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Skript Gynäkologie und Geburtshilfe Dr. med.

Katja Ohngemach

Urogynäkologie: Lageveränderungen des weiblichen Genitale

Senkungszustände

Normale Topographie und Funktion

Die weiblichen Genitalorgane (Vagina, Uterus, Ovarien, Tuben) und zum Teil Blase und
Enddarm sind mittels bindegewebiger Bandstrukturen im kleine Becken verankert. Diese
Befestigung darf aber nicht zu starr sein, eine zwanglose Beweglichkeit der Organe innerhalb
gewisser Grenzen muss noch möglich sein. Andererseits darf diese Befestigung aber auch
nicht zu schlaff sein, da sonst eine Verschiebung, besonders in vertikaler Richtung (also
nach unten) begünstigt würde.
Neben den Bandstrukturen kommt den muskulären Anteilen des Beckenbodens eine
wesentliche Bedeutung für die Gewährleistung normaler Lageverhältnisse (Topographie)
und normaler Belastbarkeit zu. Im Normalfall garantiert der großflächige M. levator ani
einen sicheren Abschluss des Beckenraumes nach unten, die zwischen seinen Schenkeln noch
klaffende Lücke wird durch das zum Teil muskuläre, zum Teil aus Bandstrukturen bestehende
Diaphragma urogenitale verschlossen, es bleiben nur drei kleine Lücken übrig:
für Urethra, Vagina und Rectum.

Vereinfachter Blick „von oben" auf die Bandstrukturen im kleinen Becken, die für die
Position des Uterus verantwortlich sind.

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Schema des Musculus levator ani, der
zusammen mit den Bandstrukturen für die
Belastbarkeit des Beckenbodens
verantwortlich ist.

Normaler Blasenverschluss

Die Blase und ihre Verschlusseinrichtungen sind in vielfältiger Weise von gynäkologischen
Erkrankungen betroffen. Die Zusammenhänge sind einerseits von der Topographie,
andererseits von der Konstruktion der Verschlussmechanismen her verständlich.
Am Verschlusseffekt an der Urethra sind glatte Muskelfasern, die vom N. sypathicus versorgt
werden, quergestreifte, vom N. pudendus innervierte Muskelfasern und venöse Schwellkörper
beteiligt. Wie schon beschrieben, wird dieses gesamte System von Bindegewebsfasern an Ort
und Stelle (in situ) gehalten. In so einem komplexen System sind vielfältige Störungen
möglich, da jeder Bereich betroffen sein kann (organische Störungen, nervöse Störungen,
topographische Störungen...). Von der Seite betrachtet, bilden Harnblasenboden und
Harnröhre an der Hinterseite einen Winkel von 100-120°, welcher auch für den Verschluss
bedeutsam zu sein scheint. Dies erklärt, warum häufig bei einer vertikalen Senkung auch eine
Inkontinenz auftritt.

Veränderungen der Topographie und ihre Folgen


Die zunehmende funktionelle Insuffizienz der Haltestrukturen im kleinen Becken und des
Beckenbodens hat relativ typische Folgen: es kommt zu einer meist vertikalen Verlagerung
der Beckenorgane. Diese kann einzelne Organe oder auch mehrere betreffen.
Als typisch finden sich
- Descensus vaginae (anterior oder posterior mit Bildung einer Zysto- bzw. Rectozele
aufgrund der strukturellen Verbindung von Blase mit Uterus und Scheidenvorderwand sowie
Rectum mit Scheidenhinterwand, die Scheide nimmt sozusagen Blase bzw. Rectum bei der
Senkung mit))
- Descensus uteri
- Descensus vaginae et uteri als Kombination
Bei einem stärkeren Ausmaß der Senkung wird die Portio im Scheideneingang sichtbar und
schließlich, unter Umstülpung der Vagina nach außen, kommt es zum
- Subtotalen oder
- Totalen Prolaps uteri

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Ursachen
- Übergewichtigkeit, schlaffes, fettreiches Abdomen (Hängeleib) - Körperliche
Überforderung (großer Haushalt, Beruf Landwirtschaft)
- Konstitutionelle Bindegewebsschwäche, Varicosis, Alterungsprozess - Vorausgegangene
Geburten

Die Gravidität wirkt sich einerseits durch die hormonal bedingte Auflockerung von
Gelenkverbindungen und sonstigen bindegewebigen Strukturen, andererseits durch die
körperliche Überlastung und die Dehnungsvorgänge ungünstig aus. Schließlich können auch
geburtstraumatische Veränderungen des Beckenbodens lang anhaltende Folgen haben.
Vereinfacht ist eine Senkung Ausdruck eines Missverhältnisses zwischen Belastung und
Belastbarkeit.
Hieraus ergeben sich von selbst die Ansatzpunkte für eine Prophylaxe: Vermeidung von
Übergewicht, Überlastung, Durchführung von krankengymnastischen Übungen und Schonung
im Wochenbett, Vermeidung von z.B. Obstipation.
Symptomatik: Zum Teil treten eher uncharakteristische Beschwerden wie diffuse Kreuz-
und Rückenschmerzen oder gürtelförmige Schmerzen im mittleren Unterbauch mit
Druckgefühl nach unten auf, zum Teil sind die Beschwerden aber auch charakteristisch, je
nach betroffenen Organen. Typisch sind im Blasenbereich: Druckgefühl, Harndrang,
Harninkontinenz, Ischuria paradoxa (Überlaufinkontinenz), Neigung zu Zystitiden /
Pyelitiden. Typisch sind im Rektumbereich: Erschwerung der Entleerung des Enddarms,
Schmerzen beim Stuhlgang, Begünstigung von Hämorrhoidenbildung und Blutungen.

Therapie: Bei Dominanz der uncharakteristischen Beschwerden, nur leichtem Descensus


und fehlender Inkontinenz muss zunächst eine Abgrenzung anderer (z.B. orthopädischer)
Ursachen erfolgen, da ggf. diese Störungen für die Beschwerden verantwortlich sind und
somit eine gynäkologische Behandlung erfolglos bleiben würde.
Solche nichtgynäkologischen Störungen sind z.B. Übergewicht, körperliche Überlastung,
Wirbelsäulenschäden, Bandscheibenschäden / Wurzelreizungen, Haltungsschäden,
Bauchdeckenschwäche, Knochenmetastasen.
Des Weiteren sind auch noch nicht-senkungsbedingte gynäkologische Schmerzursachen
abzugrenzen, die einer speziellen gynäkologischen Behandlung bedürfen: Retroflexio uteri
fixata, grösserer Uterus myomatosus, grössere Ovarialtumoren, fortgeschrittenes
Zervixkarzinom, entzündliche Prozesse im kleinen Becken, postentzündliche Adhäsionen,
Endometriose.

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Die verbleibenden Fälle sollten zuerst konservativ mit Östrogensubstitution,
Physiotherapie, ggf. Pessartherapie und medikamentös behandelt werden. Bei deutlichem
Descensus ist meist eine Operation erforderlich. Diese kann oft auch die mit der Senkung
korrespondierende Harninkontinenz bessern oder beseitigen. Tritt keine Besserung der
Inkontinenz auf, ist eventuell eine zweite Operation zur Therapie der Inkontinenz erforderlich.

Inkontinenz (Harn- und Stuhlinkontinenz) Harninkontinenz

Definition: Die Harninkontinenz (der unwillkürliche Harnabgang) ist Folge einer


Missbildung oder einer Fistelbildung (also einer ausschliesslich organischen Ursache), diese
Formen werden als extraurethrale Inkontinenz bezeichnet; oder durch eine Störung der
funktionellen Koordination bedingt. Auch wenn bei der funktionellen Koordination eine
organische Störung beteiligt sein kann, wird hierfür der Begriff funktionelle
Harninkontinenz verwendet.

Funktionelle Harninkontinenz

In Abhängigkeit vom dominierenden Störungsmechanismus werden Stress- oder


Belastungsinkontinenz (30-70%), Urge- oder Dranginkontinenz (15-40%),
Kombinationsformen (15-50%), Reflexinkontinenz und Überlaufinkontinenz unterschieden.
Von den Frauen über 60 J. leiden 30-60% an einer funktionellen Harninkontinenz.

Stress- oder Belastungsinkontinenz: Diese Inkontinenz ist Folge eines Missverhältnisses


zwischen der Belastbarkeit der Verschlussmechanismen und der tatsächlichen Belastung. Sie
ist eine verschlussbedingte Inkontinenz. Wenn der Druck im Bauchraum steigt (z.B. beim
Husten, Niesen, Lachen etc.) und dieser schliesslich im Krankheitsfall den Verschlussdruck
der Harnröhre übersteigt, kommt es zu unfreiwilligem Urinabgang. Der Detrusormuskel der
Blase (der die Blase entleert) ist hierbei nicht aktiv beteiligt. Der Urinabgang ist deshalb nicht
von einem Harndranggefühl begleitet, Belastung und Urinabgang fallen zeitlich zusammen.

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Je nach Schwere der Inkontinenz erfolgt die Einteilung in mehrere Schweregrade: Bei
Grad I der relativen Harninkontinenz (insuffizienter Verschlussapparat) erfolgt nur bei
schwererer Belastung unwillkürlicher Urinabgang. Bei Grad II kommt es schon bei
leichterer Belastung wie Laufen oder Treppensteigen zum Urinabgang. In extrem
seltenen Fällen geht nahezu ständig Urin ab ohne dass eine Belastung vorliegt. Diese
Inkontinenz wird auch als Grad III oder absolute Inkontinenz (praktisch kein
Verschlussapparat mehr wirksam) bezeichnet.

Ursachen der Belastungsinkontinenz: Alles, was den Verschlussmechanismus


beeinträchtigt ( Traumen, Lageveränderungen, Östrogenmangel im Alter, Übergewicht).
Diagnose: Charakteristische Anamnese, zeitlicher Zusammenhang von Belastung und
Urinabgang bei sonstiger Symtomfreiheit (kein Harndrang).
Therapie: Die Therapie versucht, kausal zu sein, das heisst: Ursachen zu beheben (z.B.
Be hebung de r Ve rlag er un g v on Bec kenorgan en , Wie de rh erst el lu ng von
Beckenbodenstrukturen durch eine Operation). Hierbei darf nicht vergessen werden, dass eine
Operation zwar die anatomischen Faktoren korrigieren kann, nicht aber die sonstigen
möglichen Einflüsse.

Weitere Therapieansätze: Beckenbodengymnastik,


Östrogensubstitutionsbehandlung, Pessarbehandlung bei
Inoperabilität. Bei allen Frauen, bei denen nicht mehr mit
Schwangerschaft gerechnet wird und die weder mit
Beckenbodengymnastik noch mit Östrogengaben
symptomarm oder —frei werden, ist die Operation die
Methode der Wahl.

Wichtig: die Senkungsoperation ist eigentlich


keine Inkontinenzoperation im eigentlichen
Sinne, aber oft besteht bei einer Senkung auch
eine Inkontinenz, die sich bessert, wenn die
Senkung behoben wird.
Am gebräuchlichsten ist die vordere und
hintere Plastik, meist in Kombination mit der
vaginalen Hysterektomie (Entfernung des
Uterus). In der oberen Abbildung ist die
vordere, in der unteren die hintere Plastik
dargestellt (Kolporrhaphia anterior bzw.
posterior)

Mittlerweile gibt es aber auch diverse andere


Techniken, bei ausgeprägter Bindegewebs-
schwäche oder im Rezidivfall werden
Kunststoffnetze als Gewebsersatz eingelegt, an
denen sich eine neue Gewebeplatte bilden kann,
damit Blase oder Darm nicht mehr in die
Scheide vorquellen können, sondern wieder
zurückgehalten werden an ihre normale
Position.

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Etwa 8-12 Wochen nach der Operation sind die Patientinnen wieder voll belastbar, wenn
nicht eine extreme habituelle Bindegewebsschwäche vorliegt. Der Therapieerfolg kann durch
begleitende Maßnahmen wie Beckenbodengymnastik, Östrogenbehandlung bei
postmenopausalen Patientinnen, Vermeidung von unnötiger Belastung durch Husten oder
Pressen (Stuhlgang), Vermeidung / konsequente Behandlung postoperativer Bakteriurie
(häufig symptomlos — Kontrolle!).

Ist die Senkung behoben und besteht trotzdem noch eine Belastungsinkontinenz, so kommt
zur Unterstützung des Urethraverschlussdrucks eine weitere Operation in Frage, die Urethra-
Schlingen-Suspensionsoperation. Hierbei wird zur Stützung der Harnröhre ein netzartiges
Band hinter die Harnröhre gelegt, damit diese bei Belastung nicht mehr ausweichen kann,
sondern wieder abgedrückt und somit der Verschlussdruck erhöht wird. Die bekanntesten
Verfahren sind hierbei das TVT (tension-free vaginal tape — spannungsfreies Vaginalband),
das hinter dem Symphysenknochen ausgefädelt wird, oder das MONARC-Band, welches
beidseits jeweils durch das foramen obturatorium ausgestochen wird.

Urge- oder Dranginkontinenz: Der Urinabgang ist hierbei nicht eine Folge einer
Verschlussschwäche, sondern Ausdruck einer kurzen unwillkürlichen und nicht
unterdrückbaren Kontraktion des Detrusormuskels der Blase bei verminderten
Hemmungsimpulsen, also aktiver Natur und blasenbedingt (motorische Form) oder Folge
der Auswirkung vermehrter sensibler Entleerungsimpulse (sensorische Form).
Charakteristisch ist eine reduzierte Blasenkapazität, ein verfrüht vermitteltes Füllungsgefühl
(Drang / urge) und, bei der motorischen Form, messbare Aktivität des Detrusormuskels. Bei
dieser Inkontinenzform korrespondiert (also treten gleichzeitig auf) der unwillkürliche
Harnabgang mit einem imperativen (nicht unterdrückbaren) Harndrang. Im Gegensatz
zur Belastungsinkontinenz tritt der Urinabgang üblicherweise unabhängig von Belastungen
auf. In Ausnahmefällen kann es aber sein, dass eine Belastung oder auch nur
Erschütterung der Blase eine Muskelkontraktion auslöst, die ihrerseits zum Urinabgang
führt. Anders als bei der Belastungsinkontinenz ist der Harnabgang aber nicht synchron
(=zeitgleich) mit der Belastung, sondern mit messbarer Verzögerung.
Naturgemäss kommen auch Kombinationsformen von Belastungs- und Dranginkontinenz
vor und natürlich führen die Drangimpulse um so eher zum unwillkürlichen Urinabgang,
je geringer der Harnröhrenverschlussdruck ist, je schlechter also die Verschlussfunktion ist.

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Vom Entstehungsmechanismus her werden die primären idiopathischen Formen von
sekundären symptomatischen Formen unterschieden.

Idiopathische primäre Urge-Inkontinenz: Man findet weder im neurologischen


Bereich noch am Harnwegssystem pathologische Befunde. Es sind aber zum Teil
psychische Faktoren erfassbar, z.B. Angstneurosen, unbewältigte sexuelle Probleme,
verleugnete Depression etc.
Symptomatische sekundäre Urge-Inkontinenz: Bei dieser Form lassen sich pathologische
Befunde an Blase und Harnröhre nachweisen. Dies sind Blasenentzündungen, Blasensteine
Strahlenfolgen, Tumore etc., zum Teil bestehen Beziehungen zu Befunden bei
Scheidenentzündungen (Kolpitis, z.B. bei Chlamydien, Mykoplasmen, Trichomonaden) und
zuviel oder zuwenig Hygiene im Genitalbereich.

Diagnostik: Anamnestisch typisch ist der imperative Harndrang unmittelbar vor dem
unwillkürlichen Abgang kleinerer Mengen von Urin. Bei der sekundären symptomatischen
Urgeinkontinenz werden, je nach Grundkrankheit, zumeist auch Pollakisurie (häufiger
Harndrang mit jeweils nur geringer Harnmenge) und Nykturie (nächtlicher Harndrang).
Nachweisen lassen sich die autonomen Detrusorkontraktionen in der so genannten
Zystotonometrie oder Urodynamik (Messung des Blaseninnendruckes bei zunehmender
Füllung und Provokation / Husten oder Pressen).

Therapie: Bei Erkennbarkeit organischer Ursachen werden diese behandelt (z.B.


Infektbehandlung der Harnwege und von Vulva und Vagina, Beseitigung von Steinen oder
Tumoren, bei Verengungen Aufdehnung etc.). Fehlen solche Kausalfaktoren, so sollte an der
gestörten Blasenfunktion angesetzt werden. Dies geschieht medikamentös mit
Anticholinergika (Hemmung der zur Muskelkontraktion führenden Nervenimpulse),

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Relaxantien (Muskelentspannung) und anderen. Je nach Persönlichkeit und Alter der
Patientin kommen auch Medikamente wie Antidepressiva oder Östrogene in Frage.
Zeigt ein Xylonest-Test ein positives Ergebnis (Unterspritzen der Harnröhre mit einem Lokal-
Betäubungsmittel führt zu einer deutlichen Besserung des Harndrangs), so kann versucht
werden, operativ das Nervengeflecht am Blasenboden zu veröden und so die gesteigerten
Nervenimpulse zu vermindern.
Falls eine Kombination von Belastungs- und Dranginkontinenz vorzuliegen scheint, so
sollte vor einer Operation die Wirksamkeit der oben genannten medikamentösen Therapien
überprüft werden bzw. die Patientin darauf hingewiesen werden, dass mit der Operation der
Belastungsinkontinenz (Monarc, TVT) die Dranginkontinenz nicht behoben ist.

Reflexinkontinenz: Hier sind die Verschlussmechanismen intakt. Als Folge einer Störung der
Nervenleitung von der Blase zum Gehirn, z.B. bei Querschnittslähmung, kommt aber das
Signal, dass die Blase voll ist, im Gehirn nicht an und die Blase leert sich reflektorisch-
selbsttätig.

Überlaufinkontinenz: Der unwillkürliche Harnabgang ist hierbei nicht Folge eines


fehlerhaften Verschlusses wie bei der Stressinkontinenz oder Folge eines überaktiven
Detrusors (Entleerung bereits bei geringen Füllmengen), sondern durch die Unfähigkeit der
Patientin bedingt, die Blase regulär zu entleeren. Die Blase ist übervoll und überdehnt, sie
läuft schließlich über, teils ständig, teils nur bei bestimmten Anlässen oder Bewegungen.
Genau genommen, ist dies also keine Inkontinenz, sondern eine Entleerungsstörung.

Extraurethrale Inkontinenz

Harnwegsfisteln: Bei diesen Fisteln besteht fast immer eine Harninkontinenz HP, also eine
absolute Inkontinenz. Geht der gesamte Urin unwillkürlich ab, handelt es sich meist um eine
grössere Blasen-Scheiden-Fistel. Muss trotz des ständigen Urinabganges die Blase noch
„normal" entleert werden, handelt es sich entweder um eine kleinere Blasen-Scheiden-Fistel
oder, häufiger, um eine Ureter-Scheiden-Fistel (ständiger Harnabgang von der geschädigten,
Blasenfüllung von der gesunden Seite). Harnwegsfisteln sind meist erworben (schwere
Geburten, Voroperationen, Strahlenfolgen etc.). Im Hinblick auf die Gefährdung der Nieren
durch aufsteigende Infektionen sollten Fisteln so bald wie möglich operativ saniert werden.

Ständiger Urinabgang bei Missbildungen: Da dieser meist schon in der Kindheit / Jugend
operiert wird, wird der Gynäkologe nur ausnahmsweise mit derartigen Fällen konfrontiert.

Zusammenfassung Diagnostik

Die Diagnostik ist, wenn man unnötige oder gar sinnlose Operationen vermeiden will, relativ
aufwendig und umfasst Anamnese, gynäkologische Untersuchung ohne / mit Pressen,
Urinuntersuchung, Restharnprüfung, Blasenspiegelung / Zystoskopie, urodynamische
Messung / Urethrozystotonometrie und andere Spezialmethoden, neurologischer Status,
Fisteldiagnostik.

Ziel der diagnostischen Untersuchungen muss die klare Erkennung der eigentlichen
Hauptursache der Harninkontinenz sein, da nur eine kausale (= ursächliche) Therapie zum
Ziel führt.

Folgen der Harninkontinenz

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Die Bedeutung der Harninkontinenz und damit der meisten Senkungsbefunde kann bei der
Häufigkeit (je nach Kriterien sind 30 — 60% der älteren Frauen betroffen) gar nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Zum Einen kommt es durch die Inkontinenz zu einer starken
Einschränkung der Belastbarkeit und somit Arbeitsfähigkeit der Patientinnen, zum Anderen
kommt es zu einer Vereinsamung der Patientinnen, da diese sich aus Öffentlichkeit und
Geselligkeit zurückziehen, weil sie Angst haben, die Erkrankung könne bemerkt werden und
Ekel auslösen (man ist unsauber, es riecht...). Häufig ist diese Vereinsamung auch mit einer
Störung des Sexuallebens vergesellschaftet, weil sich entweder die Frauen befangen fühlen
(z.B. möglicher Urinabgang beim Verkehr...) oder die Partner zurückziehen.
Es darf auch nicht übersehen werden, dass alle Störungen der Blasenentleerung (sowohl die
Inkontinenz als auch der Harnverhalt) zu einer Neigung zu Infektionen der Harnwege und
letztlich der Nieren führen mit Niereninsuffizienz in allerletzter Folge.
Zusammenfassend dürfen also neben organischen Veränderungen / Schädigungen die
Auswirkungen auf das psychische und seelische Befinden der Patientinnen nicht unterschätzt
werden.

Störungen der Entleerungsfunktion der Harnblase

Die Entleerung der Blase kann entweder durch eine Abflussbehinderung am Übergang von
der Blase zur Harnröhre oder im Bereich der Harnröhre, die mechanisch oder funktionell
bedingt sein kann, oder durch mangelhafte Austreibungskräfte gestört sein.

Mechanische Störungen: Durch Tumore, nach Operationen durch z.B. Narbengewebe, durch
Schwellungen, bei Lageveränderungen (Quetschhahnmechanismus, der Abflusshahn Urethra
wird abgequetscht wie beim Stehen auf einem Gartenschlauch) oder auch bei Verlegung
durch einen Blasenstein kann der Abfluss behindert sein. Die Therapie besteht in
Wiederherstellung der normalen Abflussverhältnisse oder Schaffung eines anderen
Abflussweges.

Funktionelle Störungen: Hier wirken sich zwei verschiedene Mechanismen aus. Entweder
funktioniert die Koordination von Detrusormuskel und Verschlussmechanismen nicht oder
der Detrusormuskel kontrahiert zu schwach, was primär der Fall sein kann oder auch
sekundär, z.B. nach lang andauernder Stenose im Urethrabereich.

Auswirkungen: Chronisch als gesteigerte Kapazität, Restharnbildung und Überlaufblase


oder akut als Harnverhalt. Während der chronische Verlauf meist nicht bemerkt wird, kommt es
im akuten Fall zu typischen Beschwerden: zunehmende Unterbauchschmerzen mit extremer
Druckempfindlichkeit im Unterbauch über der Symphyse.

Weiteres Vorgehen: Zunächst Entlastung der Blase mittels Katheterisierung. Anschließend


Klärung der Ursache. Ggf. ist, je nach Ursache, eine Dauertherapie erforderlich. Bei einer
mechanischen Störung muss das Hindernis beseitigt und der normale Abfluss
wiederhergestellt werden. Bei der primär funktionellen Störung erfolgt eine medikamentöse
Behandlung entweder, bei verstärktem Verschluss, mittels a-Blockern oder, bei zu
schwachem Muskel, mit muskeltonisierenden Medikamenten wie Parasympathomimetika
(Doryl und Ähnliches).

Folgeerscheinungen: Beim akuten Harnverhalt kommt es, bei rechtzeitiger Therapie der
auslösenden Ursachen, fast nie zu dauerhaften Folgeerscheinungen. Falls doch, sollte notfalls
der Dauerkatheterismus durchgeführt werden.

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Die chronische relative Abflussbehinderung bleibt oft unbemerkt und führt zu schweren
Folgen: Zunächst vergrössert sich der Detrusormuskel infolge des Versuchs, die Blase gegen
Widerstand doch noch zu leeren (Balkenblase). Dieser Kompensationsmechanismus ist aber
irgendwann erschöpft und es kommt zur Überdehnung der Blase und zunehmenden
Restharnbildung. Durch Rückstau bilden sich Hydroureter und eine Hydronephrose, ggf.
gefolgt von einer Infektion und schliesslich Niereninsuffizienz, da entweder die Infektion
oder der Stau zur Zerstörung des Nierengewebes führt. Nur, wenn diese Störungen frühzeitig
erkannt und für eine Wiederherstellung der normalen Blasenentleerung gesorgt wird, können
diese katastrophalen Spätfolgen vermieden werden.

Stuhlinkontinenz

Der Begriff Stuhlinkontinenz bezeichnet den Verlust der Fähigkeit, Darmgase und / oder
Stuhl zu kontrollieren. Die Schwere der Erkrankung reicht von leichten Problemen bei
Blähungen bis hin zu einer schweren Halteschwäche für flüssigen oder geformten Stuhl.
Grad 1: Leichte Form: Unkontrollierter Abgang von Winden, leichte Verschmutzung der
Wäsche. Grad 2: Mittlere Form: Unkontrollierter Abgang von dünnflüssigem Stuhl,
unkontrollierter Abgang von Winden, gelegentlicher unkontrollierter Stuhlabgang. Grad 3:
Schwere Form: Stuhl und Winde gehen vollständig unkontrolliert ab. Der richtige Ansprech-
partner bei diesen Problemen ist der Proktologe bzw. Koloproktologe.

Inkontinenzform: Vorkommen bei:


Reaktive S. Durchfall, Darminfektion, Reizdarm, Lebensmittelallergie oder Unverträglichkeit
Neurogene S. Neurologische Krankheiten, z.B. Multiple Sklerose, Demenz, Parkinson usw.
Obstipationsbedingte S. durch Verstopfung ausgelöster Schmierstuhl, dünner Stuhl und Darmschleim

Medikamentöse S. Abführmittel, Antibiotika, Hormone


Entzündliche S. Hämorrhoiden, Fisteln, Darmvorfall, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa
Angeborene S. Bei Miss- oder Fehlbildungen des Rektums oder der Nervenversorgung bzw. ihrem
Austausch mit dem Gehirn
Traumatische S. Darmriss, Operation, Verletzung, höhergradige Dammrisse (Grad III und IV)
Tumoröse S. Darmkrebs, Analkarzinom
Ischämische S. Durchblutungsstörungen
Hormonale S. Diabetes mellitus, Schilddrüsenüberfunktion
Psychisch bedingte S. Neurosen und Psychosen, Depressionen, Angstprobleme, Bedürfnis der Zuwendung,
Lustgefühl, Aggressionsabbau
Funktionelle S. Beckenbodenschwäche, Senkungszustände

Für eine Stuhlinkontinenz können viele Faktoren auslösend sein. Nicht selten sind
kombinierte Ursachen verantwortlich. Eine der häufigsten Ursachen sind Verletzungen
während des Geburtsaktes. Neben einer Durchtrennung des Schließmuskels (Dammriss III°
oder IV0) können auch Nerven verletzt werden, welche den Schließmuskel dann nicht mehr
versorgen. Das altersbedingte Nachlassen der Kraft des Schließmuskels ist häufig
auslösend für eine Stuhlinkontinenz. Afternahe Operationen, Infektionen und
vielfältige Darmerkrankungen im Afterbereich, sind neben neurologischen Störungen und
Erkrankungen am Entstehen einer Stuhlinkontinenz beteiligt, ebenso wie
Beckenbodenschwäche oder Senkungszustände.

Die Diagnostik der Stuhlinkontinenz beginnt mit einer ausführlichen Befragung


(Anamnese) des Betroffenen durch den Arzt, bei der die Krankengeschichte nach
folgenden Gesichtspunkten erfragt wird:
Beginn der Beschwerden, Stuhlganghäufigkeit, Stuhlbeschaffenheit, Art und Umstand des
ungewollten Stuhlverlustes, vorausgegangene Behandlungen und Operationen, chronische
Erkrankungen, bei Frauen auch Art und Umstand von Geburten / Geburtsverletzungen.

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Zur Basisdiagnostik gehört, neben der Sichtung (Inspektion) auch die Austastung mit dem
Finger (Palpation). Zur erweiterten Diagnostik können dann folgende Untersuchungen
notwendig sein: die Spiegelung des Mastdarmes (Koloskopie) und des Afterkanals
(Rektoskopie und Proktoskopie), anale Endosonographie (Ultraschall um ein Abbild der
Schließmuskeln zu erhalten), neurophysiologische Untersuchungen, Röntgenuntersuchung
mit Kontrastmittel, Druckmessung im Mastdarm (Rektum-Manometrie), Beckenboden-MRT.
Die Behandlung der Stuhlinkontinenz ist in erster Linie Therapie der zugrundeliegenden
Erkrankung.

Je nach Ursache der Stuhlinkontinenz kommen sowohl konservative wie operative


Therapieverfahren zur Anwendung. Bei leichten und mittleren Formen der Inkontinenz sollte
eine nichtoperative Therapie mit Beckenbodentraining, Biofeedback-Training, Verfestigung
oder Verdünnung des Stuhls, Training der Stuhlgewohnheiten und medikamentöser Therapie
erfolgen. Wenn diese konservativen Maßnahmen keinen Erfolg bringen oder bereits eine
schwere Stuhlinkontinenz vorliegt, helfen häufig nur operative Maßnahmen.

Zur konservativen Versorgung der Stuhlinkontinenz stehen zur Verfügung:


Vorlagen und Windeln sind eine Möglichkeit, hygienische und soziale Kompetenz zu erhalten
bzw. zu ermöglichen, wenn unkontrollierte Stuhlabgänge nicht vermieden werden können.
Bei Inkontinenz trotz festem Stuhl kann als einfaches, diskretes und sicheres Hilfsmittel ein
Analtampon verwendet werden. Eine weitere Möglichkeit des „Darmmanagements" bietet die
anale Irrigation („Einlauf`, durch Dehnung der Darmwand wird der Darm zur Entleerung
angeregt, nach Entleerung ist der Patient dann eine gewisse Zeit vor ungewollter Entleerung
sicher).

Die operative Behandlung (wenn denn eine organische, nicht-neurologische Ursache


vorliegt) erfolgt z.B. durch Sphincter-Rekonstruktion (wenn z.B. ein Dammriss postpartal
nicht richtig versorgt wurde), durch Einlage von aufblasbaren Prothesen, Entfernung von die
Inkontinenz auslösenden Tumoren, Beseitigung von Fisteln, Analprolaps etc., Ziel hierbei ist,
wie auch bei der operativen Behandlung der Harninkontinenz, die Wiederherstellung der
anatomischen Normalverhältnisse bzw. eines funktionsfähigen Verschlussapparats.

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