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Norbert Lechner
Staat und Zivilgesellschaft in den lateinamerikanischen Demokratisierungsprozessen
Überlegungen zu einem Beziehungswandel
Quelle: HSK 8: Staat und zivile Gesellschaft. Beiträge zur Entwicklungspolitik in Afrika,
Asien und Lateinamerika. Herausgegeben von Franz Kolland, Erich Pilz, Andreas
Schedler und Walter Schicho. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel; Wien: Südwind;
1996. S. 39 54.
Der Sinn der Demokratie
Es ist paradox: Ausgerechnet heute, wo erstmals alle südamerikanischen Staaten
demokratische Regime liberalen Typs (mit gewissen Abstrichen) aufweisen, ist der Sinn
von Demokratie fraglich geworden. Einerseits gibt es heute real existierende
Demokratien, die nicht nur der üblichen Minimaldefinition gerecht werden, sondern auch
eine große Vitalität zeigen trotz der enormen bestehenden Schwierigkeiten (man denke
an die überkommenen sozialen Ungleichheiten und die gegenwärtige Transformation der
ökonomischen Strukturen). Andererseits besteht ein stummes Unbehagen an der Politik,
das keinen Inhalt noch einen Adressaten angibt, aber klar Distanz bezieht. Die Reflexion
dieses paradoxalen Unbehagens mag eine fruchtbare Annäherung an den
Problemkomplex Staat, Zivilgesellschaft und Demokratie bieten.
Meine einleitende These: Wir müssen die verdrängte Frage nach dem Sinn der
Demokratie wieder stellen. Wir müssen fragen, welche Bedeutung die neuen
demokratischen Institutionen und Verfahren für die Menschen haben. Damit meine ich
nicht nur die Erwartungen, die an die jungen Demokratien gerichtet werden. Die Frage
nach dem Sinn betrifft auch das, was ich in Anlehnung an Montesquieu's ésprit des lois
als den "Geist der demokratischen Ordnung" bezeichnen möchte, nämlich die
gesellschaftliche Vorstellung davon, was wir in einer bestimmten historischen
Konstellation unter Demokratie verstehen.
Diese "Idee" der Demokratie kann von einer lexikalischen Definition, mag sie auch noch
so differenziert entfaltet werden (vgl. Schmitter/Karl 1991; aber etwa auch Schmitter
1995 und O'Donnell 1995), nicht auf den Punkt gebracht werden. Die Zustimmung zur
demokratischen Ordnung und die Identifikation mit ihr beruhen zu einem guten Teil auf
symbolischen Darstellungen und kollektiven Bildern (imaginarios), die oft wie viele
Gegebenheiten des Alltags als "selbstverständlich" angesehen und deswegen nicht
verbalisiert werden. Meiner Ansicht nach liegt das Problem der Demokratie in
Lateinamerika nicht so sehr in den Institutionen und den Akteuren, sondern in der
Erosion dieser "Idee", sei es, weil die bisherigen Vorstellungen dem neuen Kontext nicht
angemessen sind, oder sei es, weil eine 'ingenieurhafte' Vorstellung von institution
building und institutional reform den weichen Kern der harten Hüllen ignoriert.
Damit komme ich auf das anfangs angesprochene Unbehagen zurück. Endlich haben wir
in Lateinamerika eine Demokratie, die trotz aller Schwächen relativ "normal" funktioniert
und trotzdem ist's nicht recht. Dieses Unbehagen ist nicht mit der Unzufriedenheit über
unerfüllte Erwartungen zu verwechseln. Frustrationen mag es geben, aber sie sind
(angesichts der ausstehenden Forderungen vielleicht überraschenderweise) beschränkt.
Die vorherrschende "Verdrossenheit" (desencanto) drückt wohl eher eine (stumme)
Enttäuschung über die Nichterfüllung der (stillschweigenden) Versprechen der
Demokratie aus (vgl. anhand des Scheiterns der Regierung Alfonsín in Argentinien Hilb
1994).
Als Norberto Bobbio, unter anderen, sehr eindringlich die gebrochenen Versprechen der
Demokratie aufzählte, sprach er die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen dem
demokratischen Verfassungsideal und der Wirklichkeit der Demokratie an (vgl. Bobbio
1986). Diese Distanz ist ungefährlich, solange eine solide Tradition die demokratischen
Verfahren und Institutionen in ihren Stärken und Schwächen als "normal und natürlich"
erscheinen läßt und folglich einer Kontrastierung mit dem Ideal entzieht. In
Lateinamerika, wo solch eine demokratische Tradition nur schwach ausgebildet ist,
erscheint die Demokratisierung immer noch als ein Gründungsakt: die Setzung einer
neuen Ordnung. Diese neue Ordnung kann sich nicht auf ein vorgegebenes Fundament
berufen; die Begründung beruht auf dem Versprechen der zukünftigen Verwirklichung.
Diese dramatische Wende der Moderne, in Europa wieder verschüttet unter der neuen
Tradition, bricht in Lateinamerika in gebrochener Form wieder auf. Hier nähren die
Demokratisierungsprozesse sich von der Negation der Vergangenheit ("nie wieder
Diktatur") und eben vom Versprechen einer neuen Ordnung. Das frische, nicht
routinisierte Versprechen, mit hohem Mobilisierungseffekt, betrifft nicht nur ein
bestimmtes Institutionengefüge, sondern auch den Geist der Institutionen; es verkündet
den Sinn der Demokratie.
Nun werden weder alle Versprechen eingelöst, noch sind sie überhaupt zur Gänze
einlösbar. Das Versprechen der Demokratie bewegt sich auf des Messers Schneide: es
verweist auf einen Beratungs und Entscheidungsprozeß mittels repräsentativer
Institutionen, wobei diese operationalisierte Legitimations und Organisationsform
politischer Herrschaft ihrerseits auf das Prinzip der Volkssouveränität verweist. Nach
dem Wegfall einer göttlichen Begründung scheint eine solche externe Verankerung (als
Mythos oder Utopie) unerläßlich zu sein, damit die Gesellschaft sich selbst als
Gesellschaft erkennen und als sinnvolle Ordnung erfahren kann (vgl. Gauchet 1977).
Diese externalisierte Sinnstiftung ist zwar nicht empirisch überprüfbar, wohl aber
sensibel gegenüber einer Alltagserfahrung, die ihr systematisch widerspricht. Ist also die
externe Sinngebung nicht durch eine Tradition abgesichert (und das verlangt Zeit), muß
der Sinn der Demokratie gemäß der geschichtlichen Entwicklung laufend erneuert
werden. Diese Aufgabe ist (nicht nur, aber vor allem) in Lateinamerika fällig; solange sie
nicht gelöst ist, bleibt meiner Meinung nach die Identifikation mit der Demokratie ein
unsicheres Experiment.
Demokratie und Marktgesellschaft
Ein weiteres Paradox ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit von
Demokratisierungsprozessen und Marktgesellschaft in Lateinamerika. Die Koexistenz
von Kapitalismus und Demokratie ist ein altes Problem, das eine besondere Brisanz
dadurch erhält, daß sich beide Systeme gleichzeitig durchsetzen. Zum einen gehen in
Lateinamerika die Durchsetzung von Demokratie und Marktgesellschaft heute Hand in
Hand und sind nicht voneinander zu trennen. Zum anderen jedoch handelt es sich um
widersprüchliche Formen gesellschaftlicher Organisation. Das demokratische Prinzip
einer in kollektiver Selbstbestimmung bewußt geschaffenen Ordnung steht im Gegensatz
zum Markt als ein spontanes Gleichgewicht, das sich aus den freien Tauschbeziehungen
zwischen Individuen ergibt. Mit anderen Worten: Wir sind sowohl der Logik der
Demokratie wie der Logik des Marktes verpflichtet, aber während die demokratische
Rationalität sich am Gemeinwohl ausrichtet, orientiert sich die Rationalität des Marktes
an der Maximierung des Eigennutzens. Wie vereinbaren wir die beiden konkurrierenden
Logiken?
In Lateinamerika (wie in Mittel und Osteuropa) werden Demokratie und
Marktgesellschaft von derselben geschichtlichen Welle getragen. Es handelt sich nicht
um ein zufälliges Zusammentreffen; dazu müssen wir uns nicht auf eine Diskussion über
den vorherrschenden Megatrend einlassen. Es genügt die konkrete Feststellung, daß
sowohl die Demokratisierungsprozesse wie die Expansion des Marktes nicht nur von
anonymen externen Impulsen getragen wurden, sondern bis heute von externen Instanzen
mit Namen und Adresse mitbedingt werden (etwa von der USRegierung, dem
Internationalen Währungsfond und der Weltbank). Diese unausweichlichen
Rahmensetzungen verknüpfen mit unterschiedlichem Nachdruck beide Elemente.
Einerseits gilt als Demokratie nur ein Regime liberaler Prägung, das die freie Entfaltung
des Marktes garantiert. Andererseits gilt die Marktwirtschaft nur dort als langfristig
vertrauenswürdig, wo sie durch ein demokratisches System abgesichert ist.
Auf den ersten Blick sind weder die Demokratie noch der Markt neue Phänomene in
Lateinamerika. In einigen Ländern (Chile, Uruguay) finden wir starke demokratische
Entwicklungen seit den zwanziger Jahren; doch selbst hier hat ein traumatisches
Scheitern der Demokratie ihr den Rückhalt einer quasi naturhaften Tradition entzogen.
Neu ist Demokratie in Lateinamerika, insofern sie sich erst als plausibel und
vertrauenswürdig erweisen muß (durch wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit).
Auch die kapitalistische Marktwirtschaft ist in Lateinamerika keineswegs unbekannt. Neu
ist die Geschwindigkeit und Radikalität, mit der die Marktmechanismen in den letzten
fünfzehn Jahren durchgesetzt wurden. Im Unterschied zu Europa oder Nordamerika, wo
ein jahrhundertelanger Prozeß graduelle Anpassungen ermöglichte, sind in Lateinamerika
ein Großteil der traditionellen Institutionen sozialer Abfederung in kürzester Zeit
überrollt worden. Wenn neoliberale Stimmen in Chile eine "stille Revolution" feiern, so
können sie sich in der Tat auf eine umfassende Reorganisation der Gesellschaft berufen.
Auch in anderen Ländern findet eine radikale Umgestaltung des gesamten
gesellschaftlichen Zusammenlebens statt. Die Rationalität des Marktes ordnet nicht nur
die ökonomischen Beziehungen, sondern wirkt tiefgreifend in alle anderen Bereiche ein.
Wir haben es also nicht nur mit einer kapitalistischen Marktwirtschaft, sondern viel
umfassender mit einer effektiven Marktgesellschaft zu tun. In wenigen Jahren haben die
LateinamerikanerInnen marktkonforme Einstellungen und Verhaltensweisen
verinnerlicht. Aber nicht nur das: sehr schnell und umgreifend ist eine neue Geselligkeit
(sociabilidad) im Entstehen. Der Wandel der sozialen Werte und Verhaltensmuster hat
sowohl mit dem weltweiten postmodernen "Klima" zu tun wie mit der
marktwirtschaftlichen Reorganisation der Gesellschaft. So bringt die Privatisierung der
öffentlichen Unternehmen und Dienstleistungen eine Privatisierung der sozialen
Beziehungen mit sich.
Der Ausschluß und Rückzug aus der Öffentlichkeit, der dadurch bewirkt wird, ist meiner
Ansicht nach viel bedeutungsvoller als die (zum Teil jedenfalls notwendigen)
wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Die neoliberalen Reformen begrenzen das Feld
kollektiver Organisation und Aktion und fördern dagegen individuelle Strategien, die die
gegebenen Gelegenheiten rational und reaktionsschnell zu nützen wissen, aber allem
kollektiven Engagement mißtrauen. Eine Tauschmentalität (do ut des) durchdringt alle
Beziehungen. Damit wird der animus societatis untergraben, der die soziokulturelle
Grundlage der Demokratie bildet. Mit der Zeit bilden sich sicherlich wieder kollektive
Bindungen, die die sozialen Interaktionen integrieren. Zunächst jedoch fördert die
Marktgesellschaft einen "sozialen Darwinismus", wonach jedermann zwecks
Maximierung seines Eigennutzes rechtens seinen Nächsten instrumentalisieren und
erniedrigen kann. Diese Alltagserfahrung motiviert ein ambivalentes Verhältnis zum
Markt. Einerseits verinnerlichen die Menschen dessen Kriterien als praktische Normen
des sozialen Umgangs (frei nach dem Brechtschen Motto: "nur wer im Wohlstand lebt,
lebt angenehm"). Andererseits jedoch verweigern sie jenen Normen die moralische
Anerkennung. Der Markt wird sozusagen als ein technisches Instrument, ohne Anspruch
auf normative Zustimmung, behandelt. Das bringt uns zurück zur Demokratie.
In dem Maße wie die Marktgesellschaft keine allgemein verpflichtende Normativität
liefert bzw. hierfür keine Anerkennung findet, kommt der Demokratie die komplementäre
Rolle zu, als Legitimationsmechanismus der marktwirtschaftlichen Ordnung zu wirken.
Zur Veranschaulichung verweise ich auf Chile und Mexiko, die m.E. auf unterschiedliche
Weise deutlich machen, daß Demokratie neben ihrem Eigenwert (den sie zweifelsohne
auch hier besitzt), auch eine legitimitätbeschaffende Funktion für die Marktgesellschaft
erfüllt. Das hat seine Konsequenzen. Das Paradox der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher
Prinzipien wird gelöst mittels einer halbierten Demokratie. Darunter verstehe ich
folgendes: Der demokratische Willensbildungsprozeß dient dazu, der bestehenden
Gesellschaftsordnung die soziale Anerkennung zu verschaffen, nicht die Richtlinien ihrer
Entwicklung zu bestimmen.
Auch in Lateinamerika ist die Tendenz festzustellen, Demokratie auf die Wahl politischer
Entscheidungsträger (einschließlich des dazugehörigen Wettbewerbs der Parteien) zu
beschränken, während eine starke Exekutivgewalt, die unangefochten von sozialen
Forderungen sozusagen über den politischen Konflikten thront, die sogenannten
sachgesetzlichen Maßnahmen wirtschaftlicher Rationalität durchsetzt (vgl. allgemein
dazu Kohli 1993). Beispiel dieser Spaltung ist die vielerorts vorherrschende Koexistenz
von neoliberaler Technokratie in der Regierung und primitivem Populismus im
parteipolitischen Kampf um die Wähler. Die seltsame Mischung ist funktional: Der
technokratische Stil erlaubt es, unter Ausschluß der Öffentlichkeit die oft sehr handfesten
Imperative der Wirtschaftsentwicklung zu erfüllen. Komplementär dazu bietet der
Populismus ein handgreifliches Instrumentarium, um das demokratische Versprechen
einer Legitimierung eben dieser unpopulären Maßnahmen zu mobilisieren. Auf diese
Weise läßt sich die Einführung demokratischer Spielregeln kurzerhand mit einer
"Vermarktung" oder "Durchkapitalisierung" der Gesellschaft vereinbaren .
Oberflächlich funktioniert die Arbeitsteilung zwischen einer Exekutivgewalt, die
expertenhaft die public policies verwaltet, und einer Wahldemokratie, die zyklisch
Massenunterstützung mobilisiert. Doch diese fiktive Harmonisierung läßt einen zentralen
Punkt außer acht: die kollektive und konfliktive Herstellung und Reproduktion des Sinns
der institutionellen Ordnung. Diese Sinnfrage ist, wie die obigen Ausführungen
ersichtlich gemacht haben sollten, kein überflüssiger Luxus. Wo der Sinn der
Gesellschaftsordnung nicht mehr von der Politik erarbeitet und abgesichert wird, sondern
sozusagen dem freien Spiel der sozialen Kräfte und letztlich der individuellen Initiative
überlassen wird, herrscht absolute Ungewißheit. In dieser Situation bietet sich der
Rückzug ins Privatleben als eine individuelle Lösung an. In der Tat, wer investiert schon
seine Energien und Emotionen in eine soziale Ordnung, deren Sinn höchst ungewiß ist?
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Das gesellschaftliche Zusammenleben verliert an
Integrationskraft und Kreativität gegenüber den äußerst dynamischen Herausforderungen.
Das aber ist gerade eine der Anforderungen an die gegenwärtige Entwicklungspolitik.
Vor diesem Hintergrund möchte ich mich nunmehr dem neuen Verhältnis von Staat und
Zivilgesellschaft zuwenden.
Die Reform des Staates
Wiederum mag ein Paradox als Ausgangspunkt unserer Überlegungen zum Staat in
Lateinamerika dienen. In jüngster Zeit stehen die lateinamerikanischen Länder im
Zeichen des neoliberalen Paradoxes: Die neoliberale Strukturpolitik, die explizit den
Abbau des Staates als vorrangiges Ziel verfolgte, war letztlich nur dort erfolgreich, wo
sie mittels starker politischer Intervention vorangetrieben wurde. Die neoliberale
Strategie setzt bekannterweise an der Diagnose an, daß ein ausgewucherter und
übermächtiger Staat die schöpferische Entfaltung der Zivilgesellschaft hindert und mithin
das Entwicklungspotential erdrosselt. Diesem Befund entspricht das Rezept, mittels
Privatisierung der staatlichen Dienstleistungen, Dezentralisierung der öffentlichen
Verwaltung und einer drastischen Öffnung aller Märkte der privaten Initiative die
führende Rolle in der sozialen Entwicklung zu übertragen. Neoliberal stricto sensu sind
die vielfältigen Strukturreformen, insofern sie ausdrücklich darauf ausgerichtet sind, den
Staat durch den Markt als privilegierte Koordinationsinstanz des sozialen Lebens zu
ersetzen (wodurch nunmehr als Ware bzw. als Opportunitätsfrage gilt, was bisher in
einem "sozialdemokratischen Ansatz" als gesichertes Recht behandelt wurde).
Die Maßnahmen haben jedoch nur dort eine effektive Neuordnung der Gesellschaft
eingeleitet, wo wie in Chile oder Mexiko eine mächtige politische Autorität den
Prozeß gegen den sozialen Widerstand durchzusetzen vermag. Anderenfalls mündet die
Strategie sozialer Reorganisation in einen Sumpf sozialer Desorganisation (vgl.
Smith/Acuña/Gamarra 1994). Soziale Unruhen in verschiedenen Ländern haben die
Bedeutung des Staates und ganz allgemein von stabilen politischen Institutionen wieder
in Erinnerung gerufen. Aber es waren vor allem die Unordnungen des Marktes, nämlich
die abrupten Fluktuationen der Finanzmärkte, die zunächst Mexiko (im Dezember 1994)
und über den berüchtigten TequilaEffekt auch andere Länder plötzlich erschütterten, die
schließlich selbst bei den ehemaligen Gralshütern neoliberaler Orthodoxie in den
internationalen Finanzagenturen die Forderung nach einem starken Staat weckten. Auf
diese Weise endet der neoliberale Angriff auf den Staat paradoxerweise mit der
Anerkennung des Staates als notwendige Rahmenbedingung wirtschaftlicher
Entwicklung.
Nach dem ideologischen AntiEtatismus der achtziger Jahre, ist heute der Staat wieder
zurück auf der politischen Bühne. Natürlich handelt es sich nicht um den
"Entwicklungsstaat" keynesianischer Orientierung, der die sechziger Jahre prägte, aber
auch nicht um den von den Neoliberalen gewollten "Minimalstaat". Ein neuer Typ von
Staat ist im Entstehen, der mitten im Prozeß noch nicht auf den Begriff zu bringen ist.
Angesichts dieser Tendenz befindet sich die Reform des Staates gegenwärtig im
Mittelpunkt der politischen Debatte Lateinamerikas. Bevor ich darauf eingehe, möchte
ich eine kurze Bilanz der ersten Phase ziehen.
Die Entpolitisierung der Wirtschaft
Die erste Etappe der Staatsreform zielte unter mehr oder weniger direktem Einfluß des
Neoliberalismus auf die Entpolitisierung der Wirtschaft. Die unbeschränkte Entfaltung
der Marktgesetze setzte den Abbau des bisherigen Entwicklungsstaates voraus, als damit
den organisierten Interessen, die potentiell Druck ausüben konnten, der Boden entzogen
wurde. Dem diente (a) die Privatisierung nicht nur von unnötigen staatlichen
Unternehmen, sondern auch öffentlicher Dienstleistungen, von Post und Bahn bis hin
zum Gesundheits und Erziehungswesen; (b) der Transfer politischer Interventionsmittel
(von der Geld und Devisenpolitik bis hin zur Überwachung des Bank und
Börsensystems) an autonome, technische Instanzen (Zentralbank u.ä.) sowie (c) die
Verrechtlichung politischer Konflikte und Verhandlungen, ihre Umdeutung in juristische
Probleme, deren Entscheidung den Gerichten als politisch neutralen Instanzen anvertraut
wird. Es ging also nicht nur um die Flexibilisierung der Wirtschaft, sondern generell
darum, die staatlichen Grenzziehungsfähigkeiten drastisch einzuschränken. Das Ziel der
neoliberalen Reformen war letzten Endes die Entpolitisierung des sozialen Lebens im
Namen einer gesellschaftlichen Selbstregulierung. Gegenstand der Kontroverse ist also
die gesellschaftliche Ordnung.
Gemessen an diesen Ansprüchen sind die Ergebnisse beschränkt, aber folgenreich. Die
Schleifung der staatlichen Festungen und die unverblümte Instrumentalisierung der
verbleibenden Staatsfunktionen zugunsten des "freien Marktes" bedeutet den
Zusammenbruch eben jener vom Staat verkörperten Sicherung des gesellschaftlichen
Zusammenlebens. Die Zerstörung der (materiellen und symbolischen) Sicherheitsnetze
hat in einem Kontinent, der sowieso von enormen sozioökonomischen Ungleichheiten,
kulturellen Differenzen und politischen Konflikten durchkreuzt ist, tragische Folgen. Der
Tatbestand ist ausreichend dokumentiert, weswegen ich darauf nicht weiter eingehe.
Die negativen Auswirkungen der Staatsreformen für die soziale Lebenswelt sollten
jedoch die positiven Aspekte nicht verdunkeln. Zweifelsohne findet eine gewisse
Modernisierung des Staates statt: in den erfolgreichen Fällen (hier ist nochmals Chile zu
nennen) kommt es zu einer Verminderung bürokratischer Regelungen und
administrativer Zentralisierung, zu einer Einschränkung des Einflusses von Parteien und
Gremien auf Staatsapparat und ausgaben und zu einer Rationalisierung des
Verwaltungsstabs. Insgesamt gelingt es, die ökonomische Regulationskapazität des
Staates zu verbessern (vgl. Muñoz 1993). Aber selbst im Falle Chile zeigen die
Kapazitäten dieses "Regulationsstaates" einen offensichtlichen Rückstand bezüglich der
sozialen Dynamik. Wenn wie allgemein in Lateinamerika die Modernisierung
ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Effizienz betrieben wird,
scheitert sie schließlich aufgrund eben jenes Reduktionismus. Das gilt auch für die
Reform des Staates. Ein ökonomisch verkürzter Ansatz wird der komplexen Natur des
Staates nicht gerecht. Heute herrscht weitgehend Übereinstimmung, daß eine zweite
Phase von Reformen notwendig ist, wo meines Erachtens die Erneuerung der staatlichen
Steuerungskapazitäten im Vordergrund steht.
Die Herstellung gesellschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit
Die naive Vorstellung von den unerschöpflichen Tugenden des freien Marktes hat heute
einer realistischeren Einstellung Platz gemacht. Die lateinamerikanischen Länder haben
kurzfristig lernen müssen, daß der marktwirtschaftliche Wettbewerb keineswegs so
spontanfrei erfolgt, wie die neoliberalen Propheten versprachen, sondern streng (und
asymmetrisch) organisiert ist. Das gilt insbesondere für das "Operationsfeld Weltmarkt"
(Altvater 1994).
Der Zugang zum Weltmarkt hängt nicht so sehr von der Wettbewerbsfähigkeit dieses
oder jenes Unternehmens ab, das die eine oder andere Marktnische ausmacht, sondern
von der gesamtgesellschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit (systemic competitiveness).
Nicht die Wettbewerbsfähigkeit einer Firma, sondern der gesamten Gesellschaftsordnung
ist auf dem Weltmarkt ausschlaggebend (vgl. Bradford 1994). Es geht, im gängigen
MarketingJargon ausgedrückt, um die Qualität und das Image des Landes. Das heißt, die
Möglichkeiten eines lateinamerikanischen Landes, seine Produkte preiswert zu
exportieren und internationale Investitionsgelegenheiten produktiv zu lokalisieren,
hängen von seiner Fähigkeit ab, eine Reihe von Faktoren angemessen zu organisieren
und attraktiv anzubieten. Verlangt wird nicht nur eine Anpassung der
Produktionsstrukturen und der arbeits und handelspolitischen Normen, sondern auch
deren Umfeld: vom Erziehungsniveau und Technologiepotential bis hin zur politischen
Stabilität und dem Klima sozialen Vertrauens (vgl. dazu auch Fukuyama 1995).
Diese umfassende Reorganisation und Koordination komplexer Bereiche kann letzten
Endes nur der Staat leisten. Dieser Aufgabenbereich beschränkt sich nicht auf sektorielle
Reformen, die technokratisch geplant und aufeinander abgestimmt werden. Erforderlich
ist vor allem eine neue Artikulation der sozialen Akteure, also ein neuer
Gesellschaftsvertrag oder, bescheidener konzipiert, ein Netz von sozialen Abkommen,
das die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure und Prozesse in eine gemeinsame
Perspektive einbindet.
Ich fasse die gegenwärtige Entwicklung kurz zusammen: Die ideologisch aufgebauschte
Antinomie Markt versus Staat hat sich als unangebracht erwiesen, auf die neuen
Herausforderungen zu antworten. Aufgrund des marktorientierten Strukturwandels
entstehen Probleme, die marktwirtschaftliche Mechanismen überfordern. Es ist gerade
die Dynamik der Marktwirtschaft, die die soziale Integration zu einer zentralen Frage der
Wirtschaftsentwicklung macht. Wie schon erwähnt, können die lateinamerikanischen
Länder die transnationale Integration nur mitvollziehen, insoweit sie die eben durch die
unbeschränkte Entfaltung des Marktes verschärfte nationale Desintegration überwinden.
Zusammen mit der Integration des sozialen Lebens rückt die symbolische und politische
Dimension des Staates wieder in den Mittelpunkt. Der Staat gewinnt eine neue Präsenz
zurück als Garant der politischen und wirtschaftlichen Stabilität (gegenüber dem
Autoritarismus und der Inflation früherer Jahre), als unersetzbarer Motor der sozialen
Integration (die Rolle der Sozialpolitik angesichts massiver Armut) und als Verkörperung
eines vertrauenswürdigen Zukunftshorizontes, wie sehr sich dieser auch verflüchtigt
haben mag.
Ein geschichtlicher Rückblick mag an dieser Stelle angebracht sein. Der nationale
Entwicklungsstaat der sechziger Jahre ist sicherlich angesichts der
Globalisierungsprozesse überholt, doch ist es nicht unwichtig festzuhalten, daß jener
"Staat des Klassenkompromisses" in Lateinamerika wesentlich dazu beitrug, eine
nationale Identität zu festigen und die bislang marginalisierten Massen sozial und
politisch zu integrieren. Diese Zentralität des Staates erlaubte es, nicht nur den
Industrialisierungsprozeß voranzutreiben, sondern auch die verschiedenen sozialen
Akteure in diese erste Modernisierungswelle einzubinden.
Retrospektiv sind die Schwächen des Entwicklungsstaates leicht ersichtlich. Im
Gegensatz zur neoliberalen Interpretation, erweist sich der Staat nicht als zu stark,
sondern als zu schwach. Vergleicht man den Entwicklungsstaat in Lateinamerika mit dem
in Asien (Japan, Taiwan, Südkorea) so fehlt ihm jene embedded autonomy, die den
Erfolg des asiatischen Entwicklungsmodells ausmacht (dazu grundlegend Evans 1992).
In Lateinamerika wird der Staatsapparat aufgrund des Klassenkompromisses eine Beute
im Verteilungskampf der sozialen und politischen Gruppen und erringt nicht jene
eigenständige Rationalität, die laut Max Weber die moderne Bürokratie kennzeichnet.
Die lateinamerikanischen Bürokratien werden leicht von Privatinteressen vereinnahmt
und haben viel größere Schwierigkeiten als die asiatischen Verwaltungsinstanzen, die
sozialen Akteure im Rahmen einer nationalen Entwicklungsstrategie zu koordinieren. Die
schwache Autonomie des lateinamerikanischen Staates erklärt sowohl seine permanente
Finanzkrise (aufgrund des Unvermögens, bestimmte soziale Forderungen einzubremsen)
wie den übertriebenen Protektionismus der einheimischen Industrie und deren dadurch
verminderte Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten. So gesehen ist der Staat
keineswegs das Problem einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung, wie es der
Neoliberalismus sieht, sondern ein Problem. Der Staat stellt ein Problem in dem Maße
dar, wie er weder die nötige Autonomie noch die soziale Vernetzung besitzt, die eine
integrative Steuerung gesellschaftlicher Prozesse ermöglicht. Jede Lösung hat an diesen
Punkten anzusetzen.
Damit sind wir bei der zentralen Frage angelangt: Wie kann der Staat seine neuen
Aufgaben sozialer Koordination angemessen übernehmen, nachdem er als Instanz
gesamtgesellschaftlicher Repräsentation und Steuerung durch die neoliberalen Reformen
untergraben wurde? Nachdem die neoliberale Strategie und mithin der Markt als
Organisator einer selbstregulierten Gesellschaft gescheitert sind, die Notwendigkeit einer
Koordination sozialer Prozesse aber wieder akut geworden ist, wird die Rolle der
staatlichen Steuerungskapazitäten zum zentralen Thema einer zweiten Phase der
Staatsreform. Diese hat von den Rahmenbedingungen auszugehen, die die erste,
neoliberale Phase geschaffen hat. Sie kann also nicht auf die zentrale Stellung des
ehemaligen Entwicklungsstaates zurückgreifen, sondern muß die Möglichkeiten eines
polizentralen Koordinationsnetzes erforschen.
In diesem Sinne gewinnen, wie in Europa, auch in Lateinamerika zwei
Steuerungsmechanismen an Bedeutung. Zum einen von der Regierung autonome,
pluralistisch besetzte Instanzen öffentlichen Rechts, die als eine Art Aufsichtsrat auf
einem bestimmten Gebiet über das transparente Funktionieren der Marktmechanismen
wachen und die bona fide der Gesellschaft garantieren (so z.B. beaufsichtigt in Chile ein
Consejo Nacional de Universidades, ein Consejo Nacional de Televisión, eine
Superintendencia de Bancos y Bolsas das selbstregulierte Funktionieren der
Universitäten, des Fernsehens und der Banken und Börsen).
Zum anderen vollzieht sich auch in Lateinamerika die real existierende Politik immer
mehr in Politiknetzwerken (vgl. Marin/Mayntz 1991 und insbesondere Messner 1995),
die staatliche Instanzen und private Akteure zur Regelung von bestimmten Politikfeldern
verknüpfen. Dieser (formale oder informelle) Koordinationsmechanismus spielt nicht nur
bei der Privatisierung staatlicher Monopole eine Rolle, sondern ebenso bei der Regelung
bestimmter Sachgebiete (z.B. bei der Reform des Gesundheitswesens).
Im Gegensatz zur staatlichen Vertikalität fördert die horizontale Abstimmung eine
flexible und realitätsnahe Behandlung der Probleme, birgt jedoch die Gefahr, daß die
Mehrheit der Bevölkerung, die vom Problem betroffen, aber nicht organisiert ist, bei den
Verhandlungen und Entscheidungen außer acht gelassen wird. Überall finden wir die
Tendenz, daß eine Inflation von Mikroentscheidungen die politische Erarbeitung eines
gesellschaftlichen Konsenses verdrängt. Paradoxerweise leistet gerade die
Rückbesinnung auf das Verhältnis von Staat und ziviler Gesellschaft einer solchen
Entleerung der politischen Sphäre Vorschub. Der Anspruch, diese Beziehung
unvermittelt, unter Ausschluß der politischen Institutionen, zu gestalten, ignoriert
kurioserweise im Namen der Demokratie das demokratische Institutionengefüge.
Die Trennung von Staat und Demokratie
In Lateinamerika verlaufen seltsamerweise die demokratischen Reformen und die
Reform des Staates auf parallelen Schienen. Einerseits finden wir in fast allen Ländern
wichtige Fortschritte in Richtung auf eine vollfunktionierende Demokratie, wobei diese
Reformen jedoch die veränderte Rolle des Staates nicht berücksichtigen. Andererseits
führen die Reformen des Staates zu grundlegenden Neuorientierungen, die vornehmlich
das Verhältnis zur Wirtschaft betreffen und auf die demokratischen Institutionen kaum
eingehen. Diese Trennung von Staat und Demokratie erscheint seltsam, insofern ein
entscheidender Bereich politischen Handelns der Staat aus dem demokratischen
Institutionengefüge entlassen wird. Sicherlich hat die Beschränkung der Demokratie auf
das politische Regime gute Gründe, doch fördert sie eine politische Neutralisierung des
Staates. Wo der demokratische Willensbildungsprozeß auf die Wahl der politischen
Repräsentanten verkürzt und mithin seines sachlichen Inhalts beraubt wird, bleibt einem
im Halbdunkel fungierenden Staat die technokratische Handhabung der public policies
überlassen. Ich habe die Tendenz in Richtung einer politisch halbierten Demokratie
bereits hervorgehoben und möchte jetzt nur auf eine Konsequenz aufmerksam machen.
Das Parteiensystem und seine Entfaltung im Parlament sind zwei herausragende und trotz
aller Mängel unersetzbare Instanzen im demokratischen Verhandlungs und
Entscheidungsprozeß. In der früheren, am Staat ausgerichteten Organisationsform
bildeten die Parteien im Parlament eine einzigartige Vermittlungsinstanz, die soziale
Bedürfnisse und Forderungen zu politischen Agenda machte und gleichzeitig die
Auseinandersetzung über gesellschaftliche Ziele und Alternativen "vergesellschaftete".
Mit der gegenwärtigen Neuordnung wird nicht nur die Zentralität des Staates, sondern
auch die Vermittlungsrolle der Parteien in Frage gestellt. Vom realen
Entscheidungsprozeß ausgeschlossen und in ihren Funktionen verunsichert, verlieren die
Parteien und Parlamente ihre identitätsstiftende Kreativität. Das Parteiensystem
schrumpft zu einem Wahlmechanismus, das vornehmlich zur Reproduktion
klientelistischer Ämterpatronage dient. Eine politischideologische Erarbeitung von
allgemeinen Interpretationsmustern und konkreten Regierungsprogrammen, also eine
effektive Strukturierung der Interessen und Meinungsdifferenzen in politischen
Optionen, ist in kaum einem lateinamerikanischen Parteiensystem zu finden. Das
verschärft nicht nur die Kluft zwischen StaatsbürgerInnen und politischem System,
sondern verhindert auch, daß die Parteien wesentliche Zuleistung für politische
Steuerungsfunktionen erbringen.
Zu diesem Bild institutionellen Versagens trägt auch der relative Funktionsverlust der
Parlamente bei. Drängen die ausgeprägten Präsidialsysteme Lateinamerikas die
legislativen Instanzen ohnehin schon in die Defensive, so raubt ihnen die
gesellschaftliche Neuordnung noch mehr an Bedeutung und macht aus der
parlamentarischen Arbeit ein Trugbild demokratischer Beschlußfassung. In Wirklichkeit
ist das Parlament entweder eine mehr oder weniger gut geölte Ratifikationsmaschine der
Regierungsinitiativen, oder es fungiert als ein mehr oder minder konfuser
Obstruktionsapparat. Das Bild mag überzogen sein, aber es weist auf einen unleugbaren
Tatbestand hin: Gegenwärtig tragen die Parlamente wenig zur politischen Koordination
und Steuerung der Gesellschaft bei. Wird die Rolle der demokratischen Institutionen (vor
allem der Parteien und der Parlamente) nicht entsprechend den veränderten Bedingungen
neu bestimmt, so bleibt es bei der unvermittelten Gegenüberstellung von Staat und ziviler
Gesellschaft. Das setzt zwar die Demokratie nicht außer Kraft, möglicherweise aber ein
demokratisches Regieren.
Zivilgesellschaft im Umbruch
Die Frage nach der Beziehung zwischen Staat und ziviler Gesellschaft stellt sich heute
vor dem skizzierten Hintergrund staatlicher Strukturveränderungen. Dabei ist gleich
einleitend anzumerken, daß die ehrwürdige Formel der Zivilgesellschaft mit Vorsicht zu
genießen ist. Es handelt sich um ein grobkörniges und mehrdeutiges Konzept, das
vornehmlich dazu dient, einen Problemkomplex zu benennen und polemisch die
Antinomie von Markt und Staat aufzuspannen.
Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zur gegenwärtigen Bedeutung der
Zivilgesellschaft in Lateinamerika mag wiederum ein Paradox dienen. In den letzten
Jahren wird in allen lateinamerikanischen Ländern eine Stärkung der zivilen Gesellschaft
verlangt, wobei dieser Aufruf im Namen einer "Verstaatsbürgerlichung"
(ciudadanización) der Politik erfolgt. Paradox ist dieses Phänomen insofern, als der
Anspruch auf politische Teilnahme nicht an die Idee des Staates als einer Gemeinschaft
der StaatsbürgerInnen anknüpft, sondern sich auf die Zivilgesellschaft bezieht, also auf
einen Bereich, der in der Regel als nicht politisch gilt und sich darüber hinaus gerade in
diesen Jahren durch die Vermarktung der sozialen Beziehungen auszeichnet. Das wirft
die folgende Frage auf: Was führt dazu, daß die Stärkung einer Zivilgesellschaft, die sich
mehr und mehr als Marktgesellschaft entfaltet, als die Grundlage einer "Politik der
Staatsbürger" angesehen wird?
Kontexte und Bedeutungen der Zivilgesellschaft
Die Gründe für die überall laut werdende Berufung auf die zivile Gesellschaft sind
vielfältig. In den achtziger Jahren verlief die lateinamerikanische Diskussion, wie gesagt,
auf den zwei parallelen Bahnen politischer Demokratisierung und wirtschaftlicher
Strukturanpassung, die beide die Veränderungen der Gesellschaft nur am Rande
analysierten. Zwar gab es die ständige Sorge um die wachsende Armut und
Marginalisierung von rund einem Drittel der Bevölkerung, sei es als Hindernis für die
Stabilität eines demokratischen Regimes, sei es als unerwünschte Nebenfolge der
Wirtschaftsreformen. Aber der Wandel der Sozialstruktur und des sozialen Handelns
sowie ganz allgemein die Neuordnung der gesellschaftlichen Organisation standen nicht
im Mittelpunkt. Nichtdestotrotz finden sich in der politischen Auseinandersetzung immer
häufiger Hinweise auf die zivile Gesellschaft. Das Echo ist umso lauter, je mehrdeutiger
der Begriff ist und je wirkungsvoller er einer polemischen Abgrenzung dient. Was
Zivilgesellschaft bedeutet, ergibt sich erst aus dem Zusammenhang. In der
lateinamerikanischen Debatte lassen sich mehrere Kontexte ausmachen, die uns helfen,
den Stellenwert des Begriffes zu bestimmen (vgl. die beiden Kapitel über
Metamorphosen der Zivilgesellschaft in Dubiel 1994).
1. Der heutige Sprachgebrauch kommt in den siebziger Jahren in den von autoritären
Militärregimes beherrschten Länder Südamerikas auf. In jenem Zusammenhang dient er
dazu, dem autoritären Staat eine antiautoritäre Gesellschaft gegenüberzustellen. Der
Begriff der Zivilgesellschaft erlaubt der Opposition, sich selbst zu benennen (ohne
Erinnerungen an den chaotischen Kollaps der Demokratie zu wecken) und dabei
unterschwellig auch auf die zivile Mehrheit gegenüber den Militärs anzuspielen.
2. Daneben wird der Begriff auch verwendet, um der Kritik an der neoliberalen
Wirtschaftspolitik einen prägnanten Ausdruck zu geben. Angesichts des brutalen
Vormarsches des Marktes und des entsprechenden Zusammenbruchs der überkommenen
Sozialstruktur, verweist der Begriff der Zivilgesellschaft auf die Rekonstruktion von
Netzen solidarischer Beziehungen im polemischen Kontrast zur Marktgesellschaft.
3. Sodann ist der Begriff von Nutzen, um nicht von sozialen Klassen sprechen zu
müssen und doch gesellschaftliche Akteure benennen zu können. Dient der
Sprachgebrauch "von links" gesehen dazu, die politische Präsenz der neuen sozialen
Bewegungen hervorzuheben, wird er "von rechts" gern übernommen, um die privilegierte
Rolle der Privatwirtschaft (iniciativa privada) gegenüber dem Staat zu unterstreichen.
4. Eine präzisere politische Verortung erhält der Begriff aufgrund der Notwendigkeit
seitens der Linksparteien, die Beziehung zu ihrer sozialen Basis nach dem Scheitern
revolutionärer Strategien neu zu definieren. Während der Aufruf an die "Massen" oder an
das "Volk" seine mobilisierende Kraft verliert, kann der Hinweis auf die
"Zivilgesellschaft" den diffusen Differenzierungs und Demokratisierungstendenzen in
einer bisher ruralen und quasi aristokratischen Gesellschaft Ausdruck verleihen.
5. Ein massives Echo erhält die Anrufung der zivilen Gesellschaft allerdings erst durch
den Umbruch in Mitteleuropa. Der gewaltfreie und erfolgreiche Aufstand der
Bevölkerung gegen die Parteidiktaturen in den kommunistischen Staaten läßt die
Zivilgesellschaft als eine effektive Verkörperung der Volkssouveränität erscheinen. Der
weltweite Widerhall stößt auch in Lateinamerika auf offene Ohren, und er verleiht dem
Begriff einen Glanz von Würde und Vorzüglichkeit.
6. Nach dem institutionellen und theoretischen Ausfall der sozialistischen Alternative
mag die Berufung auf eine starke Zivilgesellschaft vornehmlich der kritischen Revision
der real bestehenden Demokratie liberaler Tradition dienen. Gegenüber einer präpotenten
Bürokratie, einem korrupten, klientelistischen Regierungsstil und einem elitistischen
Parteiensystem fordert der Hinweis auf die zivile Gesellschaft Respekt und eine
verstärkte Mitwirkung für den "normalen Staatsbürger" ein. In den erwähnten
Zusammenhängen erhält der Begriff der Zivilgesellschaft seine Bedeutung jeweils in
polemischer Abgrenzung zu anderen, negativ bewerteten Gegebenheiten. Diese
Mehrdeutigkeit macht gerade die politische Wirksamkeit des Konzepts aus, erschwert
jedoch eine präzisere Bestimmung dessen, was denn nun unter Zivilgesellschaft in
Lateinamerika zu verstehen ist. Trotzdem können uns die obigen Ausführungen helfen,
die Ausgangsfrage nach der Verknüpfung der Zivilgesellschaft mit einer
staatsbürgernahen Politik wieder aufzunehmen. Eine Antwort hat, meiner Ansicht nach,
drei Gesichtspunkte zu beachten.
Die antiautoritäre Zivilgesellschaft
Ein erster Bezugspunkt der gegenwärtigen Forderung nach einer Stärkung der zivilen
Gesellschaft in staatsbürgerlicher Absicht ist zweifelsohne die antiautoritäre Motivation
(nicht im kulturellen oder pädagogischen Sinn einer egalitären, nichthierarchischen
Grundhaltung, sondern im Sinne der Opposition gegen einen als autoritär erfahrenen
Staat). Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Militärdiktaturen in Südamerika und
dank einer weltweiten Sensibilität für Demokratie und Menschenrechte wächst das
Verlangen, bestehende Machtstrukturen, die nicht mehr nötig oder nicht mehr zu
rechtfertigen sind, abzubauen. Der Anspruch drückt eine Kritik (mit länderspezifischen
Akzenten) an einem als autoritär erfahrenen Staat aus; Kritik, die sich unter Verweis auf
soziale Selbstorganisation als Alternativvorschlag einer gesellschaftlichen Neuordnung
versteht.
Bei dieser, oft beschwörenden Anrufung der Zivilgesellschaft fließen zwei
Strömungen zusammen, was die politische Konfusion noch wachsen läßt. Die
Wiederentdeckung der "bürgerlichen Gesellschaft" nährt sich einerseits vom neoliberalen
AntiEtatismus, der auf den keynesianischen Wohlfahrtsstaat gemünzt in jedem
staatlichen Handeln eine unzulässige Verzerrung und Politisierung des sozialen Lebens
vermutet. Hier steht die gesellschaftliche Selbstregulierung als Motiv und Ziel im
Hintergrund. Andererseits mündet in die Anrufung der Zivilgesellschaft auch die
sozialistischkommunistische Tradition, die eine staatliche Enteignung sozialer
Bewegungen durch militärische oder andere traditionelle Machtapparate befürchtet.
Diese ambivalentmißtrauische Einstellung zum "bürgerlichen Staat" vermischt sich
leicht mit einem nationalistischen Fundamentalismus, der die Würde und die Identität der
eingeborenen Bevölkerung verteidigt. Hier zielt die Forderung nach mehr
Zivilgesellschaft auf die Repolitisierung einer von staatlicher Vormundschaft
emanzipierten Gesellschaft. Die Konvergenz von so gegensätzlichen und in sich
widersprüchlichen Antrieben macht die politischstategische Operationalisierung nicht
leichter. In der Tat ist die Forderung nach einer Stärkung der zivilen Gesellschaft vor
allem in der ideologischen Diskussion wirksam. Dort zeigen sich allerdings auch
bedenkliche Nebeneffekte.
Der Ruf nach einer "staatsbürgerlichen Zivilgesellschaft" leistet sicherlich einen
wichtigen Beitrag zu den Demokratisierungsprozessen in Lateinamerika. Er verleiht dem
Argwohn gegenüber der elitären Funktionsweise demokratischer Regime und gegenüber
oligopolistischen Parteienkartellen einen prägnanten Ausdruck und erinnert zu Recht an
die nicht erfüllten Versprechen der Demokratie. Damit hilft er, die Tendenz einer
zunehmend auf sich selbst bezogenen Politik als Problem sichtbar zu machen. Die
Problemstellung ist jedoch gefährlich, insofern sie die demokratische Idee gegen die
demokratischen Institutionen ausspielt.
Die Berufung auf die Zivilgesellschaft mag in einem überinstitutionalisierten System
(vgl. Schedler 1995) gerechtfertigt sein, aber in Lateinamerika, wo vielerorts noch
"traditionelle" Kaziquen (caciques) quasifeudale Herrschaft ausüben, leistet sie der
häufigen Mißachtung oder offenen Verachtung von Institutionen Vorschub. Gerade hier
und heute, wo die jungen Demokratien nach einer dynamischen Stärkung der politischen
Institutionen verlangen, trägt die simplifizierte Vorstellung der Volksherrschaft dazu bei,
die sowieso schon schwachen repräsentativen Elemente der Demokratie zu untergraben.
Die Berufung auf die "staatsbürgerliche Zivilgesellschaft" überzieht leicht das
antiautoritäre Motiv und wird zu einem unverantwortlichen Angriff auf die
demokratischen Institutionen, insbesondere das Parteiensystem. Die wünschenswerte
Rückbesinnung auf den Staatsbürger entpuppt sich als ein demokratisches Hemmnis,
wenn sie sich naiv ohne institutionelle Vermittlung auf die Verteidigung des
autonomen und rationalen Individuums beschränkt. In diesem Fall wird das Lob des
(abstrakten) Staatsbürgers zur Apologie der Marktgesellschaft. Nicht nur das: setzt man
die Zivilgesellschaft dieser Art mit einer selbstregulierten Gesellschaft gleich, wäre die
autistische Selbstbezogenheit der Politik nur die Bestätigung, daß die politischen
Institutionen tatsächlich überflüssig sind.
Die neoliberale Zivilgesellschaft
Der zweite Bezugspunkt der Forderung nach einer starken Zivilgesellschaft ist die
eben erwähnte Marktgesellschaft. Auch hier finden wir das Überlappen von
widersprüchlichen Vorstellungen wieder. Nach einem neoliberalen
Interpretationsschlüssel heißt Stärkung der Zivilgesellschaft nichts anderes als Stärkung
der Marktgesellschaft. Eine Stärkung der zivilen Gesellschaft bedeutet demnach,
staatliche Entmündigung abzubauen und dem Bürger die Verfügungsgewalt über die
gesellschaftlichen Ziele und Mittel zurückzuerstatten; anstelle des Staates und ganz
allgemein der Politik soll kraft des freien Marktes jedes Individuum seine Präferenzen
und Strategien selbst bestimmen (was zum Teil zu einem absurden Sprachgebrauch führt,
etwa wenn Mario Vargas Llosa kürzlich in Chile die Übergabe der staatlichen
Kupferminen an die "Zivilgesellschaft" verlangt und damit also Zivilgesellschaft mit
Privatkapital identifiziert). Diese naivliberale Vorstellung identifiziert die
Marktgesellschaft mit einer selbstregulierten Gesellschaftsordnung. Damit verkennt sie
die desintegrativen Tendenzen des Marktes, auf deren Brisanz ich anfangs aufmerksam
gemacht habe. Dementsprechend beinhaltet die neoliberale Berufung auf die zivile
Gesellschaft keine Übernahme von Verantwortung für den Ausschluß breiter
Bevölkerungsschichten; mithin wird sie, in freier Abwandlung der athenischen Polis, auf
die ökonomisch aktive Bevölkerung beschränkt.
Doch gibt es auch eine andere Interpretation, die die Stärkung der Zivilgesellschaft
gerade umgekehrt der Expansion der Marktgesellschaft entgegen stellt. Angesichts der
dramatischen Auswirkungen des Marktes für das soziale Zusammenleben, wird die
Stärkung der zivilen Gesellschaft als Bewahrung der überkommenen Formen sozialer
Organisation und kollektiver Identität verstanden. Der Respekt vor der Tradition
übersieht dabei, daß die traditionellen Formen oft höchst autoritär geordnet sind und
selten jenen egalitären Gemeinschaftssinn besitzen, der nach Tocqueville den Humus der
nordamerikanischen Demokratie ausmachte.
Schließlich ist noch ein dritter Ansatz zu unterscheiden, der die Stärkung der
Zivilgesellschaft als Korrektiv der Marktgesellschaft versteht. Diese Perspektive beruht
auf den mit der sozialen Modernisierung verbundenen Differenzierungsprozessen und
sieht in der Reorganisation kollektiven Handelns das angemessene Gegenmittel, um die
unbeschränkte Ausbreitung von Staat und Markt zu bremsen. In der Tat findet in
Lateinamerika ein explosionsartiges Wachstum von NGOs und sozialen
Basisorganisationen statt, die bezüglich der je organisationsspezifischen issues
erfolgreich auf die sozialen und politischen Strukturen einwirken. Diese Entwicklung
darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Vermarktung der sozialen Beziehungen und
der ihr entsprechende egoistische Individualismus kollektivem Handeln, zumindest in
dieser Phase, klare Grenzen setzt. Der von der Privatisierung gezeichnete Zeitgeist läßt
die üblichen Aufrufe zur Solidarität als 'übernächtigte' Slogans erscheinen. Insofern
bezweifle ich, daß die neuen Sozialorganisationen über einen sektoriellen Einfluß hinaus
eine institutionelle Zähmung der Marktgesellschaft leisten können. Nichtdestotrotz
öffnen diese Bürgerinitiativen einen wichtigen Kommunikationskanal, um Interessen,
Meinungen und Alltagserfahrungen der Bürger in die politische Tagesordnung
einzubringen, die anderweitig nicht berücksichtigt würden. Daraus wird oft der
leichtfertige Schluß gezogen, die sozialen Organisationen könnten die politischen
Organisationen (Parteien) ersetzen. Dieser Anspruch ist unverantwortlich, insofern er
nicht anzugeben vermag, wie die Vielfalt von einseitigen Interessenvertretungen die
Integration einer zunehmend differenzierten Gesellschaft sichern sollen. In all den
genannten Fällen orientiert sich die Stärkung einer pluralistischen Zivilgesellschaft
letzlich am neoliberalen Leitbild einer spontan selbstorganisierten und regulierten
Gesellschaft.
Die leidenschaftliche Zivilgesellschaft
Zum Abschluß möchte ich einen dritten Bezugspunkt hervorheben. Hierfür komme
ich auf den soeben erwähnten Ansatz zurück, der die Zivilgesellschaft durch die
Entfaltung gesellschaftlicher Organisationen stärken will und eine dynamische
Vernetzung von sozialen und politischen Prozessen anstrebt. In diesem Ansatz kommt
meiner Meinung nach ein weiterer Bezugspunkt der "staatsbürgerlichen
Zivilgesellschaft" zum Ausdruck: der gegenwärtige Wandel sowohl der öffentlichen wie
der privaten Sphäre und das veränderte Verhältnis zwischen den beiden Bereichen. Die
Umstrukturierung ist in vollem Gange und ihre Konsequenzen sind noch nicht abzusehen.
Grob gesagt, kann man in Lateinamerika folgendes feststellen. Zum einen verliert die
ohnehin schwache Öffentlichkeit als jener Raum, in dem das Individuum als Staatsbürger
in Erscheinung tritt, weiter an Bedeutung. Heutzutage ist die Öffentlichkeit weniger
durch staatsbürgerliche Willensbildungsprozesse als durch die Zirkulation von Waren
gekennzeichnet. Der Markt wird zur dominanten öffentlichen Instanz in einem doppelten
Sinn. Die in allen Städten pilzartig sprießenden Einkaufszentren bilden die neuen
symbolischen Topoi, die dem schutz und hilflosen Bürger eine vertraute Umgebung und
Orientierungen bieten. Vor allem aber rückt die öffentliche Verantwortung des Marktes
(Konsumentenschutz, Qualitätskontrolle, Umweltschutz) in den Mittelpunkt.
Die Rolle des Marktes auf der öffentlichen Bühne hat zur Folge, daß das
Selbstverständnis des Staatsbürgers durch die Mentalität des Verbrauchers bestimmt
wird. Diesem neuen "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Habermas) entspricht eine
Umstrukturierung der Privatsphäre. Ähnlich wie in Europa wächst auch in Lateinamerika
in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren die Wertschätzung des Privatlebens, und es
breitet sich eine wahre "Kultur des Ego" aus. Das muß aber nicht notwendigerweise eine
Entpolitisierung bedeuten. Statt eines Rückzugs aus der Politik kann, im Gegenteil, eine
Politisierung des privaten Bereichs stattfinden. Gerade die Hinwendung zum Privatleben
fördert eine Entdeckung der politischen Dimension des Alltagslebens. Die
lateinamerikanische Frauenbewegung zeigt, wie bisher private und deswegen auch
unsichtbare Lebensbedingungen an die politische Öffentlichkeit gebracht werden. Es geht
tendenziell nicht mehr allein darum, daß "private" Unterschiede (Geschlecht, Hautfarbe,
Religion, usw.) nicht Motiv sozialer Diskriminierung sein sollen, sondern umgekehrt
darum, daß subjektive Bestimmungen (z.B. ethnische Identität oder kulturelle
Differenzen) ausdrücklich Teil des staatsbürgerlichen Selbstverständnisses werden.
Ich meine, dieses neue Bewußtsein ist weniger durch materielle Interessen als durch
einen Wandel der Subjektivität motiviert. Mit anderen Worten: Vermutlich stehen wir vor
einer Wiederentdeckung der "Leidenschaften" als einem wesentlichen Moment der
politischen Selbstbestimmung. Damit würde nicht nur die liberale Unterscheidung von
citoyen und bourgeois unterlaufen, sondern auch eine Neubestimmung der Demokratie
eingeleitet werden.
So wären wir wieder bei unserem Ausgangspunkt: Eine allein an makrosozialen
Strukturen (und an makroökonomischen Gleichgewichten) orientierte
Entwicklungspolitik ist letztlich realitätsfremd. Ihr Erfolg hängt in entscheidendem Maße
von der gesellschaftspolitischen Dynamik ab; insofern rückt die gegenwärtige Diskussion
über Entwicklungsstrategien zu Recht Institutionen in den Vordergrund. Die
Akzentverschiebung ist jedoch unzulänglich, solange sie die Frage nach dem Sinn der
institutionellen Ordnung ignoriert. Dagegen mag man einwenden, es bestehe die Gefahr
einer "Überfrachtung" (overload) der demokratischen Institutionen und Prozeduren. Die
Angst vor einem Ausbruch von Irrationalität ist, angesichts trauriger Erfahrungen, nicht
unberechtigt. Eben weil die Gefahr besteht, daß die Forderung nach einer sinnvollen
Ordnung undemokratisch manipuliert und vereinnahmt werden kann, sollte dieser
unliebsamen Frage größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Meiner Meinung nach
bedingt sie weitgehend die Auseinandersetzung um Staat und Zivilgesellschaft. Kurzum,
der Sinn der Demokratie, auch der lateinamerikanischen Demokratisierungsprozesse,
steht nicht ein für allemal fest, sondern wird immer neu bestimmt. Eben das ist, unter
anderem, das Anliegen einer demokratischen Politik.
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