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Feinde des

«Menschenrechtlertums»
«Eine kleine Eiszeit» prophezeit Daniel Lindenberg in seinem
Essay «Le rappel à l'ordre» (Ed. du Seuil), der seit einigen
Tagen für den neuesten Hurrikan in der Schokoladentasse
von Frankreichs Intelligenzia sorgt. Die «archaischsten
Leidenschaften» sieht der Pariser Professor der politischen

27.11.2002

«Eine kleine Eiszeit» prophezeit Daniel Lindenberg in seinem Essay


«Le rappel à l'ordre» (Ed. du Seuil), der seit einigen Tagen für den
neuesten Hurrikan in der Schokoladentasse von Frankreichs
Intelligenzia sorgt. Die «archaischsten Leidenschaften» sieht der
Pariser Professor der politischen Wissenschaften «im Galopp
zurückkommen», begleitet von «authentischen Regressionen» und
einer Offensive gegen das demokratische Projekt und sein «egalitäres
Bestreben».

Eine diffuse, unstrukturierte «Reaktion» sei seit geraumer Zeit zu


beobachten, die wider die liberale Rechte wie gegen die egalitäre Linke
(im amerikanischen Sinn) «neokonservatives» Gedankengut
hochhalte. Konturen gewinne diese Bewegung vor allem ex negativo:
durch die all ihren Protagonisten gemeinsame Abneigung gegen den
Mai 68, gegen die Massenkultur, den Antirassismus, den Islam, das
republikanische Prinzip der égalité, das «Menschenrechtlertum»
(«droit-de- l'hommisme») usw. Diese neue «Synthese einer
Kampfideologie» richte sich gegen all jene, die – angeblich – dazu
beigetragen hätten, «den souveränen Staat im Morast der
individuellen Rechte aufzulösen, die Nation in der grossen euro-
globalisierten Suppe, das Volk in der Zivilgesellschaft und die Kultur in
multiethnischer ‹Jugendhaftigkeit› (‹jeunisme›)».

Leider freilich verfehlt der Essay, dem Pamphletcharakter eignet, sein


Ziel: zu zeigen, wie «wohlmeinende Geister» («de bons esprits») in
einem Zeitraum von weniger als einer Generation «vom doktrinären
Marxismus zum Kult der Souveränität und nationaler Idiosynkrasien
übergehen konnten, von der contre-culture der sechziger und siebziger
Jahre zur Nostalgie der humanistischen Kultur, vom universalistischen
Franko- Judaismus zur bedingungslosen Verteidigung Ariel Sharons,
von der Lektüre Tocquevilles zu der von Carl Schmitt». Zu heterogen
ist die Liste der von Lindenberg als «nouveaux réactionnaires»
abgestempelten Zeitgenossen; sie reicht von Marcel Gauchet über Luc
Ferry, Alain Finkielkraut und Alain Renaut bis zu den – als
Hauptzielscheiben fungierenden – Schriftstellern Maurice Dantec und
Michel Houellebecq. Zu beliebig ist die Reihe ihrer angeblichen
Inspiratoren, von Joseph de Maistre über Baudelaire, Flaubert und Pius
IX. bis zu Charles Maurras, Léon Bloy, Céline und Drieu La Rochelle; zu
wenig stringent die Beweisführung des Opuskulums, als dass es als
eine gültige Antwort auf eine Frage gelten könnte, die einer
eingehenderen Untersuchung wohl wert wäre.
Denn das Thema liegt in Frankreich in der Luft. «Le Monde
diplomatique» hatte bereits in seiner Oktoberausgabe einen langen
Artikel gebracht, der mit längst bekannten Argumenten gegen
«Medienintellektuelle» wie Bruckner, Ferry, Finkielkraut,
Glucksmann, Lévy und Sollers zu Felde zog und sie unter dem
Schlagwort «les nouveaux réactionnaires» vereinte. Ebenfalls auf
seinem Titelblatt fragt sich diese Woche «Le Nouvel Observateur»:
«Sommes-nous tous devenus réacs?» – bringt dann aber mit seinem
überlangen Hauptartikel bloss ein aus noch mehr Kraut und Rüben als
bei Lindenberg komponiertes und stilistisch überdies heillos
überwürztes Potpourri. Kurios auch die Behandlung des Essays durch
«Le Figaro»: Während die ambitiöse Rubrik «Débats et opinions» zwei
Gegnern (und Zielscheiben) des Buches – Finkielkraut und Philippe
Muray – sowie einem seiner Apologeten viel Platz einräumt, ohne dass
freilich der Leserschaft vorher dessen Inhalt vorgestellt worden wäre,
trompetet die Autorin der stets ungleich unbedarfteren Glosse der
Titelseite ihren Stolz heraus, eine «vieille réac» zu sein. Während «Le
Monde» letzten Freitag dem Thema mit – gehaltvollen – Beiträgen
auf anderthalb Seiten vielleicht etwas gar viel Gewicht beigemessen
hat, hatte «Libération» bereits am 19. November in einer
ausgewogenen Vorstellung und Kritik des Pamphlets durch Philippe
Lançon auf den Punkt gebracht, was davon zu halten sei. Fazit:
Lindenbergs «neue Reaktionäre» trenne manchmal mehr, als sie eine.

Marc Zitzmann

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