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DIE PHÄNOMENOLOGIE
DER ERKENNTNIS
HUSSERLIANA
EDMUND HUSSERL
MATERIALIEN
BAND VII
EINFÜHRUNG IN
DIE PHÄNOMENOLOGIE
DER ERKENNTNIS
VORLESUNG 1909
EINFÜHRUNG IN
DIE PHÄNOMENOLOGIE
DER ERKENNTNIS
VORLESUNG 1909
HERAUSGEGEBEN VON
ELISABETH SCHUHMANN
A C.I.P. Catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
Published by Springer,
P.O. Box 17, 3300 AA Dordrecht, The Netherlands.
i. teil
Allgemeine Einführung.
Idee der Phänomenologie und ihre Methode
Gegensatz zwischen natürlicher und philosophischer Denkhaltung . . . . . 3
„Phänomene“ der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Vorgegebenheit der natürlichen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . 15
Philosophisches Niveau und philosophisches Denken . . . . . . . . . . . 21
Mathematik, reine Logik, reine Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Erkenntnisprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Die cartesianische Zweifelsbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Reelle und intentionale Analyse der Phänomene . . . . . . . . . . . . . 52
Rekapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Etablierung einer Wissenschaft vom reinen Bewusstsein . . . . . . . . . . 65
Rekapitulation des bisherigen Ganges der Vorlesungen . . . . . . . . . . 73
Fortsetzung: Etablierung der Phänomenologie als Wissenschaft vom reinen
Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Phänomenologie als Erste Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
ii. teil
Der vorliegende Band enthält den Text der zweistündigen Vorlesung, die
Edmund Husserl unter dem Titel „Einführung in die Phänomenologie der
Erkenntnis“ im Sommersemester 1909 in Göttingen gehalten hat.1 Husserl
hatte sich seit den Sommerferien 1907 mit dem „Problem der Bedeutung und
des analytischen Urteils“ auseinander gesetzt.2 Auf dieses Problem war er
inmitten des ersten Ausarbeitungsversuches seiner Vorlesung „Einführung
in die Logik und Erkenntniskritik“ vom Wintersemester 1906/073 gesto-
ßen. Aber trotz intensivster Beschäftigung mit der Bedeutungsproblematik,4
musste Husserl sich schließlich eingestehen, „dass ich noch immer keine
völlig klare innere Einheit all der Probleme besitze, reinlich auseinander
gelegt und geordnet und systematisiert“.5 Diese Einsicht findet auch ihren
Niederschlag in einem Brief vom 18. März 1909 an Paul Natorp, in dem
Husserl mitteilt: „Von mir ist in absehbarer Zeit keine Logik zu erwarten.“6
Stattdessen beschließt er, wieder zu den Grundproblemen seines philoso-
phischen Denkens zurückzugehen, das Verhältnis von „allgemeiner Phäno-
menologie und phänomenologischer Philosophie“7 zu überdenken und sich
dann in seiner 1909er Sommervorlesung „Einführung in die Phänomeno-
logie der Erkenntnis“ erneut damit zu beschäftigen. Also widmet er den
ersten Teil dieser Vorlesung der Darstellung der „Idee der Phänomenologie
und ihrer Methode“8 und kennzeichnet die Phänomenologie als „die im
strengsten Sinne Erste Philosophie“. Diese erneute Auseinandersetzung mit
1 Husserl hielt die Vorlesung mittwochs und samstags von 12–13h, die erste Vorlesungsstunde
in Husserliana XXVI) und der Vorlesung „Alte und neue Logik“ vom Wintersemester 1908/09
(veröffentlicht in Husserliana Materialien VI) versuchte Husserl, die Bedeutungsfrage zu klären.
5 F I 1/105b.
6 Edmund Husserl, Briefwechsel. In Verbindung mit E. Schuhmann herausgegeben von
„In der als ‚Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis‘ angekündigten Vorlesung des
Sommersemesters 1909“ nahmen „die Gedankengänge der Ideen zuerst in etwa die in diesem
Buch gewählte Gestalt der Darstellung“ an.
2 Diese Vorlesung ist veröffentlicht in Husserliana XXIV.
3 Diese Meinung vertritt Ullrich Melle in der „Einleitung des Herausgebers“, Husserliana
XXIV, S. XVIII. Sonach dürften die umfangreichen Randbemerkungen zum Text auf den
Blättern 10–12 von Ms. L II 14 der Vorlesung „Einführung in die Logik und Erkenntniskri-
tik“ von 1906/07 „um 1909 entstanden sein, möglicherweise im Zusammenhang mit seiner
Vorlesung ‚Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis‘“ (Husserliana XXIV, S. 492).
Laut Rudolf Boehm „liegt … der zweite Teil der Vorlesung ‚Einführung in die Logik und
Erkenntniskritik‘ von 1906/07 mit einigen Blättern noch in F I 17 und ferner in F I 7 vor“
(Husserliana X, S. 269), nämlich mit den Blättern F I 7/32–33 und 41–51 mit der Paginierung
„87“ bis „99“ (Husserliana X, S. 462). Diese Meinung übernimmt noch Ulrich Claesges, wenn
er sagt, dass „einzelne Blätter der Vorlesung von 1906/07 auch in den Konvoluten F I 7 und
F I 17“ liegen („Einleitung des Herausgebers“, Husserliana XVI, S. XIV, Anm. 6). Dies lässt
sich allerdings nicht bestätigen. Für das als „93“ paginierte Blatt F I 7/45 verwendete Husserl
eine „Einladung zu Doktor-Prüfungen“ vom 9. Juli 1909. Schriftbild und Schreibmaterial dieses
Blattes sind identisch mit den übrigen von Rudolf Boehm auf Anfang 1907 datierten Blättern,
und deren Schriftbild und Schreibmaterial sind wiederum identisch mit Blättern der Vorlesung
„Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis“ von 1909. Die Blätter F I 7/32–33 und
41–51 sind erstmals veröffentlicht in Husserliana X, S. 269–286.
4 Diese einleitenden Vorlesungen sind veröffentlicht in Husserliana II.
5 Diese Vorlesung ist veröffentlicht in Husserliana XVI.
6 Bezugnahmen auf den Text des vorliegenden Bandes werden im Folgenden nachgewiesen
mit der Jahreszahl 1909 versehen ist, „benutzt“, wohingegen er das als „25“ paginierte Blatt F
I 13/95 „nicht benutzt“ hat. – Beide Blätter sind veröffentlicht in Husserliana XVI, S. 45–48.
5 Wie Ulrich Claesges annimmt, ist diese Notiz sicher erst nach 1909 entstanden, als Husserl
„das Ms. F I 13 nach 1909 noch einmal gelesen und dabei das Fehlen des Blattes ‚30‘ festgestellt“
hat (Husserliana XVI, S. 389). Dagegen ist die andere Folgerung, die Claesges aus der Notiz
zieht, nämlich, Husserl hätte die Blätter der Vorlesung von 1907 schon vor 1909 paginiert, nicht
stichfest: könnte Husserl die Blätter doch erst 1909, als er sie zur Vorbereitung seiner 1909er
Sommervorlesung heranzog, paginiert haben.
6 Einige Beispiele für diese Übereinstimmungen: unten S. 111, Z. 23 – S. 112, Z. 23 (F I 7/9b)
– Husserliana XVI, S. 17, Z. 6 ff.; unten S. 120, Z. 19 – S. 122, Z. 9 (F I 7/15) – Husserliana XVI,
x einleitung der herausgeberin
Verbesserung“ dürfte Husserl 1909 im Zuge der Vorlesung „Einführung in die Phänomeno-
logie der Erkenntnis“ geschrieben und ihr beigelegt haben. Die Blätter sind veröffentlicht in
Husserliana XXIII als Text Nr. 8.
2 Edmund Husserl, Briefwechsel. Bd. IX: Familienbriefe, S. 282.
einleitung der herausgeberin xi
Geschäfte zur Not ausgeführt. Aber alles sonst habe ich liegen lassen.“1
Doch bildet diese Vorlesung die Grundlage für eigene Forschungen in den
Sommerferien2 und vor allem im darauf folgenden Herbst und Winter.3
Wie aus dem Datum „17. Januar 1912“ eines Göttinger Universitäts-
schreibens, das Husserl als Umschlag für die von „22“ bis „61“ (S. 32–99)
paginierten Blätter der Vorlesung „Einführung in die Phänomenologie der
Erkenntnis“ benutzte, ersichtlich ist, hat Husserl das Manuskript dieser Vor-
lesung 1912 wieder zur Hand genommen. Auch wenn sich keine entsprechen-
den Notizen und Randbemerkungen finden lassen, ist doch anzunehmen,
dass Husserl zumindest den ersten Teil der 1909er Vorlesung für seine im
Sommersemester 1912 gehaltene Vorlesung „Einleitung in die Phänomeno-
logie“, vermutlich aber auch in Hinblick auf seine „Ideen“4 durchgesehen
hat.
Wiederum dürfte Husserl die 1909er Vorlesung für seine Vorlesung „Aus-
gewählte phänomenologische Probleme (zur Einleitung in die Phänomeno-
logie)“ vom Sommer 1915 herangezogen haben. Jedenfalls trägt die Vorder-
seite des Umschlags F I 31/2, in dem die von „1“ bis „69“ paginierten Blätter
dieser Vorlesung liegen, die Notiz: „Vgl. dazu die Parallelvorlesung vom Jahr
1909“.
Ein mit dem Datum „22.6.21“ versehener Brief der Verlagsbuchhandlung
Felix Meiner, den Husserl als Umschlag für die von „1“ bis „21“ paginierten
Blätter des Vorlesungsmanuskripts von 1909 benutzte, legt die Vermutung
nahe, dass Husserl dieses Manuskript auch zu dieser Zeit, in Zusammenhang
mit seinem geplanten „Grundwerk der Phänomenologie“,5 wieder gelesen
1 A.a.O., S. 45 f.
2 In den Sommerferien 1909 entstehen, wohl im Anschluss an die Wahrnehmungsanalysen der
Sommervorlesung Blätter über Wahrnehmung (vgl. Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk-
und Lebensweg Edmund Husserls, Den Haag 1977, S. 128 f.).
3 Trotz des für eigene Forschungsarbeit verlorenen Sommers „bietet ihm diese erneute Dis-
Organ (Jahrbücher für Philosophie und phänomenologische Forschung …) zu begründen und
vom Herbst d.J. ab in demselben der Reihe nach die Ergebnisse meiner Studien des letzten
Jahrzehnts zu publiciren. Am ersten Stück = ‚Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch‘ schreibe ich jetzt eifrig“ (Edmund Husserl,
Briefwechsel, Bd. III: Die Göttinger Schule, S. 160).
5 Am 25. November 1921 schreibt Husserl an Roman Ingarden: „Ich arbeite jetzt seit einigen
xii einleitung der herausgeberin
haben dürfte. Wahrscheinlich hat er bei dieser Gelegenheit auch die erst nach
der Vorlesung von 1909 entstandenen Blätter F I 17/43–44 S. 84, Anm. 1) in
das Manuskript eingelegt.
*
Husserl hat den Text der Vorlesung „Einführung in die Phänomenologie
der Erkenntnis“ während des laufenden Semesters mit Tinte in Gabelsberger
Stenographie auf in der Mitte gefaltete Blätter niedergeschrieben. Neben
Streichungen, Veränderungen, Hinzufügungen und Randbemerkungen, die
Husserl mit dem für die Niederschrift verwendeten Schreibmittel vorgenom-
men hat – die also so gut wie sicher gleichzeitig mit der Niederschrift ent-
standen sein dürften –, weist das Vorlesungsmanuskript auch Streichungen,
Veränderungen, Einfügungen und Randbemerkungen mit Bleistift, Blau-
stift und Rotstift auf, die noch während des laufenden Semesters, z.B. bei
der Vorbereitung der nächsten Vorlesungsstunde oder beim nochmaligen
Durchlesen des Textes kurz vor einer Vorlesungsstunde, aber auch nach
Ablauf des Semesters und in späteren Jahren vorgenommen sein können.1
Außer der groben Einteilung in einen ersten und zweiten Teil hat Husserl den
Text der Vorlesung weder durch Überschriften noch nach einzelnen Vorle-
sungen gegliedert. Nur an einigen wenigen Stellen hat er den Text am Rand
mit inhaltlichen Hinweisen versehen, die aber allesamt aus späterer Zeit
stammen dürften. Allerdings hat Husserl die Blätter mit Bleistift paginiert.2
Monaten meine allzu großen Msc. durch und plane ein großes systematisches Werk, das von
unten aufbauend als Grundwerk der Phänomenologie dienen könnte“ (Edmund Husserl,
Briefwechsel, Bd. III: Die Göttinger Schule, S. 213).
1 Beispiel: Die Notiz mit Blaustift „Pfingstferien“, die Datumsangabe mit Bleistift „26/5
09“ auf Blatt F I 17/32b (S. 72, Z. 29 – S. 73, Z. 6) und die Randbemerkung mit Bleistift
„Wiederholung“ auf dem folgenden Blatt stammen ebenso wie einige mit Bleistift gestrichene
und durch einen anderen Text ersetzte Textstücke aus der Zeit der Niederschrift, wohingegen
die Nullen mit Blaustift auf Blatt F I 7/59 (S. 175, Z. 1 – S. 176, Z. 23) eindeutig aus späterer Zeit
stammen – Husserl hat den Text des Blattes 1909 gelesen, wie ein späterer Verweis auf diesen
Text zeigt –, wie auch die Bleistifteinfügung „scil. nach dem Obigen ontisch und phansisch“ auf
Blatt F I 7/9a (S. 110, Z. 22 – S. 111, Z. 21) späteren Datums sein muss: Vorher war in der 1909er
Vorlesung von diesem Unterschied nicht die Rede (lediglich auf Blatt F I 17/26b (S. 64, Z. 33 –
S. 65, Z. 26) wurde angekündigt, die Ausdrücke „Phansis“ und „phansiologische Analyse“ zu
gebrauchen).
2 Unsicher ist, wann Husserl die Vorlesung paginiert hat. Für eine Paginierung gleich beim
Niederschreiben des Textes könnte das als „11–12“ paginierte Blatt F I 18/14 (S. 18, Z. 12 –
S. 19, Z. 23) sprechen: Die Blätter der folgenden Vorlesung könnten schon paginiert gewesen
sein, als Husserl die beiden ursprünglichen, wohl weggeworfenen Blätter „11“ und „12“ durch
das eine Blatt „11–12“ ersetzte. Auch das als „ad 16“ paginierte Blatt F I 18/19 (S. 27, Z. 17 –
S. 28, Z. 3) könnte auf eine Paginierung während des laufenden Semesters hinweisen, falls es,
wie aber angenommen werden dürfte, 1909 entstanden ist. Gegen eine Paginierung während des
einleitung der herausgeberin xiii
Das Manuskript des ersten Teils der Vorlesung befindet sich in den Kon-
voluten F I 18 und F I 17. Das Konvolut F I 18 enthält 25 Blätter. Blatt 1
und Blatt 25 bilden einen Umschlag, in den Husserl die von „1“ bis „21“
paginierten Blätter der Vorlesung (S. 3, Z. 4 – S. 32, Z. 22) gelegt hat. Für
den Umschlag hat Husserl den oben schon erwähnten an ihn gerichteten
Brief der Verlagsbuchhandlung Felix Meiner vom 22. Juni 1921 verwendet.
Die Vorderseite des Umschlags trägt die Blaustiftaufschrift: „Vorlesungen
S/S 1909. Inhaltsverzeichnis Innenblatt: Phänomenologie als ‚Erste Philoso-
phie‘. ‚Phänomene‘ der Phänomenologie. VorgegebeV nheit der natürlichen
Erkenntnis. Absolute Erkenntnis.“ Dieses Innenblatt hat Husserl zusammen
mit einem Blatt, F I 18/3, auf das er Überlegungen zur Vorlesung notierte,
vor die Vorlesungsblätter in den Umschlag gelegt. Auf das „Innenblatt“
schrieb Husserl mit Bleistift: „Phänomenologie als Erste Philosophie 57 f.
‚Phänomene‘ der Phänomenologie 6 ff. Vorgegebenheit in der natürlichen
Erkenntnis 9 ff. Absolute Erkenntnis 14 ff. Logik 13, 19, 22.“ Die Rückseite
dieses Blattes ist auf S. 8, Anm. 1, das Blatt F I 18/3 auf S. 3, Anm. 1 veröffent-
licht. Auf das als „1“ paginierte Blatt F I 18/4 notierte Husserl mit Bleistift:
„Zuerst die Rekapitulation lesen, 48a, und als Leitfaden benutzen“.1 Für
das als „8“ paginierte Blatt F I 18/11 (S. 14, Z. 25 – S. 15, Z. 12) verwendete
Husserl ein Fakultätsschreiben vom 24. April 1909, für das als „21“ paginierte
Blatt F I 18/24 (S. 32, Z. 12–22) eine „Einladung zu Doktor-Prüfungen“ vom
12. Mai 1909.
Die Blätter „22“ bis „61“ (S. 32, Z. 24 – S. 99, Z. 36) liegen in Konvolut
F I 17. Dieses Konvolut umfasst 56 Blätter, von denen die Blätter 1 und
56 einen Gesamtumschlag bilden, der nur die Aufschrift „F I 17“ trägt.
Die Aufschrift mit Blaustift auf der Vorderseite des aus dem schon erwähn-
ten Universitätsschreiben vom 17. Januar 1912 bestehenden Umschlags F I
17/2 + 55 lautet: „Allgemeine Einführung. Idee der Phänomenologie und ihre
Methode. 1909. Vgl. das Gleichnis von der dunklen Höhle in Anwendung auf
die Schwierigkeiten der Phänomenologie p. 100 (im nächsten Pack). I. Teil
der Einführung in die Phänomenologie, Sommersemester 1909. Sehr wertvoll
sind noch immer die verschiedenen Ausführungen von September 1908 und
laufenden Semesters aber könnte z.B. sprechen, dass die Blätter F I 17/33–38 (S. 73, Z. 7 – S. 81,
Z. 11), die „Rekapitulation des bisherigen Ganges der Vorlesungen“ nach den Pfingstferien, um
sie besonders kenntlich zu machen, mit Blaustift von „48a“ bis „48f“, also nicht durchlaufend
paginiert sind.
1 Diese Notiz könnte auf die Benutzung der 1909er Vorlesung in den Jahren 1912 oder 1915
hinweisen.
xiv einleitung der herausgeberin
1 Die Blätter Aσ vom September 1907 liegen als die Blätter 27–31 in Konvolut B II 1. Sie sind
veröffentlicht in Husserliana XXIV, S. 424–430. Zu Blättern vom September 1908 siehe Karl
Schuhmann, Husserl-Chronik, S. 118 f.
2 Im Manuskript irrig „1909/10“. Wie dem Text zu entnehmen ist, handelt es sich um die
später paginiert wurde und die Rekapitulation besonders hervorgehoben werden sollte. – Diese
Blätter F I 17 33–38 sind zusammen mit den ihnen voraufgehenden Blättern F I 17/26–32 (S. 64,
Z. 8 – S. 80, Z. 28) veröffentlicht in Husserliana X, S. 335–353.
einleitung der herausgeberin xv
1 Über das ganze Manuskript F I 7 verstreut finden sich von der Hand Edith Steins Randtitel,
ebenso wie Zahlenangaben, die sich auf das Inhaltsverzeichnis der großen Manuskriptzu-
sammenstellung von Edith Stein beziehen, das in Husserliana XXIII, S. 602–611 abgedruckt
ist.
2 Dieses Blatt ist erstmals veröffentlicht in Husserliana XVI, S. 56, Z. 5 – S. 58, Z. 6.
xvi einleitung der herausgeberin
trägt die Bleistiftpaginierung „29“.1 Das unpaginierte Blatt F I 7/36 (S. 143,
Z. 4 – S. 144, Z. 4) enthält Notizen „zu Müller“.2 Ebenfalls unpaginiert
ist Blatt F I 7/37 (S. 144, Z. 5–14) mit der Notiz „Abschrift eines alten
Blattes“ und dem Randtitel mit Blaustift „Akte in der Einbildung“. F I
7/38 (S. 144, Z. 20 – S. 146, Z. 5), ein altes als „1“ paginiertes Blatt, trägt die
Bemerkung mit Blaustift: „Von neuem zu studieren und für die systematische
Ausarbeitung neu zu bearbeiten. Gut.“3 Die Blätter F I 7/39 und 40 (S. 146,
Z. 6 – S. 148, Z. 26)4 tragen Husserls Paginierung mit Bleistift „1“ und „2“
und den Vermerk mit Bleistift: „Abschrift und Verbesserung“. Schließlich
hat Husserl noch zwei nicht paginierte Blätter, F I 7/71 und 72 (S. 189, Z. 8 –
S. 190, Z. 8), in den doppelten Briefbogen eingelegt.
*
Husserl hat die Vorlesung „Einführung in die Phänomenologie der Er-
kenntnis“ weder im Ganzen umgearbeitet noch in einem späteren Semester
in veränderter Form noch einmal vorgetragen. Da also von keiner Gesamtbe-
arbeitung gesprochen werden kann, wird der in diesem Band veröffentlichte
Vorlesungstext nicht in Letztfassung geboten, vielmehr wurde versucht, den
ursprünglichen Vorlesungstext weitgehend zu rekonstruieren. Dementspre-
chend wurden später gestrichene Textstücke im Text belassen und diese
Streichungen nur in den Fußnoten angegeben. Spätere Textveränderungen
T
und Hinzufügungen werden in Fußnoten gebracht. Da nicht bei allen Beila-
gen zum Vorlesungstext zu entscheiden war, wann sie entstanden sind und
1 Dieses Blatt ist erstmals veröffentlicht in Husserliana III, 2, S. 550, Z. 23 – S. 551, Z. 39. Laut
Karl Schuhmann gehörte das Blatt zu dem ursprünglich 40 Blätter zählenden Tintenmanuskript,
das Husserl um Juli 1912 als Vorarbeit zu den Ideen I niedergeschrieben hat. Außer Blatt F I 7/35
sind nur noch einige wenige Blätter vorhanden. (Siehe dazu Karl Schuhmann, Reine Phänome-
nologie und phänomenologische Philosophie, Den Haag 1973, S. 93 f.) Es kann angenommen
werden, dass das Blatt schon vor 1909 entstanden ist und Husserl es 1912 in das Tintenmanu-
skript aufgenommen und später wieder unter die Blätter des Vorlesungsmanuskripts von 1909
zurückgelegt hat. Die Bleistiftüberarbeitung könnte somit 1912, wahrscheinlich aber dürfte sie
1909 vorgenommen worden sein.
2 Dabei handelt es sich um G. E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor-
stellungsverlaufes, Leipzig 1911–1913. Wie diese Jahreszahlen zeigen, ist das Blatt nach 1913
geschrieben, wie auch der Gebrauch der Terminologie der 1913 entstandenen Ideen I (Noema,
volles Noema, Satz, noetisch) beweist.
3 Zu diesem Blatt gehören das als „zu 1“ paginierte Blatt A VI 11 II/79 und das als „2“
Z. 20.
einleitung der herausgeberin xvii
1 Auch die erst nach 1913 hinzugelegte Beilage „zu Müller“ ist zusammen mit den anderen
an dieser Stelle des Manuskripts liegenden Beilagen abgedruckt (S. 143, Z. 4 – S. 144, Z. 4) Sie
erhielt aber einen entsprechenden Vermerk in den Fußnoten.
xviii einleitung der herausgeberin
Elisabeth Schuhmann
EINFÜHRUNG IN DIE
PHÄNOMENOLOGIE DER ERKENNTNIS
VORLESUNG 1909
I. TEIL
halluzinieren oder nicht immer gerade da, wo wir etwas als vorgegeben hingenommen haben?
Versuchen wir es also mit dem universellen Zweifel. Der Zweifel sicher nicht überall widersinnig.
Äußere Wahrnehmung. Eine Klasse von Gegebenheiten aber, wo der Zweifel in der Tat wider-
sinnig ist: das Sein der cogitationes in der Reflexion. Erkenntnisprinzip der Zweifellosigkeit des
„Seins“ der Cogitationen. Vgl. dazu Konvolut „Evidenz“ mit sehr wichtigen Ausführungen. Der
Text ab Bietet sich da nicht eine Fülle von Schwierigkeiten wurde später bis hierher gestrichen.
Bei dem Konvolut „Evidenz“ handelt es sich um Ms. A I 4.
Worin die Schwierigkeit der „Vorgegebenheit“ hier besteht.
Muss ich nicht gleich übergehen zu der Frage: Wie kann Erfahrung, d. i. eine Wahrnehmung
und Erinnerung oder ein Komplex solcher (solange ich noch nicht weiß, absolute Sicherheit
habe, dass „Dinge“ existieren), über sich hinaus, wie kann sie, die doch etwas anderes ist als
Dinge und doch Ding weder selbst ist noch es reell enthält, reell „fasst“, das Sein von Dingen
gewiss machen? Charakter der Evidenz? Evidenz der Gewissheit? Oder auch Charakter der
„berechtigten“ Wahrscheinlichkeit? Aber was soll so eine Marke leisten?
natürliche und philosophische denkhaltung 5
Nun, denken Sie etwa an die Probleme der Natur der Fixsterne und an die
Spektralanalyse, welche allein dazu berufen ist – mindest bisher die einzigen
methodischen Möglichkeiten darbietet –, diese Probleme wissenschaftlich
anzufassen. Wird man sagen, die Spektralanalyse gehöre schon dem Alter-
tum an, weil ja die Alten sich schon viel um das Problem der Natur des
Fixsternhimmels bemüht haben?
Ich gestehe, dass das Gleichnis nicht in jeder Hinsicht stimmt. Diese
Fixsternspekulationen der Alten wird niemand auf eine Stufe stellen mit
den erkenntnistheoretischen Spekulationen derselben und gar mit denen
der Neuzeit vor Etablierung der Phänomenologie. Es bleibt aber genug als
tertium comparationis übrig. So wie eine Spektralanalyse erst da sein und
wissenschaftlich schon sehr weit ausgebildet sein muss, um die Himmels-
probleme angreifen und fördern zu können, und so wie sie anfangen und
fortschreiten konnte, ohne an diese Probleme zu denken, so verhält es sich
auch mit der Phänomenologie in Relation zu jenen uralten Rätselfragen des
philosophischen Fixsternhimmels. Beiderseits kann eine Erwägung der Wege
möglicher Problemlösung zu den lösenden Disziplinen führen. Da wir die
Fixsternwelten allein durch ihr sichtbares Licht wahrnehmen, so bietet das
Studium der Optik einzig verständliche Möglichkeiten, über die Natur dieser
Welten etwas Wissenschaftliches zu erfahren. So kann auch ein analytisches
Studium der vernunfttheoretischen Probleme und der Bedingungen ihrer
Lösbarkeit auf die sie lösende Optik führen, nämlich auf die Etablierung ei-
ner Phänomenologie. Aber so ist man nicht verfahren. Man spekulierte über
die Endprobleme selbst und gewissermaßen von oben her, man sah nicht,
dass man in dem uns allein zugänglichen Unten allererst forschen müsste
und dass hier ein weites Feld mit den vernunfttheoretischen Problemen
wesensverwandter und miteinander verflochtener Probleme vorliege, die nur
insgesamt und in ihrer natürlichen Ordnung behandelt werden müssen.
Insoweit ist die Analogie also triftig und recht erleuchtend. Andererseits
liegen die Sachen beiderseits aber sehr verschieden in der Hinsicht, dass
erkenntnistheoretische, oder besser vernunfttheoretische, nicht die natür-
liche Verständlichkeit und Eindeutigkeit physischer Probleme haben. Ihre
Vermengung mit metaphysischen, naturwissenschaftlichen, speziell psycho-
logischen Problemen geht durch die Jahrtausende. Sie war die notwendige
Folge der uns allen ursprünglich eigenen natürlichen Denkhaltung gegenüber
jener neuen durchaus künstlichen, aber spezifisch philosophischen Denk-
haltung der Phänomenologie. Der Weg der Entwicklung war hier der: Es
musste erst auf dem Wege der Kritik, im Kampf miteinander streitender
Erkenntnistheorien eine scharfe, aber in ihrer Äußerlichkeit unvollkommene
natürliche und philosophische denkhaltung 7
1 Gestrichen wie sie ja auch der Durchschnittsprediger im Bau seiner Predigten übt.
2 Gestrichen Und wer wollte denn a priori ausmachen, dass gerade bei ihr von wirklich festen,
8 allgemeine einführung
will noch immer jeder Philosoph sein philosophisches „System“ haben, auf
alle philosophischen Zielprobleme will er eine Antwort, kurz, er will den
Stein der Weisen haben. Freilich, warum widmet man sich der Philosophie?
Zunächst doch nicht, um wie in einem sonstigen Fach etwas zu „leisten“ und
am Ende Professor zu werden. Die Not des Lebens, das Rätsel des Daseins,
an dem der δσκολος so sehr leidet, treibt zur Philosophie, und das Leben
fordert eine Antwort. Die Antwort aber muss für den intellektuell Gebil-
deten so etwas wie wissenschaftliche Form haben, genannt eben System.
Der erlösungsbedürftige Grieche sehnte sich nach erlösender Metaphysik,
nach Religion, er wollte Religion. Aber er, der in griechischer Wissenschaft
Erzogene, konnte sie nur annehmen in den Formen einer Philosophie, ge-
nannt Dogmatik. Die meisten Philosophien sind von eben dieser Art. Eine
jede ist eigentlich die Dogmatik eines Glaubens, eines ganz persönlichen
Glaubens, der so genannten Weltanschauung des Philosophen. Das alles sei
in seiner Schönheit in seinem Recht, in seiner Leben spannenden und Leben
veredelnden Kraft anerkannt. Aber dürfen wir nicht und müssen wir nicht
auch Philosophie als Wissenschaft gelten lassen, sind wir nicht berechtigt, von
ihrem Werden und Wachsen Großes zu erhoffen, wenn nicht für unsere per-
sönliche Lebensbefriedigung, für unsere persönliche Erlösung, für uns, die
wir hier und jetzt in dieser Zeit leben, so für die künftige Menschheit? Man
ruft nach einer Philosophie als Tat, nach einer Philosophie als Lebensmacht.
Könnte nicht eine Philosophie als Wissenschaft der künftigen Menschheit
edlere und höhere Lebensmöglichkeiten eröffnen, die unser Opfer an Mühen
und Entsagungen lohnen möchten? Ja, muss es nicht so sein?1
Sie sind vielleicht erstaunt. Ich verteidige die Philosophie als Wissen-
schaft. Diejenigen unter Ihnen, die sich in dem Geistesleben unserer Zeit
umgetan haben, werden wohl wissen, dass es an Anlässen dazu nicht fehlt.
Die große Umwendung, die im letzten Jahrzehnt erfolgt ist, die neue, immer
stärker anwachsende Sehnsucht nach Weltanschauung, Religion, nach einem
streng gesicherten Fundamenten aus nicht ein gradus ad Parnassum und in infinitum zu immer
herrlicheren Zielpunkten unmöglich sein werde? Freilich heißt es für den Anfang bescheiden
sein.
1 Philosophie der Tat. Philosophie als Lebensmacht. Philosophie als Wissenschaft. Lebens-
möglichkeiten eröffnend. Sehnsucht nach Weltanschauung und nach Religion. Armselige Ka-
thederphilosophie. Wir brauchen eine Philosophie, die dem tiefsten Lebenswillen unserer Zeit,
ihren Idealen, ihren Hoffnungen und Strebungen einen konkreten Ausdruck verschafft, eine
Philosophie, die, aus reichstem persönlichem Leben erwachsen, gleichgestimmtes Leben zu
erwecken, zu stärken, zu entfalten vermag. Schöpferische Leistung einer Persönlichkeit, welche
in großer Weise alle herrschenden Tendenzen
T der Zeit konzentriert. Literarische Schöpfung,
Kunstwerke. Erhabenheit und Würde der reinen εωρα. Was sie festgestellt hat, ein unver-
rückbarer Eckpunkt für alle künftigen Weltanschauungen.
natürliche und philosophische denkhaltung 9
1 Randbemerkung (später) Vgl. nachher ausgeführt, und sehr viel besser, in „Die Philosophie
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Mit Phänomenen soll
es die Phänomenologie zu tun haben. Was sind das also für Phänomene? Man hört oft genug die
Naturwissenschaften als Wissenschaften von Phänomenen bezeichnen. Die physische Naturwis-
senschaft sei Wissenschaft von physischen, die Psychologie Wissenschaft von den psychischen
Phänomenen. Es sind also Naturobjekte, Dinge, V Vorgänge, dingliche Eigenschaften, psychische
Akte und Zustände Phänomene genannt. Sind das die Objekte der Phänomenologie? Nun, in
gewisser Weise bezieht sich phänomenologische Erkenntnis sicherlich mit auf all diese Sachen.
Es entspricht das der bildlichen Rede von einer neuen Dimension. Wenn natürlich auch nicht
in wörtlichem Sinn jedes natürliche Ding eine übernatürliche Dimension hat, als ob ihm als
physischen Ding, genau als demselben, das der Naturforscher erforscht, noch eine Gruppe von
Eigenschaften zukäme, welche die Phänomenologie erforscht; etwa so, wie das physikalische
Ding, das wir menschlichen Leib nennen, eine nichtphysische Klasse von Eigenschaften hat,
die wir mit den Worten bezeichnen: An einen Leib ist Bewusstsein geknüpft, er ist „Reizen“
zugänglich, die Empfindung und weitere psychische Vorgänge auslösen. Nein. Das physische
Ding und alle seine physischen Eigenschaften und ebenso all das, was wir in psychologischer
Beziehung Subjekt und psychische Zustände des Subjekts nennen, hat seine Naturwirklichkeit
und wird in dieser einzig und allein von den physischen und psychologischen Naturwissenschaf-
ten studiert. Andererseits konstituieren sich Dinglichkeiten jeder Art, konstituiert sich alles
natürliche Dasein im Bewusstsein, es wird etwa wahrgenommen, vorgestellt, erinnert, erwartet,
es wird im urteilenden Denken gesetzt usw. Es erscheint, es ist Gedachtes, Bedeutetes. Und es ist
nur als so und so Erscheinendes, als so und so Gedachtes, Bedeutetes gegeben. Zunächst meint
man etwa, die Beziehung zwischen Natursein und Bewusstsein in Form jener verschiedenen
modi cogitandi sei etwas Zufälliges.
12 allgemeine einführung
haltung als da seiend Geltende und von uns in seinem Dasein singulär oder generell nach seinen
Elementen, Eigenschaften, Gesetzlichkeiten Bestimmte, in Beziehung setzen zum Erkennen
und so in Beziehung setzen zur es theoretisch bestimmenden Wissenschaft?
„phänomene“ der phänomenologie 13
1 Gestrichen Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, Erkennen ist Erkennen von einem Ge-
genstand, Werten ist Wertbewusstsein von einem Werte bzw. von einem bewerteten Gegenstand.
Nun kann z.B. Erkennen sich wieder auf ein Erkennen als Gegenstand richten, wie z.B. wenn
14 allgemeine einführung
seiner Möglichkeit nach voraus, dass es Erkenntnis von anderem als Bewusst-
sein gibt, wie z.B. Erkenntnis von Dingen. Solche Erkenntnisse, wie schlichte
Dingwahrnehmungen, Dingvorstellungen u.dgl., haben einen natürlichen
Vorrang. Erst wenn sie vollzogen sind, kann eine Reflexion einsetzen, und
erst durch solche Reflexion kommt Bewusstsein selbst zur Gegebenheit, d. h.
es wird Gegenständlichkeit der Erkenntnis. Natürlich setzt also die Psycholo-
gie als Wissenschaft vom Bewusstsein (von all den Erlebnissen, die wir unter
den Titeln „Erkennen“ und „Werten“ befassen) diese Reflexion voraus.
Was ändert das aber daran, dass auch Psychologie Naturwissenschaft ist?
Wenn wir dann weiter Gegenstände und ihre Erkenntnis in ihren Relationen
erforschen, so ist wieder nicht abzusehen, was das anderes ergeben solle
als wieder Naturwissenschaft. Bewegen wir uns in einer Sphäre primärer
Erfahrung, schlichter Dingerfahrung, so treiben wir ausschließlich physische
Naturerkenntnis. Studieren wir in der Stellung der Reflexion Psychisches, so
treiben wir reine Psychologie. Da die Welt aber, wie Erfahrung lehrt, nicht in
getrennte Welten zerfällt, so laufen die Fäden auch von physischer Natur zu
psychischer Naturerkenntnis hinüber und herüber. Wir sprechen daher von
Psychophysik. Die Beziehungen etwa zwischen physischen Gegenständen
überhaupt und irgendwelchen sie erkennenden Akten werden natürlich der
Psychophysik zugehören. Die Beziehungen zwischen psychischen Akten und
den sie erkennenden Akten als Beziehungen zwischen Psychischem und Psy-
chischem werden wesentlich der Psychologie zugehören. Also immer stehen
wir in der naturwissenschaftlichen Sphäre, und es ist gar nicht abzusehen,
wie wir herauskommen sollten.
Das alles ist zweifellos, es ist also sicher, dass, wenn wir unter Reflexion
psychologische Wahrnehmung verstehen,1 wir die Sphäre der Naturbetrach-
tung nicht verlassen haben, sondern nur von Naturerkenntnis zu Naturer-
kenntnis, von ersten Naturobjekten erkennend zu neuen auf sie bezogenen
Naturobjekten fortgeschritten sind. Ich gehe etwa in psychologischer Absicht
von der Betrachtung eines Dinges zur Betrachtung der Wahrnehmung eines
Dinges über. Was habe ich da als Psychologe getan? Nun, ich habe eine neue
Wahrnehmung, darin liegt: eine neue Seinssetzung, vollzogen. Ich sage, diese
wir über Erkenntnis Aussagen machen. Aber endlich und schließlich muss es ein Erkennen
geben, das nicht auf ein Erkennen, überhaupt nicht auf ein Bewusstsein gerichtet ist.
1 Gestrichen oder diejenige reflektierende Betrachtung, Auffassung und Seinssetzung, die uns
jederlei intentionale Erlebnisse als Gegenständlichkeiten unserer psychischen Natur, als unsere
psychischen Akte oder Zustände ergibt, eingeordnet unserem, dieses erlebenden Menschen,
Seelenleben, und damit eingeordnet der Gesamtnatur: Ich sage, dass wir dann die Sphäre der
Natur nicht überschritten.
vorgegebenheit der natürlichen erkenntnis 15
Wahrnehmung, die meine, die jetzt von mir vollzogen ist, und dieses Jetzt
ist dasjenige, das ich mit der Uhr und sonstigen Zeit messenden Apparaten
bestimmen kann. Jetzt schwanken diese Bäume im Wind, und gleichzeitig, in
demselben Jetzt, ist diese Wahrnehmung von mir vollzogen oder erlebe ich
sonst ein Bewusstsein, das ich reflektiv in innerer Wahrnehmung erfasse. Und
jedes so wahrgenommene Psychische bestimmt sich durch seine Beziehung
zu mir, der ich es habe; und ich, der es Habende, stehe mit meinem Leib
in der physischen Natur, in der sich noch andere Leiber befinden, die ich
als Menschen- und Tierleiber auffasse, denen ich dabei ein nicht direkt
wahrgenommenes Bewusstsein einlege; und so steht alles Psychische von
vornherein für mich und jeden Erkennenden innerhalb der einen Allnatur,
in der, es zu erforschen, Aufgabe der Psychologie ist.
eröffnen soll, aber keine Natur, das scheint keinen Sinn zu ergeben, zumal
wenn dieses Feld gewissermaßen durch alle Natur hindurchgehen soll. Die
psychologische Reflexion fasst das Psychische, den oder jenen psychischen
Akt, das oder jenes intentionale Erlebnis. Was kann alle Beschneidung
oder Eingrenzung jener Reflexion ändern? Das Erlebnis bleibt Erlebnis,
Bestandstück der psychischen Natur, und wird etwas weggeschnitten, nun,
auch jedes Stück von Psychischem ist wieder Psychisches. Oder ist es etwa
gar auf eine mystische intuitio intellectualis abgesehen? Dafür sind wir aber
nicht zu haben.
Mit solchen Bedenken erweisen sich, wie Sie bald einsehen dürften, nur
die Schranken der natürlichen Denkeinstellung. Charakterisieren wir diese
näher. In unseren natürlichen Erkenntnisbetätigungen lebend (mögen es
nun wissenschaftliche oder vorwissenschaftliche sein) und auf Befriedigung
der uns leitenden Erkenntnisintentionen eingestellt, liegt die Frage nach
der transzendentalen Möglichkeit der Erkenntnis uns gänzlich fern. In der
natürlichen Denkhaltung nehmen wir wahr, urteilen, theoretisieren wir, und
da stehen von Anfang an und immerfort Wirklichkeiten als gegeben uns vor
Augen. Vorgegebene Wirklichkeiten näher zu bestimmen oder in Relation
zu vorgegebenen Wirklichkeiten andere Wirklichkeiten zu setzen und dann
weiter prädikativ zu bestimmen oder schon gesetzte und näher bestimmte
Wirklichkeiten als Scheinwirklichkeiten aufzuheben (etwa als Halluzinatio-
nen, als abergläubische Vorstellungen u.dgl.), aber aufzuheben vermöge des
Einspruchs, den die vorgegebene Wirklichkeit durch ihren erfahrungsmäßig
gesetzten Gehalt erhebt: das ist der Lauf des natürlichen und auch naturwis-
senschaftlichen Denkens. Ohne vorgegebene Wirklichkeit, wie sie letztlich
in unmittelbarer Erfahrung zur Vorgegebenheit kommt, ist da keine weitere
Wirklichkeit zu erkennen. Natürliche Erkenntnis fängt ja nicht damit an, pro-
blematisch anzusetzen, ob überhaupt eine Wirklichkeit sei, um sich dann erst
zu entscheiden, sondern sie fängt mit der Thesis von Wirklichkeit an. Wieweit
wir auch zurückgehen mögen, immer ist schon „Wirklichkeit da“. Jede natür-
liche Frage lautet: „Was ist das?“, nämlich in Hinblick auf schon als wirklich
Gesetztes. Oder sie lautet: „Ist das hier, nämlich in dieser meiner wirklichen
Umgebung, unter diesen wirklichen Dingen sich als Wirkliches Gebende in
der Tat auch ein Wirkliches?“ Also auch die Frage „Ist das wirklich?“ ist
nie und nirgends die Frage nach dem Sein von Wirklichkeit überhaupt. Dies
gilt offenbar auch für die Anfänge, ich meine für die allerersten Schritte der
Naturwissenschaft. Sie will freilich nichts weniger, als die Meinungen des
gewöhnlichen Lebens über die Natur als vorgegeben hinnehmen. Wie Natur
in Wahrheit ist, will sie allererst bestimmen. Andererseits ist auch für sie die
vorgegebenheit der natürlichen erkenntnis 17
Wirklichkeit der Natur eine Vorgegebenheit. Die Natur ist für den Naturfor-
scher von vornherein da, und von vornherein als die volle psychophysische
Wirklichkeit. Sich selbst setzt der naturwissenschaftlich Erkennende, ohne
dies gerade expressis verbis zu sagen, sich, das psychische Subjekt, mit seinem
Leib und seinen Bewusstseinserlebnissen, und er setzt sich in leiblicher Hin-
sicht in eine Umgebung von Dingen, eine Umgebung, die mit dem Rahmen
der faktischen Wahrnehmung nicht abschneidet, sondern sich ausweitet zur
endlosen Natur. Und diese Natur ist die eine einzige räumlich-zeitliche Welt,
die von allen mitgesetzten Erkennenden als die eine und selbe gesetzt ist.
Uns in dieser allgemein vorgegebenen Natur wissenschaftlich zu orientieren,
sie durch wissenschaftliche Methode erkenntnismäßig zu beherrschen, das
ist die naturwissenschaftliche Aufgabe.
Alle naturwissenschaftlichen Urteile setzen in der Tat die vorgegebene
Natur voraus, mögen uns die Physiker auch sagen, in strenger Wahrheit
existierten die Dinge der sinnlichen Wahrnehmung, nämlich so, wie sie uns
da erscheinen, nicht; die Physik bewiese, dass in Wahrheit alle Wirklichkeit
sich auf Konstellationen von Atomen, Ionen, Energien und was immer
sonst reduziere. Mag es sich mit solchen Aussagen verhalten wie immer:
sicher ist, dass auch sie auf vorgegebene Natur sich beziehen, und zwar auf
dieselbe, die in der sinnlichen Erfahrung erscheint. Nämlich „die“ Dinge
mögen anders beschaffen sein als sie erscheinen, und im Einzelnen mag
es auch sein, dass bestimmte Dinge erscheinen und überhaupt nicht sind.
Im Einzelnen, unter bestimmten Umständen! Dass aber davon abgesehen
im Allgemeinen die Dinge der Erfahrung wirklich sind und dass bloß die
wissenschaftliche Bestimmung der Dinge sie anders bestimmt als die unmit-
telbare Wahrnehmung und die schlichten beschreibenden Aussagen, die dem
„Inhalt“ dieser Wahrnehmung Ausdruck geben, das ist überall die Meinung;
NB die Meinung des Naturforschers und nicht des über Naturerkenntnis
reflektierenden Philosophen.
Wir nehmen hier das naturwissenschaftliche Erkennen vor aller so ge-
nannten „philosophischen“, „erkenntnistheoretischen“ Reflexion, wir neh-
men es so, wie es sich wirklich abspielt, wenn eben Naturwissenschaft getrie-
ben, wenn Beobachtungen und Experimente vollzogen, daraufhin „Tatsa-
chen der Natur“ festgestellt und in weiterer Folge Tatsachengesetze gesucht
und begründet werden. Dasselbe Ding, das der Naturforscher sieht, abwägt,
dann in eine Retorte tut, über dem bunsenschen Brenner erwärmt, so und
so chemisch analysiert oder nach seinem physikalischen Verhalten erforscht,
dasselbe ist es, von dem er nachher sagt, es sei in Wahrheit ein Komplex so und
so gelagerter, mit solchen und solchen Energien begabter Atome. In diesem
18 allgemeine einführung
Sinn ist die Natur des Wilden dieselbe wie die eines Helmholtz und Maxwell,
nur dass die Urteile über das Was und Wie der Natur, dass die Prädikate,
welche die Natur in theoretischer Wahrheit bestimmen, beiderseits so sehr
verschieden lauten. Dass im Einzelnen der Naturmensch und der Mensch
überhaupt vor der Wissenschaft sehr vieles für wirklich hält, was der Na-
turforscher als phantastische Einbildung, Aberglaube etc. degradiert, ändert
nichts wesentlich an dem Gesagten. Jede Diskreditierung einer Wirklich-
keitssetzung setzt andere Wirklichkeitssetzungen schon voraus. Erfahrung
wird durch Erfahrung aufgehoben, mitunter unmittelbare Erfahrung durch
mittelbare, die aber selbst ihren Halt in unmittelbarer notwendig hat. Warum
gerade die eine Erfahrung den Vorzug hat, warum sie Geltung behält und der
Widerstreit an ihr eine andere Erfahrung diskreditiert, ist eine Frage. Sie geht
uns hier nicht an. Es kommt nur darauf an, einfach zu konstatieren, dass bei
jeder Feststellung eines Phänomens als nicht objektiv triftig, sondern „nur
psychologisch“, „nur subjektive Einbildung“, die Sachlage die beschriebene
ist: Im Widerstreit zwischen Erfahrungen haben gewisse den Kredit der
gültigen, die anderen, damit streitenden, verlieren durch diesen Streit den
Kredit. Wieweit wir da zurückgehen: immer liegen Erfahrungen zugrunde,
und das heißt: Immer ist schon eine gesetzte Wirklichkeit, eine so und so
bestimmte da.
Die allgemeine Frage, ob Wirklichkeit überhaupt sei, wird innerhalb des
naturwissenschaftlichen Denkens niemals aufgeworfen. Auch die strengste
Naturwissenschaft beginnt nicht mit der Begründung erster Natursetzungen,
um darauf dann weitere Natursetzungen zu stützen. Sie erforscht eine Natur,
die da ist.
Wie1 steht es nun, müssen wir fragen, mit diesem Vorgegebenen in der
natürlichen (nicht nur naiven, sondern auch wissenschaftlichen) Erkenntnis?
Ist sie kein Problem? Kann und muss nicht auch nach ihrem Rechte gefragt
werden? Bekanntlich hat es Skeptiker gegeben, welche mit Rücksicht darauf
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Wie steht es nun,
müssen wir fragen, mit dieser Vorgegebenheit der natürlichen Erkenntnis? Ist sie kein Problem?
Kann nicht nach ihrem Rechte gefragt werden? Es kommt nicht darauf an, wirklich Skeptiker
zu sein und ernstlich zu bezweifeln, ob wir wirklich da sind und unsere Umgebung wirklich
ist, ob eine uns umspannende Natur wirklich ist, die wir überall als eine vorgegebene, also
nie erwogene Tatsache behandeln. Es mag eine Tatsache sein, aber das hindert doch nicht die
Möglichkeit, die Frage zu stellen, ob sie der Kritik endgültig standhält, bzw. die Frage zu stellen,
ob sie und wie sie der berechtigten Begründung bedarf, und damit auch, was denn, wenn die
gesamte Natur und alle naive Vorgegebenheit überhaupt in Frage gestellt ist, als ein zweifellos
Gegebenes übrig bleibt, ob und wie sich ein Erkennen etablieren lässt, das absolutes Erkennen
ist, nämlich frei von aller sozusagen auf Kredit hin angenommenen Vorgegebenheit.
vorgegebenheit der natürlichen erkenntnis 19
Erkenntnis sein, und es ist nicht ein outriertes Ideal, das wir hier unter
dem Titel absolute Erkenntnis bezeichnen. „Erkenntnis“ im weiteren Sinn
mag zwar ein Name sein, der alle irgendein Sein meinenden, vorstellenden,
setzenden Akte überhaupt befasst. Aber sie alle heißen doch so um ihrer
Beziehung zu den im prägnanteren Sinn erkennenden Akten willen, näm-
lich denjenigen, in denen Ansetzung von seienden Gegenständlichkeiten in
gültiger Weise geschieht. Dann aber bedeutet die Bezeichnung eines Den-
kens als Erkenntnis einen Anspruch, nämlich einen Geltungsanspruch, der
sich allererst ausweisen muss. Ist die Ausweisung keine vollkommene, hängt
sie etwa von offenen oder versteckten Präsuppositionen ab, dann ist, solange
diese selbst ihre Geltung nicht ausgewiesen haben, die Erkenntnis bloß prä-
tendierte Erkenntnis. Jede Erkenntnis weist sich also entweder als absolute
aus, oder sie ist bloß Erkenntnisprätention, also in Wirklichkeit noch gar
keine Erkenntnis, bestenfalls hypothetisch gültige, wofern sie bis auf gewisse
Voraussetzungen ausgewiesen ist. Und so ist auch alle Wissenschaft im vollen
und wahren Sinn nur Wissenschaft, wenn sie absolute Wissenschaft ist, wenn
also keine ihrer Erkenntnisprätentionen der Reduktion auf letzte und voll
ausweisende Gründe ermangelt, also auf Gründe, die weitere Begründung
nicht mehr fordern.
Nun ist es aber hier in unseren jetzigen Betrachtungen nicht als Ziel
gesetzt worden, überall natürliche Erkenntnis und natürlich ausgebildete
Wissenschaften zum Stand absoluter Erkenntnis zu erheben, also dem Ideal,
das im Wesen der Erkenntnis beschlossen ist, Genüge zu tun. Vielmehr
hatten wir es darauf abgesehen, das Niveau zu finden, auf dem sich uns
die „Phänomene“ im Sinne der Phänomenologie darbieten, der Phänome-
nologie, die eine wesentlich neue Wissenschaft sein sollte, sofern sie sich
eben in einer ganz anderen Denkeinstellung vollzieht als alle natürliche
Wissenschaft. Dies Niveau gewinnen wir eben dadurch, dass wir uns von
allen Präsuppositionen natürlicher Erkenntnis frei machen, alle ihre Vor-
gegebenheiten in Frage stellen, sie völlig in suspenso belassen. Auf diesem
selben Niveau, soweit es bisher bezeichnet ist, müsste sich auch etablieren
jene vorerwähnte reine Logik. Wie eine solche Logik zur gesuchten Phäno-
menologie steht, wissen wir natürlich nicht, ob beide identisch sind oder sehr
nah zusammenhängen oder ganz auseinander fallen. Es fehlen uns ja noch
alle auf die nähere Bedeutung dieser vorläufig leeren Titel bezüglichen Vor-
stellungen. Desgleichen wissen wir noch nicht, wie sich die Phänomenologie
zu der Idee der zu letzter Begründung geführten natürlichen Wissenschaften
verhalten würde. Nur das eine wissen wir im Voraus, dass zu diesem Niveau
die letztgrundlegenden Erkenntnisse aller Wissenschaften gehören müssen
philosophisches niveau und philosophisches denken 23
und dass alle Wissenschaften, sobald sie auf ihre absoluten Grundlagen zu-
rückgeführt und durch Beziehung auf sie passend umgewandelt sind, selbst
und als Ganze auf das in Rede stehende Niveau erhoben worden sind, das
auch die reine Logik trägt.1 Dies Niveau, das für uns vorläufig ein x ist, da
wir noch nicht verstehen, wie Forschung da anheben soll, was man da als
greifbares Forschungsmaterial findet, bezeichnen wir als das philosophische
Niveau, das sich hierbei betätigende Denken als philosophisches Denken,
die sich auf diesem Niveau etablierenden Wissenschaften als philosophi-
sche, so dass also in diesem Sinne die natürlich gewachsenen Wissenschaften,
die wir Naturwissenschaften, mathematische Wissenschaften usw. nennen, in
dem hier eingeführten weitesten Sinn alsbald zu dem Rang philosophischer
Wissenschaften2 erhoben sind, sowie sie Reduktion auf das philosophische
Niveau erfahren, d. i. letzte Begründung erfahren haben.
Wie sollen wir dies philosophische Niveau aber erreichen? Ja ist es über-
haupt je aufzuweisen, ist das Ziel, das man sich da steckt, nicht ein ver-
kehrtes? Es ist im Grunde einerlei mit der Absicht, dem Ideal absoluter
Erkenntnis, einer schlechthin voraussetzungslosen, einer durch und durch
begründeten, wirklich Genüge zu tun. Müssen wir nicht das Prinzip abso-
luter Erkenntnis so aussprechen: es dürfe keine Erkenntnis, speziell keine
Aussage als gültig zugelassen werden, ehe wir uns davon überzeugt haben,
ob diese Aussage voraussetzungslos sei, ob sie nicht die, ob jene unbe-
gründeten Vorgegebenheiten impliziere. Aber dieses Prinzip ist unzulässig.
Ich soll mich überzeugen, ob die Aussage, die ich gerade hinstellen wollte,
voraussetzungslos sei. Tue ich das, so vollziehe ich eine Erkenntnis. Aber
diese kann wieder nur absolut gelten, wenn ich mich überzeuge, ob diese
Erkenntnis voraussetzungslos sei; dieses neue Sich-Überzeugen wäre wieder
eine Erkenntnis, und so in infinitum.
Lassen wir diesen schönen Regress und alle allgemeinen Reflexionen über
die Möglichkeit unserer Intentionen jetzt ruhen. Alle erwünschte Klarheit
und Lösung wird sich von selbst ergeben, wenn wir bei den bestimmten
Sachen bleiben und unser bestimmtes Verfahren aufbauen. Wir haben die
durch das natürliche Denken hindurchgehende Vorgegebenheit der Natur
hervorgehoben, aber noch nicht die Frage aufgeworfen, warum hier eigent-
lich Anstoß liege, eine unzulässige Voraussetzung.3 Sie ist freilich unbegrün-
det. Aber bedarf denn jede Voraussetzung der Begründung? Muss es nicht
1 Randbemerkung (später) „Das philosophische Niveau“. Das philosophische Denken.
2 Randbemerkung (später) philosophische Wissenschaften cf. 29 (unten S. 44 f.).
3 Randbemerkung Gehen wir, diese Frage beantwortend, dem Sinn dieser Vorgegebenheit
Rätselfragen, welche der Sinn und die Möglichkeit der Erkenntnis an sich seiender Natur uns
stellt. Und von da aus erschauen wir dann die allgemeinen Probleme der Theorie der Vernunft.
philosophisches niveau und philosophisches denken 25
Wir1 wissen, wie solche Entwertung vonstatten geht; sie wird durch einen
gewissen Fortgang der Erfahrungen besorgt. Auf der Straße wandernd
kommt uns Kommilitone Maier entgegen. Näher kommend sehen wir:
Das ist gar nicht Maier. Die neuen Wahrnehmungen stimmen nicht mit
der ursprünglichen Wahrnehmung, und diese wandelt sich erfahrungsmäßig
nicht so, wie sie sich im „Näherkommen“ wandeln müsste, und wir sagen:
„Es war eine Illusion, eine Täuschung.“ Freilich, der Wahrnehmung ent-
sprach in Wirklichkeit ein Gegenstand; aber nicht ist der Gegenstand als
derjenige, den sie wahrnahm. Andererseits: Bei einer Halluzination wird
nach der Entwertung jedes korrespondierende Dasein preisgegeben. Wer
den Ton einer etwa im Umkreis von hundert Meter befindlichen Dampf-
pfeife hört, mag sich nachträglich durch Erfahrung überzeugen, dass sich
in dem gesamten Umkreis seiner möglichen Hörweite überhaupt keine
Dampfpfeife befindet und somit auch kein objektiver von ihr ausgesen-
deter Ton. Die im Fieberdelirium, im Traum, in krankhafter Halluzina-
tion jeder Art erscheinenden Vorgänge werden als erfahrene genommen,
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Die Entwertung
besorgt der weitere Erfahrungszusammenhang. Kann nicht zu jeder Wahrnehmung ein sich
an sie anschließender weiterer Erfahrungszusammenhang gedacht werden, der sie degradierte?
In sich enthält die Wahrnehmung, die einzelne Wahrnehmung, offenbar keine wahrhafte Bürg-
schaft für das Wirklichsein des Wahrgenommenen. Wenn aber die einzelne nicht, so ist doch,
möchte man sagen, nicht abzusehen, was der weiterlaufende Erfahrungszusammenhang helfen
kann, da doch jede einzelne Erfahrung, aus denen er besteht, in sich wieder keine wirkliche
Bürgschaft für Wahrheit enthält und evtl. durch spätere Erfahrungen entwertet werden könnte.
Randbemerkung Genauer müsste es natürlich ausgeführt werden: Die Wahrnehmung geht
dahin, und sie wird durch spätere Erfahrung diskreditiert, besagt: Die entsprechende Erinnerung
verliert die Geltung für die Wirklichkeit. „Ich hatte damals die vermeintliche Wahrnehmung,
es war aber in Wirklichkeit nicht, wie ich wahrgenommen hatte“ etc. Vielleicht sagt man: Jede
Wahrnehmung hat ein gewisses relatives Recht derart, dass es unvernünftig wäre, sie aufzuhe-
ben, solange sie nicht anderweitig bestritten wird. Ganz recht, antworten wir! Aber bestritten
wird sie doch durch neue Erfahrungen, durch neue Wahrnehmungen u.dgl. Aber haben diese
zum Bestreiten ein Recht? Und ein besseres Recht wie die Ausgangswahrnehmung? Soll am
Ende die faktische Kraft der Erfahrungen entscheiden, nämlich, welche mehr Standfestigkeit
hat? Aber ist das nicht bloß psychologischer Zufall? Soll dieses Faktum größerer Standfestigkeit
über objektive Wahrheit entscheiden? Und schließlich: Eine Kraft kann durch größere Kräfte
wieder überwunden werden. Woher wissen wir, dass der weitere Erfahrungsverlauf nicht wieder
die eben noch standhaften Erfahrungen diskreditiert? Wir stehen also, scheint es, in endlosen
und unvernünftigen Relativismen und verstehen nicht, wie die in all den Erfahrungen gesetzte
Natur in wahrhaft gültiger Weise gesetzte sein kann. Wir verstehen nicht die letzten Gründe
naturwissenschaftlicher Wahrheit.
Nun kommt man vielleicht mit der Wahrscheinlichkeit und sagt: Absolut sicher ist die
Natursetzung nicht, aber w a h r s ch e in lich ist sie; und dass der Lauf der weiteren Erfahrung
nicht beliebig vonstatten gehen und unsere Vermutungen nicht konsequent aufheben wird, das
ist uns sicher, nämlich enorm wahrscheinlich aufgrund des Verlaufs bisheriger Erfahrung.
26 allgemeine einführung
sie existieren aber nicht, und sie werden diskreditiert durch so genannte
normale Erfahrungen und ihren Zusammenhang. Die Normalität ist aber
kein innerer Charakter der einzelnen Erfahrungen an und für sich, ebenso
wenig die Abnormalität. Normalität besagt Geltung, und Erfahrungsgeltung
muss sich allererst bewähren. Das geschieht im Erfahrungszusammenhang,
der als Geltung ausweisender sicherlich seine Regeln haben wird.1 Ohne
uns in nähere Betrachtung solcher erfahrungslogischen Regeln einlassen
zu müssen, merken wir hier unbehagliche Schwierigkeiten. Die letztgrund-
legenden Erfahrungen, die letzten Träger aller Naturerkenntnis sind also
Wahrnehmungen, die einzeln genommen niemals die Gewähr für das Da-
sein der wahrgenommenen Dinglichkeit übernehmen können. Aber es sind
doch Wahrnehmungen. Was ist Wahrnehmung anderes als das Bewusstsein
unmittelbarer Selbsterfassung des Gegenstandes! Der Gegenstand bezeugt
sich in der Wahrnehmung, weil sie Selbsterfassung des Gegenstandes ist.
Als das gibt sie sich doch! „Da ist selbst der Gegenstand“: ich nehme ihn
nicht hypothetisch und indirekt denkend an, ich habe ihn selbst leibhaft, in
eigener Person gegeben; selbstfassendes Bewusstsein, das ist Wahrnehmung.
In der empirischen Wahrnehmung heißt es aber: Der Gegenstand braucht
in Wahrheit nicht zu sein. Das gilt von jeder empirischen Wahrnehmung.
Erst der fortlaufende Erfahrungszusammenhang muss sie bewähren, von
ihm hängt die Entscheidung über die Wirklichkeit des vermeintlich selbst-
erfassten Dinglichen ab. Dieser Zusammenhang aber ist nie abgeschlossen.
Er läuft in infinitum weiter. Immer ist es denkbar, dass er in einer Weise
abläuft, die das Eingeständnis fordert: „Es war eine bloße Halluzination.“
Es mag unwahrscheinlich sein, z.B. mag es töricht sein anzunehmen, das
Dasein der Sonne, die Existenz von Göttingen, unseres Auditoriums sei
bloße Illusion; aber wie groß auch die Unwahrscheinlichkeit ist: denkbar
bleibt es immer, dass die betreffenden Wahrnehmungen schließlich doch
aufgehoben werden hinsichtlich ihrer Geltung. Es ist absolut ausgeschlossen,
dass Wahrscheinlichkeit sich in absolute Gewissheit verwandelt, die jeden
Zweifel als sinnlos erscheinen ließe, eben weil wir über bloße empirische
Wahrnehmungen nicht hinauskommen, deren jede an sich betrachtet nicht
das ist, was sie zu sein scheint: wirkliche Selbsterfassung des Gegenstandes.
Von da aus werden wir aber weitergetrieben. Hier scheint ja ein ganz irre-
parabler Mangel der Naturerkenntnis überhaupt vorzuliegen. Ist Natur an
keinem Punkt wahrhaft selbstgegeben, kein Ding, kein dinglicher Zusam-
menhang: wie können wir Natur mit Vernunftgründen auch nur vermuten?
Ein vernünftiger Wahrscheinlichkeitsschluss begreift sich als Induktion und
Analogie, wenn wir von Selbstgegebenem auf Nichtgegebenes schließen. Wo
aber gar keine Selbstgegebenheit vorliegt: wie kommen wir da überhaupt
zur Annahme einer Natur an sich und zu ihrer vernünftigen Begründung?
Springt etwa göttliche Offenbarung ein? Ist es nicht möglich, dass am Ende
gar keine dingliche Wirklichkeit ist, während doch die Wahrnehmungen in so
und so zusammenhängenden Reihen ablaufen? Und haben die Regeln der
Wahrscheinlichkeit nicht die bloße Funktion, uns im Zusammenhang der
Erscheinungen zu orientieren, unsere Erwartungen hinsichtlich der künftig
kommenden Wahrnehmungen zu regulieren, uns vor Enttäuschungen zu
behüten usw.? Wir stehen in einem endlosen Relativismus von Erfahrun-
gen und kommen darüber nie hinaus. Andererseits1 unterscheidet doch die
Naturwissenschaft Erfahrungen und erfahrene Dinge und prätendiert, Wis-
senschaft eines Ansich, also unabhängig von aller menschlichen Erkenntnis
da seienden Natur zu sein. Wie ist das zu verstehen?
1 Dieser Satz ist Veränderung für weil eben keine echte Wahrnehmung darin auftritt, die
uns das Ding zu wahrer und wirklicher Selbstgegebenheit bringt. Ja gäbe es hinsichtlich der
Natur echte Wahrnehmung, in der Dinge, die da sind und so, wie sie an sich sind, direkt gefasst
würden, dann böte sie der Naturerkenntnis einen absoluten Boden; die Möglichkeit einer
Naturwissenschaft als Wissenschaft einer an sich seienden Dingwirklichkeit böte kein solches
Rätsel.
28 allgemeine einführung
nie und nirgends, während die Wahrnehmungen ihre Marken hätten: „evident“,
„wahrscheinlich“ etc. Also das Problem ist schon als Problem der Transzendenz
charakterisiert.
Nach all dem müssen wir sagen: Die Möglichkeit von Naturerkenntnis
überhaupt ist ein Rätsel, und dieses Rätsel kommt uns erst zum Bewusstsein,
wenn wir, aus dem Zusammenhang des natürlichen Erkennens heraustre-
tend, über die in ihm überall naiv vollzogene Natursetzung, die mit jeder
empirischen Wahrnehmung neu anhebt, reflektieren. Wir sind da in einer
sonderbaren Situation. Innerhalb der naturwissenschaftlichen Erkenntnis
stehend empfinden wir gar keine besonderen Schwierigkeiten, es sei denn die
der noch ungelösten Probleme, die uns gerade forschend bewegen. Soweit
die Wissenschaft entwickelt ist, so weit finden wir alles in Ordnung. Wir
erleben die Evidenz des Verfahrens, wir zweifeln nicht, dass Natur ist, an sich
ist, und sich in dieser Weise bestimmt, wie sie da bestimmt ist, sei es auch
mit einer Wahrscheinlichkeit, die künftigen Modifikationen der gewonnenen
Theorien bei Erweiterung des Erfahrungskreises Möglichkeiten offen lässt.
Sowie wir aber Reflexionen der angegebenen Art vollziehen, geraten wir in
Verlegenheiten.1
1 Gestrichen Ist nicht die ganze Annahme einer dinglichen Wirklichkeit etwas Unbegründetes
und niemals zu Begründendes? In diesem Relativismus der Wahrnehmung kommen wir doch
niemals an die Dinge selbst heran! Es mag sein, dass die Wahrnehmungszusammenhänge
unter Regeln stehen, denen folgend wir möglichst der Enttäuschung entgehen und unsere
erfahrungsmäßigen Suppositionen, unsere Erwartungen des Seienden und Werdenden sich in
immer weiterem Umkreis bestätigen und wir es in immer weiterem Maß vermeiden, unsere
ursprünglichen erfahrungsmäßigen Annahmen wesentlich zu modifizieren. Aber kommen wir
damit über die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung hinaus und irgend je an wirklich
seiende Dinge?
Gäbe es Wahrnehmungen von Natur in dem strengen Sinn einer unmittelbaren Erfassung
von Dinglichkeiten an sich selbst, wären also einerseits Dinge und andererseits Wahrnehmun-
gen, die sie so, wie sie an sich sind, direkt fassten, eben wahrnehmen, dann hätte, scheint es,
Naturerkenntnis ihr absolutes Recht und ihren absoluten Boden. Scheinwahrnehmungen wären
nicht von demselben immanenten Charakter der echten und rechten Wahrnehmungen, sondern
etwa phantastische Bildungen, die durch Unachtsamkeit mit Wahrnehmungen verwechselt wür-
den, mit denen sie bestenfalls ähnlich wären. WWie die Sachen aber liegen, sind Wahrnehmungen,
möchte man sagen, gar nicht Wahrnehmungen im vollen Sinn, die wahrgenommenen Dinge
wirklich direkt und selbst fassende Akte, vielmehr Akte, die bestenfalls so etwas wie Bilder,
aber nicht Dinge selbst fassen. Diese Bilder oder, wie man auch sagen kann, Erscheinungen sind
wie die Akte, scheint es, etwas gänzlich „Subjektives“; und nun wird es rätselhaft, wie solche
Bilderzusammenhänge, auch wenn wir Erfahrungsprinzipien hinzunehmen, je ein Recht geben
sollen, wirkliche Natur anzunehmen, wo doch Natur niemals zur wirklichen Selbstgegebenheit
gekommen ist. Könnten nicht all die Erscheinungen, all die Wahrnehmungen mit ihrem Erschei-
nungsgehalt im Bewusstsein genau so ablaufen, wie sie es tun, ohne dass eine außerbewusste
Wirklichkeit ist? Der Vorläufer des gestrichenen Textes lautet Scheinwahrnehmungen wären
mathematik, reine logik, reine ethik 29
dann höchstens möglich als Verwechslung von inhaltlich verwandten phantasieartigen Akten
mit den echten Wahrnehmungen. Wie die Sachen aber liegen, beruht Naturwissenschaft gar
nicht auf echten, die Natur selbst in wahrem Sinn gebenden Wahrnehmungen. Die empirischen
Wahrnehmungen geben nicht die Dinge selbst, sondern so etwas wie Bilder der Dinge, und
jedem supponierten Ding entspricht eine Mannigfaltigkeit, ja genau besehen eine unendliche
Mannigfaltigkeit solcher Bilder. Natürlich sind diese, wie die Wahrnehmungsakte überhaupt,
etwas gänzlich Subjektives. Wie sollen aber solche Bilderzusammenhänge, solche Verläufe
von bloßen Wahrnehmungserscheinungen, auch wenn wir die regelnden Erfahrungsprinzipien
hinzunehmen, je ein Recht geben, eine ihnen transzendente Natur anzunehmen? Könnten nicht
all die Erscheinungen ablaufen, wie sie faktisch ablaufen; könnte die Form ihres Ablaufs, wie
es faktisch der Fall ist, unsere Vermutungen in Beziehung auf das Künftige bestimmen, und als
vernünftige Wahrscheinlichkeiten bestimmen, während eine an sich seiende Wirklichkeit gar
nicht ist?
1 Randbemerkung (später) Logik 13, 14, 22 f. (S. 20, 21 und 34).
2 Gestrichen Bis zum heutigen Tage stehen viele Forscher unserer Zeit immer noch auf dem
Standpunkt, dass alle Wissenschaften Erfahrungswissenschaften sind. Erkennt man an, was
allerdings nicht wenige Forscher durchaus nicht sehen wollen, dass alle diese Disziplinen sich
scheiden lassen in reine und auf Natur angewendete (sei es auf physische Natur, sei es auf
menschliche Verhaltungsweise), so dass die reinen jede Erfahrungssetzung ausschließen, so
gerät man doch auch bei diesen bei der Reflexion über ihre Erkenntnisweise in Verlegenheit.
Es soll sich um apriorische Disziplinen handeln, ihre Grunderkenntnisse sollen absolut gelten,
unabhängig von aller Erfahrung.
30 allgemeine einführung
bzw. Schlüsse sollen sein können. Und wieder sollte eine reine Ethik und
Wertelehre etabliert werden, welche es mit den reinen Werten, dem reinen
Willen u.dgl. zu tun habe.
Indessen scheint auch nach solcher Aussonderung reiner Disziplinen bzw.
rein mathematischer, rein logischer, rein ethischer Gesetze die Beziehung
zur Natur nicht völlig abgeschnitten zu sein, wie denn nicht wenige For-
scher in solchen reinen Disziplinen nichts anderes sehen wollen denn höchst
abstrakte Naturwissenschaften. Es ist hier weder möglich noch nötig, auf
die endlosen Streitigkeiten um den eigentlichen Sinn der mathematischen,
logischen, ethischen Erkenntnis einzutreten. Nur flüchtig hinweisen möchte
ich darauf, dass die Schwierigkeiten, in welche uns diese Wissenschaften ver-
wickeln, sowie wir sie zu Objekten der Reflexion machen, nicht bloß mit den
Natursetzungen zusammenhängen, die evtl. in diesen Wissenschaften, sei es
rechtmäßig, sei es unrechtmäßig vollzogen werden, aber wohl mit solchen,
welche die Reflexion als natürliche Reflexion hereinbringt. Es genüge, auf
die formale Logik hinzublicken, deren so genannte Denkgesetze eine absolut
universelle Bedeutung haben, sofern sie sich auf alles Denken überhaupt, auf
alle und jede Wissenschaft also, beziehen.
Die1 zunächst ganz selbstverständliche Interpretation dieser Gesetze als
psychologischer, als Gesetze, welche es mit allgemeinen Eigentümlichkei-
ten der menschlichen Erkenntnis zu tun haben, führt auf die radikalen
Widersinnigkeiten des Psychologismus. Im ersten Band meiner Logischen
Untersuchungen habe ich alle irgend nötigen Nachweisungen zu geben
versucht, und Sie mögen da das Nähere lesen. Von vornherein müsste das
eigentlich klar sein: Wer da sagt, Gesetze, wie das vom Widerspruch und
ausgeschlossenen Dritten, brächten Besonderheiten der menschlichen Natur
zum Ausdruck, muss auch die Möglichkeit anerkennen, dass eine Änderung
dieser menschlichen Natur im Kampf ums Dasein, im Fortgang der naturhis-
torischen Artenentwicklung auch zur Änderung der logischen Gesetze füh-
ren könnte. Jedenfalls liegt im Sinne seiner Behauptung die Möglichkeit einer
Natur, in der „unsere“ logischen Gesetze nicht gelten würden. Andererseits
ist es evident, dass mit der Aufhebung der absoluten Geltung der logischen
Gesetze auch die ganze Naturwissenschaft, die Lehre von der Entwicklung
der Arten, kurz alle und jede Erkenntnis aufgehoben wäre aller und jeder auf
Wahrheit Anspruch erhebenden Behauptung. Auch die Aussage des Psycho-
logisten: „Dass ‚unsere‘ logischen Gesetze nicht gelten, ist eine Möglichkeit,
sie gelten nur faktisch in der gegebenen Natur“: Auch diese Aussage will eine
1 Randbemerkung (später) Logik. Nochmals und anders: 22 f., 13 ff. (S. 34 f. und 20 f.).
mathematik, reine logik, reine ethik 31
Wahrheit haben und setzt schon die Geltung der logischen Gesetze voraus.
Diese Gesetze sagen ja nichts anderes aus, als was zum Sinn von Wahrheit
gehört, was zu leugnen eben den Sinn des Wortes „Wahrheit“ aufheben
würde. Und demgemäß ist es reinster Widersinn, Verletzung eben des Sinnes
des Wortes „Wahrheit“, wenn man sagt: „Logische Gesetze gelten, aber nur
faktisch, nur für uns Menschen, bei unserer psychischen Konstitution.“
Auf der anderen Seite hat die Abweisung der psychologischen Interpreta-
tion des Logischen etwas sehr Befremdliches. Wie sollen Denkgesetze etwas
anderes als Gesetze des Denkens sein? Und sagt man für gewisse Gruppen
von logischen Gesetzen, sie seien Gesetze, die sich auf Sätze beziehen, Sätze
aber seien keine Urteilsakte, so wird man doch fragen: Sind Sätze nicht
Urteilsinhalte, und wie sollen Urteilsinhalte ohne Urteile sein? Sollen wir
etwa zu den berüchtigten platonischen Hypostasierungen von Denkinhalten
zurückkehren?
Ähnliche Schwierigkeiten bestehen offenbar hinsichtlich der Arithmetik.
Die Zahl, die reine Zahl, ist etwas im Zählen Gegebenes und durch Ab-
straktion vom Gezählten uns bewusst werdend. Also es ist ein psychisches
Gebilde. Ist also die Arithmetik eine Art Psychologie? Und wie versteht
sich die objektive Bedeutung der Zahl als quantitative Charakteristik von
Naturseiendem? Oder ist mit Mill die Zahl eine physische Tatsache?
Doch genug daran. Wir sehen, dass die mathematischen und logischen
Erkenntnisse, die so genannten apriorischen überhaupt, ihre eigenen Ver-
legenheiten und Schwierigkeiten mit sich führen, mögen wir sie nun den
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen unterordnen oder sie von diesen als
reine und wirklich apriorische trennen wollen.
Diese Verlegenheiten entspringen erst aus der Reflexion. Im Mathemati-
sieren lebend stören uns solche Schwierigkeiten gar nicht. Wir erleben hier im
denkbar größten Maß die Evidenz, die uns der Triftigkeit unserer Deduktio-
nen versichert. Die Mathematik gilt ja gerade als Muster wissenschaftlicher
Strenge. Solange wir in ihr stehen, gibt es keine anderen Schwierigkeiten als
die der noch ungelösten Probleme. Die vollendeten Theorien aber studierend
sind wir voll befriedigt. Es fehlt uns nichts. Sowie wir aber zu reflektieren
beginnen, wird die mathematische Erkenntnis und der eigentliche Sinn ihrer
Leistungen problematisch. Während wir sicher sind, hier in der Tat Wahrheit
zu erkennen und streng zu begründen, verstehen wir in der Haltung der Re-
flexion die Möglichkeit und den Sinn dieser Erkenntnis nicht. Es erwachsen
hier unabweisbare Fragen, deren Beantwortung uns in Widersinnigkeiten zu
verwickeln scheint; Fragen, die aber beantwortet werden müssen, wenn wir
nicht in lächerlichster Weise einen Sinn des in der Mathematik Festgestellten
32 allgemeine einführung
verfehlen sollen. Ebenso bei der Logik, von deren richtiger Interpretation
schließlich die Interpretation aller Wissenschaft überhaupt wesentlich be-
dingt ist.
Die Reflexion aber, die bei diesen apriorischen Disziplinen in Schwierig-
keiten und Verlegenheiten verwickelt, hat den Charakter natürlicher Refle-
xion, d. h. wie sonst im natürlichen Denken gilt die Natur, gilt das Dasein
des Erkennenden mit seinen Akten in der Natur als eine selbstverständliche
Vorgegebenheit, und es wird zudem irgendwie in verkehrter Weise mit dieser
Voraussetzung oder unter dieser Voraussetzung operiert, so dass Widersin-
nigkeiten hervorgehen, deren Auflösung nicht ganz leicht zu sein scheint, da
sie, historisch kaum widerlegt, sofort wieder aufschießen.
Es wird auf diese Weise klarzumachen sein, dass Erkenntnis in allen
ihren Gestaltungen, nicht nur als niederer, sondern als wissenschaftlicher
Erkenntnis, und in Form aller Typen von Wissenschaften, Probleme darbie-
tet, die uns des Besitzes dieser Wissenschaften nicht froh werden lassen.
Die Probleme erstrecken sich auch auf die Wertewissenschaften, sofern
sie überhaupt Wissenschaften sind, also dem allgemein Logischen nach. Es
erstrecken sich aber auf das Wertegebiet spezielle Probleme, sofern es in
der Reflexion die größten Schwierigkeiten macht zu verstehen, wie z.B. das
ethische Bewusstsein den Anspruch darauf erheben kann, etwas als absolut
Gesolltes zu charakterisieren, sozusagen als eine Objektivität, die doch keine
Naturobjektivität sein soll.1
Erkenntnisprobleme
Wir haben in den letzten Vorlesungen von den empfindlichen Verlegen-
heiten gesprochen, in die uns die natürliche Erkenntnis insofern verwickelt,
als sie überall die eine allumfassende Natur als eine unmittelbare Gegeben-
heit behandelt, die bloß nach den jeweilig in Betracht gezogenen besonderen
Dinglichkeiten näher zu bestimmen sei. Auch die Naturwissenschaften, die
hoch gerühmten exakten Naturwissenschaften nicht minder als alle ande-
ren, sind hinsichtlich ihrer letzten Begründung mit einem gewissen Mangel
behaftet. Solange wir uns im naturwissenschaftlichen Erkennen bewegen,
1 Notizen zur Vorlesung Ansichsein der Natur, gefasst in der Erkenntnis. Unmittelbare Er-
finden wir zwar alles verständlich und verständig, wir finden alles von einer
inneren Klarheit und Rationalität durchleuchtet, die keine anderen Wünsche
unbefriedigt lässt, es sei denn die nach Erweiterung der Theorien, nach
Lösung der noch ausständigen naturwissenschaftlichen Probleme. Sowie wir
aber zu reflektieren und die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis
als Erkenntnis an sich seiender Natur zu erwägen beginnen, erscheint jene
Rationalität als durchaus unbefriedigend, sie erscheint von einer gewissen
Irrationalität völlig durchtränkt. Wieweit wir Naturwissenschaft auch fort-
entwickelt, welche Füllen ungelöster Probleme wir noch gelöst denken: die
Irrationalität, von der die Rede ist, wird dadurch nicht im Mindesten gemil-
dert. Sie gehört sozusagen einer Dimension an, die im natürlichen Denken,
im natürlichen Forschen und Theoretisieren gar nicht fühlbar wurde. Was uns
da in steigendem Maße beunruhigt, ist die Unfähigkeit, über das Verhältnis
der Erkenntnis zur an sich seienden Natur klare Auskunft zu geben. Wir
verstehen nicht, wie eine Natur, die an sich sein soll gegenüber der Erkennt-
nis, also ihr transzendent, im Erkenntniszusammenhang zur Gegebenheit
kommen soll. Niemals fällt ein dingliches Ansich, etwas, was ist, was es ist,
ob es erkannt wird oder nicht, in die Erkenntnis so, dass es wirklich ihr
unmittelbares Eigen wird, also niemals so, dass es in der Wahrnehmung,
obschon sie Selbstfassung des Dinges zu sein vorgibt, wirklich gefasst und
somit im Griff der unmittelbaren Erkenntnis in sie hineingezogen wird. Und
erst recht gilt das von der mittelbaren Erkenntnis. Wie kommt also Er-
kenntnis als naturwissenschaftliche Erkenntnis überhaupt dazu, Ansichsein
zu setzen und gültig zu setzen? Was ist dieses erkenntnismäßige Setzen und
erkenntnismäßige Sichausweisen an sich seiender Gegenständlichkeit? Ist
in der Naturerkenntnis Natur und dingliches Sein in der Natur rechtmäßig
gesetzt und mit unanfechtbarer Rationalität bestimmt: Wie ist dieses An-
sichsein der Naturerkenntnis zu verstehen?1 Einen guten Sinn muss doch
natürliche und speziell naturwissenschaftliche Erkenntnis haben. Wer sie
studiert und in der Größe ihrer Leistungen kennen gelernt hat, kann ja
nicht, wie es im Altertum noch möglich war, daran zweifeln, ob Natur
überhaupt erkennbar, ob Naturwissenschaft als wirkliche und echte Wis-
senschaft möglich sei. Die Reflexion rollt aber das Erkenntnisproblem auf.
Es kommt uns zum Bewusstsein, dass es ein Problem sei zu verstehen, wie
Naturerkenntnis, Naturwissenschaft möglich sei, und dass die Sicherheit der
Überzeugung, da ss sie es sei, uns hier nicht das Mindeste helfe. Ja wir müssen
1 Gestrichen Wie ist sein durch die Erkenntnismeinung selbst doch vorgezeichneter Sinn zu
es uns eingestehen, dass das Problem des Wie nicht gleichgültig ist für das
Problem des Dass bzw. des Was; deutlicher gesprochen: Sowie Antworten
auf das Erkenntnisproblem versucht werden, merken wir, dass die identisch
festgehaltene Naturwissenschaft, was den Sinn der in ihr erforschten Natur
anlangt, verschiedene Interpretationen zulässt und dass erst nach der Lösung
der Probleme naturwissenschaftlicher Erkenntnis eine letzte Sinnesbestim-
mung erfolgen kann, welche erforderlich ist, damit Naturwissenschaft auf den
Stand absoluter Wissenschaft erhoben werden kann. Mit anderen Worten:
Es stellt sich heraus, dass Naturwissenschaft noch nicht Wissenschaft im
letzten Sinn ist, sofern nämlich die Probleme neuer Dimension, die sich auf
die Korrelation zwischen Naturerkenntnis und Natur beziehen, wesentliche
Bedeutung haben für die Charakteristik des Seins selbst, die sie erforscht:
eine Charakteristik, die aber gänzlich außerhalb der naturwissenschaftlichen
Domäne liegt. Das aber besagt: Es bedarf einer endgültigen Seinswissen-
schaft, einer Metaphysik, neben und über den Erfahrungswissenschaften als
Wissenschaften von der Natur.
Die Rede vom „natürlichen Denken“ bezogen wir bisher vorwiegend auf
die Naturerkenntnis, auf vorwissenschaftliche oder wissenschaftliche. Indes-
sen, natürliches Denken und Erkennen charakterisiert sich allgemeiner (wie
schon gelegentlich berührt worden) als ein solches, dem die Probleme, die
wir allgemein die erkenntnistheoretischen nennen, noch nicht aufgegangen
sind. Solche Erkenntnisprobleme bietet nicht nur die Naturerkenntnis. Es
gibt ja noch andere Erkenntnis denn Naturerkenntnis, es gibt noch andere
Wissenschaften als Naturwissenschaften. Von der Mathematik haben wir
letzthin schon gesprochen und ebenso von der Logik.1 Auch diese Wissen-
schaften setzen, trotz der sie durchwaltenden Rationalität, in Verlegenheiten,
sowie die Reflexion sich auf sie richtet. Wir hörten, in welche Widersinnig-
keiten man sich dabei verflicht, wenn man der natürlichen Neigung folgt,
logische und mathematische Gesetze zu psychologisieren oder sonstwie auf
Naturtatsachen zu reduzieren. Die Schwierigkeiten sind nun nicht etwa be-
seitigt, wenn man auf indirektem Wege, nämlich eben durch Nachweisung
widersinniger Konsequenzen, den Psychologismus und Naturalismus in der
Interpretation dieser Disziplinen widerlegt. Das Zugeständnis, es handle
sich hier um keine empirischen, sondern um apriorische Wissenschaften, um
Erkenntnisgebiete, die nichts von einer Natursetzung enthielten, um Wissen-
schaften von idealen Einheiten u.dgl.; ich sage: dergleichen Zugeständnisse,
so notwendig sie sind, ändern doch daran nichts, dass wir in der Reflexion
Aussagen haben einen Sinn und wollen gelten. Der Sinn der Aussage ist aber
das, was man Satz nennt. Logische Gesetze, die apriorische Bedingungen für
die Möglichkeit der Geltung von Sätzen aussprechen, beziehen sich auf die
Sätze aller Wissenschaften und somit auf alle Erkenntnisse im prägnanten
Sinn, als welche eben Urteile sind. Und da stoßen wir auf neue Merkwür-
digkeiten der Erkenntnis und auf Probleme, die sich auf alle Erkenntnis
überhaupt beziehen: nämlich, dass eben Urteile nicht nur Beziehung haben
auf Urteilsgegenständlichkeiten (z.B. auf die Natur und Sachverhalte der
Natur in der Naturwissenschaft), sondern dass sie in sich so etwas wie einen
idealen Sinn bergen sollen, einen Satz, und dass sie nur durch das Medium
dieses idealen Sinnes sich auf Gegenständliches beziehen; und weiter, dass
die Gültigkeit dieser Beziehung abhängt von der Innehaltung der auf den
Sinn bezüglichen logischen Gesetze. Das sind wunderbare Verflechtungen,
die aufgehellt werden müssen, wenn wir verstehen sollen, was darin liege,
dass Erkenntnis in Form von Wissenschaften sich in „triftiger“ Weise an
sich seiender Gegenständlichkeit bemächtigen könne. Logische Probleme
sind allgemein wissenschaftstheoretische Probleme, und die Probleme der
Möglichkeit logischer Erkenntnis, bzw. Probleme ihres Wesens, sind eo ipso
Probleme der Möglichkeit und des Wesens wissenschaftlicher Erkenntnis
überhaupt. Sie betreffen also auch die Naturerkenntnis und fügen zu den
von uns hervorgehobenen Problemen neue hinzu. Ähnliches gilt von der
formalen Mathematik, in der ich nichts anderes sehen kann als ein höheres
Stockwerk sozusagen der logischen Wissenschaft.
Die durchgeführten Betrachtungen genügen sicherlich, um das Ergebnis
so zu fassen: Alle im natürlichen Erkennen erwachsenen Wissenschaften,
gleichgültig wie es mit der Höhe ihrer Entwicklungsstufe stehe, können
letzten theoretischen Bedürfnissen nicht genügen. Überall zwingt uns die
aus der Linie der natürlichen Erkenntnishaltung heraustretende Reflexion
Probleme eines und desselben Typus auf: Probleme, die sich auf das We-
sen der Erkenntnis als Erkenntnis so und so gearteter Gegenständlichkeit
beziehen bzw. auf das Wesen solcher der Erkenntnis gegenüber an sich
seiender Gegenständlichkeit, sofern sie in der Erkenntnis doch zur Gege-
benheit kommen soll. Die Verhältnisse zwischen Erkenntnissen als Akten,
den ihnen immanenten und doch idealen Bedeutungen und endlich den
in ihnen als Erkenntnissen solcher Bedeutung gesetzten und bestimmten
Gegenständlichkeiten an sich sind voll von Unverständlichkeiten. Solange
hier nicht volle Klarheit gewonnen, solange diese so genannten erkennt-
nistheoretischen Probleme nicht gelöst sind, kann von einer endgültigen
Seinserkenntnis und speziell Realitätserkenntnis gar keine Rede sein. Wis-
erkenntnisprobleme 37
Es ist nun von größter Wichtigkeit, sich über Charakter und Methode der
erkenntnistheoretische Probleme lösenden Untersuchungen klar zu werden.
Ich meine hier die wirklich lösenden, die wirklich selbst zufassenden Un-
tersuchungen. Denn sich kritisch mit dem Ballast historisch überkommener
Erkenntnistheorien abgeben, sie aneinander messen, ihre Widersinnigkeiten
da und dort herausstellen, mag ja nicht unnütz sein; aber auf dem bloßen
Wege der Kritik zu einer positiven Entscheidung kommen zu wollen, wäre
verkehrt, und vor allem darum, weil sich hier ein ungeheures Feld eigentüm-
licher Forschungen eröffnet, das nur in direktem Zugreifen und mühseligem
Durchackern zu unserer Erkenntnis kommen kann. Die Sachen selbst müs-
sen das Maß für alle von oben her entworfenen Meinungen über die Sachen
entscheiden. Lassen wir also die Philosophen sich weiter bekriegen, und
lassen wir alle ihre Theorien ruhen.
Was sind das nun aber für Sachen, wo ist das Feld direkt zugreifender
Arbeit, und wie beschaffen ist die von ihnen geforderte Methode? Zunächst
möchte man denken, es handle sich um nichts anderes als um eine wissen-
schaftlich sorgsame Psychologie der Erkenntnis. Erkenntnis ist doch proble-
matisch geworden. Also sehen wir uns die Erkenntnis näher an, durchfor-
schen wir sie. Erkenntnis ist ein Titel für psychologische Tatsachen, wir haben
also Psychologie der Erkenntnis als unser Forschungsfeld anzuerkennen.
Hier sind wir auf dem Scheidewege. Hier ist die Entscheidung, ob wir den
Sinn der uns bestimmenden Problematik reinlich innehalten oder ihn von
Grund aus verfehlen sollen.
Wir müssen uns beständig unser Prinzip vor Augen halten, das durch die
Natur der erkenntnistheoretischen Problematik vorgezeichnet ist. Alle na-
türliche Erkenntnis, alle natürliche Wissenschaft ist radikal in Frage gestellt
und muss daher als problematisch behandelt werden. Was problematisch ist,
dürfen wir aber nicht als unproblematisch behandeln. Problematisch ist vor
allem die gesamte Sphäre der Naturerkenntnis; in ihr liegen die nächsten und
empfindlichsten Motive für die Etablierung einer Erkenntnistheorie. Worauf
wir zuallererst stoßen, ist ja das Problem der Gegebenheit einer Natur; somit
ist es selbstverständlich, dass wir, wo alle Naturerkenntnis als solche uns
problematisch ist, nicht dadurch hoffen dürfen, zu einem Ergebnis kommen
und die uns bedrückenden Probleme lösen zu können, indem wir naturwis-
senschaftliche Ergebnisse hereinziehen, naturwissenschaftliche Forschungen
betreiben und so überhaupt uns in eine Erkenntnisstellung begeben, in der
Natur als Gegebenheit hingenommen wird, da uns ja diese Gegebenheit
überhaupt zum Problem geworden ist. Das gilt nun selbstverständlich auch
für die Naturwissenschaft, die wir Psychologie nennen. Erkenntnisse, gefasst
erkenntnisprobleme 39
als Erlebnisse erlebender Individuen, als reale Tatsachen in der Natur, sind,
wie alle solche Erlebnisse, Forschungstatsachen der Psychologie. Erkenntnis
als meine oder irgendjemandes Erkenntnis, als ein Vorkommnis in der Zeit,
derselben einen Zeit, welche Zeit ist der einen Natur, als Vorkommnis in
einem menschlichen Bewusstsein, das in seinem psychophysischen Zusam-
menhang mit menschlichem Leib sich der gesamten psychophysischen Natur
einreiht, erforscht die Psychologie; und sie ist Naturwissenschaft, weil sie
ebenso gut wie die physische Naturwissenschaft unter den Titeln „äußere“
und „innere Wahrnehmung“ unmittelbare Natursetzung vollzieht und dar-
auf alle mittelbare Naturbestimmung gründet. Ob die Psychologie dabei sich
gründet auf Selbstbeobachtung und natürliche Lebenserfahrung oder ob auf
Experiment, ist ganz gleichgültig. Psychologie ist Naturwissenschaft, und so
ist sie in jedem Schritt behaftet mit dem Stempel des Problematischen. Sie
steht in Frage, und folglich kann sie uns kein Fundament bieten.
Man kann sich die Notwendigkeit einer Ausschaltung aller naturwissen-
schaftlichen Voraussetzungen, aller Geltung von Naturwissenschaft über-
haupt aus dem Rahmen der hier zu führenden Untersuchungen in ver-
schiedener Weise klarmachen. Zunächst könnte man etwa sagen: Wird es
rätselhaft, wie Naturerkenntnis an sich seiende Natur erkennen kann, so ist,
solange dieses Rätsel ungelöst bleibt, mindest die prinzipielle Möglichkeit
offen – es ist mindest prinzipiell nicht unvernünftig –, die objektive Geltung
der Naturwissenschaft zu bezweifeln. Nun ist es klar, dass überall, wo uns
ein allgemeiner Zweifel bewegt und seinen vernünftigen Sinn hat, zu seiner
Entscheidung nichts benützt werden kann aus der Gesamtsphäre des durch
den allgemeinen Zweifel Betroffenen: Jede auf Entscheidung absehende
Untersuchung wird vernünftigerweise darauf bedacht sein, nichts im beson-
deren Fall als geltend anzusetzen, was seiner Geltung nach vom allgemeinen
Zweifel betroffen wird. Demnach wird auch erkenntnistheoretisch die For-
schung, die auf Wesen und Möglichkeit der Geltung der naturwissenschaft-
lichen Erkenntnis überhaupt gerichtet ist, sich nicht als naturwissenschaftli-
che Forschung etablieren und damit die Möglichkeit naturwissenschaftlicher
Forschung als zugestanden voraussetzen dürfen.
Man kann aber auch so ausführen: Wer die Schwierigkeiten, mit denen die
Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis behaftet ist, erwägt, braucht
persönlich an ihrer Triftigkeit keineswegs zweifelhaft zu werden. Er hält sie
fest, aber fordert eine Untersuchung, welche diese Schwierigkeiten aufhellen
soll. Eine solche Untersuchung kann unmöglich die Form einer naturwissen-
schaftlichen Untersuchung haben, also auf Naturobjekte, Naturvorgänge,
Naturzusammenhänge gerichtet sein und auf sie bezügliche Wahrheiten
40 allgemeine einführung
irgendwie hereinziehen. Denn das ist ja klar, dass wir aus naturwissenschaftli-
chen Behauptungen wieder naturwissenschaftliche Behauptungen gewinnen
werden, dass, was dabei resultieren kann, bestenfalls eine Erweiterung der
Naturwissenschaften wäre. Es handelt sich aber jetzt nicht darum, Naturwis-
senschaft zu erweitern, sondern ein Problem zu lösen, das sich auf alle noch
so weit geführte Naturerkenntnis, das sich auf Naturwissenschaft in ihrer
ganzen Weite und Vollendung immerfort bezieht. Es handelt sich um den
Sinn von Naturwissenschaft überhaupt, um den Sinn und die Möglichkeit der
Beziehung von Naturwissenschaft auf die angeblich an sich seiende Natur.
Es ist ja auch evident, dass unter dem naturwissenschaftlich Erforschten, also
den Vorkommnissen der Natur sich nicht auch so etwas wie Sinn der Natur,
Möglichkeit der Erkenntnis von Natur findet. Ich knüpfe hier gleich an: Man
darf nicht die Möglichkeit, die hier problematisch ist, mit realer Möglichkeit
vermengen. Das Problem der realen Möglichkeit der Erkenntnis ist etwas
total anderes als das der erkenntnistheoretischen Möglichkeit. Erkenntnis
als Naturfaktum steht nach den Feststellungen der Naturwissenschaft in
einem gesetzlichen Zusammenhang, eben dem Naturzusammenhang. Denn
Natur ist eine Einheit der Gesetzlichkeit. Psychophysische Gesetze schreiben
also vor, welche Erlebnisse in irgendeinem psychischen Individuum unter
gegebenen psychophysischen Umständen möglich sind und welche nicht.
Das gilt auch für Erkenntniserlebnisse. Hier stehen wir in der Naturwissen-
schaft; hier gilt sie uns fraglos; hier lassen wir uns von ihren natürlichen
und wohl begründeten Überzeugungen leiten. Wenn uns aber Naturwis-
senschaft überhaupt problematisch ist, nämlich wenn wir nicht verstehen,
wie sie gelten kann, wie der Sinn ihrer Geltung oder Geltungsprätention
aufzuklären ist: da haben wir keine Natur mehr als fraglose Gegebenheit, und
keine fraglos geltende Naturerkenntnis mehr. Da haben wir also nicht mehr
Erkenntnisakte als Bestandstücke der psychophysischen Natur gegeben, und
keine Naturgesetze gegeben, die die Natur und auch die Erkenntnisakte in
der psychischen Natur regeln. Die Möglichkeit der Erkenntnis, die hier in
Frage ist, mit der realen Möglichkeit der Erkenntnis verwechseln, die auf
die Erkenntnistheorie bezüglichen Probleme durch Rekurs auf den Men-
schen, auf die psychologische Entwicklung seines Seelenlebens und weiter
zurück auf die biologische Entwicklung der Menschheit lösen zu wollen,
das ist also purer Widersinn, es ist eine µετβασις in ein anderes γνος von
Problemen.1
Durch1 immer erneutes Nachdenken und Klarlegen muss man sich dessen
völlig vergewissern, dass sich an die Erkenntnis grundverschiedene Fragen
richten und grundverschiedene Forschungen knüpfen lassen. Auf der einen
Seite ist unter Erkenntnis ein psychologisches, biologisches, kulturhistori-
sches Faktum gemeint, das in den entsprechenden Naturwissenschaften bzw.
Kulturwissenschaften seine Erforschung findet. Auf der anderen Seite kann
Erkenntnis so betrachtet werden, dass alle Faktizität ausgeschieden bleibt
in dem Sinn, dass jede Ansetzung von Erkenntnis als Sein einer Natur un-
terbleibt, genau so, als wäre alle Naturwirklichkeit bezweifelt oder im Sinne
des antiken Skeptizismus völlig negiert, oder auch nur völlig außer Betracht
bleibend. In letzter Hinsicht erinnere ich etwa an die reine Arithmetik. Die
Streitigkeiten um die Art des Seins der Zahlen sind vom Standpunkt der
rein arithmetischen Wissenschaft offenbar Privatsache der Streitenden. Ob
Zahlen Geschöpfe des menschlichen Geistes sind oder ob sie allgemeine Ei-
genheiten der physischen wie psychischen Natur zumal ausdrücken oder ob
sie auf Natur in keiner Weise Beziehung haben, darüber fordert die Arithme-
tik selbst keine Entscheidung. Die Setzung von Natur ist keine weder offene
noch verschwiegene Voraussetzung, auf sie führt keine noch so minutiöse
Analyse der mathematischen Theorien nach Gehalt und Prämissen zurück.
So ist es auch mit der erkenntnistheoretischen Betrachtung der Erkennt-
nis. Eine Forschungsweise muss hier stattfinden bzw. stattfinden können,
innerhalb deren jede Setzung von Natur und somit auch jede Ansetzung von
Erkenntnis als Vorkommnis im Bewusstsein des und des Menschen, oder von
Menschen überhaupt, in der Natur überhaupt, gewissermaßen Privatsache
des jeweiligen Erkenntnistheoretikers ist, die den Inhalt der erkenntnis-
theoretischen Forschung nichts angeht. Oder was auf dasselbe ankommt:
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Durch immer erneutes
Nachdenken und Klarlegen muss man sich dessen völlig vergewissern, dass sich an Erkenntnis
und Wissenschaft grundverschiedene Fragen richten und grundverschiedene Untersuchungen
knüpfen lassen. Erkenntnis und Wissenschaft können naturwissenschaftlich und kulturwissen-
schaftlich untersucht werden, d. h. wir verstehen unter Erkenntnis einen Titel für gewisse
psychische Erlebnisse von Menschen, der bekannten Spezies der oberen Gattung animalia.
Wie alle psychischen Erlebnisse fallen diese in den Rahmen der Psychologie. Wissenschaft
bezeichnet dann einen Titel für gewisse historische Gebilde menschlichen Gemeinschaftslebens,
die teils naturhistorisch nach ihren allgemeinen morphologischen Eigentümlichkeiten, nach
ihren Hauptgestaltungen, nach den Entwicklungs- und Umbildungsformen dieser Gestaltungen,
nach den psychologischen und psychischen Bedingungen ihrer Entstehung und Veränderung
erforscht werden können, andererseits auch mit Hereinziehung axiologischer Gesichtspunkte,
unter Hereinziehung logischer Wertmaßstäbe als Kulturgebilde, als spezifisch historische Ge-
bilde betrachtet nach Aufblühen und Verfallen, nach besonderen und allgemeinen Gründen der
Entwicklung der in ihnen aufgespeicherten Werte.
42 allgemeine einführung
aber die Bedeutung seines Anfangs nicht verstanden und dieser Anfang
nicht im echten und notwendigen Sinn fortgesetzt. So fehlte in der Tat der
Philosophie der rechte Anfang. Doch darauf wollen wir gemäß unserem
Vorsatz, alle Philosophie auf sich beruhen zu lassen, nicht eingehen. Was
vom cartesianischen Meditieren in unserem wirksam geblieben ist, wird dem
Kundigen durch Vergleichung ohne weiteres deutlich werden.
Wollen wir also das Operieren mit Vorgegebenheiten im natürlichen
Erkennen einer radikalen Kritik unterziehen, so müssen wir versuchen, sie
insgesamt in Frage zu stellen, und obschon Infragestellen, recht verstanden,
keineswegs dasselbe besagt wie Bezweifeln, so können wir zunächst ganz
wohl die Methode befolgen, es mit dem universellen Zweifel zu versuchen.
Noch in der natürlichen Denkhaltung verbleibend, wissen wir ja zunächst,
dass in der Tat im einzelnen Fall Erkennen sehr oft vermeintliches Erkennen
ist, wir wissen, dass Irrtümer vorkommen. Wir wissen das selbst von der
unmittelbaren Erfahrung. Vermeintlich kommen in ihr Naturobjekte zu un-
mittelbarer Gegebenheit, und in einer Weise, dass jede mittelbare Ansetzung
von Naturdasein bei letzter naturwissenschaftlicher Begründung auf unmit-
telbare Erfahrungen zurückführt. Und trotzdem kann selbst unmittelbare
Erfahrung trügen. Ich erinnere nur an Halluzinationen, die in sich ja, in
ihrem eigenen Charakter und für sich genommen, von normalen Wahrneh-
mungen sich in keiner Weise unterscheiden. Jede einzelne Wahrnehmung
kann täuschen, so viel an ihr selbst liegt. Ebenso jede einzelne Erinnerung
usw. Woher wissen wir, dass nicht in jedem vorliegenden Fall Täuschung
vorliegt? Gewisse einzelne Erfahrungen erweisen sich als Scheinerfahrun-
gen durch ihren Widerstreit mit anderen unbestrittenen, oder sagen wir
selbst: unbestreitbaren Erfahrungen. Aber woher wissen wir, dass gerade
diese vorgegebenen Erfahrungen wirklich unbestreitbar sind? Lassen wir
uns durch diese natürlichen Überlegungen verwirren und mindest zum Ver-
such, zum Ansatz des universellen Zweifels forttreiben! Kann etwas ihm
standhalten, und in einer Weise, dass jeder Zweifel an diesem Punkt sich
als widersinnig aufhebt? Oder hält gar alles in dieser Weise stand? Das
Letztere sicher nicht. Denn jetzt im versuchten universellen Zweifel und
in einer Stellung, die jedes natürliche Sein, ja wir können weiter spannen:
jedes Sein überhaupt, in Frage stellt, können wir doch hypothetisch ansetzen:
Gesetzt, es gäbe eine physische Welt und sie sei erkennbar, und gesetzt, es
sei irgendein physisches Ding wahrgenommen oder sonstwie unmittelbar
erfahren, dann ist es evident, dass diese Wahrnehmung täuschen kann,
dass das wahrgenommene Ding gar nicht zu existieren braucht. Nämlich
widersinnig ist der Zweifel offenbar in keinem Fall. Doch genügt es, dass
44 allgemeine einführung
1 Gestrichen Aber freilich müssen wir bald erkennen, dass Descartes den wahren Anfang
nicht habe.
2 Gestrichen Darin aber meine ich die entscheidenden Grundpunkte sehen zu müssen.
46 allgemeine einführung
1 Gestrichen So bei jeder cogitatio. Urteilend und auf das Urteil hinblickend ist es unmöglich,
oder besser: unvernünftig, widersinnig, zu zweifeln, ob das Urteilen sei und nicht vielmehr zu
sein scheine, zweifelnd, ob das Zweifeln sei und nicht vielmehr zu sein scheine usw. Im Hinblick
auf das Erlebnis der jeweiligen cogitatio habe ich nicht eine bloße Erscheinung der cogitatio,
sondern sie selbst.
Diese Zweifellosigkeit werden wir sicherlich – und wird niemand – anfechten können.
Und wir fragen nun: Was ist da festgestellt und was lässt sich von da aus weiter machen?
Zunächst, was wir nicht entnehmen dürfen im Sinn unserer Problematik und der eigentümlichen
Urteilsenthaltung, die sie fordert, ist die empirische Ichexistenz, die im cogito enthalten ist, also
48 allgemeine einführung
Was wir in Anspruch nehmen dürfen, ist das, was das reine Schauen
selbst fasst, und nichts weiter. Die Existenz der cogitatio in psychologischem
Sinn ist das sicher nicht. Jede Natursetzung muss ausgeschaltet bleiben, also
auch die Existenz meines, des reflektierenden Ich als der psychophysischen
Persönlichkeit, die da hier und jetzt im Weltraum und der Weltzeit ist und
die diese cogitatio erlebt, die so und so zweifelnd, reflektierend, urteilend,
wahrnehmend usw. sich betätigt. In all dem stecken Fraglichkeiten der Sorte,
die eben in Frage gestellt bleiben sollen. Freilich, wie da die Rede ging, war
sie ja immerfort Rede von einem Ich, also wohl einem Menschen, einem
Philosophen, der da überlegte, der da wahrnahm, urteilte, zweifelte, schau-
end auf den oder jenen vollzogenen Akt hinblickte usw. Aber das sollten
indirekte Hindeutungen auf eine Stellungnahme sein, die keineswegs die
Existenz von Menschen, von Philosophen usw. mitsetzte. Jeder von uns mag,
etwa wahrnehmend, sein Wahrnehmen zum Zielpunkt des Schauens machen
und dieses darin fassend sagen: „Das ist; es ist undenkbar, dass das nicht sei“,
und sich zum Bewusstsein bringen, dass darin nichts anderes als zweifellose
Gegebenheit gesetzt sei als eben „dies da“, dies Wahrnehmen, und nicht
etwa das Ich, die Person, die Zeit, die Umstände usw. Genau das, was der
schauende Blick wirklich fasst, und so, wie er es da fasst, das soll gesetzt sein,
und nicht mehr. Danach scheidet sich uns in völliger Schärfe dieses Schauen,
das die cogitatio schauend fasst, von dem, was in der Psychologie unter dem
Titel „innere Wahrnehmung“ oder auch „psychologische Wahrnehmung“
besprochen wird. Die Verwandtschaft ist ja offenbar, und doch sprechen wir
von einer scharfen Scheidung. Der Psychologe sagt aus: Jeder Mensch hat
von seinen eigenen psychischen Zuständen innere Wahrnehmungen, sofern
er seinen reflektierenden Blick auf sie richtet. Gewiss. Aber so, wie die so
genannte äußere Wahrnehmung physische Dinge betrifft, ihre Eigenschaf-
ten, Relationen, ihre Bewegungen und Veränderungen, so betrifft die innere
Wahrnehmung als psychologische Wahrnehmung die Icherlebnisse, Akte,
Zustände der wahrnehmenden Person selbst. Die Wahrnehmungsaussage
lautet hier: „Ich urteile, ich vollziehe einen Zweifel“ usw. Darin ist das Ich,
ist das psychische Subjekt wie ein anderes Naturding gesetzt, und wir stehen
in der Natur, die wir in psychologischer Hinsicht durchforschen wollen und
in die das Psychische unmittelbar eingeordnet wird. Die cogitatio ist aber
in der phänomenologischen Wahrnehmung, wenn wir schon diesen neuen
Ausdruck gebrauchen, nicht gesetzt als Sein in der Natur. Ob wir alle Natur
den cartesianischen Satz „cogito ergo sum“. Statt ihn als Grundsatz anzunehmen, klammern
wir vielmehr ein.
die cartesianische zweifelsbetrachtung 49
auch negiert denken würden: das Sein, das hier der rein schauende und in
nichts das Schauen transzendierende Blick setzt, bliebe von der Negation
unberührt. Eine Negation der Natur als physischer Natur nimmt der physi-
schen Naturwissenschaft das Objekt, eine Negation der psychischen Natur
hebt ebenso die Psychologie auf, diese verliert ihr Objekt. Die Aufhebung
aller Natur überhaupt nimmt aber nicht der Phänomenologie das Objekt, da
sie prinzipiell keine Natur setzt.
Wir haben in der letzten Vorlesung eine gewisse Brauchbarkeit der car-
tesianischen Zweifelsbetrachtung für die Herausstellung eines absoluten
Anfangs der Erkenntnistheorie erkannt.
Verstehen wir nicht, wie Erkenntnis ein Objekt erfassen soll, das ihr
gegenüber an sich ist, m. a. W. das ist, was es ist, ob Erkenntnis sich darauf
richtet oder nicht,1 dann können wir dieses Verständnis offenbar nicht ge-
winnen, wenn wir in natürlicher Erkenntnishaltung an sich seiende Objekte
als Gegebenheiten gelten lassen und sie so, wie sie sich geben, beschreiben
und sonstwie theoretisch erkennen. Jeder Schritt impliziert hier ja das volle
ungelöste Rätsel. Zu einem Verständnis können wir nur kommen, wenn wir
mit einem Erkenntnisschritt beginnen und einen Erkenntnisweg beschrei-
ten, der selbst das Rätsel nicht enthält.2 Müssen wir also jedes Ansichsein
hinsichtlich seiner Geltung dahingestellt sein lassen, so ist es genauso, als
wären wir Skeptiker. Und suchen wir einen Anfang, der mit dem Rätsel des
Ansichseins nicht behaftet ist, so ist es genauso, als suchten wir einen archi-
medischen Punkt, der den Angriffen des Skeptizismus absolut Widerstand
leisten könnte.
Wie Descartes also stellen wir fest die absolute Gegebenheit der cogitatio.
All die Erlebnisse, die der weite Titel der Erkenntnis umspannt, Wahrneh-
mungen, Vorstellungen, Urteile, Vermutungen usw., gehören hierher, aber
auch andere Erlebnisse, wie alle so genannten Gemütserlebnisse. Und zwar
gehört all dergleichen in den Rahmen der absoluten Gegebenheit hinein,
soweit der schauende Blick sich auf das Erlebnis richtet und es schlicht fasst.
Wenn ich ein Urteil fälle, so mag es z.B. sein, dass das Urteil falsch ist, dass
die Dinge, von denen es spricht und die es als Wirklichkeiten ansetzt, gar
1 Gestrichen und das, wenn es erkannt ist, doch wieder nicht ein der Erkenntnis als Bestand-
lichkeit transzendenter Erkenntnis leugnet oder am Ende gar die jeder Erkenntnis überhaupt
leugnet, hier zu bekämpfen, so können wir doch genauso anfangen, wie Descartes in Absicht auf
einen dem extremen Skeptizismus gegenüber absolut widerstandsfähigen Anfang verfuhr. Wir
tun so, als wären wir extreme Skeptiker, nämlich hinsichtlich jeder transzendenten Erkenntnis,
und sehen zu, was da absolut fest bleibt.
50 allgemeine einführung
nicht sind. Blicke ich aber auf das Urteil hin und fasse es in diesem Schauen,
dann ist das absolut zweifellos, dass dies Urteil ist.
Das Sein der cogitatio ist absolutes Gegebensein: Das gegen den Skep-
tizismus. Für uns aber kommt in Betracht, dass es fragloses Gegebensein
ist, nämlich nicht behaftet mit dem Rätsel der Transzendenz. Im1 Grunde
genommen war die Fraglosigkeit der cogitatio hinsichtlich ihres eigenen
Gegebenseins schon in der Formulierung des Rätsels vorausgenommen. Wer
da fragt: „Wie ist es zu verstehen, dass Erkenntnis etwas ihr Transzendentes
fassen soll?“, oder gar, wer fragt: „Wie soll Erkenntnis über das Bewusstsein
hinauslangen?“, der denkt ja wohl: „Würde Erkenntnis bloß hinschauen auf
das Bewusstseinsgegebene, dann wäre kein Anlass zu einer Frage.“
Was lässt sich nun aus dem Anfang, den wir gewonnen haben, machen?
Oder vielmehr: Was dürfen wir aus ihm nicht machen? Denn gleich der
erste Schritt birgt eine Gefahr, eine Versuchung, der die meisten Erkennt-
nistheoretiker unterlegen sind, und als Erster auch Descartes. Die absolute
Gegebenheit und Fraglosigkeit des Gegebenseins der cogitatio dürfen wir ja
nicht gleichsetzen der cartesianischen Evidenz des cogito oder des cogito ergo
sum. Die Existenz der cogitatio als me ine r cogitatio, und damit die Existenz
des eigenen Ich, dürfen wir mitnichten in Anspruch nehmen, sondern nur
das, was in jenem reinen Schauen in strengstem und eigentlichstem Sinn
zur Gegebenheit kommt. Im Sinne unserer Fragestellung liegt es (ebenso
wie im Sinne der Aufsuchung des archimedischen Punktes gegen den Skep-
tizismus), dass jede Setzung von Natur ausgeschaltet bleibt. Sowie wir zur
cogitatio hinzurechnen, dass sie mir, diesem Ich, dieser erlebenden Person
angehöre und damit zur Einheit der Allnatur, hat die Setzung der cogitatio
nicht mehr den Charakter der rein selbstgebenden Schauung, sondern den
Charakter einer Wahrnehmung, die genau in dem Sinn rätselbehaftet ist wie
jede beliebige äußere Wahrnehmung. Vorstellend,2 wahrnehmend, urteilend,
fühlend usw. kann ich schauend hinblicken oder zurückblicken auf dieses
Vorstellen, Wahrnehmen usf. Dieses Schauen ist zweifellos und von aller
Fraglichkeit frei, wofern ich rein das in ihm Geschaute, das da wirklich selbst
Gefasste, selbst Gegebene, nehme und nichts anderes. Darüber gehen wir
aber weit hinaus, wenn wir das Erlebnis als unse r, als unseres Ich Erlebnis
nehmen.3 Wir müssen radikal scheiden die phänomenologische Reflexion,
schauung gegründet, aber gerichtet ist der Wunsch auf die Sache, und somit unempfindlich gegen
alle Unterschiede der Anschauung, die die Sache ungeändert lassen. Dem leeren Wünschen liegt
die cartesianische zweifelsbetrachtung 51
welche das jeweilige Erlebnis, etwa das einer Wahrnehmung oder eines
Urteils, zur Selbstgegebenheit bringt und jederlei Mitmeinungen, Mitauffas-
sungen ausschaltet, die nicht den rein selbstgebenden Charakter haben, und
andererseits die psychologische Wahrnehmung, welche das Dasein der Erleb-
nisse als Erlebnisse von erlebenden Ich konstatiert, von Menschen etwa, von
Tieren u.dgl. Die erlebenden Wesen sind Naturobjekte, und nicht minder
gehören ihre Erlebnisse in die Einheit der Natur und sind als Naturfakta
von der Psychologie gemeint und gesetzt. In dieser Hinsicht macht es keinen
Unterschied aus, ob der Psychologe unter dem Titel „innere Wahrnehmung“
seine eigenen Erlebnisse beobachtet oder ob er in der Weise der so genannten
Einfühlung anderen Menschen oder Tieren psychische Erlebnisse beimisst
aufgrund ihrer leiblichen Äußerungen. Innere Wahrnehmung als Wahrneh-
mung, die ich von meinen eigenen Erlebnissen vollziehe, ist nicht minder
mit dem Rätsel der so genannten Transzendenz behaftet wie die Wahrneh-
mung von äußeren Dingen oder von psychischen Akten anderer. Freilich
ist, objektiv gesprochen, auch die phänomenologische Wahrnehmung eine
Wahrnehmung, in der der Wahrnehmende seine eigenen psychischen Erleb-
nisse erfasst. Aber nicht darauf kommt es an, dass das objektiv gilt, sondern,
ob die Wahrnehmung so vollzogen ist, dass sie selbst das wahrgenommene
Erlebnis dem Ich und damit der Natur einordnet. Alle objektive Geltung und
Meinung, die transzendente Objektität meint, schalten wir aus und müssen
wir ja ausschalten, da wir die Möglichkeit solcher Geltung in Frage gestellt
haben. Die phänomenologische Reduktion müssen wir also in jeder Hinsicht
und konsequent vollziehen, und es ist ein πρτον ψεδος, die Evidenz der
cogitatio umzudeuten in die Evidenz absoluter Gegebenheit des eigenen
Ich und von da in das Problem überzugleiten: Wie komme ich über mein
eigenes mir absolut gegebenes Ich hinaus zur berechtigten Setzung der üb-
rigen Natur, wie komme ich von der mir durch das cogito allein unmittelbar
gewährleisteten Ichexistenz zur Annahme einer Außenwelt? Das aber ist
der Kardinalfehler, den die Philosophie der Neuzeit und nicht minder die
Philosophie der Gegenwart immer wieder gemacht hat. Kants1 Opposition
eine Leervorstellung zugrunde, und die ist natürlich ebenso unempfindlich gegen die mögliche
Erscheinungsweise. Liegt also dem Wünschen eigentlich ein Denken zugrunde?
Ist in gewisser Weise nicht auch das Wahrnehmen unempfindlich gegen die Erscheinungs-
weise? Das Wahrnehmen bringt zwar den Gegenstand von einer einzigen Seite (als ruhendes
Wahrnehmen) zur Gegebenheit, aber im Wahrnehmen lebend, meinen wir da nicht das Objekt
schlechthin?
1 Dieser Satz ist Veränderung für Zum mindesten mit ganz seltenen Ausnahmen, wobei aber
die Unklarheit, mit der die abweichende Position vertreten wurde, jeden Eindruck auf die
herrschenden Naivitäten verfehlte.
52 allgemeine einführung
hat in dieser Hinsicht wenig genützt, nämlich bei all denen nicht, die an dem
mythischen Charakter seiner Erkenntnistheorie Anstoß nahmen.
Also nicht das sum ist die Ausgangsevidenz, sondern die cogitatio rein
in sich, als das absolute Diesda genommen, mit Ausschluss aller über sie
hinausgehenden Meinung. Ein Ich, das Wort ganz natürlich verstanden,
haben wir nicht irgendwie bevorzugterweise gegeben vor der Natur. Die1
Ichwahrnehmung hat gar keinen Vorzug vor der Dingwahrnehmung. Beide
sind gleich unmittelbar, erkenntnistheoretisch mit gleichen Rätseln behaftet
und andererseits naturwissenschaftlich gleichberechtigt, also für die Natur-
wissenschaft in gleicher Weise erste Anfänge.
Das Erstgegebene für uns, die wir auf erkenntnistheoretische Aufklärung
der Möglichkeit transzendenter Erkenntnis gerichtet sind, ist dasjenige,
was durch einen alle Transzendenz leugnenden Skeptizismus nicht berührt
wird. Die Leugnung der Transzendenz hebt die Naturwissenschaft auf. Ne-
giert man die physische Natur, so verschwindet die Physik, negiert man
die psychische Natur, so verschwindet die Psychologie. Negiert man aber
alle Natur, so verschwindet nicht die Phänomenologie, es verschwinden
jedenfalls die Phänomene nicht, die in der phänomenologischen Schauung
als Selbstgegebenheiten dastehen. Freilich, ob das zu einer Wissenschaft,
genannt Phänomenologie, zureichen kann, ist noch nicht sicher.2
1 Der Rest des Absatzes ist Veränderung für geschweige denn, dass zeitlich hier davon die
Rede wäre, es sei historisch oder auch logisch das Ich das selbst zuerst Gegebene, und dann erst
werde auf eine Außenwelt geschlossen oder müsse darauf erst geschlossen werden. Davon ist
hier keine Rede, wiederhole ich.
2 Gestrichen Nach dem gemachten Anfang ist nun eben dies zu erwägen, was wir in ihm haben
und inwieweit Wissenschaft sich hier etablieren kann, und wieder, wie diese Wissenschaft die
Lösungen der erkenntnistheoretischen Probleme enthalten bzw. leisten soll.
Zunächst ist hervorzuheben, dass der Titel cogitatio gewisse Data befasst, die in reiner
Selbstgegebenheit dastehen, nämlich im schlicht schauenden Blick und unter Abweisung aller
mitverflochtenen transzendierenden Meinungen.
reelle und intentionale analyse der phänomene 53
werden. Andererseits soll aber jetzt gezeigt werden, dass an einer cogitatio
auch Gegebenheiten aufgewiesen werden können, die ihr gewissermaßen
transzendent sind, nämlich die nicht als Bestandstücke der cogitatio und
somit auch nicht als Bestandstücke des psychischen Phänomens gelten kön-
nen. Also wir können z.B. eine Wahrnehmung so beschreiben, dass wir reelle
Stücke oder Momente der Wahrnehmung analytisch herausheben. Anderer-
seits können wir aber „in“ einer Wahrnehmung absolute Gegebenheiten
finden und in absoluter Evidenz beschreiben, die, wie es heißt, zwar „in“ ihr
wahrgenommen und doch nicht in ihr reell als Bestandstücke gegeben sind.
Das alles in der Sphäre der phänomenologischen Reduktion. Dasselbe gilt
von einer Erinnerung, einer Bildvorstellung, einer Phantasie, einem Urteil
usw.
Beispiele werden deutlich machen, worum es sich hier handelt. Nehmen
wir etwa an, wir blickten mit Wohlgefallen in unseren Garten, auf einen
blühenden Obstbaum, auf das jugendfrische Grün der Büsche u.dgl. Wir
vollziehen nun phänomenologische Reduktion; wir setzen gewissermaßen
die ganze Naturwirklichkeit, unser eigenes Ich so gut wie die übrige Natur,
in Klammern. Ihre Existenz eben als Naturexistenz sei ausgeschaltet, wie
wenn wir Skeptiker wären. Unser Schauen fasst die Wahrnehmung bzw. die
Wahrnehmungskontinuität, in der wir den blühenden Baum, den ganzen
Garten, dann wieder die blühenden Büsche usw. betrachten, als reine Gege-
benheit, und desgleichen das Wohlgefallen, das wir an all dem empfinden.
Die Einstellung hat sich geändert. Und unser Schauen richtet sich jetzt auf
das Wahrnehmen und nicht auf das Wahrgenommene, auf das Wohlgefal-
len und nicht auf das Wohlgefällige. Aber ist damit die Beziehung auf das
Wahrgenommene, auf die natürliche und wohlgefällige Gegenständlichkeit
verloren gegangen? Kann sich unter beständiger Ausschaltung der Existenz
der Natur, also ohne jede Inanspruchnahme ihres Seins im natürlichen Sinn,
der schauende Blick nicht auch richten auf die Gegenständlichkeit, so wie
sie da gegeben ist? Und ist sie da nicht in gewisser Weise gegeben? Ist nicht
die Scheidung zwischen Wahrnehmung und wahrgenommenem Gegenstand,
Wohlgefallen und dem Wohlgefälligen etwas, das durchaus in dem Rahmen
der phänomenologischen Einstellung vollzogen werden kann? Sprechen wir
zuerst natürlich: Wir sehen den Garten, in ihm – unser Auge richtet sich jetzt
darauf – den blühenden Baum; unser Auge wandert von Zweig zu Zweig,
vom Wipfel zum Stamm, es wendet sich dann etwa auf den grünenden Rasen
usw. Immerfort Veränderungen! Der Garten, der Baum, der Rasen ändert
sich nicht. Was sich ändert, das nennen wir das Erlebnis der Wahrnehmung,
und ebenso das darin fundierte Wohlgefallen, das einmal Wohlgefallen an
reelle und intentionale analyse der phänomene 55
dem Blütenreichtum, dann am Rasen ist, und einmal reicher und lebendiger
wird und das andere Mal ärmer und schwächer. Einerseits das Erlebnis der
Wahrnehmung, andererseits die Wahrnehmungserscheinung: Es ändert sich
hier Verschiedenes nicht.
Wir können nun daran gehen, so gut es beim ersten Anhieb gelingen mag,
das dabei sich Verändernde in der psychologischen Reflexion zu beschreiben;
wir vollziehen Beschreibungen der Wahrnehmungen, der Gefühle, der psy-
chischen Erlebnisse. Demgegenüber ist es eine ganz andere Beschreibung,
wenn wir den Baum beschreiben, seine Blüten, seinen Stamm, den Rasen
usw. Nehmen wir jetzt an, wir kämen mit einem Male zur Überzeugung,
dass all das Illusion sei, eine Fata Morgana, also in Wirklichkeit ein Nichts;
genauer gesprochen: all das vorhin als existierend Geltende gelte jetzt als
nicht existierend. Hinsichtlich der Beschreibungen hat sich nichts Wesent-
liches geändert. Hält die Erscheinung stand, so müssen wir nach wie vor
sagen: „Es steht ein Garten da, in ihm ein Baum, und gerade ein so beschaf-
fener, blühender“ etc. Nur sagen wir: „Es ist keine Wirklichkeit.“ Wir sagen
vielleicht: „Objektiv existiert hier nichts von dem Erscheinenden, all das ist
bloß subjektive Täuschung, es ist etwas Psychologisches.“ Offenbar ist aber
der Garten, der Baum, die Wiese, kurz all die gegebene Gegenständlichkeit
nicht etwa ein Stück der psychischen Phänomene, der Wahrnehmungen in
ihrer so und so verlaufenden Kontinuität. Der Garten existiert nicht: Das
heißt nicht, er existiert nur nicht „in der Außenwelt“ und dafür im Erlebnis
des Wahrnehmens. Das Wahrnehmen nimmt diese Dinglichkeiten wahr,
aber die wahrgenommenen Dinglichkeiten sind nicht reelle Stücke in der
Wahrnehmung.
Wir merken, dass wir in all diesen Beschreibungen Evidenz in reichlichem
Maß haben. Es ist offenbar, dass unabhängig davon, ob wir die Dinge da
für Wirklichkeiten nehmen oder für Phantasmagorien oder ob wir uns jeder
Wirklichkeitssetzung enthalten, mit Evidenz über sie ausgesagt werden kann,
nämlich sie erscheinen, und erscheinen eben als so und so beschaffen. Was
da gesehen ist, was da wahrnehmungsmäßig erscheint, kann nach seinen
erscheinenden Teilen, Seiten, Momenten beschrieben werden, und ist die
Beschreibung getreu, so hat jeder Zweifel keinen Sinn.
Andererseits finden wir in unserer jetzigen psychologischen Einstellung
Komponenten in unseren Urteilen, die nicht absolut evident sind, eben
soweit wir die erscheinenden Dinglichkeiten und andererseits unsere Er-
lebnisse im empirischen Sinn als Wirklichkeiten setzen.
Gehen wir nun zur phänomenologischen Haltung über, so haben wir
alles, was nicht absolute Gegebenheit bzw. was nicht in absolut evidenter
56 allgemeine einführung
1 Gestrichen Wir sehen also, dass sich ein doppelter Sinn von Immanenz und von absoluter
Selbstgegebenheit und absoluter Deskription abhebt, Immanenz im realen und in einem idealen
Sinn. Nur der erstere entspricht der psychologischen.
2 Randbmerkung Transzendentes, wenn es wirklich ist? Die Ausdrucksweise ist zu verbessern
und das Ganze zu verschärfen. Eine gewisse Transzendenz gehört zum „Wesen“ der cogitatio.
Jede ist Bewusstsein von etwas, und das vor der Frage nach der „Wirklichkeit“, überhaupt
„Gültigkeit“, die ihrerseits doch wieder voraussetzt Bewusstsein als Bewusstsein von etwas.
reelle und intentionale analyse der phänomene 57
ins Auge gefassten Erlebniskreises genau ebenso gilt. Wenn wir z.B. in der
reinen Bildbetrachtung versunken sind, fallen, in dieser rein ästhetischen
Stellung, von selbst alle Natursetzungen fort. Aber das bildlich erscheinende
Objekt steht für uns da, es fesselt unser Interesse, wir können es beschreiben,
und die Beschreibung kann Evidenz haben. Das Transzendente ist in gewisser
Weise absolut gegeben. In welcher, wieweit da von Gegebenheit zu sprechen
ist, darüber noch mehr. Jedenfalls ist es zweierlei, die Existenz von Tran-
szendentem ausschalten und das Transzendente ausschalten, sofern es in der
Wahrnehmung Wahrgenommenes, im Denken Gedachtes, im prätendierten
Erkennen Erkanntes ist usw.1,2
Endlich1 muss noch auf eins aufmerksam gemacht werden. Wir sprachen
zu Anfang dieser Vorlesungen davon, dass der Naturforscher es neuerdings
liebe, auch die physischen Dinge, physischen Vorgänge, kurz die Forschungs-
objekte der physischen Naturwissenschaft, als Phänomene zu bezeichnen.
Wie verhält sich dieser naturwissenschaftliche Begriff von Phänomen zu
dem unseren, und zwar dem Phänomen im engeren Sinn? Wir hätten dann
etwa zu sagen, in den verschiedenen Stufen des naturwissenschaftlichen
Erkennens seien diesem Erkennen immer neue Phänomene in unserem
Sinn intentional. Diese werden aber nicht im Sinne der Phänomenologie
als Phänomene gesetzt, sondern in der naturwissenschaftlichen Stellung
werden Wirklichkeiten gesetzt und negiert, die sich in den Phänomenen
darstellen, die aber nicht selbst Phänomene sind. Der Naturforscher vollzieht
Wirklichkeitsurteile; die wahrgenommenen Dinge setzt er als wirkliche oder
evtl. als unwirkliche. Während er aber die Illusion z.B. verwirft, ist in ihr
ein Phänomen intentional gegeben, und das Phänomen verwirft er nicht als
Phänomen, sondern er leugnet nur, dass in ihm Wirklichkeit gegeben sei. Das
Sein des Intentionalen, als ideell in der cogitatio Gemeintsein und insofern
beschreibbar zu sein, ist nicht zu verwechseln mit dem Sein der „Sache
selbst“, dem so genannten Wirklichsein. Kurzum, wir haben hier gewisser-
maßen zweierlei Sein zu unterscheiden, das Sein im gewöhnlichen Sinn, als
Wirklichsein, und das Sein, das in der phänomenologischen Stellung zur
Gegebenheit kommt, das Sein unter Anführungszeichen,
f das Bewusst-Sein.
Es entspricht diese Scheidung einer doppelten Urteilsweise. In der einen
vollziehen wir Wahrnehmungen, Erinnerungen, prädizierende Urteile u.dgl.
in natürlicher Weise; wir urteilen da über die wahrgenommenen, erinnerten,
gedachten Gegenstände (über seiende, wirkliche). Andererseits können wir
reflektiv urteilen; wir urteilen über die Wahrnehmung und darüber, dass in
ihr das und das wahrgenommen sei, dass zu ihrem so genannten „Sinn“
das und das gehöre, wobei wir alles, was über den Sinn und seinen Inhalt
hinausgeht, seinem Sein nach dahingestellt sein lassen oder lassen können.
In allen Erkenntnisakten, in allen cogitationes überhaupt ist ein Sinn, aber
nicht alle Erkenntnis geht darauf und geht darin auf, Erkenntnis von Sinn
zu sein, sondern sie geht in der naturwissenschaftlichen Sphäre z.B. darauf,
eine scharfe Unterscheidung nötig ist, das Phänomen als cogitatio eine Phansis und die reelle
Analyse derselben eine phansiologische Analyse. Demgegenüber Phänomen im engeren Sinn
das Intentionale der jeweiligen cogitatio. Es wird sich übrigens herausstellen, dass hinter den
Phanseis noch eine Schichte von Urphänomenen liegt, die erst das Bewusstsein im letzten und
absolutesten Sinn ausmachen.
1 Randbemerkung Naturwissenschaftlicher Begriff von Phänomen.
rekapitulation 59
Erkenntnis von etwas zu sein (als einem ν ς αλετς), das sich in dem oder
jenem Sinn darstellt oder vorstellt.
Das alles soll nichts weniger als endgültige Lehre sein. Hier handelt es sich
nur darum, dass Sie die verschiedenen Urteilsrichtungen bzw. die verschie-
dene Dimension von Gegebenheiten sehen, die beurteilt werden können,
und evtl. wissenschaftlich beurteilt werden können, insbesondere aber den
Unterschied zwischen den Naturgegebenheiten, die jeweils und notwendig
durch Phänomene in unserem Sinn gegeben sind, und den Phänomenen
selbst als Gegebenheiten in der phänomenologischen Reduktion.
Nach1 all diesen Ausführungen erkennen wir, dass die Ausdehnung der
Phänomenologie, soweit sie die reinen Phänomene erforscht, grenzenlos ist
und in ihrer Art alle vorphänomenologische Erkenntnis und Erkenntnisge-
genständlichkeit in sich schließt. Alle Erkenntnis, alle Wissenschaften und
korrelativ alle Welt, die ganze physische und psychische Natur, die Welt des
Mathematischen, die Welt der Werte usw., alles fällt auch in die Phänome-
nologie. Alles wirkliche Sein lässt sich ins Phänomen setzen: nämlich als
Korrelat, sei es einzelner Meinung, sei es zusammenhängender Erkenntnis,
sei es ganzer Wissenschaften.
Rekapitulation
Aus den Meditationen der letzten Vorlesungen ist hervorgegangen, dass
die phänomenologische Reduktion und die mit ihr vollzogene Ausschaltung
der Transzendenz nicht missverstanden werden darf. Einerseits liegt darin
nicht ein Sich-Zurückziehen auf die angebliche Evidenz des Selbstbewusst-
seins, der psychologischen inneren Wahrnehmung. Nicht das cogito und das
darin beschlossene sum dürfen wir als absolute Gegebenheit in Anspruch
nehmen. Das so genannte Selbstbewusstsein, die Wahrnehmung des eigenen
Ich und der Erlebnisse als seiner Erlebnisse hat in erkenntnistheoretischer
Hinsicht keinen Vorzug vor der so genannten äußeren Wahrnehmung. In
die Sphäre der Fraglichkeit fallen beide; in gleicher Weise sind sie mit dem
Problem behaftet, wie Erkenntnis über sich hinausgreifen und etwas als
wirklich existierend ansetzen könne, was ihr nicht selbst „immanent“ ist, in
ihr selbst nicht in einer Weise gegeben ist, die jeden Zweifel, ob es wirklich
sei oder nicht, als widersinnig erscheinen lässt.
Aber noch in einer anderen Richtung, sahen wir, kann die Ausschaltung
des transzendenten Seins missverstanden werden. Haben wir schon die co-
gitatio rein herausgehoben; haben wir nicht bloß die Existenz dessen, was
in ihr vorgestellt, wahrgenommen, abgebildet, erinnert, gedacht ist u.dgl.,
(sofern es ein Ansichseiendes gegenüber der cogitatio zu sein beansprucht)
ausgeschaltet, sondern auch ausgeschaltet die Ansetzung der cogitatio als
Erlebnis des jeweiligen psychophysischen Individuums und als reales Datum
der Allnatur,1 dann ist vor der neuen Versuchung zu warnen, als ob die so
reduzierte cartesianische Evidenz die Bedeutung habe ihrer Beschränkung
auf die der cogitatio reell immanenten Gegebenheiten. Das heißt: Zunächst
scheint es selbstverständlich, dass die einzigen Erkenntnisse, die aus den
reduzierten cogitationes zu gewinnen sind, die einzigen evident gesicherten
und in der phänomenologischen Stellung gestatteten Aussagen solche wären,
die sich auf reelle Teile, Seiten, Momente der jeweiligen cogitatio beziehen.
Zum Beispiel die Wahrnehmung eines blühenden Baumes ist in der auf sie
gerichteten Reflexion absolut gegeben. Ausgeschaltet ist alle Beziehung auf
die psychophysische Natur, die Existenz des Ich ebenso wohl wie die des
blühenden Baumes selbst und seiner Naturumgebung usw. Selbst wenn wir
in dieser Hinsicht Skeptiker wären: die im Blick der Reflexion gegebene
Wahrnehmung ist eben gegeben, und absolut gegeben. Erfasst dieser Blick
an ihr irgendwelche Teile oder Momente, so sind auch sie absolut gegeben. Es
scheint also auf reelle Analyse der Phänomene, der reduzierten cogitationes
hinauszukommen, und anderes scheint gar nicht möglich zu sein. Da nun
auch der Psychologe, der die Erlebnisse als Fakta der Natur fasst, in großen
Strecken der immanenten Analyse bedarf und der immanenten getreuen De-
skription, so scheint phänomenologische Analyse und Deskription nur durch
eine Nuance von der psychologischen unterschieden zu sein, einzig und allein
durch den Umstand, dass der Phänomenologe die cogitatio, die er schaut, in
ihrem absoluten Sein fasst, der Psychologe aber sie der psychophysischen
Natur als reales Vorkommnis einordnet.
Wir aber wurden darauf aufmerksam, dass die gesamte Sphäre der Natur-
transzendenz in gewisser Weise in die der phänomenologischen Immanenz
hineingehört; wir erkannten, dass nach Ausschaltung der Naturexistenz, nach
Ausschaltung von fraglicher transzendenter Existenz überhaupt, die Bezie-
hung auf Transzendenz von der cogitatio nicht weggeschnitten werden kann
und dass hier ein großes Feld evidenter Aussagen ist und absolut zweifelloser
Analysen. Blickt die Reflexion auf eine jetzt ablaufende Wahrnehmung,
so gehört zu ihr evidenterweise und ganz unaufhebbar auch dies, dass sie
Wahrnehmung von dem und dem, etwa Wahrnehmung vom blühenden Baum
1 und als reales Datum der Allnatur wurde vermutlich erst später gestrichen.
rekapitulation 61
auf dieser grünen Wiese ist. Diesen blühenden Baum als reines Wahrneh-
mungskorrelat, so wie „er“ von der Wahrnehmung wahrgenommen ist, nach
den Teilen, Seiten, Momenten, die sie „ihm“ zumisst oder in welchen er
in ihr dasteht, können wir beschreiben; und ist die Beschreibung getreu,
geht sie in keiner Weise hinaus über das, was der analysierende Blick an
„diesem Baum“ als dem wahrgenommenen wirklich findet, bzw. schränkt
sich dieser Blick rein auf das Wahrgenommene als solches und das es als sol-
ches Konstituierende ein, dann haben wir die uns durch phänomenologische
Reduktion gesteckten Schranken in keiner Weise überschritten. Die Existenz
des Baumes als eines wirklichen Dinges, als einer Natur und eines Stückes der
Natur ist und bleibt ausgeschaltet. Mögen wir die Existenz einer Natur und
die Existenz dieses Baumes selbst als Skeptiker bezweifeln, ja negieren: was
wir da festgestellt haben, bleibt festgestellt. Es bleibt immer dabei, dass die
Wahrnehmung eben Wahrnehmung von diesem so und so sich darstellenden
Blütenbaum ist und von nichts anderem. Die Analyse des wahrgenommenen
Baumes als solchen ist aber nicht Analyse der Wahrnehmung selbst, die in ihr
herausgehobenen Teile und Momente, Zweige, Blüten, Farben der Blüten,
Formen usw., sind nicht Teile und Momente der Wahrnehmung selbst, sie
nimmt sie wahr. Die Analyse der Wahrnehmung an sich selbst mag sehr viel
zu tun haben mit der Analyse des Wahrgenommenen als solchen, aber eins
und das andere ist nicht dasselbe. Ein „erscheinender Gegenstand“ ist da
als etwas, das in den Blick gestellt, analysiert und beschrieben werden kann,
und dabei ist doch dieser erscheinende Gegenstand, dieser wahrgenommene
Baum, nicht als „in Wirklichkeit existierend“ gesetzt im natürlichen Sinn;
es ist bloß gesetzt ein so und so beschreibbares Etwas, und zwar als reines
Wahrnehmungskorrelat, als das, was die Wahrnehmung wahrnimmt, mag es
sich im Übrigen mit der so genannten Geltung der Wahrnehmung bzw. der
so genannten wirklichen Existenz des Erscheinenden verhalten wie immer.
Ähnliches gilt, wie leicht zu sehen, von all den Erlebnissen, die Descartes
unter dem Titel cogitatio im Auge hatte. Das Bildbewusstsein, in dem uns,
etwa in der Anschauung eines Kunstwerkes, ein Zentaurenkampf und sonst
welche Fiktion erscheint, das pure Phantasiebewusstsein, in dem wir uns
ein goldenes Zeitalter vorträumen, eine Erinnerung, in der wir uns eines
früheren Erlebnisses entsinnen: all solche Erlebnisse sind in sich selbst nach
reellen Bestandstücken und Momenten nicht das, was in ihnen erscheint.
Andererseits ist, dass gerade ein so und so zu Charakterisierendes er-
scheint, z.B. ein Zentaurenkampf, und gerade dieser bildlich dargestellte,
etwas Gegebenes, und zwar absolut gegeben innerhalb der Ausschaltung
aller so genannten transzendenten Wirklichkeit. Wieder dasselbe gilt von
62 allgemeine einführung
jederlei Denken, wie wenn wir uns denken, es sei 2 × 2 5, ohne es als wahrhaft
seiend zu setzen: Das Denken ist nicht das darin Gedachte, die Analyse des
Gedachten ist nicht Analyse des Denkens selbst. Wieder bei Gemütsakten,
z.B. Willensakten, und schon darum, weil sie Vorstellungs- und Denkakte
implizieren.
Danach unterscheiden wir also innerhalb der phänomenologischen Re-
duktion Reelles und Ideelles (Intentionales); wobei das Ideelle, das wir hier
besprochen haben, eine wesentliche Beziehung zum Reellen hat (Korrelat).
Die cogitatio, das absolute Diesda, das nicht gesetzt ist als ein Seiendes der
psychischen Natur, nicht gesetzt als Erlebnis einer erlebenden Person, ist ein
phänomenologisch Reelles und hat seine reellen Teile und Momente (bzw.
Eigenschaften). Die auf die cogitatio in dieser Hinsicht bezogene Analyse
nennen wir reelle Analyse, alles, was sie ergibt, nennen wir der cogitatio
reell immanent. Andererseits haben die cogitationes die merkwürdige Eigen-
schaft, dass sie so etwas wie einen Sinn haben, dass sie sich auf Gegenständ-
liches beziehen, das ihnen im ideellen oder intentionalen Sinn immanent
ist. „Immanenz“ ist hier ein uneigentlicher Ausdruck, da das eigentlich
Immanente das reell Immanente ist. Ich sage daher auch ideell immanent, in-
tentional immanent; das Gemeinte ist gleichsam in der Meinung, in ihr eben
gemeint. Das Wahrgenommene ist in der Wahrnehmung wahrgenommen,
das Erinnerte in der Erinnerung erinnert, das Gedachte gedacht im Denken.
Zum Wesen der cogitatio gehört diese Immanenz, gehört es, in der oder jener
(gattungsmäßig verschiedenen) Weise etwas gegenständlich zu haben, etwas
zu meinen, und es lässt sich das Gemeinte, was als solches, nämlich als das, was
da gemeint ist, und so, wie es da gemeint ist, zur absoluten Gegebenheit brin-
gen und in einer absolut getreuen, keinerlei phänomenologische Fraglichkeit
mitnehmenden Beschreibung zum Ausdruck bringen. Den blühenden Apfel-
baum wahrnehmend können wir innerhalb der phänomenologischen Sphäre
nicht fragen, ob er im nächsten Herbste gute Früchte tragen wird, denn das
gehört nicht zum Sinn der Wahrnehmung selbst; und vor allem, die Frage
setzt voraus, dass wir Natur hier gelten lassen, während wir sie in Klammern
gesetzt haben. Ebenso ist der fingierte Zentaur nach seinem intentionalen
Bestand eben derjenige, der in der Fiktion fingiert ist, und jede Frage, die
über die Intention hinausgeht und ihren bloßen Sinn, z.B. was der Zentaur
heute wohl zu Abend essen wird, aber auch, ob seine Haare wirklich schwarz
sind oder bloß als das erscheinen, hat hier schon darum keinen Sinn, weil pure
Phantasie von vornherein keine Wirklichkeitssetzung vollzieht. Halten wir
aber die uns gesteckten Schranken fest, dann ist es überall klar, dass über das
gemeinte Was als „Sinn“, über den intentionalen Gehalt der cogitatio, Aussa-
rekapitulation 63
gen gemacht werden können, die gegenüber der Skepsis absolut fest sind, weil
Zweifel hier sinnlos ist, und die andererseits insoweit erkenntnistheoretisch
voraussetzungslos sind, sofern sie nichts von dem als vorgegeben und fraglos
voraussetzen, was erst durch Erkenntnistheorie entschieden werden soll. Die
cartesianische Evidenz, die der Gegebenheit der cogitatio, ist also zweideutig.
Von vornherein befasst sie, auch wie sie von Descartes und nachher immer
wieder benützt worden ist, die doppelte Evidenz, die auf das reell Immanente
bezügliche wie die auf das intentional Immanente. Von vornherein muss
man sich die Sachlage hier absolut deutlich machen und hier der Ureigen-
schaft des „Bewusstseins“ sich vergewissern, in seiner Reellität sich selbst
zu transzendieren. „Bewusstsein“, dieses vieldeutige Wort, gebrauchen wir
hier im wichtigsten Sinn, im Sinn all jener Erlebnisse, zu deren Wesen es
eben gehört, so etwas wie einen Sinn zu haben, sich intentional auf etwas
zu beziehen. Jedes Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, und dieses Etwas
ist, allgemein zu reden, nicht reelles Bestandstück des Bewusstseins selbst.
Anstatt Bewusstsein sagt man in gleichem Sinn auch Akt, ein Wort, das in
meinen Logischen Untersuchungen immer genau in diesem Sinn gebraucht
wird. Ohne weiteres verständlich ist dann die unterscheidende Rede von
reinem Bewusstsein im phänomenologischen und erkenntnistheoretischen
Sinn und empirischem Bewusstsein im psychologischen Sinn.
Ich habe, nebenbei bemerkt, mit Absicht im Zusammenhang unserer jet-
zigen Ausführung das Wort „reell“ bevorzugt gegenüber dem Worte „real“.
Denn die deutsche Übersetzung von „real“ heißt „dinglich“, und demgemäß
denkt man unter dem Titel des Realen gewöhnlich an Dinglichkeiten, sei es
Dinge selbst, sei es Beschaffenheiten, sei es Relationen innerhalb der psy-
chophysischen Natur. Wir aber hatten die ganze Natur ausgeschaltet und das
reine Bewusstsein, die reine Wahrnehmung, Vorstellung, Prädikation u.dgl.
in phänomenologischer Reduktion genommen; und wenn wir da entgegen-
stellen das, was dem Reduzierten als wirklich konstituierenden Teil einwohnt
gegenüber dem intentionalen Gehalt, so mag das im Sprachgebrauch etwas
weiter zu fassende Wort „reell“ ganz dienlich sein, um das erstere Glied des
Gegensatzes zu bezeichnen.
Die gemachte Scheidung ist, um es gleich zu betonen, auch für psychologi-
sche Zwecke fundamental. Immer wieder ist bis zum heutigen Tage von den
Psychologen der fundamentale Fehler begangen worden, das Intentionale
als solches zu psychologisieren, also das einem psychologisch apperzipierten
Akt intentional Immanente als ein ihm reell Immanentes zu missdeuten.
So z.B., wenn man halluzinierte Gegenstände als „bloß psychologische“
Gebilde bezeichnet. Doch in feiner Weise durchzieht die Vermengung die
64 allgemeine einführung
ganze traditionelle und neuere Psychologie, wie ich nicht näher ausführen
kann; und niemals wäre man auf die Verkehrtheit verfallen, die Logik und
Ethik für bloße Teile oder Zweige der Psychologie auszugeben oder für bloße
psychologische Technologien, wenn man nicht beständig diese Vermengun-
gen begangen hätte. Und damit hängt auch der bei den Psychologen so viel
beliebte psychologistische Empirismus, überhaupt jede der erkenntnistheo-
retischen Abartungen des verkehrten Psychologismus zusammen.
Doch gehen wir weiter. Vermöge der Intentionalität der cogitatio oder
des „Bewusstseins“, wie wir auch sagten, umspannt die Phänomenologie,
die wir auch als Wissenschaft vom reinen Bewusstsein bezeichnen könnten,
in gewisser Weise all das, was sie so sorgfältig ausgeschaltet hat; sie umspannt
alle Erkenntnisse, alle Wissenschaften und in gegenständlicher Hinsicht alle
Gegenständlichkeiten, auch die gesamte Natur. Die Wirklichkeit der Natur,
die Wirklichkeit von Himmel und Erde, von Menschen und Tieren, von
eigenem Ich und fremdem Ich schaltet sie freilich aus, aber sozusagen ihre
Seele, ihren Sinn behält sie zurück. Die Natur bzw. Dinge, reale Vorgänge,
Zusammenhänge sind für uns Objekte der vorwissenschaftlichen oder wis-
senschaftlichen Erkenntnis, der Erkenntnis in ihren vielgestaltigen Beson-
derungen als Selbstwahrnehmung, Wahrnehmung von anderen psychischen
Wesen, Wahrnehmung von physischen Dingen, Erinnerung, Erwartung, dann
Wahrnehmungs- und Erinnerungsurteile, Erwartungsurteile, dann mittelba-
res Denken in seinen verschiedenen Besonderungen usw. Nun, all das sind
Erlebnisse und Erlebniszusammenhänge, die, wie ihren reellen, so ihren
intentionalen Gehalt besitzen und die in dieser Hinsicht nach phänome-
nologischer Reduktion studiert werden können. Jede Gegenständlichkeit
kommt da als intentionale vor, ebenso wie jede Erkenntnisart, die auf solche
Gegenständlichkeit ihrem Wesen nach sich bezieht. Dinge als Wirklichkeiten
mögen dahingestellt bleiben, aber Dinge als Phänomene, könnten wir sagen,
gehören in die Phänomenologie.
Allerdings tritt dabei ein unvermeidlicher Doppelsinn des Wortes „Phä-
nomen“ uns entgegen. 1) Einerseits heißt Phänomen (im Sinne der Phä-
nomenologie immer verstanden) die jeweilige reelle cogitatio, das reelle
Bewusstsein, und fürs Zweite aber auch der intentionale Inhalt des Be-
wusstseins, das in der betreffenden Wahrnehmung, Vorstellung, Meinung Ge-
meinte, Wahrgenommene, Vorgestellte als solches. Dem eigentlichen Wort-
sinn besser entspricht der zweite Begriff von Phänomen. Es ist eben das
φαινµενον, das, was erscheint, und erweitert, das Gemeinte, auch das un-
anschaulich Gedachte als solches, abgesehen aber von Wirklichkeit oder
Unwirklichkeit. So sprechen wir im gewöhnlichen Leben davon, es sei der
etablierung einer wissenschaft vom reinen bewusstsein 65
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Aber wir sind viel-
leicht etwas voreilig gewesen. Haben wir denn schon eine Phänomenologie, also dem Wortsinn
nach eine Wissenschaft von Phänomenen dadurch, dass wir die cogitationes herausgestellt
haben als absolut seiend, gefasst durch jenes phänomenologische Schauen, das der inneren
Wahrnehmung nah verwandt ist, aber alle Beziehung auf Natur abgeschnitten hat? Wie lassen
sich diese cogitationes wissenschaftlich erforschen? Bisher wissen wir nur davon, dass sie im
phänomenologischen Schauen selbst gegeben werden. Aber bloßes Schauen ist noch nicht
Urteilen, und bloßes Urteilen ist noch nicht wissenschaftlich Erkennen. Ist hier Raum für eine
66 allgemeine einführung
Wissenschaft? Diese Bedenken werden wir sehr ernst nehmen müssen. Ehe wir aber an sie
herantreten, wollen wir einige Schritte weiterforschen, ohne uns durch sie beirren zu lassen.
Das Erste ist hier die Tat und das Zweite reflektive Auskunft über Sinn und Möglichkeit der
Tat.
Überlegen wir zunächst, was wir von den Cogitationen aussagen können, ohne den Rah-
men absoluter Zweifellosigkeit zu überschreiten und damit den Rahmen der Unfraglichkeit in
unserem Sinn.
1 Gestrichen (vermutlich noch während der Vorbereitung) Anfechten wird freilich niemand
können, was wir festgestellt haben, dass zweifellose Aussagen möglich sind über verschiedene
Bewusstseinsgestaltungen, über Wahrnehmungen, Erinnerungen, Urteile, Wollungen usw., und
zwar innerhalb der phänomenologischen Reduktion; Aussagen, welche zum reinen und getreuen
Ausdruck bringen, was der Blick der phänomenologischen Reflexion einerseits an dem jeweili-
gen Akt selbst an reell immanenten Bestandstücken zu erfassen vermag, und andererseits, was
er zu erfassen vermag an intentionalen Momenten, an allerlei ideellem Gehalt. Wir lenkten da
unser Interesse auf die wahrgenommene, erinnerte, phantasierte, geurteilte Gegenständlichkeit
als solche. Es sei gleich hinzugefügt, dass wir da in der ideellen Hinsicht vielerlei werden
unterscheiden müssen und dass also keineswegs gesagt sein soll, dass es nur e in e Sorte von
Idealitäten gibt. Das Ideelle oder Intentionale ist hier nur ein allgemeiner Titel für Analysen
und Deskriptionen, die sich auf Gegebenheiten beziehen in oder an den Akten, und doch nicht
auf Gegebenheiten, die als reelle Teile oder reelle Momente der Akte angesprochen werden
können.
etablierung einer wissenschaft vom reinen bewusstsein 67
gebenen aus noch nicht gegebene der Zukunft im Voraus bestimmen oder
objektiv vergangene Vorgänge, die uns nicht gegeben waren, feststellen.
Wie steht es aber in der phänomenologischen Sphäre? Hier ist das ein-
zelne Bewusstsein, der Akt, nicht gemeint als psychologische Einzelnheit.
Wäre er so gemeint, dann wäre er etwas objektiv Fixierbares und in seiner
Identität, gegenüber den auf ihn bezüglichen wechselnden Erkenntnissen,
ein für alle Mal Bestimmbares. Er wäre es als Bestandstück der einen
raumzeitlichen Natur; er hat ja Anknüpfung an einen Leib, ein physisches
Ding so gut wie ein anderes, mit bestimmbarer Stellung in Raum und Zeit.
Durch die Beziehung auf den Leib gewinnen die Raum und Zeit messenden
Apparate Anwendbarkeit auf das Psychische, das nun objektiv bestimmbar
ist nach seiner Zeitstelle, Zeitdauer, nach seinen inhaltlichen Momenten
in ihrer funktionellen Abhängigkeit von dem Zentralnervensystem usw.
Auch hier bestehen die Möglichkeiten der Vorausbestimmung des künftig
eintretenden Psychischen oder der Rekonstruktion des vergangenen. Jede
Bestimmung findet ihren objektiven Ausdruck in Aussagen, die aufgezeich-
net und immer wieder in Identität ihrer gegenständlichen Bedeutung in
Anspruch genommen werden können. Diese Inanspruchnahme vollzieht sich
in immer neuen Akten verschiedener psychophysischer Individuen, Akten
und Individuen, die aber zufällig sind gegenüber dem objektiv Festgestellten,
gegenüber dem identischen Sinn der objektiv gültigen Aussage.
Wie aber, wenn wir phänomenologische Reduktion vollziehen und unter
Ausschaltung der Natur sowie aller problematischen transzendenten Setzung
uns auf die absolute Gegebenheit der cogitatio zurückziehen? Bleibt da noch
eine Möglichkeit für objektiv gültige Urteile? Wir vollziehen also irgendwel-
che Akte (cogitationes), Akte der Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung,
des Urteils u.dgl. Rein in ihrer Selbstgegebenheit fassen wir sie; nicht bloß
die in der cogitatio gesetzte Natur, sondern auch die Naturexistenz des
eigenen Ich und des Aktes als seines Zustandes schalten wir aus. Damit
sind offenbar alle Bestimmungsmittel der Naturwissenschaft ausgeschaltet;
kein Maßstab, kein Theodolit oder Katheter, keine Uhr, kein Chronoskop
bleibt uns erhalten. Sie alle verfallen dem Bann der phänomenologischen
Reduktion. Was behalten wir übrig? Die reine cogitatio, das Diesda, diese
Wahrnehmung etwa, und nicht einmal genommen als die unsere! Die An-
knüpfung an das empirische menschliche Ich ist also verloren gegangen und
damit die Beziehung zum Raum. Aber auch seine Beziehung zur objektiven
Zeit. Er ist zwar ein Jetzt und ein von Jetzt zum immer neuen Jetzt sich
Forterstreckendes: er dauert. Und er dauert, indem er sich zugleich nach
seinen reellen Bestandstücken so oder so verändert und dabei etwa auf ein
68 allgemeine einführung
so und so sich veränderndes Objekt als Gemeintes gerichtet ist. Die Zeit, die
da auftritt, ist keine objektive und keine objektiv bestimmbare Zeit. Die lässt
sich nicht messen, für die gibt es keine Uhr und keine sonstigen Chronometer.
Da kann man nur sagen: jetzt, vorher und weiter vorher, in der Dauer
sich verändernd oder nicht verändernd etc. Wie sollen sich, wenn alle na-
turwissenschaftlichen Hilfsmittel als Mittel erfahrungsmäßiger Bestimmung
ausgeschaltet sind, wissenschaftliche Aussagen etablieren? Sie sollen sich auf
die reinen Selbstgegebenheiten der cogitatio beschränken. Aber wie weit
reicht denn der Umfang der Selbstgegebenheit? Man wird doch nicht den
Gesamtbereich von cogitationes, den das betreffende Ich gehabt hat, und nun
gar haben wird, als den Umfang seiner zu phänomenologischen Forschun-
gen verfügbaren und wissenschaftlich bestimmbaren cogitationes ansehen.
Sind denn so weitreichende Aussagen als phänomenologische überhaupt zu
machen?1 Eine Wahrnehmung aktuell vollziehend kann ich in der Reflexion
sagen: „dies da“, und kann sie mit dem schauenden Blick in reiner Immanenz
verfolgen, solange sie eben dauert. Ich kann auf ihre reellen Gliederungen,
soweit sie sich immanent abheben, achten, dann auch auf das Gemeinte
als solches und seine sich dabei abhebenden Bestandstücke; und kann das
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Wie sollten sie auch?
Sie sind bloß Ausdruck eines Diesda im phänomenologischen Sinn, eines absolut Einmaligen
und immerfort Fließenden, in Identität nimmer W Wiederkehrenden. Gesetzt, wir nehmen jetzt
einen blühenden Baum wahr, und wir sagen: „Diese Wahrnehmung ist Wahrnehmung von
einem blühenden Baum.“ Unser Blick wendet sich ab. Was bleibt nun von der Geltung der
Aussage übrig? Diese Wahrnehmung, diese vom blühenden Baum. Aber jetzt ist ja keine
solche Wahrnehmung gegeben, jetzt ist eine andere von einem anderen intentionalen Objekt
gegeben. Nun mag sich allenfalls im Fluss der Aktphänomene eine Erinnerung einstellen vom
Wahrnehmen desselben blühenden Baumes. Aber die sich anschmiegende Aussage kann jetzt
nicht lauten, und im völlig gleichen Sinn lauten: „diese Wahrnehmung.“ Denn die erinnerte
Wahrnehmung heißt im Ausdruck nun: „diese vergangene Wahrnehmung“, und nicht: „diese
jetzt seiende Wahrnehmung, diese aktuelle, wie es ursprünglich gemeint war.“ Für das aktuelle
Jetzt springt das erinnerte Jetzt ein, und die volle Aussage müsste jetzt lauten: „Diese Wahrneh-
mung, diese vergangene, w a r Wahrnehmung vom blühenden Baum“, während es ursprünglich
hieß: „Diese Wahrnehmung is t Wahrnehmung vom blühenden Baum.“ Nun möchte man sagen:
Auch im natürlichen Denken operieren wir doch mit diesen Unterschieden des Hier und Dort,
des Jetzt und Vorher. Aber darüber hilft uns doch die Möglichkeit objektiver Raum- und
Zeitbestimmung hinweg. In der Natur können wir festes Posto fassen. Bestimmte Fakta, immer
wieder identifizierbar mit ihren identisch festhaltbaren Zeitpunkten und Ortspunkten, können
als Grundpunkte von Koordinatensystemen so gewählt werden, dass in Relation zu ihnen alle
anderen räumlich-zeitlichen Fakta feste Bestimmung erfahren und die betreffenden Aussagen
eine einheitliche Geltung gewinnen können. Der 24. Mai 1909, so und so viel Uhr astronomischer
Zeit u.dgl., das ist etwas Festes. Wie könnten aber reduzierte Phänomene festgehalten und wie in
Relation zu ihnen die endlos fließende Mannigfaltigkeit von immer wieder neuen Phänomenen
bestimmt werden? Ja wie dürften wir auch nur solche beständig transzendierenden Reden
führen, da wir doch eigentlich an das einzelne Phänomen als das pure Diesda gebunden sind?
etablierung einer wissenschaft vom reinen bewusstsein 69
zum Ausdruck bringen. Aber ist die Aussage nicht völlig gebunden an das
aktuelle Phänomen während seiner Dauer? Mit ihm kommend und mit ihm
verschwindend, jedenfalls seine in Anspruch zu nehmende Geltung alsbald
wieder verlierend? Die Wahrnehmung dauert ihre Zeit; phänomenologisch
gesprochen: sie fängt an, dauert und verschwindet wieder, wie wenn ich z.B. –
um es empirisch auszudrücken – meinen Blick wegwende. Dahin ist dahin.
Kehrt der Blick in die alte Lage zurück, so ist es eben eine neue Wahrneh-
mung. Was bleibt also von der alten Aussage, die ja nicht von dieser jetzigen
Wahrnehmung spricht, übrig? Nun, wird man sagen, es schließt sich an die
Wahrnehmung nach Abwendung des Blickes, und so an jedes abgelaufene
Bewusstsein, ein Bewusstsein der Retention an, und zudem können in späte-
ren Momenten des Bewusstseinsstroms Wiedererinnerungen auftauchen, die
sich auf die früher gehabte Wahrnehmung, auf das früher vollzogene Urteils-,
Gefühls-, Willensbewusstsein zurückbeziehen. Werden diese Wiedererinne-
rungen in passender Weise phänomenologischer Reduktion unterzogen, wird
also auch in einer solchen nicht Gebrauch gemacht von der Wirklichkeit des
früher wahrgenommenen Blütenbaumes, von meinem früheren Ich und dem
zu ihm gehörigen Naturzusammenhang, so erstreckt sich nun der phäno-
menologische Blick über den früheren Bewusstseinsstrom, über das früher
stattgehabte Kommen und Gehen, Dauern, Sichverändern der Akte. Und
das ist das Feld der Phänomenologie.
Aber nun kommt die Skepsis. Die Wiedererinnerung ist ein aktuelles
Phänomen, das wir in seinem Diesda! fassen können. Sie bezieht sich etwa
auf eine frühere phänomenologisch reduzierte Wahrnehmung. Dass sie das
tut, das macht ihren intentionalen Gehalt aus; und auch den können wir
als das Wiedererinnerte fassen, es ist ein zur Wiedererinnerung Gehöriges,
und zwar als absolut Gegebenes. Aber wie steht es denn mit der Frage, ob
das Wiedererinnerte wirklich gewesen sei? Mit der Frage der Geltung der
Wiedererinnerung?
Sie bezieht sich auf die frühere Wahrnehmung und setzt sie als wirklich
gewesen. Das sehen wir ihr an, das ist gegeben. Aber muss dann diese Set-
zung eine gültige sein? So wie die Wahrnehmung eines Naturseins Setzung
einer Natur ist, welche Setzung wir aber ausschalten (nämlich ihrer Geltung
nach in der Phänomenologie dahingestellt sein lassen), weil hier ein Rätsel
vorliegt, genau so scheint doch die Geltung der Wiedererinnerung in unsere
phänomenologische Klammer gestellt werden zu müssen, da auch sie das
Phänomen der Wiedererinnerung transzendiert und uns zum Rätsel wer-
den will. Dasselbe, was von der Wiedererinnerung gilt, scheint auch gelten
zu müssen von der unmittelbar auf das abfließende Phänomen folgende
70 allgemeine einführung
Bewusstsein, das wir Retention nennen. Somit scheint es, dass wir in un-
seren phänomenologischen Aussagen ganz gebunden sind an die aktuellen
Phänomene, an die Phänomene in ihrer wirklichen Präsenz; solange das
Phänomen dauert, so lange ist das da, was sie als phänomenologisch seiend
setzen und als so und so beschaffen. Und ist das Phänomen vorüber, so
verliert die Aussage das Geltungssubstrat. Wir hätten also phänomenologisch
nicht einmal das Recht, von einem Bewusstseinsfluss, von einem Ablauf von
immer neuen Akten zu sprechen. Von einem gegebenen Akt zurückblickend
dürften wir nur diesen Akt des Rückblickens feststellen und das in ihm
Erschaute nur als Gemeintes in Anspruch nehmen, nicht aber als wahrhaft
Gewesenes.
Somit ist alles Aussagen gleichgültig, wir haften ja doch nur am Diesda,
das jeweils das Einzige ist, wovon wir sprechen dürften. Und natürlich wäre
unsere ganze bisherige Reflexion mit betroffen. Die Ausschaltung der Natur
hätten wir vollzogen; fordert man aber von uns auch Ausschaltung derjenigen
Transzendenz, die in der Erinnerung und Retention liegt, dann sind wir zu
Ende in dem Moment, wo wir angefangen haben. Es ist ja leicht zu sehen,
dass wir eine gewisse Gültigkeit der Erinnerung und Retention vorausgesetzt
haben. Im Übrigen führt der Zug der Skepsis noch immer weiter. Wie steht es
denn mit dem aktuellen Phänomen, dem wirklich vollzogenen Bewusstsein
und dem darauf gerichteten Schauen? Eine Wahrnehmung möge anfangen.
Aber schon geht das Jetzt in das Nichtjetzt über, und ein neues Jetzt ist da.
Wir sagen, die Wahrnehmung daure. Diese Dauer hat einen Endpunkt, das
fließende Jetzt, und eine Strecke von gewesenen Jetzt, eine Extension also
in der Vergangenheit. Überall also haben wir Retention. Transzendiert nun
nicht der schauende Blick, indem er die dauernde Wahrnehmung als solche
setzt, das reell allein Gegebene, das Jetzt, und setzt etwas mit, was nicht
mehr reell gegeben ist: die Kontinuität der gewesenen Wahrnehmungs-Jetzt?
Müssen wir nicht auch das ausschalten und uns zurückziehen auf das wahr-
haft Gegebene, das absolute Jetzt und immer neue Jetzt? Natürlich hat es
dann auch mit allem Aussagen ein Ende. Denn worauf bezieht sich die
Wahrnehmung, wenn ich sage, sie richtet sich auf das intentionale Objekt
des blühenden, jetzt im Winde so und dann so bewegten Objekts? Können
wir nicht die Einheit in der Dauer durchhalten, die Einheit als Einheit der
Veränderung und Unveränderung, sich erstreckend durch die Kontinuität
der soeben gewesenen Jetzt, dann ist auch nichts auszusagen. Das Aussagen
fließt ja selbst. Wie soll es das Jetzt fixieren, das im Fixieren immer wieder
ein Neues wird? Viel weniger als absoluter Skeptizismus ist also das nicht. Ja
wir können getrost sagen: Es ist absoluter Skeptizismus.
etablierung einer wissenschaft vom reinen bewusstsein 71
Wir sind offenbar auf Irrwege geraten. Wie finden wir uns zur Vernunft
und Klarheit wieder zurück? Da heißt es natürlich auf den Sinn der ur-
sprünglichen Fragestellungen und auf den Sinn der Evidenzen, welche das
Fraglose aussondern, rekurrieren. Naturerkenntnis ist problematisch. Aus
welchen Gründen? Weil sie auf unmittelbare Natursetzungen rekurriert,
die prinzipiell, ihrem Wesen nach, nicht den Charakter von selbstgebenden
Setzungen haben, oder, was dasselbe, weil sie prinzipiell die Möglichkeit
offen lassen, dass Naturwahrnehmung, trotz ihrer Prätention, Natur zur Ge-
gebenheit zu bringen, täusche, also in Wahrheit keine Natur zur Gegebenheit
bringe. Diese ganze Fragestellung wäre in sich sinnlos, wenn nicht Erkenntnis
selbst zur absoluten Gegebenheit zu bringen wäre und wenn es nicht fest
und zweifellos wäre, dass sie Erkenntnis des und des jeweiligen Inhalts wäre,
Erkenntnis von Naturdasein, z.B. dass die Wahrnehmung Wahrnehmung
gerade von dem blühenden Baum u.dgl. wäre, und wenn sich darüber
nicht Aussagen machen ließen, die ungleich den Aussagen über Natur nicht
nur gültige, sondern fraglos gültige Aussagen wären, fraglos, sofern sie eben
nichts weiter tun, als absolut Gegebenes zum absoluten Ausdruck zu bringen.
Nun half uns die cartesianische Evidenz dazu, uns dessen zu versichern,
dass diese Voraussetzungen für vernünftige Problemstellung erfüllt sind, die
ja evidenterweise auch Voraussetzung für jede Problemstellung überhaupt
sind. Ist mir irgendetwas problematisch, so ist mir das mindest absolut gewiss,
dass es problematisch ist, und von da geht es weiter zur Evidenz der cogitatio
überhaupt und des darin Cogitierten. Absolute Selbstgegebenheit ist also
sicher kein leeres Wort. Wir haben sie, auch wenn wir alle Naturexistenz,
auch die empirische Ichexistenz in der phänomenologischen Reduktion aus-
schalten. Die Frage wird also sein, wie weit sie reicht. Und da ist es ganz
offenbar, dass der schauende Blick, indem er z.B. auf Wahrnehmungser-
scheinung und das Wahrgenommene als solches gerichtet ist, er dieses in
seiner Dauer immanent fasst, als absolute Selbstgegebenheit, und dass die
Beschränkung auf das Jetzt, das im stetigen Flusse ist, eine Fiktion wäre.
Damit ist schon gesagt, dass die in der Erfassung der Dauer abklingenden
Phasen des eben verflossenen Jetzt nicht verloren gegangen sind. Und es ist
offenbar als absolute Selbstgegebenheit in Anspruch zu nehmen, dass der
Wahrnehmung schon eine Retention einwohnt, in der Eben-Vergangenes
in seiner Einheit mit dem Jetzt und dem immer neuen Jetzt zur absolu-
ten Selbstgegebenheit kommt. Blicken wir den blühenden Baum entlang,
so kommt der Baum in einer Zeitgestalt zur Gegebenheit, und hören wir
ein Stück Melodie, so hören wir nicht, den abstraktiv herauszudenkenden
Jetztpunkten gemäß, bloß einzelne Töne oder gar Momente von einzelnen
72 allgemeine einführung
Tönen, gar mathematische Tonjetzt, sondern wir hören dauernde Töne, und
zwar Töne sich verbindend zu einer Tongestalt, und diese ganze Tongestalt
erfassen wir als stetig sich aufbauende und als das Gehörte, und die Einheit
der gesamten Wahrnehmungserscheinung dieser Tongestalt erfassen wir als
absolute Selbstgegebenheit in dem auf sie gerichteten stetig einheitlichen
Blick. Und ist die ganze Tonphrase dahin, so fasst die Retention noch das
eben Gewesene der gesamten Phrase, die da abgelaufen ist, und die gesamte
Wahrnehmungserscheinung in der Weise einer eben gewesenen und nicht
mehr Momente der aktuellen Wahrnehmung enthaltenden. Dabei trifft die
Evidenz das Ebengewesensein, wodurch eine Beziehung des Gegenständ-
lichen zum fließenden Jetzt mit gegeben ist, und von diesem ist es nicht
ablösbar. Das alles in phänomenologischer Reduktion, unter beständiger
Ausschaltung gegenwärtiger oder gewesener Naturwirklichkeit. Sagt man:
„In reeller Wirklichkeit ist nur das Jetzt gegeben“, so antworten wir: Hier
wollen wir nicht um reelle Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit streiten,
sondern nur absolute Feststellungen, wahrhafte Selbstgegebenheiten, die
gegen allen vernünftigen Zweifel gesichert sind, gewinnen, und die haben
wir. Das Vergangene prätendiert hier nur als Vergangenes, das Jetzt nur
als Jetzt in der Einheit des selbstgebenden Bewusstseins selbstgegeben zu
sein. Das sagen wir aus, ehrlich, wie wir es schauen und haben. Es mag
hier eine Sphäre von Problemen sein, nämlich gerichtet auf analytische Her-
ausstellung der Arten und Komponenten solcher Selbstgegebenheit. Aber
problematisch in dem Sinn, in dem die Naturerkenntnis problematisch ist, ist
hier nichts. Gewiss transzendiert die Retention, die ein jetzt lebendiger und
zur Selbstgegebenheit zu bringender Akt ist, selbst und setzt etwas als seiend,
nämlich als vergangen seiend, was ihr nicht reell einwohnt. Aber was hier
zu lernen ist, ist dies, dass innerhalb der Sphäre absoluter Selbstgegebenheit
eine transzendente Geltung auftritt, die unbestritten ist und bleiben muss,
sofern sie das ihr reell Transzendente nicht nur meint, sondern in offenbar
gültiger Weise setzt; in absolut gültiger Weise, und nicht, wie es bei der
äußeren Wahrnehmung statthat, in einer Weise, die immer Möglichkeiten
der Nichtgeltung offen lässt.
Nicht ganz so gut steht es freilich mit der Wiedererinnerung, wie wenn
eine Erinnerung auftaucht, die nicht in der Weise der Retention das eben
Gewesene als solches nur festhält in seiner Kontinuität zum fortfließenden
aktuellen Jetzt. Auch in ihr können wir phänomenologische Reduktion üben,
sofern wir das Naturdasein, das in der Wiedererinnerung eintritt, ausschalten,
aber das bewahrt sie, allgemein zu reden, nicht von der prinzipiellen Möglich-
keit der Täuschung. Andererseits wird man auch innerhalb der phänomeno-
rekapitulation des bisherigen ganges der vorlesungen 73
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Vergegenwärtigen wir
uns den Stand unserer Meditationen vor den Pfingstferien. Das Leitproblem, das über die Stufe
der natürlichen Erkenntnis und Wissenschaft hinaustrieb, war das Problem der Transzendenz.
Oder, um den lässigen und missdeutlichen Ausdruck zu erläutern: Es war das Problem, wie das
erkennende Bewusstsein, in seinem Fluss mannigfach gestalteter Erkenntnisakte, sich selbst
transzendieren, wie es eine Gegenständlichkeit gültig setzen und gültig bestimmen kann, die
der Erkenntnis gegenüber transzendent ist, eine an sich seiende Gegenständlichkeit, die im
erkennenden Bewusstsein nie zu absolut zweifelloser Selbstgegebenheit kommt und die im
Sinne der Erkenntnissetzung an sich selbst existieren soll, ob sie zufällig erkannt wird oder
nicht.
Untersuchungen, die uns in diesen Beziehungen helfen sollen, unterliegen der Forderung
der phänomenologischen Reflexion. Es ist nichts anderes als die Forderung, des bewegenden
Problems beständig eingedenk zu bleiben und es mit keinem anderen Problem zu vermengen
und nichts als vorgegeben vorauszusetzen, nichts als Prämisse zu verwenden, keine Untersu-
chungsmethode gelten zu lassen, welche explizit oder implizit die Lösung des Problems schon
voraussetzen würde. Hinsichtlich der Naturerkenntnis besagt das: Da jede Möglichkeit von
solcher Erkenntnis in Frage ist, so kann die Untersuchung nicht selbst als naturwissenschaftliche
Untersuchung laufen. Ohne ernstlich Skeptiker zu sein, müssen wir genau so verfahren, als
wären wir hinsichtlich aller Naturexistenz Skeptiker: Von solcher Existenz dürfen wir in keiner
Weise Gebrauch machen. Die Untersuchung kann also keine physiologische, biologische, psy-
chologische sein. Alle Naturwissenschaften sind in Frage ebenso wie alle vorwissenschaftlichen
Naturerkenntnisse des gewöhnlichen Lebens.
74 allgemeine einführung
sender zu sein, als wir es zunächst dachten. Es schieden sich reelle Analysen
von intentionalen Analysen. Es zeigte sich, dass an den cogitationes nicht
bloß reelle Bestandstücke aufgewiesen werden können, und zwar als solche,
die in der Analyse zu absoluter Selbstgegebenheit gebracht werden können.
Zum Wesen der cogitationes gehört, dass sie sich „intentional“ auf etwas
beziehen, dass in ihnen ein Gegenständliches erscheint oder sonstwie in ihnen
„gemeint“ ist, und das Erscheinende als solches, das Gemeinte als sol-
ches, kann evident beschrieben, kann in intentionaler Analyse zu absoluter
Selbstgegebenheit gebracht werden, sei es auch in Beziehung zur cogitatio.
Wahrnehmend können wir das Wahrgenommene beschreiben, so wie es da
erscheint, als dasjenige, als welches es diese Wahrnehmung gleichsam meint,
als welches es in ihr dasteht: mag es sich nun mit Existenz oder Nichtexistenz
und mit Möglichkeit der Wahrnehmungserkenntnis verhalten wie immer.
Und ebenso bei anderen cogitationes. In gewisser Weise gehört also das
Sich-selbst-Transzendieren zum Wesen der cogitationes, es ist jeweils eine
absolute Gegebenheit, dass so genannte Dingwahrnehmungen, Urteile u.dgl.
etwas meinen, was sie nicht selbst sind, oder dass zweierlei absolute Urteile,
Selbstgegebenheit ausdrückend, möglich sind, solche, die das Sein der cogita-
tio mit ihrem reellen Bestand setzen, und solche, die ihre Beziehung auf ihnen
nicht reell Immanentes und den Inhalt des nicht Immanenten betreffen. Ver-
schiedene Begriffe von Seiendem scheinen sich da zu spalten. Das Seiende
im Sinne der Wirklichkeit oder Natur, das wir aber hier in seiner Wirklichkeit
nicht in Anspruch nehmen dürfen. Das Seiende im Sinne des Bewusstseins,
nämlich der cogitatio, endlich das Cogitiert-Seiende, z.B. das Fingiertsein in
der Fiktion, das wir zwar nicht als wahrhaftes Sein gelten lassen, das wir aber
andererseits als Fingiertes, als Cogitiertes doch mit Evidenz bezeichnen und
seinem Inhalt nach, so wie es da gemeint ist, beschreiben können.
Nach Erkenntnis dieser Doppelseitigkeit der cartesianischen Evidenz
(nach ihrer passenden Reduktion), also auch nach Erkenntnis der wesentli-
chen Doppelseitigkeit der unter dem Titel „reines Phänomen“ oder „reines
Bewusstsein“ bezeichneten absoluten Gegebenheiten, schien sich zu erge-
ben, dass die Phänomenologie einen immens erweiterten, ja allumfassenden
Rahmen erhalten hat. Sie schien alle Erkenntnisse und Wissenschaften und in
gegenständlicher Hinsicht alle erdenklichen Gegenständlichkeiten, darunter
auch die Naturgegenständlichkeiten zu umspannen. Freilich, die Wirklichkeit
der Natur durfte nicht in Anspruch genommen werden, naturwissenschaftli-
che Feststellungen durften nicht als Prämissen fungieren. Andererseits sind
doch absolute Gegebenheiten a lle cogitationes, somit alle unter dem Titel
„Erkenntnis“ zu befassenden, alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erin-
76 allgemeine einführung
nerungen, alle Meinungen welcher Art immer, alle richtigen und falschen,
einsichtigen und uneinsichtigen Urteile, und mit all dem natürlich auch all
die vorgestellten, gemeinten, eventuell einsichtig erkannten Gegenständlich-
keiten als intentionale Gegenständlichkeiten der betreffenden Erkenntnis
cogitationes. Mit jeder cogitatio ist eben gegeben ihr Sinn, und der Sinn
macht eben ihre wesentliche Eigentümlichkeit aus, sich auf die oder jene
Gegenständlichkeit zu beziehen.
Somit schienen die Auspizien nicht nur für eine Phänomenologie als
immanente Analyse des reinen Bewusstseins in reeller und intentionaler
Hinsicht, sondern auch für die Lösung des anführenden erkenntnistheoreti-
schen Problems die günstigsten. Denn nun bietet sich folgender Gedanke dar:
Ist die Möglichkeit transzendenter Erkenntnis, oder im Sinne des engeren
Ausgangsproblems: ist die Möglichkeit der Naturerkenntnis ein Problem,
so müssen wir im Rahmen der phänomenologischen Reduktion die ver-
schiedenen Erkenntnisarten studieren, in denen Natur zur Gemeintheit, zur
bald begründeten, bald unbegründeten Ansetzung und Bestimmung kommt.
Durch die Erforschung des phänomenologischen Wesens der Erkenntnis in
allen Beziehungen, nach reellem Bestand, nach Sinn, nach Rechtsbegrün-
dung oder -entgründung, nach Bestätigung und Widerlegung, müssen sich
alle auf die Möglichkeit der Erkenntnis bezüglichen Probleme lösen. Und ein
anderer Weg ist durch den Sinn des Erkenntnisproblems gar nicht denkbar.
Und ich sagte gleich: alle auf Erkenntnis bezüglichen Probleme, ich meine
nämlich alle irgend analogen, alle Rätsel der Transzendenz, die Erkenntnis
in irgendeiner Sphäre bieten mag.
Nun kam aber die Peripetie. Eine neue Meditation lehrte, dass die Mög-
lichkeit einer phänomenologischen Wissenschaft mit all dem Bisherigen
nicht hinreichend vorbereitet ist, ja dass ihr Schwierigkeiten im Wege stehen,
die auf eine absolute Skepsis hinzudrängen schienen.
Die cogitationes nach ihrem reellen und intentionalen Bestand sollen ein
Feld der Phänomenologie sein. Aber was für cogitationes? Doch die in carte-
sianischer Evidenz und phänomenologischer Reduktion gegebenen, also die
Erlebnisse im Momente der phänomenologischen Reflexion! Zum Beispiel
wenn ich zweifle und mir reflektiv dessen bewusst werde, dass ich zweifle, ist
das Gegebensein des Zweifels absolut gewiss, wenn ich wahrnehme, dass ich
wahrnehme, wenn ich will, dass ich will. Aber alle Erlebnisse fließen dahin,
Bewusstsein ist ein ewiger heraklitischer Fluss; was eben gegeben ist, sinkt in
den Abgrund der phänomenologischen Vergangenheit und ist nun für immer
dahin. Nichts kann wiederkehren und zum zweiten Mal in Identität gegeben
sein. Haben wir also wirklich ein unendliches Feld und nicht vielmehr immer
rekapitulation des bisherigen ganges der vorlesungen 77
nur einen Punkt, der kommend alsbald wieder flieht? Nicht die unendliche
Fülle von Phänomenen, die der Phänomenologe gehabt hat, und gar, die alle
anderen Menschen haben und gehabt haben, kommt für uns als Gegebenheit
in Frage. Die Natur schalteten wir aus, das eigene Ich wie die fremden Ich, und
wir schalteten sie aus um des Rätsels der Transzendenz willen. Aber müssen
wir nicht konsequent sein und diesem Rätsel überall in allen seinen analogen
Gestaltungen nachgehen? Nützt es etwas, so genannte Natur1 ihrer Existenz
nach in Frage zu stellen und gleichstehende Fraglichkeiten unberührt zu
lassen? Nie und nirgends ist Natur absolute Gegebenheit. Ich verstehe nicht,
wie sie angesetzt werden kann, und mit Recht angesetzt werden, dann weiter
wissenschaftlich bestimmt werden kann. Bei der cogitatio, in dem Moment
ihres reflektiven Gegebenseins, habe ich andererseits absolute Gegebenheit:
bei meiner cogitatio, nur dass ich mich selbst ausschalte. Von den cogitationes
eines anderen habe ich natürlich keine solche Gegebenheit. Der andere
mag sie haben. Aber was nützt seine absolute Setzung, wenn ich sie mit
seiner Existenz notwendig mit ausschalten muss? Und komme ich nun über
meine absolute Gegebenheit und ihre Setzung (Jetztsetzung) hinaus? Wir
besprachen die Probleme der Retention und Wiedererinnerung. Schon die
unmittelbare Retention, die das eben abgeflossene Erlebnis noch im Fliehen
hält, aber nur in der Weise des eben Gewesenen hält, schien mit dem Problem
der Transzendenz behaftet zu sein. Die Retention hat ja nicht mehr die
cogitatio selbst, die gewesen war. Was nützt mir also die Setzung der cogitatio
und das eventuell beschreibende Urteil, wenn dies Urteil der eigentlichen
Objektivität ermangelt, in den Fluss der cogitatio mit einbezogen ist und,
sowie sie dahin ist, nicht mehr statthaben kann? Oder sollen wir nun ein
Erinnerungsurteil daraus machen? Aber transzendiert nicht die Retention
das Gegebene, indem sie, statt zu setzen: „Dies ist“, vielmehr setzt: „Dies ist
eben gewesen“? Und nun gar die Wiedererinnerung! Könnte nicht alle Wie-
dererinnerung Täuschung sein; könnte sie uns nicht gleichsam versichern, es
sei früher einmal etwas gegeben gewesen, während es nie und nimmer etwas
gab? Diese Zweifel scheinen sogar die phänomenologische Wahrnehmung
zu tangieren. Jede Erfassung eines dauernden Phänomens impliziert mit der
Dauererfassung auch Retention. Sollen wir also sagen, nur das absolute Jetzt
sei wirkliche Gegebenheit und sei frei vom Problem der Transzendenz, und
schon die geringste Erstreckung in die Vergangenheit, die doch zur Dauer
wesentlich gehört, sei problematisch? So geraten wir in einen extremen
Skeptizismus. Schließlich dürften wir nicht einmal wagen, von einem Flusse
und Erwägen als sinnvollem Fragen zugrunde liegt. Also die cartesianische
Evidenz dürfen wir nicht preisgeben, wir müssen sie aber andererseits richtig
verstehen, richtig fassen und begrenzen; auch nicht zu eng begrenzen. Sie
appelliert an die absolute Selbstgegebenheit des Zweifels im Zweifeln, des
Wahrnehmens im Wahrnehmen usw. Sie mahnt uns dadurch an das prinzipiell
Nichtproblematische und bezeichnet damit im Voraus der Form nach das
Feld, in dem Problemlösung vonstatten gehen muss.
Absolute1 Selbstgegebenheit ist prinzipiell das Nichtproblematische im
Sinne eben des Transzendenzproblems. Setzung eines Daseins, das nicht im
absoluten Sinn selbstgegeben ist, ist rätselhaft, eben weil es nicht selbstge-
geben ist. Haben wir und fassen wir etwas selbst, ohne in unserem Meinen,
Aussagen, Urteilen über das wahrhaft Selbstgegebene hinauszugehen, so hat
ein Zweifel keinen Sinn. Wir reden und urteilen ja vielerlei, und nicht bloß in
den Tag hinein, sondern aus guten Gründen. Wenn wir Gründe einfordern,
wenn wir sie aufgewiesen haben wollen: Ist dann nicht überall der Sinn der
Forderung eben der, vom gegebenheitsfernen Meinen zurückzugehen auf das
ausweisende, selbstgebende Meinen? Wir fühlen mindest, dass das der Sinn
sei, selbst in der Erfahrungssphäre, wo wir Rückgang der Erfahrungsurteile
auf aktuelle Wahrnehmung oder Erinnerung fordern. „Das ist so“, „Ich
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Was haben wir durch
diese Betrachtungen gelernt? Nun vor allem dies, dass im Ausgang von der Evidenz der cogitatio
verschiedene Sorten von Selbstgegebenheiten aufweisbar sind, dass darunter verschiedene Sor-
ten von Erkenntnisakten sind und zu ihnen gehörige in absoluter Selbstgegebenheit aufweisbare
intentionale, aber zugleich auch gültige, also in ihrer Art wirkliche Gegenständlichkeiten. Die
Sphäre der „Immanenz“ hat sich reicher gezeigt, als wir dachten. Es ist nicht abzusehen,
warum wir nicht weiterforschen könnten, ob sich noch andere Fälle von absoluter Gegebenheit
schauend aufweisen ließen, und zudem scheint jede dieser Arten von Gegebenheiten wieder
eine Erforschung ihrer inneren Konstitution und ihres Verhältnisses zu anderen Gegebenhei-
ten zuzulassen; also z.B. Erforschung der Akte, die der Titel „Wahrnehmung“ befasst, und
der Selbstgegebenheiten, die in oder an ihr in reellem oder intentionalem Sinn festzustellen
wären. Ebenso der Titel „Erinnerung“, als Retention und Wiedererinnerung und was sonst da
aufzuweisen wäre, wie z.B. auch Identifizierung und Unterscheidung usw.
Indessen, einen großen Schritt haben wir noch zu machen als Bedingung der Möglichkeit
wissenschaftlicher Forschung. Genau besehen haben wir noch immer nicht für eine Wissen-
schaft gesorgt. Angenommen selbst, wir könnten durch Wahrnehmung, Retention und Wieder-
erinnerung einen ungemessenen Bestand an gegenwärtigen und vergangenen Erlebnissen in
phänomenologischer Stellungnahme überschauen, und so, dass alles Überschaute in gesicherter
Selbstgegebenheit vorläge und immer neue Akte vollzogen werden könnten, die sich der Identi-
tät des Einzelnen aus diesem Bereich vergewissern könnten in zweifelloser Identifizierung: Was
sollten wir da wissenschaftlich tun? Die Beschreibung jedes Einzelnen wäre zwecklos, da ein
jedes doch immer wieder zur Wiedergegebenheit gebracht werden könnte und zum passenden
getreuen Ausdruck. Es bliebe dann noch die Klassifikation, oder zum mindesten die Festlegung
von Klassen, Gattungen, Arten bisher gegeben gewesener Akte. Wäre das ein Unternehmen
von erheblichem Nutzen?
80 allgemeine einführung
habe es gesehen“: Damit wird der Zweifel abgeschnitten. Nur freilich, dass
sich bei näherer Betrachtung zeigt, dass das empirische Wahrnehmen kein
absolut selbstgebender Akt ist und seinerseits wieder mit dem Problem der
Transzendenz behaftet ist. Und nur darum die weitere Untersuchung. Das
cogito ist ein absoluter Ausgangspunkt, nicht weil es sich um unsere eigenen
psychischen Erlebnisse handelt, sondern weil wir von diesen cogitationes,
wie Descartes sagt, clara et distincta perceptio haben. Richtiger aber heißt
es, weil das hierbei Gesetzte in reiner Selbstgegebenheit gesetzt ist. Und
damit ist der erste Boden der Untersuchung bezeichnet insofern, als eben
alle Transzendenzprobleme der Erkenntnis von der Gegebenheit der Er-
kenntnis selbst ausgehen müssen und von all dem, was in ihr selbst, sei es
reell, sei es intentional, absolut gegeben ist. Von da muss man weitergehen
und eben fragen, wie weit diese Selbstgegebenheit reicht; und man darf
nicht etwa meinen, das Selbstgegebene biete überhaupt keine Probleme. Das
Wesentliche ist, dass es selbstgegeben ist und dass in der Selbstgegebenheit
die Probleme, die sie stellt, selbst, also durchaus immanent zu lösen sind. In
diesem Sinne stellten wir schon als absolute Selbstgegebenheit das Dauern
und Eben-Gewesensein in Wahrnehmung, aber auch Retention fest. Die
Retention ist ebenso ein absolut gebender Akt wie die Wahrnehmung, und
es ist Sache eines besonderen Studiums, alle in die Sphäre absoluter Gege-
benheit fallenden Verhältnisse in diesen Akten zu erforschen, und von da aus
wäre weiterzugehen. Schon Descartes frug sich: Warum kann die Evidenz des
cogito absolut gelten, und was wäre ihr gleichzustellen? Und er sagt: alles, was
wir in demselben Sinn clara et distincta perceptio nennen. Aber er hat den
eigentlichen Sinn der Sachen nicht erfasst. Die perceptio, um die es sich hier
handelt, ist das reine, zum absoluten Selbst des Gemeinten vordrängende
oder1 allen Gestaltungen rein selbstgebender Akte nachgehende Schauen.
Und wie groß das Feld ist, das werden wir noch ausreichend sehen.
Indessen, eine Reihe von Hauptbedenken bleibt noch übrig. Im Ausgang
von der cartesianischen Evidenz schien sich zu ergeben, dass mannigfache
Sorten von selbstgebenden Erkenntnisakten aufweisbar sind und zu ihnen
gehörige absolute Gegebenheiten. Die Sphäre der so genannten Immananz
(ein Wort, das bei uns einen besonderen Sinn hat) zeigt sich als viel reicher, als
wir zunächst denken möchten. Aber sind denn hier die Bedingungen für die
Etablierung möglicher wissenschaftlicher Forschung erfüllt und erfüllbar?
Angenommen, dass Retention nicht beschränkt, sondern in Ansehung
des abgelaufenen Flusses unserer Erlebnisse allumfassend wäre, so dass wir
eine ganz analoge Stellung wie die, die wir phänomenologische Reduktion
nannten, nur dass in weiten Klassen von Fällen, die wir besonders im Auge
hatten, nicht bloß nebenher Natur mit hereinspielt, deren Setzung nun ei-
gens ausgeschaltet werden muss. Arithmetik nun, obschon in ihr nichts von
Natur gesetzt ist, weder Natur als physische Natur noch Natur als Existenz
des Arithmetikers noch sonstwie, ist Gemeingut aller Vernünftigen, aller,
die Arithmetik je trieben und treiben könnten. Jeder kann sich eben, was
da Zahl heißt, zur Gegebenheit bringen, jeder die auf Zahlen überhaupt
bezüglichen axiomatischen Sachverhalte, jeder die darauf gegründeten Be-
weise und Theorien. Wo sind nun die intersubjektiven Gegebenheiten der
Phänomenologie? Sie hätte keine solchen, wenn sie auf das individuell Ein-
zelne der cogitationes abgestimmt wäre und auf den individuell einzelnen,
d. h. einmaligen, wenn auch in phänomenologischer Reduktion gefassten
Bewusstseinsfluss des Phänomenologen. Die Phänomenologie wäre somit
kein Titel für eine Wissenschaft.
Es ist da klar, dass, wenn wir doch eine Phänomenologie als Wissenschaft
haben, sie es nicht mit den Phänomenen, jenen cogitationes oder Akten
in ihrer singulären und individuellen, sozusagen faktischen Einzelnheit zu
tun haben kann, und ebenso wenig mit Klassenbegriffen, die an diese Ein-
zelnheiten gebunden sind, somit als individuell begrenzten Allgemeinheiten.
Zahlen, die Objekte der reinen Arithmetik, sind reine Allgemeinheiten;
sie sind ebenfalls nicht individuell beschränkt, etwa als die Zahlen, die an
empirischen Objekten zu zählen sind, etwa als Maßzahlen. Gibt es auch hier
reine Allgemeinheiten?
Allgemeine1 Gegenstände können nun sein Wesen von Naturobjekten,
die transzendent sind, und Wesen von phänomenologischen Objekten, die
immanent, die absolut gegeben sind. Sind Naturobjekte nicht zu absoluter
Selbstgegebenheit zu bringen, so auch nicht ihr Wesen. Stellt es sich heraus,
dass Naturobjekte und auf sie bezügliche Sachverhalte nur zu einer gewissen
relativen und nie für sich abgeschlossenen Weise zur Gegebenheit kommen
können, so gilt dasselbe von ihren Wesen. Das Reich phänomenologischer
Forschung umfasst natürlich all das, was aus den Bewusstseinserlebnissen
nicht nur in reeller, sondern auch intentionaler Hinsicht in der Einstellung
reiner Ideation zu entnehmen ist. So ist z.B. Dingwahrnehmung ein schauba-
res Wesen. Dingwahrnehmung wesenhaft erforschend finden wir auch, dass
sie individuell Gegenständliches als selbst und jetzt Gegenwärtiges setze als
1 Die drei folgenden Sätze wurden vermutlich erst später mit Fragezeichen versehen und
gestrichen.
phänomenologie als wissenschaft vom reinen bewusstsein 83
etwas, das in ihr selbst nicht reell enthalten ist. Das Jetzt, von dem hierbei
die Rede ist, ist nicht ein aktuelles Jetzt, sondern Jetzt in Wesensfassung.
Die Betrachtung vollzieht sich im Allgemeinheitsbewusstsein, und in rein
schauendem. Alles, was da als reelles oder intentionales Wesensmoment zur
Gegebenheit kommt, wird fixiert, und eben wesenhaft, generell fixiert; und
dahin gehört auch die Zeitform mit dem Jetzt und Gewesen, mit Dauer,
Veränderung oder Unveränderung u.dgl.
sagen mit sich führen. Der cartesianische Ausgang betraf das absolute Sein
und absolut Selbstgefasstsein der jeweiligen individuell einzelnen cogitatio.
Am individuellen, einmaligen Bewusstseinsfluss hängen wir natürlich auch,
wenn wir den intentionalen Gehalt einer cogitatio beschreiben; wieder, wenn
wir aus einer Retention das soeben Gewesensein einer cogitatio entnehmen
u.dgl. Kurzum, es ist eine phänomenologische Daseinssphäre, eine Sphäre
von Jetzt-Dasein, Dauern, Soeben-Gewesensein, die durch die cartesiani-
sche Sphäre im weitesten Sinn bezeichnet ist. Es kommen aber, und das ist
das Neue, auch andere absolute Data zu reinem Schauen, Data, die nicht
einbezogen sind in den Fluss des phänomenologischen Daseins; absolut ge-
geben kann nicht bloß sein individuell Einzelnes, Daseiendes, sondern auch
Allgemeines, Wesensseiendes, in sehr verschiedenen Formen und Stufen.
Das Allgemeine kommt dabei in gewisser Weise aufgrund von Einzelheit
zur Gegebenheit, aber keineswegs so, dass die Seinssetzung vom Allge-
meinen irgendwie abhinge vom Sein des Einzelnen. Das zeigt sich schon
darin, dass das Einzelne, von dem es in einem sehr uneigentlichen Sinn
heißt, dass es der Abstraktionsgrund vom Allgemeinen sei, ebenso gut in
Erinnerung oder fiktiver Phantasie gegeben sein kann als in phänomeno-
logischer Wahrnehmung. Zum Beispiel wir vollziehen Erinnerungen. Wir
mögen auf diese Erinnerungen in phänomenologischer Reflexion hinblicken
und sie in ihrer Diesheit fassen. Wir können aber auch anderes fassen als das
jeweilige singuläre Diesda. Wir können z.B., in der Einheit eines Bewusst-
seins von Erinnerung zu Erinnerung fortgehend, aus diesen Einzelfällen das
allgemeine Wesen „Erinnerung“ herausschauen, in diesen Erinnerungen
Einzelfälle, Exempel, Besonderungen von Erinnerung überhaupt sehen. Wir
können dabei so eingestellt sein, dass wir das Sein dieser Einzelnheiten
gar nicht ansetzen; sie als jetzt seiende oder gewesene Erinnerungsakte in
ihrer Singularität nehmen und setzen wir nicht, vielmehr sehen wir in ihnen
nur das Allgemeine: Erinnerung. Statt wirklich vollzogener Erinnerungen
können wir ebenso gut Einbildungen von Erinnerungen nehmen, als Fik-
tionen schweben uns Erinnerungen vor, absolut individuelle Gegebenheit
kann dann nur die Phantasie selbst sein und dies, dass sie Phantasie von
Erinnerung ist. Aber es kommt uns nicht darauf an, wir bringen uns das nicht
zur Gegebenheit, sondern wieder schauen wir aus den intentional gegebenen
Erinnerungsfiktionen das Wesen Erinnerung überhaupt heraus.1
1 An dieser Stelle wurden vermutlich erst 1921 zwei Blätter mit folgendem Text beigelegt
Sie erkennen bald, dass hier in der Tat eine neue Sorte von absoluten
Gegebenheiten vorliegt, die nicht den Charakter von individuellen Gegeben-
heiten haben. Wir kommen in die Einstellung dieses neuen Schauens, das ich
Sondern wir sehen einfach dieses Objekt, das uns unbekannt ist, und apperzipieren es doch
sehend als einen Baum, einen Ofen etc. „nach Analogie“, wird man sagen, mit früher wirklich
zur Kenntnis genommenen Bäumen etc. (wie oben in allseitiger, oder in gewisser Umrahmung
allseitiger Wahrnehmung). Es wird natürlich nicht verglichen, es tritt auch keine reproduktive
Anschauung auf; und wenn sie auftritt, ist schon vorher die Apperzeption fertig. Vielmehr das
Unbekannte ist erfahren in einer Apperzeption, die mit einem Horizont ausgestattet ist, und in
dem Horizont mit einer intentionalen Formstruktur, die nach Linien intentionaler Genesis zu-
rückweist auf die früheren individuellen allseitigen Apperzeptionen „wohl bekannter Bäume“
etc. Die früheren wirklichen Kenntnisnahmen haben ihre habituelle Erfahrung ursprünglich
begründet, und diese Erfahrung wird im neuen Fall „durch Analogie“ geweckt und zeichnet in
der Deckung den apperzeptiven Horizont – in Analogie. Es ist nicht Wiedererkennen individuell
desselben Baumes, Ofens etc., aber eines gleichen oder ähnlichen, dann mit dem Bewusstsein
eines gewesenen Ähnlichkeitsabstandes, einer Deckung in Differenz.
Die Weckung von Bekanntheiten (mit phänomenologischen Unterschieden: Weckung einer
bestimmten einzelnen Bekanntheit, dann aber von unbestimmten Ketten von solchen) kann
so erfolgen, dass ein Neues, ein Unbekanntes zugleich verschiedene Reihen, und nicht durch
Deckung zu einer Einheit eines Typus verbundene, weckt. Das Objekt erinnert an Tannen, aber
zugleich an Fichten, an verschiedene Koniferen etc. Es haben sich unter dem Titel „Tanne“
typische Einzeichnungen konstituiert, andere unter dem Titel „Föhre“ etc. Aber das Neue
entspricht keinem dieser Typen und erinnert doch an alle, hat mit allen ein typisch Gemeinsames.
Wie das? Eine Föhre, die ich zum ersten Mal sehe, erinnert an „Tannen“ – eine Kette der
typischen Deckung mit einem Typus, der aber schon im Gesehenen nicht wirklich stimmt und
weiter nicht in näherer Kenntnisnahme.
Also müssten wir sagen: Jedes zur Kenntnis Genommene kann eintreten in Reihen, in denen
ein Typus hervortritt, sei es in eigentlicher voll anschaulicher Vergleichung, sei es durch Wieder-
„Erweckung“ der alten Apperzeption und durch Deckung in der Weise der Auflegung der
Leervorstellungen von der alten Wahrnehmung auf den der neuen Erfahrung. Jede Wahrneh-
mung (wie jedes originär auftretende Erlebnis) lässt einen „unbewussten“ Niederschlag zurück
als bleibende Erfahrung. Dieser wird geweckt als „Leervorstellung“. Diese deckt sich mit einer
neuen Anschauung teils nach dem eigentlich Anschaulichen, teils nach dessen Horizonten,
die nun durch die Deckung eine Einzeichnung erhalten. Auch bei eigentlicher Vergleichung
vollzieht sich dasselbe, sofern im Übergang die soeben gemachte Erfahrung dahin ist als der
lebendige Akt und die noch frische Retention schon eine leere ist, aber mit der relativ größten
inneren Leerzeichnung, die sich auflegt auf den Sinn der neuen Erfahrung. Dabei bilden sich in
der Passivität offene Reihen, sofern die geweckten alten Erfahrungen durch den notwendigen
Prozess der Verkümmerung durch Übergang ins Unbewusste, der im Unbewussten notwendig
fortschreitet, unbestimmt werden, ihre Gegenstände ihre Individualität, die Beziehung auf die
feste Zeitumgebeung, also Zeitlage, verlieren. Diese Unbestimmtheit gibt dem Geweckten den
Charakter des „ein A“, wo A der Komplex der Bestände ist, die durch die neue Wahrnehmung
zu bestimmter Weckung kommen.
Zu jenem Prozess der Verkümmerung muss aber noch bemerkt werden, dass er sein Ge-
genstück in dem Prozess der eventuellen „Wiederholung“ oder vielmehr „Übung“ als Prozess
der Kräftigung und Belebung des habituellen Besitzes hat; so dass die Verkümmerung mit
Beziehung darauf Verkümmerung ist durch „nicht wieder in Gebrauch nehmen“ und „nicht
wieder originär begründen“. Jede wiederholte Wahrnehmung ist eine Neustiftung der ent-
86 allgemeine einführung
Ideation zu nennen pflegte, wenn wir etwa fragen: „Was ist das überhaupt,
‚Wahrnehmung‘, was ist das, ‚Urteil‘, was ist das, ‚Erinnerung‘?“ Wir könn-
ten auch fragen: „Was meinen wir überhaupt unter …?“ Oder: „Was heißt
das, ‚Wahrnehmung‘?“ usw. Wir könnten die Frage verstehen in dem Sinn:
Was nennt man in unserer Sprachgemeinschaft gewöhnlich Wahrnehmung?
Die Beziehung auf die Sprachgemeinschaft und auf den Kreis empirischer
Menschen, die ihr angehören, müssen wir hier ausschalten. Mag es Menschen
geben oder nicht, und mag ich selbst Dasein im Sinne der Natur haben oder
nicht, das Wort „Wahrnehmung“, das Wort „Erinnerung“ oder „Urteil“
verstehend kann ich das Bedürfnis empfinden, mir, was das Wort besagt, zur
Klarheit und Gegebenheit zu bringen und kann ohne Rekurs auf Setzung
irgendeiner Transzendenz von der Frage: „Was ist das, Wahrnehmung?“
usw., übergehen zur Aufweisung: Eine Wahrnehmung, eine Erinnerung u.dgl.
schwebt mir dann anschaulich vor, und ich sage nun: „Das ist Wahrnehmung,
das ist Erinnerung, da ist es gegeben.“ Und ich meine dabei nicht dieses singu-
läre Dasein, das kommt und geht; dieses exemplifiziert mir nur diese Artung,
dieses allgemeine Wesen, welches seinerseits in der schauenden Ideation zur
Selbstgegebenheit kommt. Die Exempel kommen und gehen, es mögen bald
sprechenden „Erfahrung“, die erste Wahrnehmung die Urstiftung, die in der Wiederholung
die schon gestiftete Erfahrung bekräftigt, aber nicht nur in der Weise einer anschaulichen
Erinnerung (als Quasiwahrnehmung), sondern in der Hinzufügung der Kraft aus Neustiftung.
Indem nun die Weckung der jeweiligen Motivationslage (Lage der passiven Motivationen)
entsprechend zuerst die, dann jene früheren Erfahrungen weckt, dann wieder andere in irgendei-
ner Folge, erwachsen offene Reihen hinsichtlich der vergangenen Erfahrungen, und dann auch,
da Wiederholungen neuer solcher Erfahrungen im Voraus nicht der Motivation entbehren,
auch Offenheiten der Zukunft. Doch fehlt noch eins zur Erklärung der ersteren Offenheit.
Wir müssen scheiden die Weckung einer habituellen Erfahrung (die wir auch als Weckung der
früheren Wahrnehmung bezeichnen), als sozusagen ausgereifte Weckung einer Leervorstellung
mit einem gewissen Sinngehalt, mit dem wir des Gegenständlichen sozusagen habhaft werden
im leeren Daran-Denken, und die keimhafte Weckung eines völlig noch unbestimmten Etwas,
das sich erst weiterhin durch die eigentliche Weckung ausgestaltet zu diesem Habhaftwerden.
Während nun eines geweckt ist, keimt das andere auf, kommt zur Weckung, es keimt wieder
etwas auf, kommt seinerseits zur Weckung; in reiner Passivität spinnen sich solche Prozesse ein
und versanden, wenn wir nicht absichtlich darauf eingestellt sind, in der Form des passiven „und
so weiter“.
Solche Reihen des „und so weiter“ setzen also voraus eine durchgehende Sinnesdeckung
und die Unbestimmtheitsform des „ein“ bei jedem Glied. Ein bestimmter allgemeiner Sinnes-
typus trat hervor als das Allgemeine; aber es fragt sich noch, ob konstituiert ist eine zweiseitig
offene Reihe und eine Erfassungsrichtung auf dieses Allgemeine, oder ob der uns hier interes-
sierende Fall dafür eintritt, dass ein neu Erfahrenes – nach der Vergangenheit hin – eine offene
Reihe mit dem sich deckenden Allgemeinen weckt. Genauer gesprochen: Ein Wahrnehmungs-
material weckt eine eingeübte Apperzeption, und diese weckt in einigen Schritten der Folge
vergangene Erfahrungen, die in sukzessiver Deckung in ihrem Gemeinsamen sich decken.
Ich muss also eine schon eingeübte Apperzeption voraussetzen.
phänomenologie als wissenschaft vom reinen bewusstsein 87
das volle Wesen der singulären cogitatio ausmacht: die letzte und niederste
Allgemeinheit, die denkbar ist. Solche niedersten Allgemeinheiten sind es,
die ideell den Umfang der allgemeinen Wesen ausmachen, mit denen es
die Phänomenologie zu tun hat. Aber sie selbst gehören in die Sphäre des
„Unbegrenzten“, des πειρον, des wissenschaftlich nicht Bestimmbaren,
ebenso gut wie die individuellen cogitationes selbst. Das bedarf wohl keiner
näheren Ausführung. Anders steht es mit den Allgemeinheiten höherer
Stufe, die in reiner Idealität erschaut und herausgehoben werden können:
z.B. die Idee der Wahrnehmung als solcher, die Idee der sinnlichen Wahrneh-
mung, die Idee der sinnlichen Erinnerung, die Idee des Urteils, des Willens
etc.
Nicht identifizieren darf man hierbei den Allgemeinheitsgedanken oder
die Allgemeinheit der Idee (des Generellen) mit dem Gedanken der Univer-
salität. Der letztere geht auf Singuläres (Individuelles, wie ich wohl besser
sage) in der Form der „beliebigen“ Einzelnheit, die erstere auf Ideelles
selbst. Die Idee der Wahrnehmung erwägen, sie analysieren, sie näher be-
stimmen heißt nicht erforschen und daran thematisch denken, was zu jeder
beliebigen individuell vorzulegenden Wahrnehmung überhaupt gehört. An
die Einzelnheiten, die, unter die Idee der Wahrnehmung gehörig, im Fluss
des Bewusstseins auftreten mögen, sei es auch in der Bewusstseinsform
des Überhaupt und in der Einstellung der phänomenologischen Reduktion,
braucht gar nicht thematisch gedacht zu sein. Thematisch auf Ideen gerichtete
Einsichten ergeben a priori Erkenntnis für „Umfänge“ der Universalität.
Aber sie selbst sind nicht solche Erkenntnis.
Ferner: Wir haben Ideen, die Ideen von cogitationes sind, aber auch Ideen,
die sich auf das in den cogitationes Intentionale beziehen, also z.B. auf das
Wahrgenommene als solches, Erinnerte als solches, Gedachte als solches.
Hier ist nun von vornherein fundamental der Unterschied zwischen selbstge-
benden Akten und nichtselbstgebenden, die letzteren die „bloß meinenden“
Akte. Nun gehört zum Wesen jedes Aktes, dass er auch Meinen (Setzen
bzw. Quasisetzen) ist, dass in absoluter Weise aus ihm sein Gemeintes als
solches (sein Satz) in der Weise originaler Erfassung zu entnehmen ist,
mit entsprechender evidenter Beschreibung dieses Was und seines Wie ist
(Erscheinendes, Wahrgenommenes, Gedachtes als solches usw.). In solchen
verschiedenen Modis des Meinens kann das Was, die Meinung, der Satz
dasselbe sein und dasselbe Dasselbe in entsprechendem überschauenden
Einheitsbewusstsein als dasselbe erschaut werden – als dieselbe Meinung,
derselbe Satz. Einer dieser Modi des Meinens ist das originär anschauende
Meinen, etwa das der äußeren Wahrnehmung. Vereinigt sich in der Einheit
phänomenologie als wissenschaft vom reinen bewusstsein 89
eines Bewusstseins ein bloßes, nicht in dieser Art anschauendes Meinen mit
einem solchen, so erwächst das „Erfüllungs“-Bewusstsein als Erkenntnis
des bloß Vermeinten durch sein erfüllendes „es selbst“. Im Gedanken an
ein Haus ist ein Haus gedacht, und somit gemeint, aber ein anderes ist: „Das
Haus ist angeschaut“. Aus dem Hausgedanken ist der Gedanke „Haus“ zu
entnehmen als darin gegeben, aber gegeben im Hausanschauen ist das Haus
selbst. Nicht übersehen darf man, um nicht in Verwirrung zu geraten, die
Einstellungsänderung, die im Übergang vom aktuellen So-und-so-Meinen
auf das Meinen als Gegenstand und evtl. auf die Meinung als Was dieses
Meinens statthat. In dieser geänderten Einstellung kommt der Satz, der
Gedanke als solcher zu originärer Gegebenheit, wir „sehen“ auf ihn hin
und erfassen ihn selbst, als Satz, als den und den Sinngehalt. Aber etwas
meinen schlechthin ist nicht „so eingestellt sein“, ist nicht „sehend“ den
gemeinten Satz erfassen. Obschon er im Meinen „liegt“, ist er nicht Thema.
Vielmehr geht durch ihn, ohne dass er das ist, die Intention hindurch, die sich
im entsprechenden erfüllten Satz, seinem entsprechenden originalen Selbst
erfüllt.
In der beschriebenen Art kann jedes im Bewusstseinsfluss auftauchende
in Reinheit genommene Phänomen als Grundlage für ein schauendes All-
gemeinheitsbewusstsein dienen, und zwar in Hinsicht auf jederlei Bestand-
stücke, Formen, Inhaltsmomente reeller oder intentionaler Art. Es erwach-
sen generelle Aussagen von unbedingter Gültigkeit, deren identischer Sinn
sich immer wieder an der Bereitstellung von wirklichen oder Phantasiephä-
nomenen desselben Wesensbestandes ausweisen, und als absolut geltend
ausweisen lässt. Dabei ist zu bemerken, dass nicht bloß rein generelle Aussa-
gen zu vollziehen sind, die über Allgemeinheiten als generelle Gegenstände
prädizieren, sondern auch Umwendungen solcher Aussagen in unbestimmt
und unbedingt allgemeine. Es ist hier ganz ähnlich wie in der Arithmetik,
wo wir bald über Zahlen als allgemeine Gegenstände urteilen, etwa über
die Ordnung der Zahlen in der Zahlenreihe, über die Primzahlen unterhalb
einer gegebenen Zahl u.dgl., und andererseits auch urteilen über Anzahlen
in unbestimmt allgemeinem Sinn, z.B. 2 + 2 = 4, d. h. irgendeine Vielheit der
Anzahl 2 und irgendeine Vielheit der Anzahl 2 geben summiert eine Vielheit
der Anzahl 4 (und vice versa). Es sind in phänomenologischer Sphäre also
möglich absolut gültige Urteile über Wahrnehmungen als solche, d. i. über
einzelne Wahrnehmungen überhaupt, sofern sie nur überhaupt unter der
Idee „Wahrnehmung“ stehen, ebenso über Erinnerungen überhaupt, über
Gefühle überhaupt usw. Jede reine Urteilsweise, die in gültiger Weise an dem
bloßen „Wesen“ der cogitatio hängt, ist als absolut gültige anzusehen, und
90 allgemeine einführung
die Reinheit des Urteilens besagt hierbei den Ausschluss von jederlei Da-
seinssetzungen, auch von phänomenologischen Daseinssetzungen. Sprechen
wir über das, was für alle und jede Wahrnehmungen überhaupt gilt oder was
universal in reiner Möglichkeit überhaupt für eine Wahrnehmung als solche
besteht, so urteilen wir zwar über individuelle Phänomene, aber nicht anders
denn eben im „reinen Überhaupt“, in unbedingter und unbestimmter All-
gemeinheit, rein aufgrund des Wesens: Wir setzen kein einziges Individuum
Wahrnehmung als wirklich.
Natürlich wird die Forschung den verschiedenen Stufen der Allgemein-
heit folgen können: Generelle, unbedingt universelle und partikulare Aus-
sagen werden statthaben können, etwa für Phänomene überhaupt, für Akte
überhaupt, für intellektive Akte überhaupt, für wertende Akte überhaupt,
für Wahrnehmungen überhaupt, für Phantasien überhaupt, aber auch für
Dingwahrnehmungen überhaupt1 usw. Vorausgesetzt ist dabei eben nur, dass
in der schauenden Vergleichung und Ideation Allgemeinheiten unter den
betreffenden Titeln zu wirklicher und reiner Selbstgegebenheit kommen.
Man kann dabei herabsteigen bis zu den tiefsten erreichbaren Differen-
zen. Nehmen wir eine gegebene Wahrnehmung etwa mit ihrem ganzen
Inhalt, so kann dieser volle und ganze Inhalt, der als das τοδετι individuell
dasteht, wesensmäßig gefasst werden. Die singulären Einzelnheiten dieses
identischen Wahrnehmungswesens unterscheiden sich dann bloß durch die
Individuation. Freilich, ob wirklich unterscheidende Fixierung bis auf diese
letzten Differenzen herab möglich ist, mag fraglich sein. Unfraglich ist sie
jedenfalls hinsichtlich der höheren Differenzen, Arten, Gattungen. Soweit
ideierendes Einheitsbewusstsein reicht, reicht die Wesenssetzung; die unter-
scheidende Fixierung setzt aber voraus, dass die Unterschiede der gesetzten
Wesen zu klarer und reiner Gegebenheit kommen. Die Forschungssphäre
F
ist jedenfalls unendlich, das Bewusstsein mit seiner unerschöpflichen Fülle
von Phänomenen unterliegt der Wesensforschung in ständig schauenden,
zu reiner Selbstgegebenheit bringenden Verfahren. Die Möglichkeit einer
Phänomenologie als Wissenschaft, und zwar als einer Wesenslehre der reinen
Phänomene, ist außer Frage, und es ist auch sicher, dass ihre Wahrheiten auf
alle möglichen individuellen Bewusstseinsgestaltungen sich beziehen (mit all
ihren intentionalen Einheiten), aber ohne jedes Präjudiz für ein empirisches
Dasein derselben als psychologischer Phänomene irgendwelcher psychischer
Persönlichkeiten in der außer der phänomenologischen Einstellung schlecht-
hin und naiv geltenden Welt. Eine solche Wissenschaft hat selbstverständlich,
wie jede Wissenschaft überhaupt, Zweck und Recht in sich selbst; es bedarf
in dieser Hinsicht keiner utilitaristischen Abschätzungen, um für ihren sys-
tematischen Aufbau ein Recht allererst herzuleiten. Andererseits ist es bei
der Unklarheit über das Wesen philosophischer Forschung und über das Ver-
hältnis zwischen spezifisch philosophischen und den übrigen Wissenschaften
doch von großer Wichtigkeit, sich über die Bedeutung phänomenologischer
Forschung für eine wissenschaftliche Philosophie klar zu werden.
In dieser Hinsicht ist kurz darauf hinzuweisen, dass unseren früheren
Ausführungen gemäß es das Auftauchen der transzendentalen Probleme
ist, welches die Scheidung zwischen natürlicher und philosophischer Wis-
senschaft bewirkt. Dem Standpunkt des Anfängers gemäß haben wir die
Sachlage nur an einzelnen Punkten aufgewiesen, wir haben bevorzugend den
Nachdruck gelegt auf das Rätsel der Naturerkenntnis und auf die dem natür-
lichen Denken überall selbstverständliche und ohne Arg vollzogene Setzung
von empirischem Ich, von umgebender empirischer Welt in Raum und Zeit
u.dgl. Solche Einzelnheiten genügen aber, um die Art der transzendentalen
Schwierigkeiten exemplarisch kennen zu lernen und schrittweise einzusehen,
dass die natürlich erwachsenen Wissenschaften oder, wie wir noch besser sa-
gen, die in transzendentaler Hinsicht naiven, keine letzte Erkenntnis gewäh-
ren. Sowie die transzendentalen Reflexionen einsetzen und in verschiedenen
Richtungen die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zum Rätsel wird,
gerät all das, was die noch so exakten Wissenschaften aufgestellt und begrün-
det haben, in Verwirrung und Schwanken, das Recht der Ausgangspunkte
und der fortführenden Methoden, der Sinn der gewonnenen Ergebnisse
wird zweifelhaft und jedenfalls fraglich. Die Unklarheit hinsichtlich der
Möglichkeit objektiv gültiger Erkenntnis, die bei aller Subjektivität doch
eines Ansichseins gewiss werden soll, verwickelt in immer neue und immer
wieder absurde Theorien, die in sonderbarem Kontrast stehen zu dem An-
spruch auf Klarheit und Strenge, den alle höher entwickelten Wissenschaften
erheben und, solange sie sich um die transzendentalen Schwierigkeiten nicht
kümmern, auch vertreten zu können glauben. Das betrifft ebenso wohl die
theoretischen wie die normativen Wissenschaften; der Sinn der Objektivität
des ethischen Sollens und die Möglichkeit objektiv gültiger ethischer Er-
kenntnis ist ebenso fraglich wie der Sinn des Ansichseins einer Natur und
die Möglichkeit ihrer Erkenntnis in den Naturwissenschaften.
Für die Lösung aller transzendentalen Probleme gibt es nun offenbar
keinen anderen Weg als den der Phänomenologie. Es bedarf nur einer
schlichten, alle Vorurteile abtuenden Selbstbesinnung, um sich deutlich zu
machen, dass man phänomenologische Reduktion üben, dass man, was die
92 allgemeine einführung
faltigkeitsformen getan haben. Man kann sagen, dass formale Logik und
Mannigfaltigkeitslehre, dass reine Mathematik, dass reine Ontologie der
Natur (deren Aufbau freilich ein Desiderat ist), kurz, alle objektiven wis-
senschaftstheoretischen Disziplinen in der Linie der Philosophie liegen, dass
sie zwischen den nichtwissenschaftstheoretischen Disziplinen und der Philo-
sophie eine Vermittlung bilden. Aber sie selbst sind noch nicht Philosophie
und behandeln noch nicht die in dem eigentlichsten Sinn philosophischen
Probleme. Sie vermitteln, sofern ihre Grundbegriffe und ihre Prinzipien, wie
man nachweisen kann, die Leitprobleme für eine allgemeine Phänomenolo-
gie und phänomenologische Philosophie abgeben. Die ungeheure Aufgabe,
die uns mit dem Aufbau des Systems wissenschaftstheoretischer oder, wie
ich auch sagen könnte, ontologischer Disziplinen im allgemeineren Sinn
gestellt ist und mit der Herausstellung des zusammenhängenden Systems
apriorischer Prinzipien, die zu dem System der verschiedenen Seinskatego-
rien gehören, soll gar nicht gering geachtet, in ihrer einzigartigen Bedeutung
nicht unterschätzt werden. Man mag sie auch als philosophische Aufgabe
bezeichnen insofern, als wohl nur der Philosoph, allerdings unter Mithilfe
des Mathematikers und Naturforschers, die Bedeutung dieser Aufgabe er-
fassen und zu ihrer Lösung berufen sein wird. Aber das ändert nichts an
dem Gesagten. Die theoretische Umschreibung der objektiven Vernunft in
Herausstellung ihrer Kategorien und ihrer Prinzipien ist noch keine Kritik
der Vernunft, ist noch keine Philosophie der Vernunft. Sonst wäre eine
vollendet gedachte, und zwar meine ich in ihrer objektiven Fundamentierung
vollendet gedachte Arithmetik und Mannigfaltigkeitslehre ein Urbild reiner
Philosophie und böte in ihrer Sphäre keine philosophischen Probleme mehr.
Und dasselbe gälte von einer formalen Axiologie und von einer formalen
oder reinen Naturwissenschaft als einer apriorischen Ontologie der Natur.
In Wahrheit liegt die Quelle aller skeptischen Verlegenheiten, von denen die
noch so vollkommenen Einzelwissenschaften und die noch so vollkommenen
logisch-wissenschaftstheoretischen Disziplinen gleichmäßig betroffen sind,
in den unklaren Zusammenhängen zwischen Erkenntnis und Erkanntem und
in den unklaren Ansprüchen, welche die verschiedenen logischen Prinzipien
erheben, unbedingt objektive Bedingungen der Möglichkeit des Seins von
betreffender Kategorie auszudrücken und damit als unbedingt gültige Nor-
men des Wahrheit suchenden Erkennens zu fungieren. Alle diese Prinzipien
sind ja selbstgedachte Prinzipien, in reiner Intuition sollen sie erfasst sein.
Wie kann aber Erkennen in sich verbleibend, in seiner reinen Immanenz,
den Anspruch erheben, etwas zu treffen, was der Erkenntnis gegenüber ein
Ansich ist? Ein unbedingt allgemeiner Sachverhalt, für jedes objektive Sein
96 allgemeine einführung
der betreffenden Kategorie a priori und absolut gültig: wie soll der subjektiv,
in einem zusammenhängenden Erkenntnisphänomen erschaubar sein? Jeder
Schritt des auf objektive Gültigkeit Anspruch machenden Erkennens, also
jeder Schritt der Wissenschaft, steht unter einem objektiven Prinzip a priori,
das diesen Schritt als Schritt dieser Artung berechtigen soll. Machen wir
einen syllogistischen Schluss, so heißt es: Jeder Schluss dieser Form ist prin-
zipiell gültig, das Schlussprinzip rechtfertigt; und nur, wenn es aufweisbar ist,
gilt der vorliegende Schluss. Das Schlussprinzip aber sagt objektiv: Aus jedem
gültigen Bedeutungsinhalt solcher Form folgt ein gültiger Bedeutungsinhalt
der und der korrelaten Form. Aber wie kann Erkenntnis über sich hinaus
und Objektivität an sich, sei es auch in Form dieser Bedeutungsobjektivität,
erfassen?
Alles, was nach logischen Prinzipien erschlossen ist, soll sachlich gelten,
und für Sachen, die dem Bewusstsein gegenüber an sich sind.
Oder wir machen in concreto einen Schritt arithmetischer Feststellung.
Wir werden auf ein arithmetisches Prinzip zurückgeführt. Wie kann Erkennt-
nis aber etwas, und in genereller Weise für Zahlen, an sich erfassen? Zahl wird
im Zählen bewusst, aber Zählen ist doch nicht Zahl. Und gilt der Zahlensatz
nicht zugleich für jede an sich seiende Natur? Wie machen wir Aussagen von
prinzipieller Gültigkeit für Raum und Zeit? Sind Raumphänomene, die im
geometrischen Prinzipiendenken fungieren, der Raum selbst, sind die Phäno-
mene des Zeitflusses selbst die objektive Zeit? Und wie sind die prinzipiellen
Aussagen für Raum- und Zeitgestalten mit ihrem Anspruch auf unbedingte
Allgemeinheit und Notwendigkeit zu verstehen? Und so natürlich für alle
Natur und Naturwissenschaft. Geht man vom Singulären aus, so findet man
eine Schwierigkeit darin, wie eine singuläre Feststellung eines Naturdaseins
möglich sein soll. Etwa durch schlichte Wahrnehmung und Erfahrung und das
unmittelbar darauf bezogene Erfahrungsurteil? Aber Wahrnehmung ist nicht
Wahrgenommenes, und das Wahrgenommene ist doch der Erkenntnis gegen-
über ein Ansich. Wird man dann weiter auf Prinzipien der Naturbestimmung
zurückgewiesen, sagt man uns, die Erfahrungslogik lehre, dass die und die
Prinzipien uns bei der Ansetzung und weiteren Bestimmung von Erfahrungs-
objekten a priori leiten müssen, so mag das ja sein, und es ist wirklich so. Aber
wie können solche Prinzipien als Bedingungen, unter denen wirkliches Sein
der Natur stehen soll, eben diese ihre Funktion in der Erkenntnis verständlich
ausweisen? Wie kann das Erkennen einen solchen ihr doch transzendenten
Sachverhalt, und sogar einen allgemeinen und notwendigen fassen? Etwa
weil sie selbst irgendeinen Index, irgendein charakterisierendes Gefühl der
Allgemeinheit und Notwendigkeit in sich trägt? Aber was kümmert sich das
phänomenologie als erste philosophie 97
Die Erkenntnisphänomene1
Wir wollen heute mit speziellen phänomenologischen Analysen beginnen.
Die allgemeinen Meditationen, die wir bisher gemeinsam gepflogen ha-
ben, haben ihren Zweck erfüllt. Wir haben uns von der Möglichkeit, ja
Notwendigkeit wissenschaftlicher Untersuchungen überzeugt, welche in ei-
ner neuen Dimension liegen gegenüber denjenigen der Wissenschaften der
natürlichen Erkenntnis. Wir erhoben uns schrittweise zur Idee einer Phä-
nomenologie als einer Wesenslehre des reinen Bewusstseins. Wir haben
in der letzten Vorlesung auch von der einzigartigen Bedeutung solcher
Untersuchungen eine Vorstellung gewonnen, wir haben uns klargemacht,
dass die Lösung der im spezifischen Sinn philosophischen Probleme nur
nach phänomenologischer Methode, nur auf dem Fundament der in der
Phänomenologie gewonnenen Aufklärungen erreichbar ist.
Wir wollen nun die allgemeinen Betrachtungen nicht weiterführen, son-
dern in die Phänomenologie selbst eintreten. Sie dürfen natürlich nicht
erwarten, hier den Abriss einer systematisch ausgebauten, hoch entwickelten
Disziplin kennen zu lernen und dabei so weit zu kommen, dass Sie sich am
Schluss des Semesters der endlichen Lösung der großen Probleme der Ver-
nunftkritik erfreuen können. Eine neue Erkenntniskritik, in der die Rätsel
der theoretischen, ästhetischen, praktischen Vernunft klipp und klar zur Er-
ledigung kommen, in ein paar schnell fertigen Theorien, die man in wenigen
Vorlesungswochen darstellen und historisch-kritisch durchführen kann, dür-
fen Sie von mir nicht erwarten. Das hiesse ein neues Luftschloss entwerfen, zu
den vielen alten der Geschichte. Phänomenologie und phänomenologische
Kritik der Vernunft ist eine umfassende und mühselige Wissenschaft, so
umfassend und mühselig wie eben jede echte Wissenschaft. Und jede echte
Wissenschaft wächst von unten in die Höhen ganz allmählich. Kein Einzelner
stellt sie fertig her, jeder neue Forscher fügt nur ein neues Bauglied hinzu.
1 Randtitel von Edith Stein Versuche einer Klassifikation von den cogitationes.
102 die speziellen wahrnehmungsanalysen
ten nicht absehen, sondern ihnen vielmehr nachgehen; man wird die nächsten
allgemeinen Gruppierungen vorläufig zugrunde legen und damit in die Rei-
henfolge der Analysen eine vorläufige Ordnung hineinbringen. In dieser Art
können wir Gebrauch machen von einer sehr allgemeinen Klassenbildung,
nämlich von einer Zusammenfassung von Phänomenen unter dem Titel In-
tellekt. Gewöhnlich stellt man dabei gegenüber Intellekt und Gemüt, bzw.
intellektive Phänomene oder Erkenntnisphänomene im weitesten Sinn und
Gemütsphänomene. Ob das aber wirklich ausreichend ist, ob es sich dabei
um eine wirkliche und scharfe Klassifikation handelt, die alle Phänomene
umspannt, die einfachen wie die komplexen, darüber machen wir uns hier
kein Kopfzerbrechen. Wir lassen das zweite Glied dieser Klassifikation über-
haupt auf sich beruhen. Wir1 wollen uns mit Erkenntnisphänomenen speziell
beschäftigen. Der Titel „Erkenntnis“ hat öfters einen prägnanten Sinn, es
sind damit Erlebnisse gemeint, in denen Wahrheiten einsichtig zur Gege-
benheit kommen. Sicherlich fungiert dieser engste Begriff auch in gewisser
Weise als Leitbegriff für die Umgrenzung des ungleich weiteren Rahmens
von Phänomenen, den der weiteste Erkenntnisbegriff umspannt. Es gibt
nämlich, wie man leicht beobachtet, Füllen von Phänomenen, die nicht bloß
psychologisch, sondern phänomenologisch den Charakter von Fundamenten
haben, auf denen sich Erkenntnis im prägnanten Sinn notwendig aufbaut, auf
die man jedenfalls bei der Analyse der Grundgestaltungen der Erkenntnis
im prägnanten Sinn als Bestandstücken oder wesentlichen Unterlagen stößt,
die beim Aufbau der Erkenntnisbeziehung auf gegebene Gegenständlichkeit
ihre intentionale Rolle spielen und dabei alle miteinander zugleich verwandt
erscheinen. Alle solche Phänomene heißen daher Erkenntnisphänomene im
weitesten Sinn. Hierher gehören offenbar Wahrnehmungen, Vorstellungen,
Urteile, Aussagen, Vermutungen, Erlebnisse der Schlussfolgerung usw. Dass
nicht alle Phänomene hierher gehören, ist klar. Erlebnisse des Wohlgefallens
oder Missfallens, des Fürchtens oder Hoffens, des Begehrens oder Wollens
gehören nicht hierher; mögen sie sich auch auf Phänomenen aufbauen, die
wir in die Erkenntnissphäre rechnen, sie selbst sind nicht mehr Erkenntnis-
phänomene. Natürlich ist die Wahrnehmung eines Gefallens, die Wahrneh-
mung eines Wollens, die Erinnerung an eine Furcht, das Urteil über eine Be-
gierde (und ist jedes Werturteil) unter die Erkenntniserlebnisse zu rechnen.
Im Übrigen soll sich erst ausweisen, inwiefern dieser Erkenntnisbegriff eine
Wesenseinheit herausstellen kann oder nicht kann; er gibt uns einen allgemei-
nen Leitfaden, und was von ihm brauchbar ist, muss sich erst herausstellen.
Gegenstand ist, die Wahrnehmung dieser Bank eben Wahrnehmung von ihr,
die Wahrnehmung eines Hauses eben Wahrnehmung von dem Haus usw.
Betrachten1 wir phänomenologisch andere cogitationes, so finden wir, dass
nicht bloß Wahrnehmungen diese merkwürdige gegenständliche Beziehung
haben. Auch zum Wesen einer Phantasie gehört es, dass sie Phantasie von
etwas ist, z.B. Phantasie von einer Bank, von einem Zentauren u.dgl. Erinne-
rung ist Erinnerung an etwas, Denken ist Denken von etwas usw. Ohne in eine
Wesensanalyse dieser andersartigen Phänomene einzutreten, erkennen wir,
dass auch zu ihrem Wesen es unabtrennbar gehört, dieses „von etwas“, eine
gegenständliche Beziehung mit sich zu führen. Es springen aber sofort Unter-
schiede ins Auge: Der cogitierte Gegenstand – der intentionale, wie wir es in
unseren einleitenden Betrachtungen nannten – hat in den verschiedenartigen
Phänomenen eine verschiedenartige intentionale Gegebenheitsweise.
1) Speziell der Gegenstand der Wahrnehmung hat, als wahrgenomme-
ner, einen eigentümlichen Charakter, den wir etwa als Cha ra kt e r de r
Le ibha f t ig ke it bezeichnen können. Im Hauswahrnehmen steht das Haus
leibhaftig da und weiter als leibhaft Gegenwärtiges; und darin liegt: Es steht
als aktuell selbst und im aktuellen Jetzt gegeben da.2 Doch ist das keine
Definition. Wenn wir „aktuell selbst gegeben“ und „aktuell jetzt gegeben“
sagen, so besagt das „aktuell“ eben wieder den unbeschreiblichen Leib-
haftigkeitscharakter, dessen Wesen im Kontrast scharf hervortritt.3 In der
Phantasie steht ein Gegenstand auch da, in gewisser Weise auch selbst. Aber
das ist nicht das aktuelle Selbst, sondern nur gleichsam Selbst. Und ebenso ist
das Jetzt der Phantasiegegenständlichkeit nicht das aktuelle Jetzt,4 sondern
ein gleichsam Jetzt, und zwar ein Phantasie-Jetzt. Ebenso verhält es sich mit
der Erinnerung. Der Gegenstand ist vergegenwärtigt und als das charakteri-
siert, er steht in einem Jetzt da, aber dieses Jetzt ist das gewesene Jetzt; und
damit drückt sich zugleich ein Unterschied des gesamten gegenständlichen
Inhalts aus, so wie er Inhalt des Erinnerungsgegenstandes ist. Die Farbe, die
Gestalt usw., alles und jedes ist von einer gewissen Modifikation gegenüber
der Wahrnehmungsgegebenheit durchtränkt. Die Farbe ist vergegenwärtigte
und nicht leibhaftige Farbe usw. Wieder anders ist die Modifikation, wenn
wir einen Gegenstand denken (= ansetzen), genauer: einen phantasierten
oder erinnerten als gegenwärtig denken, oder wenn wir einen Gegenstand
im Bilde anschauen, wie wenn wir ein Gemälde betrachten, wobei zwar auch
ein leibhaftiges Bewusstsein zugrunde liegt, aber das leibhaft Erscheinende
nicht das Abgebildete selbst sein will, sondern ein nicht leibhaft Erschei-
nendes eben verbildlicht. Die genaue Durchforschung dieser verschiedenen
Gegebenheitsweisen der intentionalen Gegenstände und ihrer wechselsei-
tigen Verhältnisse ist Sache umfassender und inhaltreicher Analysen. Hier
begnügen wir uns mit rohen Aufweisungen und vor allem mit der Kontras-
tierung derselben zum Zweck der Abhebung des Aktualitätscharakters oder
Leibhaftigkeitscharakters des wahrgenommenen Gegenstandes als solchen.
2) Der1 Aktualitätscharakter ist nicht zu verwechseln mit dem Wirklich-
keitscharakter in dem Sinn des Charakters der Existenz. Die phänome-
nologische Epoché, die wir üben, besagt, dass wir in unserer Forschungs-
sphäre über die Existenz, das Wahrhaft-Sein des Wahrgenommenen, soweit
es, wie bei allen Wahrnehmungen von Naturobjekten, zu keiner evidenten
Selbstgegebenheit kommt, kein Urteil fällen und von ihr überhaupt keinen
theoretischen Gebrauch machen. Andererseits gehört es zum Wesen der
Wahrnehmung im gewöhnlichen Wortsinn, dass sie Existenz des Wahrge-
nommenen setzt. Dieses Setzen ist kein Prädizieren, kein diskursives Urtei-
len. Schlicht wahrnehmen ist eins, und daraufhin ein Prädizieren vollziehen
evidenterweise ein anderes. Im schlichten Wahrnehmen selbst finden wir
nun das Setzen, von der Wahrnehmung heißt es in dieser Beziehung, sie sei
Glaube an das Sein des Wahrgenommenen. Das ist freilich ein missdeutlicher
Ausdruck, da er es gerade nahe legt, was wir ausschließen müssen, nämlich
dass dieser Gedanke, dass das Haus ist, in der Hauswahrnehmung vorkomme,
als ob sie die Prädikation, das Haus sei, vollziehe.
Der Ausdruck „Wahrnehmungsglaube“ darf also nicht missverstanden
werden. Und ebenso der etwas weniger missdeutliche Ausdruck „Wahr-
nehmungssetzung“. Was wir hinsichtlich der Wahrnehmung, dieser cogitatio
selbst als Moment der Setzung bezeichnen, hat sein intentionales Korrelat in
dem Existentialcharakter des wahrgenommenen Objekts als solchen. Kon-
trastieren wir wieder. Wir treten in ein Kaffeehaus und sehen vor uns einen
weiten Raum mit Menschen, wir schreiten Platz suchend weiter und auf ein-
mal merken wir, dass zwei Schritte vor uns eine große Spiegelwand ist, welche
den wahren Raum verdoppelt. Alle die Spiegelmenschen, T Tische, Stühle,
die wir soeben noch als Wirklichkeiten genommen hatten, werden nun zu
unwirklichen, nichtseienden Bildobjekten, obschon von Bildern für die wirk-
weise, es gelte ihm das Wahrgenommene als wirklich seiend. Da aber bei
Erhaltung des übrigen phänomenologischen Wesens der Wahrnehmung der
Glaubenscharakter fortfallen und durch andere, in die gleiche Linie gehö-
rige Charaktere ersetzt werden kann, so hat der Begriff der Wahrnehmung
eine Tendenz, gegenüber diesen Modifikationen unempfindlich zu werden,
sie unbestimmt zu lassen, also seinen bestimmten Inhalt allein zu orientieren
nach dem überall gemeinsamen Leibhaftigkeitsmoment. So wollen wir das
Wort „Wahrnehmung“ nur da gebrauchen, wo keine Verwirrung möglich ist.
(Natürlich nimmt man dieses Moment dann nicht in abstracto; Wahrnehmung
ist der Name eines konkreten Phänomens; man rechnet also irgendeinen
Modus der Stellungnahme hinzu, der dann aber in allgemeiner Rede un-
bestimmt gelassen ist.) In streng terminologischer Rede sprechen wir von
Perze pt ion: von voller Perzeption, wo wir den Modus der Stellungnahme
hinzurechnen, von bloßer Perzeption, wo wir davon abstrahieren. Die Modi
der Stellungnahme bezeichnen wir dann als Perzeptionsglaube, Perzeptions-
unglaube, Perzeptionszweifel usw. Wahrnehmung im echten und prägnanten
Sinn ist eine Perzeption mit dem Modus des Perzeptionsglaubens.
In den nächsten Analysen sehen wir von diesen Modis ab und analysieren
also den Inhalt der bloßen Perzeption oder den Wesensgehalt der Wahrneh-
mung im weiteren Sinn in Richtung auf den Gehalt ihrer bloßen Perzeption,
sei es nach ihrem reellen Bestand, sei es nach dem intentionalen.
dass es sich nicht um den Inhalt des Gegenstandes schlechthin, den Gegen-
stand an sich genommen handelt: z.B. den Inhalt des Gegenstandes Tafel
„an sich“,1 des Dinges der Natur. Ist „der wahrgenommene Gegenstand in
Wirklichkeit“, so kommen ihm als demjenigen, der wirklich ist, und so, wie
er wirklich ist, Inhaltsbestimmtheiten zu: Teile, Momente, Eigenschaften,
Relationen. Obschon nun aber (wenn der wahrgenommene Gegenstand
wirklich ist) der wahrgenommene Gegenstand selbst der wirkliche ist, so
deckt sich doch keineswegs die Beschreibung des wirklichen Gegenstands
mit der Beschreibung des „wahrgenommenen Gegenstands als solchen“,
und zwar mit derjenigen Beschreibung, die wir im phänomenologischen
Gebiete allein kennen. Die phänomenologische Beschreibung ist vom Mo-
dus der Stellungnahme unabhängig und in weiterer Folge auch unabhängig
davon, ob wir urteilend „den Gegenstand“ für wirklich halten oder als
unwirklich verwerfen. Andererseits, die Naturbeschreibung hat nur Sinn
aufgrund der beständigen Wirklichkeitssetzung des Gegenstandes. Diese
letztere Beschreibung, die Naturbeschreibung, geschieht bekanntlich, wenn
sie sich ausweisen soll, aufgrund mannigfaltiger Wahrnehmungen. Um das
Naturobjekt Tafel zu beschreiben und diese Beschreibung auszuweisen, muss
ich es allseitig betrachten, in immer neuen Wahrnehmungen, und dann haben
wir daran physische Operationen zu vollziehen; um das Innere der Tafel, die
Art der inneren Struktur kennen zu lernen, haben wir sie zu zerschneiden
oder zu zerbrechen usw. Wie solche Beschreibung und Inhaltsbestimmung
des Naturobjekts weiter erfolgt, geht uns hier nicht an, jedenfalls ist es klar,
dass bloße Beschränkung auf eine einzelne Wahrnehmung und das, was ihr
in gegenständlicher Hinsicht abzulesen ist, keine „objektive Beschreibung“,
keine objektiv gültige, und Bestimmung des Naturobjekts ergibt. Anderer-
seits ist doch das absolut evident, dass die jeweilige Wahrnehmung „etwas,
einen Gegenstand wahrnimmt“, und zwar betrifft das ihren bloßen Kern,
die bloße Perzeption, da es gilt unabhängig vom Modus der Stellungnahme.
Und mit absoluter Evidenz ist weiter auszusagen, dass dies wahrgenommene
bzw. perzipierte Etwas „ein Ding“, „ein dreidimensionales Raumobjekt“ ist,
eine schwarze Tafel usw., und zwar dem Sinn dieser Perzeption gemäß: als
das nimmt sie, fasst sie, meint sie, oder wie man es nennen mag, das Etwas,
das sie als leibhaftes vorstellt.2
sie „getreu“ ist, bedarf keiner Ausweisung an anderen Wahrnehmungen, ja lässt sie sinnvoll
nicht zu.
1 Gestrichen und absolut wahrnehmungsmäßig gegeben hat.
114 die speziellen wahrnehmungsanalysen
1 Vermutlich während der Vorbereitung der folgenden Vorlesungsstunde gestrichen Bei genauer
Betrachtung kann man hier statt e in e s Gegensatzes vielmehr zwei abscheiden. 1) Wahrnehmun-
gen von Phänomenen waren absolut gebend; nämlich das Wirklichsein des leibhaft perzipierten
Phänomens war ein zweifelloses. Die Zweifellosigkeit ist allerdings ein normatives Kriterium,
es besagt, dass mit der vorliegenden Wahrnehmungsart Zweifel evident unverträglich ist. Das
gründet aber in ihrem Wesen, also der Eigenart der Seinssetzung, die absolute Seinssetzung zu
nennen wäre.
eigentlich und uneigentlich wahrgenommenes 115
Sinn selbstgebend sind, nämlich dass sie das Wirklichsein des leibhaft Perzi-
pierten in evidenter Zweifellosigkeit geben, das mit dem Phänomen Zweifel
und ebenso Unglaube evident unverträglich ist. Die Seinssetzung, die hier
vollzogen ist in jedem Fall solchen Hinsehens auf eine cogitatio, ist eine
absolute Seinssetzung, eine schlechthin unaufhebbare. In dieser Hinsicht
nennen wir die fraglichen Wahrnehmungen a dä qua t e und bestimmen so
den Begriff der adäquaten Wahrnehmung überhaupt. Offenbar sind die
Dingwahrnehmungen inadäquat. Fürs Zweite charakterisieren sich diese
Wahrnehmungen durch eine Eigentümlichkeit, die begrifflich von der Ad-
äquatheit im Sinn der eben gegebenen Definition zu unterscheiden ist, auch
wenn wir es offen lassen, ob eins mit dem andern wesentlich Hand in Hand
geht. Wahrnehmungen von cogitationes der Art, die wir jetzt immer im Auge
haben, fassen ihre Objekte „reell“ in sich. Werfen wir einen schauenden
Blick auf die Art, wie eine solche Wahrnehmung einer cogitatio sich auf
diese selbst bezieht, so ist es evident, dass die Wahrnehmung einer cogitatio
in ihrer Konkretheit das, was sie wahrnimmt, in seiner reellen Einheit befasst,
dass sie ein konkretes Ganzes ist, das das Wahrnehmungsobjekt als Teil im
eigentlichen Wortsinn in sich fasst. Und das besagt eben die Reellität des
Enthaltenseins. Ganz anders steht es mit der Dingwahrnehmung. Sie erfasst
ja auch das Wahrgenommene, das Ding ist in ihr leibhaft gegeben, leibhaft
erfasst. Aber dieses Gegebensein oder Gefasstsein ist ein wesentlich anderes.
Das Ding ist kein Stück, kein Teil der Dingwahrnehmung; diese umfasst nicht
das, was sie wahrnimmt, im reellen, also eigentlichen Sinn.
Wir nennen Wahrnehmungen, zu deren Wesen es gehört, das Wahrgenom-
mene reell zu fassen und somit mit ihm reell eins zu sein, „reell immanente“.
Die adäquaten Wahrnehmungen, die wir als Wahrnehmungen von cogita-
tiones in verschiedenen Beispielen kennen gelernt haben, sind also zugleich
reell immanente. Wahrnehmungen, die ihre Objekte nicht im angegebenen
Sinn reell fassen, nennen wir transiente. Gehört es zu ihrem Wesen, ihre
Objekte nur inadäquat und transient fassen zu können, so nennen wir die
Wahrnehmungen transzendent.
immer neues Jetzt, und dieses als Endpunkt eines stetigen Abflusses von
Phasen der Ebengewesenheit. Im Flusse dieser Phasen steht der Zeit füllende
Inhalt des Phänomens entweder von Jetztpunkt zu Jetztpunkt immerfort als
derselbe da – das Phänomen dauert und steht in der Dauer als unverändert
da –, oder es verändert sich in seiner Dauer. In dieser Richtung wollen wir
jetzt zunächst nicht forschen. Wir wollen unser Interesse transienten Wahr-
nehmungen zuwenden, und zwar den gewöhnlichen Dingwahrnehmungen.
Selbstverständlich verbleiben wir streng in phänomenologischer Einstellung.
Als Beispiele nehmen wir Wahrnehmungen, die als phänomenologische
Zeitobjekte in ihrer Dauer sich nicht verändern. Dingwahrnehmungen sind
ihrem Wesen nach Wahrnehmungen von unveränderten (im weitesten Sinn
ruhenden) Dingen oder Wahrnehmungen von sich verändernden Dingen.
Natürlich darf uns hier niemand einwenden: „Ernstlich ruhende, in sich
veränderungslose Dinge gibt es nicht in der Natur.“ Wir sprechen nicht
von der Wirklichkeit der Natur, sondern von Naturwahrnehmungen, und da
gehört es phänomenologisch zum Wesen gewisser dieser Wahrnehmungen,
dass ihrem Sinn gemäß das Wahrgenommene ein sich Veränderndes ist, und
zum Wesen anderer Wahrnehmungen, dass es ein ruhendes ist. Wir erkennen
sofort, dass eine Wahrnehmung, die ihrem Sinn nach auf sich Veränderndes
geht, notwendig sich selbst verändert. Erscheint eine Veränderung, so ist das
Phänomen des Erscheinens, die betreffende Perzeption bzw. Wahrnehmung
selbst, und in phänomenologischem Sinne, in Veränderung begriffen. Wir
nehmen also Beispiele von Wahrnehmungen, in denen auf objektiver Seite
nichts von Veränderung intendiert ist, z.B. die Wahrnehmung eines Hauses,
das im Garten steht, ringsum vielleicht noch andere Objekte, soweit solche
eben von der Einheit der Gesamtwahrnehmung umspannt sind. Lassen wir
jetzt den Unterschied beiseite, der darin besteht, dass wir (unbeschadet
der weiter reichenden Einheit der Gesamtwahrnehmung, die eine konkrete
Wahrnehmungseinheit ist) bevorzugend von dem Haus, indem wir ihm spezi-
ell zugewendet sind, sagen, es sei unser Wahrnehmungsobjekt. Jedenfalls ist
es evident, dass, wenn wir Inhalt der Wahrnehmung und Inhalt der wahrge-
nommenen Gegenständlichkeit in Beziehung zueinander setzen, die Teilung
der wahrgenommenen Gegenständlichkeit als solcher in wahrgenommene
Einzelgegenstände und wahrgenommene Teile dieser Gegenstände Hand in
Hand geht mit einer reellen Teilung der Wahrnehmung selbst. Dem Haus für
sich entspricht ein Bestandstück der Gesamtwahrnehmung, dessen speziell
Wahrgenommenes gerade dieses Haus ist; dem vom Gesamtblick mitgefass-
ten Garten entspricht ein Bestandstück der Gesamtwahrnehmung, dessen
Gegenständliches gerade dieser Garten ist, usw.
eigentlich und uneigentlich wahrgenommenes 117
Hierbei fällt uns Folgendes auf. Scheint sich nach dem Gesagten Wahrge-
nommenes und Wahrnehmung in gewisser Weise zu decken, so scheiden sich
doch hinsichtlich der mitwahrgenommenen Dinge und Dingteile solche, die
in einem eigentlicheren, prägnanteren Sinn in die Wahrnehmung fallen, und
solche, die es nicht tun.1 Und dasselbe gilt von allen unselbständigen wahr-
nehmungsmäßig erfassten bzw. miterfassten dinglichen Bestimmtheiten. Das
Haus hat im Sinne der Wahrnehmung nicht bloß die „eigentlich“ gesehene
Vorderseite, sondern auch eine Rückseite und ein unsichtiges Inneres. Und
das Nichtgesehene ist für die Wahrnehmung keineswegs ein pures Nichts,
die Wahrnehmung „meint“2 nicht bloß Vorderseite, sondern „meint“ auch
mit Inneres und Rückseite; sie meint ja das Haus, d. h. ein Haus und dieses
Haus steht da, das voll dreidimensionale und inhaltlich irgendwie bestimmte
Ding; und mag ihrem Sinn gemäß die Rückseite und das Innere auch nicht
vollkommen bestimmt und – je nachdem die Wahrnehmung einmal ist – bald
vollkommener, bald unvollkommener bestimmt sein, so ist ein gewisses Maß
von Bestimmtheit schon durch die Hausauffassung, ja allgemeiner durch die
Auffassung eines Dinges impliziert.
In den Rahmen der Wahrnehmung fällt, sagten wir, auch der Garten. Das
Haus verdecke partiell eine Reihe von Gartenbäumen: Einige von ihnen,
die nicht verdeckten, fallen im prägnanteren Sinn in die Wahrnehmung, die
verdeckten sind in gewissem Sinne mitgefasst, aber nicht in prägnantem Sinn
wahrgenommen. Dieses Mitfassen aber können wir weder hinsichtlich der
gesamten Wahrnehmungsgegenständlichkeit noch hinsichtlich jedes einzel-
nen dieser Gegenständlichkeit völlig ausschalten, da sonst die Wahrnehmung
ihren Sinn völlig verliert. Das Haus, und das Haus mitsamt seiner Umgebung
steht da, leibhaft da. Sagen wir, „eigentlich“ stehe bloß die Vorderseite des
Hauses leibhaft da, so trifft das freilich gerade das, was wir hervorheben
wollen, aber andererseits ist die Vorderseite eben Vorderseite des Hauses,
und das Haus ist wahrgenommen, und diesen Genitiv können wir nicht
wegstreichen. Zum Wesen der Dingwahrnehmung gehört diese unlösliche
Verflechtung von eigentlicher und uneigentlicher Gegebenheit bzw. von
Eigentlich-in-die-Wahrnehmung-Fallen und nur Uneigentlich-in-sie-Fallen.
Dabei ist es klar, dass dieser Unterschied schon Sache der bloßen Perzeption
ist,3 dass er bestehen bliebe, wenn sich, was das Wesen der Dingwahrnehmung
offen lässt, der perzeptive Glaube in perzeptiven Unglauben oder Zweifel
1 Randbemerkung 81 (unten S. 129 f.).
2 Randbemerkung Diese Rede von Meinung ist offenbar völlig zu sondern von Meinung im
Sinne der Aufmerksamkeit.
3 Randbemerkung cf. Nachtrag 80 (unten S. 127 f.).
118 die speziellen wahrnehmungsanalysen
wie sie uns in Wahrnehmung als Gegebenheit vor Augen steht), dass sie zerstückbar ist.
2 Statt Farbe im Manuskript versehentlich Seite.
3 Randtitel von Edith Stein Darstellende und dargestellte Inhalte.
eigentlich und uneigentlich wahrgenommenes 119
existiert auch seine Farbe nicht, verbrennt das Haus, so bleibt von seinen
Farben, Formen, von all seinen Eigenschaften nichts übrig. Das alles geht
aber die Wahrnehmung und näher die Perzeption nichts an, und es ist ja
ausgeschaltet durch die phänomenologische Reduktion. Die Wahrnehmung
ist und ist mit all ihren Momenten, und unter diesen finden sich, ob das
Haus existiert oder nicht, die empfundene Farbe, die ihrerseits notwendig
sich irgendwie ausbreitet und mit dieser Ausbreitung empfunden ist.
Nun ist aber die Frage: Ob denn im Wesen dasselbe, wenn auch nicht in-
dividuell dasselbe, einmal als reelles Moment der Perzeption und das andere
Mal als Bestimmtheit des perzipierten Gegenstandes fungiert, wie ja die
Rede von empfundener Farbe und wahrgenommener Farbe, von empfun-
dener Ausbreitung und wahrgenommener Ausdehnung, von empfundener
Rauhigkeit und wahrgenommener Rauhigkeit usw. nahe zu legen scheint.
Wäre es wirklich dasselbe, so wäre nicht abzusehen, warum es nicht reell im-
manente Dinge sollte geben können. Es möchte scheinen, dass das Wesen der
Dingwahrnehmung (und aller ähnlichen transienten Wahrnehmungen) da-
mit umschrieben sei, dass hier die WWahrnehmung sich auf ihren Gegenstand
mittels eines ihr immanenten Bildes bezieht; eines Bildes, das prinzipiell von
derselben Art ist wie das, was es abbilden soll, und nur darum in der Tat zur
Bildfunktion befähigt ist. Nun fiel uns allerdings der Unterschied zwischen
eigentlicher und uneigentlicher Wahrnehmung auf. Dem möchte man Rech-
nung tragen durch eine Unvollkommenheit des Bildes; im Wahrnehmen etwa
bestehe bloß eine „Projektion“ des Gegenstandes, eine bloß flächenhafte
Abschattung desselben. In sich wäre es aber denkbar (obschon wir es nicht
herzustellen vermöchten), dass ein volles dreidimensionales Analogon des
Gegenstandes der Perzeption reell immanent wäre. Dass das alles absurd
ist und dass Auffassungen solcher Art nur solange möglich sind, als man
Phänomenologie nicht kennt und Phänomenologie nicht reinlich treibt, das
wird Ihnen späterhin von selbst klar werden. Im Zusammenhang damit steht
es, dass es auch absurd ist, von der Wahrnehmung selbst zu sagen, dass die
ihr reell immanente Farbe ihre Eigenschaft sei etc.
Hier genügt es zunächst darauf hinzuweisen, dass, wenn empfundenes Rot
und perzipiertes Rot, empfundene und perzipierte Ausbreitung u.dgl. sich de-
cken würden (nämlich dem Wesensgehalt nach, wenn auch nicht individuell-
existential), dass dann nicht mehrere Perzeptionen denkbar wären, die den-
selben Gegenstand hinsichtlich derselben gegenständlichen Bestimmtheit
zu eigentlicher Perzeption brächten, während sie hinsichtlich ihres korre-
spondierenden Empfindungsgehalts verschieden wären. Und ebenso ist es
klar, dass eine Beschreibung des Empfindungsgehaltes und des eigentlich
120 die speziellen wahrnehmungsanalysen
perzipierten Gehaltes sich decken müsste. Das alles ist sofort zu widerlegen.
Ich erinnere nur an das lockesche Beispiel einer gleichmäßig gelben Kugel.
Die eigentlich wahrgenommene Kugelschale ist gleichmäßig gelb (als das
nämlich steht sie da). Achten wir aber auf den Inhalt der Perzeption selbst,
auf das in ihr reell vorfindliche Gelb und seine Ausbreitung, so finden wir,
dass das Gelb sich abschattet, und das notwendig: Soll eine gleichmäßig
gelbe Kugel erscheinen, dann muss das Empfindungs-Gelb sich so und so
abschatten. Nehmen Sie ein gleichmäßig gelbes Hexaeder und achten Sie
auf eine gerade perzipierte Seitenfläche, dann sind von dieser offenbar viele
Ansichten möglich. Wir können uns nähern oder entfernen, den Kopf so
oder so wenden: immer steht dasselbe Objekt da, und vorausgesetztermaßen
seinem eigenen Inhalt nach unverändert. Aber die Farbenerscheinung ist
nach ihrem rellen Gehalt, dem Empfindungsgehalt immerfort eine neue,
und zwar wieder nach Notwendigkeit. Das genügt um einzusehen, dass die
Empfindung nicht die perzipierte Farbe zur bloßen Reduplikation bringt,
und man sieht voraus, dass das objektiv Farbigsein nicht im Sein einer
Verdoppelung der Empfindungsfarbe besteht, die „nur“ dem perzeptiven
Phänomen transzendent ist.
7) Gehen wir weiter. Das Wort „Empfindung“ besagt vorläufig nur so viel,
dass in der Dingwahrnehmung ihrem Wesen nach gewisse Inhalte als reell-
immanente vorfindlich sind, die zu gewissen Momenten bzw. Eigenschaften
des wahrgenommenen Gegenstandes (nämlich den eigentlich perzipierten)
in einer gewissen Beziehung der Korrespondenz stehen. Ich sagte, das ge-
höre zum We se n der Dingwahrnehmung, der Dingperzeption überhaupt.
Denn das ist evident, dass, wo nichts Dingliches eigentlich perzipiert ist,
überhaupt nichts mehr dinglich perzipiert ist, und wieder, dass jedem eigent-
lich perzipierten gegenständlichen Moment etwas Empfundenes entspricht
und dass also, wenn wir Empfindungsinhalte überhaupt sozusagen wegge-
strichen dächten, die ganze Wahrnehmung fortfiele. Diese den eigentlich
perzipierten dinglichen Momenten (nach Maßgabe unserer Beispiele etwa
wahrgenommene und empfundene Farbe) entsprechenden reell immanen-
ten Inhalte nannten wir im Gegensatz zu den wahrgenommenen objek-
tiven Bestimmtheiten empfundene Inhalte oder Empfindungsinhalte. Ihr
Gesamtkomplex macht aber nicht etwa den Gesamtinhalt der Perzeption
aus, obschon wir sagten, dass, wenn sie fortfallen, auch die Perzeption nicht
mehr sein könnte. Das geht schon daraus hervor, dass bei Erhaltung der
Identität der gegenständlichen Bestimmtheit – nach dem vorhin Gesagten –
mannigfaltige Wahrnehmungen möglich sind, die sie zur Perzeption bringen.
Wir haben hier ergänzend hinzuzufügen, dass auch das Umgekehrte gilt:
eigentlich und uneigentlich wahrgenommenes 121
ferner auch darstellende, und zwar perzeptiv darstellende Inhalte, und zwar
im Gegensatz zu den dargestellten, den eigentlich perzipierten gegenständ-
lichen Bestimmtheiten.
Nachdem sich uns früher schon als wechselndes Moment der Wahrneh-
mungen und perzeptiven Phänomene die Stellungnahme abgehoben hat,
nämlich das Moment des Glaubens, Unglaubens u.dgl., so ist es selbstver-
ständlich, dass wir den Begriff der Auffassung so begrenzen, dass für ihn diese
Unterschiede irrelevant sind und dass wir ihn somit auf die pure Perzeption
beziehen wollen.
offen, aber a priori doch begrenzte. Im Beispiel Puppe – Mensch ist die durch
dieselbe Empfindung dargestellte Dingfarbe einmal Menschen- und einmal
Puppenfarbe u.dgl. Es liegt nahe, die beschriebenen Verhältnisse mit den
Worten auszudrücken: Darstellung ist Repräsentation des Ähnlichen durch
Ähnliches. Ich selbst habe diesen Ausdruck in den Logischen Untersuchun-
gen gebraucht.1
Indessen stehen dieser Bezeichnung ernste Bedenken entgegen, sofern
reell immanente Inhalte wie Empfindungsfarbe, Empfindungsausbreitung
u.dgl. etwas toto coelo Verschiedenes sind gegenüber dinglichen Bestimmt-
heiten wie Farbigkeit, Ausdehnung usw. Ähnlichkeit im echten Sinn ist aber
ein Verhältnis von Verschiedenem, das unter derselben umfassenden Gat-
tung steht. Ich vermeide daher jetzt die Rede von Repräsentation durch
Ähnlichkeit für solche Fälle.2,3
10) Wir haben Empfindung und Auffassung bisher nur durch eine gewisse
Funktion charakterisiert. Wir hatten im Auge, dass Wahrnehmung bzw. Per-
zeption „Bewusstsein“ von einem Gegenstand ist, ein leibhaft Dastehen
eines Dinges, und zwar eines Dinges, das hinsichtlich der und der Seite, an
ihr der und der Farben, Formen und sonstiger Qualitäten leibhaft dasteht.
All das, wovon die Perzeption in diesem Sinn „Bewusstsein“ ist, ist ihr tran-
szendent. Reell immanent finden wir in ihr (wenn wir auf sie hinblicken) die
„entsprechenden“ Empfindungsinhalte, und zwar wohnen sie der Perzeption
in eigentümlicher Weise ein. Die Perzeption ist ja kein bloßes Haben dieser
Inhalte, sondern ein so wundersames Haben, dass damit Bewusstsein-von,
Bewusstsein von einem leibhaften transzendenten Gegenstand hergestellt
ist.4 Es liegt nahe, die Empfindungsinhalte geradezu durch diese Funk-
tion zu definieren und dementsprechend das Empfinden zu definieren als
dasjenige Erleben von reellen Inhalten, in dem sie perzeptiv darstellend
1 Gestrichene Einfügung Ihm stehen aber große Bedenken entgegen, da die Gefahr besteht,
die immanenten Inhalte unwillkürlich zu verdinglichen, wenn man sie analog bezeichnet den
dinglichen.
2 Randbemerkung Vgl. Dingvorlesung 29. (= Husserliana XVI, S. 54 f.).
3 Ein hier beigelegter Zettel trägt die Notiz Bei der Einführung der darstellenden Wahrnehmun-
gen hätten zunächst unterschieden werden müssen (rein begrifflich) darstellende Wahrnehmun-
gen, welche volle Darstellungen ihrer Gegenstände sind, und darstellende Wahrnehmungen,
welche einseitige Darstellungen ihrer Gegenstände sind. Ebenso voll bestimmte – nicht voll
bestimmte.
4 Gestrichen Und näher noch so, dass zum leibhaft Dastehen der Dingfarbe notwendig gehört,
dass die Perzeption das reelle Moment Empfindungsfarbe enthält usw. (Eben das besagt die
Rede: Die Farbeninhalte, Gestaltinhalte u.dgl. stellen perzeptiv dar, sie sind mit darstellender
Funktion behaftet.)
124 die speziellen wahrnehmungsanalysen
fungieren.1 Dabei2 ist natürlich wohl zu beachten, dass die Weise, wie die
darstellenden Inhalte gegeben sind, wenn wir auf die Dingwahrnehmung
reflektieren, also sie mit ihrem reell immanenten Inhalt zum Objekt einer
adäquaten Wahrnehmung machen, eine ganz andere ist wie die Weise, in
der sie in der Dingwahrnehmung selbst außerhalb der Reflexion enthalten
sind. Nehmen wir wahr, ohne auf die Wahrnehmung zu reflektieren, so sind
die darstellenden Inhalte nicht im eigentlichen Sinn gegeben, sie sind nicht
Objekte, nicht wahrgenommen. Die Dingwahrnehmung nimmt das Ding,
aber nicht die Empfindungsinhalte wahr; „eigentlich“ wahrgenommen ist
da die Dingfarbe, nicht die Empfindungsfarbe. Und ebenso ist das, was
dieser den Charakter der Darstellung verleiht und was das Bewusstsein der
perzeptiven Auffassung und schließlich die volle Wahrnehmung herstellt,
erlebt, aber nicht wahrgenommen. Freilich ist es ein Problem, das auf alle
unsere bisherigen Analysen Einfluss hat, wie wir über das Erleben, wo es
nicht Objekt der Reflexion ist, sprechen, oder wie wir aufgrund von Refle-
xionen Aussagen über etwas gewinnen können, das erlebt war, aber nicht
gegenständlich war. Darauf gehen wir hier nicht ein. Ich wiederhole nun: Es
liegt nahe, Empfindungsinhalt und Empfinden durch die Auffassungfunktion
zu definieren.3
Dagegen ist nichts einzuwenden. Es besteht ohnehin in der psychologisch-
erkenntnistheoretischen Literatur eine Tendenz, zwischen Empfindung und
Wahrnehmung zu sondern. Wir können dies in phänomenologisch begrün-
deter Weise so tun, dass wir alle reell immanenten Inhalte in einer Wahrneh-
mung, die in ihr die beseelende Auffassung erfahren, als empfunden, und
die Weise, wie sie da reell immanent sind, wie sie da perzeptiv fungieren,
als Empfinden bezeichnen. Man kann dies auf alle Wahrnehmungen zu
übertragen versuchen, selbst auf reell immanente Wahrnehmungen. Auch
bei ihnen kann man und muss man sagen, dass das bloße Haben von Inhalten,
ihr bloßes Erleben nicht ihr Wahrnehmen, ihr Sie-zum-Objekt-Machen ist.
1 Randbemerkung (vermutlich später) Das geht doch nicht, da nicht alle physischen Inhalte
darstellend fungieren. Cf. 84 (= unten S. 138) Oder sollen wir sagen: darstellend oder orientie-
rend? Aber hat das wirklich einen Zweck?
2 Der Rest des Absatzes wurde später gestrichen.
3 Gestrichen Doch das hat seine Bedenken. Wir haben in dieser Hinsicht schon scharf bezeich-
nende Ausdrücke: Inhalte, die Auffassung, näher: perzeptive Auffassung erfahren bzw. perzeptiv
darstellende Inhalte. Will man Empfinden, wie das oft versucht worden ist, von Wahrnehmen
unterscheiden, dann kann Empfinden den Umstand ausdrücken, dass die betreffenden Inhalte,
die als perzeptiv darstellend ffungieren können, überhaupt erlebt sind, gleichgültig ob in dieser
oder in anderen Funktionen. Nun fällt darum nicht Empfinden und Erleben zusammen, wofern
wir zum Empfinden auch rechnen die Eigenart der Inhalte, von denen hier die Rede ist.
verhältnis von darstellenden inhalten und auffassungen 125
Beilage: Sollen wir, dem Rechnung zu tragen, sagen: auf der einen Seite „selbst-
stellende“, auf der anderen Seite darstellende Wahrnehmungen? Nun, das würde
gerade den falschen Gedanken nahe legen, dass es sich im einen Fall um so etwas wie
ein Bild handle, im andern aber um ein Selbsterfassen, ein Erfassen, und wirkliches
Erfassen, der Sache selbst. Also auch diese Termini sind ganz unbrauchbar.
Allerdings spricht auch eins für diese Bezeichnung. Wir fassen doch das gleich-
mäßige Rot, das uns bei der Hexaederfläche in einer gewissen bevorzugten Stellung
(Orientierung) erscheint, als das Rot, so wie es dem Hexaeder wirklich zukommt,
und alle anderen Darstellungsinhalte als bloße Abschattungen, bloße Darstellungen.
Ebenso in Bezug auf die Raumform.
Aber dann müssten wir diesen ausgezeichneten Fall als Selbststellung, die übrigen
als Darstellung bezeichnen!
Im Gleichnis mögen wir immerhin von den mannigfaltigen Darstellungen oder
Abschattungen des einen und selben empirisch-objektiven Datums sprechen, müssen
aber immer darauf achten, dass dieses überhaupt nicht gegeben sein kann in der Art
wie eine Abschattung, gegeben sein kann als ein „Inhalt“.
Immerhin4 könnte man sagen, sofern der betreffende Inhalt Träger5 einer
Bewusstseinsfunktion von der Art der Perzeption ist, sei er als empfunden
1 Gestrichen also den Charakter des Darstellenden hat.
2 Randbemerkung (später) Unbrauchbare Terminologie.
3 Dieser Satz wurde später mit Fragezeichen versehen.
4 Die vier folgenden Sätze wurden später eingeklammert und mit Deleaturzeichen versehen.
5 Randbemerkung (später) Was heißt Träger? Oben handelte es sich um Träger einer darstel-
lenden Auffassung.
126 die speziellen wahrnehmungsanalysen
zu bezeichnen, nur dass hier, bei der reell immanenten Wahrnehmung, das
Empfundene zugleich wahrgenommen sei. Dehnen wir den Begriff des Emp-
findens und des Empfundenen so weit aus, dann ist jede cogitatio, soweit sie
phänomenologisch wahrgenommen ist, zugleich Empfindungsinhalt. Ob sie
auch in analoger Weise wie Farben, Töne u.dgl. in der Weise von darstellen-
den Inhalten fungieren können, das lassen wir hier dahingestellt. Wäre dies
der Fall, so hätten wir auch von ihnen evtl. Empfindung, ohne dass sie wahr-
genommen sind. Übrigens könnte man1 den Begriff der Empfindung auch2 so
orientieren, dass man ihn ausschließlich auf transzendente Wahrnehmungen
bezieht, so es ausgeschlossen wäre, dass Empfundenes zugleich Wahrgenom-
menes sei.3 Empfindungsinhalte also wären die reell immanenten Inhalte von
transzendenten Wahrnehmungen, die in ihnen Auffassung erfahren. Doch4
können wir ruhig bei dem weiter gefassten Begriff bleiben, der seinerseits so
verstanden sei, dass er nicht bloß von Dingwahrnehmungen spricht, sondern
eben von transzendenten Wahrnehmungen überhaupt.
11) Beschränken wir uns nun wieder auf Dingwahrnehmungen, so ist
herauszuheben, dass alle die Inhalte, die in ihnen als perzeptiv darstellend
auftreten, durch ihren eigenen inneren Charakter ausgezeichnet sind. Sie
können zwar wesentlich verschiedenen Gattungen angehören, Farbe, Ton
etc.; aber so weit die Unterschiede hier auch sind: es ist klar, dass alle solche
Inhalte und Inhalte überhaupt, die für Dingwahrnehmungen als darstellend
sollen fungieren können, eine Wesensverwandtschaft haben. Sie stehen unter
einer obersten Gattung aufgrund eines gemeinsamen allgemeinsten Wesens.
Es liegt nahe, die Gattung als die der sinnlichen Inhalte zu bezeichnen. Doch
steht dem entgegen, dass man auch von „innerer Sinnlichkeit“ gesprochen
hat und dass das Wort „sinnlich“ sich auch wieder nach dem Funktionel-
len zu orientieren scheint, während es hier auf das gattungsmäßige Wesen
ankommen soll. Wir werden in Ermangelung eines besseren Ausdrucks von
physischen5 Erlebnissen sprechen, in Erinnerung an Brentanos Ausdruck
„physisches Phänomen“. Denn es ist nicht zu verkennen, dass Brentano mit
diesem Ausdruck die gattungsmäßige Einheit von Erlebnissen der Art wie
Farben, Töne etc. im Auge hat, und zwar so, wie sie in reeller Immanenz
aufzuweisen sind. Gerade diese ihre gattungsmäßige Artung ist es, die sie in
Wahrnehmung bilde?
4 Dieser Satz wurde später gestrichen.
5 Einfügung (vermutlich später) sinnlichen.
eigentliche und uneigentliche perzeption 127
menhängen mit F I 13/35, entweder ein Titelblatt oder (wahrscheinlicher) Vorblatt eines Konvoluts,
das ebenfalls als ε bezeichnet war, sofern auf diesem Blatt hingewiesen wird auf Lipps’ „Die
Erscheinungen“.)
eigentliche und uneigentliche perzeption 129
das Wort, und fast vorwiegend.1 Andererseits kann Erscheinung auch genau
das, was wir Perzeption, und zwar pure Perzeption nannten, heißen: eine
sehr störende Äquivokation, die zu vielen Verwirrungen Anlass gegeben
hat. In beiderlei Sinn kann man natürlich von eigentlicher und uneigent-
licher Erscheinung sprechen. Auch bei allen mit den perzeptiven Erleb-
nissen nächstverwandten Erlebnissen, der Erinnerung, der Bildimagination
und der gewöhnlichen Phantasie spricht man in diesem Doppelsinn von
Erscheinung, also von Erinnerungserscheinung, Phantasieerscheinung usw.,
wobei das Wort „Erscheinung“ sich den Unterschieden dieser Phänomene
anpasst. Wir selbst werden das Wort „Erscheinung“ nur gebrauchen, wo
Zweideutigkeit ausgeschlossen ist, und niemals für das Gegenständliche, das
erscheint, sondern für die Perzeption selbst und die ihr gleichstehenden
parallelen Erlebniskomponenten.
Gehen2 wir nun dem Unterschied zwischen eigentlicher und uneigentli-
cher Perzeption nach. Der Gegenstand, das Haus, kommt zur perzeptiven
Gegebenheit dadurch, dass ein Komplex physischer Inhalte Erlebnis ist, die
den Gegenstand darstellen. Aber zu eigentlicher Darstellung kommt nur
eine Seite des Hauses, nur nach einer Seite kommt das Haus zu eigentli-
cher Erscheinung, zu eigentlicher Perzeption. Das „eigentlich“ Perzipierte
vom Haus, das „uns zugewendete“ Stück seiner Oberfläche, so und so mit
sinnlichem Bestimmungsgehalt erfüllt, lässt sich für sich beachten, lässt sich
evidenterweise zu gegenständlicher Abhebung bringen; und dem entspricht
offenbar der Gesamtkomplex der darstellenden physischen Inhalte, die wir
phänomenologisch zur Hausperzeption rechnen. Wir können evidenterweise
auch auf einzelne Teile und Momente der eigentlich erscheinenden Hausseite
unseren Blick richten und sie auf dem Grunde des eigentlich perzipierten
Ganzen, der ganzen Seite, zur Sonderbetrachtung bringen. Jeder solche Teil
ist eigentlich perzipiert, und wir finden, dass jedem ein Teil der darstel-
lenden Inhalte korrespondiert. Also der Teilung des eigentlich Perzipierten
entspricht eine Teilung der physischen Inhalte der Darstellung, und zwar in
exklusiver Disjunktion.3 Die darstellenden Inhalte für das Dach des Hauses,
soweit es wirklich erscheint, sind gesondert von den darstellenden Inhalten
für die roten Wandflächen usw. Der Gesamtbestand der Darstellung hat sein
Korrelat im Gesamtbestand des eigentlich Erscheinenden oder eigentlich
Dargestellten, wie jeder Bestandteil der Darstellung sein spezielles Korrelat
1 Randbemerkung (später) Nein, geradezu als Gegenstand!
2 Randbemerkung (vermutlich später) cf. 72 (= oben S. 115 f.).
3 Randbemerkung (später) Aber nicht alle physischen Inhalte sind darstellend, andere sind
orientierend.
130 die speziellen wahrnehmungsanalysen
fassung lässt zwar evidenterweise eine der Sonderung zwischen eigentlich und uneigentlich
Erscheinendem parallel laufende Sonderung zu, auf der einen Seite Auffasssungskomponenten
mit Darstellung und andererseits Auffassungskomponenten ohne Darstellung. Andererseits ist
eine Zerstückung im eigentlichen Sinn offenbar undenkbar. Die Leerkomponenten lassen sich
nicht wegschneiden.)
4 Der Rest des Satzes ist Veränderung für unbegreiflich, wie Leerauffassungen, verflochten mit
den vollen, zu eigentlicher Erscheinung bringenden, uns die nicht erscheinenden Seiten und
Momente des Gegenstands zur Vorstellung bringen sollten.
eigentliche und uneigentliche perzeption 131
findungsinhalte sich darstelle, das Übrige vom Haus sich aber auch darstelle,
jedoch durch reproduktive Inhalte. Also bloß vorgestellt wird verstanden
als phantasiemäßig vergegenwärtigt. Wie sollte, meint man, die Rückseite
des Hauses vorstellig sein, wenn nicht in Form von Phantasien. Die Ansicht,
dass der Überschuss über das eigentlich Erscheinende im Sinne empfindungs-
mäßiger Darstellung in mitverwobenen Phantasievorstellungen bestehe, ist
allgemein verbreitet. Allerdings hat diese Ansicht ihren sachhaltigen Halt an
dem Mangel auch nur der allerrohesten phänomenologischen Analyse der
Dingwahrnehmung. Gewöhnlich wirft man Empfindung und Wahrnehmung,
Phantasma und Phantasievorstellung durcheinander, und wieder die Emp-
findungsinhalte mit den dargestellten gegenständlichen Momenten. Das, was
wir Auffassung nannten, wird gar nicht zur Abhebung gebracht und dafür
surrogiert allerlei psychogenetisches Gerede von Apperzeption, Apperzep-
tionsmaß, erregten Dispositionen usw.1 Da man in der herrschenden sensua-
listischen Psychologie Bewusstsein im spezifischen Sinn und darunter all das,
was wir Auffassung nannten und rein phänomenologisch herausanalysierten,
konsequent übersieht oder psychogenetisch wegdeutet, so muss freilich der
Gedanke von Leervorstellungen, die schlechthin nichts von einem sinnlichen
Material enthalten, wie eine contradictio in adiecto klingen. Für uns bedeutet
aber Auffassung einen immanenten Charakter der Wahrnehmung, der sich
uns in der Analyse als ein positiv innerer Charakter abhob. Und da hat es gar
nichts Besonderes an sich, dass ein solcher Charakter physischen Inhalten
jene Beseelung verleiht, die wir darstellende Auffassung nannten, und dass
ein ergänzender Charakter ohne neue physische Inhalte das erweiterte ge-
genständliche Bewusstsein herstellt, dasjenige, das uneigentlich Perzipiertes
zur Mitauffassung bringt.
Abgesehen von all dem ist es aber nicht schwer, die Ansicht, die die
Funktion uneigentlicher Erscheinung begleitenden Phantasievorstellungen
beimisst, als evident unzulässig auszuweisen.
Wir haben bisher noch keine Analyse der Phantasievorstellung vollzogen.
Aber soviel ist uns von vornherein klar, dass Phantasie und Wahrnehmung
(bzw. vergegenwärtigende Erinnerung und Wahrnehmung) miteinander nah
verwandt sind, während zugleich eine durchgehende Modifikation sofort
auffällt. Wie immer es sich nun mit dieser Modifikation verhalten mag: Auch
die vergegenwärtigende Phantasie bringt Dingliches in gewisser Weise zur
1 Gestrichen Von deskriptiven Momenten langt man aus mit Verschmelzungen von Empfin-
dungsinhalten, in die sich vermöge der Assoziation allerlei reproduzierte sinnliche Momente,
welche von demselben inneren Gehalt wie die aus äußeren Reizen stammenden Empfindungsin-
halte, hineinschmelzen und denen sich dann noch allerlei begleitende Phantasmen anschließen.
132 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Erscheinung, und auch sie nur so, dass sie es bloß einseitig darstellt, in dieser
Hinsicht ganz so wie die perzeptive Erscheinung.1
1 Randbemerkung Erwähnen hätte ich müssen die Unterschiede zwischen Leerstücken der
Auffassung in transienten Perzeptionen und von dunklen Perzeptionen, die ich früher auch als
leere bezeichnet habe. Diese sind in Wahrheit nicht leer, sondern eben dunkel; sie haben die-
selben Eigenschaften wie die klaren, den transienten Gegenstand durch eine bloße Vorderseite
vorstellig zu machen etc.
2 Die Beilage stammt aus der Dingvorlesung von 1907. Der Text ist veröffentlicht in Husserliana
XVI, S. 56 ff.
f
3 Auffassung ist Veränderung für Intention.
unterschiede der bestimmtheit und unbestimmtheit 133
vollauf bestätigt durch die phänomenologische Analyse der Fälle, wo wir Phantasien
als Veranschaulichungen der nichtgegebenen Seiten des wahrgenommenen Dinges
auftreten und wieder schwinden sehen. Dabei ist noch ergänzend zu sagen: Repro-
duktive Vorstellungen können ja auch völlig dunkel sein, wie z.B. Phantasie in den
Zwischenzeiten des Intermittierens. Von diesen dunklen Phantasien gilt wie von
den klaren, dass sie durch dunkle Erscheinungen zur Darstellung bringen, einseitig
etc.
Das klare Ergebnis dieser Betrachtung ist also dies, dass uneigentlich erschei-
nende gegenständliche Momente in keinerlei Weise dargestellt sind. Die Perzeption
ist, wie ich es auch ausdrücke, ein Komplex voller und leerer Intentionen (Auffas-
sungsstrahlen). Die vollen Intentionen oder vollen Auffassungen sind die eigentlich
darstellenden, die leeren sind eben leer an jedem Darstellungsmaterial; sie bringen
wirklich nichts zur Darstellung, obschon sie ihre Richtung auf die betreffenden gegen-
ständlichen Momente haben. Daran wird prinzipiell nichts geändert durch die Fälle
der Phantasievergegenwärtigung perzeptiv nicht dargestellter Gegenstandsmomente:
Es tritt dann eben eine1 Verbindung von Perzeption und Imagination ein, eine eigen-
tümliche Synthese trennbarer Phänomene. Also dürfen auch Leervorstellungen im
Sinne jener Leerauffassungen in der Wahrnehmung und Leervorstellungen im Sinne
von dunklen Vorstellungen nicht verwechselt werden. Man darf nicht eigentlich von
leeren Perzeptionen sprechen, sondern nur von leeren Auffassungskomponenten; bei
Perzeptionen kann nur die Rede von dunklen gelten.2
Wir fügen nun dem eben besprochenen Unterschied zwischen vollen und leeren
Auffassungen3 innerhalb der Wahrnehmung einen weiteren bei, nämlich den zwischen
bestimmten und unbestimmten, der sich mit dem ersteren kreuzt und einen neuen, in
ganz anderer Dimension liegenden Unterschied in der Weise der gegenständlichen
Beziehung darstellt.
1 Der Rest des Satzes ist Veränderung für zum Leerstück der perzeptiven Intention ein sich
bisherigen Überlegungen sehen wir schon, wie unzureichend die neuerdings so viel gerühmte
Unterscheidung zwischen Akt, Inhalt und Gegenstand ist, um dem Wesen der objektivierenden
Akte, und zunächst der Wahrnehmungen gerecht zu werden. Wir begannen ja auch damit,
reellen Inhalt der Wahrnehmung und Gegenstand gegenüberzustellen, und im reellen Inhalt
wieder zu sondern den Empfindungsinhalt und die Auffassung. Aber damit langt man nicht weit
und hat noch nichts, was Sinn und Leistung der Wahrnehmung verständlich machen könnte.
3 Auffassungen ist Veränderung für Intentionen.
4 Randtitel von Edith Stein.
134 die speziellen wahrnehmungsanalysen
die Farbe, die Form u.dgl. mehr oder minder unbestimmt. Offenbar handelt
es sich bei solchen Unterschieden der Bestimmtheit und größeren oder ge-
ringeren Unbestimmtheit nicht um solche, die das erscheinende Ding selbst
nach seinem dinglichen Inhalt, nach seinen dinglichen Merkmalen betreffen,
sondern es vermöge der Weise seiner perzeptiven Gegebenheit angehen. Wir
werden also verwiesen auf immanente Unterschiede der Wahrnehmung und
näher der puren Wahrnehmungserscheinung. Diese Unterschiede betreffen
bald die Momente der eigentlichen und bald solche der uneigentlichen
Perzeption. In letzterer Hinsicht brauchen wir nach Beispielen nicht weit
zu suchen. Fassen wir einen vor uns stehenden Schrank ins Auge, so hat
er für unsere Auffassung von vornherein seine Rückseite und sein Inne-
res, aber zumeist sehr unbestimmt. Es bleibt etwa unentschieden, ob der
Schrank voll oder leer, ob er die Einrichtung eines Wäscheschrankes oder
Kleiderschrankes hat usw. Innerhalb der leeren Auffassungsstrahlen finden
wir also Unterschiede, Unterschiede der Bestimmtheit und Unbestimmt-
heit. Je genauer wir den Gegenstand kennen, umso größere Bestimmtheit
hat die Leerauffassung der zugehörigen Perzeption; es werden aber immer
Momente der Unbestimmtheit übrig bleiben. Ist die Unbestimmtheit danach
ein immanenter Charakter der betreffenden Auffassung bzw. der jeweiligen
Auffassungskomponente, so ist sie andererseits nicht ein sozusagen einfarbi-
ger Charakter. Vielmehr differenziert er sich nach mannigfachen Tinktionen.
Zunächst ist zu bemerken, dass Unbestimmtheit niemals die Bedeutung von
absoluter Unbestimmtheit hat.
Jede Unbestimmtheit hat ihre Begrenzung, ihre Momente der Bestimmt-
heit. Ist die Form der Rückseite des gesehenen Objekts im Sinne der Perzep-
tion unbestimmt, sagen wir danach im genau angemessenen Wahrnehmungs-
urteil hinsichtlich dieser Form nichts positiv aus, sagen wir vielmehr aus, wir
müssten die Art der Form offen lassen, so ist das doch sicher und mitauf-
gefasst, dass es überhaupt eine Form ist. Das Ding ist ein Körper, hat eine
geschlossene Oberfläche, wir wissen nur nicht, wie sie verläuft. Ebenso mag
es offen bleiben, wie es mit der genauen Färbung, mit Rauhigkeit oder Glätte,
mit Wärme oder Kälte stehe: Im Sinne der Dingauffassung hat das Ding e ine
gewisse Färbung, e ine gewisse taktile Beschaffenheit usw. „Eine gewisse“:
Dieser Ausdruck deutet den Charakter der Unbestimmtheitstinktion an, die
zur Auffassung immanent gehört; das Umgrenzende liegt in den ergänzenden
Ausdrücken: Es heißt, eine gewisse Fa rbe , Form usw. Dabei müssen wir
natürlich scheiden das, was Sache der perzeptiven Auffassung selbst ist, und
das, was Sache des begrifflich fassenden Gedankens und Ausdrucks ist. Das
Unter-den-Begriff-Form-oder-Farbe-Bringen usw.
unterschiede der bestimmtheit und unbestimmtheit 135
nicht erscheinenden Momente, so fühle ich überhaupt erst die Unbestimmtheit, und
dann habe ich eine Intention der Form „ein A“.
Ebenso in 2). Blicke ich auf das Haar, so fühle ich das Bedürfnis nach einer
Bestimmtheit der Haarfarbe. „Was für eine Farbe hat das Haar?“, so frage ich. Ich
habe jetzt also die Vorstellung einer gewissen zu bestimmenden Farbe. Ich habe die
Vorstellung einer Lücke.
3) Vorstellungen der Form „ein A“. Ich stelle mir eine Palme vor. Ich meine nicht
diese Palme. Ich habe die Vorstellung einer unbestimmten.
Das ist offenbar wieder eine verschiedene Vorstellungsweise. Es ist ein anderes,
ein Dieses oder ein völlig Bestimmtes vor Augen haben, aber es nicht in ganz bestimm-
ter Weise zu meinen, und wieder ein anderes, die Vorstellung eines unbestimmten
Objekts haben, in der Weise, wie es Bedeutung des Ausdrucks „ein A“ ist, oder
gar „ein“. Die Dies-Vorstellung ist bei aller Unbestimmtheit, die ihr anhaften mag,
doch für uns die Vorstellung eines Bestimmten. Die Etwas- und Ein-A-Vorstellung
ist hingegen die Vorstellung eines in unserer Intention Unbestimmten.
wie es die Farbenempfindung hat.1 Zum Beispiel beim Tasten haben wir zwei-
erlei Empfindungen: die Tastempfindungen im eigentlichen Sinn, verbunden
mit Temperaturempfindungen, und die kinästhetischen Empfindungen. Die
ersteren sind an der Dingperzeption in ganz anderer Funktion beteiligt als die
letzteren. In den ersteren stellt sich genauso eine Qualität des Gegenstandes
dar, wie sich beim Sehen in der empfundenen Farbe selbst eine gesehene
darstellt. In den kinästhetischen Empfindungen stellt sich aber keine gegen-
ständliche Bestimmtheit in diesem Sinne dar, obschon sie bei genauer Ana-
lyse wesentliche Bestandstücke der Gegenstandsauffassung sind, nämlich
hinsichtlich der Konstitution des räumlichen Moments. Das besagt aber nicht:
hinsichtlich ihrer Darstellung. Die Raumbestimmtheit des Objekts stellt sich
durch diese kinästhetischen Empfindungen nicht etwa dar. Die im Sehen
perzipierte Räumlichkeit, z.B. die Raumform des Hauses, stellt sich durch das
Ausbreitungsmoment der visuellen Empfindungskomplexion dar, im Tasten
stellt sie sich durch ein Ausbreitungsmoment der Tastempfindungen dar.
Nicht aber im Kinästhetischen, wie sich mir in genaueren Untersuchungen
ergeben hat. Es zeigt sich somit, dass die Empfindungsfunktion innerhalb
der Dingwahrnehmung die verschiedenen Gruppen von physischen Daten,
die sie gleichsam auffassungsmäßig verarbeitet, in verschiedener Weise an-
greift, oder, dass in der Einheit der perzeptiven Auffassung verschiedenartige
aufeinander angewiesene und wesentlich miteinander zusammenhängende
Auffassungsfunktionen verwoben sind, zu denen verschiedene Gruppen von
Empfindungen gehören. Blickt man auf das Objekt hin und lässt man sich von
den perzipierten Bestimmtheiten desselben leiten und abstrahiert man dabei
vom Ich, so treten einseitig die im spezifischen Sinn darstellenden Inhalte
hervor. Erst eine weitere und die ganze Perzeption in ihrer konkreten Einheit
umspannende Analyse wird auf die ergänzenden Funktionen aufmerksam,
zu denen eigene Gruppen physischer Data gehören. Nennen wir alles, was in
der Dingwahrnehmung als physischer Kern der Auffassung fungiert,2 Emp-
findungsinhalt, so haben wir verschiedene Gruppen von Empfindungsinhal-
ten und verschiedene Gruppen von Empfindungsfunktionen, deren Studium
die große Aufgabe der Dinganalyse, insbesondere als Raumanalyse ist.
1 Gestrichen Wenn ich meine Augen, soweit ich kann, betaste, so habe ich eine äußere
Wahrnehmung so gut wie wenn ich den Tisch betaste, den ich eventuell nicht sehe. Da fungieren
die Tastempfindungen als darstellend, nämlich ffür objektive Tischbestimmtheiten. Aber die
Empfindungen der Augenbewegungen fungieren ganz anders.
2 Gestrichen und zu ihrem Wesen als Dingauffassung gehört.
138 die speziellen wahrnehmungsanalysen
wieder ein Baum und dann noch einmal ein Baum usw., sondern es steht
das Haus auf dem Rasen, im Garten vor und hinter ihm auf demselben
Boden der und jener Baum usw. Und die Welt hat nicht ein Ende mit dem
Rand des Gesichtsfeldes, sondern sie geht weiter, und zwar im Sinne der
Gesamtwahrnehmung weiter. Sie hat also in der Tat als Korrelat eine ein-
heitliche Gegenständlichkeit, und von ihr fällt insgesamt nur eine Seite in die
eigentliche Perzeption; und damit verflochten haben wir Leerauffassungen,
die „in verschiedener Richtung“ über das eigentlich Perzipierte hinausrei-
chen, partiell bestimmt und immer mehr unbestimmt. So geht z.B. die Straße
mit Häusern in einigermaßen bekannter Weise fort und dann immer weiter,
schließlich ins völlig Unbestimmte. Die völlige Unbestimmtheit ist aber doch
partielle Bestimmtheit insofern, als Raumwelt es ist, die da weitergeht.
Innerhalb dieser Gesamteinheit erscheinender Gegenständlichkeiten, die
zu allererst räumliche Einheit ist, haben wir aber Sondereinheiten. Jedes
physische Ding ist eine Einheit für sich (immer gesprochen vom Standpunkt
der Wahrnehmung aus und in ihrem Sinn!). Was die Einheit des Dinges
befasst, das hat seine Spezialeinheit, und eine ungleich innigere Einheit
als die der im räumlichen Nebeneinander und eventuell im kausalen und
sonstigen Nebeneinander aneinander gereihte und -gebundene Dingvielheit.
Das gibt also verschiedene Linien von phänomenologischen Analysen. Die
einen betreffen die Gesamteinheit nach ihren verschiedenen Schichten und
Verbindungsformen bzw. die Konstitution der entsprechenden perzeptiven
Auffassungen, die anderen die besonderen perzeptiven Auffassungen, die zur
Einheit eines Dinges im prägnanten Sinn gehören. Und in ihm wieder haben
wir Teile in verschiedenem Sinn: Das Haus hat Fenster, hat einen Balkon,
hat ein Dach. Ferner: Das Haus hat Eigenschaften in dem Sinn, dass es eine
zusammenhängende Färbung hat, die sich auf die Teile im anderen Sinn, auf
die Stücke des Dinges, eben verteilt. Sofern dergleichen Unterschiede im
Sinne der Auffassung liegen, müssen sie in verschiedenen Seiten, Teilen der
Auffassung sich darstellen oder leer vorstellen; und ebenso muss in ihr das
liegen, was die Art der Zusammenhänge dieser verschiedenen Teilarten zur
Auffassung bringt.
Wieder in anderer Linie liegen die Unterschiede der A uf me rksa mke it,
auf die es mit der Rede von Spezialwahrnehmen vorhin abgesehen war.
Die Gesamtwahrnehmung umspannt in ihrer Einheit Gliederungen, die den
Einzeldingen entsprechen. Jedes solche Glied ist wieder eine Wahrnehmung,
aber eine nur relativ selbständige. Sie ist eben Glied eines Wahrnehmungs-
ganzen, hat in ihm eine Funktion und hilft mit, die kollektive, aber räumlich
und kausal einheitliche Gegenständlichkeit der Gesamtwahrnehmung zur
140 die speziellen wahrnehmungsanalysen
auf ein Objekt und setzt also, wenn die Empfindungsinhalte Objekte der
Aufmerksamkeit sein sollen, voraus, dass diese Inhalte immanent aufgefasst,
perzipiert sind.1
Zu beachten ist, dass diese Rede von Meinung grundverschieden ist von
derjenigen, die die bloße gegenständliche Richtung betrifft. Wir sagen oft,
die Perzeption sei auf ein Gegenständliches „gerichtet“, sie mache es vor-
stellig, bringe es zur Erscheinung, meine es. Wir unterscheiden hinsichtlich
des Gegenstandes das, was ihm als Naturobjekt existential zukommt und
was er im Sinne der Perzeption ist, was sie ihm zumeint. Indem wir diese
Unterscheidung phänomenologisch festlegen, haben wir natürlich irgend-
welche Exempel vor Augen und vollziehen hierbei Aufmerksamkeit auf
das Objekt. Aber es ist klar, dass wir scheiden müssen die gegenständliche
Beziehung der Perzeption, und jeder Perzeption – auch derjenigen, in der die
Aufmerksamkeit nicht lebt – und die Meinung im Sinne der aufmerkenden
und vorziehenden Zuwendung. Das ist also wohl zu beachten. Und es ist
auch hervorzuheben, dass Meinung im zweiten Sinn diejenige im ersten
voraussetzt: Im aufmerkenden Sinn gemeint kann nur sein, was vorstellig
ist, und in der Wahrnehmungssphäre, was perzipiert ist. Das gilt alles ganz
allgemein und klärt zugleich eine Äquivokation der Rede von intentionalem
Erlebnis auf. „Intention“ ist entweder Aufmerksamkeit oder ist Akt, und
Aufmerksamkeit ist ein Modus, der Intentionalität im anderen Sinn voraus-
setzt. Dasselbe gilt bei der Rede von Hinblicken-auf, Betrachten. Man muss
also in der Ausdrucksweise vorsichtig sein.
(Es ist klar, dass alle Beschreibungen mit ihren Erkenntnissen höherer
intellektiver Schicht in der perzeptiven Unterlage aufmerkende Betrachtung
voraussetzen, und so ist das Problem, wie wir überhaupt phänomenologisch
Aussagen machen können über die Gegebenheitsweise des nicht aufmerk-
sam Erscheinenden. Es hängt das mit verwandten Problemen zusammen,
die wir bisher nicht berührt haben, wie wir von Erlebnissen sprechen kön-
nen, die wir haben und die überhaupt nicht perzipiert worden sind, weder
aufmerksam noch unaufmerksam.)
Beilage 1: Wie sind nun Erlebnisse bewusst, während sie nicht Objekte eines
reflektierenden Bewusstseins sind? Können wir darüber etwas aussagen? Nun doch,
sie sind, können wir z.B. sagen, bewusst als aktuelle Gegenwärtigkeiten, als jetzt
gegenwärtig, dauernd, mit dem Inhalt jedes neuen, des aktuellen Jetzt dieser Dauer
in die Gewesenheit herabsinkend usw. Ist Wahrnehmung Blickrichtung auf, Erfassung
von einem als „aktuell gegenwärtig“ Bewussten, ist Retention Blickrichtung auf,
Erfassung von einem als „aktuell gegenwärtig gewesen“ Bewussten, so ist jenes
Bewusstsein vor der Blickrichtung kein Wahrnehmen, keine Retention. Andererseits
kann auch das originäre Bewusstsein, das der originären Gegenwart bzw. das der
originären Gewesenheit selbst als Wahrnehmungsbewusstsein bzw. frisches Erinne-
rungsbewusstsein verstanden sein (obschon die Tendenz der sprachlichen Ausdrücke
mehr in die erstere Richtung geht, also die Zuwendung hineinnimmt). Fragen wir nach
dem Rechtsgrund solcher Unterscheidungen, die doch voraussetzen, dass der Gehalt
jenes unreflektierten Bewusstseins für uns irgendwie fassbar wird, und überlegen
wir andererseits, dass sie nicht auf empirischen Schlussweisen beruhen sollen, da wir
als Phänomenologen alles Empirische ausgeschaltet haben, so lautet offenbar die
Antwort: Von der Zuwendung, die als „neues Ereignis“ auftritt, und davon, dass sie
etwas erfasst, das vorher nicht erfasst war, wissen wir dadurch, dass eine Reflexion
möglich ist, welche von dem Erlebnis, das nun Objekt des Zugewendetseins, erfasstes
Objekt ist, zurückgeht fürs Erste auf das Erfassen selbst und auf dasselbe als Erfassen
dieses jetzt Erfassten in seiner Dauer. Fürs Zweite aber kann der reflektierende Blick
auch zurückgehen auf das „vorhin“, auf die früheren Phasen des Objekts und seiner
Erfassung; und darin zurückgehend findet diese Reflexion den Anfang des Erfassens
dieses Objekts und Zeitstrecken desselben, die vorher liegen und der Erfassung
entbehrten. Zum Beispiel eine Sorge regt sich, ich wende mich ihr zu. Davon weiß
ich; rückblickend finde ich nämlich vor der erfassten Sorge die Sorgenregung, eine
Zeitstrecke derselben Sorge vor dem Einsatzpunkt der Erfassung. Wir finden in
dieser Reflexion (die wir natürlich selbst wieder zum reflektiven Objekt machen
und exemplarisch als Unterlage für unsere Wesensbetrachtung nehmen) fürs Erste
als Gegenstand ein vergangenes Erlebnis, das einer Zeitstrecke nach bewusst war
ohne Zuwendung und einer Zeitstrecke nach mit Zuwendung. Wir haben aber
Bewusstsein ohne Zuwendung offenbar auch gesondert und nicht als Stück einer
solchen Dauerstrecke, in der dasselbe Erlebnis Zuwendung erfährt. So mögen wir in
der Reflexion „gleichzeitig“ mit der Sorgenregung vor der Zuwendung auch finden
Wahrnehmungen oder sonstige Erlebnisse, die jeder Zuwendung zu ihnen entbehr-
ten. Fürs Zweite, die Reflexion selbst, die wir zum Objekt einer zweiten Reflexion
machen, finden wir als ein Erlebnis, das jetzt anfängt und fortdauert, sich aber bezieht
auf ein vergangenes Erlebnis, das ebenso wohl in seinem Vergangenheitsbestand
Objekt einer in derselben vergangenen Dauer stattgehabten Reflexion sein kann als
auch ohne solche sein kann. Die Reflexion geht in eine Erlebnisvergangenheit zurück,
und zum Wesen des als vergangen Bewussten gehört es, dass es gegenwärtig gewesen
ist. Es kann aber im Sinne dieser zurückgehenden Reflexion bzw. dessen, was sie
erfasst, liegen, dass das Gewesene entweder zwar gegenwärtig war, aber nicht erfasst
war (nicht innerlich wahrgenommen im bevorzugten Sinn), oder dass es eben nicht
nur überhaupt gegenwärtig, sondern auch Objekt der Erfassung war. Das ergibt also
wesentlich verschiedene Modi dessen, was da der Titel „Erinnerungsbewusstsein“
befassen kann, abgesehen von dem Unterschied zwischen Retention und Wieder-
erinnerung; sie werden erzeugt durch die verschiedenen Weisen, wie Reflexion (nicht
in Rechnung gesetzt die Reflexion, die das Erinnerungserlebnis wie jedes Erlebnis,
das aktuelle Gegenwart ist, zum innerlich „wahrgenommenen“ macht) „in“ der
gesamt- und spezialwahrnehmung 143
1911–1913, 1. Teil, besonders §§ 8 und 9. Wie aus den Jahreszahlen zu ersehen ist, wurde der
Text dieser Beilage frühestens 1913 verfasst.
144 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Die farbige Silbe auf dem Papier, die farblose Silbe. Das ist das Gegebene, das
„Objekt“, aber nicht die Art meines Meinens, meines Vorstellens etc. Aber zu der
Weise meines Vorstellens gehört es, dass so das Vorgestellte als solches zu beschreiben
ist.
Beilage 3: Akte in der Einbildung: Ich urteile, frage, zweifle, vermute etc. auf-
grund oder besser innerhalb bloßer Vorstellung. Im Theater: Was wird der Held nun
machen? Er wird natürlich so und so handeln. Ich erwarte nicht, was der Autor sagen
wird, an den ich gar nicht denke, sondern was der Held sagen, wie er handeln wird,
welche Geschicke er erleiden muss. Ich schließe aus den Worten auf die Gesinnungen
des Helden, ich phantasiere mich in sie hinein, ich trauere über sein Unglück, ich
wünsche ihm allen Erfolg so wie der guten Sache, für die er eintritt. Ich bewundere,
liebe, schätze ihn etc. Nur der Wille ist ausgeschlossen, solange das Bewusstsein der
Phantasie bzw. Bildlichkeit noch vorhanden ist. Die Welt der Wirklichkeit und die
der Phantasie sind durch keinen Wirkungsfaden miteinander verbunden.
Beilage 4: Wir blicken durch das rote Fensterglas eines Lusthauses und rufen
aus: Ein prächtiges Bild!
Ein Streifen rote Beleuchtung fällt auf die Tänzerin der Bühne: Ein Bild. Die Tän-
zerin selbst schon durch ihre außerordentliche Kleidung und ihre Bewegungsformen
als „Bild“ genommen.
Beilage 5: In der bildlichen Repräsentation erscheint ein Gegenstand und wird
als Bild aufgefasst für einen anderen Gegenstand. Dies ist nicht zu verwechseln mit
der Repräsentation durch Ähnlichkeit, wie sie bei der Präsentation statthat.
Zum Beispiel wenn ich ein Ding im Dunkel sehe, so erweckt es in mir auch die Vor-
stellung einer Erscheinung, die dasselbe Ding im günstigeren Licht darstellt. Wenn
diese Vorstellung als Phantasiebild auftaucht, identifizieren wir den gesehenen und
diesen im Phantasiebild vorgestellten Gegenstand. Das im Dunkel Gesehene hat also
eine repräsentative Beziehung zu der Erscheinung unter normalen Verhältnissen.1 Ich
erkenne es im Vollzug dieser Repräsentation als das inhaltlich reicher ausgestaltete
normale Wahrgenommene. Aber der Gegenstand, der mir jetzt erscheint, ist identisch
derselbe wie der Gegenstand, der repräsentiert ist, er erscheint mir beiderseits nur
in verschiedener Weise. Der präsentierende Gehalt ist ein verschiedener. Darum
erkenne ich den Gegenstand auch als denselben. In der Erregung des Repräsentati-
onsbewusstseins findet eine neue Auffassung statt, welche die gegenwärtige Erschei-
nung in Beziehung bringt zu der nicht gegenwärtigen Erscheinung der normalen
Auffassung. Der Gegenstand dieser neuen Auffassung ist aber derselbe wie der
Gegenstand der ursprünglichen. Darum Erkennen, welches immer ein Identifizieren
ist. Das sind also Beziehungen, die innerhalb einer möglichen Synthese verlaufen,
also innerhalb der Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, die zu demselben, sich in ihr
entfaltenden Gegenstand gehören. Bei der bildlichen Beziehung im echten Sinn ist
der Bildgegenstand und der abgebildete Gegenstand nicht derselbe: Die repräsentie-
rende Erscheinung gehört nicht mit in die Einheitlichkeit der Synthesis, in welcher
der Gegenstand sich entfaltet.
Der Einheit der Synthese entspricht der Umfang des Identitätsbewusstseins:
des kontinuierlichen in der aktuellen Entfaltung der Synthesis, des erkennenden
Identifizierens in der erkennenden Beziehung zwischen einem gegebenen Gliede der
Synthesis und einem irgendwie Vergegenwärtigten, im Phantasiebild, im gewöhnli-
chen Bild, in einem bloßen Wiedererkennen. Dagegen besteht zwischen Bildobjekt
und abgebildetem Objekt einer abbildlichen Vorstellung keine Identität. Wenn das
Bild existierte, so existierte damit ein ganz anderer Zusammenhang möglicher Er-
scheinungen.
Es ist also zu scheiden 1) dasjenige anschauliche „Gegenstandsbewusstsein“, das
wir als Präsentation bezeichnet haben, worin der Gegenstand erscheint und das in
der Mannigfaltigkeit von Erscheinungen zum Identitätsbewusstsein sich entwickelt.
Ein solches gehört zu jeder Wahrnehmung, aber auch zu jeder Bildvorstellung,
und zwar bei Letzterer zum Bildgegenstand.
2) das Bild„bewusstsein“ der bildlichen Repräsentation, welches abermals ein
Gegenstandsbewusstsein ist, aber keine Erscheinung gibt, vielmehr einen zweiten
Gegenstand, welcher als Bild fungiert, zur Vorstellung bringt in einer eigentümlich
geänderten Weise. Der Gegenstand ist nicht gegenwärtig, sondern vergegenwärtigt.
In der Änderung der Bilderscheinung kann, wenn diese Änderung innerhalb
des abbildenden Objekts fällt (innerhalb der gegenständlichen Einheit desselben)
bestehen
a) Kontinuität des Erscheinungsbewusstseins (Identitätsbewusstseins) hinsicht-
lich des erscheinenden Gegenstands, des abbildenden,
b) Kontinuität (Identität) des gegenständlichen Bewusstseins hinsichtlich des
abgebildeten Gegenstandes.
c) Ändert sich aber die Bilderscheinung so, dass damit ein neuer Bildgegenstand
erwächst, so kann darum doch der abgebildete Gegenstand identisch bleiben. Es
kann Kontinuität des abbildenden Bewusstseins bestehen bleiben, während doch die
Bildgegenstände wechseln. So bei der Phantasie.
3) Innerhalb der Präsentation sind zu unterscheiden die direkte und indirekte
Präsentation und das repräsentative Bewusstsein bei der direkten Präsentation.
Undeutlich; besser so: In der schlichten Präsentation ist das direkt präsentierende
Moment da mit der ihm eigentümlichen Bewusstseinsweise. Doch kann, vermöge der
Ähnlichkeitsbeziehungen, auch ein eigenes Bewusstsein des Vergegenwärtigens da
sein. Das erscheinende Moment repräsentiert ein ihm entsprechendes reichhaltiges,
das zu den begünstigenden Wahrnehmungsumständen gehören würde. Eventuell
repräsentiert die ganze gegenwärtige Erscheinung eine andere begünstigte aus dem-
selben Zusammenhang.
Man kann wohl sagen: Das sind Akte bildlicher Repräsentation in Bezug auf
die Erscheinungen, nicht in Bezug auf die Gegenstände. Und es sind vielleicht
echte Akte der bildlichen Repräsentation oder der Erkennung; wir reflektieren eben
auf die Erscheinungen. Wir bringen uns zum Bewusstsein, nicht zum aussagenden
Bewusstsein: Die Erscheinung gleicht der anderen früheren. In der Tat „erinnert“
uns die gegenwärtige an die frühere. Aber solche Akte gehören nicht wesentlich zum
146 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Akte der Präsentation. Sie sind Begleitakte, allerdings wichtige. Die gegenwärtige
Erscheinung wird nicht unmittelbar als Erscheinung des Gegenstandes der Synthesis
aufgefasst, sondern erst auf dem Weg der Erkennung. Sie erinnert an ein Glied der
Synthesis. Dieses kommt eventuell zu besonderer Reproduktion, und im Identitäts-
bewusstsein wird nun die zugehörige lebendig erfasst.
Beilage 6:1 Was ist die Quelle der immer aufs Neue wiederholten und immer
wieder misslingenden Versuche zu einer Aufklärung des Verhältnisses von Wahrneh-
mung und Phantasie, oder vielmehr die Quelle des Misslingens dieser Versuche?
Ich denke, dies! Ich habe nicht gesehen (und man hat überhaupt nicht gesehen),
dass z.B. bei der Phantasie einer Farbe nicht etwas Gegenwärtiges, nicht ein Erlebnis
Farbe gegeben ist, das dann für die wirkliche Farbe repräsentiert. Wonach Emp-
findungsfarbe und Phantasmafarbe in sich ein und dasselbe wäre, nur mit verschie-
dener Funktion behaftet. Ich hatte das Schema Auffassungsinhalt und Auffassung,
und gewiss hat das einen guten Sinn. Aber nicht haben wir, zunächst im Falle der
Wahrnehmung, in ihr als dem konkreten Erlebnis, eine Farbe als Auffassungsin-
halt und dann den Charakter der Auffassung, der die Erscheinung macht. Und
ebenso haben wir im Falle der Phantasie nicht wieder eine Farbe als Auffassungs-
inhalt und dann eine geänderte Auffassung, diejenige, die die Phantasieerscheinung
macht.
Vielmehr: „Bewusstsein“ besteht durch und durch aus Bewusstsein, und schon
Empfindung, so wie Phantasma, ist „Bewusstsein“. Und da haben wir zunächst
Wahrnehmung als impressionales (originäres) Gegenwartsbewusstsein, Selbst-da-
Bewusstsein u.dgl., und Phantasie (in dem Sinn, in dem Wahrnehmung der Gegensatz
ist!) als das reproduktiv modifizierte Gegenwartsbewusstsein, Bewusstsein des gleich-
sam Selbst-da, des gleichsam Gegenwärtig, der Gegenwartsphantasie. (Gegenwärtig
ist ein Individuum, es ist jetzt und dauert seine Weile etc.). Wir können nun Wahr-
nehmung, wenn es transiente, äußere Wahrnehmung ist, analysieren und finden in ihr
„Empfindung von Farbe“; wir finden dann ein Bewusstsein, das in der Einstellung,
die wir jetzt haben, Wahrnehmung (Meinung) von „Farbe“ ist, ein Bewusstsein,
in dem der und der Farbeninhalt da, mir gegenüber, gegenwärtig ist. Ich schrieb
„Farbe“ und sagte auch Farbeninhalt. Denn das ist nicht gegenständliche Farbe,
Eigenschaft eines Dinges, sondern ein „Inhalt“, in dem sich vermöge der Funktion die
Eigenschaft Farbe „abschattet“. Immerhin, mag auch, wie evident ist, dieses Moment
Farbenabschattung etwas anderes sein als Farbe, so ist es doch ein Selbst-da, selbst
gegenwärtig (zeitlich) in der vollen Wahrnehmung, die wir jetzt üben, als Gegen-
Stand ein Gesetztes. In der Empfindung haben wir ein „Bewusstsein“ von dieser
Abschattung, aber nicht eine Wahrnehmung. Aber immerhin haben wir auch hier zu
sagen: Es ist nicht die Abschattung selbst ein Bestandstück der äußeren Wahrneh-
mung, sondern eben die Empfindung, d. h. ein Bewusstsein von dieser Abschattung.2
1 Der Text dieser Beilage ist veröffentlicht in Husserliana XXIII als Text Nr. 8.
2 Randbemerkung Das darf aber nicht missverstanden werden. Die Abschattung, der „Inhalt“
als „Bestandstück des Bewusstseins“ ist eine Einheit, die sich erst im Fluss der letzten Fluenten
konstituiert; er ist nicht absolut, sondern Bewusstsein von ihm, und das nennen wir Empfindung
von ihm.
gesamt- und spezialwahrnehmung 147
Es ist nicht volle „Wahrnehmung“ (Meinung), aber im Kern mit ihr verwandt, es ist
Bewusstsein von, obschon nicht ein als Objekt Sich-Gegenübersetzen.
Die Empfindung ist Unterlage für das Bewusstsein „Auffassung als“, „Erschei-
nung von“ einem Haus, das farbig ist. Dieses Auffassungsbewusstsein und das ganze
Erscheinungsbewusstsein ist wieder ein impressionales, ein unmodifiziertes. Wir kön-
nen vielleicht sagen: Wenn mir das Haus dasteht, aber ich nicht darauf achte, dann
ist das Bewusstsein der Wahrnehmungserscheinung so vollzogen wie vorhin die
Empfindung (z.B. innerhalb der normalen Wahrnehmung). Zur normalen und vollen
Wahrnehmung pflegen wir zu rechnen das im eigentlichen Sinn Zum-Objekt-Haben,
diesem Zugewendetsein (darauf gründet sich eventuell es als Subjekt für Prädikate
Ansetzen usw.). Danach gebe ich also die Identifikation von Empfindung und Emp-
findungsinhalt (die ich in den Logischen Untersuchungen vollzogen habe) wieder auf?
In gewisser Weise, ja. Muss ich damit zu der Ansicht zurückkehren, dass Empfindung
und Wahrnehmung prinzipiell auf einer Stufe stehen, dass jede Empfindung Wahr-
nehmung ist, nur nicht volle Wahrnehmung, sofern Aufmerken oder Meinen fehlt?1
Oder dass wir bloß unterscheiden müssen das noch nicht „wirklich objektivierende“
impressionale Bewusstsein-von, und zwar Bewusstsein des Selbstgegenwärtig, und
das objektivierende, meinende, in dem sich ein Aufmerken und Subjektsetzen noch
vollzieht?
Dem allen steht nun die reproduktive Modifikation gegenüber. Der Empfindung
steht gegenüber das Phantasma. In dem Letzteren steht die Farbenabschattung
„gleichsam“ da. Der Dingwahrnehmung steht gegenüber die Dingphantasie als das
Bewusstsein des gleichsam Selbstgegenwärtig des Dinges.
So wie wir in der Wahrnehmung den Auffassungsinhalt Farbenabschattung hatten
für die objektive Farbe (dingliche), so haben wir in der Phantasie den Auffassungs-
inhalt Farbenabschattung für die objektive Farbe. Dasselbe beiderseits. Aber der
Auffassungsinhalt ist einmal empfindungsmäßig („wirklich“), das andere Mal phan-
tasiemäßig („gleichsam“) bewusst. Und was die Auffassung anlangt, so ist sie einmal
wirkliche perzeptive Auffassung, das andere Mal quasiperzeptive Auffassung (die
reproduktive Modifikation). Auffassung ist hier verstanden als das Auffassen. Oben
sagte ich ausdrücklich Auffassungsbewusstsein, Bewusstsein von Erscheinung. Näm-
lich es scheint, dass wir sagen müssen: So wie der Empfindung der Empfindungsinhalt
entspricht, so dem Auffassen die Auffassung, dem Bewusstsein der Erscheinung die
Erscheinung. Die Wahrnehmung wäre danach Empfindungsbewusstsein hinsichtlich
der Erscheinung. In der Tat kann ich, wie den Inhalt „Farbenabschattung“, so die Er-
scheinung zum Objekt machen. Im Falle der Phantasie habe ich das modifizierte Be-
wusstsein (Phantasma) von Erscheinung, Auffassung. Daher finde ich in der Analyse
Auffassungsinhalte und Auffassung (Erscheinung) als phantasierte, als gleichsam da
1 Gestrichene Randbemerkung Das scheint aber noch keineswegs gefordert. Ob das, was die
Einheit des Inhalts konstituiert, so etwas wie Apperzeption ist, ja ob man überhaupt sagen kann,
jeder Inhalt sei als e in Inhalt bewusst, auch wenn er nicht wahrgenommen wird? Das ist sicher,
dass die Erscheinung innerhalb der normalen Wahrnehmung und alle ihre Komponenten, die
Farbenabschattung etc., wirklich als Einheiten dastehen, wenn auch in ihnen das allein gemeinte
transiente Objekt erscheint. Ist nicht ebenso ein Gefühl, eine Trauer, ein Wunsch, ein Wille,
eine Prädikation etc. eine Einheit? Und gibt es dann eine Grenze?
148 die speziellen wahrnehmungsanalysen
seiende. Die Auffassung der Phantasie ist dieselbe wie die Auffassung der Wahrneh-
mung. Das heißt, im Wesen ist Wahrnehmungsauffassung und Phantasieauffassung
dieselbe, genauso wie wahrgenommene Farbe und phantasierte Farbe.
Darin liegt: Wahrnehmungs- und Phantasiebewusstsein fundieren hier ein Iden-
titätsbewusstsein (und zwar ein evidentes).
Natürlich kann ich vom Phantasiebewusstsein, besser: Phantasma (als einheitli-
cher Inhalt), selbst wieder eine Wahrnehmung haben, sie zum Gegenstand machen.
Sie steht dann als gegenwärtiges Erlebnis da.
Analysiere ich Phantasiebewusstsein (ein Phantasma), so finde ich nicht eine Farbe
und sonst dergleichen, sondern ich finde wieder Phantasiebewusstsein; genauso wie
ich beim Wahrnehmungsbewusstsein analysierend immer wieder Wahrnehmungsbe-
wusstsein finde. Phantasie ist eben durch und durch Modifikation, und anderes als
Modifikation kann sie nicht enthalten. Diese Modifikation ist als solche Erlebnis, ist
Wahrnehmbares, und die Wahrnehmung dieses Erlebnisses hat dann selbst wieder
ihre Modifikation. Phantasie ist durch und durch Modifikation: Sie ist Phantasie
von Farbe, von Auffassung. Bei transienten Phantasien: ein verblasenes, lückenhaft
schwankendes Rot mit fließenden Formen etc. Aber all das ist auch Phantasie, die flie-
ßenden Formen phantasierte Formen etc. Genauso wie wenn ein verwaschen, unklar
etc. sich darstellendes Wahrnehmungsobjekt wahrgenommen ist, die Wahrnehmung
durch und durch Wahrnehmung ist: Freilich, da stellen sich Wahrgenommenheiten
dar, die nicht dem Gegenstand selbst „zugedeutet“ werden, aber durch sie hindurch
„meinen wir“ wahrnehmend (und ebenso im parallelen Fall: phantasierend) das
Nichtverwaschene, Nichtschwankende etc.1
Das Gleichsam ist der Charakter der Reproduktion, Gleichsam-Wahrnehmung
der Charakter der Phantasie im engeren Sinn. Doch kann man sagen, dass „Phanta-
sie“ gewöhnlich ein weiterer Begriff ist = intuitive Reproduktion.
– Phantasie ist nicht der Gegensatz von Gegenwärtigung und Vergegenwärtigung. Denn Ver-
gegenwärtigung ist ein impressionaler Akt, der wieder seine Modifikation hat. Phantasie ist
gleichsam Gegenwärtigung; Vergegenwärtigung, das sind die verschiedenen Formen der Er-
innerung, die wieder ihre Modifikationen hat. Gleichsam erinnern, ebenso gleichsam bildlich
vorstellen.
zeit in der wahrnehmung 149
das unklar. Wir sagen lieber: Das Individuelle, das leibhaft zur Vorstellung
zu bringen die Funktion der Perzeption ist, ist eine zeitliche Einheit.1 Das
Individuelle ist notwendig sei es individuelles „Ding“ oder individueller
„Vorgang“. Es ist ein Ding, ein Ding, das dauert und mit seinem dinglichen
Inhalt die Zeitdauer, seine Dauer ausfüllt, und sie bald ausfüllt in der Weise
des Sichveränderns oder in der Weise der Unveränderung, der Ruhe. Oder
das Individuelle ist ein Vorgang, von dem wir wieder – obschon in merklich
anderem Sinn – sagen, dass er dauert und in der Dauer entweder selbst
Unveränderung ist oder Veränderung.2 Das Wahrgenommene als solches
betrachten wir nun nach diesen wesentlich zeitlichen Vorkommnissen, ohne
die es als wahrgenommenes Individuelles nicht denkbar ist.
Zum Beispiel, das Ding ist Einheit, es dauert, und in seiner Zeitdauer. In
ihr sind zu unterscheiden die mannigfaltigen Phasen; jede Phase ist Phase
des zeitlichen Daseins des Dinges. Das Ding ist aber nicht die Vielheit der
Phasen, auch nicht die Kontinuität der Phasen, sondern das eine und selbe
Ding, das eben während seiner Zeit dasselbe ist, in jeder Phase dasselbe.
Das Ding mag während seiner Dauer unverändert bleiben, es mag jedem
Zeitpunkt gleiche Inhaltsfülle verleihen; aber es ist nicht dasselbe im Sinn
bloß der Gleichheit, sondern es, das eine identische Ding, bleibt sich gleich.
Ebenso bei der Veränderung: Das eine identische Ding bleibt sich qualitativ
nicht gleich, nämlich sofern es immer wieder anders wird; und doch ist es
dasselbe Ding, ein Selbes wird gefasst, das aber sich verändert.
Einheit gegenüber der Mannigfaltigkeit besagt hier also diese in der
Perzeption von Individuellem zu erfassende Identität, die wir ganz allge-
mein als Identität des Ding e s bezeichnen gegenüber der kontinuierlichen
zeitlichen Mannigfaltigkeit von Dingphasen. Diese Kontinuität kann ebenso
wohl beachtet, gemeint und in diesem Sinn erfasst werden, sie ist in anderem
Sinn Einheit als das Ding, sie ist eben Einheit der Phasenkontinuität und ist
näher Dauer oder Veränderung des Dinges, die konkret erfüllte Zeit selbst,
durch die sich das Ding als das Identische aller Phasen hindurcherstreckt
oder in der es in eigener Weise liegt, aus deren Gegebenheit es evident
zu entnehmen ist. Auf dieser Seite liegt offenbar das, was wir Einheit des
Vorgangs nennen, wofern damit nicht der Sachverhalt, da ss das Ding ruht
bzw. es ist in gegenständlicher Hinsicht etwas da, etwas Perzipiertes, das sich verändert oder das
ruht, und bald sich verändert und bald ruht. Die Begriffe „Veränderung“ und „Ruhe“ führen
offenbar den der Zeit mit sich.
2 Gestrichen Ich muss es Ihnen überlassen, die Deskription hier genauer durchzuführen.
oder sich verändert, gemeint ist. Zur Einheit des Vorgangs gehört die Ein-
heit des Dinges, mit dem etwas vorgeht, das da ruht oder sich in der oder
jener Veränderungsgestalt verändert. Bei der Weite, in der hier das Wort
„Ding“ gebraucht ist (wir werden darüber noch sprechen), brauchen wir
nicht einzelnes Ding und zusammenhängende Dingkomplexion zu unter-
scheiden. Auch sie ist ein identisch Einheitliches in der Zeit, insgesamt ein
„Ding“.
Aber wie weit gebrauchen wir denn eigentlich die Rede von Ding und
damit auch von Vorgang und von Zeit, Dauer, Ruhe, Veränderung? Wir
haben ausdrücklich gesagt, dass nicht bloß von den darstellenden Wahr-
nehmungen die Rede ist, sondern auch von den nichtdarstellenden, nicht
bloß von transzendenten, sondern auch von immanenten und adäquaten,
kurzum von jederlei Wahrnehmungen individuell einheitlicher Objekte. Es
ist also nicht bloß die Rede von Dingobjekten im gewöhnlichen Sinn von
Naturobjekten. Gehen wir zur spezielleren Betrachtung der Sachlage bei
den reell immanenten Wahrnehmungen über, in denen ein Individuelles,
aber kein Naturobjekt zu adäquater Gegebenheit kommt, so wird sich dabei
nicht nur die allgemeinere Rede von Dingeinheit und zeitlicher Mannigfal-
tigkeit rechtfertigen, sondern wir werden bald auch darauf kommen, dass der
Gegensatz von Einheit und Mannigfaltigkeit einen neuen Sinn bekommt, der
uns auf eine tiefer liegende Schicht von konstituierenden Bewusstseinsvor-
kommnissen zurückführen wird. In reeller Immanenz ist uns jede cogitatio
gegeben, auf die wir in der Reflexion hinblicken und die wir in der Art, wie es
die reduzierte cartesianische Evidenz erfordert, so nehmen, wie sie eben zu
absoluter Selbstgegebenheit kommt. So gegeben ist uns in der phänomenolo-
gischen Analyse, soweit sie sich innerhalb der Reflexion vollzieht, etwa eine
äußere Wahrnehmung und in ihr der Komplex der darstellenden physischen
Inhalte, die Empfindungsfarbe, der Empfindungston, die Empfindungsrau-
higkeit usw. Nehmen wir etwa einen Toninhalt. Es sei der Ton einer Geige
gehört; wir leben aber nicht im Hören des Geigentones, sondern wir blicken
auf das Tonerscheinen hin und darin auf den Ton als physischen Inhalt, so wie
er in sich selbst ist und unter Abstraktion von dem, was mit ihm erscheint
und was in der Weise der äußeren Dingwahrnehmung als Erzeugnis der
gestrichenen Geigensaite in räumlicher Wirklichkeit dasteht. Mit anderen
Worten, wir abstrahieren von dem, was der Ton darstellt und nehmen ihn als
Empfindungston. Dann müssen wir offenbar sagen: In der reell immanenten
Wahrnehmung, in der uns dieser Ton zur Gegebenheit kommt, ist er eine
Einheit im Fluss seiner Zeitphasen. Der Ton dauert, und inhaltlich steht er
bald als unverändert da, bald als sich verändernd, z.B. es schwankt seine
152 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Intensität, sie schwillt an und klingt wieder ab, oder es verändert sich auch
seine so genannte Qualität, seine Klangfarbe usw.
Der1 Ton als diese zeitliche Einheit ist ein adäquat gegebenes Objekt,
wir können auch sagen: ein immanent gegebenes Objekt; und zwar haben
wir darin ein Beispiel von dem, was wir in einem allgemeineren Sinn Ding
nennen. Es ist ein Dinggegebenes in der immanenten Sphäre, nämlich eben
als ein zeitlich Dauerndes, und in seiner Dauer, sei es Unverändertes, sei
es Sichveränderndes, ein Identisches der Zeit, das seine Eigenschaften hat,
die Eigenschaften der Qualität der Klangfarbe, der Intensität, die ihrerseits
dauernd ihm verbleiben oder an ihm, demselben Ding, kontinuierlich oder
diskret wechseln. Auch die Eigenschaften sind Einheiten in der Zeit, analog
wie das Ding selbst, das Eigenschaften hat. Die Intensität des Tones, sagen
wir etwa, dauert und schwillt jetzt an und jetzt wieder ab, sie hält sich eine
Strecke lang unverändert u.dgl. Der Ton in seiner vollen Konkretion, sich
von seinem Hintergrund als in sich Geschlossenes abhebend, ist das Ding;
die Intensität aber ist Intensität des Tones. Sie ist auch zeitliche Einheit,
Identisches in der Kontinuität ihrer Zeitphasen, aber sie ist eben Intensität
des Tones, sie ist ein Unselbständiges, das am Ton ist, als zu ihm gehörig in
der adäquaten Eigenschaftswahrnehmung erfasst wird. Einheiten von der
Art dieser „Eigenschaften“ haben das Charakteristische, dass sie eviden-
terweise in eigentümlicher Weise nur sein können an einem andern, das
sie eben „hat“, und das seinerseits in sich oder für sich ist und nicht in
diesem eigentümlichen Sinn von einem andern gehabt wird. Natürlich ist
hier ebenso wie Ding auch Eigenschaft ein Immanentes und unterschieden
von dem, was wir Eigenschaft nennen in der Natursphäre und überhaupt in
der Sphäre der Transzendenz. Beiderseits aber bezeichnen die Worte „Ding“
und „Eigenschaft“ ein Gemeinsames,2 die gegebenen Beschreibungen pas-
sen beiderseits: Naturding wie immanentes Ding sind zeitliche Einheiten, die
1 Ursprünglicher, aber noch während der Vorbereitung gestrichener Text Der Ton als diese
zeitliche Einheit ist ein immanentes Objekt, und zwar ein immanentes Ding; wofern wir
eben Ding als Ausdruck für zeitliche Einheit überhaupt nehmen in Ermangelung eines irgend
brauchbaren Worts für solche Einheit. Ding im gewöhnlichen Sinn ist ein Naturobjekt, ist ein
Baum oder Haus, das seinerseits auch in der Zeit ist, in der Zeit der Natur, und nicht adäquate
immanent gegebene Einheit, sondern transzendente, mittels der Empfindungsabschattungen
sich darstellende Einheit.
Einheit des Dinges: das Identische in der Zeit, das etwas hat. In jedem Zeitpunkt is t das
Ding in seinen Eigenschaften oder neue Eigenschaften habend; die Intensität habend.
Einheit des Vorgangs: In jedem Zeitpunkt geht mit dem Ding etwas vor. Der Wettlauf, das
Gehen. X geht. Sein Gehen.
2 Gestrichen auch das Naturobjekt als Objekt der transzendenten, der so genannten äußeren
1 Gestrichen Beiderseits ist von Zeit die Rede. Aber im einen Fall ist es die immanent
gegebene Zeit, die Zeit, durch die der reell immanent gegebene Empfindungsinhalt Ton sich
hindurchdehnt, in der er ist, während deren er dauert und immerfort derselbe ist. Auf der
anderen Seite ist es die Naturzeit, die transzendent ist wie das Objekt, das sich durch sie
hindurchbreitet, und Analoges gilt natürlich für die Begriffe von Ruhe oder Unveränderung
und Veränderung. Beiderseits ist es auch evident, dass nicht alle Beschaffenheiten, die im
Sinne der Wahrnehmung dem Wahrgenommenen zukommen, in Anspruch zu nehmen sind als
„Eigenschaften“ im spezifischen Sinn. Vom Ding und von der Eigenschaft sagen wir aus, dass sie
dauern, dass sie ruhen, sich verändern, oder dass sie im Nacheinander sich erst verändern und
dann ruhen u.dgl. Vom Ding sagen wir aber auch aus, dass es eine Eigenschaft hat, z.B. vom Ton,
dass er Intensität hat. Das Ding Ton dauert, und seine Intensität, seine Qualität dauert, aber die
Dauer dauert nicht selbst wieder. Sie ist Zeit, h a t aber nicht Zeit. Das Sichverändern des Tones
ändert sich nicht selbst wieder in dem Sinn, in dem der Ton sich verändert. Aber der Vorgang,
den wir auch die Tonveränderung nennen, die Einheit der tonal erfüllten Zeitgestalt, lässt eine
dingartige Auffassung zu: Der Vorgang ist selbst wieder als eine Einheit der Zeit aufzufassen,
der Vorgang hat eine bestimmte Zeitgestalt und hat eine Dauer, in welcher er bald seine Gestalt
unverändert erhält, bald sie verändert, die Bewegung etwa ist bald eine gleichförmige, bald eine
ungleichförmige, jetzt wird sie schneller, dann langsamer usw.
154 die speziellen wahrnehmungsanalysen
nur das Ding dieses Moments. (Auch der Vorgang ist eine Identität, und wir
sagen sogar, der Vorgang bleibe immer sich gleich hinsichtlich seiner Form, er
verändere sich nicht und er verändere sich, er ändere seine Gestalt, er werde
langsamer und dann wieder schneller. Auch der Vorgang ist eine Einheit
und hat seine Eigenschaften. Aber all das in einem wesentlich anderen Sinn
als das Ding mit seinen konstituierenden Dingeigenschaften. Mit all dem
hängt zusammen, dass evidenterweise nicht alle Prädikabilien eines Dinges
über denselben Kamm zu scheren sind; konstituierende Dingeigenschaften
und Beschaffenheiten des Dinges mit Beziehung auf seine Veränderungs-
art, auf die Form und den Ablauf seiner Veränderung sind z.B. wesentlich
verschieden.)
Auf beiden Seiten, nämlich sowohl in der immanenten als in der transzen-
denten Realitätssphäre, ist die Zeit die unaufhebbare Form der individuellen
Realitäten in ihren beschriebenen Modis. Das Moment der Zeitlichkeit fas-
sen wir dabei am perzipierten Realen, und somit müssen wir sagen: Ist etwa
das Jetzt, oder ist die Dauer, Jetzt oder Dauer eines Immanenten gegeben,
so ist das zeitliche Moment selbst immanent gegeben; wieder ist es tran-
szendent gegeben als zeitlicher Modus eines Transzendenten. Andererseits
scheint „die Zeit“ in gewissem Sinne und evidentermaßen eine einzige zu
sein: Zwei Realien, zwei Dinge, Eigenschaften, Vorgänge, können, nach ent-
sprechenden Zeitmodis betrachtet, zeitlich identisch sein. Als Beispiel: Die
Wahrnehmung eines Realen ist selbst ein Reales, und ihre Zeiten decken
sich. Das Jetzt der Wahrnehmung ist identisch dasselbe wie das Jetzt des
Wahrgenommenen, die Dauer der Wahrnehmung identisch mit der Dauer
des Wahrgenommenen usw. Ist das Wahrgenommene ein Transzendentes,
so erscheint es eben, auch wenn es nicht reell gegeben ist, in demselben
Jetzt, in dem die Wahrnehmung ist, die selbst zur reellen Gegebenheit
kommt. Reflektieren wir und erfassen wir die Wahrnehmung als ein eben
Gewesenes, so erscheint ihr Wahrgenommenes in demselben Zeitpunkt des
Gewesenseins. Ist das Wahrgenommene ein Immanentes und somit auch
nach seiner Existenz Gegebenes, so decken sich die beiden realen Individuen
Wahrnehmung und Wahrgenommenes (z.B. der Empfindungston) in ihrem
ebenfalls adäquat gegebenen zeitlichen Modus, in ihrer Dauer und in den
Punkten dieser Dauer. Die Zeit ist nicht doppelt da; Gleichzeitigkeit ist
Identität der Zeit, obschon das Zeitmoment am Realen zur Gegebenheit
kommt.
zeitbewusstsein 155
Zeitbewusstsein
Ohne all die schwierigen Analysen, welche in den bisher angedeuteten
Richtungen erforderlich sind, näher andeuten zu können, gehen wir auf
eine besonders wichtige Betrachtung über. Führen wir folgende Überle-
gung zunächst in Beschränkung auf rein immanente physische Daten durch.
Der physische Inhalt Ton steht in der reduzierten phänomenologischen
Wahrnehmung als immanentes „Ding“ da, er ist Einheit einer fließenden
Mannigfaltigkeit von Tonphasen. Dieses Ding Ton hat, das gehört zum
Wesen der Dinglichkeit überhaupt, eine Zeitform und den Zeit füllenden
Inhalt. Die Zeitform ist eine Kontinuität von Zeitpunkten, deren jeder
seine Fülle hat. Der füllende Inhalt des Objekts breitet sich aus über die
Zeitdauer, die seine Dauer ist. Der Ton dauert, er ist Jetzt und immer wieder
Jetzt. Das Jetzt ist immer wieder ein neues, und im neuen Jetzt ist der Ton
nicht mehr zugleich im alten Jetzt, sondern im alten Jetzt gewesen. Dies
führt uns auf eine neue Kontinuität, nicht die Kontinuität der Tonphasen
bzw. der Zeitpunkte, welche die Dauer des Objekts ausmacht, sondern
auf die Kontinuität der temporalen Abschattungen des Tones. Blicken wir
auf das Tonjetzt (das freilich immer wieder ein neues ist). Das Jetzt ist
Grenze einer Kontinuität von Tongewesenheiten, und es ist hier offenbar
eine Blickstellung möglich, in der wir nicht hinblicken auf die Tonphasen,
die gewesen sind und die, während sie gegenüber dem immer neuen Jetzt im-
mer weiter zurückrücken, mit ihrer individuellen Identität auch die Identität
ihres Zeitpunkts bewahren, sondern hinblicken auf das „Phänomen“ ihrer
Gegebenheit. Was heißt das? Nun, wir müssen offenbar unterscheiden das
jedem Jetztmomente der Tonwahrnehmung reell Immanente von dem in ihm
objektiv Erscheinenden. Der Ton in seiner Dauer ist immanent gegeben in
der Tonwahrnehmung, und diese Tonwahrnehmung ist selbst ein Dauerndes.
Jedes Jetzt der Tonwahrnehmung erfasst eine Tonphase, und zwar diejenige
des betreffenden aktuellen Jetzt. Aber nicht bloß das. Eine Kontinuität von
abgelaufenen Tonphasen ist im selben Jetzt bewusst. Diese abgelaufenen
Tonphasen sind nicht so wahrgenommen in dem betreffenden Jetztpunkt
der Wahrnehmung wie diejenige Tonphase, die in ihm als ein Jetzt dasteht.
Sie sind noch bewusst, sie erscheinen noch, aber in modifizierter Weise. Das
verflossene Jetzt mit seiner Fülle verbleibt nicht aktuelles Jetzt, sondern
stellt sich im neuen aktuellen Jetzt in einer gewissen Abschattung dar, und
jede solche Abschattung vertritt sozusagen das gewesene im aktuellen Jetzt.
Sie macht einen reell immanenten Inhalt aus in dem betreffenden aktu-
ellen Jetztpunkt der Wahrnehmung des Tones; und das gilt für die ganze
156 die speziellen wahrnehmungsanalysen
darstellend ist, die ihn repräsentiert. Reflektieren wir auf die Wahrnehmung
des einheitlichen Tones oder auch auf die Wahrnehmung des Tonvorgangs
und erhaschen wir ihr Jetzt und das, was ihr in diesem Jetzt reell zugehört, so
finden wir sie als eine Kontinuität, und speziell in Hinsicht auf die physischen
Inhalte, die ihr einwohnen und die Auffassungskontinuität erfahren, finden
wir eine Kontinuität: die Jetztphase der Tonempfindung und einen Fluss
von Abklängen, in denen sich in diesem selben Wahrnehmungsjetzt das
Abgeflossensein, das Gewesen- und Dauernd-Gewesensein des Tones stetig
abschattet. Die der Abschattung steht offenbar im Charakter der Abschat-
tung da, im Charakter einer Darstellung, d. i. der physische Inhalt in seinen
eigentümlichen Modifikationen hat einen stetigen Bewusstseinscharakter,
etwas von der Art Auffassung, was eben die Darstellung als Darstellung
charakterisiert.
Wir haben früher schon den Ausdruck „phansiologisch“ gebraucht, um
innerhalb der phänomenologischen Analyse scharf pointieren zu können
den Unterschied zwischen dem, was Sache der cogitatio ist und Sache des
Cogitierten als solchen, das ja auch evident zu beschreiben ist. Den Ausdruck
cogitatio haben wir in Anlehnung an die cartesianische Betrachtung festge-
halten. Phansiologisch nennen wir eine Untersuchung, welche die cogitatio
nach ihrem reellen Bestand erforscht. Dabei aber stellt es sich heraus, dass
die cogitatio in der reflektiven Wahrnehmung zur Einheit wird, da evidente
Einheitsgegebenheiten hier zu fassen und zu beschreiben sind, wie wenn
wir die Wahrnehmung, die Erinnerung, das Urteil als Einheiten nehmen
und in einheitlicher Weise von der Erscheinung als Wahrnehmungs- oder
Erinnerungserscheinung sprechen, von dem Charakter der Setzung, der
Aufmerksamkeit usw. Andererseits aber sind diese Einheiten Einheit von
Mannigfaltigkeit, nämlich von Einheiten, die notwendig zurückweisen auf
die Mannigfaltigkeit des letzten Zeitflusses, in dem sie sich notwendig dar-
stellen, sich im Fluss phansiologischer Zeit abschatten. Hier in diesem Fluss
liegt das Absolute, auf das alle phänomenologische Analyse zurückführt; wir
sprechen von dem absoluten phansiologischen Zeitfluss und sagen, dass sich
in ihm alle Einheiten konstituieren.
Alle diese Objektivitäten sind in gewissem Sinn bloß intentionale der
angedeuteten Art, sind Einheiten und aus Einheiten gleichsam aufgebaut,
und alle Einheiten in diesem Sinn, zeitliche Einheiten, reale Einheiten, sind in
gewissem Sinn bloß intentionale Einheiten. Jeder solchen Einheit korrespon-
diert nun a priori, d. i. wesentlich, ein konstituierender Bewusstseinsfluss.
Rekapitulieren wir. Ausgehend vom Beispiel eines adäquat in reell imma-
nenter Wahrnehmung gegebenen Tones hatten wir festgestellt, dass dieser
158 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Ton ein individuell Einheitliches ist, einheitlich, sofern er dasteht als dau-
ernder Ton, welcher der eine und selbe ist während der Dauer. Während
der Dauer: also in allen unterscheidbaren Teilen der Dauer und in allen
abstraktiv zu unterscheidenden Phasen der Dauer. Die Phasen sind dabei
erfüllte Phasen, und was sie erfüllt, ist der Toninhalt, der Ton durch seinen
Inhalt, welcher von Phase zu Phase ein anderer ist. Toninhalt ist aber nicht
identischer Ton selbst, ist nicht das Identische, von dem wir sagen, dass
es dauert und in seiner Dauer bald ruht und bald sich wieder verändert.
Dieses Identische ist nichts ohne Inhalt, es ist, was es ist, mit seinem Inhalt.
Das Identische ist nicht in den Inhalt bloß hineingesetzt, als ob es wieder
herausgenommen und für sich gedacht werden könnte. Durch alle Phasen
und all den in der Phasenkontinuität ausgebreiteten Inhalt hindurch geht
die Identität des Dinges Ton, der als dieses Identische nur denkbar ist als
sich durch diese Kontinuität hindurch Erstreckendes, in ihr Dauerndes, ein
Selbiges, das ruht und wieder sich verändert.
Wir sahen, dass hier verschiedene andere analoge Einheiten in Wesensbe-
ziehungen stehen: Die Einheit des Tones war Dingeinheit. Davon unterschie-
den wir die zugehörigen Einheiten, die wir die Dingeigenschaften nannten.
Auch dingliche Relationen wären hier zu nennen. Ferner hoben wir auch
hervor die Einheiten, die Vorgänge heißen.
Jede Wahrnehmung setzt derartige Einheiten, und eigentlich entsprechen
den Grundformen dieser Einheiten auch Formen oder Typen der Wahrneh-
mung. Wesensgesetzlich hängen diese Wahrnehmungstypen zusammen; von
der einen kann zur andern übergegangen werden, mit der Gegebenheit
einer Gegenständlichkeit sind andere Gegenständlichkeiten mitgegeben,
nämlich in entsprechender Wendung der Wahrnehmung, in entsprechendem
Übergang von einem Wahrnehmungstypus zum andern zu erfassen. Das gilt
nun, ob die Einheiten immanente, adäquat gegebene Einheiten sind oder
transzendente, also äußere Dinge, äußere Eigenschaften, Naturvorgänge
im gewöhnlichen Sinn u.dgl. Gehen wir von einer gewöhnlichen äußeren
Wahrnehmung zu einer immanenten Wahrnehmung ihres Empfindungsin-
halts über, so ist das ein Übergang, dessen Möglichkeit a priori im Wesen der
äußeren Wahrnehmung gründet. Zum Beispiel wir nehmen das Heranfahren
eines Postwagens wahr und achten auf das Geräusch des Rollens oder auf
den Klang des Posthorns unter Abstraktion von allem, was es transzendent
bedeutet. Wir sagen dann von diesem Inhalt, er sei ein immanentes Objekt;
der Vorgang des Rollens, der Klang des Posthorns, das sind hier adäquate Ge-
gebenheiten. Was besagt hier die Immanenz? Besagt es, dass das Objekt nicht
außerhalb, sondern im Bewusstsein ist und dass das Bewusstsein gleichsam
zeitbewusstsein 159
ein Sack ist, in dem das einheitliche immanente Objekt darinsteckt? Natür-
lich haben wir die Linie phänomenologischer Reduktion zu beachten. Der
Klang des Posthorns ist in äußerer Wahrnehmung ein transzendent Reales,
in der wesentlich geänderten Einstellung der immanenten Wahrnehmung ist
er nichts Transzendentes, sondern Immanentes, und darin liegt, wie der erste
Aspekt zu lehren scheint, in der Tat ein reales Enthaltensein des Objekts
in der Wahrnehmung. Indessen, wie aus den Betrachtungen am Schluss der
letzten Vorlesung hervorgeht, die wir jetzt fortführen, bedarf es hier großer
Vorsicht. Die äußere Wahrnehmung des Klanges ist nicht Klang und da zu
ein im Übrigen unterschiedsloses leeres Hinschauen darauf. Da ist das ganz
selbstverständlich. Bei der immanenten Wahrnehmung, wo der Klang als
bloß physischer Inhalt Objekt und als das adäquat gegeben ist, da ist die
Versuchung größer, die Sachlage so anzusehen und das Wahrnehmen als ein
unterschiedsloses Fassen oder Haben des Inhalts, der ihm nun reell einwohnt,
zu interpretieren.
Vollziehen wir aber einen neuen und im Wesen der Wahrnehmung als
ideale Möglichkeit begründeten Schritt der Reflexion, gehen wir nämlich
von der Wahrnehmung des immanenten Klangs über zur Wahrnehmung
dieser Wahrnehmung, so eröffnen sich die Wunder des Zeitbewusstseins.
Die Wahrnehmung des Tones in ihrem immer neuen Jetzt ist nicht ein bloßes
Haben des Tones, sei es auch des Tones in der Jetztphase. Vielmehr finden
wir in jedem Jetzt neben dem wirklichen physischen Inhalt eine Abschat-
tung, oder besser: wir finden eine eigentümliche Tonabschattung, die in dem
aktuell empfundenen Tonjetzt terminiert. Achten wir reflektiv auf das, was
vom Ton des geblasenen Posthorns oder vom Rollen des Wagens jetzt, in
dem aktuellen Jetzt gegeben ist und wie es gegeben ist, so merken wir
den Erinnerungsschweif, der den Jetztpunkt des Tones oder des Rollens
extendiert. Es ist dabei evident, dass das immanente Ding gar nicht in seiner
Einheit gegeben sein könnte, wenn nicht das Wahrnehmungsbewusstsein mit
dem Punkt aktueller Empfindung auch die Kontinuität der abklingenden
Phasen der Empfindungen der früheren Jetzt mit umspannte. Das Vergan-
gene wäre für das Bewusstsein des Jetzt nichts, wenn es sich nicht im Jetzt
repräsentierte,1 und das Jetzt wäre nicht Jetzt, nämlich für das wahrnehmende
Bewusstsein des betreffenden Moments, wenn es in ihm nicht als Grenze
eines vergangenen Seins dastände; das vergangene Sein muss sich in diesem
Jetzt aber als solches repräsentieren,2 und das tut es durch die im Empfin-
Worte.
Es handelt sich doch nicht um Darstellung, sondern um Retentionen. Es ist ja 95 (= oben
S. 159 f.) betont, dass es keine Empfindungen (also nicht etwa schwächere Empfindungen,
„abklingende“, wie das schlechte Bild besagt) sind.
„Auffassung“, das wird wohl unvermeidlich sein. Die originäre Auffassung im Jetzt erfährt
selbst retentionale Modifikationen, aber diese Modifikationen kommen zur Einheit.
4 Tonabschattungen und der Auffassungen dieser Abschattungen wurde vermutlich später
verändert in Töne.
5 selbstgegeben wurde vermutlich später verändert in als selbstgegeben erfasst.
6 gegebenen wurde vermutlich später verändert in erfassten.
zeitbewusstsein 163
adäquat fassendes Bewusstsein zu sein, ist es doch wieder so, dass eine gewisse Bildung des
Bewusstseins, die wir adäquate Wahrnehmung nennen, das leistet, was Dasein, wahr und
wirklich selbst Dasein des Objekts heißt.
2 Gestrichen Auf beiden Seiten, sowohl in der immanenten als in der transzendenten Realitäts-
sphäre, ist Zeit die unaufhebbare Grundform der individuellen Realität in ihren beschriebenen
Modifikationen. Aber freilich müssen wir auch sagen, dass im einen Fall die Zeitlichkeit des
Realen, in ihren wechselnden Modis, Dauer, Jetztpunkt, Gewesensein, in ihrem eigentümlichen
Fluss, der aktuelles Jetzt immer wieder in Jetztgewesen wandelt, ich sage, im einen Fall ist all das
immanent gegeben, wirklich und adäquat gegeben. Im anderen Fall aber ist es transzendente
Zeit, in der transzendenten Wahrnehmung intentional gegeben, bloß intentional, d. i. eben nicht
reell gegeben.
Die wesentliche Beziehung des immanenten Objekts auf ein gebendes Bewusstsein fordert
hier die Lösung des Problems, diese Gegebenheit aufzuhellen und die Bewusstseinsarten und
Bewusstseinszusammenhänge aufzuweisen,
f in denen sich das Objekt konstituiert, in denen es
intentional als selbstgegeben, und adäquat selbstgegeben, dasteht, und ohne die es nichts ist.
Ehe wir weitergehen, müssen aber gewisse Schwierigkeiten erörtert werden, die sich Ihnen
vielleicht schon aufgedrängt haben. Wir gingen aus von der Toneinheit, vom Klang des Post-
horns. Dieser war uns gegeben zunächst durch äußere Wahrnehmung, eben als Klang des Post-
horns, dann durch immanente, adäquate Wahrnehmung nach einem rein immanenten Gehalt.
Die Wahrnehmung war uns gegeben in einer Wahrnehmung zweiter Stufe. Sie war uns gegeben,
also auch sie war ein Objekt, auch sie war individuell zeitliche Einheit. Fordert diese selbst doch
wieder immanente Einheit nicht wieder einen Bewusstseinsfluss analoger Art wie die Einheit
Ton, werden wir also nicht geführt vom einheitlichen Ton und ihren einheitlichen Zeitpunkten
zur einheitlichen Wahrnehmung des Tones und ihren einheitlichen Zeitpunkten? Für das Erste
war erfordert die konstituierende Mannigfaltigkeit der Empfindungsabschattungen und ihrer
vereinheitlichenden Auffassungen. Bedarf es für das Zweite nicht abermals konstituierender
Mannigfaltigkeiten?
164 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Sein eines solchen Objekts ist Sein in der adäquaten Wahrnehmung, und nicht bloß in der
möglichen adäquaten Wahrnehmung. Mein Gedanke ist der: Wenn im absoluten Bewusstsein
die Abschattungsmannigfaltigkeit ist, so braucht darum nicht eine entsprechende immanente
Erfassung zu sein, die das immanente Objekt erst da hinstellt. Ob im Fall der äußeren Wahrneh-
mung z.B. die immanenten Empfindungen wirklich objektiviert sind als immanente Objekte?
Abgesehen davon, ob sie gemeinte Objekte im Sinn der herausgemeinten sind. Die beiden
letzten Sätze wurden vermutlich später mit einem Fragezeichen versehen.
zeitbewusstsein 165
Aber die Auffassungen, die zu dieser gehören, finden wir natürlich nicht in
der Wahrnehmung unterer Stufe, sie werden vielmehr erst in der höheren
Stufe vollzogen. Eine tiefere Analyse der Sachlage ist sicherlich von großer
Schwierigkeit. Es wird sich dabei müssen klarlegen lassen, dass zum Wesen
des absoluten Bewusstseins das ständige Sichabschatten gehört und dass im
Wesen desselben die ideale Möglichkeit von Wahrnehmungsauffassungen
liegt, welche aus diesem absoluten Fluss der Abschattungen die zeitliche
Einheit als eine immanent-intentionale Einheit sozusagen entnehmen oder
sie darin konstituieren. Im Wesen alles absoluten Bewusstseins gründet das,
somit auch im Wesen jeder vollzogenen Einheitssetzungen, jeder vollzogenen
Wahrnehmungen. Auch sie schatten sich ab; auch hier gründet in diesem
absoluten Fluss der Abschattung die ideale Möglichkeit neuer Auffassun-
gen, die aus diesen Abschattungsmannigfaltigkeiten die zu ihnen gehörigen,
sich in ihnen abschattenden Einheiten entnehmen, das sind die absoluten
Wahrnehmungen zweiter Stufe. Für diese gilt dasselbe, usw. Gewisserma-
ßen vor aller Einheitssetzung, d. i. aller Objektivation, liegt das absolute
Bewusstsein. Einheit ist Einheit der Objektivation, und Objektivation ist
eben objektivierend, aber nicht objektiviert. Alle nicht objektivierte Objek-
tivation gehört in die Sphäre des absoluten Bewusstseins. Natürlich kann
es objektiviert werden: Das geschieht unter dem Titel „reflektive Wahrneh-
mung“ bzw. „reflektive Retention“ und „Wiedererinnerung“. Aber dann
vollzieht sich das eben in diesen Objektivationen höherer Stufe; und diese
fassen das, was sie objektivieren, als identische Einheit und können es nicht
anders fassen. Da das Leben des Bewusstseins im ewigen Fluss besteht und
jedes Bewusstseinsmoment sofort von seiner Aktualität in den Fluss der
Potentialität, nämlich der Abschattungen übergeht, so kann es nur gefasst
werden in Form des in diesem Fluss identisch sich Darstellenden, d. i. des
Zeitindividuums.
So hat, möchten wir sagen, das absolute Bewusstsein die Form des Flusses,
das objektivierte Bewusstsein aber ist einheitliches Objekt, ist individuelle
cogitatio, ein Einheitliches der Zeit; objektiviertes Bewusstsein, wie individu-
elle Objektivität überhaupt, hat die Form der Zeit. Niemand hat diese tiefsten
Probleme menschlicher Erkenntnis ergründet, ja ich möchte sagen, dass nicht
einmal die Probleme als solche formuliert worden sind. Unverkennbar ist,
dass wir nicht bei den ersten objektivierten Einheiten stehen bleiben können.
Heben wir den so genannten immanenten Ton als adäquate Gegebenheit
hervor, so ist es nicht Laune, sondern Notwendigkeit, auf eine zurücklie-
gende Schicht zurückzugehen und die Weise, wie diese zeitliche Einheit zur
Gegebenheit kommt, zu studieren, also dem Bewusstsein nachzugehen, in
166 die speziellen wahrnehmungsanalysen
dem sein Gegebensein besteht, und zwar nach darstellenden Inhalten und
Auffassungen. Unverkennbar ist, dass wir ebenso, wo immer wir von den
cogitationes sprechen und sie nach ihrem eigentümlichen Sein studieren,
wir damit zeitliche Einheiten der immanenten Sphäre zunächst vor Augen
haben, und dass wir auch bei ihnen den Schritt zurück machen, also nach
der Gegebenheitsweise fragen müssen, in der sie sich konstituieren. Man
mag sagen, dass Zeitbewusstsein überall von einer gemeinsamen Gestaltung
ist, dass diese Untersuchung also nicht für jede Sorte immanenter Objekte
gesondert zu führen ist. Die Hauptsache ist, dass sie geführt werden muss
und dass es zur Einsicht kommen muss, dass zeitliche Einheit nicht etwas
Letztes ist, sondern nur in und mit einem eigentümlichen und wunderbar
gebauten Bewusstsein sich intentional Konstituierendes.
einwohnt, ist nicht wirklich Dasein, wirklich leibhaft Gegebensein in und mit
der Wahrnehmung. Anders steht es mit der reflektiven Wahrnehmung, in der
wir eine cogitatio erfassen; z.B. wenn wir im Hinblick auf eine Wahrnehmung
sagen, sie sei selbstgegeben. Und ebenso bei jeder cogitatio. Fühlen wir, und
blicken wir auf das Gefühl hin, so ist das Gefühl in diesem wahrnehmenden
Hinblicken nicht bloß als selbst da seiend präsentiert, sich gleichsam dafür
ausgebend, sondern das Gefühl ist im absoluten Sinn selbst da, ist in und
mit der Wahrnehmung in seinem Selbst- oder Leibhaftsein wirklich gefasst;
ein Zweifel, ob es sich bloß präsentiere, sich sozusagen als leibhaftes Dasein
ausgebe, während es in Wahrheit nicht sei, ist völlig ausgeschlossen.
Da haben wir zugleich zweierlei Wahrnehmungen in Kontrast gebracht,
die eine die Wahrnehmung von Transzendentem, die andere Wahrnehmung
von Immanentem.
Was bedeutet die Rede von Immanenz und Transzendenz? Betrachten
wir das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Gegenstand beiderseits, so
finden wir eben den Unterschied, dass wir zwar beiderseits mit Evidenz sagen
können, die Wahrnehmung sei Wahrnehmung von dem und gerade dem
Gegenstand, aber nur in dem einen Fall sagen können, in der Wahrnehmung,
in ihr rein an und für sich genommen, sei der Gegenstand wirklich in seinem
Selbstsein gefasst, in ihr selbst sei er wirklich da, sie fasse ihn wirklich und
wahrhaft selbst; im andern Fall, etwa bei der Hauswahrnehmung: sie in ihrem
Selbstsein umfasse ihn nicht wirklich in seinem Selbstsein, in ihr stelle er
sich selbst dar, aber diese Selbstdarstellung sei nicht Selbstdasein in ihrem
Selbstsein. Wir können auch so sagen: In jeder Wahrnehmung, allgemeiner
in jeder Perzeption, ist das Intentionale charakterisiert als selbst da, im
Gegensatz zur Phantasievorstellung, in welcher das Objekt in einem anderen
Charakter erscheint. Das gilt also von der entlarvten Illusion ebenso wie von
der Wahrnehmung. Die Perzeption ist Perzeption vom Objekt, besagt da
nicht: das Objekt ist in der Perzeption, denn das Objekt ist überhaupt nicht,
obschon es evident ist, dass die Perzeption Perzeption von ihm ist. Das Objekt
in der Wahrnehmung von Immanentem ist aber im Sinne der Wahrheit in
der Wahrnehmung, sie ist nicht bloß Wahrnehmung von ihm, sondern es
ist in Wahrheit in der Wahrnehmung. Erfassen wir hier einen Unterschied
zwischen bloß erscheinendem Sein, allgemeiner zwischen bloß Vorgestellt-
und Gedachtsein und Wahrhaftsein, und beachten wir, dass historisch gerade
das bloß Vorgestelltsein als Immanentsein in der Vorstellung bezeichnet
worden ist, so erfordert die Betonung des Immanentseins im Wirklichkeits-
oder Wahrheitssinn ein unterscheidendes Wort. Nicht selten diente der ter-
minologische Gegensatz von „ideell“ und „reell“ zu solchen Zwecken. Das
rekapitulation einiger für das verständnis wichtiger punkte 169
bloß Vorgestellte ist bloß ideell in der Vorstellung; sie stellt es eben bloß vor;
das reell in etwas Seiende ist in ihm Wirklichkeit, ist selbst seiend, und seiend
schlechthin bedeutet immer wahrhaft seiend. Sagten wir also, die reflektive
Wahrnehmung einer cogitatio sei reell immanente Wahrnehmung, so sollte
das heißen: In der Wahrnehmung ist die cogitatio nicht bloß im ideellen Sinn,
nämlich sie sei nicht bloß Wahrnehmung von ihm, während es gar nicht zu
sein brauchte und von ihr nicht in Wirklichkeit selbst gefasst sei, sondern
eben das Gegenteil. Was das In-der-Wahrnehmung-Sein
W sonst bedeutet,
was dem Worte „in“ entspricht, das ist eine Sache für sich. Nur so viel
dürfen wir, scheint es, sagen: Die Wahrnehmung, die sich immanent auf eine
cogitatio, etwa auf einen lebendigen Schmerz richtet oder auf eine erlebte
Hoffnung u.dgl., ist einerseits selbst Wirklichkeit und andererseits erfasst
sie Wirklichkeit; und diese beiden Wirklichkeiten stehen in der Reflexion
als so geeinigt da, dass eine Rede von „eins im andern“ gerechtfertigt ist.
(Nicht ohne Anhalt gebrauchen wir ja all die bildlichen Ausdrücke wie: die
Wahrnehmung fasst, hat das Wahrgenommene, und zwar wirklich, es hat es
selbst in seinem wirklichen Selbstsein; das Gehabte ist im Habenden, und
zwar reell, nicht bloß ideell.)
All das, was ich ausgeführt habe, beschreibt gesehene Unterschiede. Es
besagt aber nicht, dass hier phänomenologische Analyse zu Ende ist und hier
nicht Probleme vorliegen.
Wir haben nun auch allerlei reelle Analysen vollzogen, und zwar hinsicht-
lich der beiderlei Wahrnehmungen. Reelle Analysen, das besagt: Wir haben
z.B. die transzendente Dingwahrnehmung vorgenommen und, sie in einen
wahrnehmenden Blick hineinbringend, die Bestandstücke zu bestimmen
gesucht, die aus ihr sich als reell immanente Gegebenheiten herausstellen
ließen. Wieder ist der Sinn dieser Analysen aus der Art der Analysen selbst
zu entnehmen, also auch die hier maßgebliche Rede von Bestandstücken.
Gehen wir von einer Dingwahrnehmung zur Reflexion über, zu der Wahr-
nehmung, die sie zur Selbststellung bringt, so finden wir darin das, was wir
Perzeption nannten oder die „Erscheinung“: physische Inhalte, so und so
sich ausbreitend und einen Menschen darstellend. Studieren wir schwan-
kende Auffassungen, Zweifelswahrnehmungen: „Ist das ein Mensch, ist das
eine Puppe?“, so finden wir, dass sich dabei zur Abhebung bringen lassen
physischer Inhalt und Charakter der Auffassung oder Darstellung. Nämlich,
sehen wir uns reflektiv die miteinander streitenden Wahrnehmungen an,
so finden wir oder können wir bei passend verstandenem Beispiel finden,
dass die Farbeninhalte und sonstigen verwandten Inhalte beiderseits iden-
tisch bleiben; aber gleichwohl erscheint einmal eine Puppe, das andere Mal
170 die speziellen wahrnehmungsanalysen
ein Mensch. In der unreflektierten Haltung liegt nichts weiter vor als ein
eigentümlich charakterisiertes Umschlagen einer dastehenden Gegenständ-
lichkeit in eine andere, also eine in die andere sich gleichsam umwandelnde.
In der reflektierten Haltung finden wir: das sinnliche Material, der Komplex
physischer Inhalte, Farben, taktile Inhalte u.dgl. beiderseits identisch das-
selbe, aber beide in verschiedener Weise gleichsam beseelt. Ein Überschuss
ist da, und dieser Überschuss ist es, der beiderseits das Plus der Erscheinung
gegenüber der bloß da seienden Komplexion physischer Daten ausmacht.
Die physischen Daten sind nicht bloß da, und zwar alle reell immanenten, in
der Reflexion reell gegebenen Daten; sondern mit ihnen ist etwas gemeint,
mit ihnen stellt sich etwas dar, und zwar einmal eine Puppe und einmal
ein Mensch. Sie gelten gleichsam nicht für sich, sondern als Repräsentanten
für etwas anderes, sie stellen dar, sie erfahren Auffassung, oder besser: sie
sind Träger für Auffassung. All das besagt dasselbe, und all das soll absolut
nichts anderes besagen, als dass eine gewisse eigentümliche Tingierung die
physischen Daten beseelt und dass diese etwas toto coelo Verschiedenes
ist von den physischen Daten, eben das, was sie zu Erscheinungen macht.
Ich habe ausführlich darüber gesprochen und immer wieder betont, dass
Darstellung nicht besagen soll, dass in einer äußeren Wahrnehmung erst
der sinnliche Inhalt hingesetzt ist oder dasteht und dann etwas tut, nämlich
darstellen, und ebenso, dass Auffassung nicht sagt, dass wir erst bloß sinnliche
Inhalte, bloß physische Daten vor unseren Augen haben und dann etwas mit
ihnen tun, eine auffassende Tätigkeit üben, sondern dass Auffassung absolut
nichts anderes besagt als ein reell mit den physischen Daten einiger, sie be-
seelender, sie tingierender Charakter. Das Wort „beseelen“ sagt es ja schon.
Es ist ein Seele gebender Charakter; aber nicht stehen wir da, tun ihm etwas,
nämlich ihm Seele einhauchen. Nichts ist gemeint, als dass die Reflexion auf
die Puppen- und mit ihr kämpfende Menschwahrnehmung reell vorfindet
zweierlei Erscheinungen, zweierlei Perzeptionen, und dass an diesen reellen
Vorfindlichkeiten ein Identisches zu finden ist, die puren physischen Inhalte,
und ein eigentümlich Unterscheidendes, das nicht daneben liegt, sondern
sie durch und durch beseelt, und dieselben Inhalte einmal so beseelt, dass
das Ganze nun Erscheinung von Puppe und das andere Mal Erscheinung
von Mensch ist. Und so können wir nun überall auf die physischen Daten in
einer Wahrnehmung achten, natürlich reflektierend, und dann wieder auf den
Charakter achten, der aus ihnen erst Erscheinungen macht, wobei das unver-
meidliche Wort abermals nicht ein Machen im wirklichen Sinn bedeuten soll.
Jedes Wort ist da gleich missverständlich. Nicht einmal „ergänzt“ können wir
sagen, weil es sich nicht um ein bloßes Zusammensetzen von Teilen zu einem
rekapitulation einiger für das verständnis wichtiger punkte 171
Herausbilden der Einheit aus der Mannigfaltigkeit kaum vermeiden kann. Es ist aber ein Bild,
und nicht mehr. Dazu kommt, dass der erste Aspekt gewiss notwendig Ungenauigkeiten mit
sich bringt, ja direkte Fehler, wenn man die Zusammenhänge, die man in ihm gesehen hat, so
interpretiert, wie sie fast unvermeidlich interpretiert werden müssen. Mit anderen Worten: was
gesehen ist, ist natürlich gesehen und unzweifelhaft. Aber man muss erst lernen, die sprachlichen
Ausdrücke rein nach dem wirklich Gesehenen orientiert zu halten, und wieder lernen, zwischen
Gesehenem und nicht Gesehenem und doch Seiendem zu unterscheiden und es problematisch
zu finden, ob die Interpretation des nicht Gesehenen nach Maßgabe dessen, was sich in der
Wendung des wahrnehmenden Blickes darauf hin darbietet, ohne weiteres zulässig ist.
1 Vgl. Dingvorlesung 1907 (Hua XVI, 23 f.).
rekapitulation einiger für das verständnis wichtiger punkte 173
1 Randbemerkung (später) Vgl. für das Weitere gleich 107 (= unten S. 176 f.).
2 Randbemerkung Nicht sehr klar. Mündlich verbessert. Vgl. die folgenden Blätter.
174 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Tonwahrnehmung ist nicht bloß physisches Datum Ton. Denn wir lassen es
zu und müssen es, scheint es, doch zulassen, dass ein Toninhalt Erlebnis ist,
aber nicht gegenständlich dasteht als ein immanent Wahrgenommenes. Ist
der Ton transzendent darstellend, z.B. aufgefasst in der Weise „Geigenton“,
so ist mit dem physischen Datum als Beseelung verwoben diese darstel-
lende Auffassung. Ist der Ton aber immanent wahrgenommen, so entfällt
zwar diese transzendente Auffassung, aber etwas dieser Auffassung Ent-
sprechendes muss auch jetzt vorhanden sein. Der Toninhalt fungiert nicht
als Repräsentant für anderes, aber er fungiert selbststellend, er gilt gewis-
sermaßen als er selbst. Dazu kommt auch das Moment der Aufmerksamkeit
und der Seinssetzung, hier analog wie bei der äußeren Wahrnehmung. Das
ist es, was wir da also zu unterscheiden haben.) Aber im Übrigen, wenn
wir uns auf die pure Perzeption beschränken, so scheint es, dass wir nichts
anderes finden, und evidenterweise nichts anderes als zur Perzeption gehörig
bezeichnen können als eben: das den physischen Inhalt ergänzende spezifi-
sche perzeptionale Moment, das Selbstauffassungsmoment. Das scheint ein
unterschiedloses Moment zu sein. Die Vielgestaltigkeit der transzendenten
Auffassungen liegt darin, dass, wie wir festgestellt haben, dasselbe physische
Datum transzendent in sehr verschiedener Weise aufgefasst sein kann. Das
fällt hier aber fort. Was sollte es hier noch für Unterschiede geben? Nun
haben wir jetzt allerdings in Erweiterung unserer früheren Betrachtungen
die Zeitlichkeit des Wahrgenommenen mit in Rechnung gezogen, die wir
früher ganz außer Acht gelassen hatten. Wie ist für diese Zeitlichkeit des
Objekts innerhalb der Perzeption Rechenschaft zu geben? Es scheint nur
so, dass der Charakter der Selbstauffassung, der das immanente physische
Datum beseelt, von Moment zu Moment sich etwas modifiziert. Jedes Jetzt
der Perzeption stellt ja nicht nur ein Neues vor, nämlich eine neue Phase
des Tones, sondern ist selbst ein Neues. Aber diese Modifikation ist keine
Modifikation, möchte man sagen. Die Selbstauffassung dauert eben, und
in unterschiedloser Art; nur eben zeitlich sich extendierend fasst sie den
stetig andauernden (evtl. inhaltlich unveränderten, evtl. inhaltlich sich än-
dernden) Ton. In der Tat, was finden wir in der Reflexion, wenn wir die Weise
solcher reell immanenter Gegebenheit beschreiben sollen? Doch nichts als
das Hinsehen auf den Ton, das Den-Ton-selbst-Nehmen, Auf-ihn-Achten,
Ihn-Setzen, also nichts weiter als Modi der Setzung und Aufmerksamkeit,
und sonst nur das Selbstnehmen als ein unterschiedlos über die Zeit des
Tones sich Hinstreckendes.
rekapitulation einiger für das verständnis wichtiger punkte 175
Sehen1 wir jetzt auf den parallelen Fall der äußeren Wahrnehmung und
nehmen wir etwa den Fall einer Hauswahrnehmung, so verhält es sich hier
mutatis mutandis ebenso, nur etwas komplizierter. Der Dauer des Objekts
Haus entspricht in der dauernden Wahrnehmung die dauernde Erscheinung.
So gut wie das Haus ein dauerndes Objekt ist, auf das wir eingestellt sein kön-
nen, können wir auch uns einstellen auf die Hauserscheinung, gewissermaßen
das Hausbild. Jedem Zeitpunkt der Dauer des Hauses, das erscheint, ent-
spricht ein Zeitpunkt der Dauer der Erscheinung, und speziell der eigentli-
chen Erscheinung, und damit verwoben der leeren Erscheinung. Dazu wieder
die dauernde Setzung, die dauernde Aufmerksamkeit usw. Also was wir unter
dem Titel „Wahrnehmungsanalyse“ geboten haben in der ganzen ersten
Schicht von Betrachtungen, das war die Herausstellung einer eigentümlichen
neuen individuellen Objektivität, die charakteristisch angedeutet ist, wenn
wir das Wortepaar „Erscheinung“ und „Erscheinendes“ gegenüberstellen.
Dabei hat die Erscheinung sozusagen eine phänomenologische Zusammen-
gerafftheit im Vergleich mit den Momenten der Aufmerksamkeit. Überlegen
wir: Wir sagen: „Der Ton steht da, das Haus steht da.“ Indem es aber dasteht,
erscheint es, und die Erscheinung ist, und ist selbst eine individuelle Gegen-
ständlichkeit; sie ist nicht wahrgenommen in der Wahrnehmung des Hauses,
aber sie ist in ihr in gewisser Weise bewusst, sie muss da sein, in ihr erscheint
erst der Ton bzw. das Haus. Ferner ist auch da das Moment Aufmerken-
auf, aber in ganz anderer Weise wie die Erscheinung. Und wieder ganz etwas
anderes ist der Modus der Stellungnahme als Glaube, Unglaube u.dgl. Die Er-
scheinung macht einen geschlossenen Kern, etwas gleichsam in sich Seiendes
aus. Sehen wir nun von diesen letzteren Momenten und Modis ab und bleiben
wir bei der Erscheinung stehen, so schien sie also den Kern der Wahrneh-
mung auszumachen. Und zweifellos, Wahrnehmung in einem gewissen Sinn
ist wirklich nichts als jenes eigentümliche Haben von perzeptionalen Erschei-
nungen, in dem nicht sie, sondern ein Erscheinendes Objekt ist (abgesehen
von jenem von uns ausgeschlossenen Charakter Aufmerksamkeit u.dgl.).
Nun stoßen wir aber auf völlig neue Gegebenheiten dadurch, dass wir
fragen: Wie kann die Wahrnehmung mit ihrer Erscheinung die Zeitlichkeit
des Wahrgenommenen zur Gegebenheit bringen, und wie verstehen sich jene
verschiedenen aufeinander bezogenen Gegebenheiten Ding, Eigenschaft,
Vorgang? Kann das die Wahrnehmung, von der wir sprachen und die wir
analysiert hatten?
1 Die drei folgenden Absätze wurden später durch Nullen als nicht mehr brauchbar gekenn-
zeichnet.
176 die speziellen wahrnehmungsanalysen
1 Gestrichen Die „Wahrnehmung“ eines immanenten Objekts oder, um die Sache zu ver-
einfachen, die pure Perzeption, die pure Erscheinung, deckt sich mit dem immanenten Objekt
selbst. Der immanente Ton ist der Gegenstand, die Tonperzeption, als „Erscheinung“ dieses
Tones, ist der aktuell erlebte Ton als er selbst genommen. Vielleicht tun wir gut, das letzthin
hierzu Gesagte etwas zu modifizieren und geradezu zu sagen: In der immanenten Objektsphäre
rekapitulation einiger für das verständnis wichtiger punkte 177
Nehmen wir die Wahrnehmung eines Hauses, so scheiden wir die Er-
scheinung des Hauses von der primär bevorzugenden Aufmerksamkeit und
von der Ansetzung als Wirklichkeit. Was ist die Erscheinung des Hauses?
Eine Objektität, und zwar eine dauernde Objektität. Und ihr Eigentümliches
ist, dass sie in jedem Jetzt ist und zugleich Erscheinung vom Haus ist, und
vom Jetztpunkt des Hauses ist. Indem die Erscheinung dauert, dauert eine
Objektität, die das dauernde Haus zum Objekt hat. Wir können auf die
Erscheinung in dieser ihrer Eigenart wahrnehmend gerichtet sein und auf
sie achten. Wir blicken auf die erscheinende Hausseite etwa hin und dann auf
die Weise, wie sie sich darbietet, und da fassen wir eine dauernde Objektität,
die, wenn wir uns nicht bewegen, unseren Blick fixiert halten u.dgl., ein
ruhendes Ding ist, ein unverändertes Identisches in der Kontinuität der
Zeit. Wir haben e in Ding, ein „immanentes Ding“, das ein äußeres Ding
vorstellt. Wir nennen dieses Ding eine Vorstellung, eine Anschauung, eine
perzeptive Anschauung. Darin schieden wir: 1) sinnliche Daten. Aber das
sind wieder Dinge, nämlich Dauereinheiten, immanente Gegebenheiten. 2)
Mit Rücksicht auf die Möglichkeiten verschiedener Erscheinungen aufgrund
desselben Gehalts an Empfindungsinhalten, d. i. an solchen immanenten
Dabilien, unterschieden wir auch Charaktere der Auffassung, die aber selbst
wieder Einheitscharaktere in der Zeit sind.
Beschränken wir uns auf immanente Objekte, und zwar auf physische der
Art wie Ton, so mussten wir korrekterweise sagen: Erscheinung und Objekt,
immanente Tonerscheinung und immanenter Ton sind hier einerlei. Was ich
letzthin gegen Schluss sagte, ist zu modifizieren. In der Einstellung, in der wir
jetzt sind, kann nicht in der immanenten Wahrnehmung Inhalt und Auffas-
sung unterschieden werden. Man muss hier sorgsam darauf achten, dass man
nicht aus einer Einstellung in die andere verfällt, die wir erst nach höherer
vollziehen sollen. Nun haben wir also immanente Gegebenheiten, die den
Charakter von zeitlichen Objekten, von Dingen haben, und transzendente
Gegebenheiten, die sich in immanenten Dingen vorstellen, in Erscheinungen
von etwas, was sie nicht selbst sind.
Wir machen einen Schritt weiter. Wir unterschieden Erscheinung von
Erscheinen, wir unterschieden Wahrnehmung von Wahrnehmen. Wir spra-
chen oft von Reflexion: Dieses Wort gewinnt eine neue Bedeutung. Es
zeigt sich, dass es vieldeutig ist. Reflexion kann den Übergang besagen von
der Einstellung, in der wir das Haus sehen, zu der Einstellung, wo wir die
fällt Erscheinung und Erscheinendes zusammen, nämlich wofern wir Erscheinung verstehen als
die identische Objektität, die zeitlich ausgebreitet ist in jedem Jetzt.
178 die speziellen wahrnehmungsanalysen
des Hauses hinsahen, einmal als dauernde dingliche Objektität, die in der
beschriebenen Beziehung zum dauernden Objekt Haus stand, einmal in der
Beziehung, eben Erscheinung von ihm zu sein. Wir können aber den Blick
auch anders einstellen, wir können es sehen und darauf achten, dass mit dem
Jetzt der Erscheinung allerdings auch ihr Nichtjetzt, ihr soeben Vergangen,
und zwar in einer stetigen Kontinuität von Vergangenheiten, bewusst ist
und dass eben damit von aktuellem Jetzt zu aktuellem Jetzt immerfort die
Vergangenheit des erscheinenden Objekts mit seiner Gegenwart einheitlich
zur Erscheinung kommt. Am besten gehen wir, um das sichtlich zu machen,
allerdings nicht so gut von unverändert erscheinenden Objekten aus, wie bei
dem Hausbeispiel, sondern von sich verändernden und in sich verändern-
den Erscheinungen erscheinenden. Also z.B. ein Geigenton, der mit einem
kratzenden Geräusch anhebt und mancherlei Veränderungen erfährt, oder
ein Stück Melodie, ein visuell mit markanten Eigentümlichkeiten ausge-
statteter visueller Vorgang u.dgl. Die Erscheinungen von diesen objektiven
Vorgängen sind natürlich ebenfalls Vorgänge bzw. sich verändernde zeitliche
Gegenständlichkeiten.
Wir fassen nun eine bestimmte ausgezeichnete Phase der objektiven Ver-
änderung ins Auge, etwa einen Ton der gesungenen Melodie. Diese Phase
erscheint perzeptiv jetzt. Jeder Zeitpunkt der perzeptiven Erscheinung ist
ein Jetzt, und aus lauter solchen Jetzt baut sich ihre Dauer auf, so wie
aufseiten des erscheinenden Objekts dessen Dauer sich aus den Jetztphasen
des Objekts aufbaut. Jene ausgezeichnete Phase der Melodie geht vorüber.
Der Melodievorgang fließt weiter ab und ebenso seine Erscheinung. Ange-
nommen, wir stehen in einem bestimmten neuen Jetzt, in dem ein bestimmter
neuer Ton der Melodie zu neuer Perzeption kommt: Das frühere Jetzt mit
dem früheren perzipierten Ton ist dahin; die Erscheinung, die ihn perzep-
tiv brachte, ist nicht mehr, so wie der Ton selbst nicht mehr ist. Aber im
nunmehrigen aktuellen Jetzt ist die frühere Erscheinung nicht einfach dahin,
nicht spurlos vergangen. Vielmehr ist eine Spur eben übrig. Und wie wir
sogleich sehen, nicht bloß von der Erscheinung des ausgewählten früheren
Tones, sondern von der ganzen abgelaufenen Tonreihe hinsichtlich ihrer
Erscheinungen. Das können wir uns wirklich zum Schauen bringen. Statt im
Melodiebewusstsein zu leben, achten wir auf den Gang der Erscheinungen
und Erscheinungsabschattungen; wir merken, dass bei der Perzeption des
zweiten Tones der erste, bei der Perzeption des dritten noch der zweite
und weiter zurück noch der erste lebendig ist. N och lebendig ist aber nicht
wirklich lebendig. Aktuell sind die perzeptiven Erscheinungen nicht da,
sonst hätten wir ein Zusammen von wirklichen perzeptiven Erscheinungen,
180 die speziellen wahrnehmungsanalysen
und darin erschiene notwendig ein gleichzeitiges Zusammen von Tönen. Die
Töne aber stehen nicht wirklich da, nicht als wirklich perzipierte – nur vom
Jetzt-Ton gilt das –, vielmehr erscheinen sie in Form bloßer Retentionen, in
abgestufter Weise.
Also wohl zu scheiden ist das objektive Nacheinander der Töne, wieder
das objektive Nacheinander der Perzeptionen der Töne und die in irgend-
einem herausgehobenen Jetzt, in Zusammenhang mit irgendeiner herausge-
hobenen perzeptiven Erscheinung gegebene Reihe abgestufter Tonretentio-
nen, in denen Töne nicht als jetzt seiend, sondern als soeben gewesen, als
noch lebendig, aber nicht wirklich lebendig gegeben sind.
So finden wir verschmolzen mit jeder neuen Phase der Wahrnehmungser-
scheinung eine Kontinuität von abklingenden Retentionen, einen Kometen-
schweif von retentionalen Modifikationen, die sich auf das vergangene Jetzt
der wahrgenommenen Gegenständlichkeit beziehen, in unserem Beispiel
auf die vergangenen Töne der Melodie. Natürlich gilt dasselbe von jedem
einzelnen Ton in sich selbst und seiner perzeptiven Erscheinung. Er dauert,
und indem er als dauernd dasteht, gehört zu jeder Phase seiner perzeptiven
Erscheinung die Serie von Erscheinungsmodifikationen, die sich auf die
früheren Jetztpunkte in ihrer Kontinuität beziehen. In dieser Weise ist also
in jedem Jetzt der Wahrnehmung bzw. der Perzeption nicht nur ein Jetzt
(des Objekts) perzipiert, sondern es ist zugleich eine Vergangenheitsstre-
cke des Objekts mitbewusst, und nur so kann Dauer und kann ein Objekt
als dauerndes und kann ein Vorgang wirklich als Vorgang dastehen. Das
Mitbewusstsein der Vergangenheit ist ihr Bewusstsein durch das Medium
der retentionalen Abschattungsreihen. Zu beachten ist, dass dieses Vergan-
genheitserfassen nichts Getrenntes ist von einem Erfassen der Gegenwart im
aktuellen Jetzt: Das Jetzt des Dinges ist Jetzt in seiner Dauer, es ist Grenze der
Dauer, eine immer neu aufflammende und wieder verlöschende, sich modifi-
zierende Grenze. Das Jetzt ist nichts ohne das Gewesen und ist nur als Grenze
des Gewesen, oder vielmehr einer Kontinuität von Gewesenheiten denkbar.
So ist auch die Jetzterscheinung als solche nur denkbar als Grenze einer
retentionalen Kontinuität von Erscheinungsmodifikationen, die ihrerseits in
gewissem Sinn den Charakter von Erscheinung von Gewesenheiten haben.
Inwiefern haben wir nun einen neuen Begriff von Wahrnehmung bzw.
von Perzeption, perzeptiver Erscheinung? In der Tat ist es leicht zu sehen,
dass der Begriff von perzeptiver Erscheinung, von dem wir ausgingen, nicht
das mindeste von jenen Abschattungsreihen enthält, mit denen sich Wahr-
nehmung im neuen Sinn, nämlich im Sinn von Wahrnehmen aufbaut. Das
Wahrnehmen ist der Fluss von Erscheinungsphasen und Mannigfaltigkeiten
rekapitulation einiger für das verständnis wichtiger punkte 181
von retentionalen Phasen, die so angeordnet sind, dass der linearen Reihe
der Punkte der objektiven Dauer entsprechend, zu jedem solchen Punkt ein
aktuelles Jetzt und die Kontinuität des Gewesen gehört, zu jedem aktuellen
Jetzt eine perzeptionale Erscheinungsphase und ein Kometenschweif von
retentionalen Abschattungen, die sich auf die Gewesenheiten beziehen. Und
jedes Jetzt geht über in stetig neue Jetzt, d. i. dieser Fluss des Wahrnehmens
besteht darin, dass jede perzeptionale Erscheinungsphase mit ihrem Kome-
tenschweif sich stetig abschattet; das Jetzt in ein soeben Gewesen, das soeben
Gewesen in ein früheres Gewesen. Und das alles besagt: Die entsprechenden
Darstellungen schatten sich in gesetzmäßiger Weise ab; ein immerwährender
Fluss.
Dagegen ist die Wahrnehmung im ersten Sinn kein solcher Fluss, sondern
ein immanentes Dauerobjekt, in dem sich nicht einmal etwas zu verändern
braucht. Zum Beispiel die Hauserscheinung bei ruhendem Blick und unver-
änderter Körperhaltung ist eine dauernde unveränderte Erscheinung, und
zu dieser gehört gar nichts von diesen Abschattungen, die das Erscheinen
ausmachen.
Wir können das auch so deutlich machen. Wenn wir einen Ton hören und
von aller Transzendenz abstrahieren, so dass wir ihn als immanentes Objekt
setzen, so ist er ein immanent Dauerndes und eine zweifellose Gegebenheit.
Das ändert aber nichts daran, dass er sich „konstituiert“, d. h. dass diese
Dauereinheit notwendig zurückweist auf ein Erscheinen, auf eine Kontinui-
tät von Tonjetzt, die immerfort retentionale Modifikationen erfahren, und
dabei so, dass mit jedem Tonjetzt, das eine Phase der Tondauer ausmacht,
eine Kontinuität von Tonretentionen zumal gegeben ist. Und nun fließt jede
solche Reihe mit ihrer Jetztgrenze sich stetig modifizierend weiter: Nur so
kann Dauereinheit dastehen, und das esse dieses immanenten Tones ist ein
esse, das in solchem Fluss von perzeptionalen und retentionalen Übergängen
wesentlich gegeben ist und von ihm in seinem Sein unablösbar ist.
Wenn wir nun eine äußere Wahrnehmung nehmen, so steht da etwa das
Haus. Wir können nun erfassen die Hauserscheinung als ein immanentes
Objekt, somit als die Dauereinheit, so wie jener Ton. Natürlich gilt von der
Hauserscheinung wieder dasselbe. Sie weist zurück auf das Hauserscheinen,
überhaupt auf kontinuierliche retentionale und perzeptionale Darstellungs-
reihen, in denen das Wahrnehmen des Hauses bzw. das Wahrnehmen der
Erscheinung des Hauses besteht.
Es ist nun klar, dass wir auf diese erweiterte Sphäre überall in der Phä-
nomenologie Rücksicht zu nehmen haben. Jede aktuelle cogitatio – Hume
würde sagen: jede Impression – machen wir zum Objekt, indem wir darauf
182 die speziellen wahrnehmungsanalysen
hinblicken, indem wir es erfassen als ein Identisches der Dauer: als dieses
so und so dauernde, unveränderte oder veränderte Gefühl, als dieses Urteil,
als diesen Willen usw. Aber diese cogitationes sind Einheiten, die auf einen
tieferen Untergrund von Mannigfaltigkeiten zurückweisen. Sie stehen im
retentionalen Bewusstseinsfluss, in jeder Phase ihrer Dauer schatten sie sich
ab, und in der Abschattung stellt sich Vergangenheit dar, ohne die Dauer
nicht als Dauer sich konstituieren kann.
Achten wir also auf die physischen Inhalte, welche den sinnlichen Kern
perzipierter Erscheinungen von individuellen Objektitäten (Dingen oder
Vorgängen) ausmachen, so finden wir in der jetzigen Blickstellung einen
ewigen Fluss. Und nicht nur sie sind in einem Fluss, und nicht ist auch die
Sache so zu verstehen, als ob sie sich bloß empfindungsmäßig modifizieren.
Vielmehr gilt dasselbe von den Auffassungen. Jedem aktuellen Empfindungs-
jetzt entspricht seine Auffassung, die es zur aktuellen Perzeption ergänzt, und
die ganze Perzeption, die ganze Erscheinung modifiziert sich und verliert den
Charakter der Jetzterscheinung, der Erscheinung eines aktuellen Jetzt. Sie
erhält den Charakter einer Erscheinung, in der sich Gewesensein vorstellig
macht. Dabei entspricht der Ordnung dieser Modifikationen die Ordnung
der Vergangenheiten, und ihrer Stetigkeit die Stetigkeit der mit dem aktuell
perzipierten Jetzt miterscheinenden Dauer.
Es ist nicht so, als ob das Wahrnehmen eines jeden Moments darin be-
stände, auf das so durch physische Inhalte Gegebene „hinzublicken“. Das
Wahrnehmen eines jeden Moments nimmt weder den aktuell jetzt emp-
fundenen Toninhalt wahr, der die Obergrenze der Abschattungsreihe ist,
noch die ganze Abschattungsreihe. Dergleichen ist nicht das irgendwo in der
Wahrnehmung des Tones Wahrgenommene, sondern kommt uns erst in der
Reflexion auf diese Wahrnehmung zur Gegebenheit. Den Ton wahrnehmend
steht nichts anderes da als der Ton, und zwar der Ton in seiner Zeitlichkeit;
in jedem Jetzt steht da der jetzt seiende, aber zeitlich dauernde Ton. Das
Jetzt ist ein bloßer Durchgangspunkt, und in ihm ist das Bewusstsein von
dem Gewesensein nicht verloren gegangen; im Gegenteil: die Extension in
die Vergangenheit steht vor dem Auge, die Tongegenwart ist Grenze einer
linearen Kontinuität von Vergangenheiten. Der Abschattungszug nun einer
speziell von uns bevorzugten vergangenen Tonphase, die im Jetzt mit dem
Empfindungsjetzt des Tones verschmolzen ist, ist aber nicht jene Kontinuität
der Vergangenheit, in der der Ton im Jetzt das fließende Ende bildet. Die
Abschattungsreihe gehört zum Jetzt und ist keine Vergangenheit. Vielmehr
so kommt das Vergangenheitsbewusstsein zustande, dass die im Jetzt erlebten
physischen Nachklänge eine gewisse repräsentative Funktion tragen, dass
rekapitulation einiger für das verständnis wichtiger punkte 183
sie einen beseelenden Charakter haben, der ihnen gleichsam die Bedeutung
von Repräsentanten für Vergangenes gibt. Doch das alles darf wieder nicht
missverstanden werden. Es ist genau das zu beachten, was wir vorhin von
Auffassung überhaupt sagten.
Indem nun die Wahrnehmung fortdauert, also stetig ihr zeitliches Sein ex-
tendiert, gehört zu ihrem Bestand in jedem neuen Jetzt ein neues Tonempfin-
dungs-Jetzt. In jedem stetig neuen Jetzt schattet sich aber der Inhalt des
eben gewesenen Jetzt ab, in dem abermals stetig neuen Jetzt schattet sich
die Abschattung wieder ab, ebenso wie sich das neue Empfindungsjetzt neu
bildet und das eben gewesene Jetzt zum ersten Abschattungspunkt wird
usw. Wir haben also einen stetig sich modifizierenden Fluss von Abschat-
tungskontinuen, immer wieder im aktuellen Empfindungsjetzt sozusagen
ein neues Licht aufsteckend, das aber alsbald verglimmt und schließlich
verlöscht. Dieser Fluss im Bestand der physischen Inhalte ist aber beseelt von
einem Auffassungsfluss, wodurch all diese physischen Mannigfaltigkeiten
den Charakter von „Erscheinungen“ erhalten, nämlich von Erscheinungen
eines Jetzt als Grenze einer Kontinuität von Vergangenheiten, und diese
Erscheinungen fließen selbst stetig dahin, sie bringen ja mit jedem Jetzt Neues
und die eben gewesene Erscheinung in allen Phasen stetig Modifizierendes.
In diesem Erscheinungsfluss waltet aber eine eigentümliche Einheit, nicht
bloß überhaupt Einheit einer Kontinuität, sondern durch all die neuen und
neuen Abschattungen in ihrer Folge geht hindurch Auffassungseinheit, die
es macht, dass wir überhaupt davon sprechen können, dass eine und die-
selbe Tonphase im Fortgang der Wahrnehmung sich immer weiter abschat-
tet derart, dass die immer neuen Abschattungen Abschattungen derselben
Zeitphase des Tones sind und bleiben. Einheit des Bewusstseins, von der
erkenntnistheoretisch so viel die Rede ist, das ist stetige Einheit der Auffas-
sung, in der bei allem beständigen Wechsel des reellen Inhalts Einheitliches,
Identisches intentional dasteht. Die in der Tonwahrnehmung erscheinende
Einheit ist eine lineare, die Tondauer bzw. der Ton in der Dauer. Das Tonbe-
wusstsein, d. h. die Tonwahrnehmung ist aber nichts Lineares, sondern eine
Kontinuität von Kontinuis, und nur in einer solchen kann Bewusstsein von
Dauer bestehen.
Ich achte auf das Tonjetzt und sage: Diese Tonphase sinkt in die Vergan-
genheit, sie ist gewesen und ändert sich inhaltlich nicht.
Andererseits sage ich: Der jetzt gegebene Empfindungsinhalt schattet
sich ab und ändert sich. Im einen Fall habe ich die Phase des Tones als Punkt
der Tondauer, das andere Mal habe ich das Tonmoment als darstellendes
Moment des Tonpunkts in seiner Abschattungsreihe.
184 die speziellen wahrnehmungsanalysen
Jetzt blicke ich auf die „Inhalte selbst“, auf die immer neuen hin; sie
bilden eine Abschattungskontinuität, die immer wieder eine neue ist und
Neues bietet. Da habe ich eine neue Objektität. Ich lasse etwa den Toninhalt
dahinschwinden, sich abschatten. Ich blicke dann hin auf die Abschattungs-
reihe. „Ich halte sie fest.“ Sie schwindet selbst dahin, aber ich nehme sie als
Einheit (ähnlich wie den Ton), und in dieser Einheit habe ich ein Kontinuum.
Ich „wiederhole“ diese Einheit in der Wiedererinnerung. Ich „durchlaufe“
sie. Dieses Durchlaufen kann ich hier vollziehen wie bei jeder Kontinuität,
und bei jeder führt das zur Rede von Veränderung. In der konstanten Farben-
kontinuität „ändert sich die Farbe“. Nämlich durchlaufe ich sie, dann habe
ich Koexistenz in Sukzession übergeführt und dabei das analoge Phänomen
wie bei einer zeitlichen und echten Veränderung. Da gibt es Problem über
Problem.
Beilage: Das Erscheinen ein Vorgang ebenso gut wie die Erscheinung. Das
Erscheinen ist notwendig ein Veränderungsvorgang. Der Ton ist eine Einheit, die
Tonabschattungsreihe ist auch eine Einheit, und zwar eine Veränderungseinheit, eine
sich verändernde.
Wie ist es nun. Führt diese Einheit „Tonerscheinen“ ebenso wie die Einheit „Ton“
wieder zurück auf ein Erscheinen?
Das Tonerscheinen ist der stetige Abschattungsverlauf. Der Vorgang des Ton-
erscheinens besteht doch aus Zeitphasen. Müssen diese nicht in Retention zurück-
behalten werden? Indem Abschattungsreihe auf Abschattungsreihe folgt im kon-
tinuierlichen Fluss, so muss in jedem neuen Jetzt die verflossene Reihe sich doch
„erscheinungsmäßig darstellen“, und so in infinitum.
1. Ton dauernd, das Haus dauernd dastehend.
2. Die Erscheinung des Hauses, gleichstehend mit: dauernder immanenter Ton.
3. Das Erscheinen des Tones. Das Erscheinen des Hauses. Das Erscheinen der
Erscheinung des Hauses.
Bewusstsein. Dieses schließt nicht die Erscheinung reell in sich. Kann man
von dieser noch im eigentlichen Sinn sagen, sie dauere, sie sei in der Zeit?
Also zwei „Wahrnehmungen“ unterscheiden sich. Die eine ist die Per-
zeption als Einheit, als Dauerndes: die einheitliche cogitatio, die andere ist
das Perzeptions„erlebnis“ im letzten Sinn, das absolute Bewusstsein, in dem
sich alle Einheit konstituiert, das aber selbst nicht Einheit ist. Es ist ein Fluss.
Ist dieser Fluss nicht Zeit?
Wenn ich auf das Rollen des Wagens achte, so achte ich auf den „objekti-
ven Vorgang“. Achte ich auf die Mannigfaltigkeit der absoluten Empfindung
mit ihren Abschattungen (der Repräsentanten für die einheitlichen Emp-
findungen und die Empfindungsgewesenheiten als reell immanente Inhalte
der einheitlichen Perzeption) oder achte ich auf die Mannigfaltigkeit der
Abschattung der Erscheinung, um das voll zu nehmen, so entspricht jedem
Jetzt eine Abschattungsreihe.
Ich sage aber, diese sei jetzt, sie bilde das Jetzt der Wahrnehmung in Hin-
sicht auf ihren Erscheinungsgehalt. Was heißt das? Habe ich da eine Dauer?
Habe ich da eine objektive Zeitreihe? Ich folge dem Abschattungszug, oder
vielmehr ich erhasche einen Abschattungszug (retentional im Aktualitäts-
punkt terminierend) und „er“ sinkt zurück, er modifiziert „sich“, ein neues
Jetzt, ein neuer Aktualitätspunkt ist da mit einer modifizerten Abschat-
tungsreihe usw. Das volle Jetzt ist der Abschattungszug mit dem Höhepunkt,
und der Fluss ist eine Einheit, und zwar eine zeitliche Einheit, möchte man
sagen, in der eine Veränderung statthat. Ein ständiges Sichverändern, ein
Erstrahlen und Verflammen hinsichtlich der Höhepunkte, ein Sichmodifizie-
ren hinsichtlich des ganzen Abschattungszuges, der Abschattungsschwärze;
der Kometenschweif wird immer wieder anders. Es scheint also, dass wir es
mit einer gewöhnlichen Zeitreihe zu tun haben.
Der Ton in seiner Bewegung oder ein Rollen des Wagens weist zurück
auf einen Fluss von Abschattungsreihen. Erste Zeitreihe: die des Rollens.
Zweite Zeitreihe: die der Erscheinungsabschattungen. Dann geht es weiter.
Dritte Zeitreihe: die der Erscheinungsabschattungen zweiter Stufe. Denn
ich habe in jedem Jetzt eine Erscheinungsabschattung: objektiv also eine
Kontinuität, eine lineare Zeitreihe von Erscheinungsabschattungen. Aber
jede Erscheinungsabschattung, die früher gewesen ist, ist jetzt repräsentiert
durch eine Abschattung von ihr, und so in infinitum.
Ich habe unendlich viele Zeitreihen. Natürlich, zu sehen ist davon nichts.
Es muss also doch wohl eine Konstruktion sein. Oder handelt es sich um
ideale Möglichkeiten, wie die Unendlichkeit der möglichen „Reflexionen“?
Ja, ist das Problem der unendlich viel möglichen Reflexionen nicht au fond
schlussbetrachtung: wahrnehmung als erlebnis 187
dasselbe Problem? Jede Reflexion scheint doch ein Objekt zu setzen, ein
individuelles Objekt, ein zeitliches.
Lösung. 1) Es ist ein absoluter Fluss von Erlebnissen. Das heißt, jedes
„aktuelle“ Erlebnis schattet sich ab, und die Abschattungen „erhalten sich“
im Zusammenhang mit den neuen aktuellen Erlebnissen und schatten sich
mit ihnen ab. Kurz, alles Seiende schattet sich ab, und die Abschattungen
bilden eine ewige Kontinuität. Der absolute Fluss.
2) Es besteht die ideale Möglichkeit einer Wahrnehmung als immanenter
Wahrnehmung. Sie setzt in einen Fluss Einheit, d. h. sie „erkennt“ in einem
Abschattungsfluss eine Dauereinheit.
3) Die Wahrnehmung ist selbst ein Erlebnis und schattet sich ab, und
sie kann verschieden orientiert sein. Ich kann auf das Jetztdarstellungsmo-
ment achten, und dann habe ich die Tonreihe. Ich kann immer im Jetzt
auf die gesamte Abschattung des Tones achten, dann habe ich die Reihe
der Abschattungen in ihrer Zeitfolge. Ich kann auf die Abschattung der
Abschattung achten, dann habe ich die Reihe der Abschattung zweiter Stufe.
Es scheint nicht, dass es weitergeht. Alles aber sind ideale Möglichkeiten,
die in der absoluten Beschaffenheit der Abschattungskontinuität gründen.
Es ist ein Strom.
Beilage 1: Der dauernde Ton. Der Vorgang des Dauerns des Tones (unverändert
und verändert bleiben). Die Wahrnehmung des dauernden Tones selbst ein Dauern-
des bzw. ein Vorgang.
Jedem Jetzt der Wahrnehmung entspricht ein Jetzt des Tones, dazu das sich zeitlich
Abschatten des Tones. Reell in der Wahrnehmung enthalten das Abschattungskonti-
nuum. Zu jedem Jetzt(K) gehört das Abschattungskontinuum A(K). Die Wahrnehmung
analysieren wir in der reflektiven Wahrnehmung W2 so, wie wir den Ton analysieren
(die Tondauer, den Tonvorgang in der schlichten Wahrnehmung W1). Analysieren
wir also W1, so finden wir darin die Phasen der Wahrnehmung. Jede Phase hat ihren
Zeitpunkt, und jede hat das in sich, was er im Jetzt, wenn es aktuell, in sich hat. So wie
der Ton in jedem Punkt der Dauer das ist, was er im jeweiligen Jetzt (aktualisierten
Zeitpunkt) ist.
W2. Betrachten wir jetzt die Wahrnehmung der Wahrnehmung = W2 (die wir
natürlich in W3 erfassen), so sagt uns das W3, dass diese Wahrnehmung von der
Wahrnehmung (W2) selbst wieder ihre zeitliche Dauer hat, dass jedes Jetzt derselben
das W1 als Grenze einer Abschattungsreihe enthält, dass also in der Wahrnehmung
von der Wahrnehmung wir eine Kontinuität von Abschattungskontinuitäten haben,
deren jede in einem W(K), in einem Jetztpunkt terminiert.
So kommen wir auf einen unendlichen Regress.
Der Ton fließt ab, der Tonvorgang ist eine Kontinuität von Tonphasen.
Reell bewusst ist aber nicht bloß eine Kontinuität von Tonempfindungen (jedem
ZeitpunktK der Dauer entsprechend das Tonjetzt, verstanden als Tonempfindung
188 die speziellen wahrnehmungsanalysen
dieses Jetzt), sondern eine Kontinuität von Tonabschattungen, deren jede in jener
Tonempfindung ek terminiert: evtl. zugleich eine Auffassungskontinuität. Diese Kon-
tinuität ist aber wieder eine zeitliche Kontinuität.
Also jede Abschattungsreihe schattet wieder ab, und auch das ist reell bewusst.
Und so in infinitum.
Es scheint also ein unendlicher Regress unausweichlich. Soll man sagen, er wird
dadurch vermieden, dass zwar der Ton sich konstituiert, und indem er es tut, ein
Bewusstsein von der Dauer des Tones statthat dadurch, dass eine „Weile lang“
Tonabschattungen sich an den Jetztton immer wieder anschließen und dass noch einen
Schritt weiter Reflexion darauf möglich ist, nämlich auch diese Tonabschattungen sich
abschatten, dass das aber nicht in infinitum fortgeht?
Das hieße: Wir kommen auf eine letzte Abschattungsreihe, die nicht mehr ein
Zeitbewusstsein begründet, das aber idealiter möglich ist, sofern es idealiter möglich
wäre, dass auch diese Reihe sich abschattet und dann ein Zeitbewusstsein ermög-
lichte.
Es verhält sich mit dieser sozusagen tiefen Unendlichkeit ebenso wie mit der
linearen Unendlichkeit: Das Bewusstsein, das vom Jetztton übrig bleibt, schattet sich
ab, aber nicht wirklich in infinitum. Obschon idealiter dergleichen möglich wäre. Wäre
das befriedigend?
Und was wäre nun das Letzte? Ein letzter Fluss von physischen Inhalten und
Inhaltsabschattungen, ein Zeitfluss? Zur absoluten Gegebenheit wäre er nicht zu
bringen. Denn wäre er es, könnte er gegeben sein als eine Zeitreihe, so müsste ein
Fluss hinter diesem Fluss noch liegen, gegen die Voraussetzung. Ist es notwendig,
einen letzten Fluss anzunehmen, so ist zu fragen: Kann er überhaupt noch Fluss
heißen?
Wir sagen: Die Toninhalte schatten sich ab, das ist: Nicht die bloßen Tonempfin-
dungen bilden eine Reihe, sondern diese mit den anhängenden Tonabschattungen.
Diese Reihe ist aber gedacht als zeitliche und weist sich aus in der reflektiven Wahr-
nehmung. Wenn sich nun auch die Tonabschattungen noch einmal abschatten, so ist
auch das wieder zeitlich gedacht. Wenn nun aber eine Reihe die letzte ist, so ist sie
gedacht als Zeitreihe. Aber gegeben kann sie als das nicht sein in einer Wahrnehmung.
Das gibt also immer wieder eine Schwierigkeit.
Sollen wir das als Evidenz in Anspruch nehmen: Zum Wesen der Wahrnehmung
einer Einheit gehört (als Einheit einer Zeit) es, dass die Einheit sich nach jedem
Zeitpunkt durch Abschattung darstellt. Ist die zeitliche Einheit eine immanente,
so besteht ihre Immanenz darin, dass sie einheitlich Erschautes und Gesetztes ist
einer Kontinuität von Abschattungsmannigfaltigkeiten. Das immanente Ding und
der immanente Vorgang ist nicht in dem Sinn reelles Stück des Bewusstseins, dass
das Bewusstsein eine Hülle ist, die ihn in sich hat, sondern so, dass er Einheit der
Auffassung ist, die sich in einer Bewusstseinsmannigfaltigkeit konstituiert. Sein esse
ist sein percipi in dem Sinn, als sein Sein nichts ist denn ein als Einheit Gesetzt- und
Wahrgenommensein, wobei das Wahrnehmen ein wunderbar gebautes Kontinuum
ist.
Soweit Wahrnehmen, soweit cogitatio noch zeitlich ansetzbar ist, soweit werden
wir auf zurückliegende Kontinua verwiesen. Aber endlich und letztlich ist ein Kon-
schlussbetrachtung: wahrnehmung als erlebnis 189
tinuum dasjenige, hinter dem keines mehr liegt, und so löst sich schließlich das
Bewusstsein in ein absolutes Bewusstsein auf, das Träger aller Zeitauffassung ist,
aber selbst nicht mehr zeitlich aufgefasst und auffassbar ist. Wir können dann noch
von einem Fluss sprechen, aber nicht mehr von einer Zeitlichkeit der Folge, die zu
haben wäre. Freilich, besteht nicht die ideale Möglichkeit, immer einen Hinterfluss
unterzulegen und somit von Zeitlichkeit zu sprechen? Jedenfalls kommen wir auf ein
absolutes Bewusstsein.
Beilage 2: Der Ton fließt ab, der Tonvorgang ist eine Kontinuität von zeitlichen
Tonphasen. Reell bewusst ist nicht bloß die Kontinuität der Tonempfindungen, und
zwar reell bewusst im Nacheinander der Tonwahrnehmung, sondern eine Konti-
nuität von Abschattungen der Tonempfindungen, deren jede in dem betreffenden
ZeitpunktK in der Tonempfindung dieses K tK terminiert.
Diese Kontinuität von kontinuierlichen Empfindungsabschattungen, oder besser:
von Abschattungsreihen, ist selbst wieder zeitliche Kontinuität.
Auch sie ist reell bewusst in Form von Abschattung. Im Jetztpunkt K ist reell
bewusst eK, näher eine Empfindungsabschattung, eine Reihe, die in eK terminiert:
...[eK]...eK. Zugleich ist dies selbst wieder Grenze, nämlich in retentionaler Weise ist
nicht bloß für ein früheres K’ das modifizierte [eK’] bewusst, sondern auch die zu ihm
gehörige Abschattungsreihe ...[eK’].....eK’, aber in eingeklammerter, d. i. abgeschatte-
ter Form.
Es scheint also, dass wir dem unendlichen Regress nicht ausweichen können.
In der linken Kolonne findet sich die Angabe von Seite und Zeile im
gedruckten Text, in der rechten Kolonne die des Manuskriptkonvoluts und
der Blattzahlen im Manuskript nach der offiziellen Signierung und Numme-
rierung des Husserl-Archivs.
3, 5 – 32, 22 F I 18 4–24
32, 24 – 99, 36 F I 17 4–54
100, 4 – 125, 1 FI7 2–18
125, 1 – 125, 16 20
125, 17 – 126, 15 19
126, 16 – 141, 31 20–31
141, 32 – 148, 26 35–40
148, 27 – 152, 2 32–33
152, 3 – 187, 19 41–69
187, 20 – 188, 25 73
188, 26 – 190, 8 70–72
NAMENREGISTER
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