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Axel Honneth

Verdinglichung
Eine anerkennungstheoretische Studie

Suhrkamp
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Ersre AuAage 2.005


@ Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2.005
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Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Umsclilag: Werner Zegarzewski
Primed in Germany
ISBN J-pB-58444-8

1 :z. 3 4 5 6 - 10 09 oB 07 o6 05
Inhalt

Vorwort... .. ........................... 7

Einleitung ................ . ...... .. .... . I1

I. Verdinglichung bei Lukacs . . ............ . .. . 19

ll. Von Lukacs zu Heidegger und Dewey ........ .

r~Il. Der Vorrang der Anerkennung .............. .

IV. Verding(jchung als Anerkennungsvergessenheit 62j


V. Konturen der Selbstverdinglichung

VI. Soziale QueJien der Verding(jchung 94

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Vorwort

! Die vorliegende Studie stellt die überarbeitete und erweiterte


I Fassung der Tanner-Lectures dar, die ich im März diesen Jah-
res an der Universität Berkeley gehalten habe. Ich harre mir

I zum Ziel gesetzt, ein hedeurendes Thema des westlieben


Marxismus aus aktuellem Anlaß so zu reformulieren, daß es
auch für die eher analytisch geschulten Ohren des Publikums

I in Berkeley in seinen theoretischen Umrissen und seiner


Dringlichkeit verständlich wird; und natürlich wollte ich auf
diesem Wege auch versuchen, den Begriff der Anerkennung
für ein Thema fruchtbar zu machen, das bis heure zur unbe-
wältigten Erbmasse der Tradition der Kritischen Theorie ge-
hört. Wenn ich die Reaktionen des Publikums nicht falsch
gedeutet habe, so scheint dieser Brückenschlag zwischen
Frankfurt und Berkeley geglückt zu sein; vor allem die drei
»Respondants« , d.ie eingeladen waren, um meine Vorträge
zu kommentieren- Jud.irh Butler, Raymond Geuss und Jo-
nathan Lear -, haben mir durch ihre ungemein engagierten
und klugen Einwände deutlich gemacht, daß meine Ausfüh-
rungen mir wohlwollendem Interesse verfolgt wurden. Ich
habe ihre Vorschläge und Empfehlungen bei der Überarbei-
tung des Manuskripts ebenso zu berücksichtigen versucht
wie d.ie Hinweise, die ich in Frankfun von Rahel Jaeggi und
Christopher Zurn erhalten habe. Ihnen allen bin ich für die
beherzte Kritik dankbar, die sie meinem Manuskript gewid-
met haben. Im Verlag schließlich bat Eva Gilmer alles getan,
um eine schnelle Veröffentlichung meiner Vorlesungen zu er-
möglichen; auch ihr möchte ich für ihr Engagement herzlich
danken.

Frankfurt/M., im Mai 2005 Axel Honneth


zeichnet. 11 In beiden Kontexten spielen mithin die ontologi-
schen Konnotationen, die der Begriff doch mit seiner
Anspidung auf bloße Dinge enthält, nur eine untergeord-
nete, marginale Rolle: Nicht weil ein bestimmtes, »verding-
lichendes« Verhalten gegen ontologische Präsuppositionen
unsere>Alltagshandelns, sondern weil es gegen moralische
Prinzi.Jiien verstößt, gilt es als fragwürdig oder falsch. Dem-
gegenilber glaubte Lukacs noch, ohne jeden Bezug auf ethi-
sche Grundsätze auskommen zu können; er nahm in sei-
ner A~handlung den Begriff der >>Verdingüchung« insofern
wörtlich, a ls er damit eine soziale Verhaltenspraxis zu cha-
rakterrsieren können glaubte, die nur aufgrund der Ver-
fehlung ontologischer Tatsachen schon als falsch gelten
sollte.
Natirlich besitzt auch die Verdinglichungsanalyse von
Lukacs, obwohl sie auf ein moralisches Vokabulär voUstän-
dig venichtet, einen normativen Gehalt. Schließlich verrät ja
schon die Verwendung des Begriffs der »Verdinglichung« die
Unrersrellung, daß es sich bei den geschilderten Phänomenen
um die Verfehlung einer >>eigentlichen « oder >> richtigen«
Form der Einstellung zur Welt handeln muß; und schließlich
geht Lukacs wie selbstverständlich davon aus, daß seine Le-
serinmn und Leser zustimmen, wenn er die geschichtliche
Notwmdigkeit einer Revolurionierung der gegebenen Ver-
hältni$e darstellt. Aber der Einsatzort dieser impliziten Ur-
teile bffindet sich auf einer theoretischen Stufe, die unterhalb
der argumentativen Ebene liegt, auf der in den genannten
Komenen die entsprechenden Wertungen formuliert und
begrürdet werden; denn Lukacs erblickt in der Verdingli-
chung ~ ben nicht einen Verstoß gegen moralische Prinzipien,
sondern die Verfehlung einer menschlichen Praxis oder Ein-
stell ungsweise, die die Vernünftigkeit unserer Lebensform

n In d~se Richtung weist: Andreas Kuhlmann, • Menschen im Begabungs·


rest. Murmaßungen über Hirnforschung als soziale Praxis• , in: West-
End.Neue Zeitschrift (iir SoT.ial(orschtmg, Jg. 1h.oo4, H. I, S. 143- I 53.

I6
ausrnachr. 12 Die Argumente, die er gegen die kapitalistische
Verdingüchung unserer Lebensverhältnisse vorbringt, besit-
zen nur indirekt einen normativen Charakter, weil sie sich
aus den deskriptiven Elementen einer Sozialontologie oder
philosophischen Anthropologie ergeben, die die rationalen
Grundlagen unserer Existenz zu erfassen versucht; insofern
läßt sieb von der Lukacsschen Verdinglichungsanalyse sa-
gen, daß sie die sozialontologische Erklärung einer Patholo-
gie unserer Lebenspraxis liefert. 13 Ob wir freilich heute noch
so reden dürfen~ ob wir Einwände gegen eine bestimmte Le-
bensform unter Hinweis auf sozialontologische Einsichren
rechtfertigen dürfen, isr keineswegs ausgemacht. Ja, es ist
nicht einmal klar, ob wir angesichts der hohen Erfordernisse
strategischen Handeins in heutigen Gesellschaften mit dem
Begriff der >>Verdingüchung« überhaupt noch einen in sich
stimmigen Gedanken zum Ausdruck bringen können.

12 In Richtung einer solchen • tiefer• angelegten, hier »sozialonrologisch•


genannten Form von Kricik zielt heure erwa: Charles Taylor, MExplana·
tion and PracricaJ Reason «, in: ders., Philosophical Arguments, Cam-
bridge (Mass.) I995, S. 34-60. Vgl. zur Problematik zusammenfassend:
AxeJ Honneth, • Pathologien des Sozialen • , in: ders., Das A~zdere der
Gerechtigkeit. Aufsätze vtr praktischen Philosophie, Frankfurt/M.
2.000, S. .n- 69: Den einzigen Versuch einer .. sozialontologischen • , al-
lerdings sprachanalytisch orienrienen Rehabilitierung des Verding-
lichungsbegriffs hat in der letzten Zeit Christoph Demmerling unrer-
nommen: ders. Sprache und Verdinglichung. Wittgenstein, Adomo und
das Projekt der kritischen Theorie, Frankfurt/M. l994·
13 Axel Honneth, »Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuel-
len Erbschaft der Kritischen Theorie", in: Axel Hormeth: Sozialphilo-
sophie zwischen Kritik und Anerkennung, bg. von Chrisroph Halbigl
Michael Quante, Münster 2004, S. 9-32..

I. 7
I. Verdinglichung bei Lukacs

Um die Frage klären zu können, ob dem Begriff der »Ver-


dingüchung« heute noch ein brauchbarer Wert zukommt, ist
es wohl sinnvoll, sich zunächst an der klassischen Analyse -
von Lukacs zu orientieren; allerdings werden wir schnell
feststellen, daß seine kategorialen Mittel nicht ausreichen,
um die phänomenologisch häufig richtig erfaßten Vorgänge
angemessen konzeptualisieren zu können. Lukacs hält sich
eng an das ontologisierende AJJtagsverständnis des Begriffs
der »Verdinglichung«, wenn er schon auf der ersten Seite sei-
ner Studie in Anschluß an Marx behauptet, daß Verdingli-
chung nichts anderes bedeute, als »daß eine Beziehung zwi-
schen Personen den Charakter einer Dingbaftigkeit« 1 erhält.
In dieser elementaren Form bezeichnet der Begriff offen-
sichtlich einen kognitiven Vorgang, durch den etwas, was an
sich keine dinglichen Eigenschaften besitzt, also beispiels-
weise Menschliches, als etwas Dingliebes angesehen wird;
dabei ist zunächst unklar, ob es sich im Falle einer solchen
Verding.lichung bloß um einen epistemischen Kategorienfeh-
ler, um eine moralisch verwerfliche Handlung oder um eine
im ganzen verzerrte Form von Praxis handeln soll. Schon
nach wenigen Sätzen wird freilich deutlich, daß Lukacs mehr
als nur einen Kategorienfehler vor Augen haben muß, weil
der Vorgang der Verdingüchung eine Vielschichtigkeit und
Stabilität erhält, die mit einem kognitiven Irrtum kaum zu
erklären wäre. Als soziale Ursache für die Verstetigung und
Verbreitung der Verdinglichung nimmt Lukacs nun die Aus-

I Georg Lukacs, •Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletari-


ats«, in: ders., Geschichte und Klassenberuußtsein (191.3), Werke, Band
2 (Frühschrihen 11), Neuwied und Berlin I968, S. 257-397, hier S. 257.
Zum Verdinglichungsbegriff von Lulcics vgl. insgesamt die umfassende
Studie von Rüdiger Dannemann, Das Prinzip Verdinglichung. Studie zur
Philosophie Georg Luluics, Frankfurt/M. I987 .
weitUllg des Warentausches an, der mit der Etablierung
kapitalistischer Gesellschaften zum herrschenden Modus in-
tersubjektiven Handeins geworden ist; sobald die Subjekte
beginnen, ihre Beziehungen zu ihren Mitmenschen primär
über den Austausch von äquivalenten Waren zu regeln, wer-
den sie dazu genötigt, sich zu ihrer Umwelt in ein verding-
lichendes Verhältnis zu setzen; denn sie können nun nicht
mehr umhin, die Bestandteile einer gegebenen Situation al-
lein noch unter dem Gesichtspunkt des Ertrages wahrzu-
nehmen, den diese für ihre egozentrischen Nutzenkalküle
abwerfen könnten. Der damit erzwungene Perspektiven-
wechsel wirkt sich in verschiedenen Richtungen aus, die für
Lukacs ebenso viele Formen der Verdinglichung ausmachen:
Die Subjekte sind im Warenrausch wechselseitig dazu ange-
halten, (a) die vorfindliehen Gegenstände nur noch als po-
tentiell verwertbare »Dinge« wahrzunehmen, (b) ihr Gegen-
über nur no"ch als »Objekt« einer ertragreichen Transaktion
anzusehen und schließlich (c) ihr eigenes Vermögen nur noch
als zusätzliche »Ressource« bei der Kalkulation von Venver-
tungschancen zu betrachten. Lukacs zieht alle diese Einstel-
lungsändcrungeo, die die Beziehungen zur objektiven Welt,
zur Gesellschaft und zum eigenen Selbst betreffen, im Begriff
der »Verdinglichung« zusammen, ohne auf die nuancenrei-
chen Unterschiede zwischen ihnen zu achten; als »dinghaft«
wird sowohl der quantitativ taxierte Gegenstand wie der in-
strumentell behandelte Mitmensch wie auch das Bündel an
eigenen F~bigkeiten uud Bedürfnissen bezeichnet, die nur
noch auf ihre ökonomische Verwertbarkeit hin erfahren
werden; zudem fließen in der als »verdinglichend« bestimm-
ten Einstellung verschiedene Komponenten zusammen, die
vom handfesten Egoismus über die Teilnahmslosigkeit bis
zum primär ökonomischen Interesse reichen.
Aber Lukacs will in seiner Analyse noch mehr, als bloß
eine Phänomenologie derjenigen Einstellungsänderungen
liefern, die die Teilnahme am Warentausch den Menschen
abverlangt. Zwar ist seinBlick zu Beginn beinahe ausschließ-

20
lieh auf jene Phänomene gerichtet, die Marx als »Warenfeti-
schismus « beschrieben hat,2 aber schon nach wenigen Seiten
beginnt er, sich von der engen Bindung an clie ökonomische
Sphäre zu lösen, indem er die Verdinglichungszwänge auf
das gesamte Alltagsleben im Kapitalismus überträgt. Es ist
im Text nicht ganz klar, wie diese soziale Generalisierung
theoretisch vonstatten geht, weil Lukacs zwischen alterna-
tiven Erklärungsstrategien zu schwanken scheint: Da findet
sieb einerseits das funktionalistische Argument, daß es zum
Zweck der Expansion des Kapitalismus erforderlich sei, alle
Lebenssphären dem Handlungsmuster des Warentausches
anzugleicben;3 und gleichzeitig ist im Anschluß an Max We-
ber davon die Rede, daß der Prozeß der Rationalisierung
eigensinnig zu einer Ausdehnung von zweckrationa len Ein-
stellungen auf soziale Bereiche führe, die bislang traditionel-
len Verhaltensorientierungen unterworfen waren.4 Wie pro-
blematisch auch immer die Begründung für diesen Schritt
der Verallgemeinerung sein mag, mit seiner Hilfe gelangt
Lukacs schließlich zur zentralen These seiner Studie, der zu-
foJge im Kapitalismus die Verdinglichung zur )) zweiten Na-
tur«5 des Menschen geworden ist: AUen Subjekten, die an
der kapitalistischen Lebensform partizipieren, muß es zur
habituellen Gewohnheit werden, sich selber und die umge-
bende Welt nach dem Schema bloß dinglicher Objekte wahr-
zunehmen.
Bevor ich die Frage weiterverfolgen kann, um welche Art
von Fehler es sich bei dieser Verdinglichung handeln soU,
muß erst noch der nächste Schritt in der Analyse von Lukacs
1 Karl Marx, Das Kapital, Bd. r, in: Marx!Engels, Werke, Bd. 23, Berlin
1968, S. 8 5 ff.; zum Zusammenhang von Fetischismusanalyse und Ver-
dinglichuogskritik in der Mar:xschen Kritik der politischen Ökonomie
vgl. Georg Lohman, Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Ausein-
andersetzmtg mit Marx, Frankfurr/M. ~99~. v. a. Kap. V.
3 Georg Lukacs, »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proleta-
riats«, a. a . 0., S. 270.
4 Ebd., S. 276f.
s Ebd., S. 26o.
21
dargestellt werden. Bislang hat er, wie wir gesehen haben,
den Begriff des »Dings<< oder der »Dinghaftigkeit« recht
fahrlä,sig auf alle Phänomene übertragen, die von einem
Subjekt in seiner Umwelt oder an der eigenen Person als öko-
nomisch verwenbare Großen wahrgenommen werden;
gleichgültig, ob es sich um Gegenstände, andere Personen
oder e.gene Kompetenzen und Gefühle handelt, sie werden
Lukacs zufolge als dingliche Objekte erlebt, sobald sie unter
Gesichtspunkten ihrer Verwendbarkeit in winschaftlichen
Transaktionen betrachtet werden. Aber diese begriffliche
Srratetie reicht natürlich nicht aus, um den Gedanken der
»Verdinglichung « als einer »zweiten Natur<< zu rechtferti-
gen, weil damit eine Übertragung auch auf nicht-ökono-
misch( Sphären oder Handlungsd imensionen verknüpft ist:
Wie soll erklärt werden, was Verdinglichung außerhalb der
Handlmgssphäre des Äquivalenttausches heißt, wenn damit
allein e1ne Umdefinition aller Situationsgegebenheiten in
ökonomisch kalkulierbare Bezugsgrößen gemeint ist? lnter-
essanmwei~e scheint Lukacs das hierin angelegte Problern
selber gesehen zu haben, denn er ändert im Zuge seiner Ana-
lyse schon bald die Richtung seiner begrifflichen Herange-
hensweise: Anstatt primär auf die Veränderungen zu achten,
die sich auf Seiten der erfaßten Gegenstände durch die Ver-
dinglicbung vollziehen, nimmt er nun die Transformationen
in Augenschein, die da~ handelnde Subjekt an sich selber er-
fahren muß. Auch im »Verhalten<• der Subjekte, so behaup-
tet Lu.d.cs, ergeben sich unter den Zwängen des Waren-
tauscru Veränderungen, die deren gesamtes Verhältnis zur
umgelx:ndeo Wirklichkeit betreffen; sobald nämlich ein Ak-
tor dau(.rhaft die Rolle des Tauschparmers einnimmt, wird
er zu einem »kontemplativen«, »einflußlosen Zuschauer«
dessen. »was mir seinem eigenen Dasein, als isoliertem, in ein
fremdfs System eingefügtem Teilchen geschieht«.6 Die Be-
griffe der »Kontemplation « und der »Teilnahmslosigkeit«

6 Ebd., S. 2.65.

2.2.
werden mit dieser Verlagerung des begrifflichen Bezugs-
punktes zum Schlüssel für das, was sich im Modus der Ver-
dinglichung auf der Ebene des sozialen Handeins vollzieht:
Das Subjekt nimmt selber nicht mehr aktiv am Handlungs-
geschehen seiner Umwelt teil, sondern wird in die Perspek-
tive eines neutralen Beobachters versetzt, den die Ereignisse
psychisch oder existentiell unberührt lassen. Mit » Kontem-
plation « ist hier also weniger eine Haltung der theoretischen
Versenkung oder Konzentration gemeint als eine Einstellung
der duldsamen, passiven Beobachtung; und »Teilnahms-
losigkeit« soll bedeuten, daß der Handelnde nicht länger
emotional vom Geschehen affiziert ist, sondern es ohne in-
nere Anteilnahme, eben beobachtend, an sich vorüberziehen
läßt.
Es ist unschwer zu erkennen, daß mit dieser begrifflichen
Strategie eine geeignetere Basis gefunden ist, um zu erklären,
was mit dem Gedanken der »Verdinglichung« als einer
»zweiten Natur« des Menschen gemeint sein kann. Zwar
scheinen für eine vollständige Explikation weiterhin einige
theoretische Zwischenschritte zu fehlen, aber die grund-
legende Idee läßt sich wohl doch in folgender Weise wieder-
geben: In der sich erweiternden Handlungssphäre des Wa-
rentausches sind die Subjekte gezwungen, sich selber statt als
Teilnehmer nur mehr als Beobachter des sozialen Gesche-
hens zu verhalten, weil die wechselseitige Kalkulation der
möglichen Erträge eine rein sachliche, möglichst affekt-
neutrale Einstellung verlangt; mit dieser Veränderung der
Perspektive geht zugleich eine »verdinglichende {( Wahrneh-
mung aller situationsrelevanten Gegebenheiten einher, weil
die zu tauschenden Gegenstände, die Tauschpartner und
schließlich die eigenen Persönlichkeitspotentiale allein noch
in ihren quantitativen Verwertungseigenschaften zur Kennt-
nis genommen werden dürfen; zur »zweiten Natur « wird
eine derartige Einstellung, wenn sie kraft entsprechender
Sozialisationsprozesse so sehr zu einer habitualisierten Ge-
wohnheit wird, daß sie das individuelle Verhalten im gesam-
ten Sp::krrum des Alltagslebens bestimmt; die Subjekte neh-
men unter derartigen Bedingungen auch dann ihre Umwelt
nach dem Muster bloß dinglieber Gegebenheiten wahr,
wenn ;ie nicht direkt in Tauschvollzüge involviert sind. Un-
ter '''erdinglichung(( versteht Lukacs mithin den Habitus
oder cie Gewohnheit eines bloß beobachtenden Verhaltens,
in dessen Perspektive die natürliche Umwelt, die soziale Mit-
welt und die eigenen Persönlichkeitspotentiale nur noch teil-
nah.trulos und aifektneurral wie etwas Dingliches erfaßt wer-
den.
Mitdieser knappen Rekonstruktion ist indirekt immerbin
schon bestimmt, um welche Art von Fehler oder Versagen es
sich für Lukacs bei der »Verdinglicbung (( nicht handeln
kann. Eine solche verfälschende Perspektive stellt nicht, wie
wir schon gesehen haben, einen bloß episternischen Katego-
rienfehler dar; das ist aber nicht nur deswegen nicht der Fall,
weil e; sieb bei der Verdinglichung um ein vielschichtiges
und vtrstetigtes Einstellungssyndrom handeln soll, sondern
weil diese Einstellungsänderung viel zu tief in unsere Ge-
wohnheiten und Verhaltensweisen eingreift, als daß sie wie
ein ktgnitiver Irrtum durch eine entsprechende Korrektur
einfach auflösbar wäre. Die Verdinglichung bildet eine un-
sere Perspektive verzerrende »Haltung «7 oder Verhaltens-
weise,die in kapitalistischen Gesellschaften so verbreitet ist,
daß sieb von ihr als einer >>zweiten Natur« des Menschen
sprechen läßt. Daraus ergibt sich nun aber auf der anderen
Seite, daß die »Verdinglichung« bei Lukacs auch nicht als
eine A:t von moralischem Fehlverhalten, als ein Verstoß ge-
gen moralische Prinzipien begriffen werden darf; denn dazu
fehlt einer solchen verzerrenden Haltung das Element des
subjektiven Vorsatzes, das nötig wäre, um hier eine mora-
lische Terminologie ins Spiel zu bringen. Im Unterschied zu
Marrru Nussbaum ist Lukacs nicht an der Frage interessiert,
ab wann die Verdinglichung anderer Personen einen Grad

7 Ebd.,S. J-64.
annimmt, der Anlaß zur Behauptung einer moralisch verach-
tenswerten Handlung gibt;S für ihn sind vielmehr alle Mit-
glieder kapitalistischer Gesellschaften in derselben Weise in
das verdinglichende Verhaltenssystem einsozialisiert, so daß
die instrumentelle Behandlung des Anderen zunächst nur ein
soziales Faktum, nicht aber ein moralisches Unrecht dar-
stellt.
Mit diesen Abgrenzungen sind wir an eineil Punkt gelangt,
an dem sich abzuzeichnen beginnt, wie Lukacs den Schlüs-
selbegriff seiner eigenen Analyse verstanden WlSSen möchte.
Wenn es sich nämlich bei der Verdinglichung weder bloß um
einen epistemischen Kategorienfehler noch um ein mora-
lisches Fehlverhalten handelt, so bleibt schließlich nur übrig,
sie sich als eine im ganzen verfehlte Form von Praxis vorzu-
stellen; das teilnahmslose, beobachtende Verhalten, als das
Lukacs die Verdinglichung zu begreifen versucht, bildet ein
Ensemble von Gewohnheiten und Einstellungen, welches ge-
gen Regeln einer ursprünglicheren oder besseren Form von
menschlicher Praxis verstößt. Schon diese Formulierung
macht freilich deutlich, daß auch eine solche Fassung des
Verdinglichungsbegriffs nicht frei von normativen Impüka-
tionen ist; zwar haben wir es nun nicht mehr mit dem ein-
fachen Fall einer Verletzung von moralischen Prinzipien zu
tun, aber wir sind doch mit der ungleich schwierigeren Auf-
gabe konfrontiert, eine »wahre« oder »eigentliche« Praxis
gegenüber ihrer verzerrten oder verkümmerten Form aus-
weisen zu müssen. Die normativen Grundsätze, auf die
lukacs in seiner Verdinglichungsanalyse angewiesen ist, be-
stehen nicht in einer Summe von moralisch legitimierten
Prinzipien, sondern in einem Begriff der richtigen mensch-
lichen Praxis; und ein derartiger Begriff bezieht seine Recht-
fertigung viel stärker aus Aussagen der Sozialontologie oder

8 Manba Nussbaum, "Verdinglichung•, in: dies., Konstntktion der Uebe,


des Begehrens mrd der Fürsorge. Drei philosophische Att{siitze, Stuttgart
z.ooz., v. a. S. 148 f.
philosophischen Anthropologie als aus dem Bereich, der her-
kömmlich Moralphilosophie oder Ethik genannt wird. 9
Nun ist es nicht so, daß Lukacs sich über diese normative
Herausforderung nicht im klaren wäre. Obwohl er eine
starke Neigung besitzt, mit Regel gegen die Idee eines »ab-
strakten Sollens « zu polemisieren, weiß er docb sehr genau,
daß seine Rede von einer verdinglichenden Praxis oder
»Haltung« der Rechtfertigung durch einen Begriff wahrer
menschlicher Praxis bedarf. Daher streut er an vielen Stellen
in seinem Text Hinweise ein, die beleuchten sollen, wie ein
praktisches Weltverhältnis des Menschen beschaffen wäre,
das nicht vom Zwang zur Verdinglichung affiziert ist: Vom
tätigen Subjekt heißt es da etwa, daß es als »miterlebend «, 10
als »organische Einheit«11 und als »kooperativ« begriffen
werden muß, während von der Gegenstandsseite behauptet
wird, daß sie vom teilnehmenden Subjekt als »qualitativ Ein-
zigartigel>« 12 oder »Wesentliches«, 13 als inhaltlich Bestimm-
tes erfahren werden kann. In einem seltsamen Kontrast zu
derartigen, anthropologisch durchaus nachvollziehbaren
Passagen stehen allerdings diejenigen Äußerungen von Lu-
kacs, in denen er seine Vision einer »wahren« Praxis des
Menschen unter Rückgriff auf Hege! und Fichte zusammen-
zulassen versucht; dort beißt es nämlich dann, daß wir von
einer unvenerrten Tätigkeit nur sprechen können, wo das
Objekt als Produkt des Subjekts gedacht werden kann und
Geist und Welt daher letztlich zusammenfallen. 14 Wie diese
Passagen zeigen, hat Lukacs sich bei seiner Kritik der Ver-
dinglichung wohl maßgeblich von einem identitätsphiloso-
9 Zu diesen Schwierigkeiten vgl. Axel Honnerh, "Pathologien des Sozia-
len «, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze z11r praktischen
Philosophie, Frankfurt/M. 2ooo, S. u-69, bes. S. 54 ff.
to Georg Lukacs, ,.Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proleta-
ciats•, a. a. 0., S. 272.
rr Ebd, S. 2.75 .
r2 Ebd, S. 304.
rJ Ebd, S. 308.
I4 Ebd, s. JOI, JI9.
phiseben Begriff der »Tätigkeit« leiten lassen, wie ihn etwa
Fichte mit seinem Gedanken einer spontanen Aktivität des
Geistes geliefert hat, 15 und es dürfte heute keine Frage sein,
daß Lukacs mit einer solchen Grundlegung seiner Kritik der
»Verdinglicbung« jede Chance einer sozialtheoretischen
Rechtfertigbarkeit geraubt hat. 16 Aber unterhalb der offiziel-
len, idealistischen Verlautbarungen finden sich in seinem
TeJ eben auch Stellen, an denen es wesentlich gemäßigter
heißt, daß die eigentliche, »wahre« Praxis genau jene Eigen-
schaften der Teilnahme und Interessiertheit besitzt, die durch
die Ausweitung des Warentauschs zerstört wurden; nicht die
Erzeugung des Objekts durch ein zum Kollektiv ausgedehn-
tes Subjekt, sondern eine andere, intersubjektive Einstellung
des Subjekts bildet hier das Muster, das als Kontrastfolie zur
Bestimmung einer verdingliebenden Praxis dient. Es ist diese
Spur im Text von Lukacs, die mich im Fortgang meiner
Überlegungen nun vor allem beschäftigen wird; ich will mich
der Frage zuwenden, ob es nicht tatsächlich sinnvoll ist, den
Begriff der »Verdinglichung« in der Weise zu reaktualisieren,
daß der gemeinte Sachverhalt als Verkümmerung oder Ver-
zerrung einer ursprünglichen Praxis verstanden wird, in der
der Mensch zu sich und zu seiner Umwelt ein anteilnehmen-
des Verhältnis einnimmt.
Allerdings stehen einer solchen Rehabilirierung eine Reihe
von Hindernissen entgegen, die mit bislang nichtthematisier-
ten Problemen in der Abhandlung von Lukacs zusammen-
hängen. Fragwürdig an der Weise, wie Lukacs verfährt, ist
ja nicht nur seine »offizielle « Strategie, als den normativen
Bezugspunkt seiner Kritik der Verdinglichung einen Praxis-
begriff zu verwenden, der nach idealistischer Manier alles

15 Fred Neuhouser, Fichtes Theory of Subjectivity, Cambridge 1990; zur


Abhängigkeit LuJcics' von Fichtes Idee einer selbsterzeugenden Akrivi-
tär vgl. Michael Löwy, Georg Luluics - From Ronumticism to Bolshev-
ism, Londoo 1979, Kap. 11 .
16 Jürgen Habennas, Theorie des kommunikativen Handeins, Bd. I, Frank-
furt!M. 1981, s.486ff.

27
Objektive aus der subjektiven Tätigkeit der Gattung hervor-
gehen läßt. Mindestens ebenso problematisch an seinem
Vorgeben ist die sozialtheoretische These, daß allein die Aus-
dehnung des Warentausches die Ursache für eine Verhaltens-
änderung sein soll, die nach und nach in alle Lebenssphären
der modernen Gesellschaft eindringt; ungeklärt an dieser
Behauptung ist die m~ rxistische Prämisse, der zufolge die
Teilnahme an ökonomischen Tauschprozessen eine derart
durch schJagende Bedeutung für die Individuen besitzt, daß
sich dadurch deren gesamtes Selbst- und Weltverhältnis dau-
erhaft verändert, ja aus dem Lot gebracht wird. Ferner stellt
sich im selben Zusammenhang natürlich die Frage, ob Lu-
kacs nicht gravierend das Ausmaß unterschätzt, in dem
hochdifferenzierte Gesellschaften aus Effektivitätsgründen
daraufangewiesen sind, daß ihre Mitglieder einen strategi-
schen Umgang mit sich und anderen erlernen; wenn dem so
wäre, dürfte eine Kritik der Verdinglichung von vornherein
nicht so totalisierend wie Lukacs verfahren, sondern müßte
soziale Sphären ausgrenzen, in denen jenes beobachtende,
teilnahmslose Verhalten einen vollkommen legitimen Platz
besitztP Es ist im folgenden nicht meine Absicht, alle diese
Unklarheiten und Probleme im einzelnen systematisch zu be-
handeln; meine Hoffnung ist vielmehr, daß durch eine hand-
lungstheoretische Umformulierung des Lukacsschen Ver-
dinglichungsbegriffs eine Perspektive entsteht, in der jene
ungeklärten Fragen ihren dramatischen Charakter verlieren
und statt dessen Anlaß zu erhellenden Spekulationen geben. 1

I7 Das ilt die Strategie, die Ha bermas mir seiner Wiederaufnahme der Ver-
dinglchungskritik in der Theorie des kommunikativen Handeins ver-
folgt, vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Ha11delns,
Bd. 2, Frankfurt/M. r 981, Kap. vr und VII 1.
II. Von Lukacs zu Heidegger und Dewey

Es hat sich gezeigt, daß Lukacs in der Entfaltung seiner Ver-


dinglichungskritik implizit zwei entgegengesetzte Alterna-
tiven anbietet, um seinen Rekurs auf eine »wahre«, unver-
zerrte Form der menschlichen Praxis verständlich zu ma-
chen. Das eine Mal, in der >• offiziellen<<Version, hat es den
Anschein, als wolle er die zur »zweiten Natur « geronnenen
Praktiken der Verdinglichung kritisieren, indem er sie am
Ideal einer umfassenden Praxis mißt, in der alle Wirklichkeit
letztlich durch die Arbeitstätigkeit der Gattung erzeugt wird;
ganz abgesehen davon, daß dieses erste Modell auf idealisti-
schen Prämissen beruht, muß es auch deswegen scheitern,
weil darin jedwede Existenz von Objekten, von Nicht-Er-
zeugtem zu einem Fall von Verdinglichung wird. Nur in sei-
ner zweiten Alternative scheint Lukacs hingegen ernster zu
nehmen, was er selber über den reduzierten, nämlich bloß
»beobachtenden« Modus derjenigen Praktiken und Ein-
stellungen sagt, die er zusammengenommen als »Verding-
lichung« beschreibt; denn in diesem »inoffiziellem« Ansatz,
für den sich im Text hinreichend Belege finden, wird der
Mangel der verdinglichenden Haltung an einem Ideal von
Praxis gemessen, das durch Eigenschaften der aktiven Teil-
nahme und existentiellen Involviertheit charakterisiert ist -
hier fehlt jeder idealistische Beiklang, weil es sich eher um
eine besondere Form der Interaktion als um eine welterzeu-
gende Tätigkeit handelt. Wenn wir den Winken folgen, die in
derartigen Überlegungen enthalten sind, so stoßen wir auf
eine verblüffende Verwandtschaft mit Ideen, wie sie kurz
nach der Entstehung von Lukacs' Textauch vonJohn Dewey
und Martin Heidegger entwickelt wurden; 1 und bei Erwei-

r Ich s türze mich auf Mactin Hejdegger, Sein und Z eit, Tübingen 1967
(n . Auß.);John Dewey, »Qualjtatives Denken « (1930), in: ders., Philo-
terung des zeitlichen Horizontes in clie Gegenwart binein
dürfte auch StanJey Cavell in die Reihe der Autoren auf-
zunehmen sein, mit deren Gedankengängen sich Luldcs'
zweite Version der Verdinglichungskritik berührt.2 Ich
werde mich zunächst auf einen Punkt der Konvergenz zwi-
schen lukacs und Heidegger konzentrieren, um den ange-
deuteten Begriff einer allteilnehmenden Praxis weiter zu er-
hellen.
In der Vergangenheit ist schon häufiger auf den Umstand
hingewiesen worden, daß sich zwischen Lukacs' Abhand-
lung und Heideggers Sein und Zeit in mehr als nur einer Hin-
siebt Berührungspunkte finden lassen;3 und diese geistige
»Wahlverwandtschaft« tritt noch deutlicher zutage, wenn
darüber hinaus die Aristoteles-Vorlesung von Heidegger aus
dem Jahr 1924 herangezogen wird." Um den ersten Punkt
der Übereinstimmung zwischen beiden Autoren angernessen
erkennen zu können, ist zunächst der Hinweis darauf nötig,
daß Lukacs mit seiner Abhandlung mehr als nur eine Kritik
der verdinglichenden Effekte der kapitalistischen Wirr-
schaftsform bezweckt; ihm geht es vielmehr ebensosehr um
den Nachweis, daß die moderne Philosophie deswegen im-
mer wieder auf unlösbare Antinomien stoßen mußte, weil sie
aufgrund ihrer Verwurzelung in der verdinglichten Alltags-
kulrur dem Schema der Entgegensetzung von Subjekt und

sophie und Zivilisation, Frankfurt/M. 2.003, S. 94 -n6; ders., »Affekti- •


ves Denken« (192.6), ebd., S. II7-12.4.
2. Stanler Cavell, "WISsen und Anerkennen•, in: ders., Die Unheimlichkeil
des GtwöhnlidJen, hg. v. Davide Sparti und Espen Hammer, Frankfurr/
M. z.oo3, S. 34 -75. Vgl. dazu im folgenden Kap. lll .
3 Vgl. u.a. Lucien Goldmann, Lukacs und Heidegger. Nachgelassene Frag-
mente, Darmstadr/Neuwied 197 5. Goldmann diskutiert auch die beiden
Stellen in Sein und Zeit (a. a. 0., S. 46, S. 437), an denen Heidegger aus-
drückkh von "Verdjnglicbung« spricht und sich dabei wahrscheinHch
auf Lubics' berühmten Text bezieht: Lucien Goldmann, Lukdcs und Hei-
degger. Nachgelassene Fragmente, a. a. 0., S. 113 ff.
4 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, in:
ders., Gesamta usgabe, 11, Abteilung, Bd. r8, Frankfurr/M. 1002..
Objekt verhaftet geblieben ist.5 Dasselbe Vorhaben, die neu-
zeitliebe Philosophie am Leitfaden ihrer Fixierung auf den
Subjekt-Objekt-Dualismus zu kritisieren, findet sich nun als
Ausgangspunkt auch bei Heidegger: Wie Lukacs ist auch der
Autor von Sein und Zeit der Überzeugung, daß der Primat
der Vorstellung eines neutralen Erfassens von Wirklichkeit
für die ontologischen Verblendungen verantwortlich ist, die
eine angemessene Beantwortung der Frage nach den Struk-
turen des menschlichen Daseins verhindert haben. Natürlich
teilt Heidegger in diesem Zusammenhang nicht die weiterge-
hende Absicht von Lukcics, die philosophische Privilegierung
des Subjekt-Objekt-Schemas nun ihrerseits auf die verding-
lichte Lebensform der kapitalistischen Gesellschaft zurück-
zuführen; gesellschaftstheoretische Erwägungen sind Hei-
degger stets so fremd geblieben, daß er nicht einmal den
leisesten Versuch unternommen hat, die von ihm kritisierte
Tradition der Ontologie auf ihre sozialen Wurzeln hin zu be-
fragen. Aber in der Intention einer Unterwanderung oder
»Destruktion« der herrschenden Vorstellung, wonach ein
epistemisches Subjekt neutral der Welt gegenübersteht, stim-
men die zwei Autoren im Grundsätzlichen doch so sehr über-
ein, daß sie beide nun den Vorschlag einer alternativen Auf-
fassung unterbreiten müssen.
Heidegger entledigt sich dieser Aufgabe bekanntlich mit
Hilfe einer existenzial-phänomenologischen Analyse, die de-
monstrieren soll, daß im alltäglichen Daseinsvollzug die
Welt stets bereits erschlossen ist: Wir stehen der Wirklichkeit
normalerweise gerade nicht in der Haltung eines erkennen-
den Subjekts gegenüber, sondern sind vorgängig auf ihre Be-
wältigung immer schon so bedacht, daß sie uns als ein Feld
praktischer Bedeutsamkeiten gegeben ist. Der Begriff, d~n

5 Georg Lukacs, .. Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proleta-


riats .. , in: ders., Geschichte und Klassenbewußtsein (I92. 3 ), Werke,
Band 1 (Frühschriften 11), Neuwied und Berlin r968, S. 2.57-397, hier
s. 2.87-33 I.
Heidegger verwendet, um die Struktur einer solcher prak-
tischen Bezogenheit zu charakterisieren, ist der der »Sorge«;6
damit ist eine Brücke zu den Überlegungen geschlagen, die
sich bei Lukäcs finden, wenn er einen erweiterten Begriff der
Praxis aus dem Komrast zum bloß zuschauenden Verhalten
zu gewinnen versuchr. Wie der Begriff der »Sorge« bei Hei-
degger, so scheint nämlich die Idee einer anteilnehmenden
Praxisauch für Lukacs den Schlüssel zu liefern, um die herr-
schende Fixierung auf das Subjekt-Objekt-Schema grund-
sätzlich zu widerlegen; denn bei Voraussetzung einer der-
artigen Form des Handelns stünde das Subjekt nicht mehr
neutral einer zu erkennenden Wirklichkeit gegenüber, son-
dern wäre mit existentiellem Interesse so auf sie bezogen,
daß siestets schon in qualitativer Bedeursamkeit erschlossen
wäre. Allerdings gilt es bei diesem zweiten Berührungspunkt
zwischen den beiden Autoren zu berücksichtigen, daß Lu-
käcs hter scheinbar doch ganz anders verfährt als Heidegger.
Während der Autor von Sein und Zeitaufzeigen möchte, daß
die mentalistische Sprache der herkämmHeben Ontologie
den Blick auf den faktischen Sorgecharakter unseres alltäg-
lichen Daseins nur verstellt, gebt Lukäcs offenbar von der
ganz anderen Prämisse aus, daß die fortschreitende Verding-
lichung im Kapitalismus jede Chance auf eine anteilneh-
mende Praxis bereits zerstört hat; sein eigenes Unternehmen
dürfte er daher nicht a ls Enthüllung einer immer schon gege-
benen, sondern als Aufriß einer zukünftig einmal möglichen
Daseinsweise des Menschen verstehen. Aus diesem methodi-
schen Unterschied würde sieb mit Blick auf das Problem der
traditionellen Ontologie ergeben, daß Lukacs im Unter-
schied zu Heidegger deren Vorherrschaft gar nicht an der
faktischen Wirklichkeit widerlegen könnte; vielmehr müßte
er darin notgedrungen einen angemessenen Ausdruck der
verdinglichten Verhältnisse erkennen, die erst nach einer

6 Heidtgger, Sein und Zeit, :>. a. 0., S. 57 u. S4r; ders., Grundbegriffe der
aristcrtelischen Philosophie, a. a. 0., S. 55 ff.

32
Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsform tat-
sächlich aufzuheben wären.
Mit dieser Komplizierung ist eines der schwierigsten Pro-
bleme angesprochen, welches der Text von Lukacs stellt. Bei
näherer Betrachtung ist es nämlich gar nicht so klar, ob seine
Argumentation- wirklieb auf die Schlußfolgerung hinaus-
läuft, daß der Prozeß der Verdinglichung alle Elemente einer
»wahren <• , anteilnehmenden Praxis bereits beseitigt hat;
denn vor allemim IetztenKapitel seiner Abhand lung, das die
»Bewußtwerdung« des Proletariats behandelt, finden sich
zahlreiche Stellen, die den entgegengesetzten Eindruck ver-
mitteln. Lukacs versucht dort mit starken Anleihen bei Fichte
zu zeigen, daß die Aufhebung der verdinglichten Verhältnisse
nur als ein Akt zu denken sei, in dem die Arbeiterklasse sich
der Tatsache ihrer faktisch stets schon geleisteten Erzeu-
gungsleistungen bewußt wird: Gerade weil das Proletariat
ein zuriefst erniedrigtes und versachHchtes Dasein fu~rr, so
lautet der dialektische Gedankengang, muß in ihm wie durch
eine spontane Kehrtwendung die Erkenntnis zum Durch-
bruch kommen, »daß die gesellschaftlichen Gegenstände
nicht Dinge, sondern Beziehungen zwischen Menschen
sind«J Wenn wir von diesen geschichtsphiJosophischen
Spekulationen wiederum alle idealistischen Überhöhungen
abziehen und sie auf einen nüchternen Kern reduzieren, so
bleibt von ihnen die Feststellung übrig, daß die andere, nicht-
verdinglichte Form von Praxis unter den Bedingungen der
Verdinglichung nicht etwa beseitigt, sondern bloß dem Be-
wußtsein entzogen ist; wie Heidegger würdeauch Lukacs an-
nehmen, daß die verdinglichten Verhältnisse nur einen fal-
schen Interpretationsrahmen, einen ontologischen Schleier
darstellen, hinter dem sich die Faktizität der tatsächlichen
Daseinsweise des Menschen verbirgt.
Folgen wir diesem Deutungsvorschlag, für den es im Text

7 Georg Lukacs, »Die Verdingücbung und das Bewußtsein des Proleta-


riats• , a. a. 0., S. 366.

33
von Lukacs kaum eine sinnvolle Alternative gibt, so stimmen
die beiden Denker in der Plazierung ihrer jeweiligen Praxis-
begriffe tatsächlich weitgehend überein: Was sich bei Lukacs
an Arupielongen auf eine teilnehmende Praxis findet, soll
ebenso wie Heideggers Begriff der »Sorge« die Form von
praktischer Orientierung bezeichnen, durch die die mensch-
liche Lebensweise ihrer Struktur nach gekennzeichnet ist;
denn mtgegen der herrschenden, zur »zweiten Natur« ge-
wordenen Vorstellung, der zufolge der Mensch primär stets
um ein erkennendes, neutrales Erfassen von Wirklichkeit be-
müht ist, vollzieht er sein Dasein tatsächlich im Modus einer
existentiellen Anteilnahme, eint>r »Besorgtheit•<, die ihm die
Welt bedeutungsvoll erschlossen sein läßt. Diese elementare
Eigenschaft menschlicher Praxis muß auch in solchen sozia-
len Verhältnissen noch rudimentär gegeben sein, die, wie
Lukacs annimmt, durch die Ausdehnung des Warentausches
weitgehend der Verdinglichung anheimgefallen sind; anders
nämlich könnte Lukacs gar nicht behaupten, daß es bloß ei-
nes Al<tes der Bewußtwerdung (und nicht etwa der Antizipa-
tion oder Erinnerung) bedarf, um durch die verdinglichten
Sozialbeziehungen hindurch die Faktizität praktischer An-
teilnahme ans Licht zu bringen. Insofern teilen beide Denker
die Überzeugung, daß inmitten der falschen, ontologisch
verblendeten Gegenwart jene elementaren Strukturen der
menschlichen Lebensform immer schon anwesend sein müs-
sen, die durch Besorgtheit und existentielle Interessiertheit
gekennzeichnet sind.
Ausdieser Gemeinsamkeitergibt sich freilich als eine wei-
tere Konsequenz, daß Lukacs und Heidegger auch in einem
dritten, entscheidenden Punkt übereinstimmen müssen. Bis-
lang hatte es in meiner Rekonstruktion ja geheißen, daß für
Lukacs »Verdinglichung« weder einen bloßen Kategorien-
fehler noch einen moralischen Regel verstoß, sondern eine
falscht »Haltung« oder Gewohnheit, also eine habituali-
sierte Form von Praxis bezeichnet; das aber kann nicht voll-
ständig richtig sein, wenn beide Autoren gleichzeitig darin

34
übereinstimmen, daß die Vorstellung versachlichter, ding-
hafter Beziehungen nur wie ein interpretatorischer Schleier
die Tatsache faktischer Besorgtheit und Anteilnahme ver-
deckt. Unter dieser Prämisse nämlich muß auch Lukacs an-
nehmen, daß die Verdinglichung nicht eine falsche Form
habitualisierter Praxis, sondern eine falsche Deutungs-
gewohnheit bezüglich einer rudimentär stets gegebenen,
»richtigen « Praxis darstellt; von »verdinglichten« Verhält-
nissen zu sprechen würde dementsprechend bedeuten, den
unter solchen Bedingungen lebenden Akteuren eine irregelei-
tete Auffassung von den Praktiken zu unterstellen, die sie in
ihrem Alltag eigentlich stets schon vollziehen. Zugleich dür-
fen diese falschen Deutungen aber auch nicht so vorgestellt
werden, daß sie ohne jeden Einfluß auf die tatsächlichen
Handlungsvollzüge der Subjekte bleiben; denn Lukacs wür-
de doch ebenso wie Heidegger behaupten, daß die Herr-
schaft der Subjekt-Objekt-Spaltung, daß die Hegemonie des
ontologischen Schemas der »Vorhandenheit«8 eine negative,
wenn nicht gar Zerstörerische Wirkung auf unsere alltägliche
Lebenspraxis ausübt. In der Konsequenz dieser zusätzlichen
Komplizierung sind beide Denker gezwungen, eine These zu
vertreten, die etwa den folgenden Gehalt besitzt: Die zur
zweiten Natur gewordene Gewohnheit, sich die Beziehung
zu sich selber und zur Umwelt nach dem Muster eines neu-
tralen Erfassens von dinglichen Gegebenheiten vorzustellen,
verleiht auch der menschlichen Handlungspraxis über die
Zeit eine andere, verdinglichte Gestal~ ohne daß der ur-
sprüngliche Sorgecharakter jener Praxis aber jemals voll-
ständig zum Verschwinden gebracht werden könnte; viel-
mehr muß in Form eines präreflexiven Wissens oder elemen-
tarer Handlungsreste diese vorgängige Eigenschaft stets so

8 Zum Schema der » Vorha ndenheita bei Heidegger vgl.: ders., Sein und
Zeit, a. a. 0., S. 55 f. VgL auch die hilfreiche Klärung des Gegensatzes von
,.zuhandenheit• und ,. Vorhandenheit• bei Heidegger, in: Hubert L.
Dreyfus, Being-in-the World. A Commentary on Heidegger's Being and
Time, Division I, Garnbridge (Mass.) 199 1, Kap. 4 ·

35
präsem bleiben, daß eine kritische Analyse sie jederzeit wie-
der zu Bewußtsein bringen könnte. Um die damit umrissene
These lu vervoJlsrändigen, hätte Lukacs ihr nur den Zusatz
hinzuzufügen, daß sich die Entstehung der verdinglichenden
Denkgewohnheiten weniger aus der Vorherrschah einer fal-
schen Ontologie als aus der sozialen Generalisierung des
Warenrausches ergibt: Der wachsende Gestaltwandel der so-
zialen Praktiken in Richtung eines teilnahmslosen Handeins
verdankt sich den Zwängen, die die Teilnahme an bloß kal-
kulatorischen Tauschrrozessen auf die Deutungsgewohn-
heitender Subjekte ausübt.
Mitdiesem Zwischenergebnis haben wir einen Punkt er-
reicht,an dem sich nun die Frage in Angriff nehmen läßt, ob
Heideggers Begriff der >>Sorge« tatsächlich zur AuJnellung
der Vorstellung von Praxis beitragen kann, die Lukacs seiner
Verdinglichungskritik zugrunde gelegt hat. Die Vermutung
einer solchen möglichen Befruchtung hatte sich ja deswegen
aufgedrängt, weil Lukacs in der zweiten Interpretations-
alternative seiner Theorie die Strukturen der originären Pra -
xis charakterisiert, indem er sie durch jene Eigenschaften zu
bestimmen versucht, die dem verdinglichten, bloß beobach-
tenden Verhalten gerade zu fehlen scheinen; dadurch ergibt
sieb nämlich nun, daß sich. der Mensch eigentlich stets in der-
selben Weise anteilnehmend und interessiert gegenüber sei-
ner Umwelt verhalten muß, wie Heidegger dies auch in sei-
nem Begriff der >>Sorge« anvisiert hat. Damit ist auf den
ersten Blick wohl kaum mehr gemeint als das, was heure als
»Teilnehmerperspektive« im Gegensatz zu einer bloßen Be-
obachrerperspektive bezeichnet wird: Menschliche Subjekte
partizipieren normalerweise am sozialen Leben, indem sie
sich ill die Perspektive ihres jeweiligen Gegenübers versetzen,
dessen Wünsche, Einstellungen und Überlegungen sie als
Gründe seines Handeins zu verstehen gelernt haben; wird
hingegen diese Perspektivübernahme nicht geleistet und da-
mit eine bloß beobachtende Haltung gegenüber dem An-
deren eingenommen, so zerreißt das vemün&ige Band der
menschlichen Interaktion, weil sie nicht länger über das
wechselseitige Verstehen von Gründen vermittelt ist.9 Die
beiden Elemente, durch die mithin die sogenannte Teilneh-
merperspektive charakterisiert sein soll, sind die Perspektiv-
übernahme und das sich daraus ergebene Handlungsverste-
hen; und die Frage an dieser Stelle ist natürlich, ob damit
genau die Aspekte benannt sind, auf die Heidegger mit sei-
nem Begriff der »Sorge« und Lukacs mit seiner Idee der »an-
teilnehmenden « Praxis primär abzielen wollten. Sind die In-
tuitionen, die die beiden Denker mit ihrer Kritik an der
Vorherrschaft des Subjekt-Objekt-Schemas verbinden, an-
gemessen und vollständig in die These zu übersetzen, daß in
der menschlichen_ Lebenspraxis die Teilnehmerperspektive
stets einen notwendigen Vorrang vor dem bloßen Beobach-
terstandpunkt besitzt? Dagegen spricht zunächst schon der
Umstand, daß Heidegger und auch Lukacs ihren jeweiligen
Begriff der Praxis so verstanden wissen möchten, daß er sich
auf den Umgang sowohl mit den Mitmenschen als auch mit
der restlichen Umwelt erstreckt; die Einstellung der »Sorge «
oder der »Anteilnahme« soll ihrer Vorstellung nach nicht al-
lein dem anderen Subjekt in der zwischenmenschlichen Inter-
aktion gelten, sondern im Prinzip jedem Gegenstand, soweit
er in den Bewandtniszusammenhang menschlicher Praxis
fällt- schon die hier verwendete Kategorie des »Gegenstan-
des « würde Heidegger ja ablehnen, weil sie viel zu sehr dem
ontologischen Schema der Entgegensetzung von Subjekt und
Objekt verhaftet bleibt. 1o Aber nicht nur in ihrer Extension,
9 Vgl. zur Idee der »Teilnehmerperspektive« exemplarisch:Jürgen Haber-
mas, " Was heißt Universalpragmatik? u, in: ders., Vorstudien und Er-
gänzunger~ zur Theorie des kommunikativen Harzdel11s, Frankfurt!M.
1984, S. 3 53 -440; Daniel C. Dennett, The Intentional Stance, Cam-
bridge (Mass.) 1987.
ro Heidegger vermeidet auf der ontologischen Ebeneseiner Daseinsanalyse
sowohl den Begriff des ~Gegenstandes • als a uch den des .. Dings• ; an
ihre Stelle setzt er zumeist den Begriff des ,.zeugs« als Komplementä r-
kategorie zum • Zuhandenen•, vgl. etwa: Martin Heidegger, Sein und
Zeit, a. a. 0., S. 68.

37
sondern auch ihrer Intension nach scheinen die Begriffe, die
Lukacs und Heidegger verwenden, etwas mehr oder anderes
zu beinhalten, als was in der Idee der Teilnehmerperspektive
festgehalten wird; denn »Sorge« oder »Anteilnahme« sind
Ausdrücke, die zwar auch einen Akt der Perspektivüber-
nahme bezeichnen, diesem aber zusätzlich ein Element der
affektiven Bezogenheit, ja der positiven Vorgestimmrheir bei-
legen, das in der Vorstellung des Verstehens von Handlungs-
gründen nicht zum Tragen kommt. 11 Es ist damit eine bauch-
dünne, a her um so enrs..::heidendere Grenze markiert, die die
Intuitionen unserer beiden Autoren von dem trennt, was
heute an grundsätzlichen Erwägungen mit Hilfe des Begriffs
der ».kommunikativen «. oder »intentionalen « Einstellung
formuliert wird: Während damit auf den Umstand abgeho-
ben werden soll, daß menschliche Wesen im allgemeinen mit-
einander kommunizieren, indem sie sich wechselseitig in der
Rolle einer zweiten Person wahrnehmen, wollen Lukacs und
Heidegger auf die ldee hinaus, daß eine solche intersubjek-
tive Einstellung vorgängig stets an ein Moment der positiven
Befürwortung, der existentiellen Zugewandtheit gebunden
ist, welches in der Zuschreibung vonrationaler Motiviertheit
nicht runlänglich zum Ausdruck kommt.
Umgenauer zu verstehen, was diese These besagen soll, ist
es sinnvoll, sich ihren Grundgedanken noch einmal in vollem
UmfaJJg vor Augen zu führen: Es wird nichts weniger be-
haupttt, als daß das menschliche Selbst- und Weltverhältnis
nichr11ur genetisch, sondern auch kategorial zunächst an etne.
befünmrtende Einstellung gebunden ist, bevor dann andere,
emotional neutralisierte Orientierungen daraus entspringen
können. Der Rückbezug auf unser leirendes Thema ergibt
sich bei Zugrundelegung einer solchen Prämisse daraus, daß
das Verlassen der ursprünglich gegebenen, befürwortenden
II Für Jen Heideggerschen Begriff der »Sorge« bat diese über den instru-
menreUen Bedeurun~gehalt hinausgehende Komponente der positiven
Voqestimmtbeir auch Huben L Dreyfus betont: vgl. ders., Being-in-
the-World, a. a. 0., Kap. 14.
Haltung zu einer Einstellung gegenüber der Umwelt führen
muß, in der deren Elemente nur noch als dingliche Entitäten,
eben als bloß noch »Vorhandenes « erfahren werden; mit
»Verdinglichungcc ist dementsprechend hier eine Denkge-
wohnheit, eine habituell erstarrte Perspektive gemeint, druch
deren Übernahme das Subjekt ebenso die Fähigkeit zur inter-
essierten Anteilnahme verliert, wie dessen Umwelt ihres Cha-
rakters der qualitativen Erschlossenheit verlustig geht. Bevor
ich die Frage weiterverfolgen kann, ob mit dieser klärenden
Bestimmung eine heute brauchbare Verwendung des Begriffs
der »Verdinglichungcc gegeben ist, muß ich aber zunächst die
ihr zugrundeliegende Prämisse zu rechtfertigen versuchen,
also die These, daß die Einstellung der Sorge einen nicht nur
genetischen, sondern auch begrifflichen Vorrang vor dem
neutralen Erfassen der Wirklichkeit besitzt. Im nächsten
Schritt will ich die damit umrissene Behauptung mit Hilfe
einer anderen Theoriesprache reformulieren, indem ich be-
hutsam den Heideggerschen Begriff der »Sorgec< durch die
von Hege! stammende Kategorie der »Anerkennungcc er-
setze; auf diesem Weg scheint es mir möglich, die These zu
begründen, daß im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis
eine befürwortende, anerkennende Haltung sowohl gene-
tisch als auch kategorial allen anderen Einstellungen vorher-
geht. Erst nachdem ich das gezeigt habe, kartn ich dann auf
die leitende Frage zurückkommen, wie wir heute sinnvoll den
Lukacsschen Begriff der »Verdinglichungc< wiederaufneh-
men können. Als Brücke zur Kategorie der ))Anerkennungcc
will ich aber zunächst einen Gedankengang vonJohn Dewey
verwenden, in dem die Überlegungen von Lulcics und Hei-
degger auf eine noch mal andere Weise formuliert werden.
In zwei faszinierenden Aufsätzen, diebeidekurz nach der
Veröffentlichung von Geschichte und Klassenbewußtsein er-
schienen sind, u hat John Dewey im Vokabular seiner eige-

u John Dewey, ,. Affektives Denken«, a. a. O., S. rq-12.5; ders., »Qualita-


tives Denken«, a. a. 0., S. 94 -116.

39
nen Tneorie eine Konzeption des originären Weltverhält-
nisses des Menschen umrissen, die in ü herraschend vielen
Punkten den Auffassungen von Lukacs und Heidegger äh-
nelt. Die Überlegungen von Dewey laufen auf die Behaup-
tung hinaus, daß jedes rationaJe Begreifen von Wirklichkeit
vorgä11gig an eine holistische Form von Erfahrung gebunden
ist, in der uns alle Gegebenheiten einer Situation aus einer
Perspektive der interessierten Anteilnahme qualitativ er-
schlossen sind; wenn wir diesem Gedankengang weit genug
folgen, läßt sich nicht nur der Übergang vom Begriff der
>> Sorge« zu dem der >'Anerkennung<< rechtfertigen, sondern
auch der Primat einer solchen Anerkennung vor allen bloß
kognitiven Einstellungen zur Welt demonstrieren.
Wie Lukacs und Heidegger, so steht auch Dewey jener
traditionelle11 Auffassung äußerst skeptisch gegenüber, der
zufolge unser primäres Weltverhälmis eines der neutralen
Konfronmtion mit einem zu erkennenden Objekt ist. Zwar
verwe.nder er ZUI Charakterisierung dieser Doktrin nicht den
BegriH der »\lerdinglichung«, auch liegt ihm das weltan-
schauliche Pathos von Heidegger fern, aber der Sache nach
stimmt er mit beiden Denkern sogar darin überein, daß die
Vorherrschaft des Subjekt-Objekt-Modells nicht ohne Fol-
gen für das gesellschaftliche Selbstverständnis bleiben kann:
Je länger das herrschende Denken noch an der herkömm-
lichen Entgegensetzung von Subjekt und Objekt festhält,
desto stärker wird unsere soziale Lebenspraxis Schaden
nehmen, weil Kognition und Gefühl, Theorie und Praxis,
WissellSchaft und Kunst nur immer weiter auseinandergeris-
sen werden. 13 Die Begründung, die Dewey für seine Kritik
am » Zuscha uerrnodell « der Erkenntnis liefert, 14 fällt freilich
wesentlich direkter und umstandsloser aus als diejenige von
Lukacs und Heidegger; ohne kulturkritische Umschweife
13 Vgl. etwa die Einleitung vo njohn Dewey, »Affektives Denken «, a. a. 0.,
S.II7.
14 Vgl. v. a. joho Dewey, Die Suche nach Gewißheit, Frankfun/M. 1998,
s. 27ff.
möchte er mit Hilfe sprachtheoretischer und epistemolo-
gischer Argumente zeigen, daß am Anfang jeder rationalen
Erkenntnis die empfindungsreiche Erfahrung einer praktisch
zu bewältigenden Umwelt steht. Alle Existenzaussagen ha-
ben ihre kognitiven Wurzeln, so beginnt Dewey seine Dar-
legung, in einer Situation, die »trotz ihrer interneo Komple-
xität >für das handelnde Subjekt< durchweg von einer ein-
zigen Qualität beherrscht und charakterisiert wird «; 15 ob es
sich um die Interaktion mit anderen Personen oder um den
Umgang mit dinglichen Objekten handelt, stets sind die si-
tuationalen Gegebenheiten zunächst in das Licht einer be-
stimmten Erfahrungsqualität getaucht, die keine Unterschei-
dung in emotionale, kognitive oder voluntative Elemente
zuläßt; denn was wir in solchen Augenblicken erleben, was
die »Stimmung« (Heidegger) derartiger Situationen aus-
macht, beherrscht unser Selbst- und Weltverhältnis in so um-
fassender Weise, daß uns momentan die Heraushebung eines
bestimmten Aspekts unmöglich ist. In dieser ursprünglichen
Qualitätall unseres Erlebens kommt für Dewey die Tatsache
zum Tragen, daß wir als handelnde Wesen zunächst mit exi-
stentieller Distanzlosigkeit und praktischem Engagement
auf die Welt bezogen sind; an anderer Stelle verwendet er für
denselben Umstand den Begriff der »Interaktion«, 16 der
deutlich macht, daß es sich dabei nicht um eine selbstbe-
zogene, egozentrische EinstelJung handelt, sondern um ein
Bekümmertsein um alle situatiooalen Gegebenheiten im In-
teresse eines möglichst reibungslosen, harmonischen Aus-
tauschs: Uns ist die Welt nicht in Sorge um uns selbst er-
schlossen, vielmehr durchleben wir Situationen in Sorge um
die Bewahrung einer fließenden Interaktion mit der Umwelt.
Ich werde diese ursprüngliche Form der Weltbezogenheit im
folgenden »Anerkennung« nennen; damit soll hier vorläufig
nur der Umstand hervorgehoben werden, daß wir uns in un-
15 John Dewey, »Qualitatives Den ken• , a. a . 0 ., S. 97.
x6 Vgl. etwa John Dewey, Erfahmng 11nd Natf4r, Fra nk furt/M . 199 5, v. a .
Kap. 5·
serem Handeln vorgängig nicht in der affektiv neutralisier-
ten Haltung desErkennensauf die Welt beziehen, sondern in
der existentiell durchfärbten, befürwortenden Einstellung
des Bekümmerns: Wir räumen den Gegebenheiten der uns
umgebenden Welt zunächst stets einen Eigenwert ein, der
uns um unser Verhältnis mit ihnen besorgt sein läßt. Insofern
teilt der Begriff der »Anerkennung« auf dieser elementaren
Ebene nicht nur mit Deweys >> praktischem Engagement«,
sandem auch mir Heideggers )>Sorge « und Lukäcs' »Anteil-
nahme« den gleichen Grundgedanken der Vorgängigkeit ei-
nes existentiellen Interesses an der Welt, das sich aus der Er-
fahrung ihrer Werthaftigkeit speist. 17 Eine anerkennende
Haltung ist mithin Ausdruck der Würdigung der qualitati-
ven Bedeutung, die andere Personen oder Dinge für unseren
Daseinsvollzug besitzen.
De'-'·ey möchte nun im Fortgang seiner Darlegung zeigen,
daß wir zu einer rationalen Aufgliederung einer erlebten Si-
tuation nur gelangen können, nachdem wir uns von ihrer
qualitativen Einheit durch einen Akt der Distanznahme ge-
trennt haben: Das an analytischen Komponenten, was wir
für die intellektuelle Bewältigung eines Handlungsproblems
benötigen, ergibt sich für uns aus dem reflexiven Versuch,
nachträglich die Komponenten voneinander zu trennen, die
wir zuvor im Z usammenspiel einer einzigen Stimmung unge-
schieden erlebt haben. Erst jetzt, in der sekundären »Bear-
beitung« einer Situa~on, korrunt es mit der Zergliederung in
emoti.onale und kognitive Elemente auch zur Herausdestil-
lierung eines Erkenntnimbjekts, dem sich das handelnde In-
dividuum affektiv neutralisiert als Subjekt entgegensetzen
kann; all seine Aufmerksamkeit, die zuvor im ganzen der di-

17 Nach dieser Deutung enthält a uch die •Sorge« bei Heicegger, anders als
Ernst Tugendhat es in seiner Interpretation darstellt (d: rs., •Schwierig-
keitm in Heideggers Umweltanalyse•, in: ders., 4fsätze. 1992 -2000,
FraJJkfurtiM. 2.001 , S. 109-137), insofern stets ein Element der Dezen-
trierong, als es immer auch um eine Berücksichtigung der inneren An-
sprüchlichkeit des Objekts geht.
rekten Erfahrung verloren war, vermag es jetzt als kognitive
Energie auf die intellektuelle Bewältigung eines Problems zu
konzentrieren, das als hervorgehobene Entität sämtliche
weiteren Gegebenheiten in den Hintergrund treten läßt.
Aber der ursprüngliche, qualitative Erfahrungsgehalt, so be-
tont Dewey unermüdlich, darf in diesem kognitiven Prozeß
der Abstraktion nicht verlorengehen, weil sonst die schäd-
liche Fiktion eines bloß daseienden Objekts, eines »Gegebe-
nen «18 entsteht; sobald wir nämlich vergessen haben, welche
Art von Stimmung am Anfang unserer reflexiven Bemühun-
gen stand, gerät uns aus dem Blick, worurnwillen wir die Re-
flexion überhaupt erst begonnen haben. Um das Ziel aU un-
serer Denkoperationen nicht aus den Augen zu verlieren,
muß ihr Ursprung im qualitativen Erleben stets als Hinter-
grund bewußt gehalten werden.
Dewey macht diese Anforderung am Fall einfacher Prä-
dikationen kJar, die er als ein Beispiel für die sprachliche
Abstraktionsleistung beim Versuch der Fixierung eines Er-
kenntnisobjekts begreift. Nehmen wir eine beliebige Aus-
sage, die die Subjekt-Prädikat-Form besitzt, so legt ihre
sprachliche Gestalt die Vermutung nahe, als ob hier einer ge-
gebenen Entität eine Eigenschaft bloß attribuiert werde; be-
lassen wir es nun bei der Form der Prädikation, so bleibt es
ontologisch letztlich undurchschaubar, in welchem Verhält-
nis die Eigenschaft zur scheinbar unabhängigen Entität ei-
gentlich stehen soll; dieses Rätsellöst sich erst auf, wenn wir
uns rückblickend klarmachen, daß sich die prädikative Aus-
sage dem Versuch einer Abstraktion von einer qualitativen
Ausgangserfahrung verdankt; dann nämlich wird deudich,
daß sich Subjekt und Prädikat )) korrelativ« ergänzen, weil
sie ursprünglich die Bewegungsrichtung eines qualitativ er-
lebten Engagements anzeigren. 19 In einer Weise, die unzwei-
deutig an Heideggers Unterscheidung von »Zuhandenheit«

18 John Dewey, »Qualitatives Denken «, a. a. 0., S. 107.


19 Ebd., S. ro6.

43
und »Vorhandenheit•• erinnert, erläutert Dewey sein Argu-
ment noch einmal am Beispiel der Prädikation, nach der
»alle Menschen sterblich sind«: Diese Aussage verliert den
suggestiven Charakter einer bloßen Attribuierung erst in
dem Augenblick, in dem wir sie in ihre ursprüngliche Form
des transitiven Satzes »Menschen sterben« überführen, der
die »Sorge<< um das »menschliche Schicksal« artikuliert,
welche am Anfang des sprachlichen Abstraktionsprozesses
stand.!O
Dewey ist offenbar der Überzeugung, daß sich nach einem
solchen Muster alle Aussagen entschlüsseln lassen können,
in denen Menschen durch ein Prädikat bestimmt werden.
Stets stellen derartige Prädikationen für ihn nur das Resultat
einer objektivierenden Umformulierung der Ängste, Sorgen
oder Hoffnungen dar, die wir Personen gegenüber empfin-
den, wenn wir ihnen in der gewöhnlichen Einstellung der
Anerkennung begegnen. An diesem Anfangspunkt sind die
beiden Glieder des späteren Aussagesatzes noch »korrela-
tiv« aufeinauder bezogen, weil sie stumme Erfahrungsqua-
litäten bilden, die nur in ihrem Zusammenspiel die Richtung
unserer Besorgnis offenbaren; nirgendwo »gibt« es hier
bereits eine klar umrissene, fixe Entität mit dem Titel
•>Mensch«, die unabhängig von der qualitativen Wirkung
wäre, welche wir in existentieller Anteilnahme antizipieren.
Erst d1e Transformation einer solchen Erfahrung in einem
allgemeinen Aussagesatz zerreißt den zirkulären Zusam-
menhang, der zuvor zwischen erlebter Person und verspürter
Wirkung bestand; und nun kann die ontologische Fiktion
entstehen, als »gäbe« es Menschenganz ohne Eigenschaften,
weil wir ihnen diese ja erst in der Prädikation als Attribut zu-
schreiben. In einer Formulierung, die der Sache, nicht dem
Worthut nach erneut an Heidegger erinnert, spricht Dewey
daher und wie später Winfried Sellars von der »trügerischen
Idee des >Gegebenen<•~ : »Das Einzige, was ohne nähere Be-

20 Ebd, S. 106.

44
stimmungen gegeben ist, ist die totale durchgängige Quali-
tät; und was dagegen spricht, sie als •gegeben• zu bezeichnen,
ist eben, dass das Wort etwas suggeriert, dem es gegeben ist,
Geist oder Denken oder Bewusstsein oder was auch immer,
sowie möglicherweise etwas, das gibt. In Wahrheit bezeich-
net >gegeben< in diesem Zusammenhang nur, dass Qualität
unmittelbar existiert oder schlicht da ist. In dieser Eigen-
schaft bildet sie das, auf was sich alle Objekte des Denkens
beziehen [... ].«21 Im Ausgang von diesem Gedankengang
möchte ich nun zu zeigen versuchen, daß das Anerkennen ge-
genüber dem Erkennen sowohl genetisch als auch begrifflich
einen Vorrang besitzt.

2.1 Ebd., S. ro7.

45
ru. Der Vorrang der Anerkennung

Um die These verständlich machen zu können, daß das an-


teilnehmende Verhalten dem neutralen Erfassen von Wirk-
lichkeit, das Anerkennen dem Erkennen vorausgeht, muß
ich den theoriegeschichtlichen Rahmen verlassen, in dem ich
mich bislang ausschließlich bewegt habe. Es bedarf nun ei-
niger unabhängiger Beweise und Arg~nte, um ohne die
bloße Berufung auf philosophische Autoritäten zeigen zu
können,fdaß eine Schicht der existentiellen Anteilnahme tat-
sächlich all unserem objektivierenden Weltverhältnis zu-
grunde lieg_9 erst nach diesem Zwischenschritt läßt sich dann
womöglich umreißen~ wie ein Begriff der ))Verdinglichung«
beschaffen sein müßte, der die Intuitionen von Lukacs aner-
kennungstheoretisch bewahrt. Als Kong:_astfoüe will ich wie-
derum die These verwenden, nach der die Spezifik mensch-
lichen Verhaltens in der kommunikativen Einstellung der
Perspektivübernahme bestehSJdemgegenüber möchte ich be-
haupten, daß diese Fähigkeit zur rationalen Perspektivüber-
nahme ihrerseits in einer vorgängigen Interaktion verwurzelt
ist, die Züge einer existentiellen Besorgnis trägt. Ich will die
damit angedeutete Vermutung zunächst unter genetischen
GesiclJtspunkten erhärten, indem ich die Voraussetzungen
des kindlichen Erwerbs der Fähigkeit zur Perspektivüber-
nahme in den Blick rücke (I}, bevor ich dann an die ungleich
schwierigere Aufgabe einer systematischen oder kategoria-
len Beweisführung (2) gehe.
(1) Es herrsehr innerhalb der Entwicklungspsychologie
und Sozialisa tionsforschung schon seit längerem daniber Ei-
nigkeit, daß die Entstehung der kindlichen Denk- ~d lnter-
aktionsfähigkeiten als ein Prozeß gedacht werden muß, der
sieb vermittels des Mechanismus der Perspektivübernahme
vollzieht. Nach dieser Vorsteliung, die sich einer Synthetisie-
rungentweder von Piaget und G . H. Mead 1 oder von Donald
Davidson und Freud 2 verdankt, ist im kindlichen Entwick-
lungsprozeß der Erwerb von kognitiven Fähigkeiten rrUt der
Ausbildung von ersten Kommunikationsbeziehungen eigen-
tümlich verschränkt: Das Kind lernt, sich auf eine objektive
Welt konstanter Gegenstände zu beziehen, indem es aus der
Perspektive einer zweiten Person zu einer allmählichen De-
zentrierung seiner eigenen, zunächst egozentrischen Per-
spektive gelangt. Der Umstand, daß der Säugling schon früh
beginnt, mit seiner Bezugsperson kommunikativ in Kontakt
zu treten, ihren Blick zu erheischen und auf bedeutungsvolle
Objekte zu lenken, wird von diesen Theorien als Hinweis auf
eine Phase der experimentellen Erprobung gedeutet, durch
die die Unabhängigkeit einer anderen Sichtweise auf die um-
gebende Welt getestet wird; und in dem Maße, in dem es dem
Säugling gelingt, sich in diese zweite Perspektive hineinzu-
versetzen und auch aus ihr heraus die Umwelt wahrzuneh-
men, soll er über die korrektive Instanz verfügen, die ihn
zum ersten Mal eine entpersönlichte, objektive Vorstellung
von Gegenständen gewinnen läßt. Im allgemeinen wird
heute als der Zeitpunkt, an dem das Kind zu einer solchen
Triangulierung in der Lage ist,3 der neunte Monat in seinem
Leben angesetzt; daher wird in neueren Forschungen auch
von der »Neunmonatsrevolution «4 gesprochen, weil in die-
sem Alter die Fähigkeit erworben wird, die Bezugsperson als

I Vgl. etwa Jürgen Habermas, • lndividuierung durch Vergesellschaftung.


Zu George H. Meads Theorie der Subjektivität", in: ders., Nachmeta-
physisches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 187ff.
2. Vgl. Marcia Cavell, Freud und die analytische Philosophie des Geistes.
Oberlegungen Ztl einer psychoanalytischen Semantik, Srungart 1997.
3 Ich stütze mich im folgenden vor a iJem auf: Michael Tomasello, Die kul-
lllrelle Entwicklung des melischliehen Denkens, Frankfurt/M 2002;
Peter Hobson, Wie wir denken lernen, Düsseldorf/Zürich 2003 ; Marrin
Domes, "Die emotionalen Ursprünge des Denkens«, in: WestEnd. Neue
Zeitschrift fiir Sozialforschung, 2.jg., H 1, 2005, S. 3-48.
4 Michael Tomasello, Die k11ltt~rel/e Entwicklung des menschlichen Den-
ltms, a. a. 0., S. 77 ff.

47
einen intentionalen Aktor wahrzunehmen, dessen Einstel-
lung z11r umgebenden Welt ebenfalls zielgerichtet ist und in-
sofemgleichgroße Bedeutung wie die eigene besitzt.
Was nun an all diesen entwicklungspsychologischen
Theorien bemerkenswert ist, die entweder mit George H.
Mead oder mit Donald Davidson die Notwendigkeit der Per-
spektivübernahme für die Entstehung des symbolischen
Denkens hervorheben, ist das Maß, in dem sie die emotio-
nale Seite der Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson
ignorieren; schon bei Mead gab es eine gewisse Tendenz, den
frühen Schritt zur Übe;:nahrne der Perspektive eines konkre-
ten Allderen so darzustellen, als spiele dabei dessen affektive
Beseuung durch das Kind kaum eine signifikante Rolle.5 Ins-
gesamt herrscht bei der überwiegenden Zahl der Versuche,
die Entstehung geistiger Tätigkeiten aus der kommunikati-
ven Beziehung zur Bezugsperson zu erklären, ein Hang zum
Kognitivismus vor: Die Dreiecksbeziehung, in die das Kind
sieb aktiv hineinversetzt, sobald es nach Phasen det Proco-
konversation die Unabhängigkeit der Perspektive der zwei-
ten Person erahnt, wird als ein weitgehend emotionsloser
Raum dargesteUt. Erst in jüngster Zeit haben einigeneuere
UnteiSuchungen diese kognitivistischen Abstraktionen rück-
gängig zu machen versucht, indem sie vergleichend Fälle von
autistischen Kindem heranzogen; dabei ist mit erstaunlicher
Regelmäßigkeit zutage getreten~ daß sich das Kleinkind erst
mit der Bezugsperson emotional identifiziert haben muß, be-
vor es deren Einstellung als korrektive Instanz gelten lassen
kann. Ich will an Forschungsergebnisse solcher Art anknüp-
fen, um den ontogenetischen Vorrang der Anerkennung vor
dem Erkennen belegen zu können.
Wahrscheinlich ist es der empirische Vergleich mit autisti-
schen Kindern gewesen, der es den soeben erwähnten Unter-.
suchungen erlaubt hat, eine größere Sensibilität für die affek-

5 Axd Honneth, Kampf 11m Anerkennung. Zur moralischen Grammatik


soialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992.., S. 128.
tiven Komponenten des frühkindlichen Interaktionsgesche-
hens zu entfalten; denn als die Ursache für die Entstehung
des Autismus wird hier im allgemeinen betrachtet, daß es
dem Kleinkind aufgrund unterschiedlicher, zumeist konsti-
tutioneller Barrieren verwehrt ist, ein Verbundenheitsgefühl
mit seinen primären Bezugspersonen zu entwickeln. Im Nor-
malfall hingegen, so behaupten etwa Peter Hobson oder
auch Michael Tomasello, stellt eine solche emotionale Iden-
tifikation mit Anderen die notwendige Voraussetzung dar,
um jene Perspektivübernahme zu ermöglichen, die zur Ent-
wicklung symbolischen Denkens führr. 6 Den Ausgangs-
punkt dieser Untersuchungen stellt derselbe Prozeß des
Übergangs von der primären zur sekundären Intersubjekti-
vität dar, den auch die kognitionszentrierten Ansätze vor
Augen haben: Das Kind vollzieht im Alter von ungefähr
neun Monaren eine Reihe von beachtlichen Fortschritten in
seinem lnteraktionsverhalten, die etwa darin bestehen, daß
es seine Bezugsperson nun durch protodeklarative Gesten
auf Gegenstände aufmerksam machen kann, nur um siege-
meinsam mit ihr zu betrachten; es vermag darüber hinaus
zum ersten Mal, seine Einstellung gegenüber bedeutsamen
Objekten von den expressiven Verhaltensweisen abhängig
zu machen, mit der der konkrete Andere vor seinen Augen
darauf reagiert; und schließlich scheint es im Vollzug symbo-
lischer Spielhandlungen, dem also, was G. H. Mead »play«
nannte, allmählieb zu begreifen, daß sieb bislang vertraute
Bedeutungen von Gegenständen entkoppeln und auf andere
Objekte übertragen lassen, mit deren neuer, entliehener
Funktion dann kreativ umzugehen ist. In der Feststellung
solcher oder ähnlicher Lernschritte stimmen, wie gesagt, die
beiden Theorieansätze weitgehend überein, die ich bisher

6 VgJ. etwa Peter Hobson, Autism and the Deuelopment of Mind, Hove/
Hilsdale 1993; Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des
menschlichen Denkens, a. a. 0 ., S. 94 ff. Einen vorzüglichen Oberblick
liefert Manin Dornes, • Die emotionalen Ursprünge des Denkens•,
a. a. 0., S. 23 ff.

49
unterschleden habe; gemeinsam richten sie ihr Augenmerk
auf die Entwicklungen im kommunikativen Umgang, durch
die das Kind schrittweise lernt, aus der Perspektive einer
zweiten Person Gegenstände als Entitäten einer objektiven,
einsteUungsunabhängigen Welt wahrzunehmen. Aber im
Unterschied zu den kognitionszentrierten Ansätzen behaup-
ten nun Hobson und Tomasello, daß das Kindall diese inter-
aktiven Lernschritte nicht vollziehen könnte, wenn es nicht
zuvor ein GefüW der Verbundenheit mit seinen Bezugsperso-
nen entwickelt hätte; denn erst eine solche vorgängige Iden-
tifikation erlaubt es dem Kind, sich von der Präsenz des kon-
kreten Anderen so bewegen, so mitreißen oder motivieren zu
lassen, daß es dessen Einstellungsänderungen interessiert
nachzuvollziehen vermag.
Das Spezifische an dieser Theorie tritt vielleicht am besten
zu Tage, wenn wir uns noch einmal den Unterschieden in der
Erlclärung des Autismus zuwenden. Während die herkömm-
lichen, kognitionszentrierten Ansätze die Entstehung autisti-
schen Verhaltens auf kognitive Defizite zurückführen müs-
seo, die mit Störungen der Denk- oder Sprachfunktionen
zusammenhängen, bringen Tomasello und Hobsou als ent-
scheidende Ursache die mangelnde Ansprechbarkeit des
Kindes für die emotionale Präsenz der Bezugspersonen ins
Spiel; auch diese Teilnahmslosigkeit mag zwar ihrerseits
hirnphysiologisch oder genetisch bedingt sein, aber entschei-
dend bleibt doch die Tatsache, daß es dem Kind strukturell
verwehrt ist, sich mit dem konkreten Anderen zu identifi-
zieren. In einer Weise, die bereits eine Brücke zu meinem ei-
gentlichen Thema schlägt, hat Martin Dornes die Ergebnisse
dieser aHekt-sensiblen Erklärung des Autismus zusammen-
gefa:ßr: Weil das autistische Kind »gefühlsmäßig nicht an-
sprechbar ist, bleibt es in seiner Perspektive auf die Welt ge-
fangen und lernt keine andere kennen. Es sieht, oder genauer
ausgedrückt, es fühlt nicht, daß in Gesichtsausdrücken, Be-
wegungen und kommnnikativen Gesten Einstellungen zum
Ausdruck kommen. Es ist blind für den expressiv-mentalen

50
Gehalt solcher Äußerungen oder, wie man auch sagt, für ihre
Bedeutung. Der Säugling ist somit nicht >geistesblind<wegen
eines kognitiven Defizits; er ist geistesblind, weil er zuerst ge-
fühlsblind ist. << 7
Nur am Rande sei hier erwähnt, daß auch Theodor W.
Adorno an einigen Stellen seines Werkes derartige Über-
legungen angestellt hat. Vor allem in der Minima Moralia und
der Negativen Dialektik finden sich immer wieder Formulie-
rungen, die zu erkennen geben, daß er die Entstehung des
menschlichen Geistes ähnlich wie Hobson oder Tomasello an
die Voraussetzung einer frühen Nachahmung der geliebten
Bezugsperson gebunden hat: )) Ein Mensch wird zum Men-
schen«, also einem geistigen Wesen, nüberhaupt erst«, so
heißt es in einem berühmten Aphorismus der Minima Mora-
lia, »indem er andere Menschen imitiert<<; und gleich an-
schließend ist zu lesen, daß eine solche Imitation die )) Urform
der Liebe« darstellt.8 Es bandelt sich dabei um dieselbe De-
zentrierung, die auch die beiden anderen Autoren als Aus-
gangpunkt der geistigen Lernprozesse des Kindes sehen,
nämlich eine Art von existentieller, ja affektiver Anteilnahme
am Anderen, die es überhaupt erst ermöglicht, dessen Per-
spektive auf die Welt als bedeutsam zu erfahren. Das Sich-
Hineinversetzen in die Perspektive der zweiten Person ver-
langt den Vorschuß einer Form von Anerkennung, die in
kognitiven oder epistemischen Begriffen nicht vollständig zu
erfassen ist, weil sie stets ein Moment der unwillkürlichen
Öffnung, Hingabe oder Liebe enthält. Diese Zuwendung
oder, wie Adorno psychoanalytisch sagt, diese Libidinöse Be-
setzung des Objekts ist es, die das Kleinkind sich in der Weise
in die Perspektive des Anderen hineinversetzen läßt, daß es
mit ihrer Hilfe eine erweiterte und schließlich entpersönlichte
Vorstellung von der umgebenden Wirklichkeit erwirbt.
7 Martin Dornes, "Die emotionalen Ursprünge des Denkens• , a. a. 0.,
5. 2.6.
8 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurr/M. 2.ooi, 5. 2.92. (Aph.
99).
Natürlich ist dieser entwicklungspsychologische Gedanke
nicht rnit dem Ideengut gleichzusetzen, das ich zuvor durch
den Nachweis einer gewissen Konvergenz zwischen Lukacs,
Heidegger und Dewey herauspräpariert habe. Dort ging es
um den generellen Vorrang einer bestimmten Haltung der
Anteilnahme oder Anerkennung vor aUen neutraleren For-
men der Welrbeziehung, während es hier in einem nur zeit-
lichen Sinn um den Vorrang einer emotionalen Ansprech-
barlceit vor dem Schritt zum Erkennen von intersubjektiv
gegebenen Objekten geht; weder die Art der Vorrangigkeit
noch der spezifische Charakter dessen, wovon eine derarrige
Vorrangigkeit behauptet wird, sind also in beiden Fällen die-
selben- emotionale Verbundenheit oder Identifikation mit
dem konkreten Anderen ist etwas anderes als jene prinzi-
pielle Besorgnis um Situationale Gegebenheiten, die Heideg-
ger oder Dewey im Sinn haben. Gleichwohl kann doch der
ontogenetische Befund, so glaube ich, einen ersten Anhalts-
punkt für die Plausibilität der allgemeinen These liefern;
denn es scheint doch so zu sein, daß das Kleinkind erst aus
der Perspektive der geliebten Person eine Ahnung von der
Fillle an existentieUen Bedeutungen gewinnt, die Situationale
Gegebenheiten für den Menschen besitzen können; mithin
wird ihm durch die emotionale Verbundenheit mit seinen
Bezugspersonen eine Welt erschlossen, in der es um jener be-
deutungsvollen Qualitäten wiUen praktisch engagiert sein
muß. Genesis und Geltung, oder, marxistisch gesprochen,
Geschichte und Logik sollten nicht so weit auseinandergeris-
sen werden, daß die Entstehungsbedingungen des kindlichen
Denkens ohne jede Relevanz für die kategoriale Bedeutung
unserer Welterkenntnis bleiben. In genau diesem Sinn wollte
Adorno seine Aussagen über den libidinösen Affektgrund
unserer kognitiven Leistungen verstanden wissen: Die Tat-
sache, daß das Kind aus der Perspektive der geliebten Be-
zugsperson zu einem objektiven Verständnis der Wirklich-
keit gelangt, besagt über unsere Erkenntnis zugleich, daß sie
um so angemessener oder genauer ist, je mehr an Perspek-
tiven auf ein einziges Wahrnehmungsobjekt wir zu erfassen
vermögen; aber diese Übernahme weiterer Perspektiven, die
jedes Mal einen neuen Aspekt des Gegenstandes zu erkennen
geben, ist wie beim Kleinkind an die kaum verfügbare nicht-
epistemische Voraussetzung einer emotionalen Öffnung
oder Identifikation gebunden. Insofern bemißt sich für
Adorno die Exaktheit unserer Erkenntnis am Maß der emo-
tionalen Anerkennung, des affektiven Geltenlassens anderer,
möglichst vieler Perspektiven. Aber damit habe ich bereits
das Feld der entwicklungspsychologischen Argumentation
verlassen und bin unmerklich auf das Gebiet der eher kate-
gorialen Beweisführung geraten.
(2.) Was ich bislang bestenfalls zu zeigen vermocht habe
ist, daß in der Ontogenese, also in einem chronologisch zu
verstehendem Prozeß, das Anerkennen dem Erkennen vor-
ausgehen muß; wenn nämlich die genannten Untersuchun-
gen Recht haben, verhält es sich beim individuellen Bil-
dungsprozeß so, daß das Kleinkind sich zunächst mit seinen
Bezugspersonen identifiziert, sie emotional anerkannt haben
muß, bevor es mittels deren Perspektiven zu einer Erkennmis
der objektiven Wirklichkeit gelangen kann. Zwar habe ich
mit meinen letzten Bemerkungen zu Adomo bereits andeu-
ten wollen, daß diese emotionalen Entstehungsbedingungen
unseres Denkens aller Wahrscheinlichkeit nach auch etwas
über seine Geltungskriterien besagen; aber derartige Speku-
lationen können selbstverständlich njcht die Argumente er-
setzen, die nötig wären, um auch in einem begrifflichen Sinn
von der Vorrangigkeit der Anerkennung vor dem Erkennen
sprechen zu können. Heidegger und Dewey, vermutlich aber
auch Lukacs, hatten eine solche Art von Vorrangigkeit vor
Augen, als sie behaupteten, daß der episternischen Welt-
beziehung des Menschen prinzipiell eine Einstellung der
Sorge oder existentiellen Involviertheit vorausgehe; ihnen
ging es darum, den Nachweis anzutreten, daß unsere Er-
kennmisbemühungen scheitern oder ihren Sinn verlieren
müssen, wenn das Faktum dieser vorgängigen Anerkennung

53
aus dem Blick gerät. Bei Heidegger zeigt sich die damit um-
rissene Behauptung daran, daß er selbsr noch die gänzlich
versachlichte, »wissenschaftliche « Erkenntnis von Sachver-
halten als Derivat jener vorgängigen Einstellung begreift,
die er mit dem Begriffder ••Sorge« bezeichnet; 9 und beijohn
Dewey ist zu lesen, daß alle Forschung sich ihrer Herkunft
aus dem diffusen Problemaufriß lebensweltlicher Irritatio-
nen bewußt bleiben muß, um nicht das ))regulative Prinzip«
ihrer llemühungen aus den Augen zu verlieren. 10 Ich will ei.-
nen dritten, näher an ur:.;erem Thema angesiedelten Weg ein-
schlagen, um zu zeigen, daß unsere kognitiven Weltbezie-
hungen auch in einem begrifflichen Sinn an Einstellungen der
Anerkennung gebunden sind; mir scheint es nämlich ratsam,
an dieser Stelle die Überlegungen heranzuziehen, die "·anley
Cavell dem Verhältnis von Erkennen und Anerkennung ge-
widmet hat.
CaveU gelangt zu seinem eigenen Begriff der Anerkennung
{»acknowledgement«) bekanntlich auf dem Weg einer Kritik
der Vorstellung, daß wir von den mentalen Zuständen an-
derer Personen, dem sogenannten »Fremdpsychischen «, ein
direktes, unmittelbares Wissen besitzen könnten. 11 Nach sei-
ner Überzeugung haben sich die Vertreter einer solchen An-
nahme viel zu sehr auf eine Prämisse eingelassen, die im
Grunde genommen von ihren Gegnern, de~ Skeptikern, her-
rührt; diese haben nämlich die Frage nach dem Zugang zu
fremden Gefühlszuständen stets als eine epistemische Her-
ausforderung verstanden, so daß sie nach einer Antwort in

9 Vgl. etwa Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967 (TI. Aufl.),
5.136.
ro John Dewey, • Qualitatives Denken«, in: ders., Philosophie und Zivili-
sation,Frankfurt/M. 2.003, S.y4-n6, hier S. u6.
I I Vgl. Sranley Cavell, "Wissen und Anerkennen «, in: ders., Die Unheim-
lichkeit des Gewöhnlichen, bg. v. Davide Sparti und Espen Hammer,
Frankfurt/M. 1003, S. 34-75; zur lntersubjektivit.ätstheorie von Cavell
vg~ Espen Hammer, Stanley Cavell. Skepticism, Subjectivity, and the
OTfiiTUJry, Garnbridge (Mass.) 2.002., Kap. 3·

54
Kategorien gesicherten Wissens verlangen konnten. Solange
die Anti-Skeptiker nun versuchen, unter Bedingungen einer
derartigen Vorgabe den Skeptizismus zu widerlegen, sind sie
Cavell zufolge zwangsläufig zum Scheitern verurteilt; denn
auch sie können letztlich nicht bestreiten, daß unser Wissen
um fremde Empfindungszustände nie die Art von qualitati-
ver Gewißheit besitzen kann, die es für diejenigen hat, wel-
che um jene Zustände in der Perspektive der ersten Person
wissen. Der Versuch, den Zugang zum anderen Subjekt nach
dem Muster einer Erkenntnisbeziehung zu beschreiben, wird
der Tatsache nicht gerecht, daß es sich bei mentalen Zustän-
den nicht einfach um Objekte eines Wissens handelt; schon
die Behauptung, nach der ein Subjekt um seine eigenen
Schmerzen oder seine Eifersucht ))weiß«, täuscht darüber
hinweg, daß es von diesen Zuständen viel zu sehr verein-
nahmt oder >>durchbohrt<<u ist, um hier in einem neutralen
Sinn von einem Erkennen oder Wissen sprechen zu können.
Das Subjekt ist sich in seiner Beziehung zu Anderen nicht sel-
ber ein Objekt, über das es Auskünfte in Form von mittei-
lungswerten Tatsachen erteilt; vielmehr bringt es seinem In-
teraktionspartner gegenüber, wie Cavell mit Wirtgenstein
sagt, seineZustände zum Ausdruck, indem es ihn auf sie auf-
merksam macht.
Bis zu diesem Punkt ähnelt die Argumentation von Cavell
weitgehend derjenigen, die Sartre im dritten Teil von Das
Sein und das Nichts im Zusammenhang seiner eigenen Aus-
einandersetzung mit dem Skeptizismus entfaltet har. 13 Auch
Sartre ist der Überzeugung, daß sich der Skeptizismus bezüg-
lich des Fremdpsychischen nicht widerlegen läßt, solange an
dessen Prämisse eines primär kognitiven Zugangs zu ande-

12. Sranley Cavell, »Wissen und Anerkennen .. , a. a. 0., S. 68.


IJ Jean-Paul Same, Das Seinund das Nichts. Versuch einer phänomenolo-
gischen Ontologie, Reinbek bei Ha rnburg 1993, bes. S. 405-42.3; vgl.
dazu: Axel Honneth, »Erkennen und Anerkennen. Zu Sames Theorie
der lntersubjektivität•, in: ders., Unsichtbarkeit. Statiouen einer Theo-
rie der lntersubjektivität, Fcankfurr/M. 2.003, S. 71-105.

55
ren Personen festgehalten wird; eine solche Art von Bezie-
hung zu unterstellen bedeutet nämlich, ein Ideal episterni-
scher Gewißheit zu errichten, das schon deswegen nicht zu
erreichen ist, weil Empfindungszustände für den Betroffenen
selber überhaupt keine Objekte eines Wissens oder Erken-
nens sein können. Sartre zufolge läßt sich diese Asymmetrie
nur überwinden, wenn die Beziehung eines Subjekts zu sei-
nem Gegenüber im Prinzip nach demselben Muster gedacht
wird, nach dem wir uns auch das Verhältnis jenes zweiten
Subjekts zu seinen eige'len Zuständen vorstellen; so, wie wir
hier nicht von Wissen, sondern von Betroffenheit oder Invol-
viertheit sprechen, sollten wir uns auch den kommunikativ
Handelnden nicht als ein epistemisches, sondern als ein exi-
stentidl involviertes Subjekt denken, das von den Empfin-
dungsmständen der anderen Person nicht neutral Kenntnis
nimmt sondern davon in seinem eigenen Selbstverhältnis af-
fiziert ist.
Auch in diesem Zwischenergebnis stimmt Cavell, trotz al-
ler methodischen Unterschiede, noch weitgehend mit Sartre
überem. Nachdem er nämlich gezeigt hat, daß sich Äuße-
rungen über eigene Empfindungszustände nicht als Bekun-
dungen eines Wissens verstehen lassen dürfen, zieht Cavell
daraus Konsequenzen für unser Verständnis der elementa-
ren Interaktionsbeziehung, die denjenigen der phänomeno-
logischen Analyse von Sarrre äußerst nahekommen: Wenn
ein Sprecher einer zweiten Person gegenüber seine EmP""
findungen im Normalfall zum Ausdruck bringt, indem er sie.
ohne Reklamierung eines Wissens auf sie aufmerksam
mache, so darf die sprachliche Reaktion dieser zweiten Per-
son nun ihrerseits nicht als Vollzug einer Erkennmis gedeu-
tet werden; vielmehr bekundet der Angesprochene durch
seine Erwiderung im allgemeinen nur seine »Anteilnahme«
an den Empfindungen, auf die der Sprecher ihn aufmerksam
gemacht bat. Bei Cavell heißt es: »Hier könnte ich nun sa-
gen, daß der Grund, weswegen ,Jch weiß, du hast Schmer-
zen< kei n Ausdruck von Gewißheit ist, der ist, daß es eine
Reaktion auf dieses Zeigen ist; es ist ein Ausdruck von An-
teilnahme.« 14
Mit diesem Begriff der »Anteilnahme« sind wir schon nah
bei dem Sachverhalt, der mich an der Argumentation von
Cavell vor allem interessiert. Was er mit Wirtgenstein sagen
möchte ist, daß vor aller möglichen Erkennmis von Empfin-
dungszuständen eines anderen Subjekts zunächst eine ge-
wisse Haltung stehen muß, in der ich mich in dessen Empfin-
dungswelt gleichsam existentiell einbezogen fühle; ist ein
solcher ,Ruck< einmal vollzogen und damit eine gewisse
Form der Verbindung mit dem Anderen hergestellt, so
nehme ich dessen Empfi.ndungsäußerlingen als das wahr,
was sie ihrem Gehalt nach sind, nämlich als an mich er-
gehende Forderungen, in einer entsprechenden Weise zu rea-
gieren. »Anerkennen «, »to acknowledge«, bedeutet dement-
sprechend für Cavell, eine Haltung einzunehmen, in der die
Verhaltensäußerungen einer zweiten Person als Aufforde-
rungen zu einer irgendwie gearteten Reaktion verstanden
werden können; 15 bleibt in der Folge jede und sei es bloß ne-
gative Reaktion aus, so bekundet sich darin nur, daß die
Empfindungsäußerung des Anderen nicht angemessen ver-
standen worden ist. Insofern bindet Cavell das Verstehen
von Empfindungssätzen ganz eng an die nicht-epistemische
Voraussetzung der Einnahme einer anerkennenden Haltung;
und die Unfähigkeit, eine derartige Einstellung einnehmen
zu können, bedeutet für ihn letztlich, zur Aufrechterhaltung
sozialer Beziehungen nicht in der Lage zu sein. 16 Es ist dies
die Stelle, an der die Wege von Cavell und Sartre sich tren-
nen. Zwar ersetzen beide Autoren das Erkenntnismodell so-
zialer Interaktion, das sie für eine Erblast des Skeptizismus

r 4 5tanley Cavell, "Wissen und Anerkennen • , a. a. 0., S. 69 (kursiv im Ori-


ginal).
I5 Ebd., 5. 70.
r6 Vgl. dazu auch Cavells faszinierende Analyse von • King Lear• : ders.,
"The Avoidance of Love• , in: ders., Murt we mea11 what we say?, Cam-
bridge (Mass.) 1976,5. 2.67- 353·

57
halten, durch ein Modell wechselseitiger Affizierthett: Sub-
jekte sind sich im allgemeinen gewiß, ein anderes Subjekt mit
geistigm Eigenschafren vor sich zu haben, weil sie von des-
sen Empfindungszuständen in einer Weise berührt werden,
daß sie sich zu irgendeiner Reaktion veranlaßt sehen. Wäh-
rend S:trtre aber nun aus diesem existentiellen Faktum die
negative Konsequenz zieht, daß die Subjekte sich wechsel-
seitig in der Freiheit ihrer grenzenlosen Transzendenz ein-
schränken, 17 beläßt es Cavell bei dem therapeutischen Hin-
weis auf den notwendigen Vorrang der Anerkennung; denn
für ihn ist die Gefahr, die mit der alltagsweltlichen Sogwir-
kung des erkenntnistheoretischen Modells einhergeht, viel
zu groß, als daß es nicht immer wieder eine Erinnerung an
das Faktum wechselseitiger Anteilnahme bedürfe. Das Ein-
zige, was Cavell mit seiner sprachanalytischen Intervention
bewirken möchte, ist die Abwehr eines falschen Bildes der
zwischenmenschlichen Kommunikation: Das Gewebe der
sozialen Interaktion ist nicht, wie in der Philosophie häu-
fig angenor1men, aus dem Stoff kog.nitiver Akte, sondern
aus dem Material anerkennender Haltungen gewebt. Der
Grund, warum wir gewöhnlich keine Schwierigkeiten ha-
ben, die Empfindungssätze anderer Subjekte zu verstehen,
liegt mithin darin, daß wir vorgängig eine Einstellung ein-
genommen haben, in der uns der handlungsauffordernde
Gehalt solcher Äußerungen wie selbstverständlich gegeben
ISt.
Mi1 dieser abschließenden Zusammenfassung dürfte klar-
geworden sein, warum ich glaube, daß Cavells Analyse
meine bislang nur theoriegeschichtlich verfolgte These um
ein systematisches Argument ergänzt. Schon Lukacs, Hei-
degger und Dewey waren nach meiner Interpretation der
Überzeugung, daß die Anerkennung im Feld sozialen Han-
deinsdem Erkennen generell vorausgehen muß; und die ent-
wicklungspsychologischen Befunde, von denen danach die

r7 Vgi.Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, a. a. 0., S. 47I ff.

;8
Rede war, haben die damit umrissene Vorstellung auch
schon in einem zeitlichen oder genetischen Sinn zu stützen
vermocht. Aber erst mit dem Rekurs auf Cavell wird es nun
möglich, über den zeitlichen Sinn hinaus auch den kategoria-
len Sinn dieser These zu verteidigen; denn nach seiner Ana-
lyse sind wir nur dann dazu in der Lage, die Bedeutung einer
bestimmten Klasse von sprachlichen Äußerungen zu verste-
hen, wenn wir uns in jener Haltung oder Einstellung befin-
den, die er als »acknowledgement« bezeichnet. Sprachliches
Verstehen ist, kurz gesagt, an die nicht-epistemische Voraus-
setzung der Anerkennung des ·Anderen gebunden. Mit den
Intentionen unserer drei Autoren scheint Cavell auch darin
übereinzustimmen, daß er mit dieser Form von »Anerken-
nungcc mehr oder anderes meint als herkömmlich im Begriff
der kommunikativen Einstellung oder Perspektivübernahme
festgehalten wird; denn wie in Heideggers Kategorie der
»Sorge(c steckt in Cavells Konzept doch ein Moment der af-
fektiven Anteilnahme, der vorgängigen Identifikation, das in
der Vorstellung des Verstehens von Handlungsgründen nicht
zur Geltung kommt.
Gewiß, Cavell ist nicht der Überzeugung, daß die Ein-
nahme einer solchen anerkennenden Haltung impliziert,
dem Anderen gegenüber stets eine wohlwollende, liebevolle
Reaktion zu zeigen; auch bloße Indillerenz oder negative
Empfindungen sind für ihn noch mögliche Weisen der in-
tersubjektiven Anerkennung, solange sich darin nur eine
nicht-epistemische Bestätigung der menschlichen Persona-
lität des Gegenübers spiegelt. 18 Insofern darf auch das Ad-
jektiv »positiv «, das icb bislang im Zusammenhang mit
dem Begriff der »Anteilnahme« verwendet habe, nicht im
Sinne eines Hinweises auf positive, freundliche Gefühls-
regungen verstanden werden; gemeint ist damit nur die exi-
stentielle, bis ins Affektive hineinwirkende Tatsache, daß
wir den Wert des Anderen in der Einstellung der Anerken-

r8 Stanley Cavell, " Wissen und Anerkennen «, a. a. 0., S. 70.

59
nung rejahen müssen, selbst wenn wir ihn im Augenblick
verfluchen oder hassen. Aber vielleicht läßt sich auch noch
ein Schritt über CaveU hinausgehen und behaupten, daß in
solchen Fällen einer gefühlsmäßig negativ erlebten Aner-
kennung immer ein Gespür dafür mitschwingt, dem Ande-
ren in seiner Personalität nicht angemessen gerecht zu wer-
den; da bei würde es sich dann um jenes Moment in der
anerkennenden Haltung handeln, das herkömmlich »Ge-
wissen<< genannt wird.
Auf jeden Fall bleibt festzuhalten, daß die hier gerneinte
EinsteUung der Anerkennung eine ganz elementare Form der
intersubjektiven Bestätigung darstellt, die noch nicht die
Wahfllehmung eines bestimmten Wertes der anderen Person
einschließt: Was Cavell als »acknowledgement« bezf'ichnet,
Heidegger als >> Sorge« oder »Fürsorge•• und Dewey als »ln-
volviertheit«, liegt unterhalb der Schwelle, auf der die wech-
selseinge Anerkennung bereits die Bejahung spezifischer Ei-
genschaften des jeweiligen Gegenübers impliziert. 19 Gleich-
wohl bleibt ein Unterschied bestehen, der es schwer macht,
die Analysen Cavells einfach in den von mir herausprä-
parierten Traditionszusammenhang einzubeziehen: Im Ge-
gensatz zu Heidegger, Dewey oder Lukacs scheint er die
Geltungsbedingungen dessen, was er eine anerkennende
Haltung nennt, allein auf den Bereich der zwischenmensch-
lichen Kommunikation einzuschränken; jede Vorstellung in
die Richtung, daß wir uns auch gegenüber der nicht-mensch-
lieben Welt vorgängig in einer Einstellung der Anerkennung

19 lmofem handelt es sich hier auch um eine elementarere Form der Aner-
kennung, als ich sje in meinen bisherigen Ausführungen zum Thema be-
handelt habe (vgl. erwa: Axel Honneth, • Unsichtbarkeit. Über die mo-
ralische Epistemologie von Anerkennung«, in: ders., Unsichtbarkeit.
St.Jtionen einer Theorie der lntersubjektiuität, a. a. 0., S. ro-27).lnzwi-
scben gehe ich daher davon aus, daß dieser • existentielle « Modus der
Anrrkenoung allen anderen, gehairvolleren Fonneo der Anerkennung
zugrunde liegt, in denen es um die Bejahung von bestimmten Eigen-
schaften oder Fähigkeiten anderer Personen geht.

6o
befinden müssen, ist ihm ganz offensichtlich fremd. Auf
diese Differenz muß ich zurückkommen, wenn ich mich
nun im nächsten Schritt wieder dem Thema der »Verding-
lichung« zuwende, um dessen Klärung es mir in diesen Über-
legungen ja vor allem geht.

6I
IV. Verdinglichung als
Anerkennungsvergessenheit

Ich habe im vorausgehenden Teil eine Reibe von Belegen ge-


saiUIDelt, die, wenn auch mit unterschiedlieben Akzentset-
zungen, alle in ein und dieselbe Richtung weisen. Sowohl die
entwicklungspsychologischen Theorien, auf die ich verwie-
sen habe, als auch die Analysen Cavells unterstützen die
These, nach der es im menschlichen Sozialverbalten einen
zugleich genetischen und kategorialen Primat des Anerken-
nens vor dem Erkennen, der Anteilnahme vor dem neutralen
Erfassen von anderen Personen gibt: Ohne eine solche Form
der vorgängigen Anerkennung wären Säuglinge nicht dazu
in der Lage, die Perspektiven ihrer Bezugspersonen zu über-
nehmen, und Erwachsene könnten nicht die sprachlieben
Äußerungen ihrer Interaktionspartner verstehen. Gewiß,
keine dieser unterstützenden Theorien behauptet, daß wir
auch gegenüber nicht-menschlichen Sachverhalten zunächst
immer eine derartige Haltung der Anteilnahme einnehmen
müßren; bei der genannten Entwicklungspsychologie gilt die
emotionale Identifikation mit dem konkreten Anderen als
Voraussetzung allen Denkens, ohne daß eine spezifische Ein-
stellung gegenüber nicht-menschlichen Objekten erforder-
lich IVäre, während Cavell sich auigrund seiner besonderen
Interessen mit der Frage unseres Verhältnisses zur Natur
überhaupt nichr beschäftigt. Ich will die damit gegebene
Schwierigkeit hier zunächst auf sich beruhen lassen, um den
Faden meiner Argurnenration dort wieder aufzunehmen, wo
ich ihn vor den Erläuterungen zum Primat der Anerkennung
fallengelassen habe: Wie, so lautete meine Ausgangsfrage,
läßt sich heute noch einmal ein Begriff der ••Verdinglicbung«
formulieren, der den ursprünglichen Intuitionen von Lukacs
möglichst weitgebend Rechnung trägt?
Von einem solchen Begriff hat zu gelten, so hatte sich ge-
zeigt, daß er weder bloß einen episternischen Kategorienfeh-
ler noch einen Verstoß gegen moralische Prinzipien bezeich-
nen kann; im Unterschied zum Kategorienfehler verweist er
auf etwas Nicht-Episterniscbes, nämlich einen Habitus oder
eine Form des Verhaltens, vom moralischen Unrecht unter-
scheidet ihn der Wegfall jedes Verweises auf eine persönlich
zurechenbare Verantwortung oder Schuld. Lukacs wollte
unter »Verdinglichung«, wie vor allem der Vergleich mit Hei-
degger deutlich gemacht hat, eine Art von Denkgewohnheit,
von habituell erstarrter Perspektive verstanden wissen,
durch deren Übernahme die Menschen ihre Fähigkeit zur in-
teressierten Anteilnahme an Personen und Geschehnissen
verlieren; und im Maße dieses Verlustes, so war er überzeugt,
verwandeln sich die Subjekte in rein passive Beobachter, de-
nen nicht nur ihre soziale und physische Umwelt, sondern
auch ihr Innenleben wie ein Ensemble von dinglichen Entitä-
ten erscheinen muß. »Verdinglichung« ist mithin für Lu.lcics,
so können wir im Rückblick festhalten, der Begriff sowohl
für einen Prozeß als auch für ein Resultat; 1 bezeichnet wird
damit der Vorgang eines Verlustes, nämlich der Ersetzung ei-
ner ursprünglichen, richtigen durch eine sekundäre, falsche
Einstellung, und das Ergebnis dieses Prozesses, also eine ver-
dinglichte Wahrnehmung oder Verhaltensweise. Inzwischen
haben wir gesehen, daß es für die Annahme einer vorgängi-
gen Einstellung der Anerkennung oder Anteilnahme, zumin-
dest was die Welt sozialer Beziehungen anbelangt, eine Reihe
von.guten Gründen gibt; aber wie kann Lukacs erklären, daß
es zu einem Verlust dieser ursprünglichen Verhaltensform
kommen kann, wo sie doch so tief in der Lebensweise des
Menschen verwurzelt sein soll? In der damit umrissenen
Frage liegt die größte Schwierigkeit, die der Versuch einer
Reaktualisierung des Begriffs der »Verdinglichung << beute zu
gewärtigen hat; denn im Unterschied zu Heidegger, der hier

x Vgl. Georg Lohmann, Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Alls-


einandersetvmg mit Marx. Frankfurt&{. X991, S. 17.
auf clie deformierende Wirkung von ontologischen Welt-
bildern verweisen kann, muß Lukacs den Vorgang eines sol-
eben Verlustes dmch soziale Umstände selber erklären, also
durch ein Nerzwerk von sozialen Praktiken und Institutio-
nen, in denen doch ihrerseits wiederum jene Einstellungen
der Anerkennung zum Tragen kommen müßten. Wie also
läßt sich der Prozeß der '>Verdinglichung« als ein gesell-
schaftlicher Vorgang explizieren, wenn doch das, was da-
durch verlorengehen soll, eine derart konstitutive Bedeutung
für cliemenschJiche Sozialität besitzt, daß es in allen sozialen
Vorgängen irgendwie zum Ausdruck kommen muß?
Auf diese Frage findet sich in Geschichte und Klassen-
bewttfitsein alles in allem wohl nur eine einzige Antwort, clie
allerdings so wenig überzeugend ist, daß Lukacs sie später
selberverworfen hat. 2 Demnach müssen wir uns den Prozeß
der Verdinglichung als genau den Vorgang vorstellen, durch
den die ursprünglich teilnehmende Perspektive soweit neu-
tralisiert wird, daß sie schließlich dem Ziel objektivierenden
Denkens zugute kommt; mit Dewey ließe sich sagen, daß
hier die Verdinglicbung in nichts anderem bestünde als der
reflexiven Distanznahme, durch die wir uns zum Zweck der
Erkenntnis aus jener qualitativen Interaktionserfahrung lö-
sen, in der all unser Wissen vorgängig verankert ist. Wenn
clieseAuffassung richtig wäre, wenn also Verdinglichung rat-
sächlich mit der Objektivierung unseres Denkens zusam-
menliele, dann wäre aber jeder soziale Vorgang, der eine der-
artige Objektivierung verlangen würde, bereits eine Mani-
festarion des Prozesses der Verdinglichung; und tatsächlich
klingen viele Passagen in Geschichte und Klassenbewußtsein
so, als wolle der Autor sagen, daß der Vorgang der Verding-
lichung in nichts anderem besteht als in einer sozial erzwun-
genen Neutralisierung unserer stets vorgängigen Haltung
der Anteilnahme. Daß eine solche Annahme falsch sein muß,
2. Vgl Georg Lukacs, "Vorworr• ( 1967), in: ders., Geschichte und Klassen-
beUIIIßtsein, Werke, Band 2. (Frühschriften II), Neuwied und Berlin 1968,
S. 11-41, hier: S.1.5 f.
weil sie zu totalisierend ist, ergibt sich aber schon daraus,
daß wir clie vorgängige Anerkennung bislang nicht als das
Gegenteil, sondern als Beclingung der Möglichkeit einer Ob-
jektivierung unseres Denkens betrachtet haben; in derselben
Weise, in der der Heidegger von Sein und Zeit die wissen-
schaftliebe Welterkenntnis als eine mögliche und legitime,
aber »abkünftige(( Fortsetzung der )> Sorge« begriffen hat,3
ist auch Dewey etwa der Überzeugung gewesen, daß alles ob-
jektivierende Denken sich der reflexiven Neutralisierung ei-
ner qualitativen Ursprungserfahrung verdankt. Beide Den-
ker haben, nicht anders als Stanley Cavell oder clie von mir
herangezogene Entwick.lungspsychologie, die anerkennende
Haltung als eine praktische, nicht-epistemische Einstellung
verstanden, die einzunehmen notwendig ist, um überhaupt
zu einem Wissen über die Welt oder andere Personen zu ge-
langen. Insofern scheint es höchst unplausibel, mit Lukacs zu
unterstellen, daß eine derartige Perspektive der Anerken-
nung mit dem Erkennen als solchem in irgendeiner Span-
nung steht oder gar unvereinbar ist; das objektivierende Er-
fassen von Sachverhalten oder Personen ist ein mögliches
Produkt vorgängiger Anerkennung, nicht aber deren pures
Gegenteil.
Die Gleichsetzung von Verdinglichung und Objektivie-
rung, clie Lukacs mit seiner BegriHsstrategie vollzieht, führt
darüber hinaus zu einem äußerst fragwürdigem Bild gesell-
schaftlicher Enrwicklungsprozesse. Im Grunde genommen
muß Lukacs nämlich jede soziale Innovation, die eine Neu-
tralisierung unserer vorgängigen Anerkennung erforderlich
macht und dementsprechend institutionell auf Dauer stellt,
für einen Fall von Verclinglicbung halten; und so kann er
schließlich nicht umhin, all das, was Max Weber als den Pro-
zeß einer gesellschaftlichen Rationalisierung in der europäi-
schen Moderne beschrieben hat, im ganzen als Ursache einer

3 Vgl. Martin Heidegger, Sein u11d Zeit, Tübingen 1967 (n. Auf!. ), erwa
S 33 u. S 44·
sozialen Totalisierung von VerdingJichung zu begreifen. Weil
Lukacsaber gleichzeitig behaupten muß, daß jene ursprüng-
liche Einstellung der Anteilnahme aufgrund ihrer sozialkon-
stitutiven Funktion nie ganz verlorengehen kann, gerät sein
Bild de1 Gesellschaft hier an seine Grenzen: Wenn alle Vor-
gänge innerhalb der Gesellschaft, nur weil sie objektivie-
rende Einstellungen erzwingen, verdinglicht sind, so muß
sich menschliche Sozialität letztlich aufgelöst haben. All
diese mißlichen Konsequenzen sind Folgen der begrifflichen
Srrateg~e, die Lukacs mit seiner Ineinssetzung von Verding-
Uchung und Objektivie:ung vollzogen hat; aus ihnen ist für
den Fortgang meiner Überlegungen nur zu lernen, daß der
Vorga.ng der Verdinglichung anders begrilien werden muß,
als er es in seinem Text getan bat.
Die Vorstellung, die Lukacs vom Prozeß der Verding-
lichung entwickelt hat, ist gewissermaßen nicht komplex,
nicht abstrakt genug; indem er diesen Vorgang letztlich mit
der Ersetzung des Anerkennens durch ein objektivierendes
Erkennen von Sachverhalten oder Personen identifiziert,
leugnet er unter der Hand, welche Bedeutung der Steigerung
von Objektivität im gesellschaftlichen Enrwicklungsprozeß
zufällt Eine Möglichkeit, den Fehler von Lukacs zu vermei-
den, könnte darin bestehen, mit Hilfe von externen Kriterien
zu entscheiden, in welchen sozialen Sphären eher die aner-
kennende Haltung oder eher die objektivierende Einstellung
funktional erforderlich ist; diesen funktionalistischen Weg
hat etwa Habermas eingeschlagen, als er in seiner Theorie
des kommunikativen Handeins versucht hat, unter »Ver-
dinglichung« geoau den Prozeß zu verstehen, durch den stra-
tegische, »beobachtende << Verhaltensweisen in solche soziale
Sphären eindringen, die dadurch in ihren kommunikativen
Bestandsvoraussetzungen gefährdet werden. 4 Der Nachteil
einer derartigen Begrilisstrategie scheint mir aber ganz of-

4 jürgm Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2., Frank-


furt/M. 1981, Kap. VIII, 1 u. 2..

66
fensicntlich der, daß damit funktionalistischen Unterschei-
dungen implizit eine normative Beweislast zugewiesen wird,
die sie von Haus aus gar nicht übernehmen können; denn die
Frage, ab wann objektivierende Einstellungen eine verding-
lichende Wirkung entfalten, läßt sieb nicht dadurch beant-
worten, daß scheinbar wertneutral von funktionalen Erfor-
dernissen gesprochen wird. 5
Ich vermute daher, daß die Frage nach den Kriterien für
Prozesse der Verdinglichung überhaupt anders gestellt wer-
den muß: Solange wir an der sirnplizistischen Vorstellung
festhalten, der zufolge jede Form des teilnahmslosen Beob-
achtens in einem Gegensatz zur vorgängigen Anerkennung
steht, tragen wir dem Gedanken zu wenig Recnnung, daß die
Neutralisierung jener Anerkennung und Anteilnahme im
Normalfall dem Zweck der intelligenten Problembewälti-
gung dient; anstatt also mit Lukacs die Gefahr der Verding-
lichung überall dort beginnen zu lassen, wo die anerken-
nende Einstellung verlassen wird, sollten wir uns bei unserer
Suche eher an dem übergeordneten Gesichtspunkt orientie-
ren, in welchem Verhältnis die beiden Ejnstellungen zueinan-
der stehen. Auf dieser höheren Ebene, auf der es um Modi
der Beziehung geht, lassen sich zwei Pole ausmachen, die die
einfache Oppositionsbildung ersetzen können, mit der noch
Lukacs operiert hatte: Den anerkennungssensitiven Formen
des Erkennens auf der einen Seite stehen solche Formen des
Erkennensauf der anderen Seite gegenüber, in denen das Ge-
spür für ilire Herkunft aus der vorgängigen Anerkennung
verlorengegangen ist. Die etwas umständlichen Formulie-
rungen sollen deutlich machen, daß es prima facie sinnvoll
ist, zwei Weisen des Verhältnisses beider Einstellungsformen
danach zu unterscheiden, ob sie füreinander transparent

5 Letztlich hängtdieses Problem bei Habermas mit de.r Unterscheidung von


"System" und " Lebenswelt• zusammen, in der normative und funk-
tionale Gesichtspunkte unmerklich ineinander geschoben werden. VgL
dazu meine Analyse: Axel Honneth, Kritik der Macht, Frankfun/M.
I989 (Tb-Ausgabe), Kap. 9·
oder imransparent, zugänglich oder unzugänglich sind: Im
ersten Fall vollzieht sich das Erkennen oder beobachtende
Verhalten im Bewußtsein seiner Angewiesenheit auf vorgän-
gige Anerkennung, im zweiten Fall hingegen hat es diese Ab-
hängig[eit von sich abgespalten und wähnt sich autark ge-
genüber allen nicht-epistemischen Voraussetzungen. Eine
solche Form der »Anerkennungsvergessenheit« können wir
nun, die Intentionen von Lukacs auf höherer Stufe fortset-
zend, .Yerdinglichung« nennen; gemeint ist damit mithin
der Prczeß, durch den in unserem Wissen um andere Men-
schen und im Erkennen von ihnen das Bewußtsein verloren-
geht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteil-
nahme und Anerkennung verdankt.
Bevor ich darangehe, diesen Vorschlag weiter zu plausi-
biJjsieren, möchte ich zunächst kurz zeigen, daß er mit den
Absichten einiger der zuvor genannten Autoren durchaus in
Übereinstimmung steht. So hat John Dewey, dem der konti-
nentale Begriff der »Verdinglichung« natürlich fremd war, in
den hier zitierten Aufsäezen immer wieder durchblicken las-
sen, daß unser reflexives Denken dann in die Gefahr einer
Pathologisierung gerät, wenn es die eigene Verwurzelung in
der qualitativen Interaktionserfahrung aus dem Blick ver-
liert; mit der Abschottung gegenüber der eigenen Herkunft
steigert sich nämlich in all unseren wissenschaftlichen Bemü-
hungen die Tendenz, jene Momente existentieller Betroffen-
heit in Vergessenheit geraten zu lassen, um derenrwillen sie
ursprünglkh doch einmaJ auf den Weg gebracht worden wa-
ren.6 Nicht sehr anders argumentiert auch Stanley Cavell,
wenn er behauptet, daß die vorgängige Anerkennung als
»ein Aufweisen des Gegenstandes von Wissen« 7 begriffen

6 John Dewey, »Qualirarives Denken• , in: ders., Philosophie und Zivili-


sati01, Frankfurr/M. 2.003, S. 94- u6, hier S. n6; ders., • Afftrmarives
Denken", ebd., S. r 17·12.4, hier S. rr7 f.
7 Sranley Cavell, "Wissen und Anerkennen•, in: ders., Die Unheimlichkeif
des Gewöhnlichtm, hg. v. Davide Sparti und Espen Hammer, Frank.furtl
M. 2003, S. 34-75, hier S. 64.

68
werden muß; das bedeutet umgekehrt nämlich, daß wir nicht
einmal mehr richtig wissen, mit wem wir es bei anderen
Menschen eigentlich zu tun haben, wenn jene ursprüngliche
Erfahrung direkter Anteilnahme dem Bewußtsein entzogen
ist. Vor allem aber Theodor W. Adomo hat immer wieder be-
tont, daß die Angemessenheit und Qualität unseres begriff-
lieben Denkens davon abhängig ist, in welchem Maße es sich
seiner ursprünglichen Bindung an ein Triebobjekt, also an
geliebte Personen oder Dinge, bewußt zu bleiben vermag; für
ihn war mit einer solchen Erinnerung an die vorgängig ge-
leistete Anerkennung sogar die Gewähr verknüpft, daß die
Erkenntnis ihren Gegenstand nicht zurichtet, sondern in al-
len Aspekten seiner konkreten Besonderheit erfaßt. 8 Keiner
dieser drei Autoren bat die nicht-epistemische Vorausset-
zung der Anteilnahme in einen schlichten Gegensatz zum be-
grifflichen Denken gebracht; vielmehr sind sie alle der Über-
zeugung, daß die Schwelle zur Pathologie, zum Skep:izismus
oder zum Identitätsdenken erst dann überschritten wird,
wenn in unseren reflexiven Bemühungen deren eigene Her-
kunft aus einem Akt der vorgängigen Anerkennung in Ver-
gessenheit gerät. Es ist djeses Moment des Vergessens, der
Amnesie, das ich zum Schlüssel einer Neubestimmung des
Begriffs der »VerdingJichung« machen möchte: In dem
Maße, in dem wir in unseren Erkenntnisvollzügen das Ge-
spür dafür verlieren, daß sie sieb der Einnahme einer aner-
kennenden Haltung verdanken, entwickeln wir die Tendenz,
andere Menschen bloß wie empfindungslose Objekte wahr-
zunehmen. Hier von bloßen Objekten oder gar von »Din-

8 Vgl. etwa Theodor W. Adomo, Minima Moralia, Frankfurr/M. 2oor,


Aph. 79; ders., Negative Dialektik, in: ders. Gesammelte Schriften 6,
Frankfun/M. 1973, S. 7· 412, hier: S. n6f. 1m Unterschied zu Martin
Seel (ders., Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurr/M. 2.004)
bin ich der Überzeugung, daß sich die Idee einer " anerkennenden Er-
kenntnis• (ebd., S. 42ff.) bei Adomo nur im Zusammenhang seiner psy-
choanalytischen Spekulationen über den >~Triebgrund « aller Erkenntnis
erklären läßr.
genc<zu sprechen soll bedeuten, daß wir mit der Amnesie die
Fähigkeit verlieren, die Verhaltensäußerungen anderer Per-
sonen direkt als AuHorderungen zu einer eigenen Reaktion
zu versrehen; zwar sind wir kognitiv gewiß noch in der Lage,
das ganze Spektrum menschlicher Expressionen wahrzuneh-
men, aber uns fehlt gewissermaßen das Verbundenheitsge-
fühJ, das erforderlich wäre, um von dem Wahrgenommenen
auch affiziert zu sein. Insofern entspricht jenem Vergessen
vorgängiger Anerkennung, das ich als den Kern aller Vor-
gänge der Verdinglicheng begreifen möchte, auf der anderen
Seite tatsächlich auch das Ergebnis einer perzeptiven Ver-
dinglichung der Welt: Die soziale Umwelt erscheint, nahezu
wie in der Wahrnehmungswelt des Autisten, als eine Tota-
lität bloß beobachtbarer Objekte, denen jede psychise1he Re-
gung oder Empfindung fehlt.
Mitdieser Umstellung des Begriffs der »Verdinglichung «
von einer einfachen Ebene, auf der er bloß den Gegensatz zur
Anteilnahme oder Anerkennung meint, zu einer komplexe-
ren Ebene, auf der er ein bestimmtes Verhältnis zwischen An-
eckenDen und Erkennen bezeichnet, stellen sich natürlich
eine Reihe von Problemen, die nicht leicht zu lösen sind. Zu-
nächst bedarf es zumindest einer groben Vorstellung davon,
wie es möglich sein soll, daß das Faktum vorgängiger Aner-
kennung im Prozeß des Erkennens wieder in Vergessenheit
geraten kann. Lukacs setzt an der vergleichbaren Stelle sei-
ner Algumentation, also dort, wo er innerhalb seines zu ein-
fachell Modells die Ablösung der Anteilnahme durch das
bloß beobachtende Verhalten schildert, die soziale Größe des
Markres ein; nach seiner Überzeugung sind es die anonymen
Verhaltenszwänge des kapitalistischen Marktes, die die Sub-
jekte dazu veranlassen, gegenüber ihrer Umwelteine bloß er-
kennende statt eine anerkennende Haltung einzunehmen.
Wenn der einfache Verdinglichungsbegriff aber durch den
höherstufigen Begriff ersetzt wird, läßt sich nicht mehr so
direkt und unmittelbar zur soziologischen Erklärungsebene
überwechseln, wie Lukacs es getan hat; vielmehr muß jetzt

70
zuvor geklärt werden, wie es überhaupt denkbar sein soll,
daß die Anerkennungsvoraussetzungen sozialer Praxis im
Vollzug dieser Praxis nachträglich wieder aus dem Blick ge-
raten. Im allgemeinen wird gesagt, daß wir bestimmte Re-
geln, die wir eher durch praktische Ühung als durch explizite
Anweisung erlernt haben, im nachhinein nicht wieder verler-
nen können- wie also soU es dann möglich sein, daß die so-
wohl genetisch als auch kategorial vorgängige Anerkennung
im VoUzug unserer alltäglichen Erkenntnisleistungen noch
einmal in Vergessenheit gerät? Die Beantwortung dieser
Frage fällt nach meiner Überzeugung leichter, wenn wir uns
klarmachen, daß »Vergessen« hier nicht die starke Bedeu-
tung besitzt, in der häufig der Ausdruck des »Verlernens «
verwendet wird; es kann nicht darum gehen, daß jenes Fak-
tum einfach dem Bewußtsein entzogen wird und insofern ge-
wissermaßen »verschwindet«, sondern es muß sich um eine
Art von Aufmerksamkeitsminderung handeln, die jenes Fak-
tum bewußtseinsmäßig in den Hintergrund treten und daher
aus dem Blick geraten läßt. Verdinglichung im Sinne der
»Anerkennungsvergessenheit « bedeutet also, im Vollzug des
Erkennens die Aufmerksamkeit dafür zu verlieren, daß sich
dieses Erkennen einer vorgängigen Anerkennung verdankt.
Nun gibt es für eine solche Form der Aufmerksamkeits-
minderung mindestens zwei examplarische Fälle, die gut ge-
eignet sind, um verschiedene Typen des Vorgangs der Ver-
dinglichung voneinander zu unterschieden. Das eine Mal
handelt es sich um den Fall, in dem wir im Vollzug einer Pra-
xis einen einzigen mit ihr verknüpften Zweck so energisch
und einseitig verfolgen, daß wir für alle anderen, womöglich
ursprünglicheren Motive und Zwecke die Aufmerksamkeit
verlieren; ein zufäUig herangezogenes Beispiel könnte hier
der Tennisspieler abgeben, der im Zuge der ehrgeizigen Kon-
zentration auf den Sieg das Gespür dafür verliert, daß es sich
bei dem Gegenspieler um seinen besten Freund handelt, um
dessentwillen er ursprünglich das Spiel begonnen hatte. Die
Verselbständigung eines Zwecks gegenüber seinem Entste-

71
hungskontext, mit der wir es in diesem Fall zu tun haben,
stellt nach meiner Auffassung eines der beiden Muster dar,
nach denen wir uns den Vorgang der Verdinglichung erklä-
ren können: Die Aufmerksamkeit für das Faktum vorgängi-
ger Anerkennung geht verloren, weil sich im Zuge unserer
Praxis der Zweck des Beobachtens und Erkennens der Um-
welt drrmaßen verselbsrändigt, daß er alle anderen Situa-
tionsgegebenheiten vollständig in den Hintergrund treten
läßt. Der andere Fall einer Aufmerksamkeitsminderung, der
hier zur Erklärung des Prozesses der Verdinglichung heran-
gezogen werden kann, ergibt sich nicht aus internen, son-
dern aus externen Bestimmungsgrößen unseres Handelns:
Auch eine Reihe von Denkschemata, die unsere Praxis beein-
flussen, indem sie zu einer selektiven Interpretation sozialer
Tatsachen führen, können nämlich die Aufmerksamkeit für
bedeursame Gegebenheiten einer Situation erheblich redu-
zieren. Ich will hier auf die Angabe eines Beispiels verzichten,
weil der Fall zu bekannt ist und daher keiner trivialen Exem-
plifizierung bedarf: Im VoiJzug unserer Praxis kann die Auf-
merksamkeit auf das Faktum vorgängiger Anerkennung
auch deswegen verlorengeben, weil wir uns von Denk-
schemata und Vorurteilen beeinflussen lassen, die mit jenem
Faktum kognitiv nicht zu vereinbaren sind - und insofern
wäre es vielleicht sogar sinnvoller, in diesem Fall nicht von
einem »Vergessen«, sondern von einer »Leugnung« oder
»Abwehr« zu sprechen.
Milder Unterscheidung dieser beiden Fälle haben wir die
zwei Muster kennengelernt, nach denen sich im Rahmen des
komplexeren Modells der Prozeß der VerdingHebung erklä-
ren läßt; entweder haben wir es, so ließe sich zusammenfas-
sen, mit einer Vereinseitigung oder Verhärtung der erken-
nenden Haltung durch die Verselbständigung ihres Zweckes
zu tun oder aber, im zweiten Fall, mit der nachträglichen
Leugnung der Anerkennung um eines Vorurteils oder Stereo-
typs willen. Erst mit dieser Klärung sind uns nun die Mittel
an die Hand gegeben, die es erlauben würden, zur eigent-

72
liehen soziologischen Erklärungsebene überzuwechseln;
denn wir verfügen jetzt über hinreichend differenzierte Vor-
stellungen darüber, welche Verlaufsform der Prozeß der Ver-
dinglichung annehmen könnte, um die soziale Realität un-
serer Gegenwart auf die mögliche Verursacbung solcher
Prozesse hin untersuchen zu können; und es müßte sich
dabei, soviel ist klar, enrweder um institutionalisierte Prak-
tiken handeln, die zu einer Verselbständigung des Zwecks
der Beobachtung anhalten, oder um sozial wirksame Denk-
schemata, die eine Verleugnung der vorgängigen Anerken-
nung erzwingen. Aber ich wilJ diesen Schritt zur soziologi-
schen Analyse erst im letzten Kapitel meiner Untersuchung
(vgl. Kap. VI} unternehmen, um mich statt dessen an dieser
Stelle einem Problern zuwenden, das ich bislang vorsichtig
vor mir hergeschoben habe. Dabei handelt es sich um die
Frage, ob wir aus den bislang entwickelten Argumenten für
einen Primat der Anerkennung auch Rückschlüsse auf das
Verhältnis des Menschen zur natürlichen Umwelt und zu
sich selbst ziehen können.
Die drei Philosophen, auf die ich mich in den ersten beiden
Kapiteln bezogen habe, waren allesamt der Auffassung, daß
sich auch in bezugauf unser Verhältnis zur Natur von einem
Vorrang der Anteilnahme, Sorge oder Anerkennung spre-
chen lassen kann: So, wie wir von anderen Menschen zu-
nächst affiziert sein müssen, bevor wir eine neutralere Ein-
stellung einnehmen können, muß sich uns auch die physische
Umwelt vor jedem stärker sachbezogenen Umgang zunächst
in ihrem qualitativen Wert erschlossen haben. Im Unter-
schied zu dieser umfassenden Behauptung haben sich dann
allerdings die Theorien, die ich im ur. Kapitel als unab-
hängige Belege herangezogen habe, auf Aussagen allein über
die interpersonelle Welt beschränkt: Sowohl Tomasello und
Hobsan aJs auch Stanley Cavell sprechen von einem Primat
der Identifikation oder Anerkennung nur in bezug auf an-
dere Menschen, nicht aber in bezug auf nicht-menschliche
Lebewesen, Pflanzen oder gar Dinge. Nun verlangt aber der

73
Begrili der »Verdinglichung«, den ich hier im Anschluß an
Lukac:5 wiederzubeleben versuche, daß wir mit der Möglich-
keit einer verdinglichenden Wahrnehmung nicht nur der so-
zialen Welt, sondern auch der physischen Umwelt rechnen;
es sollm ja gerade auch die Dinge unseres alltäglichen Um-
gangs sein, auf die wir uns nicht mehr angemessen beziehen,
wenn 1vir sie bloß noch neutral erfassen und nach externen
Gesidtspunkten registrieren. Unschwer ist also zu sehen,
daß mich diese Intuition mit einem Problem konfrontiert,
das ITilt der zu schma len Gelrungsbasis meiner bisherigen
Rede von der »Anerkennung« zusammenhängt; denn wie
soll sich die Idee einer Verdinglichung der Natur rechtfer-
tigen lassen, wenn doch bislang nur gezeigt ist, daß wir ge-
genüber anderen Menschen den Vorrang der Anerkennung
wahren müssen?
Auch an dieser Stelle will ich nicht einfach auf die Lösung
zurückgreifen, die Lulcics vor Augen stand, sondern einen
gänzlich anderen Weg einschlagen. Wenn wir uns an Lukacs
hielten, so müßte nicht nur gezeigt werden, daß wir auch der
Natur gegenüber zunächst stets eine Haltung der Anteil-
nahme einnehmen müssen; ein solcher Nachweis wäre ja,
wie v;ir gesehen haben, sowohl mit Heidegger als auch mit
Dewey leicht zu erbringe~ weil beide auf unterschiedliebe
Weise darauf bestanden haben, daß wir die physische Um-
welt vorweg in ihrer qualitativen Bedeutsamkeit erschlossen
haben müssen, bevor wir uns theoretisch auf sie beziehen
können. Lukacs hätte vielmehr darüber hinaus auch noch zu
zeigen, daß das Verlassen einer derartigen Perspektive letzt-
lich mit dem Ziel unvereinbar ist, die Natur möglichst ob-
jekti-v erfassen zu woUen; denn nur, wenn sich auch hier ein
solcher kategorialer Vorrang der Anerkennung vor dem Er-
kennen behaupten ließe, könnte er am Ende beweisen, daß
die instrumentelle Behandlung der Natur gegen eine notwen-
dige Voraussetzung unserer sozialen Praktiken verstößt. Ich
sehe nirht, wie dieser Nachweis heute zu erbringen wäre;
und auch bei Heidegger oder Dewey sehe ich kaum Anhalts-

74
punkte für die starke These, daß eine Objektivierung der Na-
tur den Primat der Sorge oder qualitativen Erfahrung irgend-
wie verletzten würde. Insofern ist der direkte Weg, den Lu-
kacs eingeschlagen hat, um seine Idee einer möglichen Ver-
dinglichung auch der äußeren Natur zu begründen, uns ganz
offensichtlich verschlossen; wir mögen zwar die Möglichkeit
eines interaktiven, anerkennenden Umgangs mit Tieren,
Pflanzen und sogar Dingen ethisch für begrüßenswert hal-
ten, aber aus dieser normativen Präferenz ergibt sich kein
Argument, mit dessen Hilfe sich die Unerserzbarkeit eines
derartigen Umgangs belegen ließe. Aussichtsreicher scheint
es mir hingegen, die Intuition von Lukacs auf dem Umweg
des Vorrangs der intersubjektiven Anerkennung selber wei-
terzuverfolgen; dabei kann ich mich auf eine Überlegung
stützen, die schon einmal kurz Erwähnung fand, als ich mich
auf Adornos Idee einer ursprünglichen Nachahmung bezo-
gen habe.
Auch Adomo hat sich den Gedanken zu eigen gemacht,
daß uns der kognitive Zugang zur objektiven Welt nur durch
die Identifikation mit wichtigen Bezugspersonen, also durch
die libidinöse Besetzung des konkreten Anderen, möglich ist;
aber er hat diesem genetischen Argument eine zusätzliche
Konsequenz abgerungen, die ein erhellendes Licht auf die
uns hier beschäftigende Frage wirft. Nach seiner Auffassung
bedeutet die Voraussetzung einer solchen Identifikation
nämlich nicht nur, daß das Kind lernt, Einstellungen zu Ob-
jekten von den Objekten selbst zu trennen und somit in sich
allmählich ein Konzept der unabhängigen Welt zu errichten;
vielmehr wird es die Perspektive der geliebten Person, in die
es sich ja hineingezogen fühlt, forthin in Erinnerung be-
wahren und als einen weiteren Aspekt des inzwischen objek-
tiv fixierten Gegenstande? betrachten. Die Nachahmung des
lrft,..,.,.....~...., Anderen, die sich aus libidinösen Energien speist,
~'Wllerlrä'tt sich gewissermaßen auf das Objekt, indem sie es
seine unabhängige Realität hinaus mit den zusätzlichen
ledieU1twllgslkolmponen1ten ausstattet, die die geliebte Person

75
an ihm wahrnimmt; und je mehr Einstellungen anderer Per-
sonen ein Subjekt im Laufe seiner libidinösen Besetzungen
auf einund denselben Gegenstand vereinigt, desto reicher an
Aspektm stellt sich dieser ihm am Ende in seiner objektiven
Realität dar. Insofern war Adomo durchaus der Überzeu-
gung, daß sich von »Anerkennung« auch in bezugauf nicht-
menschliche Objekte sprechen läßt; aber diese Redeweise
hatte fü.r ihn nur die entliehene Bedeutung, an jenen Objek-
ten aU die besonderen Aspekte und Bedeutungen zu respek-
tieren, die sie den Einstellungen anderer Personen verdan-
ken. Vielleicht müßte man die Schlußfolgerung Adomos
sogar noch schärfer formulieren und im Sinn eines internen
Zusammenhangs von Moral und Erkenntnis wiedergeben:
Die Anerkennung der Individualität anderer Personen ver-
langt von uns, Objekte in der Besonderheit a11 derjenigen
Aspekte wahrzunehmen, die jene Personen in ihren jewei-
ligen Sichtweisen mit ihnen verknüpfen. 9
Aber diese normative Zuspitzung führt schon erheblich
über das hmaus, was wir wirklieb benötigen, um mit Hilfe
von .Adorno den Gedanken einer möglichen »Verdingli-
chung« auch der Natur reformulieren zu können. Folgen wir
seinen Überlegungen, so ergibt sich nämlich eine Chance, die
dami1 verknüpfte Idee zu rechtfertigen, ohne auf Spekula-
tione.n über einen interaktiven Umgang mit der Natur zu-
rückzugreifen. Die VerdLnglicbung von menschlichen Wesen
bedeutet, so hatte ich zuvor gesagt, das Faktum ihrer Vorgän-
gigenAnerkennung aus den Augen zu verlieren oder zu ver-
leugnen; mit Adorno läßt sich nun hinzufügen, daß jene vor-
gängige Anerkennung auch beinhaltet, an den Objekten die

9 Vgl. dazu Martin Seel, • Anerkennende Erkenntnis. Eine normative


Theorie des Gebrauchs von Begriffen .. , in: ders., Adomos Philosophie
der Kontemplation, a. a. 0., S. 42- 63. Wie bereits erwähnt (vgl. Fußnote
8), anrerscheidet sich meine Interpretation von Seels Deurung nur da-
durch, daß ich als ErkJärungsbasis für diese normative Erkenntnistheorie
Ad(!ITIOS Spekulationen über eine Erkenntnisleistung libidinöser Trieb-
besitZungen annehme.
Bedeutungsaspekte zu respektieren, die diese Wesen ihnen je-
weils verliehen haben. Wenn dem aber so ist, wenn wir also
mit der Anerkennung anderer Personen zugleich auch de-
ren subjektive Vorstellungen und Empfindungen von nicht-
menschlichen Gegenständen anerkennen müssen, dann kön-
nen wir ohne weiteres auch von einer potentiellen »Verding-
lichung« der Natur sprechen: Diese würde darin bestehen,
im Zuge des Erkennens von Gegenständen die Aufmerksam-
keit füralldie zusätzlichen Bedeutungsaspekte zu verlieren,
die ihnen aus der Perspektive anderer Menschen zukommen.
Wie im Falle der Verdinglichung von menschlichen Wesen ist
auch hier eine >•spezifische Art der Blindheit«10 im Erkennen
am Werk: Wir nehmen Tiere, Pflanzen oder Dinge nur sach-
lich identifizierend wahr, ohne zu vergegenwärtigen, daß sie
für die uns umgebenden Pe,rsonen und für uns selbst eine
Vielzahl von existentiellen Bedeutungen besitzen.

10 William James, »Über eine bestimmte Blindheit des Menschen•, in:


ders., Essays über Gla11be und Ethik, Gütersloh l948, S. 2.48 - 270.

77
'1. Konturen der Selbstverdinglichung

In meiren bisherigen Ausführungen habe ich zwei Aspekte


dessen, was Lukäcs in seinem kJassischen Essay ·Nerding-
lichung« genannt hat, mit Hilfe anerkennungstheoretischer
Überle&ungen zu reformulieren versucht. Dabei ist deutlich
geworcen, daß wir von »Verdmgüchung<< in einem direkten
Sinn nur mit Bezug auf andere Personen sprechen können,
wäheerd davon in bezugauf die äußere Natur nur in einem
indirekten oder derivativen Sinn die Rede sein kann: Gegen-
über a:1deren Menschen meint Verdingüchung, deren vor-
gängig~ Anerkennung aus dem Blick zu verlieren, gegenüber
der ob ektiven Welt bedeutet Verdinglichung hingegen, die
Vielfal: ihrer Bedeutsamkeiten für jene vorgängig anerkann-
ten A.rxleren aus dem Blick zu verlieren. Die Asymmetrie in
der Verwendungsweise des Begriffs ergibt sich daraus, daß
das »Anerkennen« nicht in derselben Weise eine notwendige
Voraussetzung für das Erkennen der Natur darstellt wie für
das Er<ennen anderer Menschen: Wir können gegenüber der
objektiven Welt eine verdinglichende Einstellung einneh-
men, ohne dadurch bereits die Möglichkeit ihrer kognitiven
Erschließung zu verlieren, während wir andere Personen gar
nicht mehr als »PersonP.n<<erkennen können, sobald uns ihre
vorgällgige Anerkennung in Vergessenheit geraten ist. 1 Mit-
hin mlit die »Verdinglichung« natürlicher Gegebenheiten,
von Dingen oder nicht-menschlichen Lebewesen, keine Ver-
letzlll'ß einer praktischen Voraussetzung dar, an die die Re-
produktion unserer sozialen Lebenswelt notwendig gebun-
den ist, wohingegen genau das der Fall ist, wenn wir gegen-

1 Es is gar keine Frage, daß es genau dieser Unterschied isr, der in der klas-
siscren Entgegensetzung von "Erklären« und » Verstehen• stets fesrge-
halrm wurde. Vgl. exemplarisch Kail-Orro Apel, Die •Erklären:Verste-
hen •·Kontroverse ifl tran5zendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt/M.
197~·
über anderen Menschen eine verdinglichende Einstellung
einnehmen. Um nun gleichwohl die Idee einer Verding-
üchung der Natur nicht vollständig preisgeben zu müssen,
habe ich vorgescWagen, die Anerkennungsbedingungen der
menscWichen Interaktion in die Dimension unseres Um-
gangs mir der natürlichen Welt hinein zu verlängern: Wir
verletzen zwar keine praktische Voraussetzung unserer ko-
gnitiven Beziehung zur Natur, wenn wir ihr gegenüber eine
nur noch objektivierende Einstellung einnehmen, aber wir
verletzen doch in einem indirekten Sinn die nicht-epistemi-
schen Bedingungen unseres Umgangs mit anderen Men-
schen; denn wir »vergessen « unsere vorgängige Anerken-
nung dieser Personen auch dann, wenn wir in unserem
objektivierenden Verhalten von den existentiellen Bedeutun-
gen absehen, die sie den Bestandteilen ihrer natürlichen Um-
welt zuvor verliehen haben. Daß wir hier von einer »Aner-
kennungsvergessenheit« höherer Stufe reden können. habe
ich mit Verweis auf einige, vor allem in der Minima Moralia
anzutreffende Gedankengänge Adornos kJargemacht; in ei-
ner wesentlich überzeugenderen, direkteren Weise hat aber
William James in seinem berühmten Essay über die mensch-
liche •> Blindheit<< vorgeführt, wie sehr wir andere Menschen
mißachten oder gar übersehen können, wenn wir ihre exi-
stentiellen Aufladungen der sie umgebenden Dinge ignorie-
ren.2
Nun hat Lukäcs aber nicht nur von zwei, sondero von drei
Aspekten gesprochen, im Hinblick auf die ein Verhalten der
»Verdinglichung« beobachtbar sein soll; neben der inrersub-

2. Vgi. William James, .. Ober eine bestimmte Blindheit des Menschen• , in:
ders., Essays iiber Glaube und Ethik, Gütersloh 1948, S. 2.48-2.70; zu der
Vielzahl von existentiellen oder psychischen Bedeutungen, die Objekte
für Menschen besitzen können, vgl. die faszinierende Untersuchung von
Tilinann Habermas, Geliebte Objekte. Symbole und Jnstnmzente der
Iderztitätsbildung, Frankfurt/M. 1999. Die Verleugnung dieser Bedeu-
tungsvielfalt der uns umgebenden Welt ist es, was ich hier als ,.Verding-
licbung« der Natur bzw. objektiven Weh bezeichne.

79
jektiven Welt der Mitmenschen und der objektiven Welt na-
türlider Gegebenheiten hat er auch die Welt der inneren Er-
lebnisse, also der mentalen Akte, als einen Phänomenbereich
begriffen, dem wir statt in der geforderten Einstellung der
Anteilnahme in einer bloß betrachtenden Haltung begegnen
können. Lukacs unternimmt im ganzen nur geringe Anstren-
gungen, genauer zu beschreiben, wie die Struktur einer sol-
chen Selbstverdinglichung beschaffen sein soll; aber sein
exemplarischer Verweis auf den Journalisten, der gezwun-
gen sei, die eigene »Subjektivität«, sein »Temperament« und
seine •Ausdrucksfähigkeit«, den jeweils antizipierten Leser-
interessen anzupassen,3 hat offenbar genügend Anschau-
ungsmaterial geboten, um selbst Adorno nach beinah fünf-
undzv.anzig Jahren noch zu einem ausführlichen Zitat der
entsprechenden Stelle zu bewegen. 4 Auch Adorno gibt frei-
lieb in diesem Kontext nicht recht zu erkennen, wie wir uns
die Struktur einer solchen verdingliebenden Beziehung auf
sich selbst im einzelnen vorzustellen haben; zwar heißt es
jetzt erläuternd, daß das Subjekt sich auf seine eigenen psy-
chischen »Eigenschaften « wie auf »sein inwendiges Objekt((
richtet, wenn es sie zum »situationsgerechten Einsatz((
bringt,5 aber damit bleibt die Frage unbeantwortet, wie eine
positive, nicht verdinglichende Haltung gegenüber der eige-
nen Subjektivität zu beschreiben wäre. Wollen wir auch die-
sen ch:itten Komplex des Verdinglichungskonzepts von Lu-
kacs heute noch einmal wieder aufuehmen, so müssen wir
uns daher im Sinn unserer bisherigen Vergehensweise fra-
gen, ob mit Bezug auf die Selbstbeziehung ebenfalls von ei-
nem (notwendigen) Vorrang der Anerkennung gesprochen

3 Vgl. Georg Lukacs, •Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Prole-
tanaG• , in: ders., Geschichte ur1d Klassenbewußtsein (1923 \, Werke,
Band2 (Frühschriften 11), Neuwied und Berlin 1968, 5. 257- 397, hier
5.2.7!·
4 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 2.001, Aph. 147
(•Novi{>simum Organum• ), 5. 444·
5 Ebd.,S. 445·

So
werden kann: Ist die Behauptung sinnvoll, daß mensch-
liche Subjekte auch sich selbst gegenüber »zunächst und zu-
meist(<, wie Heidegger sagen würde, eine anerkennende Hal-
tung einnehmen müssen, so daß eine bloß noch erkennende
Selbstbeziehung als Verdinglichung und damit als Verfeh-
lung bezeichnet werden dürfte?
Es gibt nach meiner überzeugnng verschiedene theore-
tische Schlüssel, die herangezogen werden könnten, um zu
einer positiven Beantwortung dieser Frage zu gelangen. So
ließe sich zum Beispiel an die Objektbeziehungstheorie von
Donald Winnicott anknüpfen, der aus seinen Untersuchun-
gen zum Trennungsprozeß des Kleinkindes den Schluß ge-
zogen hat, daß die psychische Gesundheit des lndividuums
von einem spielerisch-explorativen Umgang mir dem eige-
nen Triebleben abhängt;6 was hier mit einem solchen er-
kundungsbereiten Modus der Selbstbeziehung gemeint ist,
dürfte im wesentlichen dieselben Eigenschaften besitzen, die
wir auch von einer anerkennenden Einstellung gegenüber
sich selbst erwarten würden. 7 Ein anderer Weg, um die These
vom Vorrang der Anerkennung in der Selbstbeziehung zu
stützen, könnte in der Rückbesinnung auf jene viel zu wenig
beachteten Überlegungen bestehen, die Aristoteles in seiner
Nikomachischen Ethik der »Selbstfreundschaft(( gewidmet
hat; 8 die Weise, in der hier ein gelingendes Selbstverhältnis
an die Voraussetzung der wohlwollenden Meisrerung der ei-
genen Triebe und Affekte gebunden wird, ließe sich mög-
licherweise ebenfalls als Hinweis auf die Art von Beziehung
verstehen, die derjenige mit sich unterhält, der seinem •> Inne-

6 Vgl. Donald W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, Sruttgart 1989; vgl.
dazu: Axel Honneth, Kampf um Anerkenmmg. Zur moralischen Gram-
matik sozialer Konflikte, Frankfurr/M. 1992., S. r 57 ff.
7 Vgl. etwa Axel Honneth, • Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophi-
sche Konsequenzen aus der Subjektkritik«, in: ders., Das Andere der Ge-
rechtigkeit. Aufsätze zm praktischen Philosophie, Frankfun/M. 2.ooo,
s. 2.37-254·
8 Aristoteles, Nikomachische Ethik, LX. Buch, 4.- 8. Kap.

8I
ren « in anerkennender Haltung begegnet. Und schließlich
könntm vielleicht auch, um noch ein drittes Beispiel zu nen-
nen, die Betrachtungen herangezogen werden, die Peter Bieri
jüngst über die Notwendigkeit einer »Aneignung« unseres
eigenen Willens angestellt hat: 9 Wenn wir zu wirklicher Wil-
lensfreiheit nur dadurch gelangen können, wie Bieri behaup-
tet, daß wir unsere Wünsche und Empfindungen nicht ein-
fach hinnehmen, sondern sie uns durch Artikulation zu eigen
machen, so ließe sich in einem solchen Prozeß der Aneignung
der Aufriß dessen vermuten, was eine anerkennende Selbst-
beziehung von uns verlangt.
Allerdings setzen alle diese Plausibilisierungen voraus,
daß wir bereits wissen, wie der Begriff »Anerkennung<< im
Zusammenhang der Selbstbeziehung angernessen zu ver-
wenden ist; der herkömmliche Ort des Ausdrucks ist die zwi-
schenmenschliche Interaktion, so daß vorläufig ganz unklar
ist, ob er auch auf das Verhältnis zu sich selbst Anwendung
finden kann. Zudem sind die drei genannten Denkmodelle
überwiegend eher im Sinn eines normativen oder ethischen
Ideals zu verstehen, wohingegen hier doch von einem Vor-
rang der »anerkennenden « Selbstbeziehung in einem sozial-
ontologischen Sinn die Rede sein muß; wenn nämlich die
Verdinglichung sich bis in das Verhältnis des Subjekts zu sich
selbst hinein erstrecken können soll, so muß ihr eine »ori-
ginäre«, normale Form von Selbstbeziehung vorausgesetzt
werden können, der gegenüber sie sich als problematische
Abwe1chung verständlich machen läßt. Aus diesen Gründen
scheint es mir angemessener, nicht sofort auf begrifflich ver-
wandre Vorstellungen zuzugreifen, sondern zunächst den
Sachverhalt als solchen ins Auge zu fassen: Die Weise, in der
wir uns gewöhnlich auf unsere Wünsche, Empfindungen und
Absichten beziehen, läßt sich überzeugend und sinnvoll mit
dem :Begriff der »Anerkennung « beschreiben.
Einen geeigneten Einstieg in die Begründung dieser These

9 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München/Wien :l.OOI, Kap. I O .


mag der Versuch darstellen, sich zunächst einmal klanu-
rnachen, wie die entgegengesetzte Auffassung beschaffen
sein könnte. Nach einer weitverbreiteten Vorstellung muß
die Selbstbeziehung der Subjekte nach demselben Muster ge-
dacht werden, nach dem wir uns angeblich auch auf die ob-
jektive Welt beziehen: Ebenso wie wir auf Dinge in der Welt
scheinbar dadurch aufmerksam werden, daß wir sie in neu-
traler Absicht erkennen, sollen wir auch auf unsere eigenen
Wünsche und Empfindungen in einer solchen erkennenden
Haltung stoßen; das Subjekt wendet sich gleichsam auf sich
selbst zurück, u.m in seinem Inneren ein bestimmtes mentales
Vorkommnis zu registrieren. Nicht zu Unrecht hat David
Finkeistein in einer vor kurzem erschienenen Studie dieses
Modell der Selbstbeziehung als »detektivistisch« bezeichnet:
Das Subjekt wird hier wie ein Detektiv betrachtet, der des-
wegen ein privilegiertes Wissen über seine eigenen Wünsche
und Empfindungen besitzt, weil er sie in seiner inneren Welt
nach einem Suchprozeß ausfindig macht oder »entdeckt«;
dementsprechend existieren die entsprechenden Intentionen
immer schon vor der subjektiven Rückbeziehung, und es be-
darf nur der Entdeckung, um sie dem eigenen Bewußtsein
verfügbar zu machen. 10 Nun haben wir schon gesehen, als
wir zu Beginn die Überlegungen von Lukacs, Heidegger u.nd
Dewey zusammengeiaßt haben, wie wenig überzeugend die
Vorstellung eines primär erkennenden Verhältnisses in bezug
auf die objektive Welt ist; und es ist daher nur ein kleiner
Schritt, sich jetzt die Frage vorzulegen, ob diese Idee mehr an
Plausibilität besitzt, wenn sie auf die Selbstbeziehung über-
tragen wird.
Die erste Schwierigkeit, mit der die kognitivistische Auf-
fassung der Selbstbeziehung konfrontiert ist, ergibt sich aus
der Notwendigkeit, die Parallele zum Erkennen von »äuße-
ren(<Objekten dadurch zu bewahren, daß dem Subjekt ein in-

10 David Finkelstein, Expression and the Inner, Garnbridge (Mass.) :1.003 ,


Kap. I.
neres Erkenntnisorgan unterstellt wird: Wie auch immer der
nach »Innen« gerichtete Erkenntnisakt näher bestimmt wird,
stets muß dabei eine besondere Art von sinnlicher Fähigkeit
vorausgesetzt werden, die die Wahrnehmung unserer menta-
len Zustände in derselben Weise erlaubt, wie unsere Sinnes-
organe die Wahrnehmung von Gegenständen ermöglichen.
Gegen diese Vorstellu...tg eines »inneren Auges« sind schon
seit langem so viel überzeugende Einwände vorgebracht wor-
den, daß hier stellvertretend nur das Regreß-Argument von
John Searle erwähnt werden soll: Wenn wir von unseren men-
talen Zuständen durch einen Akt der nach innen gerichteten
Wahrnehmung Bewußtsein erlangen sollen, dann muß ein
solcher Akt wiederum einen mentalen Zustand bilden, so daß
wir zur Erklärung einen höherstufigen Wahrnehmungsakt in
Anspruch nehmen müßten und schließlich in einem unend-
lichen Regreß enden würden. 11 Aber es ist nicht nur die kon-
zeptuelle Nötigung, ein inneres Wahrnehmungsorgan zu
unterstellen, die die Gleichsetzung der Selbstbeziehung mit
einem Erkenntnisvorgang äußerst zweifelhaft erscheinen
läßt. Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich für diese Auffas-
sung vielmehr auch daraus, daß ihr Bild vom Zustand un-
serer Erlebnisse phänomenologisch höchst unplausibel und
irreführend ist: Weil unsere Wünsche und Empfindungen als
Objekte begriffen werden, die zu erkennen sein sollen, müs-
sen sie über denselben distinkten und abgeschlossenen Cha-
rakterverfügen, den Entitäten in der objektiven Welt an sich
haben sollen; ob Gefühlszustände oder Absichten, stets sol-
len sie schon in klar umrissenen Konturen als mentale Vor-
kommnisse existieren, bevor wir sie durch Rückwendung auf
uns selber entdecken können. Diese Vorstellung wird der Tat-
sache nicht gerecht, daß solche mentalen Zustände im all-
gemeinen einen eher diffusen, höchst unbestimmten Gehalt
besitzen, der sich. nicht einfach konstatieren läßt; vielmehr

u john Searle, Die Wiederentdeck11ng des Geistes, Frankfurt!M. 1996,


s. 195·
scheint die Feststellung von Wünschen oder Empfindungen
einer zusätzlichen Aktivität zu bedürfen, die dazu in der Lage
ist, den noch unklaren und verschwommenen Zuständen
eine deutlich konturierte Bedeutung zu verleihen. Insofern ist
es problematisch, ja irreführend, die Selbstbeziehung nach
dem Muster eines Erkenntnisaktes zu denken, in dem es exi-
stierende Sachverhalte zu entdecken gilt.
Gegen dieses Erkenntnismodell ließen sich nun ohne
Mühe noch weitere Einwände geltend machen, die allesamt
mit der eigentümlichen Gegebenheitsweise mentaler Zu-
stände zusammenhängen dürften; so scheinen unsere Wün-
sche und Empfindungen beispielsweise so wenig über einen
klaren Zeit- und Raumindex zu verfügen, daß sie sich schon
deswegen kaum wie raumzeitlich existierende Objekte be-
greifen lassen. 12 Aber für den Zweck, einen plausiblen Be-
griff der personalen Selbstverdinglichung vorzubereiten,
können die zwei soeben formulierten Einwände durchaus
ausreichen: Ebensowenig wie der menschliche Bezug auf die
Welt der Dinge als ein bloßes Erkennen zu verstehen ist, läßt
sich auch die Beziehung des Subjekts auf sich selber als ein
kognitives Erfassen von mentalen Zuständen verständlich
machen. Nun ist gegen diesen »Detektivismus « schon früh,
beginnend wahrscheinlich mit Nietzsche, ein ganz anderes
Modell ins Spiel gebracht worden, das vollends auf die ak-
tive Komponente unserer Selbstbeziehung abhebt; und auch
eine solche »konstruktivistische « Vorstellung läuft auf etwas
sehr anderes hinaus, als was wir vor Augen haben müssen,
wenn wir vom Vorrang einer anerkennenden Beziehung auf
sieb selber sprechen.
Der Konstruktivismus oder »Konstitutionalismus «, um
erneut einen Ausdruck von David Finkeistein zu verwen-
den, 13 macht sich jene Eigentümlichkeit unserer Selbstbezie-

12. Eine wahre Fundgrube für Einwände gegen das Erkenntnismodell der
Selbstbeziehung stellt der neue Roman von Pascal Mercier (Peter Bieri)
dar: ders., Nachtzug nach Lissabon, München/Wien 2.004.
IJ David H. Finkelstein, Expression and the Inner, a. a. 0., Kap. 2..

Bs
hung zunutze, an deren Erklärung das Erkenntnismodell des
Deteknvismus gescheitert war: Wir sprechen zwar mit
Selbstgewißheit und Autorität von unseren mentalen Zu-
ständen, ohne jedoch von deren Gehalt dieselbe Art von
sicherer Kenntnis zu besitzen wie von wahrnehmbaren Ge-
genständen. Aus dieser Asymmetrie zieht der Konstitutiona-
lismusden Schluß, daß es sich bei jenen Zuständen um etwas
handeln muß, an deren Zustandekommen wir selber aktiv
beteiligt sind: In dem Augenblick, in dem wir gegenüber un-
seren Interaktionspartnern bestimmte Intentionen artiku-
lieren, entschließen wir uns gleichsam dazu, sie in uns exi-
stieren zu lassen. Aus der Not der Unsicherheit über unsere
jeweilige Befindlichkeit wird hier rue Tugend einer kon-
struktiven Leistung gemacht: Wir beziehen uns auf unsere
mentalen Zustände, indem wir ihnei_t in einer ruckartigen
Entscheidung den Gehalt verleihen, den wir performativ an-
schlieJlend zum Ausdruck bringen. Gegenüber dem Erkennt-
nismodell hat diese Vorstellung den Vorteil, daß sie weder
ein inneres Wahrnehmungsvermögen voraussetzen noch in-
nere Zustände an Objekte angleichen muß; statt dessen wer-
den unsere Wünsche und Empfindungen kurzerhand zu Pro-
dukten eines freien Willensentschlusses ernannt, so daß das
betreffende Subjekt in vollem Maße für sie verantwortlich zu
sein scheint.
Schon cliese letzte Bemerkung läßt allerdings durchblik-
ken, daß der Konstruktivismus bei genauerer Betrachtung in
ebenso große Erklärungsnöte geraten muß wie zuvor der De-
tektivismus. Scheitert die Idee, nach der unsere Selbstbezie-
hung einen Akt der nach innen gerichteten Wahrnehmung
darstellt, am ungegenständlichen Charakter unserer inneren
Zustände, so die konstruktivistische Vorstellung an deren
obstruktiver, widerspenstiger Natur; keine der Empfindun-
gen, die wir innerlich verspüren, besitzt eine derart große
Plastizität, daß wir ihr durch einen Akt der Namensgebung
einfach eine beliebige Erfahrungsqualität verleihen könnten.
Phänomenologisch gesprochen begegnen uns unsere menta-

86
len Zustände vielmehr zumeist als Widerfahrnisse, als Ge-
fühle, Wünsche oder Absichten, denen wir passiv ausge-
liefert sind, bevor wir ihnen gegenüber einen gewissen
Spielraum interpretatorischer Aktivität erlangen;14 und es ist
diese einschränkende Natur unserer Empfindungen, den der
Konstruktivismus zu leugnen scheint, wenn er das Subjekt
mit einer unbegrenzten Fähigkeit zur Selbstattribuierung
ausstattet. Die Vorstellung, nach der wir mit unseren menta-
len Zuständen deswegen vertraut sind, weil wir sie selber er-
zeugen, scheitert an deren begrenzendem Charakter; zwar
besitzen wir gegenüber unseren Empfindungen stets einen
gewissen Spielraum der interpretatorischen Mitgestaltung,
aber cliesem sind durch einen hartnäckigen Rest an passivem
Ausgeliefertsein äußerst enge Grenzen gezogen.
Nun sollte clieser Verweis auf etwas Passives in unserer
Selbstbeziehung aber nicht dazu verleiten, sich erneut dem
Erkenntnismodell zuzuwenden und damit unsere innere
Empfindungen doch wieder als unabhängige Objekte zu
denken. Vom Konstruktivismus isr immerhin die Einsicht
beizubehalten, daß innere Zustände nicht unabhängig von
einem Bewußtsein von ihnen oder einem Sprechen über sie
gegeben sind: Ein Schmerz existierr nur, sobald das betrof-
fene Subjekt auf ihn aufmerksam wird, einen Wunsch ver-
spüre ich erst, wenn ich für ihn einen halbwegs passenden
Ausdruck gefunden habe. Der Fehler des Konstruktivismus
beginnt erst dort, wo er aus cliesem Bedingungsverhältnis ei-
nen Erzeugungsmechanismus macht, so, als ob allein das Be-
wußtsein des Schmerzes ihn überhaupt erst entstehen ließe,
all unsere Wünsche aus einem Akt der sprachlichen Formu-
lierung hervorgingen. Schon clie Tatsache, daß es etwas ist,
dem wir hier Ausdruck verleihen oder auf das wir unsere
Aufmerksamkeit richten, gibt zu erkennen, wie abwegig clie
I4 Vgl. exemplarisch: Hermann Schmitz, • Gefühle a ls Atmosphären und
das affektive Betroffensein von ihnen«, in: Hinrieb Fink-Eirel/Georg
Lohmann (Hg.}, Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurr/M. 1993,
s. 33 - 56.
Schlußfolgerung ist, die der Konstrukti,rismus aus seinem
richtigen Ausgangspunkt zieht: Denn ohne den Anstoß einer
passiven Empfindung würden wir gar nicht darangehen, un-
sere Aufmerksamkeit zu schärfen oder nach den passenden
Worten zu suchen. Das alles muß nun aber nicht heißen, als
Quelle jenes sinnJjchen Anstoßes ein Objekt zu unterstellen,
welches frei von aller begrifflichen Vorgeschichte wäre und
daher wie ein Stück erster Natur auf uns einwirkt; normaler-
weise sind wir mit unseren Wünschen und Empfindungen
vielmehr in einem gewissen Maße schon vertraut, weil wir
im Prozeß unserer Sozialisation gelernt haben, sie als innere
Bestandteile einer sprachlich geteilten Lebenswelt wahr-
zunehmen. Natürlich werd~n wir immer wieder auch von
menralen Zuständen überrascht, die uns vollkommen fremd
und opak erscheinen, weil es eine solche Vorgeschichte der
sprachlichen Sozialisation nicht gibt; aber auch in diesen
Fällen, die mir faktischer Unvertrautheit oder vorgängiger
Desyrnbolisierung zusammenhängen mögen, 15 können wir
den entsprechenden Empfindungen gegenüber eine Einstel-
lung einnehmen, in der wir deren Fremdheit durch Abgleich
mit dem Horizont des bereits Vertrauten weiter zu erschlie-
ßen und zu artikulieren vermögen. Wenn wir uns die Selbst-
beziehung nach einem derartigen Muster denken, so bietet
sich als mittlerer Weg zwischen Detektivismus und Kon-
struktivismus ein Modell an, das »Expressionismus« heißen
könnte: Wir nehmen unsere mentalen Zustände weder ein-
fach wie Objekte wahr, noch konstituieren wir sie durch
unsere Bekundungen, sondern wir artikulieren sie nach
Maßgabe des uns innerlich jeweils bereits Vertrauren. 16 Ein
Subjekt, das sich in dieser originären Weise auf sich selbst be-
zieht, muß die eigenen Empfindungen und Wünsche für et-
was halten, das es wert ist, artikuliert zu werden; insofern
Ij Vgl.Allied Lorenzer, Sprachzerstönmg und Rekonstruktion, Franlcfurr/
M. 1970.
I 6 Auch die Idee eines ., mittleren "Weges« übernehme ich von David H. Fin-

kelstein, Expression and the Inner, a. a. 0., S. 58 ff.

88
tun wir gut daran, auch hier von der Notwendigkeit einer
vorgängigen Anerkennung zu sprechen.
Eine derartige Form der Anerkennung gilt nicht dem In-
teraktionsparmer, der in seinem Personsein immer schon ak-
zeptiert sein muß, bevor auch nur irgendeine Art der Kom-
munikation mit ihm möglich sein soU. Vielmehr handelt es
sich in diesem Fall um eine Anerkennung, die das Subjekt
sich selbst vorweg entgegengebracht haben muß, um über-
haupt in einen expressiven Kontakt mit seinen mentalen Zu-
ständen treten zu können; werden nämlich die eigenen Wün-
sche und Empfindungen erst gar nicht der Artikulation für
wert erachtet, so kann das Subjekt zu seinem Inneren nicht
den Zugang :finden, den es in der Selbstbeziehung aufrecht-
zuerhalten gilt. In der letzten Zeit ist diese Art von Anerken-
nung seiner selbst häufig in Parallele zu Heideggers Begriff-
lichkeit als »Selbstsorge« bezeichnet worden; 17 gemeint ist
damit, daß das Subjekt auch sich selbst gegenüber zunächst
jene Haltung des engagierten Bekümmerns einnimmt, die
Heidegger als charakteristisch für unseren Umgang mit den
Dingen und anderen Menschen betrachtet hat. Wenn in ei-
nen solchen Umgang der Selbstsorge nicht mehr an ethischen
Bestrebungen hineinprojiziert wird, als was im Für-wert-
Halten der eigenen Wünsche und Empfindungen enthalten
ist, dann ist er mit der Haltung identisch, die ich hier als An-
erkennung seiner selbst bezeichnen möchte: Ein Subjekt, das
zu einer ~ressiven Selbstbeziehung in der Lage sein soll,
muß sich selbst vorweg soweit bejahen können, daß es die ei-
genen psychischen Erlebnisse für wert hält, aktiv erschlossen
und artikuliert zu werden. 18 Diese Bestimmung der Anerken-
nung seiner selbst entspricht in etwa dem, was Harry Frank-

q Vgl. Michel Foucaulr, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3,


Frankfurt/M. 1986.
I8 Inwiefern diese Fähigkeit zur Selbstbejahung ihrerseits wiederum von
einer Anerkennung durch Andere abhängt, hat jüngst noch einmal Emst
Tugendhat herausgearbeitet: ders., Egozentrizität wtd Mystik. Eine
atZthropologische Studie, München 2.003, Kap. 2..
furt in setnem jüngsten Buch als »Selbstliebe« be•.eichoet
hat; 19 in derselben Weise wie er setze auch ich eine Art von
Selbstbeziehung voraus, in der wir uns mit unseren Wün-
schen und Absichten so identifizieren oder sie so bejahen,
daß daraus geradezu zwangsläufig die Anstrengung einer
Entdeckung unserer grundlegenden, eigentlichen oder eben
»second order« Bestrebungen erwächst. Die Einstellung, die
wir in einem solchen Prozeß der Erkundung unseres Selbst
gegenüber uns selbst einnehmen, nenne ich hier »expressiv «
-und vermutlich im Unterschied zu Harry Frankfurt bin ich
darüber hinaus der Überzeugung, daß es diese Art von Aner-
kennung seiner selbst ist, die Freud in seiner psychoanaly-
tische.n Lehre als eine ganz selbstverständliche, nicht weiter
hinterfragbare Haltung des Menschen zu sich selbst voraus-
gesetzt hat.
Um von diesen Schlußfolgerungen aus nun wieder die
Brücke w unserem eigentlichen Thema zu schlagen, der Idee
einer möglichen Selbstverdinglichung bei Georg Lukacs, be-
dad es nur einer leichten Uminterpretation der beiden zuvor
behandelten Modelle der Selbstbeziehung. Bislang habe ich
in meiner Argumentation unterstellt, daß es sich beim Detek-
tivismus und Konstruktivismus um zwei defizitäre Weisen
handelt, die Beziehung menschlicher Personen auf sich selbst
zu bestimmen: Weder die Vorstellung, daß wir unsere Emp-
findungen einfach nut erkennen können, noch die Vorstel-
lung, daß wir sie durch Selbstzuschreibung konstituieren,
sind geeignet, uns ein angemessenes Bild von der personalen
Selbstbeziehung zu vermitteln. Nichts hindert uns nun aber
daran., diese beiden Modelle als Hinweise auf mögliche Ver-
fehlungen der menschlieben Selbstbeziehung zu nehmen; un-
ter einer solchen, vielleicht »ideologiekritisch « zu nennen-
den Sichtweise betrachten wir den Detektivismus und den
Konstruktivismus als angemessene Beschreibungen nicht des
originären Modus, sondern von defizitären Modi, sich auf

19 Vgl.Harry G. Frankfurt, Griinde der Liebe, Frankfurt/M. 2005, 3· Kap.


sein eigenes Inneres zu beziehen. Unschwer ist der damit an-
gedeutete Perspektivenwechsel am Fall des Detektivismus zu
plausibilisieren, der die Selbstbeziehung nach dem Muster
eines Erkenntnisprozesses beschreibt: Wir müssen uns nur
eine Person vorstellen, die die eigenen Wünsche stets als et-
was Fixes betrachtet, das es zu entdecken und zu beobachten
gilt, um einen lebendigen Eindruck von dem Sozialtypus zu
gewinnen, den der Detektivismus ungewollt in angemes-
sener Weise umreißt. Nicht anders verhält es sich mit dem
Konstruktivismus, dessen Beschreibungsmodell ebenfalls
leicht als Skizze eines bestimmten Sozialtypus zu entschlüs-
seln ist; hier reicht der Hinweis auf Personen, die in der illu-
sionären Vorstellung leben, daß die Empfindungen und
Wünsche, die sie aus Nutzenerwägungen heraus gegenüber
Dritten präsentieren, tatsächlich ihre eigenen sein könnten.
Beide Beispiele sollen illustrieren, daß wir uns durchaus For-
men eines Sich-zu-sich-Verhaltens vorstellen können, die den
im Detektivismus oder Konstruktivismus umrissenen Mu-
stern gleichen: Im ersten Fall bezieht sieb ein Subjekt auf
seine mentalen Zustände wie auf etwas starr und fest Gege-
benes, während es im zweiten Fall diese Zustände als etwas
zu Produzierendes betrachtet, über dessen Charakter es je
nach Situationsgegebenheit verfügen kann. Nicht zufällig
sind die Formulierungen hier schon so gewählt, daß es leicht
ist, die Verbindung zum Phänomen der Selbstverdinglichung
herzustellen: Die Formen von Selbstbeziehung, die entweder
im Detektivismus oder im Konstruktivismus festgehalten
werden, entsprechen einem Vorgang der Verdinglichung des
eigenen Selbst, weil in beiden Fällen die innerlich erlebten
Zustände nach dem Muster von dinglieb gegebenen Objek-
ten erlaßt werden; der Unterschied zwischen beiden Typen
besteht nur darin, daß einmal die eigenen Empfindungen wie
»inwendig « bereits abschlußhaftfixierte Gegenstände erlebt
werden, die es zu entdecken gilt, während sie das andere Mal
als etwas instrumentell erst Herzustellendes betrachtet wer-
den.
Nach dem bislang Gesagtern scheint es durchaus sinnvoll,
mit Lu<acs von der Möglichkeit einer personalen Selbstver-
dinglichung zu sprechen, wenn darunter Formen der Erfah-
rung der eigenen Empfindungen und Wünsche nach dem
Muster dinglicher Entitäten verstanden werden. Die Litera-
tur unserer Tage ist voU von Schilderungen menschlicher Per-
sönlichkeiten, die sich entweder in einem Zirkel der Selbst-
beobachtung verfangen haben oder unter Aufbringung
großer Energien an der Fabrikation strategisch geeigneter
Motive und Bedürfnisse arbeiten; 20 damit einher geht heute
ein allmählicher Verfall der psychoanalytischen Kultur, in
der dem Menschen die Aufgabe zugemutet wurde, zu sich
selbst in ein exploratives Verhältnis zu treten, um die eigenen
Zielsetzungen rastend 7.U erkunden und also gerade nicht nur
zu beobacl .ren oder gar zu rnanipulieren. 2 1 Was für solche
Tendenzen der Selbstverdinglichung verantwortlich zu ma-
chen isr, läßt sich aufgrund unserer bisherigen Überlegungen
wohl am besten nur wieder mit dem Begriff der »Anerken-
nungsfergessenheit« beschreiben: Die Modi des Beobach-
tens oder Bersteliens können in der personalen Selbstbe-
ziehung nur dann Platz greifen, wenn die •> Subjekte« zu ver-
gessen beginnen, daß ihre Wünsche und Empfindungen es
wert sind, artikuliert und angeeignet zu werden. Insofern
stellt die Verdinglichung der eigenen Person, nicht anders als .
die Verdinglichung anderer Personen, das Ergebnis einer
Aufmerksamkeitsminderung für das Faktum einer vorgängi-
gen Anerkennung dar: So, wie wir dort aus den Augen ver-
lieren,dnß wir die Anderen zuvor stets bereits anerkannt ha-
ben, neigen wir auch hier zum Vergessen der Tatsache, daß
wir U1IS selbst zuvor s~hon immer deswegen anerkennend
begegnet sind, weil wir nur so Zugang zu unserer eigenen

2.0 Vgi.Zum ersten Typus exemplarisch: Judith Hermann, Sommerhaus,


spätn: En:ählungen, Frankfun/M. 1998; zum zweiten Typus vgl. Ka-
thrin Röggla, Wir schlafen nicht, Frankfurt/M. 2004 .
2.1 Vgl.Jonathan Lear, "'The Shrink is in «, in: Psyche, 5o.jg., H. 7, I996,
$. 599-6I8.

92
Befindlichkeit finden konnten. Um nämlich überhaupt zu
wissen, was es heißt, Wünsche, Gefühle oder Absichten zu
haben, müssen wir diese vorgängig als einen bejahenswerten
Teil unserer Selbst erlebt haben, den es uns und unseren In-
teraktionspartnern verständlich zu machen gilt; und ebenso-
wenig wie die Anerkennung anderer Personen ist auch eine
derartige Anerkennung seiner selbst von nur genetischer
Vorrangigkei t.
An dieser elementaren Struktur der anerkennenden Selbst-
beziehung lassen sich nun ohne Schwierigkeit noch weitere
Aspekte ausmachen, die auch aU das beinhalten dürften, was
ich zu Beginn des Kapitels unter Verweis auf andere Theorien
erwähnt habe. Wenn Winnicott von der kreativ-spielerischen
Erkundung der eigenen Bedürfnisse spricht, Aristoteles von
der Freundschaft mit sich selbst oder Bieri von der Aneig-
nung der eigenen Wünsche, so handelt es sich dabei um zu-
sätzliche Facetten der Art von Anerkennung, die Subjekte
sich selbst gegenüber stets insofern entgegenzubringen ha-
ben, als sie ihre inneren Zustände als artikulationsfähigen
und -werten Teil ihres Selbst begreifen müssen. Gerät diese
vorgängige Selbstbejahung in Vergessenheit, wird sie igno-
riert oder vernachlässigt, so entsteht Raum für Formen der
Selbstbeziehung, die sich als »Verdinglichungen « seiner
selbst beschreiben lassen; denn die eigenen Wünsche und
Empfindungen werden dann wie dingliche Objekte erfahren,
die passiv beobachtet oder aktiv erzeugt werden können.

93
VI. Soziale Quellen der Verdinglichung

In meinem Versuch, das soziale Phänomen der Verdingli-


chung m seinen verschiedenen (intersubjektiven, objektiven
und subjektiven) Dimensionen auf die eine Tatsache der An-
erkennungsvergessenheit zurückzuführen, habe ich bislang
das Herzstück der Analyse von Georg Lukacs ausgelassen.
Alle seine Beobachtungen, ob sie nun das Dominantwerden
eines bloß beobachtenden Typs des Verhaltens im Arbeits-
leben, liD Naturverhältnis oder im sozialen Umgang betref-
fen, laufen in der gesellschaftstheoretischen These zusam-
men, daß für alle diese Verdinglichungserscheinungen nur
die kapitaHstiscbe Verallgemeinerung des Warentausches
verantwortHeb zu machen ist: Sobald die Subjekte in den
Zwang geraten, so ist Lukacs überzeugt, ihre soziale Inter-
aktionen primär .in Form des ökonomischen Austausches
von Waren zu vollziehen, müssen sie ihre Interakrionspart-
ner, die zu tauschenden Güter und sich selber nach dem Mu-
ster von dingHeben Entitäten wahrnehmen und sich dement-
sprechend nur noch beobachtend auf die Umwelt beziehen.
Es ist schwer, gegen diese kompakte These nur einen einzi-
gen, zentralen Einwand vorzubringen, weil sie zu viele Ele-
mente enthält, die in sich problematisch sind; schon allein
der Hinweis darauf, daß wir nach der bisherigen Analyse an-
dere Menschen doch nur dann »verdingHchen «, wenn wir
die vorgängige Anerkennung .ihres Personseins aus dem BHck
verlieren, dürfte darauf aufmerksam machen, wie wenig
überzeugend Lukacs' Gleichsetzung von Warentausch und
VerdingHebung ist, da doch im ökonomischen Austausch der
Interalttionspartner normalerweise zumindest als rechtliebe
Person gegenwärtig bleibt. Andererseits hat Lukacs mit sei-
ner These ein Aufgabenfeld umrissen, das für jede Analyse
von Verdinglichungsprozessen eine wesentliche Herausfor-
derung bleiben wird: ~oll nämlich die Tendenz zu verd.ing-

94
lichenden Einstellungen nicht bloß auf geistige oder kultu-
relle Entwicklungsprozesse zurückgeführt werden, so bedarf
es einer Identifizierung derjenigen sozialen Strukturen oder
Praktiken, die eine derartige Tendenz fördern oder veranlas-
sen. Ich will abschließend unter drei Gesichtspunkten einige
vorbereitende Überlegungen zu einer solchen »sozialen Ätio-
logie« (M. Nussbaum) der Verdinglichung entwickeln; dabei
kann ich mich auf einige Hypothesen stützen, die zuvor
schon in meinen Überlegungen eine Rolle spielten, als es um
die mög[jchen Ursachen für die »Anerkennungsvergessen-
heit« gegenüber anderen Personen ging:
(I) Lukacs beschreibt die Auswirkung der kapitalisti-
schen Marktgesellschaft so, als würde sie automatisch zu ei-
ner Verallgemeinerung verdingHebender Einstellungen in al-
len drei Dimensionen führen, bis daß sich am Ende nur noch
Subjekte gegenüberstehen, die sowohl sich selbst, ihre natür-
Hche Umwelt und alle anderen Menschen verdinglichen. Für
diesen totalisierenden Zug seiner Analyse sind eine Reihe
von begrifflichen und sachlichen Fehlern verantwortlich,
von denen ich hier nur diejenigen herausgreifen möchte, die
für eine weitere Behandlung des Themas besonders auf-
schlußreich sind. Unter begrifflichen Gesichtspunkten läßt
sich zunächst feststellen, daß Lukacs eine äußerst problema-
tische Neigung besitzt, Prozesse der Entpersönlichung sozia-
ler Beziehungen mit Vorgängen der VerdingHebung gleich-
zusetzen. BekanntHch war es Georg Simmel, der in seiner
Philosophie des Geldes untersucht hat, inwiefern mit der
Zunahme marktvermittelter Interaktionen zugleich eine
wachsende Vergleichgültigung gegenüber den Interaktions-
partnern einhergeht; 1 gemeint war damit, daß die unver-
wechselbaren Eigenschaften des Anderen .ihre kommunika-
tive Bedeutung verlieren, sobald er für einen Aktor nur noch
als Gegenüber eines geldvermittelten Tauschaktes auftritt.

I Georg Simme~ Philosophie des Geldes, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 6,


frankfurr/M . .r989, bes. IV. Kap.

95
Diesm von Simmel analysierten Prozeß der »Versachli-
chung« setzt Lukacs stillschweigend Ipit einem Vorgang der
sozialen Verdinglichung gJeich, ohne den zentralen Unter-
schied angemessen zu berücksichtigen; denn in einer durch
Geldverkehr »entpersönlichten« Beziehung muß der Andere
doc~ wie Simmel selbst hervorhebt/ als Träger allgemeiner
Personeneigenschaften präsent bleiben, um überhaupt als
vera11rworrungsfähiger Tauschpartner gelten zu können,
·während die Verdinglichung anderer Menschen bedeuten
würde, ihr Menschsein selber zu leugnen. Setzt die Entper-
sönlichung sozialer Beziehungen mithin die elementare An-
erkennung des anonym gewordenen Anderen als mensch-
liche Person voraus, so beinhaltet die Verdinglicbung gerade
ein .Eesrreiten oder »Vergessen << dieser vorgängigen Gege-
benheit. Insofern läßt sich der Vorgang der Verdinglichung
nicht mit dem allgemeinen Prozeß der »Versachlichung« so-
zialer Beziehungen gleichsetzen, den Georg Simmel als Preis
für die Zunahme negativer Freiheitenaufgrund der Verviel-
fältigung wirtschaftlicher Tauschbeziehungen beschrieben
hat.
Ebenso problematisch wie die Gleichsetzung von Entper-
sönlichung und Verdinglichung ist an Lukacs' Kategorien-
system aber auch die Tendenz, zwischen den unterschied-
lichen Dimensionen der VerdingJichung eine Art von not-
wendiger Einheit zu sehen. So sehr sich Lukacs a ucb um eine
begrililiche Differenzierung der drei Aspekte bemüht, also
zwischen der Verdinglichung anderer Personen, von Objek-
ten und des eigenen Selbst unterscheidet, so selbstverständ-
lich scheint er gleichzeitig zu unterstellen, daß jede dieser
Formen zwangsläufig den Auftritt der beiden anderen For-
men nach sich zieht; ihr wechselseitiges Zusammenspiel ist
für ilm keine empirische Frage, sondern Resultat einer be-
grifflichen Notwendigkeit. Demgegenüber hatte sich in un-
serer Analyse zumindest indirekt gezeigt, daß zwischen den

2 Vgl.ebd., S. 397·
unterschiedlichen Aspekten der Verdinglichung kein not-
wendiger Zusammenhang besteht; von einem solchen läßt
sich nur in Hinblick auf die Verdinglichung der objektiven
Welt sprechen, die als ein bloßes Derivat der Anerkennungs-
vergessenheit gegenüber anderen Menschen begriffen wer-
den muß (vgl. oben S. 7 5 ff. ), während sich diese Form der
Verdinglichung und die Selbstverdinglichung nicht notwen-
dig implizieren müssen. Es ist eine interessante, aber keines-
falls im vorhinein zu beantwortende Frage, ob und inwiefern
die Verdinglicbung von Menschen eine bestimmte Form der
Selbstverdinglicl:tung nach sich zieht, oder ob und inwiefern
umgekehrt die Selbstverdinglichung stets auch mit der Ver-
dinglichung anderer Personen einhergeht; es bedürfte auf
jeden Fall weiterer Analysen, bevor derartige lmplikations-
verhältnisse freigelegt werden könnten.
Ein drittes Problem der sozialen Ätiologie, die Lukacs
in seiner Verdinglichungsanalyse liefert, betrifft nicht seine
kategorialen, sondern seine sachlichen oder thematischen
Vorentscheidungen. In Nachfolge von Marx, letztlich der
Basis-Überbau-These, unterstellt Lukacs der ökonomischen
Sphäre ein so hohes Maß an kulturprägender Kraft, daß er
keine Mühe bat, von wirtschaftlichen Erscheinungen auf
direkte Folgewirkungen in der restlichen Gesellschaft zu
schließen; daher kann er wie selbstverständlich eine Infi-
zierung aller sozialen Lebenssphären durch jene Verding-
lichungsphänomene annehmen, die er ursprünglich und
eigentlich doch nur für den Bereich des kapitalistischen
Marktverkehrs ausgemacht hatte. Zwar dient als offizielle
Erklärung für diese totalisierende Tendenz der Verding-
lichung die Behauptung einer »Durchkapitalisierung« der
Gesamtgesellschaft; aber weder für die Familie noch für die
politische Öffentlichkeit, weder für die Eltern-Kind-Bezie-
hung noch für die Freizeitkultur zeigt Lukacs auch nur im
Ansatz, daß es zu einer solchen >>Kolonialisierung« durch
Prinzipien des kapitalistischen Marktes wirklich kommt.
Daher haftet seiner Idee einer Totalisierung der ökonomisch

97
begründeten Verdinglichung, die ihrerseits bereits problema-
tisch ~t, weil sie auf der Gleichsetzung mit Prozessen der
Entpe1sönlichung beruht, stets etwas Willkürliches an.
Mit der Privilegierung der Wirtschaftsphäre mag schließ-
lich a11ch das vierte, ebenfalls eher thematische Problem zu-
sammenhängen, das an Lukacs' soziologischer Erlclärung
der Verdinglichung ins Auge sticht. Liest man den Text sei-
ner Abhandlung heute mit einem Abstand von achtzig Jah-
ren, so muß man mit Erstaunen, ja Befremden feststellen,
daß Lu.kacs Phänomene der Verdinglichung überhaupt nur
in engster Verknüpfung mit Tauschprozessen zur Erwäh-
nung bringt; alles, was uns mittlerweile doch viel stärker als
Beleg für ein verdinglichendes Verhalten gilt, nämlich For-
men der bestialischen Entmenschlichung im Rassismus oder
Menscher handel,3 wird von ihm nicht einmal am Rande
thematisiert. Diese Ausblendung einer ganzen Klasse von
Verdinglichungserscheinungen ist nicht etwa zufälliger Na-
tur, so als habe Lukacs es nur an mangelnder Aufmerksam-
keit fehlen lassen oder derartige Vorkommnisse noch gar
nicht wahrnehmen können; sie verdankt sich vielmehr einer
systematischen Blindheit, die mit dem Vorurteil zusammen-
hängt, daß nur ökonomische Zwänge letzilieh zur Verleug-
nung der menschlichen Züge von Menschen führen können.
Den Einfluß von ideologischen Üherzeugungen, die ganze
Gruppen von Personen als entmenschlicht und daher wie
bloßeDinge erscheinen lassen, wollte Lukacs auf keinen Fall
berücksichtigt wissen. Sein Blick war so einseitig auf die ver-
haltensprägenden Wirkungen des kapitalistischen Waren-
verkehrs gerichtet, daß er daneben keine andere soziale
Quelle der Verdinglichung zur Kenntnis hat nehmen kön-
nen.
Es sind mindestens diese vier Probleme, die es heute rat-
sam erscheinen lassen, sich von dem soziologischen Erklä-

3 Vgl. dazu die eindringliche Analyse von Avis bai Margalit, Politik der
Wütde. Ober Achtung rmd Verachtung, Berlin 1997, 2.. TeiJ, 6.
rungsrahmen der Lukacsschen Verdinglichungsanalyse im
ganzen zu verabschieden. Zwar hat Lukacs mit großem
Recht zunächst auf solche Verdinglichungseffekre aufmerk-
sam machen wollen, die mit der institutionellen Ausweitung
des kapitalistischen Marktverkehrs einhergehen können;
zwar hat er in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache
in den Blick gerückt, daß wir gegenüber anderen Menschen
dann unsere vorgängige Anteilnahme und Anerkennung
wieder »vergessen« müssen, wenn wir sie nur noch wie Wa-
ren behandeln und betrachten; aber sein Ansatz ist sowohl
begrifflich wie thematisch viel zu sehr auf die Identität von
Warenverkehr und Verdinglichung zugeschnitten, als daß er
die theoretische Grundlage für eine zugleich umfassende und
differenzierte Analyse abgeben könnte.
(2) Die ersten Schritte, die nötig sind, um die soziale Ätio-
logie der Verdinglichung von Grund auf anders aufzuziehen,
habe ich an früherer SteHe bereits benannt: Wenn der Kern
aller Verdinglichung in einer »Anerkennungsvergessenheit«
besteht, dann müssen ihre sozialen Ursachen in Praktiken
oder Mechanismen aUfzusuchen sein, die ein solches Verges-
sen systematisch ermöglichen und verstetigen. Allerdings
stellt sich hier jetzt ein zusätzliches Problem, das zuvor noch
gar nicht angemessen in den Blick hat rücken können: Die
Tatsache, daß die Verdinglichung anderer Menschen und die
Selbstverdinglichung nicht zwangsläufig zusammen auftre-
ten, hat nämlich zur Folge, daß für sie beide ganz unter-
schiedliche Ursachen verantwortlich sein können. Zwar
handelt es sich bei den zwei Formen jeweils um Weisen der
Anerkennungsvergessenheit, aber deren Charakter ist so
verschieden, daß sie wahrscheinlich auch in ihrer sozialen
Herkunft, in der Art ihrer gesellschaftlichen Entstehung,
stark voneinander abweichen. Ich werde daher die beiden
Typen der Verdinglichung getrennt behandeln, wenn ich
jetzt versuche, die möglichen Ursachen ihrer sozialen Entste-
hung etwas genauer zu charakterisieren.
Gegenüber anderen Personen (oder Personengruppen)

99
können Menschen eine verdinglichende Haltung nur dann
einnehmen, so hatte sich gezeigt (vgl. Kap. IV), wenn sie
durch eine der beiden folgenden Ursachen deren vorgängige
Anerkennung aus dem Blick verloren haben: Entweder par-
tizipieren sie in einer sozialen Praxis, in der die bloße Beob-
achtuDg des Anderen so sehr zu einem Selbstzweck gewor-
den ist, daß alles Btwußtsein einer vorgängigen Sozial-
beziebnng erlischt, oder sie lassen sich in ihrem Handeln von
einem Überzeugungssystem leiten, das sie zu einer nach-
träglichen Leugnung dieser ursprünglichen Anerkennung
zwingt Beide Fälle sind dadurch gekennzeichnet, daß etwas
vorgängig intuitiv Beherrschtes im Nachhinein wieder ver-
lernt ~ird, aber nur im ersten Fall sorgt dafür das Ausüben
einer bestimmten Praxis selber, während es im zweiten Fall
die Folge der Übernahme einer spezifischen Weltsicht oder
Ideologie ist. Insofern ließe sich in Hinblick auf den zweiten
Fall auch sagen, daß die Verdinglichung hier das bloß habitu-
elle Derivat eines verdingliebenden Überzeugungssystems
ist: Die Kraft der Verleugnung gebt von den Gehalten einer
spezifuchen Ideologie aus und wird nicht durch das Ausüben
einer bestimmten Praxis erst erzeugt.
Nur diesen letzten Fall, die Entstehung einer verdingli-
ebenden Haltung durch das Ausüben einer vereinseitigten
Praxis1 bat Lukacs vor Augen gehabt, als er den kapitalisti-
schen Warentausch als soziale Ursache für alle Formen der
VerdingJichung beschrieben hat. Dabei hat er freilich nicht
nur dm bereits erwähnten Unterschied zwischen Entper-
sönlichung und Verdinglichung unberücksichtigt gelassen,
sondern auch die Tatsache ignoriert, daß im ökonomischen
Austausch der rechtliche Status beider Beteiligten sie wech-
selseitig vor einer bloß noch ve-rdinglichenden Haltung
schützt; denn so sehr der Andere jeweils auch nur noch unter
dem einen Gesichtspunkt der individuellen Nutzenmaximie-
rung betrachtet werden mag, seine rechtliche Einbindung in
den Tauschvertrag garantiert ihm eine zwar nur minimale,
aber dafür doch erzwingbare Berücksichtigung seiner per-

IOO
sonalen Eigenschaften.4 Diese Schutzfunktion des Rechts, in
der letztlich eine dürftige, aber um so wirksamere Überset-
zung des Faktums vorgängiger Anerkennung zu sehen ist,S
hat Lukacs nicht angemessen wahrnehmen können, weil er
die Institution des modernen Rechts selber für eine Aus-
geburt der Verdinglichungstendenzen des kapitalistischen
Wirtschaftssystems gehalten hat. Freilich macht der damit
thematisierte Zusammenhang in umgekehrter Richtung auf
den Tatbestand aufmerksam, daß die Möglichkeit einer bloß
noch verdinglichenden Haltung stets in dem Maße wächst,
in dem eine rein »beobachtende« Praxis nicht mehr an die
minimalen Anerkennungsgarantien des Rechts zurückge-
bunden ist: Überall dort, wo sich Praktiken des puren Be-
obachtens, Registrierens oder Berechnens von Menschen ge-
genüber ihrem lebensweltlieben Kontext verselbständigen,
ohne noch in rechtliche Beziehungen eingebettet zu sein, ent-
steht jene Ignoranz gegenüber der vorgängigen Anerken-
nung, die hier als Kern aller intersubjektiven Verdinglichung
beschrieben worden ist. Das Spektrum der gesellschaftlichen
Entwicklungen, in denen sich heute solche Tendenzen einer
Verdinglichung des Menschen spiegeln, reicht von der wach-
senden Aushöhlung der rechtlichen Substanz des Arbeitsver-
trags6 bis hin zu ersten Anzeichen einer Praxis, das Bega-

4 Auf dieser Überlegung fußt Kants Verteidigung des Ehevertrags, die


durchaus so zu verstehen ist, daß er sie als Mittel gegen die Gefahr der
wechselseitigen Verdinglichung in der sexuellen Beziehung begriffen hat.
Zu Stärken und Schwächen dieser Konstruktion vgl. Barbara Herman,
•Üb es sich lohnen könnte, über Kanrs Auffassungen von Sexualität und
Ehe nachzudenken?«, in: Deutsche Zeitschrift fiir Philosophie, 43-]g./
I995,H 6,$.967-988.
5 Vgl. exemplarisch: joel Feinberg, ,. The Natur and Value of Righrs«, in:
ders. Rights, ]ustice, and the Bounds of Liberty. Essays i1~ Social Philos-
ophy, Princeton 1980, S. I4 3 ff.; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung.
Z1Jr moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1:992,
S. I73-I95·
6 Vorzüglich dazu Roben Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage.
Eine Chronik der Lohnarbeit, KonstanZ 2000.

ror
bungspotential von Kindern nur noch genetisch zu messen
und zu manipulieren:7 In beiden Fällen droht die Gefahr, daß
institutionalisierte Hemmschwellen entfallen, die eine Leug-
nung der anerkennenden Primärerfahrung bislang verhin-
dert haben.
Schwieriger, als es auf den ersten Blick den Anschein hat,
ist das Verhältnis von sozialer Praxis und intersubjektiver
Verdinglichung im zweiten Fall zu bestimmen, also dort, wo
Überzeugungssysteme mit eindeutig verdinglichenden Typi-
sierungen anderer Personengruppen zum Zuge kommen.
Zwar hatte ich zuvor gesagt, daß es unter solchen Umstän-
den bloß einer Übernahme derartiger Ideologien bedarf, um
ein Subjekt zur Leugnung der vorgängigen Anerkerrnung
gelangen zu lassen; wir müßten uns diesen sozialen Vorgang
also so vorstellen, daß unter der Wirkung verdinglichender
Typisierungen (von Frauen, Juden, usw.) den entsprechen-
den Personengruppen jene personalen Eigenschaften nach-
träglieb wieder abgesprochen werden, die ihnen doch zuvor
aufgrund der sozialen Vorgängigkeit der Anerkennung ha-
bituell ganz selbstverständlich eingeräumt worden waren -
und tatsächlich vedahren ja auch eine Reihe von soziologi-
schen Erklärungsversuchen des Rassismus oder der porno-
graphischeu Repräsentation von Frauen nach einem derart
gestrickten Muster. Aber es ist bei einem solchen Vorgehen
vollkommen unklar, warum ein bloßes Gedankenkonstrukt
oder Beschreibungssystem die Kraft besitzen soll, ein vor-
gängig vertrautes Faktum nachträglich zu erschüttern und
nur sor.ial fragmentiert stehen zu lassen; auf jeden Fall ist es
schwer vorstellbar, wie schon Je an-Pa ul Sartre in seinen »Be-
trachtungen zur Judenfrage« gezeigt hat, daß menschliche
Wesen auf rein intellektuellen Wegen dazu zu bringen sein
sollen 1 die personalen Eigenschaften der Mitglieder anderer

7 Vgl. Andreas Kuhlmann, »Menschen im Begabungstest. ~utmaßungen


über Hirnforschung als soziale Praxisc, in: WestEnd. Neste Zeitschrift für
Soziaiforschtmg,Jg. 1hoo4, H. r, S. 143-153.

102
Sozialgruppen hartnäckig zu leugnen. 8 Wahrscheinlich ist es
daher auch in diesem Fall sinnvoller, dem Praxiselement bei
der Erklärung Rechnung zu tragen und von einem korrelati-
ven Zusammenspiel von vereinseitigter Praxis und ideologi-
schem Überzeugungssystem auszugehen: Die soziale Praxis
eines bloß distanzierten Beobachtens und instrumentellen
Erfassens anderer Personen wird in dem Maße verstetigt, in
dem sie durch verdinglichende Typisierungen kognitiv Un-
terstützung findet, wie umgekehrt jene typisierenden Be-
schreibungen dadurch motivationalen Nährstoff erhalten,
daß sie den passenden Interpretationsrahmen für die verein-
seitigte Praxis liefern. Auf diese Weise bildet sich ein Verhal-
tenssystems heraus, das es erlaubt, dje Mitglieder bestimm-
ter Personengruppen wie »Dinge« zu behandeln, weil ihre
vorgängige Anerkennung nachträglich wieder geleugnet
wird.
(3) Schon ihrer Struktur nach ist die Anerkennungsver-
gessenheit gegenüber anderen Personen so sehr von derjeni-
gen verschieden, die die Verleugnung des artikulationsfähi-
gen Charakters des eigenen Selbst aufweist, daß es höchst
unplausibel wäre, für beide Formen der Verdinglichung ein
und dieselbe soziale Verursachung anzunehmen. Zwar kön-
nen wir sowohl für die intersubjektive Verdinglichung als
auch für die Selbstverdinglichung unterstellen, daß sie nur
im Ausnahmefall vom Subjekt direkt intendiert und daher
im aUgemeinen eher durch die Teilnahme an bestimmten
Praktiken anonym erzeugt werden; aber das bedeutet eben
nicht, wie Luk:ks noch vorausgesetzt hat, daß es in beiden
Fällen dieselben Praktiken sind, die die Tendenz zur verding-
lichenden Einstellung fördern. Wie also könnten djejenigen
sozialen Praktiken beschaffen sein, die die Eigenschaft besit-

8 Vgl. jean-Paul Sartre, »Überlegungen zur Judenfrage«, in: ders., Ober-


legzmgen zur Juden frage, Reinbek bei Harnburg 1994, S. 9 -9I; eine eben-
so überzeugende Kritik an einer »intellektualistischen « Erklärung der
Objektivieiung von Frauen Liefeit Catharine MacKinnon, Feminism Un-
modified, Cambridge (Mass.) 1987.

103
zen, eine Haltung der Selbstverd.inglichung hervorzubrin-
gen? Eine Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach, aber
ich wiU zum Schluß wenigstens die Richtung andeuten, in
der eine Antwort zu finden wäre.
Auch die individuelle Selbstbeziehung, so hatte ich zu zei-
gen veiSucht, setzt eine spezifische Art der vorgängigen An-
erkennung voraus, weil sie von uns verlangt, unsere Wün-
sche Ulld Absichten als artikulationsbedürftigen Teil unseres
eigenen Selbst zu verstehen; eine Tendenz zur Selbstverding-
lichung entsteht nach meiner Auffassung hingegen immer
dann, wenn wir diese vorauslaufende Selbstbejahung (wie-
der) zu vergessen beginnen, indem wir unsere psychischen
Empfindungen nur noch als entweder zu beobachtende oder
herzustellende Gegenstände begreifen. Es liegt daher a uf der
Hand, die Ursachen für solche selbstverdinglichenden Ein-
stellungen in sozialen Praktiken zu suchen, die im weitesten
Sinn mit der Selbstpräsentation von Subjekten zusammen-
hängen; zwar wird man sagen müssen, daß in allem sozialen
Handeln stets auch eine Bezugnahme auf die eigenen Wün-
sche Ulld Absichten erforderlich ist, aber es lassen sich durch-
aus institutionalisierte Felder von Praktiken ausmachen, die
funktional auf die Präsentation des eigenen Selbst zuge-
schnitten sind- Bewerbungsgespräche, bestimmte Dienstlei-
stungen oder organisierte Partnerverrnittl ungen sind hier nur
die zUllächst ins Auge springenden Beispiele. Der Charakter
derartiger Institutionen, die vom Einzelnen verlangen, sich
selber öffentlich darzustellen, kann in hohem Maß varüeren;
das emsprechende Spektrum dürfte von Einrichtungen, die
noch Raum für experimentelle Selbsterkundungen lassen,
bis zu institutionellen Arrangements reichen, die den Betrof-
fenen nur noch zur Simulierung bestimmter Absichten an-
halten. Meine Vermutung ist nun, daß die Tendenz zur per-
sonalen Selbstverdinglichung zunimmt, je stärker d1e Sub-
jekte in Institutionen der Selbstpräsentation einbezogen
sind, die den zuletzt genannten Charakter besitzen: Alle in-
stituti<Jnellen Einrichtungen, die die Individuen latent dazu

104
zwingen, bestimmte Empfindungen bloß vorzutäuschen
oder abschlußhah zu fixieren, fördern die Bereitschaft zur
Ausbildung selbstverdinglichender Einstellungen.
Als Beispiele für institutionalisierte Praktiken, die heute
eine solche Entwicklungsrichtung nehmen, können hler glei-
chermaßen das Bewerbungsgespräch oder die internet-
vermittelte Partnersuche stehen. Während Bewerbungsge-
spräche in früheren Zeiten zumeist die Funktion besaßen,
anband von schriftlichen Dokumenten oder abverlangten
Fähigkeitsbeweisen die Eignung eines Bewerbers für eine
spezifische Tätigkeit zu überprüfen, nehmen sie inzwischen
nach Auskunft der Arbeitssoziologie häufig einen ganz ande-
ren Charakter an: Sie ähneln zunehmend Verkaufsgesprä-
chen, weil sie vorn Bewerber verlangen, sein zukünftiges Ar-
beitsengagement möglichst überzeugend und effektvoll zu
inszenieren, anstatt über bereits erworbene Qualifikationen
zu berichten. 9 Diese Aufmerksamkeitsverlagerung von der
Vergangenheit in die Zukunft zwingt den Betroffenen mit
aller Wahrscheinlichkeit eine Perspektive auf, in der sie ihre
eigenen, arbeitsbezogenen Einstellungen und Empfindungen
als etwas zu begreifen lernen, das sie wie »Gegenstände « zu-
künftig hervorzubringen haben werden; und je häufiger ein
Subjekt solchen Inszenierungszumutungen ausgesetzt ist, de-
sto eher wird es die Tendenz entwickeln, alle seine Wünsche
und Absichten nach dem Muster beliebig manipulierbarer
Dinge zu erfahren. In die andere Richtung der Selbstverding-
Lichung, diejenige, in der die eigenen Empfindungen bloß
noch passiv beobachtet und registriert werden, weisen heure
hingegen die Praktiken, die mit der Benutzung des lotemers
als Mittel der Partnersuche entstanden sind: Hier zwingt die
Art der standardisierten Kontaktaufnahme die jeweiligen
Benutzer zunächst dazu, ihre Eigenschaften in dafür vorge-
9 Hinweise auf diese Entwicklungen verdanke ich Srephan Voswinkel, der
am Institut für Sozialforschung (Frankfun/M.) ein von der DFG finan-
ziertes Projekt zum Strukturwandel des Bewerbungsgesprächs durch-
führt.

ros
sehenc, skalierte Rubriken einzutragen, während <Z-ie nach
der Feststellung von sich hinreichend überlappenden Eigen-
schaftm dann als elektronisch ausgewählte Paare dazu an-
gehalten werden, über ihre Gefühle füreinander sich wech-
selseitig in schnellem Zeittakt von E-Mail-Nachrichten zu
informieren. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich aus-
zumaJen, wie auf cliesem Weg eine Form der Selbstbeziehung
gefördert wird, in der die eigenen Wünsche und Absichten
nicht mehr im Lichte persönlicher Begegnungen artikuliert,
sandem nach Maßgabe beschleunigter Informationsverar-
beitung nur noch erlaßt und gleichsam vermarktet werden
müssen.10
Diese Beispiele dürfen freilich nicht mit prognostischen
Aussagen verwechselt werden; sie dienen hier am Ende viel-
mehr einer Veranschaulichung der Wege, auf denen soziale
Praktiken die Herausbildung verdinglichender Einstellungen
beförd"'rn könnten. Keinesfalls handelt es sich dabei um em-
pirische Voraussagen, die es gestatten würden, das tatsäch-
liche Entreteil solcher Verdinglicbungsprozesse zu erklären;
nicht eine faktische Entwicklung, sondern die Logik mög-
licher Veränderungen ist es, was derartige Spekulationen zu
erhellen vermögen. Aber vielleicht läßt sich aus dem eigen-
tümlicnen Status dieser zum Schluß vorgetragenen Über-
legungen eine Konsequenz ziehen, die die gesamte Absicht
meines hier unternommenen Versuchs betrifft. Die Gesell-
schafukritik hat sich in den letzten drei Jahrzehnten im we-
sentlichen darauf beschränkt, die normative Ordnung von
Gesellschaften daran zu messen, ob sie bestimmten Prinzi-
pien der Gerechtigkeit genügen; dabei hat sie bei allen Erfol-
gen in er Begründung solcher Standards, bei aller Differen-
zierung der zugrundezulegenden Hinsichten aus den Augen
verlorm, daß Gesellschaften auch in einem anderen Sinn
normativ scheitern können als in der Verletzung von allge-
ro Vgl.etwa Elizabeth Jagger, • Marketing the Self, buying an other: Dar-
ing n a post modern cunsumer society«, in: Sociology. Journal of the
Briti;h Sociological Association, Jg. 32, H. 4, 1998, S. 79 5-814.

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mein gültigen Gerechtigkeitsprinzipien. Für solche Verfeh-
lungen, die sich wohl weiterhin am besten mit dem BegriH
der »sozialen Pathologien « bezeichnen lassen, 11 fehlt es in-
nerhalb der Gesellschaftskritik mittlerweile nicht nur an
theoretischer Aufmerksamkeit, sondern auch an halbwegs
plausiblen Kriterien. Mit dem Verweis auf die Tatsache, daß
demokratische Gesellschaften ihre eigene soziale und politi-
sche Ordnung primär unter Bezug auf Gerechtigkeitsstan-
dards überprüfen, kann diese Beschränkung nicht gerecht-
fertigt werden; denn auch die Deliberation in der demokra-
tischen Öffentlichkeit stößt immer wieder auf Themen und
Herausforderungen, die sie vor die Frage stellt, ob bestimmte
soziale Entwicklungen jenseits aller Gerechtigkeitserwägun-
gen allgemein für wünschenswert gehalten werden können.
Bei der Beantwortung solcher, häufig »ethisch« genannter
Fragen darf eine philosophisch inspirierte Gesellschafts-
kritik natürlich keine sakrosankte Deutungshoheit für sich
beanspruchen; aber sie kann mit sozialontologisch gestütz-
ten Hinweisen auf die Logik möglicher Veränderungen von
außen dazu beitragen, den Diskurs in der Öffentlichkeit mit
guten Argumenten zu versehen und auf diesem Wege zu sti-
mulieren. Mein Versuch, den Verdinglichungsbegrill von
Lukacs anerkennungstheoretisch zu reformulieren, verdankt
sich einer derartigen Aufgabenstellung; er ist nicht ohne Be-
sorgnis darüber geschrieben worden, daß unsere Gesell-
schaften eine Entwicklung nehmen könnten, die Luk:ks vor
achtzig Jahren mjt unzureichenden Mitteln und in weit über-
zogener Verallgemeinerung vorausgeahnt hat.

u Axel Honneth, " Pathologien des Sozialen«, in: ders., Das Artdere der
Gerechtigkeit. Aufsätze zm praktischen Philosophie, Frankfurt/M.
2.000, 5. u-69.

Namenregister

Adorno, Theodor W. 12, 17, Habermas, Jürgen 2.7f., 37, 47,


)1-SJ, 69, 7)-77, 79f. 66f.
Anderson, Elizabeth 14 Habermas, Tilmann 79
Apel, Kar! 0. 78 Halbig, Christoph I 7
Arato, Andrew 12. Hammer, Espen 30, 54, 68
Aristoteles 30, 81, 93 Hege~ Georg W. F. 26, 39
Heidegger, Martin 29-45,
Bieri, Peter 82., 8 5, 93 52- 54· 58-6r, 63, 65, 74.
Breines, Paul 12. 8r,83,89
Brodkey, Harold 13 Herman, Barbara IOI
Butler, judirh 7 Hermann, Judirh 92.
Hobson,Peter 47,49-5I, 73
Carver, Raymond I 3 Hochschild, Arlie R. I4
Castel, Roben 101 Honneth, Axel 17, 2.6, 48, 55,
Cavell, Marcia 47 60,67,81,101,107
Cavell, Sranley 30, 54-6 5, 68, Houllebecq, Michel r 3
73
Cerutti, Furio 12. Jaeggi, Rahe! 7, 13, I5
jagger, Elizabeth 106
Dannemann, Rücliger 19 James, William 77,79
Davidson, Donald 4 7 f. Jay, Martin 12.
Demmecling, Christoph 17 Jelinek,Elbriede 13
Dennen, Daniel, C. 37
Dewey, john 2.9-45, 52-54, 58, Kant, lmmanuel IOI
6o, 64f., 68, 74, 83 Kuhlmann, Andreas I6, 102.
Domes, Martin 47, 49- 5I
Dreyfus, Hubert L. 35, 38 Lear, Jonathan 7, 92.
Löwy, Michael 2.7
Engels, Friedrich 2.1 Lohmann, Georg 2I, 63, 87
Lorenzer, Alfred 8 8
Feinberg, joel IOI Lukacs, Georg rr.I., q, 16f.,
Fichte,Johann G. 26f., 33 19-2.8, 2.9-40, 4Z.. 46, p, 58,
Fink-Eite~ Hinrich 87 6o,62.-68,70,74l,78-8o,
Fmkelstein, David H. 83, 85, 88 83,90,92.,94-IOI,I03, 107
Foucault, Michel 89
Frankfurt, Harry G. 90 MacKinnon, Catharine 103
Freud, Sigmund 47,90 Margalit, Avishai 8
Marx, Karl 11, 13, 19, 2.1, 97
Geuss, Raymond 7 Marzner, Jutta 12
Goldmann, Lucien 30 Mead, George H. 46-49

I09
Mercier, Pascal 8 5 Searle, John R. 84
Seel, Martin 69, 76
Neuhooser, Fred 1.7 Sirnmel, Georg n, 95 f.
Nietzs<he, Friedrich 8 5 Sparti, Davide 30, 54, 68
Nussbtum, Martha 14, 2.4 f., 9 5
Taylor, Charles I?
Piaget,jean 47 Tomasello, Michael 47, 49- SJ,
73
Quantt, Michael 17 Tugendhat, Ernst 42, 89

Röggla, Kathrin 92 Voswinkel, Stephan I05

Sarrre,Jean-Paul 55-58, I02f. Weber, Max rr, 21, 65 f.


Scheuermann, Silke I 3 Wilkinson, Stephen I 5
Schmitz, Hermann 87 Winnicon, Donald W. Sr, 93

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