Die Straßenszene als Grundmodell für hierin der Straßenszene, dann verbirgt das episches Theater (1938) Theater nicht mehr, daß es Theater ist, so wie die Demonstration an der Straßenecke nicht Es ist verhältnismäßig einfach, ein Grundmo- verbirgt, daß sie Demonstration (und nicht dell für episches Theater aufzustellen. Bei 60vorgibt, daß sie Ereignis) ist. Das Geprobte praktischen Versuchen wählte ich für ge- am Spiel tritt voll in Erscheinung, das wöhnlich als Beispiel allereinfachsten, sozu- auswendig Gelernte am Text, der ganze 5 sagen „natürlichen“ epischen Theaters einen Apparat und die ganze Vorbereitung. Wo Vorgang, der sich an irgendeiner Straßenecke bleibt dann das Erlebnis, wird die dargestellte abspielen kann: Der Augenzeuge eines Ver- 65Wirklichkeit dann überhaupt noch erlebt? kehrsunfalls demonstriert einer Menschen- Die Straßenszene bestimmt, welcher Art das ansammlung, wie das Unglück passierte. Die Erlebnis zu sein hat, das dem Zuschauer be- 10 Umstehenden können den Vorgang nicht ge- reitet wird. Der Straßendemonstrant hat ohne sehen haben oder nur nicht seiner Meinung Zweifel ein „Erlebnis“ hinter sich, aber er ist sein, ihn „anders sehen“ - die Hauptsache ist, 70 doch nicht darauf aus, seine Demonstration daß der Demonstrierende das Verhalten des zu einem „Erlebnis“ der Zuschauer zu ma- Fahrers oder des Überfahrenen oder beider in chen; selbst das Erlebnis des Fahrers und 15 einer solchen Weise vormacht, daß die Um- des Überfahrenen vermittelt er nur zum Teil, stehenden sich über den Unfall ein Urteil keinesfalls versucht er, es zu einem genuß- bilden können. 75 vollen Erlebnis des Zuschauers zu machen, Dieses Beispiel epischen Theaters primitivster wie lebendig er immer seine Demonstration Art scheint leicht verstehbar. Jedoch bereitet gestalten mag. Seine Demonstration verliert 20 es erfahrungsgemäß dem Hörer oder Leser zum Beispiel nicht an Wert, wenn er den erstaunliche Schwierigkeiten, sobald von ihm Schrecken, den der Unfall erregte, nicht verlangt wird, die Tragweite des Entschlusses 80 reproduziert; ja, sie verlöre eher an Wert. Er zu fassen, eine solche Demonstration an der ist nicht so auf Erzeugung purer Emotionen Straßenecke als Grundform großen Theaters, aus. Ein Theater, das ihm hierin folgt, vollzieht 25 Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters, geradezu einen Funktionswechsel, wie man anzunehmen. [...] verstehen muß. Man bedenke: Der Vorgang ist offenbar kei- 85Ein wesentliches Element der Straßenszene, neswegs das, was wir unter einem Kunst- das sich auch in der Theaterszene vorfinden vorgang verstehen. Der Demonstrierende muß, soll sie episch genannt werden, ist der 30braucht kein Künstler zu sein. Was er können Umstand, daß die Demonstration gesell- muß, um seinen Zweck zu erreichen, kann schaftlich praktische Bedeutung hat. Ob unser praktisch jeder. Angenommen, er ist nicht im- 90Straßendemonstrant nun zeigen will, daß bei stande, eine so schnelle Bewegung auszu- dem und dem Verhalten eines Passanten oder führen, wie der Verunglückte, den er nach- des Fahrers ein Unfall unvermeidlich, bei 35ahmt, so braucht er nur erläuternd zu sagen: einem andern vermeidlich ist, oder ob er zur er bewegte sich dreimal so schnell, und seine Klärung der Schuldfrage demonstriert – seine Demonstration ist nicht wesentlich geschädigt 95Demonstration verfolgt praktische Zwecke, oder entwertet. Eher ist seiner Perfektion eine greift gesellschaftlich ein. Grenze gesetzt. Seine Demonstration würde 40gestört, wenn den Umstehenden seine Ver- wandlungsfähigkeit auffiele. Er hat es zu ver- meiden, sich so aufzuführen, daß jemand aus- ruft: „Wie lebenswahr stellt er doch einen Chauffeur dar!“ Er hat niemanden „in seinen 45Bann zu ziehen“. Er soll niemanden aus dem Alltag in „eine höhere Sphäre“ locken. Er braucht nicht über besondere suggestive Fähigkeiten zu verfügen. Völlig entscheidend ist es, daß ein Hauptmerkmal des gewöhnli- 50chen Theaters in unserer Straßenszene ausfällt: die Bereitung der Illusion. Die Vorführung des Straßendemonstranten hat den Charakter der Wiederholung. Das Ereignis hat stattgefunden, hier findet die
Ernst Weiß: Autobiographische Werke (Notizen über mich selbst + Reportage und Dichtung + Briefe + Anmerkung zum dramatischen Schaffen und mehr): Bücher, die ungerecht behandelt wurden + Adliges Volk + Autobiographische Skizze + Warum haben Sie Prag verlassen? + Die Einwirkung der Kritik auf die Schaffenden