI soll das Präsidentenamt würden die Amerikaner aus der Verantwor- mos über die wichtigsten Begegnungen ge-
beschützen, aber zur gleichen Zeit er- tung entlassen. Wir haben gemeinsame Wer- schrieben, das heißt, es gibt Protokolle.
mittelten Sie gegen Leute, die dem Präsi- te, die bedeutsamer sind als unsere politi- Und ich erzähle konsistent die Wahrheit.
denten nahestanden, wegen der russischen
Einflussnahme auf die Wahl. Ist das nicht
ein grundsätzlicher Konflikt?
Comey: Das kann es sein. Es gibt ein na-
türliches Spannungsverhältnis zwischen
den Verpflichtungen des FBI, die Regierung
zu beschützen und gegen Teile der Regie-
rung zu ermitteln. Aber ich denke, das ist
ein Konflikt, der sich bewältigen lässt.
SPIEGEL: Hielten Sie dieses sogenannte
Steele-Dossier damals für wahr?
Comey: Damals wusste ich es nicht. Es
kam von einer verlässlichen Quelle, die
ein bestehendes Netzwerk von russischen
Kontakten hatte. Und ich wusste auch,
dass eine zentrale Feststellung dieser Ma-
terialsammlung zutreffend war, nämlich
dass die Russen eine gewaltige Anstren-
gung unternommen hatten, um die Wahl
zu beeinflussen. Die Leute sagen immer
wieder, das Dossier sei unbestätigt. Dieser
Teil war wahr. Was den Rest angeht, in-
klusive der schlüpfrigen Teile, wusste ich
BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL
23
Titel
SPIEGEL: Aber Sie könnten als parteiisch SPIEGEL: Der Vorwurf gegen Sie lautet,
gesehen werden und damit die Glaubwür- Sie hätten sich zu sehr ins Rampenlicht ge-
digkeit Ihrer Aussagen beschädigen. drängt. Sie geben selbst zu, manchmal zu
Comey: Vielleicht. Wenn mich allerdings sehr von Ihrem Ego angetrieben zu wer-
Comey bei der Vorstellung als designierter FBI-Chef am 21. Juni 2013, Wahlkämpferin Clinton im Oktober 2016
24
wird, dass es keinen Sinn mehr ergibt zu
bleiben.
SPIEGEL: Sie wären geblieben?
Comey: Ich wäre auf jeden Fall geblieben,
weil ich mich verpflichtet gesehen hätte,
das FBI zu beschützen.
SPIEGEL: Sie vergleichen diese Präsident-
schaft mit einem Waldbrand. Was macht
Trump so gefährlich für Amerika?
Comey: Einer der wichtigsten Werte in die-
sem Land ist die Wahrheit. Wir haben Prä-
sidenten immer nach der Entfernung be-
urteilt, die sie zur Wahrheit hatten. Als
George W. Bush über den Irakkrieg sprach
oder Barack Obama über das Gesundheits-
wesen, haben wir immer gefragt: Erzählen
sie uns die Wahrheit? Die Gefahr ist, dass
Donald Trump so häufig lügt, dass wir die-
ses Fundament verlieren.
SPIEGEL: Ein Waldbrand – glauben Sie,
dass Trump alles niederbrennt?
Rüstung
Die Bundeswehr muss wohl noch länger auf neue Drohnen die genauen Umstände der Vergabe herstellen.« Im Haushalts-
warten. Grund ist ein Streit um die Anschaffung israelischer ausschuss des Bundestags regt sich ohnehin Widerstand. Denn
Drohnen vom Typ »Heron TP«. Das US-Konkurrenzunterneh- die Parlamentarier sollen 800 Millionen Euro für das Geschäft
men General Atomics erwägt eine Wettbewerbsklage für den freigeben, obwohl es noch keinen Haushalt für das Jahr 2018
Fall, dass ein Leasingvertrag mit dem israelischen Hersteller IAI gibt, in dem die Anschaffung eingestellt wäre. Der Linken-Abge-
zustande kommt. Die Amerikaner argumentieren, dass die Droh- ordnete Andrej Hunko plädiert dafür, das entstandene »Chaos«
nen gemäß der ursprünglichen Beschaffungsvorlage bewaffnet für eine grundsätzliche Debatte über Drohnen und deren künf-
werden sollten. Dies soll in der aktuellen Vorlage auf Wunsch tige Bewaffnung zu nutzen, wie es der Koalitionsvertrag vorsehe.
der SPD gestrichen werden. »Die Bundesregierung bewegt sich Im Verteidigungsministerium heißt es, man halte an dem Plan
auf rechtlich dünnem Eis«, sagt der Grünen-Verteidigungs- fest, das Parlament noch vor der Sommerpause mit dem Droh-
experte Tobias Lindner: »Sie muss dringend Transparenz über nenvertrag zu befassen. GT, MGB, ROM
Extremismus Dienst bekannt, heißt es in einem vertrau- waffen abgenommen worden, so das
Reichsbürger in Uniform lichen Lagebild der Behörden. Allein bei
der bayerischen Polizei laufen gegen elf
Bundesinnenministerium. Den Truppen-
gerichten der Bundeswehr liegen vier Fälle
Dutzende Beamte stehen der obskuren mutmaßliche Reichsbürger in Uniform von Soldaten und der Fall eines Beamten
Reichsbürger-Bewegung nahe, die die Disziplinarverfahren, fünf Beamte wurden zur Entscheidung vor, die nach internen
Existenz der Bundesrepublik bestreitet. nach Angaben des dortigen Innenministe- Ermittlungen den »Reichsbürgern« ange-
Dem Verfassungsschutz sei »eine im riums vom Dienst suspendiert. Bei der hören sollen. Gegen acht weitere Soldaten
hohen zweistelligen Bereich liegende Zahl Bundespolizei gibt es sieben Verdachts- laufen Vorermittlungen des Militärgeheim-
von Verdachtsfällen« im öffentlichen fälle, vier der Polizisten seien die Dienst- diensts MAD. KNO, MGB, WOW
Psychiatriegesetz jeder von uns geraten, zumal der Ge- Da hilft keine Datensammelei. Hilfreich
setzentwurf nicht unterscheidet, etwa wäre dagegen eine Zentralstelle zur Erfas-
SPIEGEL: Das Gesetz soll Kranken helfen zwischen Menschen mit Psychose und sung von Polizeigewalt gegen psychisch
und verhindern, dass sie unter Zwang in Depressiven. Ich kann mir auch kein Kranke.
eine Klinik eingewiesen werden. Was kri- Szenario vorstellen, in dem es einem SPIEGEL: Warum?
tisieren Sie? psychisch Kranken nutzen würde, wenn Finzen: In manchen Situationen bleibt
Finzen: Die Passagen zu Hilfe und Kri- man seine Daten speichert. Im Gegenteil. der Polizei nichts anderes, als Gewalt
senintervention sind gut, aber zu kurz. Kranke würden sich hüten, von sich aus anzuwenden, auch in Formen, die von
Dem Gesetz fehlt jeglicher Respekt vor in eine Klinik zu gehen oder zur Krisen- den Betroffenen als demütigend empfun-
den Kranken. Es ist darin immer nur von intervention, wenn sie fürchten, von den werden. Da brauchen wir Transpa-
»Untergebrachten« die Rede. Alles dreht dort in eine Art Überwachungssystem zu renz. Pro Jahr werden in Deutschland
sich um Freiheitsentzug für Menschen, bei geraten. aber auch fünf bis sechs psychisch Kranke
denen man fürchtet, dass sie sich selbst SPIEGEL: Das neue Gesetz soll auch der von der Polizei getötet. In der Regel tra-
oder andere verletzen könnten. Kranke in Gefahrenabwehr dienen. gen Kranke keine Schusswaffen. Sie wer-
Krisensituationen werden wie Menschen Finzen: Hier wird der Eindruck erweckt, den erschossen, weil die Polizei nicht
behandelt, die eine schwere Straftat be- man müsse die Bevölkerung vor psychisch genug geübt ist im Umgang mit Menschen
gangen haben: eingeschränkte, überwach- Kranken schützen. Das ist für die Betrof- in psychischen Krisen. In Hamburg rief
te Besuche, zensierte Briefe, körperliche fenen verheerend. Pro Jahr gibt es in eine Mutter die Polizei zu Hilfe, weil ihr
Untersuchung, auch im Intimbereich – all Deutschland um die 30 Tötungshandlun- Sohn die Wohnung demolierte. Und die
das erinnert an Untersuchungshaft. Klini- gen durch psychisch Kranke. Das bedeu- Polizei hat ihn erschossen. Das sind die
ken wären gezwungen, sich zu verhalten, tet: In Bayern sind es vielleicht 5. Das ist typischen Situationen. In denen hilft so
als würden sie ein Gefängnis führen. auch noch zu viel, aber kann man dafür ein Gesetz gar nichts. BEL
Marbach, »darum bereiten wir Für den Shultz-Besuch flogen die Ameri-
umfangreiche zivilrechtliche Kla- kaner einen Campingbus nach Moskau.
gen gegen das Klinikum vor.« Das Gefährt sollte abhörsicher sein,
Wie der SPIEGEL (16/2018) Högel 2014 hofften sie. Von dort telefonierte Shultz
berichtete, hatte die damalige mit Präsident Ronald Reagan. KLW
27
AfD
Enkel klagen gegen
Stresemann-Stiftung
Im Streit um die Gustav-Stresemann-
Stiftung wird es grundsätzlich: Die bei-
den Enkel des einstigen Reichskanzlers
Gustav Stresemann haben Klage beim
Landgericht Berlin eingereicht. Sie wol-
len dem »Gustav-Stresemann-Stiftung
e. V.« verbieten, den Namen ihres Groß-
vaters überhaupt zu benutzen. Der
rechtsnationale Stiftungsverein mit Sitz
im thüringischen Jena steht dem rech-
AKG
schützen. »Mit
Stresemann dem Gedankengut
um 1927 der AfD hätte sich
Terrorismus Mitgliedschaft im IS sowie wegen sexuel- Stresemann nie-
IS-Logistiker gestoppt ler Gewalt. Die Bundespolizei ließ im
Zusammenspiel mit dem Stuttgarter Lan-
mals gemeingemacht«, sagt der Anwalt
der Enkel, Christian Schertz. »Die Nut-
Die Polizei hat verhindert, dass ein deskriminalamt vor wenigen Wochen zung seines Namens für derartiges
mutmaßlicher Logistiker der Terrororga- das Visum des Vaters annullieren, sodass Gedankengut verletzt seine Menschen-
nisation »Islamischer Staat« (IS) einreist. er den Flug nach Stuttgart nicht antreten würde schwer.« Der Liberalkonserva-
In einem deutschen Konsulat hatte er ein konnte. Das Visum zurückzunehmen tive der Weimarer Republik hatte 1926
Visum zur Familienzusammenführung habe nur 14 Stunden gedauert; die Bun- für seine Politik der Verständigung mit
mit seinem bereits in Deutschland leben- despolizei könne »auch kurzfristig« Frankreich den Friedensnobelpreis
den Sohn Fares al-B. erhalten. Gegen ihn Gefährder fernhalten, heißt es in einem erhalten, gemeinsam mit dem französi-
ermitteln die Behörden ebenfalls wegen vertraulichen Vermerk. JDL schen Staatsmann Aristide Briand. MUM
oftmals großen Unkenntnis über Europa, schwer, da nur fünf Prozent der SPD-Mit-
die hier herrscht, wäre es fatal, wenn keine glieder aus den neuen Ländern stammen.
Abgeordneten aus den neuen Ländern Zuletzt hatte es dort erheblichen Unmut
mehr im Europaparlament vertreten gegeben, weil der neuen Bundesregierung
wären«, so Lietz. Bei den vergangenen außer der Kanzlerin nur eine weitere
Europawahlen standen die ostdeutschen Lietz Ostdeutsche angehört. Die SPD wird ihre
SPD-Kandidaten weit hinten auf der Liste Ende des Jahres beschließen. MP
»Uiuiui«
SPD Andrea Nahles, 47, hat schon viele Rollen in ihrer Laufbahn gespielt.
Jetzt soll sie als Superheldin ihrer Partei die Genossen
mit den Deutschen versöhnen. Kann das klappen? Von Veit Medick
30
W
enn Andrea Nahles zuletzt Ums Überleben geht es von nun an. Am Tresen sitzt Siggi Hüyng. Kurzhaar-
ins Willy-Brandt-Haus ging, Und von ihr hängt ab, ob das gelingt. frisur und Jeansjacke, Pils und Kippe.
machte sie einen Umweg. Uiuiui. Hüyng arbeitet im Altersheim, vor 30 Jah-
Klar, sie nahm die Drehtür, Ein Dienstag im Frühjahr, der Ort Wei- ren gründete er mit Nahles und ein paar
spazierte ins Foyer, nahm dann den Auf- ler in der Eifel, der einzige Flecken in Freunden einen SPD-Ortsverein, genauer:
zug in die höheren Etagen. Aber statt ins Deutschland, in dem Nahles schon die Nahles gründete ihn mit den anderen, weil
Chefbüro in der hinteren Ecke des fünften Superheldin ist, die sie für die SPD erst sie schon damals ahnte, dass manches nur
Stocks zu gehen, schaute sie sich lieber für noch werden soll. 500 Einwohner, eine über Bündnisse geht. »Der Ortsverein war
einen Moment die Porträts jener Herren davon Nahles. Sie ist hier aufgewachsen. natürlich ihre Idee«, sagt Hüyng.
an, die sie nun beerben soll. Ging zur Schule und wurde Messdienerin. Die Gruppe hatte Spaß, und sie hatte
Die Fotos von Brandt, Vogel, Schröder, Ritt als Kind durch die Wälder und heira- was vor. Sie sammelte Aluminium, um es
Müntefering. Helden im Siegestaumel. tete in der örtlichen Kirche. zur Alteisensammlung zu bringen und die
Oder in Denkerpose. Gute Fotos. Aber Es gibt Leute, die sagen, man kennt Ortsvereinskasse aufzubessern. Sie rettete
eben Symbole vergangener Zeiten und Nahles nicht, ohne Weiler zu kennen. Mit einen Berg vor den Schaufelbaggern und
Belege dafür, wie gern sich die Sozial- solchen Sätzen muss man vorsichtig sein. trommelte gegen eine örtliche Mülldepo-
demokraten historisieren. Nahles machte Weil Politiker ihre Heimat gern mal nut- nie. »Wir wurden damals schon manchmal
sich ihre Gedanken. »Diese wahnsinnige zen, um sich basisnah zu zeigen. Um eine schief angeguckt«, erzählt Hüyng, was völ-
Ahnengalerie«, sagt sie. »Diese Schwarz- Distanz zwischen sich und diesem verrück- lig plausibel ist, weil die Eifel ja eine derart
Weiß-Bilder. Uiuiui. Ganz viele ernst bli- ten Hauptstadtbetrieb zu schaffen. Ob- schwarze Gegend ist, dass die Union bei
ckende Männer. Uiuiui.« wohl sie sich im Regierungsviertel in Wahr- Wahlen auch einen Gartenzwerg aufstel-
»Und da denk ich mir: Boah. Jetzt fängt heit sehr, sehr wohl fühlen. len könnte – er würde gewinnen.
was Neues an.« Aber das Verhältnis Berlin-Weiler-Nah- Eine hübsche Geschichte ist das mit die-
Es gibt viele Geschichten über Andrea les ist schon eine besondere Geschichte. sem Ortsverein. Vom Kleinen ins Große,
Nahles, aber dass sie mal Angst gehabt Weil diese zwei sehr unterschiedlichen aus Weiler in die weite Welt. Der Wermuts-
hätte vor einer neuen Aufgabe, tropfen ist, dass Hüyng nicht mehr
geschweige denn vor irgendeiner in der SPD ist. Er wählt sie noch,
Ikone, hat noch nie jemand er- aber sein Parteibuch gab er 1995
zählt. Wenige sind ähnlich furcht- zurück. Wegen Nahles. Die knöpf-
los bergauf geklettert und haben te sich damals auf dem Mannhei-
dabei so viele Parteifreunde hin- mer Parteitag Rudolf Scharping
ter sich gelassen wie sie. Es gibt vor. »Das war mir ein bisschen zu
auch nicht viele, die schon immer viel Lirum, larum, Löffelstiel, Ru-
irgendwie da waren und trotz- dolf«, hielt sie dem schwankenden
dem für einen Wandel stehen sol- Vorsitzenden damals vor. Hüyng
len. Nahles soll von Sonntag an fand, dass man einen Parteichef so
die SPD führen, was ein Teil der nicht abservieren dürfe. »Das war
Sozialdemokratie völlig logisch nicht meine Sprache«, sagt er.
findet, weil es schlicht nicht Und war weg.
mehr so mutlos weitergehen kann In Weiler ist Hüyng mit der Hal-
wie zuletzt. Ein anderer Teil fin- tung eher allein, im Rest der Re-
det das aber auch unmöglich. publik nicht. Die Deutschen haben
Wegen der vielen Bremsspuren, Auszug aus Abi-Buch von Nahles’ Gymnasium ihre Probleme mit Nahles, und
die Nahles in ihrer Laufbahn Zwischen Authentizität und Show ihre Sprache spielt wohl eine Rolle.
hinterlassen hat. Das ist eigenartig, gibt es doch an-
Aber statt ihr wieder ein Mann? Das Welten, in denen die Sozialdemokratin geblich eine Sehnsucht nach Politikern, die
geht nun noch weniger. Die hatten jetzt lebt, eine Spannung erzeugen, die man als keine Redemaschinen sind, die man an-
154 Jahre ihre Chance. Politiker erst einmal aushalten muss. Un- knipst, nur um ein paar leblose Sätze aus
Dass sie nun die erste Chefin in der Par- ter der Woche Dienstwagen, Plenarsaal, ihrem Mund purzeln zu hören.
teihistorie sein wird, habe »was Befreien- Machtspielchen. Am Wochenende zur Nahles ist selten leblos. Aber wenn sie
des«, sagt sie. Mehr überhöhen möchte sie Tochter auf den modernisierten Bauern- mal wieder »verdammte Kacke« sagt oder
den Moment nicht, das müssen andere ma- hof, der einst ihren Urgroßeltern gehörte. der Union eins »in die Fresse« geben will,
chen. Und außerdem hat sie schon viele Rol- Straße kehren. Brot backen. Hinten der wenn sie »Bätschi« ruft oder ihre Leute
len gehabt in ihrer Laufbahn. Nervensäge, Wald, vorn der Dorfkern. Ein paar Wind- warnt, dass die Wähler der SPD doch »den
Regierungslinke, Streberin, Koalitionsanker. räder, eine Kirche, ein Gemeindezentrum, Vooogäl« zeigen würden, scheint das vielen
Jetzt eben Chefin. Aber ihr Problem ist, dass viel gibt es nicht in Weiler. Zum Einkauf dann doch wieder zu weit zu gehen.
sie nun so vieles zugleich sein muss. Sie soll muss man ins Nachbardorf fahren, Breit- Ja, ihr Jargon beißt sich zuweilen mit ihrer
die Kanzlerin treiben und den Betrieb in bandnetz gibt es nicht. Machtstellung. Aber an Nahles lässt sich
der Koalition am Laufen halten. Die Union Eine der beiden Gaststätten im Dorf ist auch studieren, wie schwierig dieser Beruf
nerven und Konflikte wegmoderieren. Ego- das Kirjässer am Ortsausgang. Über der sein kann. Ist man so wie alle anderen, gilt
shooter und Teamspielerin in einer Person. Tür steht: »Hier ist es doch viel schöner man als Teil der Blase. Schlüpft man aus
Ja, und vor allem wollen ihre Leute na- als bei normalen Menschen.« Das Kamin- dem Korsett, gilt man schnell als schwer ver-
türlich, dass sie die Partei heilt. Dass sie feuer knistert, an der Wand hängen Ge- mittelbar. Die Gratwanderung kann Poli-
aus diesem Häuflein SPD wieder eine star- weihe, und aus den Boxen schallt Peter tiker kaputt machen. Martin Schulz etwa.
ke Truppe macht. Hokuspokus. Bis 2021, Alexanders »Die kleine Kneipe«. Wenn Der lief am Ende wie ein Roboter umher.
spätestens. Sonst kann es auch schnell vor- Jens Spahn mal wieder genervt ist von den Nahles hat längst bewiesen, dass sie regie-
bei sein für sie mit der Politik und für die Hipstern in der Hauptstadt – das Kirjässer ren kann. Sie denkt auch nicht mehr in der
SPD mit der Rolle als Volkspartei. wäre eine Option. klassischen Freund-Feind-Kategorie. Wenn
sie zum Beispiel vom »blöden Dobrindt« handeln und zum Beispiel im »Star Trek«- ren, sagt sie. Als ob das so einfach wäre.
spricht, ist das ein Stück weit Fassade. In Outfit auftauchen darf, so wie sie früher Früher, in den Neunzigern, waren die Par-
Wahrheit versteht sie sich mit dem CSU- manchmal rumlief. teien der Ort, wo man sein musste. Nahles
Mann nämlich ganz gut. Beide waren einst Damals trug sie einen sogenannten las Zeitung, sprach mit Leuten, setzte eine
Generalsekretäre. Und hatten schwierige Communicator, auf den die TV-Helden These in die Welt, fertig war die Debatte.
Chefs. Das verbindet. Nahles und Dobrindt drückten, um miteinander zu kommuni- Heutzutage haben alle schon eine These,
treffen sich manchmal, um sich auszutau- zieren. Positives Verhältnis zur Technik, noch bevor Nahles die Zeitung aufgeschla-
schen. Um zu schauen, was die Gegenseite Neugierde, ein Stück Utopie. »Auf eine ge- gen hat. Das Tempo ist einer der Gründe,
so denkt. Intellektuelles Pingpong. wisse Weise die Verfilmung der sozial- weswegen Parteien heute so alt wirken.
Einmal, vor Jahren, hat Dobrindt demokratischen Idee«, findet Nahles. Und Für die Erneuerung müsse man »auch
Hannelore Kraft aus Düsseldorf mal als so ganz anders als »Star Wars«. »Das fand den Mumm haben, mal ’n paar heiße Eisen
»faulstes Ei« in der deutschen Politik be- ich immer düster. Krieg und so.« anzufassen«, ruft Nahles vorn auf der Büh-
zeichnet. Nahles reagierte, indem sie öf- Für Nahles gehörten das Authentische ne und sagt, dass sich die SPD vor allem
fentlich an Krafts berührende Trauerrede und die Show schon immer zusammen. Im die Zukunft der Arbeit vornehmen müsse.
nach dem Loveparade-Unglück erinnerte, Abi-Buch des Megina-Gymnasiums in Ihre »Cousine Roswitha« zum Beispiel
was Kraft ziemlich gut und Dobrindt ziem- Mayen aus dem Jahr 1989 werden auf den habe 23 Jahre bei einer Bank gearbeitet
lich schlecht hat aussehen lassen. Dobrindt Seiten 54 bis 60 die Stars und Sternchen und werde jetzt von einem Algorithmus
fand das böse. Aber sehr professionell. Sie ihres Jahrgangs vorgestellt. Die Coolsten ersetzt. Gemurmel im Saal. »Ja, für den
wisse, wie sie den Hammer ansetzen müs- und die Schönsten, die größten Schleimer Namen kann die auch nix«, ruft Nahles,
se, um den Nagel reinzukriegen, sagt er. und die schlimmsten Streber. Nahles und schon ist gute Stimmung.
Nahles sitzt in ihrem Wagen, Tempo taucht häufig auf. Platz drei bei den »Stu- Als Ministerin hat sie ein Gesetz nach
130, Lüneburger Heide. Sie holt ein Knop- fenclowns«. Platz zwei bei den »Geschwät- dem anderen gemacht. Sie sehnt sich danach,
pers aus der Tasche und atmet durch. zigsten«. Und Platz eins bei der »Eman- Dinge wegzuschaffen und abzuarbeiten,
Wenn sie dieser Tage mal einen Moment ze«. Sie war auch »Mrs Abitur« – Andrea man sieht es, wenn man ihr zuguckt. Sie
Zeit hat, liest sie »Hector und die Kunst Nahles, die Goldmedaille. Die große Büh- hämmert mit den Fäusten und sticht mit den
der Zuversicht« von François Lelord. ne suchte sie schon immer. Fingern. Sie gräbt und greift und presst und
Unterhaltungsgeschichten, kurze Kapitel, Samstagmittag vergangener Woche, die schiebt. Sie schiebt so ziemlich alles weg,
nicht allzu kompliziert. Genau das Rich- Heidmark-Halle in Bad Fallingbostel. Nah- was ihr in die Quere kommt. Die Kanzlerin,
tige in Phasen wie diesen, in denen das les ist zum Parteitag der Niedersachsen- Hartz IV, die Krise der eigenen Partei. »Die
politische Berlin im Hochbetrieb läuft. SPD gekommen. Sie soll den Genossen et- SPD muss nicht gerettet werden«, ruft sie.
Nahles hat schon manche Torheit began- was über die Erneuerung erzählen. Es gel- Fragende Gesichter der Delegierten.
gen. Aber sie kann sich einschätzen, sie hat te jetzt, wieder echte »Debatten« zu füh- Wie jetzt, nicht gerettet werden?
einen guten Blick auf sich selbst. »Die SPD wird gebraucht oder
»Dieses ›Darauf achten, wie man zu nicht!« Und im Moment werde sie
sein hat‹ – das ist mir total fremd«, sehr gebraucht, sagt Nahles. Als Frie-
sagt sie. »Einerseits verursache ich denspartei in Kriegszeiten zum Bei-
natürlich manchmal ein paar Über- spiel. Großer Applaus in der Halle.
schriften, die ich gar nicht haben Nicht überall tritt Nahles über-
will. Andererseits sagen mir viele: zeugend auf. Das Fernsehen zum
Das ist authentisch. Man kann halt Beispiel mit seinem geschliffenen
nicht beides haben.« Stil ist nicht ihr Format. Auch im
Neulich, beim Karneval in Wei- Bundestag wirkt sie manchmal
ler, hat sie im Clownskostüm ein orientierungslos darin, zwischen
paar Sätze in eine Fernsehkamera der Fraktion, den Kabinettsmitglie-
gesagt. Das hat nicht allen gefallen dern und den Zuschauern den rich-
in der Partei. Aber so etwas kommt tigen Ton zu finden. In sozialdemo-
vor, wenn man versucht, zwei Wel- kratischen Räumen, Parteitagen zu-
ten miteinander zu verbinden. mal, funktioniert Nahles besser. In
Es kann sein, dass es bald nur diesen Räumen gibt es Prozesse, die
noch eine ist. Im Willy-Brandt- man beherrschen, und Dynamiken,
Haus geht man davon aus, dass die man lesen können muss. Sie trans-
Nahles bald nach Berlin ziehen portieren eine Wirklichkeit, in der
wird, damit die Pendelei nicht die eigene Truppe stets für den Fort-
mehr so viel Zeit verschlingt. Aber schritt steht und die anderen immer
sie hängt an Weiler. »Immer wenn die Bösen sind. Und wer vorn auf der
ich in mein Heimatdorf komme Bühne steht, ist irgendwas zwischen
und merke, dass da von diesen auf- Dompteur und Therapeut, je nach
geregten Berliner Debatten maxi- Verfassung der SPD.
NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL
mal eine angekommen ist, ist das Nahles hat schon häufig auf der
für mein Deutschlandbild nicht Bühne gestanden, und die Krisen
ganz unerheblich«, sagt sie. der SPD, die sie selbst erlebt hat,
Nahles ist klar, dass sie jetzt an- kann sie kaum noch zählen. Sie
ders vermessen wird als früher. spürt auch, wenn es mal richtig
Nachfolgerin von Bebel und Brandt. schiefzugehen droht, wie bei jenem
Vor sich nur noch die Kanzlerin. Das Parteitag im Januar, als es um Koa-
ist jetzt die Ebene. Sie weiß, dass sie Wahlurnen auf SPD-Landesparteitag litionsgespräche mit der Union ging
da nicht völlig jenseits aller Regeln Rettet Nahles ihre Partei? und sie schon eine ziemlich harte
33
Deutschland
mehr Härte«
Seehofer: CDU und CSU haben nach dem
Wahlergebnis erklärt, dass wir die Bot-
schaft der Wähler verstanden haben. Das
gilt natürlich auch für die Europapolitik.
Wir müssen und werden die nationalen
Interessen stark in eine europäische Inte-
SPIEGEL-Gespräch Innenminister Horst Seehofer, 68, über grationspolitik einbringen. Die Debatte
kommt sowieso im nächsten Frühjahr bei
den Umgang mit abgelehnten Asylbewerbern, der Europawahl. Also ist es doch gut,
Deutschland als Mittler zwischen Ost und West und seine wenn man sie jetzt führt und bestimmte
Leitplanken einzieht, die aus der Sicht
Enttäuschung über US-Präsident Donald Trump des deutschen Parlaments erfüllt sein
sollen.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
SPIEGEL: Herr Minister, es gibt auf der letzte Beweis, dass Russland hinter dieser Seehofer: Alles, was wir in der Eurozone
einen Seite einen amerikanischen Präsi- Sache steckt, ist ja nicht erbracht. institutionell verändern, muss strikt den
denten, der per Twitter Raketenangriffe Seehofer: Das war ein Akt der Solidarität Stabilitätskriterien entsprechen. Wir
ankündigt. Auf der anderen Seite steht ein gegenüber den Briten, den ich für richtig dürfen nicht in einer Schuldenunion lan-
russischer Staatschef, der sich als Schutz- halte. den, in der alles, was man sich vorstellt
patron eines Diktators gibt, der Chemie- SPIEGEL: Haben die Belege aus Großbri- in Europa, entweder mit deutschem
waffen gegen sein eigenes Volk anwendet. tannien Sie überzeugt? Steuergeld oder über Schulden finanziert
Wer von beiden macht Ihnen mehr Seehofer: Sie werden in solchen Fällen nie wird. Wenn Angela Merkel darauf pocht,
Angst? den unwiderleglichen Beweis bekommen. dass der Bundestag bei allen Entscheidun-
Seehofer: Mich beruhigt die Reaktion der Da geht es um Wahrscheinlichkeiten. gen eines Europäischen Währungsfonds
Bundesregierung und der Kanzlerin. Sie Außerdem war die Bereitschaft Russlands, beteiligt sein muss, dann entspricht das
steht solidarisch zu unseren Verbündeten, an der Aufklärung mitzuwirken, gering. genau meiner Position. Und das muss
setzt aber auf das Gespräch und die diplo- Daher war die Reaktion angemessen. man dann auch gegenüber Frankreich
matische Lösung. Dazu braucht man übri- SPIEGEL: Werden Sie im Sommer zur vertreten.
gens beide, Moskau und Washington. Fußballweltmeisterschaft nach Russland SPIEGEL: Sie haben jetzt auch noch die
SPIEGEL: Die deutsche Position gegenüber fahren? Zuständigkeit fürs Bauen. Ist die Woh-
den Verbündeten ist: Wir machen bei Seehofer: Wieso nicht? Wenn mein Ter- nungsnot in Deutschland dank Horst See-
nichts mit, aber wir drücken euch die Dau- minkalender das zulässt, werde ich fahren. hofer bald besiegt?
men. Ist das eine angemessene Haltung? Wir sollten den Sport nicht politisch in- Seehofer: Wir wollen dafür sorgen, dass
Seehofer: Die Bundesregierung setzt auf strumentalisieren, das war schon immer 1,5 Millionen neue Wohnungen gebaut
eine Strategie des Dialogs, des Gesprächs, meine Meinung. werden. Das sind 50 Prozent mehr als in
der Diplomatie. Genau das ist angesagt. SPIEGEL: Sie haben sich vor einem Jahr der vergangenen Legislaturperiode. Dafür
Anders gewinnen Sie gar nichts. Ich hätte sehr lobend über Donald Trump geäußert. müssen wir Anreize schaffen. Dazu zählen
gegen eine militärische Beteiligung Wir dürfen Sie zitieren: »Er setzt mit steuerliche Absetzmöglichkeiten für den
Deutschlands mein Veto eingelegt. Konsequenz und Geschwindigkeit seine Mietwohnungsbau und das Baukindergeld.
SPIEGEL: Das klingt jetzt, als würden Sie Wahlversprechen Punkt für Punkt um. In Und wir müssen die Förderung auf die
die jüngsten Luftangriffe durch Amerika- Deutschland würden wir da erst mal einen Regionen konzentrieren, in denen das
ner, Briten und Franzosen in Syrien nicht Arbeitskreis einsetzen.« Hat sich Ihr Bild Problem am größten ist.
für sinnvoll halten. von Trump gewandelt? SPIEGEL: Soll der Bund auch selbst als
Seehofer: Das habe ich nicht gesagt. Ich Seehofer: Ja. Das kann man schon sagen. Bauherr auftreten?
habe gesagt, dass die Kanzlerin angemes- Mein damaliges Urteil habe ich einige Wo- Seehofer: In Bayern haben wir am Ende
sen auf die Situation reagiert hat. chen nach der Wahl gefällt. Mir hat gefal- meiner Amtszeit als Ministerpräsident den
SPIEGEL: Fänden Sie es sinnvoll, wenn len, dass Trump konsequent das angepackt Bau von Wohnungen für Staatsbedienstete
Deutschland eine Mittlerrolle zwischen hat, was er der amerikanischen Bevölke- beschlossen. Ein Polizist in München zum
den USA und Russland einnähme? rung zugesagt hatte. Was da in den letzten Beispiel kann sonst seine Miete gar nicht
Seehofer: Ich habe ausdrücklich begrüßt, Monaten abgeliefert wurde, würde mich mehr bezahlen.
dass die Kanzlerin schon vor diesen Vor- nicht veranlassen, meine Äußerungen zu SPIEGEL: Und Ähnliches planen Sie für
gängen erklärt hat, in die Vereinigten Staa- wiederholen. den Bund?
ten zu reisen – trotz all der Ärgernisse, die SPIEGEL: Was hat Sie irritiert? Die Tweets, Seehofer: Es wäre jedenfalls eine Überle-
derzeit aus Washington kommen, etwa in sein Umgang mit den Mitarbeitern … gung, ob man nicht auf den vielen Grund-
der Handelspolitik. Ich war jetzt sehr er- Seehofer: Alles. Lassen wir das so stehen. stücken, die der Bund hat, auch Wohnun-
freut, dass sie auch angekündigt hat, zu SPIEGEL: Auch in der Europapolitik steht gen baut. Wir müssen da ganz neue Wege
Putin zu fahren. Ich glaube, dass die Deutschland am Spielfeldrand. Wann darf gehen. Einerseits brauchen wir Wohn-
Bundesregierung mit Angela Merkel an der französische Präsident Emmanuel Ma- raum, andererseits wird der Flächenver-
der Spitze eine ganz wichtige Scharnier- cron mit einer konstruktiven Antwort auf brauch kritisiert. Möglicherweise müssen
funktion erfüllen kann. seine Reformvorschläge rechnen? wir höher bauen. Auf jeden Fall müssen
SPIEGEL: War es voreilig, die russischen Seehofer: Die deutsche Regierungs- wir effizienter mit den Flächen umgehen.
Diplomaten wegen der Vergiftung eines bildung hat sehr lange gedauert. Es wird Das sind spannende Fragen, die wir noch
Ex-Spions in Salisbury auszuweisen? Der Zeit, dass wir mit Frankreich über Lösun- mit den Experten diskutieren müssen. Die
CSU-Chef Seehofer: »Ich hätte gegen eine militärische Beteiligung mein Veto eingelegt«
35
Deutschland
Wohnungskosten sind aus meiner Sicht Wer hat ein Recht auf Schutz und wer
vielleicht die brennendste soziale Frage nicht. Am Ende werden die »Anker-Zen-
unserer Zeit. tren« dazu beitragen, dass es deutlich we-
SPIEGEL: Nach den Diskussionen in der niger Zuwanderung nach Deutschland
Großen Koalition konnte man in den ver- gibt.
gangenen Wochen eher den Eindruck be- SPIEGEL: Wenn Sie viele Flüchtlinge an
kommen, Hartz IV sei das drängendste einem Ort unterbringen, schaffen Sie vor
Problem. allem neue Konflikte.
Seehofer: Was sollen diese Phantom- Seehofer: Diese Einrichtungen dürfen
REISEAUKTION
diskussionen? Hartz IV war eine richtige nicht zu groß sein, sonst gibt es Probleme.
Reform, und ich kann nur davor warnen, Viel mehr als tausend Menschen sollten
das zu ändern. dort nicht untergebracht werden.
SPIEGEL: Fast jeder sechste Hartz-IV-Emp- SPIEGEL: Wie müssen wir uns diese »An-
www.tagesspiegel.de/reiseauktion fänger ist mittlerweile ein Flüchtling. Was ker-Zentren« vorstellen? Großlager mit ei-
folgt für Sie daraus? nem Zaun drum herum, damit keiner raus
Seehofer: Es zeigt jedenfalls, dass die Aus- kann?
sage mancher hochrangigen Wirtschafts- Seehofer: Das sind doch Schauermärchen.
vertreter, es kämen genau die Fachkräfte, Die Asylbewerber werden dort nicht ein-
die wir brauchen, falsch war. Ich war ge- gesperrt. Sie haben aber eine Residenz-
rade beim Bundesamt für Migration und pflicht und bekommen nur Leistungen,
Flüchtlinge in Nürnberg und habe mir die wenn sie in der Unterkunft wohnen. Es
Integrationskurse angeschaut. Das sind geht darum, dass sie für die Behörden ver-
auch Alphabetisierungskurse, wo jemand, fügbar sind, damit die Verfahren innerhalb
der bisher von rechts nach links ge- weniger Wochen abgeschlossen sind.
Bieten schrieben hat, unsere Schreibweise ken- SPIEGEL: Die Realität ist davon weit ent-
fernt. Die Verfahren dauern Monate, teil-
Sie mit!
weise sogar Jahre. Aktuell hängen noch
370 000 Asylfälle bei den Verwaltungs-
»Die Asylbewerber werden gerichten.
Ab 1 Euro nicht in den ›Anker-Zen- Seehofer: Das stimmt. Aber wir sind ein
Rechtsstaat, und da können gegen jede
tren‹ eingesperrt. Das sind Entscheidung einer Behörde Rechtsmittel
doch Schauermärchen.« eingelegt werden. Wir können das verkür-
zen, aber nicht abschaffen. Das unterschei-
det uns von vielen Staaten, aus denen die
nenlernen muss. Wir müssen bei denen, Flüchtlinge kommen.
die zu Recht Schutz in Deutschland ge- SPIEGEL: Also wird sich an der Situation
nießen, die Anstrengungen massiv ver- nichts ändern.
stärken. Ansonsten wird Hartz IV zur Seehofer: Doch, da gibt es Möglichkeiten,
Zuwandererstütze. An guter Integration und dafür setzen wir uns ein. Die Bundes-
derer, die ein Bleiberecht haben, führt länder müssen mehr Verwaltungsrichter
kein Weg vorbei. einstellen, die Verfahren werden effizien-
SPIEGEL: Und bei den anderen? ter gestaltet. Und die Abschiebungen müs-
Seehofer: Ich habe immer gesagt: Die In- sen konsequenter werden.
tegrationsfähigkeit unseres Landes darf SPIEGEL: Mehrere 10 000 Migranten kön-
nicht überfordert werden. Bei abgelehn- nen derzeit nicht abgeschoben werden,
ten Asylbewerbern sieht es anders aus, da auch weil ihre Heimatländer oft kein Inter-
bin ich für mehr Härte. Ihnen sollten nur esse zeigen, sie zurückzunehmen. Wie wol-
noch Sachleistungen gewährt werden, len Sie das ändern?
wenn sie nicht freiwillig in ihre Heimat Seehofer: Die Gründe, woran die Abschie-
zurückkehren. bung scheitert, müssen wir genau ansehen:
SPIEGEL: Die Zahl der Abschiebungen ist Wenn die Heimatländer sich weigern,
im vergangenen Jahr trotz großer Anstren- Staatsangehörige zurückzunehmen, ver-
gungen nicht gestiegen, sondern sogar handeln wir. Wir brauchen Abkommen
zurückgegangen. Das Gleiche gilt für die und verbindliche Absprachen mit den Her-
freiwillige Rückkehr abgelehnter Asyl- kunftsländern.
Fast 200 Reisen – von Island über bewerber. Wie wollen Sie das ändern? SPI EGEL: Ihr Vorgänger wollte Ländern,
Seehofer: Die Schwierigkeit ist doch: die nicht kooperieren, die Entwicklungs-
Ostsee und Elbsandsteingebirge, Wenn Zuwanderer jahrelang hier sind, hilfe kürzen.
nach Österreich und bis nach können sie immer schwerer zurückgeführt Seehofer: Diese Länder haben alle ihren
werden, weil sie Wurzeln geschlagen Stolz. Mir sind Anreize lieber als Strafen.
Sri Lanka – ersteigern haben. Deshalb setze ich auf die neuen Aber die Rücknahmebereitschaft muss
Sie Ihre Traumreise! Die exklusive »Anker-Zentren«, wo die Ankunft, die Ver- deutlich nach oben gehen. Darauf arbeiten
fahren und die Rückführung gebündelt wir hin.
Reiseauktion des Tagesspiegels und beschleunigt werden. Dort wird, SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen
vom 22. bis 29. April 2018. noch bevor die Asylbewerber auf die für dieses Gespräch.
Gemeinden verteilt werden, entschieden:
Keine
Mindest-
laufzeit
ĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋĴō
ğŅıćōĚğŅ ŅğťğōŋŘĔıŭğ
łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ
ŋĴŭĚğŋ>0eZekZ^V0(> ĴōĨćĔıĿğŭ
ŭćōĨœšĚğšō
žğšĬŸōťŭĴĬŭğeĴĔłğŭťĨŸšćųťĬğſČıŅŭğ
^V0(>vğšćōťŭćŅŭųōĬğō abo.spiegel.de/flexibel
ſſſťŝĴğĬğŅŅĴžğĚğ
040 3007-2700 !"ĴŭŭğłŭĴœōťōųŋŋğšćōĬğĒğō ^VǾ$ǿǾ&'
Deutschland
AfD-Sympathisant Otte, historische Darstellung des Hambacher Fests, Nationalist Höcke: »Ist das nicht grandios?«
in die Hand nehmen. Der Andrang der will Karim, der einst selbst aus einem ara- zu hassen.« Die Deutschen sollten zu den
Höcke-Fans zu dieser Wallfahrt ist so groß, bischen Land einwanderte, das Publikum Verbrechen des Faschismus stehen, aber
dass man heuer auf das größere Schloss vor den Gefahren der Masseneinwande- sich befreien vom »Schuldkult« – eine
Burgscheidungen in Sachsen-Anhalt auswei- rung warnen. »Viele sogenannte Flüchtlin- auch bei Neonazis beliebte Vokabel.
chen muss. Aber der Name »Kyffhäusertref- ge, die hierherkommen, kennen unsere Fühlt Karim sich von seinen Partnern
fen« bleibe, verspricht der Höcke-Flügel, Werte leider nicht oder lachen uns dafür auf der politischen Rechten als Deutscher
»weil wir um die Bedeutung von Mythen aus.« Dass diese Leute wie er deutsche akzeptiert? »Diese Frage ist beleidigend«,
auch in der Gegenwart und Zukunft wissen«. Werte lernen könnten, hält er angesichts sagt Karim. Er sei kein »Onkel Tom der
Anders als Höckes Lager scheut Max ihrer schieren Zahl für ausgeschlossen. AfD«. Thilo Sarrazin kenne er seit Jahren,
Otte zurück vor Anleihen an völkische Mit der unversöhnlichen Islamkritik ist und er sei mit AfD-Leuten und Mitglie-
Ideologien. Auf der Rednerliste seines Fests Karim ein beliebter Gast auf AfD-Podien. dern der Identitären Bewegung (IB) privat
steht auch der Name Imad Karim. Der ge- Er urteilt schärfer über seine Ex-Glaubens- befreundet. Die IB ist eine rechtsextreme
bürtige Libanese ist einer der schärfsten brüder, als viele AfD-Leute es sich trauen. Splittergruppe, die der Verfassungsschutz
Islamkritiker im Land und, wie Otte findet, »Ich, der Sohn von Abdul Karim, Enkel von beobachtet, weil sie für ethnisch möglichst
»ein sehr gut integrierter Ausländer«. Ali Karim, fühle mich als Humanist ver- homogene Völker eintritt.
Karim ist deutscher Staatsbürger, das pflichtet, über den Islam als Ideologie auf- Die »Zeit« fragte jüngst einen IB-Akti-
Hambacher Schloss besuchte er schon zuklären.« Die Religion verhindere, dass visten, ob er Deutsche türkischer Herkunft
1979 als Student, aus Interesse an der deut- ihre Anhänger in der Moderne ankämen. als vollwertige Bürger anerkenne. »Nein«,
schen Geschichte. »Ein wunderschöner Und da sei die »bedauerliche Tatsache«, entgegnete der Mann. »Ich kann ja auch
Ort mit positiver historischer Symbol- dass 70 Prozent der Muslime ihre Cousinen einen Hund nicht einfach Katze nennen.«
kraft«, findet Karim. Er liebt Deutschland heirateten, wie Karim behauptet. Aber die- Gut, so ein Spruch sei menschenverach-
von ganzem Herzen. »Hier ist die Heimat se Frage überlasse er den Biologen. tend, sagt Karim. Für ihn als Agnostiker
meiner Werte.« Als TV-Journalist drehte Die Hambacher Demonstranten von sei aber entscheidend, »dass die Identi-
er 58 Filme meist für öffentlich-rechtliche 1832 mussten sich nicht mit Massenein- tären den Mut haben, die Gefahren des
Sender, saß in Jurys für Filmpreise. Heute wanderung oder religiösem Extremismus politischen Islam zu benennen«.
fühlt er sich wie Otte von den »Main- befassen. Trotzdem sieht sich Karim in ih- Und beim »Neuen Hambacher Fest« ist
stream-Medien« wegen unbequemer Mei- rer Tradition. Dem Publikum will er erklä- die IB ja auch nicht dabei. Melanie Amann
nungen fallen gelassen. In seiner Festrede ren: »Heimatliebe bedeutet nicht, andere
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1&1 DSL
9,
INTERNET & TELEFON
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Deutschland
Um Himmels willen
Recht Für manche Flüchtlinge ist das Kirchenasyl die letzte Hoffnung. Nun urteilt ein Gericht,
ob der Staat sie nicht doch abschieben darf.
N
ach vorn hinaus, ent- sind keine Familienangehörigen
lang der Ludwigstraße, gemäß Dublin-III-Verordnung.«
sitzen die Studenten im Das Verwaltungsgericht Regens-
Straßencafé und genie- burg lehnte den Antrag des Ira-
ßen die Sonne. Auf der anderen kers auf Aufschub ab. Dem Leiter
Seite des Areals, im Englischen des Jesuitenkollegs schickte die
Garten, flanieren die Spaziergän- Staatsanwaltschaft München I
ger. Dazwischen lebt Raad Ju- eine Strafanzeige wegen Beihilfe
maah Geigo, mitten in München zum unerlaubten Aufenthalt, die
und doch getrennt vom Rest der Ermittlungen wurden eingestellt.
Welt. Mehr als vier Fünftel der Kir-
Der junge Mann aus dem Irak, chenasyle sind Dublin-Fälle: Die
20 Jahre alt, wohnt in der Bruder- Menschen flüchten in die Kirchen,
schaft der Jesuiten in der Münch- weil sie nach Ablauf eines halben
ner Kaulbachstraße. Er hat ein Jahres in der Regel eine Duldung
Zimmer mit Schreibtisch, Wasch- bekommen oder in Deutschland
becken und knarrendem Parkett- Asyl beantragen können.
boden. Wenn ihm langweilig ist, Da die Politik höhere Abschie-
kann er in den Gemeinschafts- bezahlen präsentieren will, steigt
raum, die Bibliothek oder den die Versuchung, das Kirchenasyl
Garten gehen. Weiter nicht – Gei- anzutasten. Juristisch sind viele
go lebt im Kirchenasyl. Verließe Fälle simpel. Im Kirchenasyl sind
er das Grundstück, könnte er fest- meistens Menschen, die den
genommen und nach Bulgarien
5,00 EUR
gang. Sie hatte schon Menschen im tätig wird«, erklärte Ministerpräsident
Kirchenasyl als Bleibe gedient, es sollte Markus Söder nach der ersten Sitzung sei-
weiterhin ein »stilles Asyl« sein, wie Julia nes neuen Kabinetts. Sein Innenminister
Wendt erzählt. Doch dann wurde es sehr Joachim Herrmann ergänzte: »Die, die
laut um den Eritreer – als Eltern den un- nicht bleiben dürfen, müssen wir konse-
sichtbaren Gast bemerkten. quent außer Landes bringen.«
Eine Mutter beschwerte sich über Es- Viele große Klöster in Bayern boten indes
sensgerüche. Eine andere fragte: Wie stelle Menschen Kirchenasyl, zum Beispiel Alt-
Orderprovision *
die Gemeinde sicher, dass der Afrikaner ötting, Ottobeuren, Schäftlarn oder Schön- pro Trade
nicht nach oben gelange und Kinder be- brunn. Die beiden Kirchenführer mit Sitz
lästige? Die beiden Pastoren, die Asyl ge- in München, Reinhard Marx für die Katho-
währt hatten, schrieben den Eltern einen liken und Heinrich Bedford-Strohm für die
leidenschaftlichen Brief: Die »Schutzge- Protestanten, haben mehrmals betont, wie
währung für in Not geratene Menschen« wichtig das Institut des Kirchenasyls für die [H2UGHUSURYLVRQ*
sei ein »Auftrag« der Kirche. Man dürfe Kirchen sei. 2014 gab es Proteste, als die I¾UDOOH:HUWSDSLHUH
nicht akzeptieren, dass »die schwächsten Polizei ein katholisches Kirchenasyl in Augs-
Glieder dieser Gesellschaft als potenzielle burg räumte. Inzwischen gilt die Losung, die
Gefährder oder Terroristen verunglimpft« Innenminister Herrmann im Landtag aus-
6SDUSO¦QHRKQH
würden. Wem dies nicht passe, so legte gab: dass »mit Rücksicht auf die besondere Gebühren kaufen
der Brief nahe, der könne ja sein Kind aus Stellung der Kirchen« in aller Regel »auf
der Kita abmelden. polizeiliche Vollzugsmaßnahmen in Räum- 9.000 Fonds ohne
Sympathisanten und Gegner des Kirchen- lichkeiten der Kirche verzichtet« werde. Ausgabeaufschlag
asyls gifteten einander auf den Straßen der Dieses Stillhalteabkommen empfinden
kleinen Gemeinde an. Der Landrat Rolf-Oli- viele Behördenmitarbeiter und Juristen
ver Schwemer schaltete sich als untragbar: Sie müssen NRVWHQORVH'HSRW
ein, ein Kritiker des Kirchen- von Amts wegen ermitteln Kontoführung
asyls. Es »stammt aus den Kirchenasylfälle und Sanktionen ausspre-
Anfängen des Christen- in Deutschland über chen, die nicht durchgesetzt
tums«, schreibt der parteilo- 1000 werden. Gleichzeitig stehen
se Jurist in der »Zeitschrift sie in der Öffentlichkeit als +DQGHOQ6LHΖKUH:HUWSDSLHUH]X
für Rechtspolitik«, »aus Quelle: Ökumenische
hartherzig da. XQVFKODJEDUJ¾QVWLJHQ2UGHU
einer Zeit, als von einer Ge- Bundesarbeitsgemein- Nun wird das Oberlan-
schaft Asyl in der Kirche, NRVWHQ)LQDQ]WHVWEHLP
waltenteilung und Grund- desgericht München über
dem Verein bislang 7HVWVLHJHULP2QOLQHEURNHU7HVW
rechten in unserem heutigen bekannte Fälle einen Fall verhandeln, der
GHU(XURDP6RQQWDJ
Sinne noch keine Rede war«. 692 die bisherige Praxis verän-
Gothart Magaard, evangeli- 620 dern könnte. Die Staatsan-
scher Bischof im Sprengel waltschaft Landshut hat Re-
Schleswig und Holstein,
430 445 vision gegen ein Urteil des
sieht die Sache anders. »Wir Amtsgerichts Freising ein-
lassen uns nicht einschüch- gelegt. Das hatte im Herbst ZZZQDQ]HQEURNHUQHW
tern«, sagt er, »wir unter- einen Nigerianer vom Vor-
stützen die betroffenen Kir- wurf freigesprochen, er ver-
chengemeinden in solchen 79 stoße gegen das Aufent- *
'LH 2UGHUSURYLVLRQ YRQ (XUR JLOW I¾U GHQ .DXI
Fällen.« haltsgesetz. XQG 9HUNDXI DQ DOOHQ GHXWVFKHQ +DQGHOVSO¦W]HQ
=XV¦W]OLFK ]XU 2UGHUSURYLVLRQ I¦OOW HLQH SDXVFKD-
Vor allem Politiker der 2013 14 15 16 17 2018 Der Nigerianer hätte OLHUWH +DQGHOVSODW]JHE¾KU LQ +¸KH YRQ (XUR
Union tun sich mit dem The- Stand: laut Abschiebebescheid des DQLPE¸UVOLFKHQ+DQGHOJJI
]]JO
%¸UVHQJHE¾KU
0DNOHUFRXUWDJH
(LQH $XIVWHOOXQJ GHU %¸UVHQJH-
ma schwer. Christdemokra- 17. April Bamf nach Italien ausreisen E¾KUHQQGHQ6LHDXIQDQ]HQEURNHU
QHWE]Z
DXI
GHQMHZHLOLJHQΖQWHUQHWVHLWHQGHU%¸UVHQ
43
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1 JAHR DEN SPIEGEL DIGITAL LESEN + PRÄMIE.
müssen, stattdessen ging er 2016 für
mehrere Monate in die Freisinger Pfarrei
St. Jakob ins Kirchenasyl. Inzwischen hat
er eine Duldung erhalten. Durch das
Kirchenasyl habe ein »inlandsbezogenes
Abschiebungshindernis« bestanden, das
nicht durch »Verschulden des Ausländers«
bestehe, heißt es im Urteil des Amts-
gerichts.
Die Staatsanwaltschaft Landshut wider-
spricht in ihrer Revisionsbegründung. Eine
Abschiebung sei möglich, denn »das Kir-
chenasyl findet keinerlei Grundlage in der
100 € Amazon.de Gutschein staatlichen Ordnung«. Zugleich warnt sie
Über eine Million Bücher sowie DVDs, davor, dass sich »vollziehbar ausreise-
pflichtige Ausländer immer öfter in ein Kir-
Technikartikel und mehr zur Auswahl.
chenasyl« begeben, weil sie von der lang-
jährigen Praxis wüssten. Dies sei »einem
Untertauchen gleichzusetzen«.
Der Rechtsanwalt des Nigerianers,
Franz Bethäuser, hält es dagegen für einen
Widerspruch, »einerseits während des
Kirchenasyls auf unmittelbaren Zwang zu
verzichten und andererseits dem Aus-
länder genau dieses Sich-Begeben in das
Kirchenasyl als Untertauchen entgegen-
zuhalten«.
Die Pastoren und Gemeindemitglieder,
die sich für Flüchtlinge einsetzen, werden
€ 100,– Prämie sich ohnehin kaum abschrecken lassen.
Erfüllen Sie sich einen Wunsch: Ende April wird in Kaiserslautern ein evan-
€ 100,– als Prämie. gelischer Geistlicher vor Gericht stehen. Der
Pfarrer aus Hochspeyer nahm den Strafbe-
fehl nicht an, den er erhielt, weil er einem
Eritreer Kirchenasyl gewährt hatte. Es gehe
um »unsere Identität als Christen«, argu-
mentierte er.
Auch Bruder Benedikt will sich nicht
beugen. Seit Ende Januar lebt ein iraki-
sches Paar mit dreijähriger Tochter in sei-
nem Kloster. »Wir fühlen uns hier wie bei
Ja, ich möchte den SPIEGEL digital lesen Engeln«, sagt B., der Ehemann, 37. »Ich
kann zum ersten Mal seit drei Jahren wie-
und wähle eine Prämie! der schlafen«, sagt seine Frau R., 31.
Bruder Benedikt möchte nicht, dass der
Ich lese 52 Ausgaben des SPIEGEL digital inklusive Name seines Klosters genannt wird. »Es
SPIEGEL DAILY für nur € 4,10 pro Ausgabe und erhalte eine klopfen weit mehr Menschen an unsere
Prämie meiner Wahl. Pforte, als wir beherbergen können«,
sagt er. Die Bruderschaft wäge die Fälle
genau ab und gewähre Kirchenasyl nur
in echten Härtefällen. Natürlich kann
52 x den SPIEGEL digital lesen der Mönch die Bibel auswendig zitieren:
Bereits ab freitags, 18 Uhr »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe
an.« Und: »Was ihr für einen meiner ge-
Auch offline lesbar ringsten Brüder getan habt, das habt ihr
Auf bis zu 5 Geräten mir getan.«
Inklusive SPIEGEL-E-Books Doch der groß gewachsene Norddeut-
sche kennt auch die staatlichen Gesetze
Wunschprämie dazu besser als andere: Er war früher Polizist.
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg
www.spiegel.de/digital18
44
Deutschland
Politisches Gift
Zeitgeschichte Der Anschlag auf den Ex-Spion Skripal hat den Stoff Nowitschok bekannt gemacht.
Dessen Vorgeschichte war bisher unbekannt: Seit Jahren streiten West und Ost über das Mittel.
K
ein Problem, sagt Andrew We- ministerin Theresa May, Frankreichs Prä- Die Geschichte, die sich aus den Papieren
ber, ich kann Ihnen die Aufnah- sident Emmanuel Macron und Bundes- und Erzählungen fügt, ist symptomatisch
men zeigen. Der Waffenexperte, kanzlerin Angela Merkel forderten: Russ- für den Niedergang des Verhältnisses zwi-
der ein hochrangiger Mitarbeiter lands Präsident Wladimir Putin müsse das schen Russland und dem Westen. Sie han-
des US-Verteidigungsministeriums war, russische Nowitschok-Programm »voll- delt von enttäuschten Erwartungen – auf
sitzt in einem Hotel in Berlin. Er wischt umfänglich offenlegen«. beiden Seiten.
über sein Smartphone, dann hat er die Da gebe es nichts offenzulegen, antwor- »Die Russen haben uns immer wieder
Fotos gefunden. tete Putin und schickte seinerseits eine grö- über das Nowitschok-Programm angelo-
Sie zeigen einen metallenen Reaktor, in ßere Anzahl westlicher Vertreter aus Russ- gen«, sagt Weber. Viele Jahre lang nahmen
dem der tödliche Kampfstoff hergestellt
wurde. Die Apparaturen, die wie Gasmas-
ken für Hunde aussehen und im Keller la-
gen. Und den lang gestreckten Komplex,
vier Stockwerke in hellem Beige. Er steht
in einer Brachlandschaft, Schrott liegt im
Vordergrund.
So also sieht ein Ort aus, an dem sowje-
tische Forscher eines der gefährlichsten
Gifte in der Geschichte der Menschheit
produzierten. Nowitschok war in der So-
wjetunion entwickelt worden; nach deren
Zerfall 1991 hatte auch Russland damit ge-
arbeitet. Wer es berührt, stirbt in aller Re-
gel. Zuerst tritt ihm Schaum vor den Mund,
dann muss er erbrechen, die Muskeln er-
lahmen, am Ende bleibt das Herz stehen.
Weber durfte das Gebäude nur in einem
Schutzanzug betreten. Das Forschungs-
institut liegt auf einem ehemals sowje-
tischen Militärgelände in der usbekischen
Provinzstadt Nukus. 1992 hatten die Rus-
sen es geräumt und den besorgten Usbe-
ken jede Auskunft über die Hinterlassen-
schaft verweigert. Die baten schließlich in
Washington um Hilfe.
ANDREW WEBER
ANDREW WEBER
47
Get your versichtlich. Die russische Wirtschaft lag lag nahe, die Russen führten das Programm
kicks on
darnieder, die Fortsetzung der bisherigen nur weiter, weil sie es konnten.
Arbeiten sei einfach zu teuer. Moskau kön- Die Chemiewaffenkonvention sieht
ne sich Nowitschok nicht mehr leisten. Meldepflichten für bestimmte Chemika-
ROUTE
Westliche Wissenschaftler begannen lien vor. Experten diskutierten deshalb
nun ihrerseits Forschungen: in den Labors über die Möglichkeit, Nowitschok und sei-
in Porton Down in England, in Edgewood ne Vorprodukte auf eine solche Liste zu
in den USA, bei der sogenannten Nieder- setzen. Doch dann kam 2001 der Anschlag
ländischen Organisation für Angewandte auf das World Trade Center in New York.
Naturwissenschaftliche Forschung (TNO) Fortan dominierte die Sorge, Schurken-
mit Hauptsitz in Den Haag sowie in min- staaten könnten Massenvernichtungswaf-
destens einem weiteren westlichen Staat. fen erwerben.
Nach jetzigem Kenntnisstand ging es um US-Diplomaten informierten Washing-
Schutzprogramme. Man muss Nowitschok- ton darüber, dass Kollegen aus Finnland
Substanzen herstellen, um Gegenmittel und anderen Ländern über Nowitschok
entwickeln zu können. sprächen. Die besorgte Zentrale wies sie
Als ein tschechischer Wissenschaftler in an, über jede Unterhaltung zu berichten,
der Szene für Aufsehen sorgte, weil er den von sich aus das Thema zu meiden und
Amerikanern vorwarf, ein Nowitschok- sich unwissend zu stellen. Im Zweifel soll-
Waffenprogramm zu betreiben, versicher- ten sie empfehlen, das Thema »den Exper-
te ein Diplomat aus der Ständigen Vertre- ten in den Hauptstädten zu überlassen«.
tung der USA bei der »Organisation für Die Meldelisten sind öffentlich. Viele
das Verbot chemischer Waffen« (OVCW) Staaten fürchteten, der Weiterverbreitung
in Den Haag einigen Verbündeten: Sein Vorschub zu leisten, wenn zu viel über
Land würde Nowitschok »nicht entwi- Nowitschok bekannt würde, erinnert sich
ckeln und auch keine Waffe daraus herstel- der deutsche OVCW-Berater Ralf Trapp
len«. So steht es in einer geheimen US- (SPIEGEL 15/2018). Dass Putin 2000 in
Depesche. Die Erklärung war mit Bedacht
gewählt: Das Wort »Forschung« fehlte.
1997 trat die Chemiewaffenkonvention Westliche Diplomaten
in Kraft, Nowitschok stand nun regelmäßig erlebten nun, dass ihnen
auf der amerikanisch-russischen Tagesord-
nung. Die westlichen Vertreter debattier- der Zutritt zu Anlagen
ten miteinander über Fragen, die aus der verwehrt wurde.
Gegenwart stammen könnten: Wer be-
treibt das Programm? Steht die politische
Führung dahinter? Wie gefährlich ist das Russland Präsident wurde, schien aus die-
ISBN 978-3-86124-715-9 alles? ser Sicht von Vorteil zu sein. Er päppelte
224 S., 70 farb. Abb., Paperback, 18 € [D] »Ich habe auf der anderen Seite Leute den Sicherheitsapparat, was jene im West-
getroffen, die wirklich den Wandel woll- en beruhigte, die fürchteten, alte Seilschaf-
ten, aber es gab eben immer auch die an- ten könnten Kampfstoffe wie Nowitschok
deren«, erinnert sich ein westlicher Ge- hinter dem Rücken des Kreml weitergeben.
heimdienstler an seine Gespräche über Allerdings erwartete Putin auch, dass
Auf der Bundesstraße 96 Massenvernichtungswaffen. sein Land wieder wie eine Supermacht be-
reisten Raphael Thelen und Die USA, die Bundesrepublik und an- handelt werde. Westliche Diplomaten er-
dere westliche Staaten halfen den klam- lebten nun, dass ihnen der Zutritt zu An-
Thomas Victor einmal quer durch men Russen mit Milliardenbeträgen, ihre lagen verwehrt wurde, die lange offen ge-
Chemiewaffenbestände zu entsorgen. Sie standen hatten. Mit jedem Jahr nahm das
Ostdeutschland – vom tiefsten erhielten Zugang zu einst hoch geheimen Misstrauen zu. Man habe versucht, mit
Sachsen bis zur Ostseeküste. Militärstandorten. Doch sobald es um No- den Russen offene Fragen bei den Chemie-
witschok ging, wurden die Russen schmal- waffen zu klären, das aber sei »unproduk-
Was ihnen unterwegs begegnete, lippig. »Ich glaube nicht, dass sie jemals tiv«, schimpfte ein britischer Diplomat im
umfassend ihr Programm dargelegt ha- April 2008 und verwies ausdrücklich auf
hatten sie nicht erwartet. Ihre ben«, sagt Weber. Das entspricht dem Vor- Nowitschok.
halt, den der britische Nationale Sicher- Den vorliegenden US-Depeschen zu-
Gespräche mit Hausbesetzern, heitsberater Mark Sedwill in einem Brief folge widersprach keiner der Verbündeten.
Architektinnen, Barfrauen, Pop- an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Sie waren sich einig, dass Russland nicht
in der vergangenen Woche erhob: dass die Mitglied der Australischen Gruppe werden
musikern und vielen anderen Russen auch »nach der Ratifizierung der sollte. Dabei ist es geblieben.
Chemiewaffenkonvention Nowitschoks Glaubt man dem britischen Geheim-
Menschen brachten ein Klischee entwickelten«. dienst, hat Putin damals entschieden,
ums andere ins Wanken … Die einstige Supermacht hatte die wohl »kleine Mengen Nowitschoks zu produzie-
umfassendste Abrüstung der Weltgeschich- ren und zu lagern«. Aus diesen Beständen
te in Friedenszeiten hinter sich. Nowi- sollen sich jetzt jene bedient haben, die
tschok-Kampfstoffe gehören zu den weni- Sergej Skripal und seine Tochter umbrin-
gen Spitzentechnologien im Waffenbereich, gen wollten. Klaus Wiegrefe
die dem Kreml blieben. Die Vermutung
streuen ist noch die Ausnahme, doch da- sagt Schnaß, Asche zu verstreuen sei dort
49
Deutschland
Analogistan
neues Datum: Noch in diesem Jahr soll ein
Portal starten, über das die Bürger mit ei-
ner einzigen Kennung und wenigen Klicks
wesentliche Dienste in Anspruch nehmen
können. Bis 2022 solle alles, was online
E-Government Vieles im Alltag lässt sich heute online erledigen, nur möglich sei, »digital erledigt werden kön-
auf deutschen Ämtern geht es oft zu wie vor Jahrzehnten. Ein Insider nen«, so Braun. Diesmal aber wirklich.
berichtet, woran der digitale Fortschritt in den Behörden scheitert. Auch die Kanzlerin erkennt mittlerweile
eine gewisse Dringlichkeit: Sie war einige
Male in Estland, dem digitalen
D ie Voraussetzungen für
das Projekt schienen ideal:
Es gab den politischen
Willen, einen Plan, einen werbe-
Vorzeigestaat der EU. Seit die
Esten Angela Merkel im Schnell-
verfahren zur E-Residentin ge-
macht haben, spricht sie von »ei-
tauglichen Namen und einen pas- ner Bringschuld« gegenüber den
senden Ort, um das Ganze vor- Bürgern: »Andere Regionen ent-
zustellen: die Computermesse wickeln sich deutlich schneller.«
Cebit in Hannover. Die Erkenntnis kommt spät.
Der hohe Gast aus der Politik Dabei geht es nicht um irgend-
präsentierte »BundOnline« als welche Technikspielereien, son-
großes Versprechen: Statt mühsa- dern um das Verhältnis von Bür-
mer Behördengänge sollten die ger und Staat: Neben Wahlen
Bürger künftig ihre Lebensbüro- sind es vor allem die Erfahrungen
kratie online erledigen können, mit Ämtern und Behörden, die
vom Antrag auf BaföG bis zur Zu- das Staatsbild prägen. Eine effi-
lassung ihres Autos. Niemand ziente und moderne Verwaltung
müsse sich mehr einen Tag Urlaub ist auch ein wichtiger wirtschaft-
nehmen, um Wartemarken zu zie- licher Standortfaktor. Seit den
hen und auf Ämtern zu schmoren. preußischen Verwaltungsrefor-
Das war im Frühjahr 2001, und men galt Deutschland internatio-
der Bundeskanzler, der den Bür- nal als Vorbild, seine Verwaltung
gern versprach, den Traum vom als Ausweis deutschen Organisa-
digitalen Staat zu erfüllen, hieß tionstalents. Und natürlich kann
Gerhard Schröder. Schon auf der man sich fragen, wie glaubwürdig
Expo einige Monate vorher hatte die Digitalpolitik einer Bundes-
er gescherzt, bald würden »die regierung ist, die auf diesem Ge-
Daten laufen, nicht die Bürger«. biet den Anschluss verloren hat.
Die damals geborenen Kinder Das Problem ist spätestens seit
sind inzwischen fast volljährig, sie »BundOnline« erkannt, und die
leben mit Instagram und Snap- Parteien sind sich einig: Es muss
chat. Vom Telefon bis zum Fern- gelöst werden. 91 Prozent der Be-
FELIX STROSETZKI / DER SPIEGEL
seher ist alles »smart« – bis auf fragten würden einer Umfrage zu-
den Staat. Es gibt Apps für alle folge ihre Anliegen gern digital er-
Bedürfnisse und Lebenslagen, so ledigen. Etwa 400 Millionen Stun-
gut wie jede Dienstleistung lässt den jährlich verbringen die Deut-
sich vom Smartphone aus buchen, schen mit Behördenangelegen-
bestellen und bezahlen. Nur der heiten, das Einsparpotenzial wird
Umgang mit Behörden gleicht oft auf Milliarden Euro geschätzt.
einem Besuch in Analogistan. Forscher Schallbruch: »Kampf der Politik gegen die Apparate« Die Nachbarn machen es
Bis heute können Studenten Deutschland vor: In Österreich
ihr BaföG nicht problemlos flä- bekommt, wer die Geburt seines
chendeckend online beantragen, und »Wirksames E-Government ist hierzu- Kindes meldet, automatisch und ohne An-
wer sein Auto anmelden will, muss dafür lande noch nicht erkennbar«, bilanzierte trag Kindergeld gezahlt. Dänemark hat
einen halben Tag einplanen – oder eine der im Kanzleramt angesiedelte Normen- schon vor Jahren begonnen, seine Register
Servicefirma beauftragen, die aus der kontrollrat Ende vorigen Jahres bitter. Die zu modernisieren und das »once only«-
lästigen Bürokratie ein Geschäftsmodell EU-Kommission verortet Deutschland bei Prinzip einzuführen: Damit müssen die
gemacht hat. der Digitalisierung der Verwaltung nur Bürger ihre Daten nicht mehr bei jedem
Egal ob es um Wohngeld geht, um Ge- noch auf Platz 20 ihrer Mitgliedstaaten, Antrag komplett neu ausfüllen.
burtsurkunden oder den Antrag auf eine Nachbarn wie Dänemark und Österreich »In Deutschland fehlt bislang jede Digi-
Grabstätte beim Friedhofsamt: Hierzulan- sind weit enteilt. tal Leadership«, sagt Martin Schallbruch.
de gilt es in der Regel schon als fortschritt- Mit der neuen Regierung bricht wieder Der Diplom-Informatiker war der erste IT-
lich, Termine online buchen und Antrags- die Zeit der Versprechungen an. Dorothee Direktor des Bundes im Innenministerium,
formulare herunterladen zu können. Und Bär, die frisch berufene Digital-Staatsmi- Otto Schily hatte die Position einst für ihn
anders als beim Onlineshopping kann man nisterin im Kanzleramt, nutzte ihren ers- geschaffen. Er war unter vier Ministern an
als frustrierter Bürger in der staatlichen ten öffentlichen Auftritt in Berlin, um Bes- sämtlichen vergeblichen Versuchen betei-
Servicewüste nicht einfach mal eben den serung zu geloben. Und ihr Vorgesetzter, ligt, Politik und Verwaltung in Deutsch-
Anbieter wechseln. Kanzleramtschef Helge Braun, nennt ein land digital voranzubringen.
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und Hartz IV ist der Bund zuständig, für
I
Wohngeld, Umweltplaketten und Anwoh-
Gr
nerparkausweise sind es die Kommunen,
und dann gibt es ja noch Landkreise und Da ist zum Beispiel die Sache mit der regierung ist er überzeugt, dass es dem
Bundesländer. eigenhändigen Unterschrift – eine wesent- Staat nicht anders geht als allen Orga-
Anfangs seien er und seine Kollegen liche Hürde für digitale Verfahren. Mehr nisationen, die mit dem digitalen Struk-
noch »ziemlich naiv« gewesen und hätten als zehn Jahre Vorarbeit habe es gebraucht, turwandel kämpfen: Er muss sich grund-
geglaubt, eine flächendeckende Online- bis der Bund auf diese »Schriftform«-Er- sätzlich neu organisieren, wenn es digital
Autozulassung aus Berlin dekretieren zu fordernis voriges Jahr in vielen Fällen ver- vorangehen soll. Das Verhältnis von Bund,
können. Immerhin hätten sich die Bundes- zichtet habe, so Schallbruch. Ländern und Kommunen müsse man
kanzlerin und sämtliche Ministerpräsiden- Hinzu kommt der Wildwuchs der staat- »komplett neu ordnen«, der Bund müsse
ten 2006 einstimmig darauf verständigt. lichen IT: Allein der Bund betreibt laut In- zentrale IT-Systeme für Wohngeld, Eltern-
Damals hieß das Projekt: »Deutschland – formatiker Schallbruch 96 Rechenzentren geld und Melderegister bereitstellen, alle
Online«. Das Problem: Die Verkehrs- und 1245 Serverräume – einen vollständi- Basisinformationen müssten in einheit-
minister waren nicht eingebunden, fühlten gen Überblick habe dort längst niemand lichen bundesweiten Registern gespei-
sich übergangen und blockierten. mehr, nicht einmal über die damit verbun- chert werden. Darauf könnten Länder und
»Beim Thema E-Government«, so denen Kosten. Gemeinden dann ihre jeweiligen Dienste
Schallbruch, »führt die Politik einen lan- Nun soll es neben dem neuen Digital- aufbauen.
gen, zähen Kampf gegen die eigenen Ap- personal im Kanzleramt, das das Bürger- Auch ein eigenes Digitalministerium
parate.« Der deutsche Beamte, schreibt er, portal aufbaut, einen Etat von 500 Millio- hält Schallbruch für notwendig. »Die Auf-
sei grundsätzlich darauf aus, Risiken zu nen Euro geben, ein Beratergremium fürs teilung auf mehrere Ressorts aus parteipo-
vermeiden. Die Verwaltung traue sich da- E-Government und vor allem einen neuen litischem Proporz war und ist ein schwerer
her »nichts Umstürzendes, sie hält eher Geist: »Digital first«. Fehler.« Wenn das so bleibe, so Schall-
an Bewährtem fest«. »Die Widerstände und Reibungen wer- bruch, werde es kaum vorangehen: »Ich
den bleiben«, fürchtet Schallbruch, trotz fürchte, wir werden jetzt übermäßig viel
* Martin Schallbruch: »Schwacher Staat im Netz – Wie
eines neuen Gesetzes, das dem Bund Geld ausgeben und weiter unter dem Welt-
die Digitalisierung den Staat in Frage stellt«. Springer mehr Durchgriffsrechte einräumt. Nach standard dümpeln.« Marcel Rosenbach
Fachmedien; 271 Seiten. fast 20 Jahren Arbeit für die Bundes-
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Deutschland
BUNDESPOLIZEI
Angeklagter Long N. H., Polizisten*: Er tat, was man ihm befahl
D
as Kommando, das sich am Vor- munistischen Partei Vietnams und gehörte Die Operation dauert keine Minute. Die
mittag des 19. Juli 2017 in der zu den Reformern, die dem Westen zu- Männer packen die Frau, die sich so heftig
Ankunftshalle des Berliner Flug- geneigt waren. Doch die Konservativen, wehrt, dass Augenzeugen glauben, sie er-
hafens Tegel trifft, ist hochrangig eher nach China orientiert, gewannen die leide einen epileptischen Anfall. Auch der
besetzt. Duong Minh Hung, der Vizechef Oberhand, Trinh fiel beim Regime in Un- Mann boxt um sich, selbst dann noch, als
eines vietnamesischen Geheimdienstes, ist gnade. Womöglich auch, weil er die Vor- er in einem silberfarbenen VW-Bus zu
angereist, ein Zwei-Sterne-General mit züge des Kapitalismus allzu sehr genoss. Boden gedrückt wird. Auf dem Gehweg
randloser Brille. Auch der Geheimdienst- Vietnamesische Ermittler warfen ihm bleiben seine Sonnenbrille und sein Smart-
resident an der vietnamesischen Botschaft Korruption und finanzielle Unregelmäßig- phone zurück. Als Passanten es aufheben,
in Berlin erscheint. Zwei weitere Helfer keiten in seiner Zeit als Chef einer staat- leuchtet auf dem Display das Bild einer
kommen mit dem Flugzeug aus Paris, an- lichen Baufirma vor. Es ging um hohe Sum- Blume.
dere mit dem Auto aus Prag, am Ende sind men, ihm drohte die Todesstrafe. Er floh Bei der Polizei gehen an diesem Morgen
sie wohl zu acht. nach Deutschland und beantragte Asyl. mehrere Notrufe ein. Ein Augenzeuge ver-
Sie wissen, dass auch eines ihrer Opfer Seine Affäre mit der 24 Jahre jüngeren folgt den VW-Bus bis zum Brandenburger
mit einer Maschine aus Paris landen wird, Frau aus Hanoi pflegte er weiter. Tor. Als er an einer roten Ampel aus sei-
sie wissen nur nicht, wann. Also warten Die Männer aus der Ankunftshalle fol- nem Auto springt, auf mehrere Polizisten
sie, rund drei Stunden lang. gen der Frau zum Hotel und lassen die bei- zurennt und ihnen erklären will, was er
Das Flugzeug der Zielperson setzt mit 16 den nun nicht mehr aus den Augen. Nicht, gerade gesehen hat, rast der VW-Transpor-
Minuten Verspätung um 12.56 Uhr auf, Thi als sie ein Brillengeschäft betreten. Nicht, ter weiter. Um 11.13 Uhr erreicht er die
Minh P. D. nimmt ein Taxi. Eine knappe als sie am Abend beim Italiener essen. vietnamesische Botschaft in Berlin-Trep-
Stunde später checkt sie im Hotel Sheraton Nach vier Tagen schlagen sie zu. tow. Dort bleibt der Wagen fünf Stunden
beim Berliner Tiergarten ein. Dort ist sie mit Es ist Sonntag, der 23. Juli, der Himmel lang geparkt.
ihrem Geliebten verabredet, dem vietname- ist bewölkt. Um 10.39 Uhr verlässt das Paar Der Fall erschüttert die Berliner Politik,
sischen Geschäftsmann Trinh Xuan Thanh. das Hotel und geht im Tiergarten spazieren. nicht nur, weil die Szenen an einen schlech-
Der heute 52 Jahre alte Trinh spielte ten Agentenkrimi erinnern. Dass ein frem-
einmal eine bedeutende Rolle in der Kom- * Am 23. August 2017 an der deutsch-tschechischen Grenze. der Geheimdienst Menschen auf deut-
55
Deutschland
heißt es in einem Polizeibericht. Auf dem kurzfristig die Zimmer und zahlen oft in
PLANET E. G-20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli bar, doch geben sie bei der Reservierung
SONNTAG, 22. 4., 16.30 – 17.00 UHR | ZDF spricht der vietnamesische Premierminis- ihre echten Namen an.
ter Nguyen Xuan Phuc angeblich die Auch die Überwachungskameras in
Der Plastik-Fluch – Kanzlerin auf den Fall an. Doch Angela den Hotels scheinen sie nicht weiter zu
Wie wir unseren Planeten Merkel macht ihm wohl wenig Hoffnung, interessieren, ihre Gesichter sind später
vermüllen dass der Ex-Funktionär ausgeliefert wer- gut zu erkennen. Nur Duong Minh Hung,
2050 könnte Plastikmüll im Meer den könnte. der General, agiert etwas vorsichtiger. Sein
leichter zu finden sein als Fische. Spätestens jetzt beschließt die Führung Zimmer im Sylter Hof hat ein anderer des
Mikroplastik findet sich im arkti- des Geheimdienstes Tong cuc An ninh, Teams angemietet, es wird die Kommando-
Trinh mit Gewalt aus Berlin zu entführen. zentrale für die Aktion. Der hochrangige
Die Agenten wissen, dass Thi Minh P. D., Geheimdienstmann verlässt nur selten den
die Trinh noch aus dem Handelsministe- Raum und bekommt spärlich Besuch, etwa
rium kennt, im Juli wieder zu ihrem Ge- von seinem Geheimdienstkollegen aus der
liebten fliegen will, wie immer über Paris. Berliner Botschaft.
Eine gute Gelegenheit für die streng gehei- Am Morgen der Entführung geht Du-
QUELLE: POND5
SPIEGEL GESCHICHTE
FREITAG, 27. 4., 22.00 – 22.50 UHR | SKY
Auf Sendung:
Der Massenmörder
von New York
KHAM / REUTERS
57
Teherans
SPIEGEL-Gespräche live Papierdiebe
im Thalia Theater – Spionage Hacker aus Iran
griffen weltweit Universitäten
Heimat heute und Unternehmen an – und
stahlen auch 23 deutschen Hoch-
schulen viele Dokumente.
Heike Steinweg
Frank Peter
Christian O. Bruch
Ostern in Washington vor die Pres-
se trat, wählte er drastische Worte.
Die US-amerikanischen Behörden seien
»feindlichen Akteuren« auf der Spur, sagte
der Vizechef des Justizministeriums. Diese
wollten »von Amerikas Ideen profitieren«.
Rosenstein enthüllte einen groß ange-
legten Hackerangriff aus Iran. Computer-
experten im Dienst der Revolutionswäch-
ter hätten weltweit 320 Universitäten
attackiert, zudem amerikanische Unter-
nehmen und Behörden und die Vereinten
Robert Habeck Sasha Marianna Salzmann Tobias Becker
Nationen. Allein die Erkenntnisse, die
amerikanischen Universitäten gestohlen
Der Begriff »Heimat« ist umkämpft. Für den einen ist es ein Ort, worden seien, hätten einen Wert von
für den anderen ein Gefühl. Der Nächste findet die Idee 3,4 Milliarden Dollar. Das FBI habe neun
Iraner zur Fahndung ausgeschrieben, un-
einfach nur suspekt. Heimat und Herkunft geben ter anderem wegen Verschwörung.
Geborgenheit oder engen ein. Kurz vor Rosensteins Auftritt hatten
die Umtriebe der Hacker auch in Deutsch-
land Betriebsamkeit ausgelöst – allerdings
Was kann das heute überhaupt noch sein, in unserer still und leise, unbemerkt von der Öffent-
grenzenlosen, dauermobilen Gegenwart: Heimat? Wie heimisch lichkeit.
kann man sich in der Fremde fühlen? Wie fremd in der Heimat? Das Kanzleramt hatte eilig eine Sonder-
sitzung des Parlamentarischen Kontrollgre-
miums einberufen: Diese Bundestagsabge-
Über Heimat heute diskutieren Robert Habeck, Parteivorsitzender ordneten tagen geheim und kontrollieren
der Grünen und Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein, die Arbeit der deutschen Geheimdienste.
Und Ermittler des Bundeskriminalamts
und die Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann und des Generalbundesanwalts hatten sich
mit dem SPIEGEL-Kulturredakteur Tobias Becker. auf den Weg nach Wuppertal gemacht. Im
Gepäck: ein Durchsuchungsbeschluss für
die Räumlichkeiten eines iranischen Staats-
bürgers.
Mittwoch, 25. April 2018, 20.00 Uhr Die Zeit drängte. Informationen, die
sorgsam gehütet worden waren, schienen
Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg nun im fernen Washington öffentlich zu
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de.
werden. Die Hacker infiltrierten offenbar
Eintritt: 9 bis 18 Euro, Abonnenten 7 bis 15 Euro (nur an der Thalia-Kasse am Alstertor). auch 23 Universitäten in Deutschland und
Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten. erbeuteten unter anderem unveröffentlich-
Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich für te Forschungsergebnisse, Dissertationen
unseren Newsletter unter spiegel-live.de an. und Konferenzberichte.
Die Veranstaltung wird per Live-Stream auf www.spiegel.de übertragen.
Diese könnten wertvoll für den Geheim-
dienst sein, selbst wenn es sich nicht um
Papiere über Nuklear- und Raketentech-
nologie handelt – jene Felder, an denen
Iran trotz des Atomabkommens mit dem
Westen ein intensives Interesse nachgesagt
wird. Teile ihrer weltweiten Beute stellten
die Täter unter dem Titel »Megapaper«
online und warben damit, »wissenschaft-
58
Deutschland
Aufstieg und Fall
des Martin Schulz –
das Buch zur
»REPORTAGE
DES JAHRES«
liche Schätze« von Fachverlagen wie falschen Seite ihre Nutzerdaten einzuge-
Springer, Nature Publishing Group, Else- ben – ansonsten laufe ihr Online-Biblio-
vier oder Thieme im Angebot zu haben. thekszugang aus.
Gegen Bezahlung können Nutzer angeb- Die Behörden konnten nun nachvollzie-
lich auf 85 Millionen Dokumente zugrei- hen, wer hinter dem Angriff steckte. Die
fen, darunter Zigtausende deutsche For- Spur führte zu einem Institut in Teheran
schungsarbeiten. mit dem Namen Mabna. Zu dessen Auf-
Ihren Raubzug in der deutschen Wis- traggebern sollen die iranischen Revolu-
senschaft betrieben Teherans Papierdiebe tionswächter gehören. In Sicherheitskrei-
320 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 (D)
mit großem Aufwand und über Jahre. Die sen heißt es, das Institut sei eine Tarnfirma
Auch als E-Book erhältlich
Ermittler können erste Attacken bis in den der iranischen Spione.
Herbst 2014 zurückverfolgen. Im Januar Die Bundesanwaltschaft hat deswegen
2015 bekamen deutsche Behörden erst- ein Verfahren wegen des Verdachts auf
mals Wind von der Operation. Mitarbeiter »geheimdienstliche Agententätigkeit« ein-
Nie zuvor lagen in der deutschen
der Universität Göttingen erhielten Mails, geleitet. Doch Ermittlungen im virtuellen Politik der extreme Höhenflug und der
die auf sie zugeschnitten waren. Die Ab- Raum sind schwierig und langwierig – und krachende Absturz näher beieinander als
sender baten zum Beispiel um wissen- die Hacker suchen sich immer neue Ziele.
schaftliche Zusammenarbeit. »Sie haben nicht aufgehört«, sagt der bei Martin Schulz. Markus Feldenkirchen
Klickten die Empfänger auf einen Link, IT-Spezialist und Ex-FBI-Mann Crane hat den Kanzlerkandidaten und
öffnete sich eine professionell gefälschte Hassold, »die Attacke läuft weiter.« SPD-Vorsitzenden begleitet, so exklusiv
Webseite mit ihrem Universitätslogo und Das könnte auch für Deutschland gelten.
der Aufforderung, Benutzernamen und Inzwischen heißt es, dass auch hierzulande und hautnah, wie es in Deutschland
Passwort erneut einzugeben. Allein in Göt- Unternehmen angegriffen worden sein bislang nicht möglich gewesen ist.
tingen gelangten die Cyberdiebe so an die könnten. Ob am Ende ein Täter gefasst
Login-Daten von 34 Universitätsmitarbei- wird, ist unsicher.
tern. Das war beachtlich – aber sah noch Ein Ansatzpunkt, den die Fahnder
nicht wie ein flächendeckender Angriff aus.
Zwei Jahre später jedoch erreichte der
zwischenzeitlich hatten, führte offenbar
zunächst zu keinem Erfolg: Bei der Razzia
» Zweifellos eines der wichtigsten
Hinweis eines Nachrichtendienstes aus in Wuppertal sahen sie sich einem Mann politischen Bücher der letzten Jahre.
den Vereinigten Staaten die Bundesrepu- gegenüber, zu dem die Hacker womöglich Eine unglaublich dichte und selten
blik. Neben Göttingen seien 22 weitere eine falsche Spur gelegt hatten. Er soll, als zu lesende Nahaufnahme aus dem
deutsche Hochschulen betroffen, allesamt die Fahnder bei ihm auftauchten, verdutzt
mit Sitz in Hessen und Nordrhein-West- reagiert haben – und nach Einschätzung Maschinenraum der Macht. «
falen. Die Angreifer fälschten offenbar die der Ermittler »eine glaubhafte Erklärung« MARKUS LANZ, ZDF
Seite eines Bibliotheksportals, das viele dafür abgegeben haben, nichts mit der
Universitäten benutzen: Eine Mail verlei- Sache zu tun zu haben.
tete die Wissenschaftler dazu, auf dieser Jörg Diehl, Matthias Gebauer,
Martin Knobbe, Fidelius Schmid,
* Auf der Pressekonferenz zum iranischen Hacker- Wolf Wiedmann-Schmidt
angriff im Ministerium in Washington am 23. März.
Ihren Ausweis mal bitte! Ohne Kriege, Vertreibungen, Kaper- pass- und visumfrei reisen, sofern dort nicht gerade, wie in
fahrten oder Versklavungen ist man im Mittelalter als Normal- Polen, Aufstände an der Tagesordnung waren. Inzwischen
bürger nicht viel herumgekommen. Wenn doch, als Wander- genießt ein deutscher Pass höchste Wertschätzung gerade unter
geselle oder Kaufmann, stieß man kaum auf Grenzen. Nur man- Global Playern, die – aus welchen Gründen auch immer –
cherorts wurde am Stadttor nach einem Passierschein gefragt – gern über diverse Staatsbürgerschaften verfügen. Im Passport-
ein Zustand, der sich nur in Berlin bis in die jüngere Vergangen- Index der Beratungsfirma Henley & Partners rangierte Deutsch-
heit halten konnte. Ende des 19. Jahrhunderts verzichteten meh- land lange auf Platz 1, bis es kürzlich von Singapur und Japan
rere Nationalstaaten in Europa auf ein Visum. Mit Beginn des überholt wurde. Ein Originalreisepass der Bundesrepublik
Weltkriegs 1914 war damit Schluss. Ab 1925 wollten erste Län- Deutschland (32 Seiten, bordeauxroter Einband, Goldprägung,
der keinen Sichtvermerk mehr von den Deutschen sehen. Bis zur ab 37,50 Euro) gewährt problemlosen Einlass in 179 Staaten
Nazizeit konnte der deutsche Passbürger dann in immerhin rund der Erde. Ein afghanischer Pass ist zwar womöglich günstiger in
20 Länder reisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg vergrößerte sich der Anschaffung, erlaubt aber nur, 24 andere Länder ohne
der Reiseradius der (West-)Deutschen zügig. DDR-Bewohner Visum zu bereisen. Das erklärt vielleicht einen Teil der globalen
durften seit den Siebzigern nur ins nähere sozialistische Ausland Migrationsbewegungen. alexander.smoltczyk@spiegel.de
Verklärung land und Österreich beschränkt. In den ler plötzlich zu einer Figur mit gewisser
Gehört David Hasselhoff zu USA sind keine Konzerte bekannt. historischer Relevanz. Was läuft übrigens
Kleiner: Nun ja, es gibt ohne Frage den noch heute auf seinen Konzerten? Der
Deutschland, Herr Kleiner? deutschen David-Hasselhoff-Mythos, seit Mitschnitt von seinem Auftritt 1989.
er Silvester 1989 an der Berliner Mauer SPIEGEL: Aber erklärt das, warum heute
Professor Marcus S. Kleiner, 44, von der gesungen hat … bis zu 530 Euro pro Ticket gezahlt werden?
SRH Hochschule der populären Künste in SPIEGEL: … kurz vor dem Ende der DDR Kleiner: In Deutschland, und das finde ich
Berlin über den Mythos Hasselhoff war »Looking for Freedom« Nummer eins etwas besorgniserregend, gibt es einen
der deutschen Charts. ausgeprägten Nostalgiewahn. Kultserien
SPIEGEL: Derzeit ist David Hasselhoff mit Kleiner: Damals wurde wie »Baywatch« oder
seiner »30 Years Looking for Freedom«- dieser Mythos geboren. Die- »Knight Rider«, die nach
Tour unterwegs. Sie finden das faszinie- se besondere Verbindung heutigen Maßstäben
rend. Warum? zwischen Deutschland und medienästhetisch furcht-
Kleiner: Ja, Hasselhoff, heute 65, ist ein Hasselhoff, der ja deutsche bar sind, werden gern
Serienstar aus den ironiefreien Achtziger- Vorfahren hat. Natürlich ist geschaut. Es gibt eine mas-
TAMARA BIEBER / BABIRADPICTURE
jahren. Perfekter Körper, perfekte Moral. es absurd zu denken, dass sive Verklärung der guten,
Heute strömen noch immer Leute in seine Hasselhoff etwas mit dem alten Zeit. Das Zurückseh-
Konzerte. Nicht nur die ältere Generation, Fall der Mauer zu tun hat – nen ins Vergangene lässt
sondern auch 20-Jährige, die jetzt aber die Legende gibt es ja –, sich ja teilweise auch durch
seine lockere, selbstironische Art mögen. aber der Mythos existiert. politische Entwicklungen
SPIEGEL: Man muss ehrlicherweise sagen, Dadurch wurde ein völlig beobachten, Stichwort:
dass Hasselhoffs Tour sich auf Deutsch- unpolitischer Seriendarstel- AfD. JMO
kann man beides auf einen Schlag Jüdischer Gemeinden, der Famili-
ändern, die Sache mit dem Hund enmitglieder während des Holo-
und die Sache mit YouTube. Dann caust verloren hat. Er sah sich das
hatte er die Idee. Video an und sagte: »Das ist grob
Er wollte Buddha heimlich bei- Mops Buddha beleidigend, und ich verstehe nicht,
bringen, die rechte Pfote zu heben. wie jemand das lustig finden
Und zwar immer dann, wenn der kann.«
Hund das Kommando »Sieg Heil« Meechans Anwalt warf der
hört. Außerdem sollte Buddha sei- Staatsanwaltschaft vor, das Video
nen Kopf zur Seite legen und sein nicht in seinem Kontext zu beurtei-
Herrchen skeptisch anschauen, Von der Website Noizz.de len. Es gebe keinen Hinweis darauf,
wenn er den Satz »Vergas die Ju- dass Meechan ein Antisemit sei.
den« hört. Späße mit dem Nationalsozialismus waren offen- Das Video sei aus privaten Gründen hergestellt worden, nicht
bar Späße, über die Mark Meechan lachen konnte. aus ideologischen. Wenn man sich durch Meechans YouTube-
Es war nicht besonders schwer, den Hund zu trainieren. Kanal klickt, sieht man Filme, in denen er Veganer veralbert,
Meechan brauchte nur Geduld und Leckerchen, und aus dem weiße und schwarze Rassisten, den Kommunismus und Steven
Heben der rechten Pfote wurde ein Hitlergruß. Als das ver- Spielberg. Manchmal tanzt Meechan auch, manchmal singt
lässlich funktionierte und als Buddha auch fehlerfrei seinen er. Die meisten Aufrufe hat ein kurzer Musikclip, der nach
Kopf zur Seite legen konnte, sobald er den Befehl »Vergas Ansicht von YouTube nicht jugendfrei ist und in dem Meechan
die Juden« hörte, lud Meechan seine Freundin zur Urauffüh- die Nationalisten der Welt schmäht. Antisemitische Spuren
rung ein. Sie war mäßig amüsiert. finden sich nicht. Aber ist das wirklich wichtig?
Mark Meechan ließ sich nicht beirren. Er filmte den Mops Richter Derek O’Caroll jedenfalls kümmerte das alles nicht.
bei seinen neu erlernten Kunststücken und veröffentlichte Er sprach Meechan schuldig, weil das Video grob beleidigend
das Video auf YouTube, auf seinem Kanal, den er unter dem sei, vertagte aber dann die Verkündigung des Strafmaßes.
Namen Count Dankula führt. Meechan war offensichtlich Das Urteil soll noch im April gesprochen werden, das
ganz hingerissen von dem Hund, womöglich auch von sich Höchstmaß wären sechs Monate Gefängnis. Mark Meechan
selbst. Jedenfalls ließ er Buddha in dem Zweieinhalb-Minu- scheint das nicht weiter zu kümmern. Auf seinem Twitter-
ten-Clip neunmal die rechte Pfote zum Gruß heben. Account nimmt er das Urteil vorweg, er schreibt: »Professio-
Bevor Meechan das Video ins Internet stellte, zählte sein nal Shitposter. Going to jail for a Joke.«
YouTube-Kanal 8 Abonnenten. Heute sind es 180 000, seine Dann folgt eine Mailadresse. Laut Meechan für geschäft-
Videos wurden über 13 Millionen Mal aufgerufen. Meechan liche Anfragen. Uwe Buse
61
Gesellschaft
Help!
Verlassenheit Ein junger Flüchtling aus Iran wird in Berlin drogensüchtig und prostituiert sich.
Aus dem Alltag eines Überlebenskampfes mitten in Deutschland.
Von Barbara Hardinghaus, Fotos: Charlotte Schmitz und Johanna Maria Fritz
N
avid spricht nicht viel Deutsch, fen, und es gab Tage, an denen er das Geld hinunter und fährt eine Station bis zum
es sind nur ein paar Wörter. für das Heroin seiner Freunde einfach mit- Hansaplatz.
Hallo. Tschüss. Alles gut? Wie verdiente, 200, 300 Euro am Tag. Er hat Was er weiß, ist, dass der Freund zuletzt
heißt du? Ich heiße. Heroin. ein Weltstarlächeln, er könnte Schauspie- im Holzhaus auf der Rutsche vom Spiel-
Methadon. Arzt. Gehen Park. Sex. ler sein oder Teeniestar. platz geschlafen hat, aber da war er schon
Navid ist ein junger Mann, 30 Jahre alt, »Die deutschen Männer wollen alle Af- lange nicht mehr.
braune Haare und braune Augen, in ghanen«, sagt er. Unten in der U-Bahn sitzen obdachlose
Afghanistan geboren, in Iran aufgewach- Warum? Trinker, Navid kennt sie alle, weil sie jeden
sen. Er ist als Flüchtling vor gut zwei »Keine Ahnung.« Tag auf derselben Bank sitzen, an der Na-
Jahren nach Deutschland gekommen. Da- Navid und die anderen aus dem Tiergar- vid jeden Tag vorbeiläuft. Aber er hat
mals wog er 70 Kilogramm. Er sah müde ten nennen die deutschen Männer Siggi noch nie mit ihnen gesprochen.
aus, aber gesund. Heute wiegt er Er trifft einen Kollegen, der seit
50 Kilogramm. Seine Arme ste- Stunden im Park gewesen war und
cken in einem dunkelblauen Ano- jetzt mit der Rolltreppe hinabge-
rak wie Stöcke. fahren ist, um sich aufzuwärmen.
Er hat sich bereit erklärt, über Der Kollege glaubt zu wissen, wo
sein Leben zu sprechen. Vielleicht, Navids Freund jetzt ist. Navid
weil er hofft, etwas ändern zu kön- läuft hinaus aus dem Schacht,
nen, wenn er sein Leben öffentlich draußen ist es dunkel geworden,
macht. Er möchte nur nicht, dass er läuft an einer Mauer entlang
man seinen echten Namen erfährt und dann tief in ein Gebüsch
und auf Fotos sein Gesicht erkennt. hinein, er leuchtet mit seinem
Wir treffen uns in einem Café an Handy in das Gestrüpp, aber da
der Turmstraße in Berlin-Mitte, ist nichts mehr, niemand, nur ein
eine Dolmetscherin ist dabei, Navid bisschen Müll.
spricht kein Englisch, nur Persisch. Navid geht über Schotterwege
Was hast du heute gemacht? zurück in den Park, dahin, wo
»Geschlafen und geraucht«, sagt die Technische Universität liegt.
Navid. Über 200 Hektar ist der Park groß,
Und dann? durch seine Mitte verläuft, sechs-
»Wieder geschlafen, wieder ge- spurig, die Straße des 17. Juni
raucht. Und dann bin ich spazieren wie eine Ländergrenze. Auf der
gegangen.« einen Seite, nördlich, leben die
Navid lebt in einem Container- Afghanen, auf der anderen junge
dorf am Stadtrand von Berlin. Bulgaren und Rumänen. Sie sind
Wenn er zu Hause ist, schläft er im selben Alter wie Navid, sie ma-
meistens. Tagsüber läuft er durch chen dasselbe wie er, aber jedes
den Tiergarten in Mitte und wartet Mal, wenn er einen von ihnen
darauf, mit deutschen Männern ins sieht, fragt er: »Warum arbeitest
Geschäft zu kommen. Er ist ein du nicht? Du kannst doch arbei-
Stricher. Und der große Park, die ten!« Es ist wie eine Frage an sich
Lunge von Mitte, der Vorgarten selbst.
des Kanzleramts, ist sein Revier. Er macht oder Hansi, gepflegte Erscheinungen meist, Navid ist jetzt an einem Toilettenhaus
es hier für 30 Euro. Um sein Leben auszu- die sich jünger anziehen, als sie sind. angekommen, direkt unter der Siegessäule.
halten, raucht er Heroin. Wer sind die? Über ihm erhebt sich, triumphal, erhaben,
Wie viel rauchst du? »Keine Ahnung, manche sind schwul, die goldglänzende Siegesgöttin.
»Ein paar Kugeln. Zwei Gramm«, sagt manche haben eine Frau oder Familie. Die Vor dem Toilettenhaus stehen die älte-
Navid. sind alle älter, 50, 60, haben so einen ...«, ren Berliner Herren. Hier beginnt das
Seine Haut ist glänzend grau, sein Blick er zeigt mit dem Zeigefinger an seinen Spiel. Und das Spiel geht so: Wenn sie sich
weit entfernt. Er trägt eine grüne Kappe Hinterkopf. erkennen, verzögern sie den Schritt. Blei-
mit den Initialen R F, Roger Federer. Er »Haarkranz.« ben stehen. Kreuzen ihre Blicke. Gehen
weiß aber nicht, wer Roger Federer ist. Navid steht auf, er will raus in den Tier- ein Stück weiter. Bleiben wieder stehen.
Im vergangenen Sommer war Navid garten, einen seiner Freunde finden. Er Gehen hinter den Rhododendron. Im
fast immer im Park. Er hat im Park geschla- läuft die Stufen zur U-Bahn Turmstraße Matsch darunter liegen Kondome und
Taschentücher. Das Spiel begann im vori- Winter in dieser Stadt würde ihnen das Kind, das in einem weißen T-Shirt auf
gen Sommer. Problem vom Hals schaffen. Im Herbst einer Mauer unter einem Baum sitzt. Al-
Der Tiergarten, einst als Jagdrevier an- schnitten die Landschaftsgärtner die Bü- les ist hell von der Sonne beschienen. In
gelegt, Mitte des 18. Jahrhunderts unter sche zurück. Die Zelte verschwanden von seinem Handy kann er sich mit ein paar
Friedrich dem Großen umgebaut als Ort den Wiesen. Handbewegungen zwischen zwei Welten
zur Erholung fürs Volk und heute von Und wo sind die Flüchtlinge jetzt? bewegen, die normalerweise nichts mit-
TripAdvisor ausgezeichnet mit fast fünf »Im Park«, sagt Navid. einander zu tun haben.
Sternen, ein Must-have für Touristen aus Ihre Zelte liegen versteckt unter Tannen- Als er zehn Jahre alt war, nahm ihn sein
aller Welt, war über Nacht ein Ort der bäumen, die sie sich nach Weihnachten von Cousin mit in die Hauptstadt Teheran
Hölle geworden. Gekapert von Obdach- den Gehwegen gezogen haben. Sie treffen zum Arbeiten. Auf den Baustellen verleg-
losen, von Strichern, von lüsternen Rent- die Männer jetzt im Kino, 50 Euro, im Auto, te er Kabel und Fliesen. Mit 15 machte
nern, von grillenden Gangs, ein Zeltlager 80 Euro, in der Wohnung, 100 Euro, da ist er sich selbstständig, mit 17 wurde er von
der Verlorenen, der Heimatlosen. Das Duschen inklusive. Das sind jetzt die Tarife, seinen Eltern zwangsverheiratet. Sie
Mahnmal einer gescheiterten Flüchtlings- im Winter-Business. Es lebt von Stamm- machten einen Ehevertrag, in dem stand,
politik. Die deutsche Bronx, mitten im kunden. dass er 300 Goldstücke zahlen müsse,
Herzen der supercoolen Hauptstadt, ohne Navid hat seine Stammkunden im Han- 75 000 Euro, wenn diese Ehe scheitern
Gesetze, ohne Aufsicht, ohne Zuständig- dy gespeichert, mit Foto und Telefonnum- würde. Das Paar bekam einen Sohn, und
keit. mer. Er zeigt Bilder vom »Mann aus Span- als die Ehe scheiterte, schickten ihn seine
Der Bezirk, zuständig für die Eltern nach Europa, weil er keine
Obdachlosen, nicht aber für die 300 Goldstücke hatte.
Flüchtlinge, gab die Verantwor- Es war der 15. September 2015,
tung weiter an das Land, zuständig an dem er aufbrach, in Jeans,
für die Flüchtlinge, aber nicht für T-Shirt, Turnschuhen. Die Grenze
die Obdachlosen. Und auch wenn zur Türkei überschritt er zu Fuß
die Polizei ab und zu mal vorbei- und allein. Da war sein Sohn drei
schaute, hinderte niemand Navid Monate alt. Am 5. Oktober kam
daran, Heroin zu rauchen und Sex er mit dem Zug in München an,
zu verkaufen für wenig Geld. es war die Zeit, als Deutschland
Im Spätsommer ließ das Bezirks- seine Flüchtlinge mit Brezeln und
amt zwei Streetworkerinnen in den Luftballons empfing. Er stieg aus,
Park, geschickt von einem Verein, die Deutschen nahmen seine Fin-
der es gut meinte mit Flüchtlingen. gerabdrücke, er fuhr weiter nach
Das Bezirksamt bezahlte für Finnland, wollte bleiben, weil er
die Arbeit der beiden Frauen die Natur mochte und die stillen
43 014 Euro, der Job war befristet Menschen, aber er hörte zum
bis Ende Dezember. Sie verteilten ersten Mal den Begriff Dublin-
Flyer unter den Leuten, auf den Abkommen. Er verstand, dass
Flyern waren Adressen und Tele- Flüchtlinge da bleiben müssen,
fonnummern, bei denen man Hilfe wo sie zum ersten Mal registriert
suchen konnte. Navid speicherte wurden. Er musste zurück nach
die Nummer von den Streetworke- Deutschland. So landete er in
rinnen in seinem Handy. Berlin.
Im Oktober, der Herbst war Ein Fliesenleger aus Teheran,
jetzt da, hatte der Chef des Vereins den die Zeitläufte in den Berliner
beim Land Berlin einen Antrag ge- Tiergarten geschossen hatten.
stellt, in dem er schrieb, dass die Er stellte einen Asylantrag und
jungen Männer aus dem Tier- wartete. Aber es bewegte sich
garten auch im Winter dringend nichts. Er schlug seine Tage tot. An
Hilfe brauchten. einem dieser Tage stand er da, wo
Dass sie ja nur obdachlos geworden dau«, auf einem Bild sieht man einen viele Flüchtlinge stehen, U-Bahnhof Turm-
seien durch die »chaotische Aufnahme- Mann am Strand, von rechts wehen Haare straße.
situation der Asylbewerber in Berlin in einer Frau ins Bild. Auf einem anderen »Nimm es!«, hörte er den Dealer sagen.
den Jahren 2015/2016 in überfüllten Not- Foto liegt der Mann aus Spandau im Pool Die erste Kugel war kostenlos.
unterkünften«, durch »die Belegung in einer Ferienanlage, mit Sonnenbrille. Dar- In den ersten Tagen hatte er das Gefühl,
Wohnheimen ohne Privatsphäre«. Er er- unter der Chatverlauf, mit Dutzenden Her- dass er irgendwo weit oben war, nicht
innerte daran, dass diese Menschen Ver- zen, mit Emojis, die Küsse verschicken. mehr auf der Erde. Sie legten mit sechs
folgung, Flucht, Krieg erlebt hatten. Auch das gehört zur Wirklichkeit deut- Leuten ihr Sozialgeld zusammen, kauften
Er erwähnte einen Paragrafen aus dem scher Willkommenskultur. für 1000 Euro Heroin, schlossen die Augen
EU-Flüchtlingsrecht, der einen besonde- Es ist nicht so, dass Navid nach Deutsch- und benahmen sich wie Verrückte.
ren Schutz für körperlich und psychisch land wollte. Er wollte nirgendwohin. Er Und dann?
kranke Flüchtlinge vorsieht. wollte eigentlich immer in Iran bleiben. Er »Ich habe geraucht, geraucht.«
Und er schlug vor, ein Wohnheim zu er- erzählt gern von Iran, von seiner Kindheit Woher hattest du dann das Geld?
öffnen, mit 20 Schlafplätzen, wo Männer in Varamin, eine Stunde südlich von Te- »Aus dem Tiergarten.«
wie Navid zur Ruhe kommen, ihre innere heran, ein Leben zwischen Wassermelo- Jemand hatte ihm gesagt, der Tiergarten
Sicherheit wiederfinden würden. nen, Granatäpfeln und Weintrauben. sei ein guter Ort.
Er bekam keine Antwort. Vielleicht In seinem Handy gibt es auch noch Bil- Navid hatte vorher nie etwas mit Män-
haben sie in Berlin gedacht, der ewige der aus dieser Zeit. Eines zeigt ihn als nern gehabt. Als er in Deutschland ankam,
65
»Nein«, sagt Navid.
»Seit wann rauchen Sie?«, »Wann rau-
chen Sie?«, »Haben Sie in Deutschland an-
gefangen?«
Als alle Fragen beantwortet sind, sagt
der Arzt: »Im Moment sind wir voll aus-
gelastet, es wird Monate dauern, bis es los-
gehen kann.«
Es sind immer zu wenig Plätze. Und seit
es so viele Flüchtlinge in der Stadt gibt,
sind es noch weniger Plätze.
Der Arzt reicht Navid noch eine Karte
mit der Telefonnummer seiner Praxis.
»Ansonsten würde ich Ihnen wärmstens
empfehlen, am Donnerstag mal anzurufen
und nachzufragen. Wir möchten auch Ei-
geninitiative sehen.«
Dann gibt er ihm noch einen grünen
Flyer mit, denselben, den er im ver-
gangenen Sommer schon einmal be-
kommen hat, von den Streetworke -
rinnen, Adressen und Telefonnummern
für den Notfall.
»Alles, alles Gute!«, sagt der Arzt noch.
Das Nachrichten-Magazin
Navid läuft die Treppen hinunter, er
wirft den Flyer auf den Boden, als wäre es
eine unerwünschte Werbung. Er bleibt un-
ten vor der Tür stehen und spielt das Spiel,
das er nicht versteht. »Help!«
für Kinder. Fährt den Weg zurück, U7, S41, bis Ge-
sundbrunnen. Sagt kein Wort.
Steigt aus und läuft durch ein Einkauf-
szentrum, das er mag. Hört sein Telefon
läuten, seine Schwester ist dran und fragt
ihn nach Geld.
Während sie miteinander reden, ist eine
Jetzt neue Sprachnachricht angekommen. Er
testen:
hört sie ab, nachdem er sich von seiner
Schwester verabschiedet hat. Eine Män-
nerstimme, sie sagt: »Kannst du mal nach-
www.deinspiegel.de sehen, ob du Filzläuse hast im Intimbe-
reich? Ich habe das jetzt das zweite Mal
nach dem Sex mit dir.«
Er kommt an in seinem Containerzim-
mer, zwei Mahnbescheide liegen da, weil
er schwarzgefahren ist, und ein Brief vom
Jobcenter, das ihm das Geld streicht, weil
er nicht mehr zum Deutschkurs kommt.
Draußen zwitschern die ersten Vögel.
Im Tiergarten ist der Frost verschwunden,
es wird allmählich Frühling. Navid zieht
sein Handy aus der Jacke und wählt die
Nummer der Streetworkerinnen, die er im
vorigen Jahr gespeichert hatte.
Aber er hört nur eine elektronische
Stimme, die sagt, dass diese Nummer nicht
mehr vergeben ist.
66
Gesellschaft
Unterschreiben
sels seien, spreche für uns. Dann verschwand sie in die Feier-
tage. Es war Pessach. Yves schrieb: Ich warte!!! Ich rief die
Kollegin an, die beim SPIEGEL fürs Geld zuständig ist, und
Sie hier
sagte: Ich nehm es auf meine Kappe. Sie überwies das Geld.
Yves entspannte sich augenblicklich. Er sagte: »Du musst
wissen, Alex, das Land ist verrückt. Man kann hier nieman-
dem trauen.«
Seltsamerweise empfinde ich inzwischen das Gegenteil.
Leitkultur Alexander Osang erfährt, wie man Ich traue jetzt allen.
in Israel seine Ängste loswerden kann. Auf dem Amt, das die Arbeitsvisa erteilt, erzählte ich einer
älteren Dame, welche Länder dieser Welt ich bereits bereist
habe und wie viele Kinder ich habe. Ich nannte ihr die Vor-
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile Wertvolle Wunschprämie für den Werber. Frau
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ųŋvœšųĬťŝšğĴťťŭćŭŭǾǽōųšǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ>ĴğĨğšųōĬ
ųĨwųōťĔıĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĨŸšōųšǽǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ Straße, -ćųťōš Geburtsdatum
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Wirtschaft
»Die Trumps kommen und gehen. Die Gefahr, dass Facebook bleibt, ist groß.« ‣ S. 78
Klaus Müller, 47, über men mit ungerechtfertigten Klagen über- auf 118 000. Dafür wuchs die Zahl der
einen neuen Gesetz- ziehen. Ist die Sorge berechtigt? täglichen Onlinenutzer um neun Pro-
entwurf für Musterfest- Müller: Nein, denn im Gesetzentwurf ist zent auf 175 000. Zu den Abo-Zahlen
stellungsklagen es geregelt, dass die klageberechtigten des im Sommer 2017 gestarteten
Verbände bestimmte Qualitätsmaßstäbe Deutschland-Ablegers »NZZ Perspek-
SPIEGEL: Was soll sich durch das vom erfüllen müssen. Außerdem dürfen sie tive« teilt der Verlag nur so viel mit:
Bundesjustizministerium geplante keine kommerziellen Interessen verfol- Sie seien besser als erwartet. BAZ
Gesetz ändern? gen. Ein Richter könnte eine Musterfest-
Müller: Verbraucher können sich etwa stellungsklage eines Abmahnvereins also
bei ungerechtfertigten Bearbeitungs- problemlos zurückweisen. Der Wider-
gebühren für Kredite oder unzulässigen stand etwa aus dem Bundesinnen- und
Kosten für ihren Handyvertrag in Listen dem Bundeswirtschaftsministerium in
eintragen. Verbände können dann für dieser Frage ist nicht nachvollziehbar.
diese Bürger ein Musterfeststellungs- SPIEGEL: Droht das Vorhaben daran zu
urteil erstreiten. Darauf können sich Ver- scheitern?
braucher später berufen, um Entschädi- Müller: Das muss die Bundeskanzlerin
gungen zu erhalten. im Zweifel mit einem Machtwort verhin-
SPIEGEL: Warum braucht es dieses neue dern. Denn das Gesetz ist im Koalitions-
Klageinstrument überhaupt? vertrag klar vereinbart. Darin heißt es
Müller: Die Musterfeststellungsklage auch, es müsse bis zum 1. November in
wird die Rechtsdurchsetzung für Ver- Kraft treten. Nur so könnten die vielen
KROHNFOTO.DE
71
ALEX KRAUS / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
Bosch-Logo, Produktion von Einspritzpumpen in Stuttgart: Größter Profiteur des Dieselbooms
72
Wirtschaft
T
ageslicht sehen die Ermittler der Weik, 51, eine erfahrene Juristin, leitet die industrie bekannt wurden – Bosch steckte
Abteilung Diesel derzeit selten. Schwerpunktabteilung Wirtschaftskrimi- mittendrin.
Das Justizgebäude mit grauer nalität. Sie verantwortete zuletzt das Schle- So spielt der Konzern in gleich drei Kar-
Fassade und rostbraunen Fenster- cker-Verfahren, an dessen Ende die Kinder tellverfahren eine Rolle. Vor wenigen Wo-
rahmen wird gerade aufwendig saniert. des Drogeriemarktgründers Anton Schle- chen musste das Unternehmen eine zwei-
Viele Fenster und Türen sind zum Schutz cker zu Haftstrafen verurteilt wurden. stellige Millionenstrafe zahlen, weil es sich
vor Staub und gefährlichen Fasern mit di- Im Fall Bosch gehen die Ermittlerinnen mit Konkurrenten über Bremssysteme und
cken Planen und Folien verklebt. bislang von Beihilfe aus. Doch vieles Zündkerzen abgesprochen hatte. Das
Hinter der Bauverkleidung arbeiten sich spricht dafür, dass Bosch nicht nur unwis- Bundeskartellamt ermittelt zudem, ob der
die Strafverfolger immer tiefer ein in die sender Helfer, sondern vielleicht sogar Mit- Zulieferer zusammen mit den deutschen
Akten eines Falls, der zu einem der spek- initiator des weltweiten Betrugs an Um- Autobauern über Jahrzehnte hinweg die
takulärsten Wirtschaftskrimis der jüngeren welt, Behörden und Dieselkäufern war. Einkaufspreise von Stahl manipuliert hat.
Industriegeschichte werden könnte: des Interne Protokolle und E-Mails belegen, Im sogenannten Fünferkartell der deut-
Betrugs von Millionen Dieselkäufern dass sich Bosch-Manager mit den Autoher- schen Autobauer, das die EU-Wettbewerbs-
durch Autohersteller wie Volkswagen, stellern VW, Audi, BMW, Daimler und teil- behörde wegen möglicher illegaler Abspra-
Audi, Porsche oder Daimler. weise auch Porsche minutiös über Mani- chen bei Technik und Abgassystemen unter-
Vergangenes Jahr hatten die Staats- pulationsfunktionen in der Steuerungssoft- sucht (siehe SPIEGEL 30/2017), war Bosch
anwälte gegen Mitarbeiter der in Stuttgart ware ausgetauscht und abgestimmt haben. zumindest teilweise mit von der Partie.
ansässigen Autobauer Porsche und Daim- Aus diesen Dokumenten, die dem SPIE- Im schlimmsten Fall wird Bosch in die-
ler Ermittlungsverfahren eingeleitet, noch GEL, Kartellwächtern und Ermittlungsbe- sen Verfahren zu hohen Strafzahlungen
in dieser Woche durchsuchten sie beim hörden vorliegen, geht hervor, dass Bosch verurteilt. Regress droht dem Unterneh-
Sportwagenhersteller in Zuffenhausen Fir- eine weitaus aktivere Rolle in der Betrugs- men zudem aus Dutzenden Zivilklagen
menzentralen und Privatwohnungen von affäre gespielt haben dürfte als bislang aufgebrachter Dieselkunden, die in den
Managern. Es geht um die Verschmutzung bekannt. nächsten Monaten und Jahren in den USA
der Umwelt, die Umgehung von Geset- Das Image vom guten und sauberen und in Europa entschieden werden. An-
zen – und um die Frage, welche Rolle ein Unternehmen, das der Elektronikkonzern wälte und Richter sehen nicht nur die
Konzern dabei spielte, der als Vorzeigeun- so gern propagiert, wird dadurch zur Farce. Autobauer in der Pflicht, Kunden und
ternehmen der deutschen Wirtschaft galt: Angekratzt war es schon vorher: Wann Anleger zu entschädigen, sondern auch
die 1886 gegründete Robert Bosch GmbH. immer Affären und Skandale in der Auto- Bosch. Der Zulieferer sei ein »wissender
Acht Personen stehen derzeit im Visier und aktiver Teil in einer massiven, jahr-
der Strafverfolgungsbehörde. Die Staats- zehntelangen Verschwörung« mit VW,
anwälte untersuchen, ob Bosch als Liefe- Bosch-Umsatzanteile Audi, Mercedes und anderen gewesen,
rant elektronischer Bauteile und Steue- nach Bereichen 2017 sagt etwa der US-Anwalt Steve Berman.
rungssoftware von der Manipulation der Erste Gerichte in den USA haben Prozesse
Dieselabgassysteme gewusst oder sogar gegen Bosch bereits zugelassen.
daran mitgewirkt haben könnte. In einem Verfahren gegen General Mo-
Unter dem Druck der Ermittler in tors und Bosch beschied ein Gericht, die
Deutschland und den USA hat sich Bosch Kläger hätten »plausibel dargelegt, dass
für eine riskante Doppelstrategie entschie- Unter- Bosch und GM ein Vorhaben betrieben
den. In der Öffentlichkeit versucht das 61 % nehmens-
24% haben, das offenkundig darauf abzielte,
Unternehmen, die Dieselaffäre totzu- Fahrzeug- umsatz Konsumgüter Verbraucher und Behörden zu betrügen«.
schweigen. Den Untersuchungsausschuss technik 78 Mrd. €
Bosch erklärt zu den Vorwürfen, man
des EU-Parlaments speisten die Manager äußere sich grundsätzlich nicht »zu Details
nur mit Floskeln ab. Gegenüber Strafver- dieser Verfahren«. Bosch unterstütze lau-
folgern und Verkehrsbehörden hingegen 8% fende Ermittlungen und kooperiere »un-
gibt Bosch den Whistleblower. Der Zulie- 7% Industrietechnik eingeschränkt und vollumfänglich« mit
ferer verpfeift Großkunden, legt internen Energie- und den zuständigen Behörden.
Schriftverkehr offen. Das Ziel: möglichst Gebäudetechnik So unberührt von den Vorwürfen sich
unbeschadet aus der Affäre zu kommen. Bosch nach außen auch gibt, der Skandal
Ob das Kalkül aufgeht, hängt vor allem Entwicklung des Umsatzanteils rüttelt am Selbstverständnis des Stiftungs-
von zwei Stuttgarter Ermittlerinnen ab. Si- der Fahrzeugtechniksparte konzerns, der noch immer vom Mythos
bylle Gottschalch, 42, gilt unter Kollegen 68% und moralischen Anspruch des Firmen-
als zäh, unerschrocken, extrovertiert. Eine 61% gründers Robert Bosch zehrt, lieber Geld
59 %
Staatsanwältin, die in Verhören sehr un- zu verlieren als Vertrauen. »Die Diesel-
gemütlich werden kann. Ihre Chefin Beate 2008 2014 2017 affäre steht in krassem Widerspruch zum
Wertekanon und dem über Jahrzehnte ge- von Klägeranwälten wird Denner als »Mr Techniker von Bosch gemeinsam mit den
pflegten Selbstverständnis von Bosch«, Diesel« bezeichnet. Er war ab 1998 Ent- Autobauern Strategien, wie mit neuen, im-
sagt der Historiker und Bosch-Biograf Jo- wicklungsleiter für Motorsteuergeräte, lei- mer strengeren Abgasnormen und Um-
hannes Bähr. Die Affäre könne Bosch in tete ab 2003 den Bereich »Automotive weltgesetzen umzugehen sei.
eine Identitätskrise stürzen. Electronics« und stieg drei Jahre später in Konkret geht es in den Dokumenten um
Kaum ein Unternehmen der Auto- und die Geschäftsführung auf. die Jahre 2006 und 2007. Da verschärften
Zulieferbranche hat vergleichbar stark Just zu dieser Zeit erreichte die Diesel- die US-Behörden die Vorschriften für Die-
vom Dieselboom der Neunziger- und geschichte einen Wendepunkt: Aus einem selfahrzeuge. Ohne teure Eingriffe in die
Zweitausenderjahre profitiert. Die Stutt- Erfolg wurde ein Betrugsfall. Zum Chiffre Produktion, so viel war den Autobauern
garter machten aus dem stinkenden Diesel für den Skandal wurde ECD17. schnell klar, waren die Anforderungen
mithilfe neuartiger Hochdruckeinspritz- Das Kürzel steht für »Electronic Diesel nicht zu erfüllen. Ihr Versprechen, die Ab-
systeme einen Hightech-Antrieb. Sie er- Control«. In den gerade einmal zehn Zen- gase mithilfe des Harnstoffgemischs Ad-
höhten Drehmoment und Leistung des timeter großen Boxen haben die Bosch-In- Blue gesetzeskonform zu reinigen, konn-
Motors und senkten zugleich den Ver- genieure Tausende Zeilen Programmier- ten sie oft nicht halten. Es scheiterte unter
brauch und die Emissionen. Die Verkaufs- codes untergebracht. Sie regeln und über- anderem daran, dass die verbauten Tanks
zahlen stiegen rasant – und mit ihnen der wachen das komplette Motormanagement, zu klein waren, um die notwendige Menge
Erfolg von Bosch. die Zündung, die Einspritzung des Diesel vorzuhalten (siehe SPIEGEL 32/2017).
Schon wenige Jahre später ging ohne oder die Motortemperatur. Und das Ab- So ersannen die Techniker von Bosch
die Stuttgarter nichts mehr in der weltwei- gasverhalten der Autos. gemeinsam mit den Autoherstellern Tricks,
ten Dieselfertigung. VW-Manager spra- In dieser Software, benutzt in Autos von wie sie die Menge des eingespritzten Ad-
chen offen von einer Monopolstellung des Marken wie VW, Audi, Porsche, Opel oder Blue möglichst unbemerkt von den Behör-
Bosch-Konzerns und riefen die Wettbe- Mercedes, entdeckten Experten später du- den reduzieren konnten. Die Autos sollten
werbsbehörden zu Untersuchungen auf. biose Funktionen, mit deren Hilfe die Ab- so präpariert werden, dass sie die niedri-
Verantwortet wurde das Dieselwunder gasreinigung gedrosselt und manipuliert gen Grenzwerte in Tests einhielten, nicht
bei Bosch maßgeblich von zwei Männern, werden konnte. Auch illegale Abschaltein- unbedingt auch auf der Straße.
die den Konzern bis heute lenken: dem richtungen und Software zur Prüfstands- Die internen E-Mails, formuliert in
heutigen Aufsichtsratschef Franz Fehren- erkennung waren darunter. kryptischem Ingenieursdeutsch, zeigen:
bach, 68, und Geschäftsführer Volkmar Bosch will von alldem nichts gewusst Allen Beteiligten war klar, dass sie zumin-
Denner, 61. Fehrenbach leitete den Bereich haben. Man sei, beteuern Konzernmana- dest in Graubereichen arbeiteten. In einer
Dieselsysteme, bevor er 2003 an die ger, in die Dieselaffäre ohne aktives Zutun E-Mail aus dem Jahr 2006 heißt es bei-
Bosch-Spitze rückte. Er baute das Image »hineingeraten«. Zwar habe man die Kom- spielsweise: Wenn die Behörden von einer
des grünen und fairen Konzerns auf, ver- ponenten geliefert und auch die Software solchen Limitierung Kenntnis erlangten,
bunden mit dem Anspruch moralischer programmiert. Die konkrete Bestimmung werde dadurch eine »Außerhalb-Testzy-
Überlegenheit. In der Finanzkrise echauf- der Software aber habe man nicht gekannt. klus-Erkennung« offenbart. Es war eine
fierte sich Fehrenbach über die »verant- Verantwortlich für den Einsatz und den unverhohlene Warnung, sich nicht erwi-
wortungslosen Praktiken« der Banken. Betrug seien ausschließlich die Autobauer. schen zu lassen.
Sein Nachfolger Denner ist ein trocke- Das ist schwer zu glauben. Denn die Aufgabe der Bosch-Ingenieure war es,
ner, introvertierter Typ. Der promovierte dem SPIEGEL vorliegenden Protokolle solche Funktionen in die Software einzu-
Physiker sagt, er orientiere sich an Fakten, über Treffen von Bosch mit BMW, VW, arbeiten. Der Zulieferer und die Hersteller
nicht an Emotionen. Seine Forderung: Das Audi und Daimler sprechen eine andere diskutierten lebhaft, die eingespritzte Ad-
»Diesel-Bashing« müsse endlich aufhören, Sprache. In diesen Runden ersannen die Blue-Menge zu begrenzen, und zwar in
Abhängigkeit von Parametern wie »Dreh-
zahl«, »Umgebungstemperatur« oder
»Höhe«. Solche Parameter sind bei Fahr-
zeugtests fest definiert. Mit ihrer Hilfe
kann eine Software etwa erkennen, ob sich
das Auto auf dem Prüfstand befindet oder
auf der Straße.
VW und Audi hatten so etwas für ihre
Autos bereits unter dem Tarnnamen
»Akustikfunktion« entwickelt, angeblich
war sie zunächst dafür vorgesehen, das
Nagelgeräusch der Motoren zu reduzieren.
Die US-Behörden sahen darin später eine
Betrugssoftware – und verlangten von VW
Milliardenstrafen.
Die Protokolle der Arbeitskreise zeigen,
HAROLD CUNNINGHAM / GETTY IMAGES
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in Tests in den AdBlue-Sparmodus um- kunden VW nicht brüskieren wollten.
schalten. Auch verräterische Spuren soll- Beim Thema Diesel bestand zwischen bei-
ten die Bosch-Ingenieure beseitigen. Im den eine unheilvolle Abhängigkeit: VW
Januar 2007 hielt ein Autohersteller im brauchte die Bosch-Technik. Und Bosch
Protokoll fest: Während der AdBlue-Do- die Aufträge aus Wolfsburg.
sierung werde aktuell die Diagnoseeinheit Die interne Untersuchung der Affäre
ausgeschaltet. Dies könne aber nicht den bei Bosch soll zwar ergeben haben, dass
Behörden vermittelt werden. die Geschäftsführung um Fehrenbach und
Am Ende scheiterte der Plan, die Ad- Denner unwissend war. Die Frage ist je-
Blue-Dosierung mit der Akustikfunktion doch, ob dabei wirklich alle Sachverhalte
in der von Bosch entwickelten Software- offengelegt wurden. Außerdem bleibt un-
plattform für alle Hersteller umzusetzen: beantwortet, ob die Topmanager zu wenig
Abgase Welche Rolle spielte der Sportwagenbauer Porsche im Zudem soll Chefaufklärer Steiner nach
einer Zeugenaussage bei der Münchner
Skandal um illegale Prüfstandserkennungen? Staatsanwaltschaft daran mitgewirkt haben,
den Dieselskandal vor den US-Behörden
69
Prozent der
berufstätigen Mütter* eine Weisheit des ehemaligen SPD-Frak-
arbeiten Teilzeit. tionschefs Peter Struck: Der hatte stets ge-
sagt, kein Gesetz komme aus dem Bundes-
Väter: 5 Prozent
tag so heraus, wie es eingebracht wurde.
*in einer Partnerschaft; Quelle: Statistisches Bundesamt, 2014
Es kann also gut sein, dass Heils Ent-
wurf genau in dem Teil überarbeitet wird,
der Frauen am ehesten aus der Teilzeitfalle
heraushelfen würde.
Markus Dettmer, Anne Seith
77
Wirtschaft
Silicon-Valley-Kritiker Precht: »Der Versuch, mit der Luftpumpe die Windrichtung zu ändern«
stellen die Frage: Was davon will ich ei- stalten. Damit wir nicht in eine Gesell- auch steuerbar ist – und genau die findet
gentlich – und was davon nicht? schaft kommen, in der ganz viele Men- sich in den Mechanismen des Silicon Val-
SPIEGEL: Und die Frage haben wir uns bis- schen abgehängt sind, müssen wir überle- ley. Es geht nicht mehr um Entscheidun-
lang nicht gestellt? gen, was wollen wir von der Digitalisie- gen, sondern um Reiz und Reaktion, um
Precht: Nein, bislang führen wir die Digi- rung haben und was nicht. Wir müssen Problem und Lösung.
talisierungsdiskussion rein technisch-öko- überlegen: Wo liegen die Grenzen? SPIEGEL: Warum ist das gleich das Ende
nomisch nach dem Motto: Wir dürfen SPIEGEL: Und was ist Ihre Antwort? der Freiheit?
nicht zurückfallen. Die Politik wiederholt Precht: Zunächst einmal sollten wir uns Precht: Mein Beispiel ist das »Flüchtlings-
immer dieselben Sätze: Wir müssen zu klarmachen, dass das Menschenbild des problem«. Oh, da ist ein Problem, das müs-
den führenden Ländern der Digitalisie- Silicon Valley nicht das der Aufklärung ist, sen wir lösen. Dann machen wir eine Ober-
rung gehören, wir brauchen mehr Start- nicht das Menschenbild, auf dem unsere grenze, und dann ist das Problem weg. Wir
ups. Und wir müssen im Kindergarten mit Demokratien beruhen. haben es aber mit einer Jahrhundertheraus-
dem Programmieren anfangen. Dass wir SPIEGEL: Die Aufklärung sagt, der Mensch forderung zu tun und nicht mit einem Pro-
die Digitalisierung wirtschaftlich nicht ver- ist frei und soll seinen Verstand benutzen. blem, das weg ist, wenn man es gelöst hat.
schlafen dürfen, ist natürlich richtig. Aber Precht: Das Silicon Valley folgt dem Men- In diesem Denkschema können wir das,
im Kindergarten mit Programmieren für schenbild der Kybernetik. Es sieht den was der Aufklärung wichtig ist, überhaupt
alle anzufangen ist in jeder Hinsicht Un- Menschen als einen lernenden Orga- nicht erfassen. Man muss nur einmal ver-
sinn. Millionen untalentierte ITler braucht nismus, der als Reflexmechanismus funk- suchen, seine Beziehung im Problem-Lö-
in der Zukunft niemand. Vieles, was da tioniert, nicht anders als eine Ratte im La- sungs-Schema zu betrachten oder das Ver-
diskutiert wird, ist nicht mehr als ein Ver- bor. Und auf genau die gleiche Weise ar- hältnis zu seinen Kindern: Da sieht man die
such, mit der Luftpumpe die Windrichtung beiten die Leute, die die Algorithmen bei Grenzen eines solchen Denkens. Alles, was
zu ändern. Was dagegen wirklich fehlt, Facebook programmieren. Wenn ich weiß, das Wesen des Menschen ausmacht, entzieht
sind die großen gesellschaftlichen Antwor- was dich interessiert, dann werde ich dir sich dem Schema Problem-Lösung. Auch
ten auf die Dinge, über die wir uns hier immer das empfehlen, was du magst. Auf in der Kultur. Welches Problem hat Kafka
gerade unterhalten. diese Weise kann ich dir nicht nur deine gelöst oder Mozart oder Rembrandt?
SPIEGEL: Welche Zukunft wir eigentlich Wünsche erfüllen, sondern ich kann deine SPIEGEL: Technische Lösungen sind doch
selbst wollen. Wünsche steuern. Und das ist die zentrale nichts Schlechtes, wenn sie verhindern,
Precht: Wir müssen nicht immer nur alles Erkenntnis der Kybernetik, dass jedes dass Menschen Fehler machen. Etwa beim
bloß mitmachen, sondern wir können ge- Ding oder Wesen, das vorhersagbar ist, autonomen Fahren oder in der Medizin.
79
Wirtschaft
Precht: Ja, das sind zwei Bereiche, in de- Da stellt sich erstens die Frage: Wollen die Erfolg weiter fortsetzen? Es gibt leider zu
nen ich die Digitalisierung bejahe. Wenn Menschen das überhaupt? Und die zweite viele Berufe, in denen man seinen Indivi-
es gelingt, dass weniger Menschen sterben Frage: Wie würde eine solche Gesellschaft dualismus nicht ausleben und seine Per-
– im Straßenverkehr oder durch Krankhei- ökonomisch funktionieren? Wir haben da sönlichkeit nicht kultivieren kann wie in
ten, dann ist das ein Fortschritt. Anderer- bislang noch keine wirkliche Blaupause. seiner Freizeit. Erst als die Freizeit erfun-
seits machen Fehler den Menschen auch SPIEGEL: Deutschland hat fast Vollbeschäf- den wurde, hat der Mensch überhaupt an-
erst liebenswert, das darf man nie verges- tigung. Wie wollen Sie da eine Debatte gefangen, darüber nachzudenken, wie er
sen. Ein fehlerfreier Mensch wäre nicht über Massenarbeitslosigkeit irgendwann leben will – jedenfalls in den reichen Län-
sehr sympathisch. in der Zukunft führen? dern. Bei meinen Großeltern galt noch die
SPIEGEL: Davon sind wir weit entfernt. Precht: Die Zahl der Arbeitslosen wird auf Devise, das Leben ist kein Wunschkonzert.
Precht: Aber es ist die Vision des Silicon jeden Fall stark steigen. Und da ist der Fach- Und diese Frage, was wir eigentlich wollen,
Valley. Es will und verspricht den Super- kräftemangel überhaupt kein Gegenargu- wird immer größeren Raum bekommen.
menschen. Und das ist keine Position der ment. Wir werden in einer Zukunft leben, SPIEGEL: Zu einer positiven Zukunft wird
Spinner, das wird sehr breit vertreten, das in der es viele Millionen Menschen ohne das aber nur, wenn diese Arbeitslosigkeit
ist der Weg. Dass wir mit der Technik ver- Jobs geben wird und zugleich einen Fach- nicht zugleich Armut bedeutet.
schmelzen, dass wir Teil einer Cloud wer- kräftemangel, weil sehr viele, die ihre Jobs Precht: Deshalb werden wir über kurz oder
den und dass sich der Mensch aus seinen verlieren, nicht in der Lage sind, dort zu lang ein bedingungsloses Grundeinkommen
biologischen Fesseln sprengt. arbeiten, wo es welche gibt. Ein Busfahrer, einführen müssen. Und das darf nicht bloß
SPIEGEL: Vielleicht wäre das wunderbar. der seinen Beruf verliert, wird nicht an- eine Ruhigstellungsprämie sein, sondern es
Precht: Ja, das wäre wunderbar, wenn das schließend Virtual-Reality-Designer. Wenn muss die Menschen in die Lage versetzen,
wirklich das Problem des Menschen wäre. man wissen will, wo Arbeitslosigkeit zu er- sich auszusuchen, was sie arbeiten wollen.
Aber es ist die Antwort auf eine nicht ge- warten ist, dann muss man nur schauen, Es muss ein Zugewinn an Freiheit sein.
stellte Frage. Die Probleme der Menschen wer in der deutschen Industrie für das be- SPIEGEL: Arbeit ist nicht nur Pflicht, son-
sind ganz andere. Wir schaffen es nicht, dingungslose Grundeinkommen ist. Joe dern auch sinnstiftend.
trotz gewaltiger Überproduktionen die Kaeser von Siemens, Tim Höttges von der Precht: Ich sehe ja nicht eine untätige Ge-
Weltbevölkerung zu ernähren. Wir schaf- Telekom. Weil die ziemlich genau wissen, sellschaft vor mir. Die Leute wollen weiter
fen es nicht, die Kriege auszurotten. Wir dass sie einen ganz erheblichen Teil ihrer was tun, und sie werden weiter was tun.
schaffen es nicht, mehr internationale So- Belegschaft in der Zukunft nicht mehr brau- Aber es wird im Vergleich zu heute weni-
lidarität zu zeigen. Das scheinen mir die chen, und das gilt natürlich auch in großem ger um Geld und Karriere gehen, sondern
Probleme des Menschen zu sein, und ich Stil für Banken und Versicherungen. Diese mehr um gemeinschaftliche Werte. Da
sehe nicht, was das Silicon Valley zu ihrer Arbeitslosigkeit dürfte größer werden als wird sich etwas gänzlich Neues entwickeln.
Lösung beiträgt. Ich kenne in meinem pri- alles, was wir in der Bundesrepublik jemals Es werden jedenfalls viele Tätigkeiten ent-
vaten Umfeld niemanden, der gern Super- als Arbeitslosigkeit gehabt haben. stehen in Bereichen, die keine klassische
mensch werden will, außer ein paar klei- SPIEGEL: Ein düsteres Szenario. Lohn- und Erwerbsarbeit mehr sind. Und
nen Kindern vielleicht. es wird eine zentrale Aufgabe des Staats
SPIEGEL: Die allgemeine Vision ist doch sein, dafür zu sorgen, dass wir nicht in eine
nicht der Supermensch, sondern ein Mensch, Zweiklassengesellschaft zerfallen. Einen
dem Roboter, Maschinen und künstliche »Das Grundeinkommen Arbeitsadel, der seine Kinder auf Privat-
Intelligenz eine Menge Arbeit abnehmen. muss es Menschen ermög- schulen schickt, und ein Millionenheer an
Precht: Der Mensch soll zur Mensch-Ma- Abgehängten, die durch eine immer
schine werden, ja. Dahinter steht ja gerade
lichen, sich auszusuchen, ausgefuchstere Unterhaltungsindustrie be-
die Vorstellung, der Mensch müsste opti- was sie arbeiten wollen.« spaßt werden, durch ein universelles Las
miert werden, und die hat eine finstere Ver- Vegas.
gangenheit in der Geschichte der abend- SPIEGEL: Wir haben die Chance zu ent-
ländischen Kultur und Philosophie. Die ist Precht: Das Problem ist, dass diese Sze- scheiden, ob die digitale Zukunft ein men-
uralt. Das beginnt bei Platon, da soll der narien allen Angst machen. Auch der Poli- schenverachtender Albtraum wird oder
Mensch klüger, weiser und vor allem ge- tik. Und dass sie keine positiven Szenarien ein Traum, in dem alle weniger arbeiten,
rechter werden. Und dann gab es diese For- dagegensetzen kann. Und wie soll man aber keiner weniger hat?
men, künstlich und mit Gewalt auf den mit einem Thema Wahlen gewinnen, wenn Precht: Es wird weder die Hölle noch das
Menschen einzuwirken, im Stalinismus man nichts versprechen kann? Paradies. Aber wir können uns entschei-
und bei Mao. Ich sehe das Silicon Valley in SPIEGEL: Was ist Ihre Vision? den und müssen nicht der Logik des Sili-
dieser totalitären Tradition, in dieser Vor- Precht: Die Entwicklung von ihrer positi- con Valley folgen, nach der alles schon vor-
stellung, das ist der Imperativ, der Mensch ven Seite zu sehen. Dass den Menschen gezeichnet ist. Der eigentliche Kern der
müsse geändert oder optimiert werden. Da- die Arbeit abgenommen wird, ist ja ein ur- Digitalisierung besteht darin, dass die Leis-
mit liegt es vom Menschenbild viel näher alter Menschheitstraum, es gibt ihn schon tungs- und Arbeitsgesellschaft, wie wir sie
beim Stalinismus als bei unseren freiheit- bei Aristoteles. Er erscheint uns nur irreal, bisher kannten, zu Ende geht. Und das ist
lichen Demokratien. Ich bezweifle auch, weil wir in einer Arbeits- und Leistungs- ein epochaler Umbruch. Bislang haben wir
dass der Weg in die Herrschaft der Maschi- gesellschaft leben, die wir für ewig halten – das Problem maßlos verniedlicht.
nen ökonomisch funktioniert. die es aber auch gerade mal 200 Jahre gibt. SPIEGEL: Herr Precht, wir danken Ihnen
SPIEGEL: Weil die Arbeit verschwindet? SPIEGEL: Mehr Freizeit für alle? für dieses Gespräch.
Precht: Das Ziel der Digitalisierung be- Precht: Die ganze Entwicklung besteht
steht darin, so viel wie möglich automati- doch darin, dass die Menschen immer we-
siert von Maschinen machen zu lassen, von niger arbeiten. Zu Beginn der ersten in- Video
Precht im Zeitraffer
Robotern, durch künstliche Intelligenz. dustriellen Revolution waren es 80 Stun-
Nicht alles, aber alles, was irgendwie geht. den wöchentlich, heute ist es in Deutsch- spiegel.de/sp172018precht
Und wenn man das täte, hätte die Hälfte land im Schnitt nicht mal die Hälfte davon. oder in der App DER SPIEGEL
der heute Beschäftigten keine Arbeit mehr. Und warum soll sich dieser Weg nicht mit
Schieflage
errichten, wie sie bei der Lufthansa und Flugschüler, die vom Konzern nicht über-
anderen Töchtern üblich sind. Beim flie- nommen wurden und deshalb vor drei
genden Personal ist das allerdings nur über Jahren in Wien notgedrungen zu Dum-
im Cockpit
den Abschluss eines Tarifvertrags möglich. pinggehältern anfingen.
Die SunExpress-Führung weigert sich Heute wären sie besser dran. Weil in
bislang jedoch, Verhandlungen mit den Österreich, aber auch anderswo, Piloten
Gewerkschaften aufzunehmen. Deshalb fehlen, zahlt Eurowings Kapitänen neuer-
Luftfahrt Das schnelle Wachstum versuchten VC und UFO auf direktem dings Anwerbeprämien von 18 000 Euro
des Lufthansa-Billigablegers Weg, einen Betriebsrat zu gründen. und überproportional hohe Gehälter. Co-
Das hat das Gericht am Mittwoch ver- Piloten erhalten immerhin noch 10 000
Eurowings spaltet die Beleg- boten – aus formalen Gründen. Die Pilo- Euro zusätzlich und ebenfalls eine bessere
schaft. Wer wie viel verdient, tengewerkschaft will nun Berufung ein- Vergütung.
entscheiden Zufall und Willkür. legen. Trotzdem können sich die VC-Ver- Die Einstellungsprämien führen dazu,
treter als Sieger fühlen – in moralischer dass viele Cockpitkräfte, die mehr Erfah-
Hinsicht. Denn der Prozess zeigt exempla- rung haben und schon länger dabei sind,
81
Medien
Im Stahlgetwitter
Karrieren Seitdem Julian Reichelt bei »Bild« das Kommando übernommen hat,
ist das Blatt im Kampfmodus. Wie aus einem besonnenen Reporter
ein journalistischer Grenzgänger wurde. Von Isabell Hülsen und Alexander Kühn
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J
ulian Reichelt war Mitte zwanzig, che Termine mit ihm finden statt, andere Bei Springer laufen zu diesem Zeitpunkt
als Zeta ihn eroberte. »Die Kälte lässt er ohne Absage platzen. Die Presse- längst Wetten, wie lange Koch noch durch-
eint unsere klirrenden Herzen«, stelle bremst. hält. Die beiden können nicht miteinan-
schrieb er im Winter 2005. »Unsere Der Verlag will einfach nur Ruhe, erst der, was sie an diesem Abend gut über-
fröstelnden Blicke verstehen sich.« recht nach dem PR-Desaster im Februar, spielen. Sechs Wochen später schmeißt
Zeta war sein Hund. Ein Labradormäd- als der Machtkampf zwischen Reichelt und Koch hin.
chen. Reichelt widmete ihr – und sich – Tanit Koch, der ihm unterstellten Chefin »Bild« ist jetzt die »Bild« von Julian Rei-
im Boulevardableger »Tier Bild« eine Ko- der gedruckten »Bild«, eskalierte und mit chelt. Seitdem er das Blatt macht, sieht
lumne: »Reichelt streichelt«. deren Abgang endete. Springer liebt große eine normale Woche so aus:
Der Leser erfuhr von Zetas Faible für Erzählungen, doch jene so schön ersonne- Am Montag macht »Bild« auf mit »Bis
Pasta mit Scampi (»verfressen wedelndes ne Geschichte von der klugen jungen Frau, zu 300 Prozent mehr Angriffe – Messer-
Wunder«). Manchmal rollte sie sich in Rei- die dem Laden ein neues Image geben soll- Angst in Deutschland«. Dienstag folgen
chelts Mantel (»Mein Geruch ist ihre Höh- te, hatte kein Happy End. Hartz-IV-Banden, die »dreist betrügen«.
le«). Kränkelte Zeta, war jeder Kilometer Berlin, Mitte Dezember. Reichelt steht Am Mittwoch die »Razzia bei Deutsch-
zum Tierarzt »ein Kilometer bewusster an der Bar des Springer-Journalisten-Clubs, lands reichsten Hartz-IV-Betrügern«. Don-
Liebe«. Sitz, Platz. »Pfote diem!« das Personal gießt nach, kaum dass das nerstag ist es der »EU-Irrsinn mit unserem
Zeta ist lange tot, begraben unter einer Bierglas leer ist. Gerade hat Vorstandschef Kindergeld«, das ins Ausland fließt. Frei-
Eiche. Und Reichelt befehligt heute einen Döpfner der Presse seine Strategie vorge- tag dann doch nur: »Skandal um SS-Lied
Kettenhund. So hatte Verleger Axel Cäsar stellt, in Anwesenheit der Springer-Chef- auf Heino-Platte«.
Springer seine Schöpfung »Bild« einst be- redakteure. Reichelt saß in einer der hinte- Die ideale Seite eins besteht aus: Hetze
zeichnet. Gestreichelt wurde da noch nie. ren Reihen und twitterte. gegen, Skandal um, Jagd auf. Und wenn
Doch unter Oberchefredakteur Reichelt Der holzvertäfelte Klub im 19. Stock es Wildschweine sind. Stimmung machen,
ist »Bild« so aggressiv wie lange nicht. des Verlags ist der heiligste Ort im Haus. Angst schüren, das volle Programm.
Es wird getrieben und gejagt, mal geht Hier oben war einst auch das Büro des Ver- Harmlos war »Bild« nie. Man nahm sie
es gegen Hartz-IV-Betrüger, mal gegen aus- legers Axel Springer, mit Blick über die nur lange Zeit nicht mehr ernst. Angefan-
ländische SPD-Mitglieder. Was »Bild« an Stadt, die er so liebte. Reichelt, aufgewach- gen hatte das mit der Spaßgesellschaft der
Auflage verloren hat, macht Reichelt durch sen in Hamburg, verachtet Berlin: »Arm, Neunzigerjahre, Harald Schmidt zog viele
Gebrüll wieder wett. depressiv, unfähig.« Das ist bei ihm oft so: seiner Gags aus »Bild«. Sie war aufge-
Reichelt ist die Mensch gewordene Was alle gut finden, findet er blöd. Und stiegen vom Bauarbeiterblatt zum Amü-
»Bild«. Gerade mal 37 Jahre jung, steht er umgekehrt. sement für Akademiker, die angeblich mit
für einen Boulevardjournalismus, von dem ironischer Distanz lasen.
man dachte, dass er selbst dem Springer- Wer zum ersten Mal mit Reichelt redet, Chefredakteur Kai Diekmann, der 15
Verlag peinlich geworden sei. Reichelt ist irritiert, dass er den Blick nicht lange Jahre lang amtierte, wurde für die Zeile
macht es den Kritikern der »Bild« wieder halten kann. Er hat die Augen überall und »Wir sind Papst« gefeiert. Er verlegte Bi-
leicht, sie zu hassen. nirgends, als hätte er sich das Ziel gesetzt, beln, verschenkte Stücke der Berliner
Nicht nur das Blatt ist im ständigen dauernd die Welt als Ganzes im Visier zu Mauer, verlieh dem Dalai Lama den
Kampfmodus, auch der Chefredakteur. haben. Selbst wenn er einen anschaut, deu- »Bild«-Medienpreis. Selbst über seine Ver-
Vor allem auf Twitter, wo Reichelt gegen tet nichts auf ein Interesse an seinem ehrung für Helmut Kohl konnte man
Russland schießt oder gegen den Kinder- Gegenüber hin. Er fragt einen auch nichts. irgendwann lächeln. Der späte Diekmann
kanal Kika. Auch mitten in der Nacht. Rei- Reichelt strahlt eine kalte Ruhe aus. Er hatte so viel Selbstironie, dass man über
chelt im Stahlgetwitter. Recht hat immer redet mit leiser Eindringlichkeit, seine Ton- das, was sein Blatt täglich anrichtete, groß-
nur einer: er. Wer anderer Meinung ist, hat lage variiert kaum. Zugleich hat er eine zügig hinwegsah.
es einfach nicht verstanden. hibbelige Art zu rauchen oder zu trinken. Die schmutzigen »Bild«-Methoden, die
Die öffentliche Figur mag leicht zu Eines seiner zwei Handys bespielt er fast der Journalist Günter Wallraff in den Sieb-
durchschauen sein, als Person ist er ein immer. zigerjahren enthüllt hatte, schienen ver-
Rätsel. Deckt sich der wild gewordene Bier, Zigarette, Bier. Reichelt sitzt auf gessen. Offenbar auch von Wallraff selbst.
Twitterer mit dem Menschen Reichelt? einem Ledersessel und sortiert mal kurz 2016 trat er gegen Diekmann im Tisch-
Wie viel ist Pose, wie viel Überzeugung? das Weltgeschehen. Trump ist gar nicht so tennis an. Diekmann verlor. Super PR für
Und wie schafft es jemand wie er so weit schlimm. Putin dafür umso schlimmer. »Bild«.
nach oben? Whistleblower Edward Snowden ist ein Wer »Bild« las, schämte sich nicht mehr
Unter dem Vorstandsvorsitzenden Ma- Verbrecher. Bei Reichelt herrscht immer dafür. Mit ihrer flüchtlingsfreundlichen
thias Döpfner ist Axel Springer ein digitales noch Kalter Krieg. Kampagne »Refugees welcome« wurde
Vorzeigeunternehmen geworden. Der Ver- Irgendwann kommt Tanit Koch dazu die Zeitung regelrecht sympathisch. Rei-
lag präsentiert sich als cooles Riesen-Start- und nimmt die Couch gegenüber ein. Wäh- chelt hatte die Kampagne mitinitiiert, trieb
up, das Frauen fördert und Führungskräfte rend Reichelt vorn an der Kante sitzt, in »Bild« die Freundlichkeit aber bald wieder
auf Entdeckungsreise ins Silicon Valley Habtachtstellung, lehnt sie sich zurück, aus, und die Ironie auch.
schickt. Doch Reichelts Aufstieg zeigt, dass fast liegt sie, in der Hand ein Glas Rotwein. Reichelt nimmt alles ernst. Vor allem
der Verlag – vor allem »Bild« – nicht abge- Koch, 40, ist da noch Chefredakteurin sich selbst. Er inszeniert sich als Moralist.
legt hat, was Springer über Jahrzehnte im der gedruckten »Bild«. Sie ist höflich, lä- Im Messen mit zweierlei Maß aber ist er
Innersten prägte: Korpsgeist, Skrupellosig- chelt. Wer mit ihr spricht, vergisst nach unbestrittener Meister.
keit und der unbedingte Wille zur Macht. wenigen Sätzen fast, für welches Blatt sie »Bild« fühlt mit den Kindern in Syrien
»Mach ich gern«, mailt Reichelt im Ok- arbeitet. Seit Anfang 2016 ist sie die erste – und spielt mit Ressentiments gegen Mus-
tober, eine halbe Stunde nachdem ihn die Frau an der Spitze der Zeitung, doch Rei- lime.
Anfrage erreicht hat, ob er sich für ein Por- chelt ist ihr übergeordnet. Er ist Chef der »Bild« veröffentlicht Spitzengehälter
trät begleiten lasse. Die folgenden Monate Onlineausgabe und als Sprecher der von Fußballern und Konzernchefs – Rei-
werden zum Verwirrspiel. Reichelt will. »Bild«-Chefredaktionen seit vergangenem chelt aber versucht, das Medienmagazin
Dann wieder nicht. Plötzlich doch. Man- Jahr auch die oberste Stimme. »Kress« davon abzubringen, sein geschätz-
tes Einkommen zu benennen. Das gefähr- antwortet stundenlang nicht, schließlich zu fassen. Für ein Interview in Ruhe
de die Sicherheit seiner Familie. kommt eine kurze SMS: »Yes!« schlägt er ein Treffen an der Bar seines
Als die Kanzlerin die Essener Tafel kri- Die gemeinsame Reise nach München Hotels vor, gegen 23 Uhr. Doch er kommt
tisiert, weil diese entschieden hatte, fürs war Reichelts Idee. Man könne ihn doch nicht. Sagt nicht ab. Auch das in Aussicht
Erste keine weiteren Ausländer aufzuneh- zwei Tage lang auf der Sicherheitskonfe- gestellte gemeinsame Frühstück fällt aus.
men, empört sich »Bild«: »Diejenigen, die renz begleiten, im Hotel Bayerischer Hof. Anrufe und Nachrichten ignoriert er. Um
von Chauffeuren gefahren werden, dre- Dort schwirren die Mächtigen und Wich- 12 Uhr mittags ein Lebenszeichen, gegen
schen auf jene ein, die ehrenamtlich Essen tigen umeinander, Regierungschefs aus 14 Uhr die Ansage, man möge in Schu-
ausfahren.« Reichelt wird von zwei Chauf- aller Welt, Generäle und Admiräle. Es geht mann’s Tagesbar kommen. Später wird
feuren im Mercedes durch Berlin gefahren. um Krieg und Frieden, Geheimdienste und man mit ihm nach Berlin fliegen. Dass er
Wenn man Reichelt hört, ist »Bild« ein Diplomatie. Reichelt liebt es. einen für den Abend zu einer »Bild«-Ber-
journalistisch sauberes, menschenfreundli- Er steigt aus dem Flugzeug, eine schwar- linale-Party eingeladen hat, muss ihm aller-
ches Blatt, die schlimmen Jahre sind vorbei. ze Tasche über die Schulter geworfen. Er dings entfallen sein, die Veranstaltung sei
Die ehemals nackten »Bild«-Girls werden sagt kurz Hallo, dann rennt er vorweg, ein jetzt jedenfalls überbucht, tue ihm leid.
jetzt nur noch im Bikini gezeigt. Paparaz- Handy am Ohr. Er muss jetzt erst mal Paul Es ist nicht klar, ob es eine Art psycho-
zi-Fotos von Promis will Reichelt ohne de- Ronzheimer anrufen, Chefreporter bei logische Kriegsführung ist. Eine Demons-
ren Zustimmung nicht mehr drucken: »Ich »Bild« und Reichelts bester Kumpel. Der tration seiner Macht. Oder mangelnde Kin-
will mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen, ist schon auf der Konferenz. derstube.
wo die Privatsphäre von Leuten beginnt.« Reichelt muss ihm eine Geschichte er- Im Bayerischen Hof. Anzugträger, Da-
Wer jedoch ein Verbrechen begangen hat, zählen. Die Polizei habe ihn vorhin am men im Kostüm. Und Reichelt. Er hat ein
darf auf seine Milde nicht hoffen. Flughafen Berlin-Tegel angehalten, weil er zerknittertes olivgrünes Sakko an, aus sei-
Anfang März zeigte »Bild« unverpixelt eine Sonnenbrille getragen habe und eilig nem Hemd lugt das Brusthaar. Die Jeans
einen älteren Herrn auf einer Parkbank: aus einer Menschentraube weggelaufen sind ausgebeult von seinen Handys, die
Dieter Degowski. Der Geiselgangster von sei. Die Beamten hätten geglaubt, er sei Arme verschränkt, die Schultern zurück-
Gladbeck war gerade aus dem Gefängnis auf der Flucht. Dabei habe er nur sein Gate genommen, Bauch raus.
entlassen worden, 27 Jahre nach seiner gesucht. Reichelt lacht. Es ist ein idealer Tag, um mit Reichelt
Verurteilung. Vermutlich hätte ihn auf der Er hantiert jetzt mit beiden Handys. über »Bild« zu reden. Das Blatt macht
Straße niemand erkannt. Nun kennt ihn Schreibt mit dem BlackBerry, spricht ins auf mit einer angeblichen »Schmutz-Kam-
die halbe Republik. Eine Chance auf Re- iPhone. Dessen Sperrbildschirm zeigt einen pagne bei der SPD«. Ein Russe namens
sozialisierung sieht anders aus. der »Tomahawk«-Marschflugkörper, mit Juri soll Juso-Chef Kevin Kühnert angebo-
Wer Anspruch auf Schutz hat, entschei- denen die USA vor einem Jahr Syrien an- ten haben, dessen Kampagne gegen die
det nicht der Pressekodex, sondern Rei- gegriffen haben, im Namen der Gerechtig- Große Koalition zu unterstützen, durch
chelt. Er ist Gesetzgeber und Richter, keit. Das jeden Tag zu sehen gibt ihm ein Stimmungsmache auf Facebook. So stehe
zweite bis vierte Gewalt. Und »Bild« gutes Gefühl. es in »brisanten E-Mails«, zugespielt von
immer noch zu mächtig, um nicht gefähr- Reichelt muss im Flughafen noch schnell einem »anonymen Informanten«.
lich zu sein. zu Edeka. Er greift nach zwei Flaschen Die Mails kommen nicht aus Russland
Bier. »Kleiner Scherz«, sagt er und kauft und von Kühnert, sondern vom Satire-
Zur Hochform lief »Bild« nach den Kra- einen Bio-Trinkjoghurt, eine Flasche stilles magazin »Titanic«. Doch das weiß Reichelt
wallen beim G-20-Gipfel in Hamburg auf. Wasser und Zigaretten. zu dem Zeitpunkt nicht. Noch genießt er
Da wurde die Zeitung zum Pranger um- Es wird an diesem und am folgenden seinen vermeintlichen Coup. SPD-Gene-
funktioniert. Auf dem Titelblatt fahndete Tag Gespräche geben, im Gewühl der Kon- ralsekretär Lars Klingbeil steht neben ihm
sie unter anderem nach dem 19-jährigen ferenz. Reichelt wirkt dabei immer wie auf und sagt, wenn die Geschichte stimme,
Kevin, der Steine in Richtung eines Was- der Flucht. Ein Eichhörnchen wäre leichter habe die SPD jetzt ein Problem.
serwerfers geschmissen hatte. Er stellte Über den 28-jährigen Kühnert redet Rei-
sich daraufhin der Polizei. Reichelt twit- chelt wie über ein Kind. Er gibt zwar zu,
terte: »Meine Prognose: Das macht Kevin man wisse nicht, ob die Sache so stimme,
nicht noch mal.« Er sei froh, sagt Reichelt und das stehe ja auch im Text. Die »Bild«-
heute, »dass unsere Berichterstattung Aus- Schlagzeile mit der »Schmutz-Kampagne«
wirkungen hatte«. findet Reichelt trotzdem okay. Das Lebens-
Aber weil Reichelt ja ein Guter ist, hat motto von Dieter Bohlen scheint auch sei-
er den jungen Mann angerufen und ihm nes zu sein: »Wenn jemand ein Problem
einen Job bei »Bild« angeboten, wenn sein mit mir hat, kann er es gerne behalten –
Gerichtsverfahren abgeschlossen ist – es es ist ja seins.« Der Presserat wird die Küh-
soll ein Resozialisierungsangebot sein: nert-Story später als »schweren Verstoß
»Man muss helfen, wenn man die Möglich- gegen das Wahrhaftigkeitsgebot« rügen.
keit dazu hat.« Am Abend verabschiedet sich Reichelt,
Ein Freitagvormittag im Februar. Flug- er gehe noch essen. Es sei kein »Bild«-Din-
hafen München. Warten auf Julian Rei- ner. Nur ein Treffen mit einer Handvoll
chelt. Man hat in den Tagen zuvor ein hal- Freunden. Es kommen, wie man später er-
bes Dutzend SMS und E-Mails verschickt, fährt: der österreichische Bundeskanzler
um zu erfahren, ob man wie geplant zu- Sebastian Kurz, Verteidigungsministerin
sammen von Hamburg nach München flie- Ursula von der Leyen, Kiews Bürger-
ge, ob er überhaupt komme. Am Donners- meister Vitali Klitschko, Ex-Grünen-Chef
tagabend dann die Nachricht, dass er aus Cem Özdemir und SPD-Staatssekretärin
Berlin anreise, danach wieder Funkstille. Sawsan Chebli.
Ob man sich wenigstens ein Taxi in die Collage mit »Bild«-Schlagzeile Um 22.59 Uhr twittert Ex-»Bild«-Chef
Stadt teilen solle, um zu reden? Reichelt Amüsement für Akademiker Diekmann aus dem Lokal, »das beste Late-
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Medien
to mehr braucht man.« Man wolle »wissen, nach Deutschland zu kommen. Journalis- Jacht; Reichelt ist kein JFK-Fan, aber des-
wie viel Leid man ertragen kann. Es ist, ten, die ihn für seine harte Haltung kriti- sen harte Haltung gegen die Sowjets in der
als würde man die Hand über eine Flamme sieren, ohne im Krieg gewesen zu sein, Kubakrise imponiert ihm, gerade jetzt, wo
halten«. nimmt er nicht wirklich ernst. es darum gehe, wie unnachgiebig der Wes-
Testen, wie weit man gehen kann – so ten gegenüber Russland auftreten solle.
macht Reichelt auch »Bild«. Er braucht, Ende März, nach wochenlanger Funkstille, Und die US-Flagge, die unter Glas an der
so scheint es, den Konflikt, um sich selbst bietet Reichelt an, ihn im 16. Stock des Wand hängt; er hat sie ersteigert, sie ge-
zu spüren. Wo keiner ist, zettelt er einen Springer-Hauses zu besuchen, in seinem hörte zu einem Kriegsschiff, das am
an. Die Ruhe, die er im Krieg hatte, geht Büro. Bis Ende 2016 war es das von Diek- 1. April 1945 Truppen für die Invasion der
ihm im Alltag ab. mann. Reichelt hat daraus eine Reporter- japanischen Insel Okinawa absetzte. Der
Reichelt hat in Aleppo Kinder sterben höhle gemacht. Sieg der freien Welt war nah.
sehen, in Misrata einen Freund verloren Einen Schreibtisch hat er nicht, selbst län- Neben der Tür steht ein Feldbett. »Nir-
und einmal selbst eine Pistole am Kopf ge- gere Texte schreibt er auf dem BlackBerry. gendwo sonst schläft man so gut«, sagt Rei-
habt. Aus solchen Erfahrungen zieht er of- In der Mitte des Raums steht ein Couchtisch, chelt. Seines hat er bei Amazon bestellt.
fenbar die Berechtigung, hart zu urteilen, darauf ein Knäuel von Kabeln, Ladegeräten, Über einem Baugerüst, das als Bücher-
wenn es um Syrien oder die Ukraine geht. Konsolen, angetrocknete Kaffeetassen und regal dient, hängt Reichelts Schutzweste
Er räumt schon mal zwei Seiten frei für volle Aschenbecher. Der größte Teil der Ein- aus seinen Kriegseinsätzen.
das Elend der Menschen in Kriegsgebieten, richtung sei gemietet, sagt er, auch die klei- Man möchte mit ihm darüber reden,
selbst wenn es am »Bild«-Leser vorbei- nen Holzhocker, die überall herumstehen. wie das zusammenpasst: sein Engagement
geht. Kaum eine Zeitung hat so viel über »Das meiste bedeutet mir nichts.« für Flüchtlinge – und die Stimmungs-
den Krieg in Syrien berichtet wie »Bild«. Zu den Dingen, die ihm wichtig sind, mache gegen Ausländer im Blatt, wie etwa
Reichelt selbst hat Flüchtlingen geholfen, gehört ein Foto von Kennedy auf dessen im Oktober die »Bild«-Schlagzeile: »Ma-
chen Sie Abschiebung zur Chefsache, Frau
Merkel!«
»Ich sehe keine Stimmungsmache«, sagt
Reichelt. Auch keine Kehrtwende nach der
»Refugees welcome«-Kampagne. Die For-
derung, Flüchtlinge nach Syrien zurückzu-
schicken, werde man von ihm nicht hören.
Auch den Familiennachzug finde er gut.
Deshalb sei er zur Flüchtlingskrise auch
nicht in Talkshows eingeladen worden:
Die gute »Bild« habe keiner haben wollen.
Aber die Bürger kämen nun mal nicht
mehr mit, wenn ausreisepflichtige Auslän-
der nicht abgeschoben würden, sagt Rei-
chelt. Und selbst wenn Politik und Medien
das unter Verweis auf Statistiken demen-
tierten: Es gebe genug Hinweise, dass die
Zahl von Messerattacken steige, die Leute
hätten Angst. Die Politik aber sei von den
Menschen so weit entfernt, »da steuern
wir auf eine Explosion zu«.
Dass »Bild« mitzündele, findet er nicht:
»›Bild‹ ist kein Brandstifter, sondern ein
Ventil.« Das Blatt trete für die Leser den
Beweis an, dass der gern von der AfD
bemühte Satz »Das darf man ja nicht
mehr sagen« nicht stimme – weil »Bild«
es doch sagt. Als wäre es weniger gefähr-
lich, wenn »Bild« Ängste schürt, bevor die
AfD das tut.
Die Redaktionskonferenzen bei »Bild«
sind ein großer Spaß, Gags fliegen wie
Pingpongbälle, einer geht immer noch.
Die Schauspielerin Ingrid Steeger, 71, hat
sich gemeldet. Sie liegt nach einem Sturz
im Krankenhaus, ihren Hund hat sie dabei.
»Bild« darf sie in der Klinik besuchen.
»Alte Schule«, sagt ein Kollege. Statt Blu-
men, so bittet Steeger, sollen die Reporter
ihr Hundefutter mitbringen. Steeger soll
auf einer Eisscholle ausgerutscht sein.
Oder war es doch eine Weinscholle? Dröh-
nendes Lachen.
Was ist mit der Abzocke der Autoversi-
Chefredakteur Reichelt: »›Bild‹ ist kein Brandstifter, sondern ein Ventil« cherungen? Das erzeugt Wut. »Das ist
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schon mal gut«, sagt Reichelt halb scherz-
haft. Er futtert Brötchen, Gummibärchen, durchtriebene Junge gegen das nette Mäd-
M&Ms, redet mit vollem Mund. chen durch. Aber so einfach ist es nicht.
Die Russen verlegen Kriegsschiffe, Reichelt ist nicht »Baby-Diekmann«, als
»ganz schön unheimlich«. Das Giftgas in der er auf Twitter verspottet wurde. Das
Syrien und der Fall Skripal könnten oben Ziehkind war eher Koch. Sie sei mustergül-
auf die Seite: »Die Welt in Angst«, das ge- tig darin gewesen, Diekmanns Wünsche zu
höre zusammen, sagt Reichelt. Die Bilder erspüren, sagt ein leitender Redakteur. Wo
von der Messerattacke am Hamburger Diekmann harte Zeilen gemacht hätte,
Jungfernstieg sind da. Reichelt spöttelt: habe sie noch härtere gemacht. Von Koch
Wieso die dpa jetzt eine Auflistung ähn- stammen deshalb Überschriften wie »Grü-
licher Fälle mache, »wo es doch gar keine ner mit Hitler-Droge erwischt«, als der
Häufung von Messerattacken gibt, diese Politiker Volker Beck mit Crystal Meth auf-
Hetzer!«. flog. Solche Zeilen trugen ihr intern den
Auf Seite eins steht Spargelwerbung Spitznamen Granit ein. Der Versuch, Diek-
von Penny. Reichelt muss noch loswerden, mann nachzueifern, sorgte bei manchen
wie er am Marktstand vor einem Berliner für Spott. Wenn sie Zeitungsschnipsel an
Kaufhaus mal fünf Kilogramm Spargel die Redakteure verteilte, wie früher Diek-
kaufen wollte und die Verkäuferin ihm mann, fanden viele das albern.
fünf Stangen einpackte. Nein, er wolle fünf Kennedy-Foto in Reichelts Büro Als Koch 2016 zur Chefredakteurin der
Kilo. »Wissen Se, wat det kostet«, macht Wer an ihm zweifelt, ist gern ein Luschi gedruckten »Bild« ernannt wurde, soll sie
Reichelt die Frau nach. sinngemäß gesagt haben: Alles, was sie
Die Fröhlichkeit, mit der »Bild« entsteht, habe, verdanke sie Kai. Die Ergebenheit
hat etwas Zynisches angesichts der täg- der Art, wie man leben will. Keine Kom- gegenüber Diekmann aber nützte ihr am
lichen Härte und Empörung des Blattes. promisse mehr gegen sich selbst. Man lässt Ende nichts gegen das kraftstrotzende Ego
Reichelt und die Redaktion, das ist Ab- sich nichts mehr gefallen.« eines Julian Reichelt, dem es keine Angst
kumpeln. Das ist Frotzeln. Menschliche Wer an ihm zweifelt, ist gern mal ein macht, wenn ihn niemand mag.
Nähe aber ist es nicht. Sein bester, viel- Idiot. Oder ein Luschi. Seine Kritiker vom Reichelt, überzeugt, sich nirgendwo an-
leicht einziger Freund bei »Bild« ist Paul »Bildblog«, die ihn auf Twitter mit Fehlern dienen zu müssen, pflegte eine professio-
Ronzheimer. Nur fünf Jahre jünger als Rei- oder Unwahrheiten aus seiner Zeitung nelle Loyalität zu Diekmann, nicht mehr
chelt, ist er sein journalistischer Ziehsohn. konfrontieren, hat er auch schon als »ideo- und nicht weniger. Reichelt siezte Diek-
Er ist Reichelts Sidekick. Sie nennen ei- logischen Betonkopf-Verein« bezeichnet. mann auch dann noch, als bei »Bild« das
nander »Paolo« und »Dschuliän«. Ronz- Reichelt sieht sich als jemand, »der mit große Duzen ausbrach.
heimer ist für einen »Bild«-Mann eine einem klaren Kompass Dinge ausspricht,
eher knuffige Erscheinung. Er ist mit das auch wenn sie unpopulär sind«. Ziehsohn? Unsinn, sagt Reichelt. Diek-
Netteste an Reichelt. »Julian ist durch und Egal wie komplex die Weltlage sein mann und er, das sei auch keine private
durch Reporter, rund um die Uhr«, sagt er. mag: Reichelt weiß, was zu tun ist. Er er- Freundschaft. Eher eine gut geölte Maschi-
Die beiden telefonieren mehrmals am Tag, klärt der Kanzlerin, warum ihre Haltung ne: Man kann sich aufeinander verlassen,
auch nachts. Ronzheimer schaut abends zum Islam in Deutschland falsch sei. Und wenn es darauf ankommt.
schon mal bei ihm daheim zum Trinken warum sie Putin nicht zum Wahlsieg gra- Wie gut die Maschine funktioniert, zeig-
vorbei. Den Rest der Redaktion hält Rei- tulieren solle. Zuletzt hatte er sich in den te sich im Sommer 2016. Diekmann, zu
chelt auf Abstand. Kinderkanal verbissen, der in einer Sen- dem Zeitpunkt nur noch »Bild«-Heraus-
Die Kollegen wissen gerade mal, dass dung das Alter eines Flüchtlings nicht kor- geber, wurde der Vergewaltigung bezich-
er verheiratet ist. Die Anzahl der Kinder rekt angegeben hatte. tigt. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat
ist ihnen nicht bekannt, ebenso wenig sein Was Reichelt bei Twitter vorgibt, findet das Verfahren vor acht Monaten einge-
derzeitiger Beziehungsstatus. In Geheim- sich ein, zwei Tage später auch in »Bild«. stellt, weil sich kein hinreichender Tatver-
niskrämerei kann er es mit jedem CIA- Twitter sei sein »Notizbuch«, sagt er. Was dacht ermitteln ließ. Was sich in der Nacht
Agenten aufnehmen. Nur wenige haben er dort schreibt, treibe ihn so um, dass es und den Monaten danach bei »Bild« und
deshalb auch von Reichelts Erkrankung ins Blatt gehörte. Ihm fehle nur die Diszi- im Konzern abgespielt hat, sagt dennoch
gehört, die ihn mit zu dem gemacht hat, plin, es so lange für sich zu behalten. viel über die Unternehmenskultur bei
der er heute ist. Dass er übers Ziel hinausschießt? Findet Springer. Und über Reichelt.
Mit 20 wurde bei Reichelt Krebs ent- er nicht. »Ich denke schon drüber nach, Diekmann wohnt in Potsdam in einer
deckt. Ein halbes Jahr lang kämpfte er um was ich falsch mache«, sagt er. Villa am Jungfernsee. Nach einer Klausur-
sein Leben, eine Chemotherapie rettete Niemand liebt Reichelt so sehr wie er tagung in einem nahe gelegenen Hotel
ihn. Fragt man ihn danach, redet er da- sich selbst. Und niemandem verdankt er grillten die »Bild«-Leute bei ihm. Man
rüber, aber nur ungern. Die wenigen so viel. Nicht einmal Kai Diekmann. Der trank und badete im See, Diekmann auch
Minuten, in denen es um seine Krankheit beförderte ihn Ende 2013 quasi aus dem nackt. Am Ende dieser Nacht stand ein un-
geht, sind die einzigen während all der Krieg heraus auf den Chefsessel von geheurer Vorwurf im Raum: Diekmann
Treffen, in denen Reichelt unsicher wirkt. Bild.de. Als die Personalie verkündet wur- wurde von einer Mitarbeiterin beschuldigt,
Er knetet seine Finger. Sagt, dass er de, soll die Redaktion geschockt gewesen sie im See vergewaltigt zu haben.
nicht besonders gut darin sei, über Gefühle sein. Kein anderer habe vorher so verächt- Einige Wochen später zog Diekmann
zu sprechen. Auch nicht mit Freunden. Er lich über die Onlinekollegen gesprochen Reichelt ins Vertrauen, fast verzweifelt.
habe einfach kein Bedürfnis danach. Er wie Reichelt. Der war zwar beim Baden im See nicht
entschied sich damals gegen eine Psycho- Von außen stellten sich die Verhältnisse dabei gewesen, aber auf der Party. Und
therapie und für Verdrängung. »Ich habe bei »Bild« so dar: Diekmann ist der Papa. Reichelt wusste offenbar, was zu tun war.
es überlebt«, sagt Reichelt. »Alles ist für Seine Kinder, Tanit und Julian, wetteifern Reichelt fertigte ein Gedächtnisproto-
etwas gut. Das macht kompromisslos in um seine Gunst. Am Ende setzt sich der koll über seine Erfahrungen mit der Kol-
Buch-
Fragen Sie Ihren legin an, das einer charakterlichen Ver- Reichelts Ausbrüche bei Twitter und
neuen nichtung gleichkommt: Sie habe etwa sein Borderline-Journalismus mögen dem
händler nach der während der Recherche über den Absturz Image des Blatts schaden, seine Karriere
e!
Frühjahrsausgab
einer Germanwings-Maschine damit ge- leidet darunter bisher nicht. Von jeher gel-
prahlt, einen Pilotenschein zu besitzen, ten für die »Bild«-Spitze andere Maßstäbe
um später davon wieder abzurücken. Er als für Chefredakteure anderer Häuser.
sei schon vorher zu dem Schluss gekom- Kai Diekmann war frisch im Amt, als
men, sie sei eine »unfassbare, gefährliche er im Januar 2001 ein altes Foto von Jür-
Hochstaplerin«. gen Trittin druckte, das den Grünen-Poli-
Ein Mitarbeiter Reichelts schrieb auf tiker auf einer Demo zeigte. Um ihn he-
dessen Bitte hin zusammen, welche Erfah- rum Vermummte, angeblich mit »Bolzen-
rungen er bei der Zusammenarbeit mit der schneider« und »Schlagstock«. Tatsächlich
Kollegin im Haus gemacht habe. Ein wei- waren es ein Seil und ein Handschuh. Es
terer »Bild«-Mann erkundigte sich an ihrer war ein veritabler Skandal. »Bild« wurde
Universität nach ihrer Dissertation. Die vom Presserat gerügt, Diekmann entschul-
Recherche lief wie eine »Bild«-Kampagne digte sich. Und blieb.
im eigenen Haus. Auch Reichelt wird nicht darüber stol-
Reichelt schickte Diekmann zudem ein pern, dass er hier ein bisschen zündelt und
Foto. Er hatte es in jener Nacht um kurz dort ein wenig an der Wahrheit vorbei-
vor vier Uhr gemacht, im Hotel, wo die schrammt. Affären wie sein »Titanic«-Gau
Belegschaft einquartiert war. Zu sehen ist können einen Journalisten sogar stählen.
darauf besagte Mitarbeiterin, die nach der Rückblickend sind das dann die Narben,
Party mit Kollegen auf der Terrasse noch die von geschlagenen Schlachten zeugen.
etwas trinkt, vermeintlich gut gelaunt. Im Idealfall dienen sie der eigenen Legen-
Springer schaltete einen externen An- denbildung.
walt ein, der Zeugen und Kollegen befrag- Doch funktioniert das nur bei Men-
te. Das Prozedere gipfelte in einer absur- schen, die in der Lage sind, die Kontrolle
den Szene, die wohl in keinem anderen zu behalten, auch über sich selbst. Diek-
Konzern vorstellbar wäre: Die Mitarbei- mann konnte das. Es gab immer einen klei-
terin und Diekmann wurden, nacheinan- nen Spalt zwischen dem Menschen und
der, vor dem Vorstand und Verlegerin Frie- der Kunstfigur.
de Springer befragt. Döpfner persönlich Reichelt spielt nicht Reichelt, er ist so.
stellte Fragen. Er kannte dabei augen- Ein Überzeugungstäter. Ein Besessener.
scheinlich auch die Informationen aus Rei- Schwer zu sagen, wie sehr er sich dessen
chelts Niederschrift. bewusst ist. Und ob er bremsen kann, be-
Erst danach gab der Konzern den Fall vor er auf einen Abgrund zusteuert. Wird
an die Staatsanwaltschaft ab. jemand, der mit Ende dreißig so hart drauf
Diekmann verließ Springer bald darauf. ist, mit den Jahren radikaler? Oder viel-
Reichelt wurde »Bild«-Oberchef. Als Be- mehr milder? Wird Reichelt sich bald
lohnung für seine Loyalität sei das nicht unterfordert fühlen an der »Bild«-Spitze?
zu verstehen, sagen Verlagskenner. Dass Und noch höher hinauswollen?
er den Job bekomme, hätte wohl vorher Anfang März wird der frühere russische
schon festgestanden. Doppelagent Sergej Skripal in Großbri-
Bei der gedruckten »Bild« regierte Rei- tannien Opfer eines Giftanschlags, gesteu-
chelt seit seiner Beförderung faktisch ert angeblich von Moskau. Russland, Ge-
durch. Er riss die Leitung von Konferenzen heimdienst, Verschwörung – ein Fall für
an sich, überging Koch bei Entscheidun- Reichelt.
gen. Als sie im Januar beim Weltwirt- Der britischen BBC gibt er dazu ein
schaftsforum in Davos war, schrieb Rei- Interview, offenbar aus einem Hotelzim-
chelt aus Deutschland in einem langen mer, das Bild ist unscharf, Reichelt doziert
»Bild«-Kommentar, wie abgehoben und mit aufgerissenen Augen: Wenn Großbri-
lebenswert ist das Trendmagazin für nutzlos diese Veranstaltung doch sei. tannien die Nato-Staaten bitten würde, die
Wenn man Reichelt zu dem Macht- Fußball-Weltmeisterschaft in Russland zu
die Bereiche Gesundheit, Familie und kampf mit Koch fragt, sagt er: »Es gab kei- boykottieren, dann würde »Bild« ein sol-
© Anthony Delanoix
Genuss. Die Frühjahrsausgabe jetzt nen, sie hat meine Entscheidungen auch ches Anliegen unterstützen: Reichelt als
nie hintergangen oder unterlaufen.« Bündnispartner, seine Redaktion als para-
kostenlos im Buchhandel.
Tanit Koch hätte bei Springer einen an- moralische Sondereinheit.
deren Job bekommen können. Sie zog es Bei »Bild« spotten manche, Reichelts
vor zu gehen, nach 13 Jahren im Konzern. Ziel sei die Weltherrschaft. Andere halten
Das Magazin lebenswert erscheint in der Bei ihrem Abschied sagte Döpfner: »Bild« das für untertrieben.
Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien brauche »ganz klare Verhältnisse«.
GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund In Reichelt sieht die Verlagsspitze vor
allem den engagierten jungen Mann, der Video
In der »Bild«-Konferenz
polarisiert und keine Angst hat, sich un- mit Julian Reichelt
beliebt zu machen. »›Bild‹ muss anecken spiegel.de/sp172018reichelt
und darf nicht Everybody’s Darling sein oder in der App DER SPIEGEL
wollen«, sagt Döpfner.
kundenmagazine
88 DER SPIEGEL Nr. 17 / 21. 4. 2018
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IN DER SPIEGEL-APP
des Korrespondenten sei »nach Bekannt- len »zusätzlich geschult und sensibilisiert«
werden der Vorwürfe« 2016 kein Neben- werden. Es soll Dialogveranstaltungen ge-
tätigkeitsantrag mehr gestellt worden. ben, mit festen wie freien Mitarbeitern, in
Das Irritierende: Jörg Schönenborn, der Zentrale und den Studios. Zudem sol-
heute Fernsehdirektor, hatte auf Anfrage len alle Mitarbeiter über die »konkreten
des SPIEGEL vergangene Woche bekannt, Beschwerdestellen« informiert werden.
dass er Gerüchte »aus der Zeit um 1990« Und doch bleibt die Frage, wie ernst es
kannte und in seiner Zeit als Chefredak- dem WDR mit der Aufklärung ist. Ein Pro-
teur ab 2002 »intensiv« geprüft habe. blem: Als externer Aufklärer wurde aus-
Allerdings ohne Ergebnis. Und so entzog gerechnet jene Kanzlei bestimmt, die den
niemand dem Korrespondenten in den Sender oft in arbeitsrechtlichen Streitig-
vergangenen 16 Jahren die Erlaubnis zur keiten vor Gericht vertritt. Auch in dem
Nebentätigkeit als Seminarleiter. Fall jenes Reporters, der die Beschwerden
Auch bei der Frage, warum die WDR- von Kolleginnen wegen sexueller Belästi-
Oberen es zuließen, dass immer wieder gung ernst genommen und sie der damali-
Praktikantinnen zu ihm ins Auslands- gen Intendantin Monika Piel gemeldet hat-
te. Am Ende wurde er schriftlich ermahnt,
Kommentar
Der Zauderer
Der Mord an einem Mädchen zerreißt Indien – Premier Modi versagt.
Der Mann, der als Meister der Kommunikation gilt, ringt in die- nismus, der nicht mal halt vor Kindern macht. Aber er spaltet
sen Tagen oft um Worte: der indische Premier Narendra Modi, auch das Land: Tausende Inder machten ihrer Wut auf die
der bisher noch jeden Fehlschlag als Sieg verkaufen konnte. Hindu-Extremisten im Netz und auf der Straße Luft. Und viele
Schuld daran ist ein Verbrechen, das in seiner Brutalität schwer fragten: Warum nur sagt Modi nichts?
zu ertragen ist. Im Bundesstaat Jammu und Kaschmir haben Modis Partei BJP fährt einen hindunationalistischen Kurs. Zwei
mehrere Männer ein Mädchen entführt, sie haben es betäubt und ihrer Minister befanden sich sogar unter den Demonstranten,
über Tage hinweg in einem Tempel vergewaltigt. Dann erschlu- um die mutmaßlichen Täter zu verteidigen. Modi selbst hat sich
gen sie ihr Opfer mit einem Stein, Mitte Januar wurde die Leiche zwar immer generell für den Schutz von Frauen ausgesprochen.
entdeckt. Das Mädchen hieß Asifa Bano, sie war acht Jahre Aber als der Premier sich schließlich Tage später und wohl nur
alt und Muslimin. Die mutmaßlichen Täter sind Hindus. Ihr Plan: unter dem Druck der Öffentlichkeit zu Wort meldete, klang sein
die muslimische Minderheit in der Region in Angst und Schre- Bedauern seltsam hohl. Modi ist noch immer beliebt, aber ein
cken zu versetzen. Terror also. Jahr vor den Wahlen kommen nun Zweifel auf, ob er wirklich
Viele Bewohner forderten Gerechtigkeit – aber nicht für das alternativlos ist. Er kann seine Versprechen, etwa mehr Jobs,
Mädchen, sondern für die mutmaßlichen Vergewaltiger. Der nicht halten. Und nun entpuppt er sich auch noch als Zauderer,
Fall Asifa wurde zum Symbol für einen nationalistischen Chauvi- der Angst hat, radikale Hindus zu verprellen. Laura Höflinger
PAVEL GOLOVKIN / AP
Netzes lahmgelegt – nicht gen Aufstands im Dezember 1989 ums
aber Telegram selbst. Leben kamen. Beim Sturz des kommu-
Der Dienst ist in Russ- nistischen Diktators Nicolae Ceauşescu
land populär, weil Nach- hatte es mehrtägige Gefechte unter
richten dort als gut Papierflieger als Protest gegen Netzsperre in Moskau anderem zwischen dem Geheimdienst
verschlüsselt gelten. Securitate, Einheiten der Armee sowie
15 Millionen Russen nutzen ihn, vom der Behörde »irre«. Die Beamten hätten bewaffneten Zivilisten gegeben.
Oppositionellen bis zum hohen Kreml- Russlands Internet »völlig kaputt ge- Das Blutvergießen war die Folge von
beamten. Gegründet hat ihn Pawel Durow, macht«. Nun hängt alles daran, ob Inter- Gerüchten, »Spione« seien ins Land
ehedem Chef des russischen Facebook- netgiganten Telegram stützen: In den eingedrungen. Dabei, so Rumäniens
Rivalen VKontakte. Mittlerweile lebt App-Stores von Google und Apple kann Ankläger jetzt, habe es sich um »Täu-
Durow in Dubai im Exil. Weil er sich wei- man Durows Messenger herunterladen, schungsmanöver« der neuen politi-
gert, die Verschlüsselungstechnik offen- und Amazon stellt Cloud-Dienste bereit, schen Führung um Iliescu und Roman
zulegen, ordnete ein Gericht nun die Sper- damit Nachrichten überhaupt verschickt
rung von Telegram an. Diese richtet viel werden können.
Schaden an – allerdings nicht bei Telegram. Und der Kreml muss sich fragen, wie
Weil der Messengerdienst ständig neue er das Internet unterwerfen will. Anders
IP-Adressen nutzt, etwa von Anbieter als Nachbar China haben die Russen da-
Amazon, sperrte Roskomnadsor fast rauf verzichtet, eine digitale Mauer um
93
Ausland
Echte Chance
Korea Erstmals treffen Südkoreas Präsident Moon Jae In
und Nordkoreas Diktator Kim Jong Un aufeinander. Moon will den
Atomkonflikt beilegen, für ihn ist die Aussöhnung Lebensthema.
Auch weil der Riss durch die Halbinsel seine eigene Familie teilt.
P
anmunjom ist ein schauriger Ort, rundlichen Brille etwas auffällt, dann ist es
ein Überrest des Kalten Krieges. seine Unauffälligkeit. Es gehe ihm nicht um
Hier, am 38. Breitengrad, an der die eigene Person, hört man von fast allen,
Demarkationslinie zwischen den die ihn gut kennen, sondern um die Sache:
beiden Koreas, befindet sich die am Er will die Teilung der Nation überwinden,
schwersten bewachte Grenze der Welt. deren Folgen er selbst erfahren hat. Denn
Immer wieder kommt es zu blutigen auch durch seine Familie geht ein Riss.
Zwischenfällen; erst im November schos- Ende Dezember 1950, ein halbes Jahr
sen nordkoreanische Grenzposten auf ei- nach Ausbruch des Koreakriegs, flohen sei-
nen Kameraden, als er in den Süden floh. ne Eltern in den Süden, auf der SS »Mere-
Er überlebte schwer verletzt. dith Victory«, einem US-Schiff, das mit
Moon Jae In, 65, kennt Panmunjom gut, Flüchtlingen überladen war. Sie kamen auf
er diente dort als Wehrpflichtiger in einer die Insel Geoje, bekannt für ihre Werft-
Spezialeinheit, als nordkoreanische Gren- industrie, die zur Zeit des Wirtschaftswun-
zer zwei US-Soldaten mit Äxten töteten. ders aus dem Boden gestampft worden ist.
Das war 1976, der »Axt-Vorfall« brachte Aber als Moon hier 1953 zur Welt kam, als
die koreanische Halbinsel an den Rand ei- ältestes von fünf Kindern, war die Armut
nes Krieges, wie so oft. Und an eben die- noch groß. Sein Geburtshaus steht noch, ein
sem schicksalsträchtigen Ort will Moon, graues Häuschen gegenüber einem Reisfeld.
inzwischen Präsident Südkoreas, nun am »Wir würden sein Geburtshaus gern
kommenden Freitag den nordkoreani- kaufen und ein Museum daraus machen«,
schen Diktator Kim Jong Un empfangen. sagt der Bezirksleiter auf Geoje. Doch da-
»Haus des Friedens« heißt das Gebäude, raus wird vorerst nichts: Kurz nach Moons
in dem sie miteinander reden wollen. Wahl sei dessen Ehefrau hergekommen und
Es wird der erste Nord-Süd-Gipfel seit habe den Wunsch übermittelt, dass hier kein
2007 sein. Und das erste Mal, dass ein Wallfahrtsort entstehen solle. »Unserer
Herrscher des Nordens die Grenze zum Wirtschaft geht es nicht gut«, so der Präsi-
Süden übertritt – wenn auch nur um wenig dent, »unsere Nation hat andere Sorgen.«
mehr als 100 Meter. Aber das Treffen ist Typisch Moon. Von Geoje zog Moons
auch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Familie bald in die Hafenstadt Busan. Auch
Mit Moon rückt ein Mann in den Blick- dort ging es der Familie nicht besser; der
punkt, der sich vom Tyrannen Kim krass Vater handelte mit Schuhen, die Mutter mit
unterscheidet. Ein überzeugter Demokrat, Eiern und Kohlebriketts. Moon besaß nicht
ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt, der einmal Geschirr für das Schulessen, als Scha-
dem weltweiten Trend zu autoritären le für den Reis lieh er sich angeblich die
Herrschern zu widersprechen scheint. Deckel von Imbissboxen der Mitschüler. ge, wurde er vor seiner Wahl im vergan-
Vor knapp einem Jahr wurde Moon zum Und dann war da noch die Familie im genen Jahr zitiert. Seine Mutter ist jetzt
Nachfolger von Park Geun Hye gewählt, Norden. Moons Großeltern und andere 91 Jahre alt, ihr letzter Wunsch sei es, die
der zunehmend autoritär regierenden und Verwandte waren dort zurückgeblieben, Verwandte noch einmal zu sehen. Auch im
volksfernen Präsidentin, die gegenüber es gab keinen Kontakt. Doch im Jahr 2004, Februar, als er Kim Yo Jong, die Schwester
dem Norden einen kompromisslosen Kurs Moon war Sekretär im Präsidentenpalast, des nordkoreanischen Diktators, in Seoul
verfolgt hatte. Fünf Jahre zuvor war Moon nahmen er und seine Mutter an einem der empfing, erwähnte Moon das aufwühlende
ihr noch knapp unterlegen, diesmal aber höchst seltenen Treffen von getrennten Fa- Treffen mit seiner Tante im Norden.
trug ihn eine Welle des Protestes an die milien im nordkoreanischen Ferienort Die Hoffnung auf die Aussöhnung treibt
Macht. Die konservative Park war kurz zu- Kumgangsan teil. Moons Mutter und ihre ihn an, dafür arbeitet er beharrlich. Doch
vor abgesetzt worden; gerade erst wurde jüngere Schwester sahen sich zum ersten die Mission, die Moon zu erfüllen hat,
sie wegen Machtmissbrauchs, Nötigung Mal seit über fünf Jahrzehnten wieder. Ein scheint fast unmöglich: Er muss Nordkoreas
und Bestechung in erster Instanz zu 24 Jah- Foto von dem Treffen zeigt Moon, er steht Diktator und den US-Präsidenten dazu
ren Gefängnis verurteilt. neben den beiden Frauen, die traditionelle bringen, den Streit um das nordkoreanische
Moon ist ein Mann des Volkes, aber er Tracht tragen und weinen. Atomprogramm friedlich beizulegen, und
ist kein Populist. Wenn an diesem Staatschef Auch deshalb hat Moon es eilig mit der zwar dauerhaft. Er will den Waffenstill-
mit den weichen Gesichtszügen und der Annäherung an den Norden. Die Zeit drän- stand, der seit 1953 herrscht, durch einen
Friedensvertrag ersetzen. Und so einen Pyeongchang empfing er nordkoreanische den CIA-Direktor Mike Pompeo auf ge-
Krieg abwenden, den viele Experten vor Sportler und Funktionäre, allen voran die heime Mission nach Pjöngjang.
einem halben Jahr für denkbar hielten. Schwester des Diktators. Nord und Süd Im Vergleich dazu verblasst der Nord-
Für Moon ist es schon ein Erfolg, dass schwelgten in Harmonie und bejubelten Süd-Gipfel in Panmunjom wie ein Vor-
es den Gipfel mit Kim überhaupt geben ihre Sportler; sie besuchten sich gegenseitig kampf vor einer Boxweltmeisterschaft. Am
soll. Zwar plädierte er von Anfang an für mit Sängern und Orchestern. Ende aber könnte er sich als entscheidend
Gespräche mit dem Norden. Doch statt Zwar schien es oft, als führte Kim aus erweisen: Denn Moon will den Diktator da-
auf ihn zu hören, trieben sich Kim und der Ferne die Regie bei der Wiederannä- von überzeugen, dass er den USA mit kon-
Trump in eine gefährliche Eskalationsspi- herung, doch er überließ Moon zeitweise kreten Schritten für eine atomare Abrüs-
rale. Der eine mit Atom- und Raketentests. die Rolle des diplomatischen Vermittlers. tung entgegenkommen muss. Und er sagt,
Der andere mit Twitter-Tiraden, in denen So waren es Moons Unterhändler, die Kim bestehe nicht mehr wie bislang auf den
er auch Moons Entspannungspolitik als Trump nach einem Besuch bei Kim in Abzug der US-Truppen aus Südkorea. Das
»Appeasement« verhöhnte. Pjöngjang die Gipfeleinladung überbrach- könnte eine der wichtigsten Bedingungen
Anfang dieses Jahres überraschte Kim ten – die dieser überraschend annahm. dafür sein, damit das Treffen zwischen Kim
die Welt dann mit einer Charmeoffensive – Das Aufeinandertreffen der beiden Super- und Trump überhaupt Erfolg haben kann.
und Moon ergriff die Chance. Als Gast- egos soll Ende Mai oder Anfang Juni statt- Es gibt vermutlich kaum jemanden, der
geber der Olympischen Winterspiele von finden. Kürzlich schickte Trump bereits für diese schwierige Aufgabe besser geeig-
95
Ausland
net ist als Moon. Mit Fleiß und Ehrgeiz hat den Pekinger Sechsergesprächen zwischen dass Moon den US-Präsidenten fast schon
er es einst an eine Universität in Seoul ge- den beiden Koreas, den USA, China, Russ- hofiert. Als es im Januar erste Kontakte
schafft. Damals war Südkorea eine Dikta- land und Japan hatte das Kim-Regime zu- zwischen Nord und Süd gab, lobte er dafür
tur, und Moon demonstrierte gegen das Re- vor versprochen, seine Atomanlage Yong- nicht sich selbst, sondern Trump. Ebenso
gime. Die Nachricht von seiner bestande- byon abzuschalten. Und beim von Moon wie Trump beharrt Moon darauf, dass die
nen Juraprüfung erhielt er hinter Gittern. vorbereiteten Gipfel in Pjöngjang 2007 Uno-Sanktionen gegen das Kim-Regime
Wegen seiner Verhaftung war ihm eine vereinbarten Nord und Süd dann Verhand- in Kraft bleiben, solange es seinem Atom-
Laufbahn als Richter versperrt, er wurde lungen über einen Friedensvertrag – pa- programm nicht abschwört.
daher Anwalt. Gemeinsam mit dem späte- rallel zur Lösung des Atomproblems auf Doch wird Diktator Kim sich darauf ein-
ren Präsidenten Roh Moo Hyun betrieb er der Halbinsel. Der Frieden sollte endlich lassen? Er hat zwar angekündigt, eine Ab-
in Busan eine Kanzlei; sie verteidigten Stu- den Waffenstillstand ersetzen, der seit dem rüstung sei denkbar – aber kann man ihm
denten, Arbeiter und andere Verfolgte des Koreakrieg herrscht. Auch ambitionierte glauben?
Regimes. Wirtschaftsprojekte wurden angepeilt, da- Die USA und ihre Verbündeten fordern
»Er drängt sich nicht in den Vordergrund, runter eine gemeinsame Fischereizone und zudem, dass Kim auf sein nukleares Arse-
er respektiert die Position seines Gegen- der Ausbau von Haeju, einem Hafen an nal verzichtet, und zwar vollständig, über-
übers.« Das sagt der Anwalt Jung Jae Sung, der nordkoreanischen Westküste. prüfbar und unumkehrbar. Kim deutet da-
der Moon seit den späten Achtzigerjahren gegen nur eine schrittweise Abrüstung an,
kennt; jahrelang arbeitete er mit Moon Sei- zeitlich abgestimmt mit Konzessionen der
te an Seite in ihrer gemeinsamen Kanzlei. »2007 hatte Moon alles USA. Überdies verlangt er Überlebens-
»Moon war extrem geduldig, er arbeitete persönlich vorbereitet, garantien für sein Regime.
hart und dachte weit voraus«, sagt Jung. Er Nicht nur, dass diese Differenzen schwer
berichtet von einer Klientin, einer Queru- dann sah er, wie sich zu überbrücken sein werden, Moon steckt
lantin, vor der andere Kollegen sich am liebs- alles in Luft auflöste.« auch in einem geostrategischen Dilemma:
ten versteckt hätten. Doch Moon habe ihr Kim ist mittlerweile nicht nur der Führer
stets aufmerksam und freundlich zugehört. einer Atommacht. Geschickt nutzt er auch
Jung betont überdies den anspruchs- Doch dann brach das Kim-Regime ein die Rivalität zwischen den Supermächten
losen Lebensstil des ehemaligen Kollegen. Versprechen nach dem anderen; es rüstete USA und China, die auf der koreanischen
»Moon ist sehr streng gegen sich selbst, atomar weiter auf. »Moon hatte alles per- Halbinsel letztlich einen Konflikt über die
fast schon zu streng.« Von sich aus habe sönlich vorbereitet, und später sah er dann, künftige Machtverteilung im Pazifik aus-
er nie vorgeschlagen, nach Feierabend ge- wie sich alles in Luft auflöste«, erinnert tragen. Das wird dadurch deutlich, dass
meinsam ins Restaurant zu gehen. »Wenn sich Kim Kyoung Soo, ein damaliger Mit- Chinas Staatschef Xi Jinping demnächst
wir dann allerdings loszogen, dann hat er arbeiter von Moon, der jetzt für die Re- wahrscheinlich zu einem Staatsbesuch
immer für gute Stimmung gesorgt.« gierungspartei im Parlament in Seoul sitzt. nach Pjöngjang reisen wird.
Nachdem sein Anwaltskollege, der Aber diesmal, glaubt er, gebe es eine Mit der Schutzmacht China im Rücken
linksliberale Roh Moo Hyun, 2002 zum echte Chance für Frieden. »Die damalige kann Kim noch selbstbewusster verhan-
Staatsoberhaupt gewählt worden war, folg- Erfahrung hat Moon gelehrt, jeden einzel- deln. Dagegen kann Moon sich bei Trump
te Moon ihm als Stabschef ins Blaue Haus, nen Schritt gründlich vorzubereiten.« Vor keineswegs sicher sein, inwieweit der die
den Präsidentenpalast in Seoul. 2007 be- allem aber habe Moon verstanden, dass Interessen des Südens berücksichtigt.
reitete Moon federführend den Nord-Süd- Versöhnung nur möglich sei, »wenn wir »Das schlimmste Szenario wäre, wenn
Gipfel zwischen Roh und Kim Jong Il vor, uns eng mit den USA abstimmen«. die USA sich aus dem Süden der Halbinsel
dem Vater des heutigen Diktators. Tatsächlich herrschten 2007 erhebliche zurückzögen«, sagt Park Myung Lim, ein
Schon damals keimte Friedenshoffnung Unstimmigkeiten zwischen Seoul und Wegbegleiter von Moon. Der Politologe
auf der koreanischen Halbinsel auf. Bei Washington. Diesmal fällt dagegen auf, lehrt an der Yonsei-Universität in Seoul,
er hat Moon oft beraten. Auch Park befür-
wortet die Aussöhnung, blickt den beiden
Gipfeln jedoch skeptisch entgegen. Denn
er unterstellt den USA, dass es ihnen weni-
ger um das Atomprogramm geht als darum,
die Bedrohung von New York oder Los
Angeles durch Kims Langstreckenraketen
abzuwenden.
»Falls Nordkorea sich mit den USA ei-
nigt, die Reichweite seiner Raketen zu
beschränken, würde der Atomstreit zu ei-
ner lokalen Angelegenheit herabgestuft.«
Dann müsste der Süden zusehen, wie er
mit dem Norden zurechtkommt.
Er fügt hinzu: Selbst wenn Kim der Welt
verspreche, auf Atomwaffen zu verzichten,
lasse sich diese sogenannte Denuklearisie-
rung kaum überprüfen. »Der Norden hat
große Fortschritte bei der Verkleinerung
seiner Atomwaffen gemacht, die kann er
immer besser verstecken.«
REUTERS
Wieland Wagner
Mail: wieland.wagner@spiegel.de
Regierungsmitarbeiter Moon mit Mutter (l.), Tante in Nordkorea 2004: Die Zeit drängt
Ein Panik-Manöver
Die Entscheidung von Staatschef Erdoğan, die Wahlen bereits in neun Wochen
abzuhalten, ist ein Zeichen der Schwäche.
R
ritätsschub verholfen. Sein Militär hat die Region
ecep Tayyip Erdoğan regiert die Türkei seit 15 Jahren. um Afrin im Nordwesten des Landes schneller eingenommen
Er hält so gut wie jeden Tag mindestens eine Rede. als von Beobachtern prophezeit. Seither jedoch zeigt sich
Er ist beinahe 24 Stunden am Tag, sieben Tage die mit jedem Tag mehr, dass Erdoğan keine langfristige Strategie
Woche im Fernsehen zu sehen. Und trotzdem gelingt hat. Es kommt dort regelmäßig zu Anschlägen durch YPG-
es dem türkischen Präsidenten immer noch, seine Landsleute Kämpfer; im Guerillakrieg könnten noch viele türkische Sol-
zu überraschen. Wie am Mittwoch. Seit Wochen war darüber daten sterben. Das kommt zu Hause nicht gut an. Deshalb
spekuliert worden, ob die Regierung die Präsidentschafts- wird Erdoğan die Region wohl früher oder später an Syriens
und Parlamentswahlen vorziehen würde. Erdoğan hatte das Diktator Baschar al-Assad übergeben müssen. Gleichzeitig
beharrlich bestritten. Doch dann trat er vor die Presse, um würde Erdoğan seinen Einfluss gern auf die Provinz Idlib
Neuwahlen für den 24. Juni anzukündigen – ganz so, als ausweiten, woran aber weder Assad noch dessen Verbündete
hätte es all die Dementis zuvor nicht gegeben. Russland und Iran großes Interesse haben. Erdoğan wollte
Erdoğan hat die Opposition mit seinem Vorstoß überrum- einst Syrien neu ordnen. Nun bemüht er sich verzweifelt da-
pelt. Die Parteien haben noch nicht einmal einen Gegenkan- rum, zumindest nicht ganz leer auszugehen.
didaten benannt, bis auf die frühere Innenministerin Meral In der AKP begehrt bislang niemand offen gegen Erdoğan
Akşener, bei der jedoch nicht klar ist, ob sie mit ihrer neu ge- auf, doch der Frust über den autoritären Kurs des Präsidenten
gründeten Iyi-Partei überhaupt antreten darf. Erdoğans AKP ist spürbar. Mehrere Gründungsmitglieder der AKP haben
wirkt für einen Wahlgang im Juni dagegen bestens vorbereitet. sich inzwischen zurückgezogen, darunter Ex-Präsident Ab-
Sie hat eine Allianz mit der rechtsnationalen MHP geschlos- dullah Gül. Minister kämpfen offen gegeneinander. Auch steht
sen. Sie kontrolliert weitgehend die Medien. Und sie hat ge- der Abgang von Vizepremier Mehmet Şimşek, der Investoren
rade den Ausnahmezustand zum siebten Mal verlängert, was als letzter Garant für Stabilität gilt, immer wieder zur Debatte.
der Opposition den Wahlkampf weiter erschweren dürfte. Zugleich mag die Opposition derzeit zwar noch schwach
Trotzdem ist Erdoğans Entscheidung, Neuwahlen auszu- sein – aber sie ist dabei, sich nach Jahren der Stagnation neu
rufen und nicht bis zum Herbst 2019 zu warten, ein Zeichen aufzustellen. Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der mo-
der Schwäche und nicht der Stärke. Der Präsident bittet die deraten CHP, hat an Selbstbewusstsein gewonnen, seit er im
Wähler im Juni weniger deshalb an die Urnen, um seine vergangenen Sommer mehrere Millionen Menschen mit sei-
Macht noch weiter auszubauen, sondern eher, um einer nem »Gerechtigkeitsmarsch« auf die Straße gebracht hat.
Machterosion zuvorzukommen. Denn AKP und MHP haben Und mit der Iyi-Partei erwächst der AKP erstmals ernsthafte
im April 2017 das Referendum über die Einführung eines Konkurrenz im rechten Lager.
Präsidialsystems, das Erdoğan noch mehr Kompetenzen zu- Erdoğans finanzielle und logistische Überlegenheit dürfte
billigt, nur mit knappem Vorsprung gewonnen. Seither hat trotz allem ausreichen, um die Wahl zu gewinnen. Die Pro-
sich die Lage im Land nicht verbessert. bleme seines Landes aber werden nach dem 24. Juni nur
Zwar ist das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um noch größer werden.
etwa sieben Prozent gewachsen, stärker als in fast jedem anderen Maximilian Popp
Industrieland, doch dieses Wachstum ist teuer erkauft: Erdoğan Twitter: @maximilian_popp
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Ausland
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SANA / IMAGO
Diktator Assad in Regierungsgebäude (Propagandabild): Das Sterben geht weiter, Damaskus feiert den Sieg
Und auch vergangene Woche ging das schen den Fronten. Es kämpft an der Seite zurückeroberten Orten deportiert. Mehr
syrische Feilschen wie gewohnt weiter. Irans und der Hisbollah, lässt aber zugleich als eine Million Menschen leben nun zu-
Zwar hatte Damaskus versprochen, die Israel ebendiese Alliierten in Syrien bom- sätzlich in dieser Provinz; und es gibt kei-
OPCW-Inspektoren nach Duma zu lassen, bardieren, ohne seine Luftabwehr zu akti- nen Ort, an den man sie von dort noch ver-
dorthin, wo am 7. April vermutlich eine Mi- vieren. Es ist mit Ankara verbündet und treiben könnte. Außerhalb von Assads
schung aus Chlorgas und Nervengift einge- lässt die türkische Armee Afrin erobern, Herrschaftsbereich existieren dann nur
setzt worden ist. Nach Tagen des Wartens ohne jedoch die Kurden in Nordsyrien noch die türkisch besetzten Gebiete und
durften die Inspektoren am Samstagmor- ganz fallen zu lassen. die Region, die bislang unter kurdischer
gen nach Damaskus reisen – allerdings Jetzt würde Russland gern als neutraler Kontrolle ist. In Idlib, so viel ist absehbar,
nicht ins eine Viertelstunde entfernte Duma. Makler auftreten, der Syriens verfeindete droht die nächste humanitäre Katastrophe.
Als schließlich am Dienstag Sicherheits- Mächte an einen Tisch bringt, nicht als Und für Verhandlungen, gar einen Abtritt
experten der OPCW endlich dorthin auf- Schutzmacht eines brutalen Diktators. Assads, wird es dann endgültig zu spät sein.
brachen, kamen sie in dem von der russi- Aber Assad lässt diesen Rollenwechsel Assad plant daher auch schon die Zu-
schen Militärpolizei kontrollierten Gebiet nicht zu, indem er mutmaßlich weiter Zi- kunft, sein Regime hat gerade »Dekret 10«
unter Beschuss und mussten sich zurückzie- vilisten mit Chemiewaffen angreift – und erlassen, das offiziell den Wiederaufbau
hen. Bei Redaktionsschluss am Donnerstag- so Moskau zwingt, das syrische Regime vereinfachen soll, in Wahrheit aber einen
abend waren die Inspektoren immer noch weiter zu verteidigen. gigantischen Landraub legalisiert. Es sieht
nicht am mutmaßlichen Tatort. Dagegen Und so wird es wohl weitergehen: Nach vor, dass in vielen einstigen Rebellenhoch-
konnten Journalisten, eskortiert vom syri- der Eroberung von Duma wird Assads mul- burgen Grundbesitz innerhalb von 30 Ta-
schen Regime, mühelos dorthin gelangen. tinationale Streitmacht dieser Tage in Jalda, gen neu registriert werden muss. Wer da-
All diesen Ausweichmanövern haben Babila und Beit Saham einrücken, den letz- für nicht persönlich vor Ort erscheint oder
die USA und die Europäer, die sich vor ten südlichen Vororten von Damaskus un- Verwandte schickt, dessen Land und Häu-
einem echten militärischen Eingreifen ter Kontrolle der Rebellen. Nebenan in Jar- ser fallen an den Staat.
scheuen, nichts entgegenzusetzen. muk wurde den geschätzt tausend Kämp- Man kann das »Dekret 10« auch als Ent-
Anders als Russland, das in Syrien be- fern des »Islamischen Staats«, die sich dort eignung derjenigen betrachten, die fliehen
harrlich eine Strategie verfolgt – und dafür jahrelang relativ unbehelligt halten konn- mussten und deren Loyalität das Regime
im Herbst 2015 seinen Militäreinsatz star- ten, bereits ein erstaunliches Angebot ge- bezweifelt. Statt einer Versöhnung den
tete. Er sollte Assad retten, aber er sollte macht: Sie dürfen in die Südprovinz Daraa Weg zu bereiten, legt das Regime so gleich
ebenso dessen Gegner an den Verhand- abziehen, Richtung israelische Grenze. Da- die Saat für den nächsten Konflikt.
lungstisch zwingen. Am Ende wollte Mos- mit würden sie den perfekten Vorwand für Christian Esch, Christoph Reuter,
kau sich Einfluss im Nahen Osten sichern Assads Truppen liefern, als Nächstes dort Raniah Salloum
und zugleich internationales Prestige ge- einzumarschieren.
winnen, indem es in Syrien Frieden schafft, Als Letztes wird Assad wohl versuchen,
nach seinen Vorstellungen natürlich. die seit Monaten von der russischen Luft- Video
Assads »alternative
Dafür hat Moskau einen beeindrucken- waffe bombardierte Nordprovinz Idlib zu- Fakten«
den diplomatischen Aufwand betrieben rückzuerobern. Dorthin wurden in den ver- spiegel.de/sp172018syrien
und erreicht, mit allen im Gespräch zu blei- gangenen zwei Jahren Rebellen, Aktivisten oder in der App DER SPIEGEL
ben und nicht zerrieben zu werden zwi- und Ärzte aus Aleppo, Duma und anderen
Bis Du
stehenbleibst.
Maria-Teresa Asplund in Borlänge, Schweden.
Die ganze Geschichte: handelsblatt.com/handeln
FÜR ALLE,
DIE HANDELN
Sport
Olympia im eigenen Land? Lieber nicht. ‣ S. 105
Punkteabstand zwischen Platz 3 und 16 nach dem 30. Spieltag in der 2. Liga* 25
*seit Einführung der Drei-Punkte-Regel 23 2007/08
35 22 2006/07 28
2001/02 26 21 2005/06 2010/11
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2002/03 2004/05 20 22
2009/10 2011/12
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2000/01 2012/13
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T I M G RO OT H U I S / W I T T E R S
2013/14
1998/99
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1997/98
Christopher Buchtmann
FC St. Pauli 24
18 2016/17
1996/97
16 12
1995/96 2017/18
Spannender als jemals zuvor ist in diesem Jahr die Zweite Fuß- zwischen dem 3. und dem 16. Platz beträgt nur zwölf Punkte.
ball-Bundesliga. Während die Erste Liga vier Spieltage vor Kurios ist deshalb die Situation des FC St. Pauli: Die Hamburger,
Saisonende langweilig dem letzten Spieltag entgegendümpelt, derzeit auf dem drittletzten Rang, können direkt absteigen, aber
knubbeln sich die Vereine eine Klasse darunter. Der Abstand theoretisch auch noch den Aufstieg in die Erste Liga schaffen.
bahn. Die NFL hatte mich nach Manhattan SPIEGEL: Sie haben beim Draft mehr als Leben verändert hat. Ich lebe in den USA,
eingeladen, in ein Fünfsternehotel, ich drei Stunden im Green Room gewartet. finanziell geht es mir sehr gut, ab und zu
konnte sogar meine Familie einfliegen. Mei- Bis die Indianapolis Colts anriefen. werde ich als Experte ins Fernsehen ein-
ne Brüder und meine Eltern waren noch geladen. Das alles habe ich dem Football
nie in den USA gewesen, wir hatten nie das zu verdanken.
Geld dafür gehabt. Aber wenn man ein SPIEGEL: Die College-Zeit blieb aller-
Kandidat für die erste Auswahlrunde ist, dings der Höhepunkt Ihrer Karriere.
wird man wie ein Superstar behandelt. Werner: Ich habe bei Florida State
SPIEGEL: In der ersten Runde werden die manchmal vor über 80 000 Leuten ge-
größten Talente verpflichtet. Sie waren spielt, alle besoffen, die haben total
IMAGO SPORTFOTODIENST
102
Sport
Der Schauspieler
Football Leaks Sportlich ist Cristiano Ronaldo in glänzender Verfassung. In seinem Verfahren
wegen schwerer Steuerhinterziehung wird es hingegen zunehmend
düster. Neue Dokumente zeigen nun: Der Superstar nutzte weitere Steueroasen.
N
achspielzeit, 93. Minute, das Expertenmeinung eine Gefängnisstrafe die Muttergesellschaft auf der kleinen
Chaos bricht aus. Auf den Tri- von mindestens sieben Jahren. Kanalinsel Jersey verwaltet das Ganze.
bünen des Estadio Santiago Der SPIEGEL und seine Partner vom Was überall fehlt, ist der Name Cristiano
Bernabéu, der Heimspielstätte Recherchenetzwerk European Investiga- Ronaldo. Der Superstar taucht in keinem
von Real Madrid, liegen sich die spani- tive Collaborations (EIC) hatten Ronaldos öffentlichen Register auf. Stattdessen agie-
schen Fans in den Armen. Sie jubeln, man- Offshore-Aktivitäten im Dezember 2016 ren Treuhänder für ihn, die man auch als
che weinen. Unten auf dem Rasen rennen enthüllt. Grundlage der Berichterstattung Strohmänner bezeichnen kann. Ihre Firma
die Spieler von Juventus Turin auf den waren Dokumente der Enthüllungsplatt- trägt den passenden Namen »Private
Schiedsrichter zu, sie bedrängen ihn, form Football Leaks. Trustees«.
schreien. Die Verzweiflung muss irgend- Damit nicht genug: Neue Dokumente Aus den Dokumenten von Football
wie raus. von Football Leaks zeigen nun, dass Ro- Leaks geht hervor, wer der »einzige wirt-
Nur einer wirkt, als ginge ihn das alles naldo noch weitere Steueroasen nutzte. schaftlich Berechtigte« hinter der Kon-
nichts an. Sollten die Richter entscheiden, dass sie struktion ist: Cristiano Ronaldo.
Cristiano Ronaldo, 33, steht teilnahmslos einen Prozess gegen den Stürmer eröff- Offshore-Firmen sind grundsätzlich
im Trubel, fast fünf Minuten lang. Er nen, könnten auch all seine weiteren Ge- nicht illegal, sofern die Einkünfte korrekt
streicht sich durch die Haare, wischt sich schäfte Gegenstand der Verhandlungen versteuert werden. Ob Ronaldo dies getan
den Schweiß aus dem Gesicht, guckt ins werden. hat, ist nicht bekannt. In seiner Steuer-
Leere. Es steht 3:0 für Turin, Real braucht Und davon gibt es reichlich. erklärung für das Jahr 2015 taucht die
ein Tor, um ins Halbfinale der Champions Irland, die British Virgin Islands, eine Steueroase Jersey offenbar nicht auf.
League zu kommen. Ronaldo küsst den kleine Privatbank in der Schweiz, eine Stif- Cristiano Ronaldo äußerte sich dazu auf
Ball, legt ihn auf den Elfmeterpunkt, kurzer tung in Panama – dies sind Ronaldos Off- Anfrage des SPIEGEL nicht.
Anlauf, dann drischt er ihn in den Winkel. shore-Vehikel, die die spanischen Ermittler »Es sitzen viele unschuldige Menschen
Die Viertelfinalpartien der Champions bisher schon untersuchen. Im Kern geht im Gefängnis. Und ich fühle mich ein biss-
League waren Ronaldo-Festspiele, seine es dabei um rund 150 Millionen Euro aus chen wie sie. Du weißt, dass du nichts
drei Tore gegen Juve – darunter ein spek- Werbegeldern, für die Ronaldo in den Jah- falsch gemacht hast, und sie sagen, du hast
takulärer Fallrückzieher im Hinspiel – ren 2009 bis 2014 lediglich knapp sechs etwas falsch gemacht«, sagte Ronaldo kurz
wurden in den sozialen Netzwerken mil- Millionen Euro Steuern gezahlt hat. nach den Enthüllungen seiner mutmaß-
lionenfach gepostet, geteilt, gelikt. Niedliche vier Prozent Steuern – ein lichen Steuerhinterziehung. Der Portugiese
Ronaldo war endlich wieder dort, wo Witz. wechselte anschließend trotzdem seine An-
er sich am wohlsten fühlt: im Mittelpunkt. Die neuen Football-Leaks-Dokumente wälte und erweiterte seine Verteidigerriege
Nach einer durchwachsenen Hinrunde in zeigen, dass Ronaldo 2015 auch noch eine um namhafte Juristen, darunter auch die
der spanischen Liga ist er seit Wochen wie- Holding in Luxemburg und einen Trust frühere Kanzlei des heutigen spanischen
der in großartiger Form. Der Stürmer auf Jersey betreiben ließ. Zwei weitere Finanzministers Cristóbal Montoro.
kommt auf 15 Tore in der aktuellen Cham- Steueroasen, und wieder sind seine Ge- Aufgeschreckt haben dürfte ihn eine Mit-
pions League, 120 hat er insgesamt in der schäfte alles andere als transparent. Die teilung der Staatsanwaltschaft Madrid, die
Königsklasse erzielt. In der kommenden Luxemburger Firma hält Ronaldos Be- für die vermeintlichen Steuerbetrügereien
Woche trifft der Portugiese nun im Halb- teiligungen an unterschiedlichen Hotels, von Xabi Alonso, dem früheren Mittelfeld-
finale auf Bayern München.
Mit jedem Tor arbeitet Ronaldo weiter
an seiner Legende. Diese Legende muss
so groß werden, dass sie jedes Klein-
gedruckte überstrahlt. Kleingedrucktes
wie seine Steuererklärung.
Denn während Ronaldo seine Tore
schoss, vernahmen Richter in Madrid zahl-
reiche Zeugen. Die Staatsanwaltschaft
wirft ihm vor, 14,8 Millionen Euro Steu-
ern mithilfe eines komplizierten Firmen-
geflechts hinterzogen zu haben. Und zwar
»wissentlich und willentlich«, wie die Er-
mittler formulierten. In den kommenden
Wochen werden die Richter nun darüber
entscheiden, ob sich Ronaldo einem Pro-
zess wegen des Verdachts der Steuerhin-
terziehung stellen muss. Ihm droht nach Ausriss aus Dokumenten einer Ronaldo-Firma: Strohmänner statt Transparenz
Ein Traum
eben abends bei einem Glas Kölsch ent- Die Olympiaplaner in NRW sagen,
standen ist.« beim IOC habe ein Umdenken eingesetzt,
Doch genau danach sieht es aus. man vertraue auf die Reformen von IOC-
In Deutschland sind zuletzt zwei Olym- Präsident Thomas Bach. Der verkündete
Olympia Soll sich piabewerbungen in Volksentscheiden ge- 2014, dass die Spiele billiger, sauberer wür-
scheitert. Die Münchner Bürger lehnten den, dass Ausrichter künftig Sportstätten
Deutschland wirklich mit die Winterspiele 2022 ab, die Hamburger im Ausland in ihr Konzept einbeziehen
14 Städten an Rhein stimmten gegen die Sommerspiele 2024. könnten. Das Versprechen: Die Spiele be-
und Ruhr für die Spiele Die Bewerbung Hamburgs platzte auch kämen eine Schrumpfkur, es werde eine
wegen der Finanzen, elf Milliarden Euro Art Olympia light geben.
bewerben? sollten die Spiele kosten, man kann auch In Wahrheit ist davon bislang nichts zu
sagen: so viel wie 13 Elbphilharmonien. sehen.
105
Wissenschaft+Technik
Gegen diesen Koloss wirkt der Killer aus »Der weiße Hai« wie ein Zierfisch aus dem Aquarium. ‣ S. 114
Kommentar
Danke, EU! Wisent, Wolf und Luchs, Dreizehenspecht und Rau- lich festgesetzt worden war für den Fall, dass weitere Bäume
fußkauz, sie alle können aufatmen: Bemerkenswert deutlich urteil- gefällt würden. Es war das erste Mal, dass die EU-Richter schon im
te der Europäische Gerichtshof (EuGH) vorige Woche, dass Polen vorläufigen Verfahren Zwangsgelder androhten.
den Holzeinschlag im Białowieża-Urwald stoppen muss. Die im Damit hat der EuGH ein neues Instrument genutzt, das er häu-
Grenzgebiet von Polen und Weißrussland liegende Wildnis gilt als figer anwenden sollte. Die Umweltgesetze der EU gelten als die
einer der letzten intakten Urwälder Europas. Auf polnischer besten der Welt. An ihrer Umsetzung mangelt es jedoch nicht nur
Seite sind rund 63000 Hektar nach EU-Recht besonders geschützt. in Polen. Deutschland verstößt seit Jahren gegen europäisches
Dennoch hatte die polnische Regierung 2016 sogar noch eine Aus- Umweltrecht. Hiesige Flüsse und Seen sind zu dreckig, das Grund-
weitung des Einschlags genehmigt – angeblich wegen einer Borken- wasser zu wenig geschützt. Die deutschen Meeresschutzgebiete
käferplage. Umweltschützer vermuteten hinter der Rodung rein existieren nur auf dem Papier. Doch die EU-Kommission tut zu
wirtschaftliche Interessen. Dabei ging es im Streit um Białowieża wenig, um ihre Umweltgesetze in Deutschland durchzusetzen.
wohl um noch viel mehr: Die Regierung in Warschau wollte zeigen, Mehr Härte gegen Umweltsünder könnte helfen, das schlechte
dass Polen trotz EU-Mitgliedschaft im Zweifel eben doch machen Image der Europäischen Union zu verbessern. Eine EU, die sich
kann, was es will. nicht nur um den Durchmesser von Pizza kümmert, sondern auch
Dem schiebt der EuGH nun einen Riegel vor – nachdem bereits für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen kämpft,
im November 2017 vorläufig ein Zwangsgeld von 100000 Euro täg- wäre die beste Werbung für ein vereintes Europa. Philip Bethge
330
ner stehen der unglaub-
lichen Anzahl an Habich-
ten, mit denen sie die Stadt
teilen, völlig ahnungslos
gegenüber. Berlin kann
sich der weltweit dichtes- Milliarden Dollar betrug laut einer
ten Population an diesen Studie der Schweizer Rückversiche-
Vögeln rühmen, und wenn rungsgesellschaft Swiss Re die Gesamt-
ich in der deutschen schadenssumme, die im Jahr 2017 durch
Hauptstadt leben würde, Naturkatastrophen weltweit verursacht
würde ich diese Tatsache wurde. Das ist nahezu doppelt so viel
voller Stolz von den Dä- wie im Vorjahr. Einen Großteil der Ver-
chern verkünden. THA wüstungen haben die Hurrikane »Har-
DARREN CRAIN
107
Wissenschaft
Raupe des Schwammspinners: Bei kräftigem Wind lassen sie sich davonwehen wie Pusteblumen
B
ald sollen Hubschrauber aufstei- en und roten Wärzchen schmücken. Wenn warm und trocken, die lichten Eichen-
gen über den Wäldern der Frän- sie Schrecken verbreiten, dann durch ihre mischwälder Frankens sagen ihm von jeher
kischen Platte. An Bord haben sie Zahl. Zu Abermillionen treten die Raupen zu. Aber wenn die Lage besonders güns-
Tanks, gefüllt mit Insektengift. mitunter auf den Plan – und sie lieben Ei- tig ist, kann die Population binnen drei,
Auf den Flugkarten der Piloten sind gut chen. Gefräßig wie der Schwammspinner vier Jahren stetig zunehmen – bis sie am
60 Zielgebiete eingetragen. ist, kann er ganze Wälder entlauben. Ende schier explodiert. Dann wimmelt es
Die Gegner haben sich konzentriert in Die Bayerische Forstverwaltung will das im Wald von hungrigen Raupen. Eine jede
der Gegend um Schweinfurt, Kitzingen, unbedingt verhindern. Deshalb ist für Mai von ihnen vertilgt einen Quadratmeter
Uffenheim. Dort sitzen sie in den Bäumen, in Franken ein großer Helikoptereinsatz Eichenlaub.
kaum zentimetergroß und bewaffnet nur geplant. Insgesamt rund 1300 Hektar sol- Zu Fuß kommen die Krabbler nicht weit,
mit Kauwerkzeugen: die haarigen Raupen len aus der Luft besprüht werden. Auf die- aber bei kräftigem Wind lassen sie sich ein-
des Schwammspinners, eines unscheinba- sen Flächen, heißt es, seien die Eichen in fach davonwehen wie Pusteblumen. Dank
ren Schmetterlings. höchster Gefahr. ihrer langen, feinen Haare schweben sie
Es sind hübsche Krabbler, in den kom- Der Schmetterling lebt über Jahr und oft über Hunderte Meter. Zudem können
menden Wochen werden sie sich mit blau- Tag weitgehend unauffällig. Er mag es sie Fäden als Hilfssegel spinnen.
109
Massenvermehrung 3. Das Nahrungsangebot 4. Raupen, die jetzt schlüpfen, ten suchen nun den Wald ab, sie spüren
schwindet, hungernde bleiben klein und kränklich. die Raupen auf bis in die letzten Winkel.
des Schwammspinners Raupen machen sich auch Viele sterben an Infektionen. So wird der Schwammspinner verhee-
über andere Bäume her. rend dezimiert – und auf Jahre hinaus
2. Auf dem Höhepunkt ver- 5. Die Menge der Raub- großflächig geschwächt.
breiten sich Millionen von parasiten (u. a. Brackwespen) Was bewirkt es da, wenn der Mensch
Raupen und fressen wächst. Die Raupen fallen frühzeitig mit Spritzmitteln eingreift?
alle erreichbaren ihnen ebenfalls zum Opfer. Macht er dadurch vielleicht sogar alles
Eichen kahl. noch schlimmer? Denn mit den gefräßigen
Raupen zerstört er ja auch die gerade an-
laufende Konjunktur ihrer Gegenspieler –
umso schneller könnte sich die überleben-
de Population der Schwammspinner wie-
der regenerieren.
Das klingt plausibel, aber mangels Da-
1. Unter günstigen Bedin- ten ist es bislang nur eine Theorie. In die-
gungen (warm, trocken) ser Lage helfen allein Experimente weiter.
steigt die Population Grundlegende Fragen wären zu klären:
binnen drei, vier Jahren Welchen Effekt hat das Spritzen? Und was
6. Die Population bricht
immer stärker an. geschieht mit den Eichen, wenn man sie
von selbst zusammen.
Die allermeisten Eichen einfach dem Kahlfraß überlässt?
treiben neu aus. Auch der Würzburger Forstökologe
Müller fordert, die klaffende Forschungs-
lücke endlich zu schließen. Es wäre keine
Hexerei. Man müsste paarweise eine Rei-
he von geeigneten Flächen bestimmen:
zu erwarten: »Beide Seiten wissen ja schon Unbestritten ist, dass die Invasionen des ökologisch jeweils vergleichbar und gleich
vorher Bescheid.« Schwammspinners früher oder später von stark befallen. Die einen behandelt man,
Die zuständige Forstbehörde warnt vor selbst zusammenbrechen. Wo die Nah- die anderen nicht.
einem regelrechten Eichensterben, sollte rung knapp wird, fallen neu geschlüpfte »Und wenn dabei herauskommt, dass
der Schwammspinner über mehrere Jahre Tiere eher klein und kränklich aus – leichte der Einsatz von Insektiziden sinnvoll ist«,
in Folge angreifen. Einmaligen Kahlfraß Beute für diverse Bakterien, Pilze und vor sagt Müller, »dann wäre ich der Letzte, der
würden die meisten Eichen noch überste- allem Viren. Die meisten Schwammspin- dagegen ist.« Es gehe aber nicht an, bei
hen. Sie treiben dann neu aus, nur ihr ner werden von Epidemien hinweggerafft. derart wackeliger Evidenz die Schmetter-
Zuwachs fällt in dem Jahr geringer aus. Den Rest erledigen Fressfeinde. Mehr linge in den Eichenmischwäldern mit frag-
Bereits geschwächte Bäume jedoch seien als 150 Arten von Raubparasiten lauern würdigen Mitteln wegzuspritzen: »Das ist
in Gefahr – zumal wenn Folgeprobleme auf die nahrhaften Raupen. Brackwespen einer der artenreichsten Lebensräume, die
wie etwa der Eichenmehltau ihnen zu- und Raupenfliegen legen ihre Eier in die wir in Deutschland noch haben.«
setzen. Leiber oder zwischen die Haare. Der Gro- Die Forstbehörde sei für solche Studien
»Wir wissen vorher nicht, wie es kommt«, ße Puppenräuber, ein Laufkäfer, kann in im Prinzip offen, sagt LWF-Experte Peter-
sagt Ralf Petercord von der Bayerischen einer einzigen Saison Hunderte Krabbler cord. Geschehen ist aber in den vergange-
Landesanstalt für Wald und Forstwirt- vertilgen. nen Jahrzehnten nichts dergleichen.
schaft (LWF). »So ein Risiko können wir So bleibt wohl vorerst alles beim Alten.
nicht eingehen.« Werde gar nicht gespritzt, Der Hubschraubereinsatz im Mai wird
seien letzten Endes die gesamten befal- »Macht der Einsatz von wieder Steuergelder kosten; hinzu kommt
lenen Eichenbestände bedroht – und da- Spritzmitteln die der Aufwand der laufenden Kontrollen:
mit auch der Lebensraum vieler seltener Förster suchen mühsam ihre Eichen ab,
Arten. Raupenplage womöglich Stamm für Stamm, und zählen die Gelege
»Das ist völlig abwegig«, widerspricht noch schlimmer?« des Schwammspinners.
der Forstökologe Jörg Müller von der Uni- Der Forstökologe Müller hätte eine bes-
versität Würzburg. Es gebe keinerlei Hin- sere Verwendung für das viele Geld, das
weise auf existenzielle Gefahren durch In normalen Zeiten halten diese Gegen- der Abwehrkampf verschlingt: »Man
Raupenfraß. »Hier geht es rein um wirt- spieler den Schwammspinner gut in könnte damit die Waldbesitzer entschädi-
schaftliche Interessen. Um die Zukunft un- Schach. Gelingt ihm alle paar Jahre eine gen«, sagt er, »falls ihnen doch mal ein
serer Eichenmischwälder mache ich mir Massenvermehrung, dann ist er seinen Ver- paar Eichen eingehen.«
überhaupt keine Sorgen.« folgern quasi nur für kurze Zeit entwischt. Als im August vorigen Jahres der Sturm
Müller wirft der LWF vor, sie wolle mit Aber das Glück durch Überzahl hält nicht »Kolle« viele Fichten im Bayerischen Wald
dem Schreckgespenst des Schwammspin- lange an: Bald schwillt – etwas zeitver- umwarf, bekamen die geschädigten Wald-
ners eine »Drohkulisse« aufbauen: »Da setzt – auch die Menge der Feinde bedroh- besitzer unbürokratisch 100 Millionen
wird ein Geschäft mit der Angst betrie- lich an. Diese profitieren von der nun über- Euro an Soforthilfe zugesprochen. »Und
ben.« reich verfügbaren Beute. das für eine Risikobaumart, bei der jeder
In der Tat geht es bei der Bekämpfung Kurz nach dem Höhepunkt seiner Ver- weiß, dass sie mit unserem Klima Proble-
nur nach der gefühlten Gefahr. Gesicherte mehrung blickt der Schmetterling also me bekommt«, sagt Müller. »Da sollten
Fakten gibt es kaum. Niemand kann sagen, schon wieder in den Abgrund: Seuchen uns auch die Eichenmischwälder mit ihrer
inwieweit der Wald Schaden nähme, wenn gehen um, die Eichen sind allesamt kahl Vielfalt an Insekten ein bisschen mehr
weniger gespritzt würde – oder auch gar gefressen und ringsum eine Übermacht Geld wert sein.« Manfred Dworschak
nicht. von Gegnern. Myriaden von Raubparasi-
22 Minuten
ner mit aller Macht an der Frau, um sie Shults zudem sehen, dass auch der linke
wieder hineinzuziehen. Als das endlich ge- Vorflügel teils zerschossen war.
lang, blutete sie stark und war bewusstlos. Die Piloten entschieden, in Philadelphia
Albtraum
Von den übrigen Passagieren weinten notzulanden. Weshalb, das begründete die
manche, andere beteten, nicht alle wuss- Kapitänin gegenüber einem Fluglotsen in
ten, welches Drama auf Sitzplatz 14A ge- bemerkenswert kaltblütiger Weise: »Teile
schehen war; aber viele glaubten, so sag- des Flugzeugs fehlen«, sagte sie per Funk
Luftfahrt Ein Knall, ein Loch im ten sie hinterher, dass sie sterben müssten. so ruhig, als spräche sie über das Wetter.
Flugzeug – und eine Frau, die Links im Cockpit saß Flugkapitänin Sie erwähnte ein »Loch« und sagte: »Je-
Tammie Jo Shults, 56, ehemals eine der mand wurde herausgeschleudert.« Dass
herausgesogen wird: Der Horror ersten Kampfpilotinnen der US-Navy. Sie dieser Satz so nicht ganz richtig war, wuss-
an Bord von Flug SWA 1380 und ihr Co-Pilot brachten die Maschine te sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
hätte verhindert werden können. rasch und kontrolliert auf eine Flughöhe Tatsächlich gelang es den Piloten, die
von rund 3000 Metern, in der Menschen schwer lädierte Maschine sicher zu landen,
wieder ohne Hilfe atmen können. 22 Minuten nach Beginn des Horrors. Sani-
111
Fundstücke aus Schaprode
Von Blauzahn im Boden versenkt?
Schrott vom
der Hortfund laut Landesamt »möglicher-
ein Jahr später piepte es heftig etwa 70 Ki- weise« in Beziehung zur Flucht des Regen-
lometer westlich in Altlandsberg. Das ten vor seinem Sohn Sven Gabelbart. Der
König
Detektorsignal deutete dort sogar auf verwickelte seinen verhassten Vater 986
7450 Gold- und Silbermünzen hin, die in eine Seeschlacht auf der Ostsee; der
zum Teil aus dem 13. Jahrhundert stam- Sohn obsiegte, der Erzeuger türmte, wo-
men. »Am laufenden Band« seien in möglich über Rügen Richtung Odermün-
Archäologie Mit der Entdeckung jüngster Zeit »großartige Funde« hochge- dung. Während der Reise könnte er, wa-
kommen, bilanziert Rainer Albert, Chef- rum auch immer, Teile seiner Kriegskasse
von Silbermünzen auf Rügen redakteur des »Numismatischen Nachrich- versteckt haben lassen, suggerieren die
wird ein Schüler zum Medien- tenblatts« mit Sitz in Speyer. Landesamt-Archäologen.
liebling. Doch es gibt Mehrere herausragende Entdeckungen Eine heikle Annahme, die viele Bericht-
aus den vergangenen Jahren werden jetzt erstatter in einem Anfall von historischem
weit spektakulärere Funde. in einer Ausstellung in der Staatlichen Leichtsinn sogleich zu einer Tatsache
Münzsammlung München präsentiert. Ge- machten. In einigen Artikeln wird unter-
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Wissenschaft
Die XXL-Bestie
Knorpel besteht. Der beinahe einzige Hin-
weis auf die XXL-Bestie sind ihre Zähne –
davon allerdings gibt es reichlich.
Einer der größten Hauer wurde vor der
Küste des US-Bundesstaats South Caroli-
Paläontologie Der Urzeitfisch Megalodon war dreimal so groß na gefunden und misst rund 19 Zentimeter.
wie der Weiße Hai: Kreuzt der gefräßigste Nur: Welche Schlüsse lassen diese fossilen
Räuber aller Zeiten noch immer durch die Tiefen der Ozeane? Belege auf die Beschaffenheit und Größe
des Gruselfischs zu?
Auf der Grundlage eines einzelnen
Zahns können die Maße Megalodons nur
114
COURTESY OF WARNER BROS. PICTURES
Szene eines Haiangriffs aus dem Thriller »The Meg«: Zähne wie Steakmesser
onen Jahre überlebt zu haben, müsste indes würde ein durchschnittlich großer Mega- auch in den Bartenwalen, die ebenfalls
eine beträchtliche Population der giganti- lodon drei Millionen Dollar einbringen«, zu gigantischer Größe heranwachsen.
schen Killerhaie in den Ozeanen leben – sagt McClain. Erst das Aussterben des Superjägers
viel zu viele für eine Geheimexistenz. Dennoch berichten Taucher immer mal habe den Aufstieg der sanften Riesensäu-
So gilt heute der Weiße Hai als bedrohte wieder von angeblichen Sichtungen des getiere zu den größten Bewohnern des
Art; pessimistische Schätzungen gehen Urzeithais. Dass er sich kaum zeige, liege Planeten ermöglicht, vermuten einige Wis-
von lediglich 3000 Exemplaren aus, die nur daran, dass er sich vor langer Zeit in senschaftler.
noch durch die Weltmeere schwimmen. jene tiefsten Tiefen des Ozeans zurück- Alle Indizien sprechen somit dafür, dass
Dennoch ist es für versierte Taucher nicht gezogen habe, in die kein Licht mehr fällt, die spektakuläre Wiederauferstehung Me-
besonders schwierig, Exemplare aufzuspü- argumentieren die Megalodon-Fans. galodons im Katastrophenfilm »The Meg«
ren. Ist es vor diesem Hintergrund tatsäch- Für die Meeresbiologen ist das kein nur unterhaltsamer Mumpitz ist. Dennoch
lich denkbar, dass ein bis zu dreimal so plausibles Szenario. Auf dem dunklen wird es vielen Zuschauern nach der Vor-
großer Artgenosse auf Beutesuche unent- Meeresgrund, so ihr Einwand, würde der stellung schwerfallen, den nächsten Bade-
deckt bliebe? Vielfraß zwar allerhand kuriosen Kreatu- urlaub in vollen Zügen zu genießen.
»Wenn es irgendwo im Ozean einen 50- ren wie dem bizarr anmutenden Barten- Frank Thadeusz
Tonnen-Hai gäbe, dann würde er auch ge- Drachenfisch begegnen, aber kaum ausrei-
fangen – und er würde auf den Tellern der chend Beute finden. Zudem bevorzugte
ganzen Welt landen«, ist Craig McClain der Urzeithai eine warme Umgebung un- Video
Ausschnitte aus
überzeugt, Direktor des Louisiana Univer- weit der Meeresoberfläche; der kalte Oze- »The Meg«
sities Marine Consortium. »Ein Pfund anboden wäre für ihn gänzlich ungeeignet. spiegel.de/sp172018megalodon
Makofleisch wird auf dem Markt derzeit Einen indirekten Hinweis für das Ab- oder in der App DER SPIEGEL
für 30 Dollar angeboten. Bei diesem Preis leben Megalodons sehen Meeresforscher
RENÉ PÄPKE
Brigitte, Jonathan Meese
Kunst Leben und Werk als eher amüsant, doch schrieben sie eben
Die Meeses
gemeinsam Kunstgeschichte. Nun würdigt der Sohn die
Zusammenarbeit mit einem filmischen Werk, in 360 Grad.
Im Berliner Martin-Gropius-Bau können Besucher mithilfe von
Virtual-Reality-Brillen ins Privatuniversum einsteigen (bis
Eine Frau weckt ihren Sohn, treibt ihn an, genug geschlafen. 29. April). Meese sagt, seine Mutter werde mittlerweile doch
So beginnt der Alltag in vielen Familien. Bei den Meeses ist das als eigene Figur der Kunst ernst genommen. Sie verstelle sich
Kunst. Schon früh setzte Jonathan Meese – Maler, Performer, dabei nie, das erleichtere auch die Arbeit mit ihr. Tatsächlich
Opernregisseur und 48 Jahre alt – die Nähe zu seiner Mutter Bri- ist Brigitte Meese vor allem eines: unerschrocken. Deshalb spielt
gitte Meese als Stilmittel ein, machte daraus seinen persönlichen sie mit in diesen Szenen, die von Würstchenträumen, Wagner
Spezialeffekt. Lange galt die Anwesenheit der Mutter in Meeses und einer besonderen Mutter-Kind-Beziehung handeln. UK
117
Kultur
119
für das Tamtam verantwortlich ma- tekt Sam Chermayeff zu einem
chen, ist durchaus jemand, der sich hybriden Raum zwischen Biblio-
über solche Dinge Gedanken thek und Küche gemacht hat, mit
macht – man könnte sogar sagen, einem ellenlangen Tisch für Essen
dass sein Zukunftshunger das Di- und Palaver.
lemma verursacht hat. Er wirkt ru- Schwarm, der lange eine eigene
hig und entspannt an diesem Nach- Beratungsagentur hatte, experi-
mittag, es ist eine Weile her, dass mentiert hier mit seinen Geschäfts-
ihm jemand ein Bier über den Kopf partnerinnen Jone Szmania und
gegossen hat als Rache für Dercon. Nina Raftopoulo, was Form und
Er sitzt im Café Barcomi’s, ei- Gestalt von Gesprächen mit Kun-
nem Zentralort des Neunzigerjah- den angeht, von BMW bis zum
re-Berlins, und spricht davon, wie kleinen Sozialverein Karuna – es
der damalige Regierende Bürger- sei ja überhaupt oft schon schwierig
meister Klaus Wowereit und er vor genug, sagt Raftopoulo, die ver-
dem Problem standen, dass an drei schiedenen Leute, die verschiede-
Berliner Theatern, der Schaubüh- nen Szenen und Milieus an einen
ne, dem Berliner Ensemble und der Tisch zu bringen.
Volksbühne, massive Verkrustungs- Auch Chris Dercon, fügt sie
»Das ist doch Eisenhändlers, war von 1992 bis 2017 Chef
der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Mumpe«
Intendant der Volksbühne, Chris Dercon,
hat seinen Job nach wenigen Monaten und
vielen Anfeindungen aufgeben müssen. Ist
das für Sie ein Grund zur Freude?
Castorf: Warum sollte ich mich freuen?
SPIEGEL-Gespräch Regisseur Frank Castorf über die Man hat sehr viele Millionen Euro ausge-
geben, um mich loszuwerden. Und mit mir
Berliner Politik, die Weltoffenheit der dieses Theater, das wir in einer einmaligen
Stadt und die Theaterarbeit an der Volksbühne Gemeinschaft 25 Jahre lang genutzt haben
für eine besondere Kunstarbeit. Die Ent-
scheidung, dem ein Ende zu machen, wur-
de auf juristisch korrekte Weise getroffen.
SPIEGEL: Deshalb haben Sie sich am Pro-
test gegen die Entscheidung nicht beteiligt?
Castorf: Mir war nur wichtig, dass ich das
Räuberrad, das der Bühnenbildner Bert
Neumann und ich für unsere Arbeit vor
der Volksbühne aufgestellt hatten, in
Sicherheit bringen konnte. Es steht seit
letztem Sommer in Avignon. Das Rad war
ein Symbol ohne Inhalt, von dem wir im-
mer sagten, dass erst wir es mit Bedeutung
füllen müssen. Ein hässlicher Schrotthau-
fen. Deshalb stand es gut für das Theater.
SPIEGEL: Seit im April 2015 bekannt ge-
geben wurde, dass Chris Dercon Ihr Nach-
folger als Intendant werden sollte, haben
Sie sich geweigert, mit ihm und über ihn
zu sprechen. Warum?
Castorf: Ich habe mich nicht geweigert. Ich
hatte keine Lust, und ich hatte nichts zu sa-
gen. Wir leben in einer quatschenden Ge-
sellschaft. Jeder hat eine Meinung zu ver-
kaufen. Und wenn er sie gut verkauft, ist
er ein guter Demokrat? Dann bin ich keiner.
Man hat unser Theater politisch zerschla-
gen. Das war das Resultat der Feindselig-
keit, mit der uns ein Teil Berlins begegnet
ist. West-Berlin hat unser Theater gehasst.
SPIEGEL: Ist das nicht schwer übertrieben
angesichts der Preise und Lobreden, mit
denen Sie in 25 Jahren Volksbühne bedacht
wurden, auch aus dem Westen Berlins?
Castorf: Als wir anfingen, hat der West-
Berliner Theaterleiter Boleslaw Barlog ge-
sagt: »Für das deutsche Theater ist Frank
Castorf das Schlimmste, was ihm seit
Adolf Hitler widerfahren ist.« Ich fand die-
se Art von Bösartigkeit immer okay, und
sie ist nie verschwunden. Dass Christoph
Schlingensief in der Volksbühne auf ein
Transparent »Tötet Helmut Kohl« schrieb,
hat den Hass weiter geschürt. Jetzt sind
sie mich in der Volksbühne los, und der
Springer-Verlag hält dort die Verleihung
des »B.Z.«-Kulturpreises ab, der in West-
Berlin berühmte Professor Peter Raue mit
SLAVICA / DER SPIEGEL
121
Kultur
es das nicht gegeben. Aber jetzt gehört bejubelten »Faust«, für seinen Spielplan
ihnen ja das Theater. Es ist nur schade, überlassen hätten?
dass man das Haus nicht 365 Tage mit Castorf: Nee, nee. Er kam nach Berlin und
der Verleihung von Springer-Preisen be- hat gesagt: Ich mache alles völlig neu. Also
spielen kann. habe ich gesagt: Mach es! Alles andere
SPIEGEL: Könnte es nicht sein, dass der aus wäre ja so gewesen, als würde ich einem
dem Westen Berlins stammende Regieren- Schwerversehrten über die Straße helfen.
de Bürgermeister Michael Müller gemein- SPIEGEL: Klingt das jetzt nicht so, als hät-
sam mit seinem damaligen Kulturstaats- ten Sie Dercon doch als Feind empfunden?
sekretär, Tim Renner, Ihre Ablösung durch Castorf: Da antworte ich frei nach Carl
Chris Dercon nur deshalb beschlossen hat, Schmitt: Subjektiv empfinde ich über-
weil er fand, 25 Jahre Volksbühne mit Frank haupt keine Feindschaft, objektiv ist es ein
Castorf auf dem Chefsessel seien genug? unfreundlicher Akt, der von mir genau so
Castorf: Müller hatte nie was von uns ge- behandelt wird.
Belletristik Sachbuch
Die Masche
deutsche Hip-Hop-Alben, inzwischen
über 200 000-mal, also stand es auf der
Liste. Doch es war auch eine Fachjury, die
entschieden hat, dass »JBG 3« am Ende
den Preis gewann – trotz der den Holo-
Rap Der Jurastudent Felix Blume aus Hessen tritt als Kollegah auf und caust verharmlosenden Zeile.
rappt Zeilen, die aus dem Fundus der Antisemiten stammen. Schon im Vorfeld der Verleihung hatte
die Zeile Fragen aufgeworfen: Müsste man
Sein Erfolg ist bedenklich, dass er den Echo bekam, ein Skandal. Kollegah und Farid Bang nicht die Nomi-
nierung entziehen? Müsste man nicht ih-
ren Auftritt beim Echo, der auf den Holo-
caust-Gedenktag in Israel fiel, absagen?
Die Echo-Verantwortlichen entschieden
sich gegen beides. Nach dem Echo gaben
daraufhin einige Künstler ihre Preise zu-
rück, Marius Müller-Westernhagen etwa,
der alle seine Echos nicht mehr haben woll-
te, oder der Pianist Igor Levit (siehe Inter-
view). Und mit alldem kam noch eine
andere Frage wieder auf, mit der in den
vergangenen Jahren schon viele journalis-
tische Texte überschrieben waren – in der
Art: Hat der deutsche Hip-Hop ein Anti-
semitismusproblem?
Spricht man über ein Auto, sollte man
erst klären, ob es sich um einen SUV mit
dickem Auspuff oder ein Elektroauto mit
Ladekabel handelt. Deutscher Hip-Hop je-
denfalls ist inzwischen, lange nach seinen
ersten Erfolgen in den Neunzigerjahren,
zu einem vielseitigen System gewachsen.
Das zeigt sich zum Beispiel am Umgang
mit Genderfragen: Es gibt zwar einen
männlich bestimmten sexistischen Zweig,
aber auch Rapperinnen wie das Duo
SXTN, die eigentlich herabwürdigende
Ausdrücke wie »Fotze« rückerobern und
umdeuten. Es gibt im deutschen Hip-Hop
jüdische Rapper wie Spongebozz, der
ebenfalls für den Echo nominiert war, und
es gibt Anti-Antisemitismus-Hymnen wie
»Beate Zschäpe hört U2« der Politrapper
FRANK HOENSCH / REDFERNS / GETTY IMAGES
Antilopen Gang.
Grenzüberschreitungen sind in einigen
Zweigen des Hip-Hops, etwa dem Gangs-
ta-Rap, der Ende der Achtzigerjahre unter
anderem von der US-Gruppe N.W.A
(»Fuck tha Police«) ins Leben gerufen wur-
de, auch in der deutschen Spielart wichtige
Elemente dieser Form. Gangsta-Rap speist
sich vorwiegend aus einem Protest der
Marginalisierten oder jener, die sich als
Hip-Hopper Kollegah: Rappt auch vom »Hurensohn-Holocaust« solche empfinden, gegen bürgerliche Nor-
men. Er feiert gern mal das, was verpönt
ist oder verboten. Hier zählt Provokation;
Musik Der Pianist Igor Levit über die Gründe, die ihn SPIEGEL: Was hätte der Beirat aus Ihrer
Sicht leisten müssen?
zur Rückgabe seines Echo Klassik bewegten Levit: So ein Beirat muss auch die Größe
besitzen zu sagen: Ja, wir sind ein kommer-
»Diese Worte sind Gift« zieller Verein, aber wir sind auch verant-
wortlich für gesellschaftliches Klima. Wenn
die Echo-Verantwortlichen das nicht sind,
dann sollen sie es sagen. Dann sollen sie
Nach dem Echo für die Rapper Kollegah und SPIEGEL: Sie haben auf Twitter geschrie- sich aber auch nicht das Label »Kultur« auf
Farid Bang gab eine Reihe von Musikern aus ben, die Vergabe des Echo an Kollegah die Stirn kleben. Interview: Jurek Skrobala
Protest gegen die Entscheidung ihre Echos und Farid Bang sei auch ein »Ausdruck
zurück. Darunter der deutsch-russische Pia- für den derzeitigen Zustand unserer Ge-
nist Igor Levit, 31, der 2014 mit dem Echo sellschaft«. In welchem Zustand befindet
Klassik ausgezeichnet worden war. sich die Gesellschaft denn?
GREGOR HOHENBERG / SONY CLASSICAL
125
Kultur
NETFLIX
NETFLIX
Darsteller Chrissy Metz, Justin Hartley, Sterling K. Brown als Seriengeschwister Kate, Kevin, Randall: Chaos der Gedanken und Gefühle
und Junkie, vor eine Feuerwehrwache ge- von der in jeder Folge erzählt wird; er ist miteinander klarkommen, im besten Fall
legt. Jack verdient das Geld, Rebecca küm- unsterblich, weil er immer weiterlebt in sogar sich lieben. Sie ist der Gegenentwurf
mert sich um die Kinder, ein Haus wird den Köpfen derer, die um ihn trauern. Fo- zu einer zynischen Welt, die das Böse be-
gekauft und ein großes Auto, manchmal gelmans Erzählprinzip sind Collagen aus schwört und das Trennende.
streiten sie sich, und die Kinder, na ja, sie Vergangenheit und Gegenwart, wie ein ge- Am Ende des Tages im Freibad, damals
werden älter und auch nicht einfacher, bis filmter Gedankenfluss, dessen einzelne im Jahr 1988, sind immerhin einige Dinge
schließlich Jack, der Übervater, an den Fol- Gedanken sich unendlich wiederholen wie geklärt. Kate hat sich ein T-Shirt ihrer Va-
gen einer Rauchvergiftung stirbt, nachdem die kleinen Filme, die unser Gedächtnis ters übergezogen, das, so sagt es Jack, ma-
ein defekter Elektrokocher das Haus der plötzlich abspult, morgens beim Kaffee gische Kräfte besitze und sie zur schönsten
Pearsons in Flammen aufgehen ließ. oder beim Joggen oder abends in den aller Prinzessinnen mache. Eine schwarze
Erzählt wird die Geschichte aus der Minuten, bevor der Schlaf uns ausschaltet. Mutter, mit deren Söhnen Randall sich be-
Gegenwart der erwachsenen Kinder. Kates Erinnerungen aus dem Gestern, Erlebnisse freundet, erklärt Rebecca, dass schwarze
Kampf gegen sich selbst und ihren Körper im Heute, Hoffnungen für das Morgen er- Haut vor allem Feuchtigkeitscreme brau-
ist der Inhalt ihres Daseins, ihr Kühl- schaffen eine innere Welt und Wahrheit, che. Randalls Strichliste über die Schwar-
schrank voll mit Dosen und Bechern, auf unlogisch und zufällig, ein Chaos der Ge- zen, die er trifft, erweist sich als Versuch
die sie kleine Post-its geklebt hat und die danken und Gefühle, die manchmal aus eines mathematisch begabten Kindes, seine
sie warnen sollen, die schönen Dinge zu alltäglichen Sorgen große Katastrophen Sehnsucht nach dem echten, biologischen
essen und zu trinken. Kevin, Kates Zwil- werden lassen. This is us. Das sind wir. Vater wenigstens statistisch zu stillen. Und
lingsbruder, ist inzwischen Schauspieler in Natürlich hat die Idee, das Seelenleben sogar Kevin liegt schließlich schlafend in
Hollywood, Star einer depperten Sitcom, einer Mittelschichtfamilie zu erzählen und den Armen des Vaters und seiner Geschwis-
aus dem Jungen mit dem Aufmerksam- daraus eine Art Marathon-Therapiesitzung ter, während die Mutter ihr Buch zu Ende
keitsdefizit ist ein ausgewachsener Nar- zu machen, etwas Kitschiges und vielleicht liest. Everything is gonna be okay. Heute
zisst geworden, der keine Sätze ohne ich sogar auch etwas Reaktionäres, weil man jedenfalls. Morgen vielleicht auch.
kennt. Randall handelt in New York mit sich als Zuschauer mit gerührter Befriedi-
127
Als sie und ihr Schwiegersohn Franz Böhm 1937 bei
Hans Magnus Enzensberger
einer privaten Einladung die Politik der NSDAP kritisier-
ten, wurden sie denunziert und angeklagt. Eine Amnestie,
Überlebens- die das Regime erließ, lehnten beide ab. Böhm, ein Pro-
fessor an der Universität Freiburg, wurde entlassen; Ricar-
da Huch blieb verschont. Goebbels und Hitler sandten ihr
künstler
sogar Glückwunschtelegramme zum 80. Geburtstag.
Der erste Band ihrer »Deutschen Geschichte«, der 1934
erschienen war, wurde in der Presse heftig angegriffen;
der zweite bekam es mit der Zensur zu tun; und der letzte
wurde nicht mehr gedruckt und erst nach ihrem Tod in
Vorabdruck Wie viele geistige Kompromisse waren Zürich veröffentlicht. In Ricarda Huchs Jenaer Wohnung
nötig, um als Schriftsteller im 20. Jahrhundert trafen sich Leute aus Kreisen des Widerstandes, die später
am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt oder mit den
zu überleben? Einige subjektive Porträts Verschwörern verwandt waren. Franz Böhm entkam nur
von Glückssuchern, Taumelnden und Helden. wegen einer Namensverwechslung der Verhaftung.
Ohne solche Glückssträhnen hätten sie beide schwerlich
überlebt.
Nach dem Krieg bemühte man sich auf beiden Seiten
Ricarda Huch (1864 bis 1947) des geteilten Landes um die Gunst der inzwischen 83-
Niemand kann alles lesen, was sie geschrieben hat: Ge- jährigen Autorin. In Jena verlieh man ihr einen Ehren-
dichte, Novellen, Märchen, Werke über die Blütezeit der doktor, und auf dem ersten und letzten gesamtdeutschen
Romantik, den Dreißigjährigen Krieg, die gescheiterte Re- Schriftstellerkongreß in Berlin wurde sie zur Ehrenpräsi-
volution von 1848, das italienische Risorgimento und so- dentin gewählt.
gar einen Kriminalroman. Ricarda Huch ist »schwer ein- In der sowjetischen Zone hat sie es nicht lange ausge-
zuordnen«, lamentieren ihre Kritiker. Auch mir ist zu- halten. Sie fuhr in einem ungeheizten britischen Militär-
nächst nur ein kleiner Suhrkamp-Band in die Hände zug nach Frankfurt am Main, wo Franz Böhm hessischer
gefallen. Ich glaube, er war gelb und hieß »Mi- Kultusminister geworden war. Der Anstrengung dieser
chael Bakunin und die Anarchie«. Dieses Buch Reise waren ihre Lungen nicht gewachsen. Kurz darauf ist
hat mich sofort für sie eingenommen, ebenso sie an einer Pneumonie gestorben.
wie ihre Brieferzählung über einen russi- Für die Liebe war diese starke Frau anfälliger als für
schen Terroristen im Jahr 1905. die Politik. Mit 16 Jahren verliebte sie sich in ihren viel
Auf alten Photos wirkt sie imposant, älteren Schwager Richard. Das führte in ihrer Geburtsstadt
mit kalten, eulenhaften Augen und einem Braunschweig zu ihrem ersten, aber durchaus nicht letzten
blühenden, sinnlichen Mund. Aber war Skandal. Dann heiratete sie einen italienischen Zahnarzt
sie nun links, oder war sie rechts? Kann und zog zu ihm nach Triest, nur um 1907 zu ihrem Jugend-
man ihr antikapitalistische oder gar anti- schwarm zurückzukehren und ihn endlich zu heiraten. Sie
moderne Affekte nachweisen? Darüber ha- ließ sich von beiden Männern scheiden. Sie zog es vor, sich
ben sich die Nachgeborenen, diese ewigen über ihre leidenschaftlichen Turbulenzen auszuschweigen.
Besserwisser, den Kopf zerbrochen. Doch
sich durch den ideologischen Dschungel der
Weimarer Republik zu wühlen, das interessierte Curzio Malaparte (1898 bis 1957)
sie nicht. Nicht einmal in der feministischen Bewe- Er hat sich wohl als negatives Abziehbild des Korsen
gung wollte sie mitspielen, obschon sie sich als Frau sehr Bonaparte verstanden, aber tatsächlich hieß er Kurt Erich
wohl durchzusetzen verstand. Als das in Deutschland Suckert, und sein Vater kam aus dem sächsischen Zittau,
noch undenkbar war, wurde sie mit 28 Jahren in Zürich die Mutter war allerdings aus Mailand. Man kann nicht
als eine der ersten Frauen promoviert und beschloß, in sagen, daß er ein Wendehals war, denn auch das kräftigste
Zukunft von der Schriftstellerei zu leben. Rückgrat hätte seine Verwandlungen nicht bruchlos über-
Im Panoptikum der Überlebenden steht sie als bravou- standen.
röse Ausnahmeerscheinung da. Sie hat vielen zu schaffen Mit Grundsätzen oder Überzeugungen durfte man die-
gemacht, sogar den Nationalsozialisten. Die wußten nicht, sem Mann nicht kommen. Curzio Malaparte war abwech-
was sie mit ihr anfangen sollten. Sie war ihnen zwar lästig, selnd Anarchist, Dichter, Kriegsfreiwilliger, Diplomat,
aber sie zu beseitigen war nicht ratsam, obwohl sie 1933 Avantgardist, Reporter, Chefredakteur der Zeitung »La
sofort gegen »die Zentralisierung, den Zwang, die bruta- Stampa«, Faschist, Aufhetzer von Schlägertruppen,
len Methoden, die Diffamierung Andersdenkender und Tierfreund, Monarchist, Dandy, Volkstümler, Pazifist,
das prahlerische Selbstlob« der Regierung protestierte amerikanischer Spion, Bestsellerautor, Mythomane, Kom-
und aus der Preußischen Akademie der Künste austrat. munist, Antikommunist und Verehrer Mao Zedongs.
Dennoch wollte sie auf keinen Fall emigrieren, sondern Kurz vor Toresschluß ist er in den Schoß der Kirche heim-
in Deutschland ausharren. Weil sie damals schon eine gekehrt.
europäische Berühmtheit war und als Grande Dame der Schon als junger Mann war Malaparte ein geübter Lüg-
SZ PHOTO / ULLSTEIN BILD
deutschen Literatur galt, ließ der NS-Staat sie nicht nur in ner. Fiktion und Fakten wollte und konnte er nicht von-
Ruhe; er bemühte sich sogar um sie. Ohne absurde Wider- einander unterscheiden. Als Virtuose der Mimikry hat er
sprüche konnte es dabei nicht abgehen. seine Autobiographie des öfteren umgeschrieben.
Er war ein begabter, aber kränklicher Junge, der es an-
Hans Magnus Enzensberger: »Überlebenskünstler – 99 literarische fangs schwer hatte. Wonach hätte er haschen sollen, wenn
Vignetten aus dem 20. Jahrhundert«. Suhrkamp; 366 Seiten; 24 Euro. nicht nach Effekten? Sein erstes Buch mußte er 1921 auf
begeistert; sie übernahmen sogar ein eigenes Wort für sei- Kommunismus beeindruckt und heiratete Voglers Tochter
nen Stil; sie nannten ihn tremendismo; das ist spanisch Marie Luise, genannt Mieke. Die beiden zogen nach Ber-
und bedeutet sinngemäß etwas, wovor man zittert. In den lin. Dort wohnten sie am Laubenheimer Platz im »Roten
vierziger Jahren wurde es zur Markenbezeichnung für ein Block«, der so hieß, weil dort viele linke Künstler haus-
bestimmtes Genre des Sensationsromans, dessen bekann- ten. Regler wurde Mitglied in der KPD.
tester Vertreter Camilo José Cela war. Malaparte wurde Nach dem Reichstagsbrand 1933 mußte er vor der
reich genug, um sich eine großzügige Residenz auf Capri Gestapo über das Saarland nach Paris fliehen. In Münzen-
bauen zu lassen, die er wenig überraschend »Villa Ma- bergs Stab arbeitete er mit am Braunbuch über Reichs-
laparte« nannte. Im Lauf der Zeit gingen in die- tagsbrand und Hitler-Terror. Im Kampf um das Saarland
sem architektonisch hervorragenden Gebäude war er als Agitator dabei und flüchtete nach der Abstim-
nicht nur Gäste wie Cocteau und Moravia, mungsniederlage noch in der ersten Nacht über die fran-
sondern auch der Generalfeldmarschall zösische Grenze. Schon im November wurde er als Staats-
Rommel und Togliatti, der Chef der Kom- feind Nr. 19 ausgebürgert.
munistischen Partei, ein und aus. Godard Es folgten mehrere Besuche in der Sowjetunion. Klaus
hat dort mit Brigitte Bardot einen Film ge- Mann beschrieb ihn in seiner Autobiographie »Am Wen-
dreht, und Karl Lagerfeld konnte es nicht depunkt« als »derartig kommunistisch, daß einem vor so
lassen, einen teuren Bildband mit seinen viel militantem Glaubenseifer etwas ängstlich zumute
Photos von diesem Haus zu publizieren. wird«: Er reiste zweimal nach Moskau, wo er Maxim Gor-
Malaparte wollte sein Anwesen, weil er ki und Ilja Erenburg traf, und führte im August 1936 beim
ein paar Wochen lang Mao bewunderte, der ersten Schauprozeß gegen Grigorij Sinowjew und Genos-
Volksrepublik China hinterlassen, aber seine sen das Protokoll.
Erben wußten diese Laune zu verhindern. Sie Dann löste er sich allmählich von der Partei und brach
strengten einen Prozeß an, den sie gewannen. nach dem Hitler-Stalin-Pakt ganz mit dem Kommunis-
129
Kultur
mus. Er fragte sich und andere, warum sie den Terror in Bei der Auswahl seiner eigenen Todesart nützte Ossip
der Sowjetunion mit Schweigen übergangen hätten, und Mandelstam »eine bemerkenswerte Eigenschaft unserer
antwortete: »Es war bequemer, zu übersehen. Wir waren Führer: ihre grenzenlose Hochachtung der Dichtung
bestochen von Wünschen.« gegenüber. ›Worüber beklagst du dich‹, sagte er, ›nur bei
Ein paar Jahre zuvor hatte er sich noch im Spanischen uns achtet man die Dichtung – für sie werden Menschen
Bürgerkrieg als politischer Kommissar bei den Internatio- umgebracht. Das gibt es sonst nirgends.‹«
nalen Brigaden engagiert und war an der Front schwer Geboren in Saratow in einer jüdischen Familie aus
verwundet worden. Alle rühmten seinen Mut, auch Jo- dem Bürgertum, hat Nadeschda 1919 Ossip kennenge-
hannes R. Becher, dem später sein Lob lernt und dann geheiratet. Eine ménage à trois war in der
für den Renegaten peinlich war. Aus Reg- frühen Sowjetepoche nichts Außergewöhnliches. So
Regler hat unter den lers Tagebuchaufzeichnungen ist »The ein Arrangement galt in manchen Kreisen als schick und
politischen An- Great Crusade« hervorgegangen, eine progressiv. Eine Dreierbeziehung mit Anna Achmatowa
Chronik des Bürgerkrieges, die 1940 auf schien anfangs auch nach Nadeschdas Geschmack zu
griffen, die bis zur englisch mit einem Vorwort seines Freun- sein. Sie nannte ihren Mann scherzhaft einen »Mor-
Verleumdung des Ernest Hemingway erschien. Als der monen«. Über diese Verwicklungen hat sie sich später im
Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde er in Rückblick geäußert, in ihren »Erinnerungen an Anna
gingen, sehr gelitten. dem französischen Lager Le Vernet inter- Achmatowa«.
niert, doch freigelassen, weil Eleanor Doch konnte es auch geschehen, daß die erotische
Roosevelt und Hemingway für ihn bürg- Situation außer Kontrolle geriet.
ten. Er konnte mit seiner Frau nach Mexiko emigrieren. Ein Idyll war diese Ehe nie. Mandelstam war von
Seine früheren Genossen und Freunde, darunter Egon Er- Anfang an ein eifersüchtiger Patriarch, der ihr keine eigene
win Kisch und Ernst Bloch, wollten nichts mehr von ihm Arbeit erlaubte und verlangte, daß sie völlig in seinem Le-
wissen. Unter den politischen Angriffen, die bis zur Ver- ben aufging. Sie hingegen wollte unabhängig sein und sich
leumdung gingen, hat er sehr gelitten. niemandem unterordnen. Besonders sanftmütig, geduldig
Seine Frau Mieke starb 1945 an Krebs. Seinem Heim- oder treu war sie nicht, und streiten konnte sie so gut wie
kehrerroman »Sterne der Dämmerung« merkt man an, ihr Mann. Sie fragte ihn: »Wozu brauchst du mich? Wa-
daß er nahe daran war, zu resignieren. Nachkriegs- rum hältst du mich zurück? Wieso soll ich so leben
deutschland hat er 1949 zum ersten Mal be- wie in einem Käfig? Laß mich gehen!« 1925 stell-
sucht. Er reiste viel und sprach regelmäßig im ten die Ärzte bei ihr ein Anfangsstadium der
Rundfunk. Tuberkulose fest, und Ossip erlitt einen
Er starb auf einer Indienreise in Neu- Herzanfall. Seine Briefe handeln vom zer-
Delhi im katholischen Krankenhaus »Hei- mürbenden Kampf um Geld, sind aber
lige Familie« an einem Hirnschlag. Seine auch Liebeserklärungen. Weil Russen be-
Asche liegt in seinem Geburtsort Merzig kanntlich mehr Namen haben als andere
an der Saar. Menschen, nannte er sie Nadja, Nadka,
Nadinka, Nadjuschka, Naditschka und so
weiter.
Nadeschda Mandelstam (1899 bis 1980) Bald waren sie beide gesundheitlich ange-
Muß jemand, der uns etwas zu sagen hat, schlagen. Weil er ein Gedicht über Stalin ge-
unbedingt ein Hauptwerk geschrieben schrieben hatte, in dem er ihn als Mörder und
haben? Reicht es nicht, das zwanzigste zum Bauernschlächter bezeichnet, wurde Ossip 1934
»Jahrhundert der Wölfe« zu erklären? Nadesch- verhaftet und nach Woronesch verbannt, vier Jah-
da Mandelstam hat das getan und begründet. Diese re später von neuem festgenommen und zu fünf Jahren
Autorin ist nicht nur die Witwe Ossip Mandelstams, des- Lager »wegen konterrevolutionärer Aktivitäten« verurteilt.
sen Werk sie gerettet hat, also gewissermaßen seine In einem Straf- und Arbeitslager im Fernen Osten der So-
Stellvertreterin, sondern sie hat auch eine Autobiogra- wjetunion auf Hungerrationen gesetzt, herzkrank und von
phie zu Protokoll gegeben. Das ist ein Buch, aus dem Halluzinationen geplagt, starb er in einer Krankenbaracke
man über die sowjetische Geschichte ganz andere Dinge und liegt an einem unbekannten Ort begraben.
erfährt als aus der wissenschaftlichen Geschichtsschrei- Nadeschda brachte die Kriegsjahre mit ihrer Freundin
bung. Mit der Chronologie hatte diese Frau nichts im Anna Achmatowa in Taschkent zu. Wir sind »bloß Späne,
Sinn. Sie verwirrt den Leser, weil sie private, um nicht uns reißt der ungestüme, ja rasende Strom der Geschichte
zu sagen intime Erfahrungen mit derselben Genauigkeit mit sich fort«, das ist ihr Resümee. »Willkür hat unser gan-
schildert wie die großen und blutigen Ereignisse im zes Leben geprägt ... Ich habe fast dreißig Jahre mit zu-
Kreml, die Verfolgungen, die Straflager und den Apparat sammengebissenen Zähnen gelebt.«
der Geheimpolizei. Ende der fünfziger Jahre begann sie, ihre Memoiren zu
Wie mit der Handkamera richtet sie ihren Blick auf die schreiben, die im Ausland viel Aufsehen erregten. Sie er-
Suche nach einer Maratze oder nach einem Stück Papier, schienen Anfang der siebziger Jahre, auf deutsch unter
auf einen Eimer, ein Bett, einen Petroleumkocher; dann dem Titel »Das Jahrhundert der Wölfe« und auf englisch,
fällt ihr ein Karamellbonbon ein, den ihr plötzlich wäh- mit einem Wortspiel, als »Hope Against Hope«, weil Na-
ARCHIVE PHOTOS / AKG-IMAGES
rend einer Hausdurchsuchung ein Tschekist angeboten deschda im Russischen »Hoffnung« bedeutet. In Rußland
hat. »Zeugen dieser Epoche sind Manuskripte, die sie heil fanden sie als Samisdat hingegen nur wenige Leser.
überstanden haben. Wir müssen das als Wunder aner- Ein zweiter Band ist mit einer ebenso symbolischen,
kennen«, sagt sie. Mehr als jede andere hat sie zu diesem doch weniger zuversichtlichen Überschrift versehen. Er
Wunder beigetragen, schon weil sie die Gedichte ihres heißt »Hope Abandoned«, so als ließe Nadeschda Man-
Mannes auswendig lernte, um sie vor den »Organen« in delstam alle Hoffnung auf Rußland fahren. Sie starb 1980
Sicherheit zu bringen. mit 81 Jahren in Moskau.
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Nachrufe
Barbara Bush, 92 zugab. Nur einmal rutschte
Sie war ein waschechter es ihr raus: Wenn man so
Yankee: schlicht, handfest, lange verheiratet sei, sagte
direkt. Und doch auf ihre sie, »dann musst du Einfluss
Art charmant. 1999 ergab haben. Wenn du keinen
eine Umfrage, dass 63 Pro- hast, dann hast du wohl ein
zent der Amerikaner die ernsthaftes Problem«.
Patriarchin der texanischen Barbara Bush entschied
Bush-Dynastie mochten, gegen Ende, ihre Medika-
also offenbar auch viele mente abzusetzen. Sie starb
Demokraten. Dabei kämpf- am 17. April in ihrem Haus
te die Frau des 41. US-Präsi- in Houston, Texas. CH
denten (George Bush) und
Mutter des 43. Präsidenten Vittorio Taviani, 88
(George W. Bush) bedin- Zusammen mit seinem jün-
gungslos für die Politik geren Bruder Paolo schuf
ihrer Männer. Sie würde der Regisseur einige der
alles für sie tun, sagte sie stärksten Filme des italieni-
einmal, nur nicht ihre »Haa- schen Kinos: »Padre Padro-
re färben, andere Kleider ne« (1977), »Die Nacht von
anziehen oder abnehmen«. San Lorenzo« (1982) und
AFP
Den Irakkrieg ihres Sohnes
George W. verteidigte sie
Miloš Forman, 86 mit den Worten: »Warum
Die Helden seiner Filme sind Provokateure, oft renitent, sollte man etwas über Lei-
manchmal rebellisch. Das System, gegen das sie aufbegehr- chensäcke und Tote erfah-
ten, kann eine psychiatrische Anstalt sein wie in »Einer ren wollen? Warum sollte
flog über das Kuckucksnest« (1975), die Wiener Gesell- ich meine ansonsten schö-
schaft des 18. Jahrhunderts in »Amadeus« (1984) oder das nen Gedanken an so etwas
prüde Amerika in »Larry Flynt« (1996). Regeln waren für verschwenden?« Um die
Stille im Palast nicht mehr miterleben wird, da Meghan Markle, die zukünftige
Ehefrau Prinz Harrys, ein besonders gutes Verhältnis zu ihm
hatte. Als Prinz Harry die Verlobung verkündete, sagte er in
G Willow, 14, starb am vergangenen Sonntag, und mit ihm einem Fernsehinterview: »Ich wurde die letzten 33 Jahren nur
geht eine Ära zu Ende. Seit ihrem 18. Geburtstag, also seit 74 angebellt. Sie kommt in den Raum – und nichts passiert.« Dass
Jahren, wird Queen Elizabeth, 92, von Corgis begleitet. Die Willow nun gar nicht mehr bellen wird, löst im traditionell tier-
braunen wallisischen Hunde sind klein und treu, anhand ihrer lieben England große Trauer aus. XVC
ihren Roman »Der Report der genaue Beschreibung der nicht, dass ihr jetzt alle nach
Magd«, der zwar schon Weltlage galt. Wenn nächste Kanada abhaut, denn ich will,
damals Anerkennung fand, Woche die zweite Staffel von dass ihr hier bleibt und wäh-
vergangenes Jahr aber gerade- »Handmaid’s Tale«, so der len geht.« XVC
LINA MITTELSTÄDT
finanziellem Fehlverhalten Trotz des anhaltenden Skan-
im sozialen Umfeld dals sagt sie über
der Akademie. Die die Schwedische
Schriftstellerin Lotta Akademie: »Die
Lotass, 54 (»Dritte Arbeit, die gemacht
Fluggeschwindig- wird, ist extrem Die Augenzeugin
keit«), beantragte wichtig, und ich hof-
DICK CLAÉSSON
am Donnerstag offi-
ziell ihren Austritt
aus der Akademie.
fe, dass die Mitglie-
der in Ruhe arbei-
ten können«. XVC
»Jeder macht Zuhälter
und Assi«
Deutschlandweit feiern Schüler zurzeit mit Motto-
die Welt geschickt, und es
Nicht von war wieder einer ihrer genial- wochen das Ende ihrer Schulzeit. Lina Mittelstädt, 18,
erzählt, was sie als Abiturientin am Goethe-Gymna-
dieser Wüste größenwahnsinnigen Moves,
den Auftritt »Beychella« zu sium in Berlin-Wilmersdorf erlebte.
G Beyoncé Knowles, 36, ist nennen und das ganze Festi-
die unangefochtene Königin val unter die eigene Marke G »In der Mottowoche verkleiden sich Abiturienten täglich
der Welt. Na gut, so etwas zu stellen. Wo Queen B nach einem anderen Thema. Es sind ja die letzten Tage unse-
gibt es nicht, aber zumindest erscheint, gibt es nur Queen rer Schulzeit, da dürfen wir endlich machen, was wir wollen.
der popkulturellen Welt. B. Ihre Performance war his- In den Jahren davor haben wir gesehen, wie die Großen mit
Queen B, wie sie genannt torisch, weil sie die erste anzüglichen Klamotten durch die Schule gelaufen sind, in
wird, gibt keine Interviews, schwarze Künstlerin ist, die knappen Röcken und Lederoutfits. In unserem Jahrgang
spricht nicht, twittert nicht. das Festival als Hauptakt ein- haben wir dann einfach abgestimmt, jeder konnte ein Motto
So schafft sie es, erratisch, geladen hat. Um das zu vorschlagen. »Nutten und Zuhälter« kam sehr oft, »Assi«
weitgehend unbefleckt von feiern, lobte sie Stipendien war auch sehr beliebt. Von Freunden habe ich gehört, dass es
irdischen Belanglosigkeiten, für Universitäten aus, an an ihren Schulen ähnlich ist – eigentlich überall. Jeder macht
die Welt auf sich auszurich- denen traditionell viele Afro- halt Zuhälter und Assi.
ten. Zuletzt konnte man das amerikaner studieren. Wer Ein, zwei Mädels haben es etwas übertrieben und wirklich
bei ihrem Auftritt beim all das verpasst hat, kann das sehr kurze Kleidchen und anzügliche Strapse angezogen.
Coachella-Festival sehen, nachholen, das Festival fin- Aber bei den meisten war es nicht dramatisch. Ich hatte eine
einem der berühmtesten Fes- det eine Woche später noch schwarze Leggins mit einem schwarzen bauchfreien Top an,
tivals der USA, in der kalifor- einmal statt. Auch an diesem andere Mädchen trugen kurze, enge Kleider oder Röcke. Die
nischen Wüste. Per Live- Samstag gibt es »Beychella« Jungs waren eigentlich alle in Schwarz gekleidet, dazu Son-
stream wurde vergangenen zu sehen. In ihrem Reich ist nenbrillen – eben so, wie man sich einen Zuhälter vorstellt.
Samstag Beyoncés Show in vieles möglich. XVC Manche Lehrer fanden das witzig. Andere haben uns
darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns mit solchen Kos-
tümen über andere lustig machen, zum Beispiel über Sex-
arbeiter. Das war natürlich nicht unsere Absicht. Uns hat es
einfach Spaß gemacht. Ich meine, man sollte das nicht über-
dramatisieren. Viele Abiturienten denken nicht darüber nach,
dass man sich mit Themen wie »Assi-Tag« eigentlich über
Hartz-IV-Bezieher oder bildungsfernere Schichten stellt.
Ansonsten hatten wir noch »Länderklischees« als Motto.
An diesem Tag sind viele Mädchen im Dirndl gekommen.
Andere haben sich als asiatische Manga-Figur verkleidet.
Beim »20. Jahrhundert« bin ich als Hippie gekommen, auf
SILVERHUB / ACTION PRESS
dem Foto oben posiert ein Schulfreund als Sozialist aus den
Zwanzigerjahren. Und am »Tag der Lehrer« haben sich alle
einen Lehrer unserer Schule gesucht und sich wie er oder sie
gekleidet. Also mit einem Kissen unter dem Pullover oder
dicker Hornbrille. Das war ziemlich cool, das fanden auch
unsere Lehrer.« Aufgezeichnet von Vivien Krüger
135
»Kompliment zur Titelgeschichte. Ohne die üblichen Gräben
auszuheben, ist es endlich einmal gelungen,
das Thema Migration unaufgeregt aufzugreifen.«
Markus Michalak, Dülmen (NRW)
Ja, das ist mein Land Meine Eltern wurden während und kurz werden, wenn durch Wahlen wirkliche ge-
nach Ende des Zweiten Weltkriegs im sellschaftliche Kernfragen mitentschieden
Nr. 16/2018 Ist das noch mein Land?
Westen geboren. Beide waren liberal im werden können.
Berechtigte Sorge, übertriebene Angst – die
Fakten zur Debatte um Islam und Heimat besten Sinne, weltoffen, christlich und Uwe Seidel, Argenbühl (Bad.-Württ.)
wertegebunden. Ich bin in dem Verständ-
Was ist Heimat, was fremd? Darf sich da nis aufgewachsen, dass die Welt allen Ja, das ist mein Land, das des Grundgesetzes,
nichts verändern? Zugegeben, die Verän- Menschen offenstehen sollte. Ich verstehe der öffentlich-rechtlichen Medien, der libe-
derungen sind momentan ziemlich rasant. diese engstirnigen und von Angst be- ralen Haltungen, der Hilfe für Flüchtlinge
Aber der Artikel erweckt streckenweise herrschten Menschen nicht. Meine Eltern und auch des SPIEGEL. Was für ein Land!
den Eindruck, als seien vor allem Migran- hatten einen Globus aus der Zeit vor dem Dirk Wetzel, Guntersblum (Rhld.-Pf.)
ten und Flüchtlinge die Ursache. Welchen Ersten Weltkrieg, an dem erklärte mir
Anteil am Tempo der Veränderungen ha- mein Vater, wie groß die Welt ist und dass Arroganz der Mächtigen
ben Digitalisierung und Neoliberalismus? es auf Ländergrenzen nicht ankomme, da
Nr. 15/2017 Hartz IV ist besser als sein Ruf
Leben ist Bewegung, Entwicklung, Verän- sich diese immer wieder verschieben könn-
derung, für Gesellschaften wie für Indivi- ten. Die Grenzen hat man im Kopf, und Hartz IV wirkt: Es hat die deutsche Ge-
duen. Damit müssen wir uns einrichten. nur dort. sellschaft verändert, heizt Ängste vor