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Verdinglichung
Eine anerkennungstheoretische Studie
Suhrkamp
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1 :z. 3 4 5 6 - 10 09 oB 07 o6 05
Inhalt
Vorwort... .. ........................... 7
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Vorwort
I6
ausrnachr. 12 Die Argumente, die er gegen die kapitalistische
Verdingüchung unserer Lebensverhältnisse vorbringt, besit-
zen nur indirekt einen normativen Charakter, weil sie sich
aus den deskriptiven Elementen einer Sozialontologie oder
philosophischen Anthropologie ergeben, die die rationalen
Grundlagen unserer Existenz zu erfassen versucht; insofern
läßt sieb von der Lukacsschen Verdinglichungsanalyse sa-
gen, daß sie die sozialontologische Erklärung einer Patholo-
gie unserer Lebenspraxis liefert. 13 Ob wir freilich heute noch
so reden dürfen~ ob wir Einwände gegen eine bestimmte Le-
bensform unter Hinweis auf sozialontologische Einsichren
rechtfertigen dürfen, isr keineswegs ausgemacht. Ja, es ist
nicht einmal klar, ob wir angesichts der hohen Erfordernisse
strategischen Handeins in heutigen Gesellschaften mit dem
Begriff der >>Verdingüchung« überhaupt noch einen in sich
stimmigen Gedanken zum Ausdruck bringen können.
I. 7
I. Verdinglichung bei Lukacs
20
lieh auf jene Phänomene gerichtet, die Marx als »Warenfeti-
schismus « beschrieben hat,2 aber schon nach wenigen Seiten
beginnt er, sich von der engen Bindung an clie ökonomische
Sphäre zu lösen, indem er die Verdinglichungszwänge auf
das gesamte Alltagsleben im Kapitalismus überträgt. Es ist
im Text nicht ganz klar, wie diese soziale Generalisierung
theoretisch vonstatten geht, weil Lukacs zwischen alterna-
tiven Erklärungsstrategien zu schwanken scheint: Da findet
sieb einerseits das funktionalistische Argument, daß es zum
Zweck der Expansion des Kapitalismus erforderlich sei, alle
Lebenssphären dem Handlungsmuster des Warentausches
anzugleicben;3 und gleichzeitig ist im Anschluß an Max We-
ber davon die Rede, daß der Prozeß der Rationalisierung
eigensinnig zu einer Ausdehnung von zweckrationa len Ein-
stellungen auf soziale Bereiche führe, die bislang traditionel-
len Verhaltensorientierungen unterworfen waren.4 Wie pro-
blematisch auch immer die Begründung für diesen Schritt
der Verallgemeinerung sein mag, mit seiner Hilfe gelangt
Lukacs schließlich zur zentralen These seiner Studie, der zu-
foJge im Kapitalismus die Verdinglichung zur )) zweiten Na-
tur«5 des Menschen geworden ist: AUen Subjekten, die an
der kapitalistischen Lebensform partizipieren, muß es zur
habituellen Gewohnheit werden, sich selber und die umge-
bende Welt nach dem Schema bloß dinglicher Objekte wahr-
zunehmen.
Bevor ich die Frage weiterverfolgen kann, um welche Art
von Fehler es sich bei dieser Verdinglichung handeln soU,
muß erst noch der nächste Schritt in der Analyse von Lukacs
1 Karl Marx, Das Kapital, Bd. r, in: Marx!Engels, Werke, Bd. 23, Berlin
1968, S. 8 5 ff.; zum Zusammenhang von Fetischismusanalyse und Ver-
dinglichuogskritik in der Mar:xschen Kritik der politischen Ökonomie
vgl. Georg Lohman, Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Ausein-
andersetzmtg mit Marx, Frankfurr/M. ~99~. v. a. Kap. V.
3 Georg Lukacs, »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proleta-
riats«, a. a . 0., S. 270.
4 Ebd., S. 276f.
s Ebd., S. 26o.
21
dargestellt werden. Bislang hat er, wie wir gesehen haben,
den Begriff des »Dings<< oder der »Dinghaftigkeit« recht
fahrlä,sig auf alle Phänomene übertragen, die von einem
Subjekt in seiner Umwelt oder an der eigenen Person als öko-
nomisch verwenbare Großen wahrgenommen werden;
gleichgültig, ob es sich um Gegenstände, andere Personen
oder e.gene Kompetenzen und Gefühle handelt, sie werden
Lukacs zufolge als dingliche Objekte erlebt, sobald sie unter
Gesichtspunkten ihrer Verwendbarkeit in winschaftlichen
Transaktionen betrachtet werden. Aber diese begriffliche
Srratetie reicht natürlich nicht aus, um den Gedanken der
»Verdinglichung « als einer »zweiten Natur<< zu rechtferti-
gen, weil damit eine Übertragung auch auf nicht-ökono-
misch( Sphären oder Handlungsd imensionen verknüpft ist:
Wie soll erklärt werden, was Verdinglichung außerhalb der
Handlmgssphäre des Äquivalenttausches heißt, wenn damit
allein e1ne Umdefinition aller Situationsgegebenheiten in
ökonomisch kalkulierbare Bezugsgrößen gemeint ist? lnter-
essanmwei~e scheint Lukacs das hierin angelegte Problern
selber gesehen zu haben, denn er ändert im Zuge seiner Ana-
lyse schon bald die Richtung seiner begrifflichen Herange-
hensweise: Anstatt primär auf die Veränderungen zu achten,
die sich auf Seiten der erfaßten Gegenstände durch die Ver-
dinglicbung vollziehen, nimmt er nun die Transformationen
in Augenschein, die da~ handelnde Subjekt an sich selber er-
fahren muß. Auch im »Verhalten<• der Subjekte, so behaup-
tet Lu.d.cs, ergeben sich unter den Zwängen des Waren-
tauscru Veränderungen, die deren gesamtes Verhältnis zur
umgelx:ndeo Wirklichkeit betreffen; sobald nämlich ein Ak-
tor dau(.rhaft die Rolle des Tauschparmers einnimmt, wird
er zu einem »kontemplativen«, »einflußlosen Zuschauer«
dessen. »was mir seinem eigenen Dasein, als isoliertem, in ein
fremdfs System eingefügtem Teilchen geschieht«.6 Die Be-
griffe der »Kontemplation « und der »Teilnahmslosigkeit«
6 Ebd., S. 2.65.
2.2.
werden mit dieser Verlagerung des begrifflichen Bezugs-
punktes zum Schlüssel für das, was sich im Modus der Ver-
dinglichung auf der Ebene des sozialen Handeins vollzieht:
Das Subjekt nimmt selber nicht mehr aktiv am Handlungs-
geschehen seiner Umwelt teil, sondern wird in die Perspek-
tive eines neutralen Beobachters versetzt, den die Ereignisse
psychisch oder existentiell unberührt lassen. Mit » Kontem-
plation « ist hier also weniger eine Haltung der theoretischen
Versenkung oder Konzentration gemeint als eine Einstellung
der duldsamen, passiven Beobachtung; und »Teilnahms-
losigkeit« soll bedeuten, daß der Handelnde nicht länger
emotional vom Geschehen affiziert ist, sondern es ohne in-
nere Anteilnahme, eben beobachtend, an sich vorüberziehen
läßt.
Es ist unschwer zu erkennen, daß mit dieser begrifflichen
Strategie eine geeignetere Basis gefunden ist, um zu erklären,
was mit dem Gedanken der »Verdinglichung« als einer
»zweiten Natur« des Menschen gemeint sein kann. Zwar
scheinen für eine vollständige Explikation weiterhin einige
theoretische Zwischenschritte zu fehlen, aber die grund-
legende Idee läßt sich wohl doch in folgender Weise wieder-
geben: In der sich erweiternden Handlungssphäre des Wa-
rentausches sind die Subjekte gezwungen, sich selber statt als
Teilnehmer nur mehr als Beobachter des sozialen Gesche-
hens zu verhalten, weil die wechselseitige Kalkulation der
möglichen Erträge eine rein sachliche, möglichst affekt-
neutrale Einstellung verlangt; mit dieser Veränderung der
Perspektive geht zugleich eine »verdinglichende {( Wahrneh-
mung aller situationsrelevanten Gegebenheiten einher, weil
die zu tauschenden Gegenstände, die Tauschpartner und
schließlich die eigenen Persönlichkeitspotentiale allein noch
in ihren quantitativen Verwertungseigenschaften zur Kennt-
nis genommen werden dürfen; zur »zweiten Natur « wird
eine derartige Einstellung, wenn sie kraft entsprechender
Sozialisationsprozesse so sehr zu einer habitualisierten Ge-
wohnheit wird, daß sie das individuelle Verhalten im gesam-
ten Sp::krrum des Alltagslebens bestimmt; die Subjekte neh-
men unter derartigen Bedingungen auch dann ihre Umwelt
nach dem Muster bloß dinglieber Gegebenheiten wahr,
wenn ;ie nicht direkt in Tauschvollzüge involviert sind. Un-
ter '''erdinglichung(( versteht Lukacs mithin den Habitus
oder cie Gewohnheit eines bloß beobachtenden Verhaltens,
in dessen Perspektive die natürliche Umwelt, die soziale Mit-
welt und die eigenen Persönlichkeitspotentiale nur noch teil-
nah.trulos und aifektneurral wie etwas Dingliches erfaßt wer-
den.
Mitdieser knappen Rekonstruktion ist indirekt immerbin
schon bestimmt, um welche Art von Fehler oder Versagen es
sich für Lukacs bei der »Verdinglicbung (( nicht handeln
kann. Eine solche verfälschende Perspektive stellt nicht, wie
wir schon gesehen haben, einen bloß episternischen Katego-
rienfehler dar; das ist aber nicht nur deswegen nicht der Fall,
weil e; sieb bei der Verdinglichung um ein vielschichtiges
und vtrstetigtes Einstellungssyndrom handeln soll, sondern
weil diese Einstellungsänderung viel zu tief in unsere Ge-
wohnheiten und Verhaltensweisen eingreift, als daß sie wie
ein ktgnitiver Irrtum durch eine entsprechende Korrektur
einfach auflösbar wäre. Die Verdinglichung bildet eine un-
sere Perspektive verzerrende »Haltung «7 oder Verhaltens-
weise,die in kapitalistischen Gesellschaften so verbreitet ist,
daß sieb von ihr als einer >>zweiten Natur« des Menschen
sprechen läßt. Daraus ergibt sich nun aber auf der anderen
Seite, daß die »Verdinglichung« bei Lukacs auch nicht als
eine A:t von moralischem Fehlverhalten, als ein Verstoß ge-
gen moralische Prinzipien begriffen werden darf; denn dazu
fehlt einer solchen verzerrenden Haltung das Element des
subjektiven Vorsatzes, das nötig wäre, um hier eine mora-
lische Terminologie ins Spiel zu bringen. Im Unterschied zu
Marrru Nussbaum ist Lukacs nicht an der Frage interessiert,
ab wann die Verdinglichung anderer Personen einen Grad
7 Ebd.,S. J-64.
annimmt, der Anlaß zur Behauptung einer moralisch verach-
tenswerten Handlung gibt;S für ihn sind vielmehr alle Mit-
glieder kapitalistischer Gesellschaften in derselben Weise in
das verdinglichende Verhaltenssystem einsozialisiert, so daß
die instrumentelle Behandlung des Anderen zunächst nur ein
soziales Faktum, nicht aber ein moralisches Unrecht dar-
stellt.
Mit diesen Abgrenzungen sind wir an eineil Punkt gelangt,
an dem sich abzuzeichnen beginnt, wie Lukacs den Schlüs-
selbegriff seiner eigenen Analyse verstanden WlSSen möchte.
Wenn es sich nämlich bei der Verdinglichung weder bloß um
einen epistemischen Kategorienfehler noch um ein mora-
lisches Fehlverhalten handelt, so bleibt schließlich nur übrig,
sie sich als eine im ganzen verfehlte Form von Praxis vorzu-
stellen; das teilnahmslose, beobachtende Verhalten, als das
Lukacs die Verdinglichung zu begreifen versucht, bildet ein
Ensemble von Gewohnheiten und Einstellungen, welches ge-
gen Regeln einer ursprünglicheren oder besseren Form von
menschlicher Praxis verstößt. Schon diese Formulierung
macht freilich deutlich, daß auch eine solche Fassung des
Verdinglichungsbegriffs nicht frei von normativen Impüka-
tionen ist; zwar haben wir es nun nicht mehr mit dem ein-
fachen Fall einer Verletzung von moralischen Prinzipien zu
tun, aber wir sind doch mit der ungleich schwierigeren Auf-
gabe konfrontiert, eine »wahre« oder »eigentliche« Praxis
gegenüber ihrer verzerrten oder verkümmerten Form aus-
weisen zu müssen. Die normativen Grundsätze, auf die
lukacs in seiner Verdinglichungsanalyse angewiesen ist, be-
stehen nicht in einer Summe von moralisch legitimierten
Prinzipien, sondern in einem Begriff der richtigen mensch-
lichen Praxis; und ein derartiger Begriff bezieht seine Recht-
fertigung viel stärker aus Aussagen der Sozialontologie oder
27
Objektive aus der subjektiven Tätigkeit der Gattung hervor-
gehen läßt. Mindestens ebenso problematisch an seinem
Vorgeben ist die sozialtheoretische These, daß allein die Aus-
dehnung des Warentausches die Ursache für eine Verhaltens-
änderung sein soll, die nach und nach in alle Lebenssphären
der modernen Gesellschaft eindringt; ungeklärt an dieser
Behauptung ist die m~ rxistische Prämisse, der zufolge die
Teilnahme an ökonomischen Tauschprozessen eine derart
durch schJagende Bedeutung für die Individuen besitzt, daß
sich dadurch deren gesamtes Selbst- und Weltverhältnis dau-
erhaft verändert, ja aus dem Lot gebracht wird. Ferner stellt
sich im selben Zusammenhang natürlich die Frage, ob Lu-
kacs nicht gravierend das Ausmaß unterschätzt, in dem
hochdifferenzierte Gesellschaften aus Effektivitätsgründen
daraufangewiesen sind, daß ihre Mitglieder einen strategi-
schen Umgang mit sich und anderen erlernen; wenn dem so
wäre, dürfte eine Kritik der Verdinglichung von vornherein
nicht so totalisierend wie Lukacs verfahren, sondern müßte
soziale Sphären ausgrenzen, in denen jenes beobachtende,
teilnahmslose Verhalten einen vollkommen legitimen Platz
besitztP Es ist im folgenden nicht meine Absicht, alle diese
Unklarheiten und Probleme im einzelnen systematisch zu be-
handeln; meine Hoffnung ist vielmehr, daß durch eine hand-
lungstheoretische Umformulierung des Lukacsschen Ver-
dinglichungsbegriffs eine Perspektive entsteht, in der jene
ungeklärten Fragen ihren dramatischen Charakter verlieren
und statt dessen Anlaß zu erhellenden Spekulationen geben. 1
I7 Das ilt die Strategie, die Ha bermas mir seiner Wiederaufnahme der Ver-
dinglchungskritik in der Theorie des kommunikativen Handeins ver-
folgt, vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Ha11delns,
Bd. 2, Frankfurt/M. r 981, Kap. vr und VII 1.
II. Von Lukacs zu Heidegger und Dewey
r Ich s türze mich auf Mactin Hejdegger, Sein und Z eit, Tübingen 1967
(n . Auß.);John Dewey, »Qualjtatives Denken « (1930), in: ders., Philo-
terung des zeitlichen Horizontes in clie Gegenwart binein
dürfte auch StanJey Cavell in die Reihe der Autoren auf-
zunehmen sein, mit deren Gedankengängen sich Luldcs'
zweite Version der Verdinglichungskritik berührt.2 Ich
werde mich zunächst auf einen Punkt der Konvergenz zwi-
schen lukacs und Heidegger konzentrieren, um den ange-
deuteten Begriff einer allteilnehmenden Praxis weiter zu er-
hellen.
In der Vergangenheit ist schon häufiger auf den Umstand
hingewiesen worden, daß sich zwischen Lukacs' Abhand-
lung und Heideggers Sein und Zeit in mehr als nur einer Hin-
siebt Berührungspunkte finden lassen;3 und diese geistige
»Wahlverwandtschaft« tritt noch deutlicher zutage, wenn
darüber hinaus die Aristoteles-Vorlesung von Heidegger aus
dem Jahr 1924 herangezogen wird." Um den ersten Punkt
der Übereinstimmung zwischen beiden Autoren angernessen
erkennen zu können, ist zunächst der Hinweis darauf nötig,
daß Lukacs mit seiner Abhandlung mehr als nur eine Kritik
der verdinglichenden Effekte der kapitalistischen Wirr-
schaftsform bezweckt; ihm geht es vielmehr ebensosehr um
den Nachweis, daß die moderne Philosophie deswegen im-
mer wieder auf unlösbare Antinomien stoßen mußte, weil sie
aufgrund ihrer Verwurzelung in der verdinglichten Alltags-
kulrur dem Schema der Entgegensetzung von Subjekt und
6 Heidtgger, Sein und Zeit, :>. a. 0., S. 57 u. S4r; ders., Grundbegriffe der
aristcrtelischen Philosophie, a. a. 0., S. 55 ff.
32
Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsform tat-
sächlich aufzuheben wären.
Mit dieser Komplizierung ist eines der schwierigsten Pro-
bleme angesprochen, welches der Text von Lukacs stellt. Bei
näherer Betrachtung ist es nämlich gar nicht so klar, ob seine
Argumentation- wirklieb auf die Schlußfolgerung hinaus-
läuft, daß der Prozeß der Verdinglichung alle Elemente einer
»wahren <• , anteilnehmenden Praxis bereits beseitigt hat;
denn vor allemim IetztenKapitel seiner Abhand lung, das die
»Bewußtwerdung« des Proletariats behandelt, finden sich
zahlreiche Stellen, die den entgegengesetzten Eindruck ver-
mitteln. Lukacs versucht dort mit starken Anleihen bei Fichte
zu zeigen, daß die Aufhebung der verdinglichten Verhältnisse
nur als ein Akt zu denken sei, in dem die Arbeiterklasse sich
der Tatsache ihrer faktisch stets schon geleisteten Erzeu-
gungsleistungen bewußt wird: Gerade weil das Proletariat
ein zuriefst erniedrigtes und versachHchtes Dasein fu~rr, so
lautet der dialektische Gedankengang, muß in ihm wie durch
eine spontane Kehrtwendung die Erkenntnis zum Durch-
bruch kommen, »daß die gesellschaftlichen Gegenstände
nicht Dinge, sondern Beziehungen zwischen Menschen
sind«J Wenn wir von diesen geschichtsphiJosophischen
Spekulationen wiederum alle idealistischen Überhöhungen
abziehen und sie auf einen nüchternen Kern reduzieren, so
bleibt von ihnen die Feststellung übrig, daß die andere, nicht-
verdinglichte Form von Praxis unter den Bedingungen der
Verdinglichung nicht etwa beseitigt, sondern bloß dem Be-
wußtsein entzogen ist; wie Heidegger würdeauch Lukacs an-
nehmen, daß die verdinglichten Verhältnisse nur einen fal-
schen Interpretationsrahmen, einen ontologischen Schleier
darstellen, hinter dem sich die Faktizität der tatsächlichen
Daseinsweise des Menschen verbirgt.
Folgen wir diesem Deutungsvorschlag, für den es im Text
33
von Lukacs kaum eine sinnvolle Alternative gibt, so stimmen
die beiden Denker in der Plazierung ihrer jeweiligen Praxis-
begriffe tatsächlich weitgehend überein: Was sich bei Lukacs
an Arupielongen auf eine teilnehmende Praxis findet, soll
ebenso wie Heideggers Begriff der »Sorge« die Form von
praktischer Orientierung bezeichnen, durch die die mensch-
liche Lebensweise ihrer Struktur nach gekennzeichnet ist;
denn mtgegen der herrschenden, zur »zweiten Natur« ge-
wordenen Vorstellung, der zufolge der Mensch primär stets
um ein erkennendes, neutrales Erfassen von Wirklichkeit be-
müht ist, vollzieht er sein Dasein tatsächlich im Modus einer
existentiellen Anteilnahme, eint>r »Besorgtheit•<, die ihm die
Welt bedeutungsvoll erschlossen sein läßt. Diese elementare
Eigenschaft menschlicher Praxis muß auch in solchen sozia-
len Verhältnissen noch rudimentär gegeben sein, die, wie
Lukacs annimmt, durch die Ausdehnung des Warentausches
weitgehend der Verdinglichung anheimgefallen sind; anders
nämlich könnte Lukacs gar nicht behaupten, daß es bloß ei-
nes Al<tes der Bewußtwerdung (und nicht etwa der Antizipa-
tion oder Erinnerung) bedarf, um durch die verdinglichten
Sozialbeziehungen hindurch die Faktizität praktischer An-
teilnahme ans Licht zu bringen. Insofern teilen beide Denker
die Überzeugung, daß inmitten der falschen, ontologisch
verblendeten Gegenwart jene elementaren Strukturen der
menschlichen Lebensform immer schon anwesend sein müs-
sen, die durch Besorgtheit und existentielle Interessiertheit
gekennzeichnet sind.
Ausdieser Gemeinsamkeitergibt sich freilich als eine wei-
tere Konsequenz, daß Lukacs und Heidegger auch in einem
dritten, entscheidenden Punkt übereinstimmen müssen. Bis-
lang hatte es in meiner Rekonstruktion ja geheißen, daß für
Lukacs »Verdinglichung« weder einen bloßen Kategorien-
fehler noch einen moralischen Regel verstoß, sondern eine
falscht »Haltung« oder Gewohnheit, also eine habituali-
sierte Form von Praxis bezeichnet; das aber kann nicht voll-
ständig richtig sein, wenn beide Autoren gleichzeitig darin
34
übereinstimmen, daß die Vorstellung versachlichter, ding-
hafter Beziehungen nur wie ein interpretatorischer Schleier
die Tatsache faktischer Besorgtheit und Anteilnahme ver-
deckt. Unter dieser Prämisse nämlich muß auch Lukacs an-
nehmen, daß die Verdinglichung nicht eine falsche Form
habitualisierter Praxis, sondern eine falsche Deutungs-
gewohnheit bezüglich einer rudimentär stets gegebenen,
»richtigen « Praxis darstellt; von »verdinglichten« Verhält-
nissen zu sprechen würde dementsprechend bedeuten, den
unter solchen Bedingungen lebenden Akteuren eine irregelei-
tete Auffassung von den Praktiken zu unterstellen, die sie in
ihrem Alltag eigentlich stets schon vollziehen. Zugleich dür-
fen diese falschen Deutungen aber auch nicht so vorgestellt
werden, daß sie ohne jeden Einfluß auf die tatsächlichen
Handlungsvollzüge der Subjekte bleiben; denn Lukacs wür-
de doch ebenso wie Heidegger behaupten, daß die Herr-
schaft der Subjekt-Objekt-Spaltung, daß die Hegemonie des
ontologischen Schemas der »Vorhandenheit«8 eine negative,
wenn nicht gar Zerstörerische Wirkung auf unsere alltägliche
Lebenspraxis ausübt. In der Konsequenz dieser zusätzlichen
Komplizierung sind beide Denker gezwungen, eine These zu
vertreten, die etwa den folgenden Gehalt besitzt: Die zur
zweiten Natur gewordene Gewohnheit, sich die Beziehung
zu sich selber und zur Umwelt nach dem Muster eines neu-
tralen Erfassens von dinglichen Gegebenheiten vorzustellen,
verleiht auch der menschlichen Handlungspraxis über die
Zeit eine andere, verdinglichte Gestal~ ohne daß der ur-
sprüngliche Sorgecharakter jener Praxis aber jemals voll-
ständig zum Verschwinden gebracht werden könnte; viel-
mehr muß in Form eines präreflexiven Wissens oder elemen-
tarer Handlungsreste diese vorgängige Eigenschaft stets so
8 Zum Schema der » Vorha ndenheita bei Heidegger vgl.: ders., Sein und
Zeit, a. a. 0., S. 55 f. VgL auch die hilfreiche Klärung des Gegensatzes von
,.zuhandenheit• und ,. Vorhandenheit• bei Heidegger, in: Hubert L.
Dreyfus, Being-in-the World. A Commentary on Heidegger's Being and
Time, Division I, Garnbridge (Mass.) 199 1, Kap. 4 ·
35
präsem bleiben, daß eine kritische Analyse sie jederzeit wie-
der zu Bewußtsein bringen könnte. Um die damit umrissene
These lu vervoJlsrändigen, hätte Lukacs ihr nur den Zusatz
hinzuzufügen, daß sich die Entstehung der verdinglichenden
Denkgewohnheiten weniger aus der Vorherrschah einer fal-
schen Ontologie als aus der sozialen Generalisierung des
Warenrausches ergibt: Der wachsende Gestaltwandel der so-
zialen Praktiken in Richtung eines teilnahmslosen Handeins
verdankt sich den Zwängen, die die Teilnahme an bloß kal-
kulatorischen Tauschrrozessen auf die Deutungsgewohn-
heitender Subjekte ausübt.
Mitdiesem Zwischenergebnis haben wir einen Punkt er-
reicht,an dem sich nun die Frage in Angriff nehmen läßt, ob
Heideggers Begriff der >>Sorge« tatsächlich zur AuJnellung
der Vorstellung von Praxis beitragen kann, die Lukacs seiner
Verdinglichungskritik zugrunde gelegt hat. Die Vermutung
einer solchen möglichen Befruchtung hatte sich ja deswegen
aufgedrängt, weil Lukacs in der zweiten Interpretations-
alternative seiner Theorie die Strukturen der originären Pra -
xis charakterisiert, indem er sie durch jene Eigenschaften zu
bestimmen versucht, die dem verdinglichten, bloß beobach-
tenden Verhalten gerade zu fehlen scheinen; dadurch ergibt
sieb nämlich nun, daß sich. der Mensch eigentlich stets in der-
selben Weise anteilnehmend und interessiert gegenüber sei-
ner Umwelt verhalten muß, wie Heidegger dies auch in sei-
nem Begriff der >>Sorge« anvisiert hat. Damit ist auf den
ersten Blick wohl kaum mehr gemeint als das, was heure als
»Teilnehmerperspektive« im Gegensatz zu einer bloßen Be-
obachrerperspektive bezeichnet wird: Menschliche Subjekte
partizipieren normalerweise am sozialen Leben, indem sie
sich ill die Perspektive ihres jeweiligen Gegenübers versetzen,
dessen Wünsche, Einstellungen und Überlegungen sie als
Gründe seines Handeins zu verstehen gelernt haben; wird
hingegen diese Perspektivübernahme nicht geleistet und da-
mit eine bloß beobachtende Haltung gegenüber dem An-
deren eingenommen, so zerreißt das vemün&ige Band der
menschlichen Interaktion, weil sie nicht länger über das
wechselseitige Verstehen von Gründen vermittelt ist.9 Die
beiden Elemente, durch die mithin die sogenannte Teilneh-
merperspektive charakterisiert sein soll, sind die Perspektiv-
übernahme und das sich daraus ergebene Handlungsverste-
hen; und die Frage an dieser Stelle ist natürlich, ob damit
genau die Aspekte benannt sind, auf die Heidegger mit sei-
nem Begriff der »Sorge« und Lukacs mit seiner Idee der »an-
teilnehmenden « Praxis primär abzielen wollten. Sind die In-
tuitionen, die die beiden Denker mit ihrer Kritik an der
Vorherrschaft des Subjekt-Objekt-Schemas verbinden, an-
gemessen und vollständig in die These zu übersetzen, daß in
der menschlichen_ Lebenspraxis die Teilnehmerperspektive
stets einen notwendigen Vorrang vor dem bloßen Beobach-
terstandpunkt besitzt? Dagegen spricht zunächst schon der
Umstand, daß Heidegger und auch Lukacs ihren jeweiligen
Begriff der Praxis so verstanden wissen möchten, daß er sich
auf den Umgang sowohl mit den Mitmenschen als auch mit
der restlichen Umwelt erstreckt; die Einstellung der »Sorge «
oder der »Anteilnahme« soll ihrer Vorstellung nach nicht al-
lein dem anderen Subjekt in der zwischenmenschlichen Inter-
aktion gelten, sondern im Prinzip jedem Gegenstand, soweit
er in den Bewandtniszusammenhang menschlicher Praxis
fällt- schon die hier verwendete Kategorie des »Gegenstan-
des « würde Heidegger ja ablehnen, weil sie viel zu sehr dem
ontologischen Schema der Entgegensetzung von Subjekt und
Objekt verhaftet bleibt. 1o Aber nicht nur in ihrer Extension,
9 Vgl. zur Idee der »Teilnehmerperspektive« exemplarisch:Jürgen Haber-
mas, " Was heißt Universalpragmatik? u, in: ders., Vorstudien und Er-
gänzunger~ zur Theorie des kommunikativen Harzdel11s, Frankfurt!M.
1984, S. 3 53 -440; Daniel C. Dennett, The Intentional Stance, Cam-
bridge (Mass.) 1987.
ro Heidegger vermeidet auf der ontologischen Ebeneseiner Daseinsanalyse
sowohl den Begriff des ~Gegenstandes • als a uch den des .. Dings• ; an
ihre Stelle setzt er zumeist den Begriff des ,.zeugs« als Komplementä r-
kategorie zum • Zuhandenen•, vgl. etwa: Martin Heidegger, Sein und
Zeit, a. a. 0., S. 68.
37
sondern auch ihrer Intension nach scheinen die Begriffe, die
Lukacs und Heidegger verwenden, etwas mehr oder anderes
zu beinhalten, als was in der Idee der Teilnehmerperspektive
festgehalten wird; denn »Sorge« oder »Anteilnahme« sind
Ausdrücke, die zwar auch einen Akt der Perspektivüber-
nahme bezeichnen, diesem aber zusätzlich ein Element der
affektiven Bezogenheit, ja der positiven Vorgestimmrheir bei-
legen, das in der Vorstellung des Verstehens von Handlungs-
gründen nicht zum Tragen kommt. 11 Es ist damit eine bauch-
dünne, a her um so enrs..::heidendere Grenze markiert, die die
Intuitionen unserer beiden Autoren von dem trennt, was
heute an grundsätzlichen Erwägungen mit Hilfe des Begriffs
der ».kommunikativen «. oder »intentionalen « Einstellung
formuliert wird: Während damit auf den Umstand abgeho-
ben werden soll, daß menschliche Wesen im allgemeinen mit-
einander kommunizieren, indem sie sich wechselseitig in der
Rolle einer zweiten Person wahrnehmen, wollen Lukacs und
Heidegger auf die ldee hinaus, daß eine solche intersubjek-
tive Einstellung vorgängig stets an ein Moment der positiven
Befürwortung, der existentiellen Zugewandtheit gebunden
ist, welches in der Zuschreibung vonrationaler Motiviertheit
nicht runlänglich zum Ausdruck kommt.
Umgenauer zu verstehen, was diese These besagen soll, ist
es sinnvoll, sich ihren Grundgedanken noch einmal in vollem
UmfaJJg vor Augen zu führen: Es wird nichts weniger be-
haupttt, als daß das menschliche Selbst- und Weltverhältnis
nichr11ur genetisch, sondern auch kategorial zunächst an etne.
befünmrtende Einstellung gebunden ist, bevor dann andere,
emotional neutralisierte Orientierungen daraus entspringen
können. Der Rückbezug auf unser leirendes Thema ergibt
sich bei Zugrundelegung einer solchen Prämisse daraus, daß
das Verlassen der ursprünglich gegebenen, befürwortenden
II Für Jen Heideggerschen Begriff der »Sorge« bat diese über den instru-
menreUen Bedeurun~gehalt hinausgehende Komponente der positiven
Voqestimmtbeir auch Huben L Dreyfus betont: vgl. ders., Being-in-
the-World, a. a. 0., Kap. 14.
Haltung zu einer Einstellung gegenüber der Umwelt führen
muß, in der deren Elemente nur noch als dingliche Entitäten,
eben als bloß noch »Vorhandenes « erfahren werden; mit
»Verdinglichungcc ist dementsprechend hier eine Denkge-
wohnheit, eine habituell erstarrte Perspektive gemeint, druch
deren Übernahme das Subjekt ebenso die Fähigkeit zur inter-
essierten Anteilnahme verliert, wie dessen Umwelt ihres Cha-
rakters der qualitativen Erschlossenheit verlustig geht. Bevor
ich die Frage weiterverfolgen kann, ob mit dieser klärenden
Bestimmung eine heute brauchbare Verwendung des Begriffs
der »Verdinglichungcc gegeben ist, muß ich aber zunächst die
ihr zugrundeliegende Prämisse zu rechtfertigen versuchen,
also die These, daß die Einstellung der Sorge einen nicht nur
genetischen, sondern auch begrifflichen Vorrang vor dem
neutralen Erfassen der Wirklichkeit besitzt. Im nächsten
Schritt will ich die damit umrissene Behauptung mit Hilfe
einer anderen Theoriesprache reformulieren, indem ich be-
hutsam den Heideggerschen Begriff der »Sorgec< durch die
von Hege! stammende Kategorie der »Anerkennungcc er-
setze; auf diesem Weg scheint es mir möglich, die These zu
begründen, daß im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis
eine befürwortende, anerkennende Haltung sowohl gene-
tisch als auch kategorial allen anderen Einstellungen vorher-
geht. Erst nachdem ich das gezeigt habe, kartn ich dann auf
die leitende Frage zurückkommen, wie wir heute sinnvoll den
Lukacsschen Begriff der »Verdinglichungc< wiederaufneh-
men können. Als Brücke zur Kategorie der ))Anerkennungcc
will ich aber zunächst einen Gedankengang vonJohn Dewey
verwenden, in dem die Überlegungen von Lulcics und Hei-
degger auf eine noch mal andere Weise formuliert werden.
In zwei faszinierenden Aufsätzen, diebeidekurz nach der
Veröffentlichung von Geschichte und Klassenbewußtsein er-
schienen sind, u hat John Dewey im Vokabular seiner eige-
39
nen Tneorie eine Konzeption des originären Weltverhält-
nisses des Menschen umrissen, die in ü herraschend vielen
Punkten den Auffassungen von Lukacs und Heidegger äh-
nelt. Die Überlegungen von Dewey laufen auf die Behaup-
tung hinaus, daß jedes rationaJe Begreifen von Wirklichkeit
vorgä11gig an eine holistische Form von Erfahrung gebunden
ist, in der uns alle Gegebenheiten einer Situation aus einer
Perspektive der interessierten Anteilnahme qualitativ er-
schlossen sind; wenn wir diesem Gedankengang weit genug
folgen, läßt sich nicht nur der Übergang vom Begriff der
>> Sorge« zu dem der >'Anerkennung<< rechtfertigen, sondern
auch der Primat einer solchen Anerkennung vor allen bloß
kognitiven Einstellungen zur Welt demonstrieren.
Wie Lukacs und Heidegger, so steht auch Dewey jener
traditionelle11 Auffassung äußerst skeptisch gegenüber, der
zufolge unser primäres Weltverhälmis eines der neutralen
Konfronmtion mit einem zu erkennenden Objekt ist. Zwar
verwe.nder er ZUI Charakterisierung dieser Doktrin nicht den
BegriH der »\lerdinglichung«, auch liegt ihm das weltan-
schauliche Pathos von Heidegger fern, aber der Sache nach
stimmt er mit beiden Denkern sogar darin überein, daß die
Vorherrschaft des Subjekt-Objekt-Modells nicht ohne Fol-
gen für das gesellschaftliche Selbstverständnis bleiben kann:
Je länger das herrschende Denken noch an der herkömm-
lichen Entgegensetzung von Subjekt und Objekt festhält,
desto stärker wird unsere soziale Lebenspraxis Schaden
nehmen, weil Kognition und Gefühl, Theorie und Praxis,
WissellSchaft und Kunst nur immer weiter auseinandergeris-
sen werden. 13 Die Begründung, die Dewey für seine Kritik
am » Zuscha uerrnodell « der Erkenntnis liefert, 14 fällt freilich
wesentlich direkter und umstandsloser aus als diejenige von
Lukacs und Heidegger; ohne kulturkritische Umschweife
13 Vgl. etwa die Einleitung vo njohn Dewey, »Affektives Denken «, a. a. 0.,
S.II7.
14 Vgl. v. a. joho Dewey, Die Suche nach Gewißheit, Frankfun/M. 1998,
s. 27ff.
möchte er mit Hilfe sprachtheoretischer und epistemolo-
gischer Argumente zeigen, daß am Anfang jeder rationalen
Erkenntnis die empfindungsreiche Erfahrung einer praktisch
zu bewältigenden Umwelt steht. Alle Existenzaussagen ha-
ben ihre kognitiven Wurzeln, so beginnt Dewey seine Dar-
legung, in einer Situation, die »trotz ihrer interneo Komple-
xität >für das handelnde Subjekt< durchweg von einer ein-
zigen Qualität beherrscht und charakterisiert wird «; 15 ob es
sich um die Interaktion mit anderen Personen oder um den
Umgang mit dinglichen Objekten handelt, stets sind die si-
tuationalen Gegebenheiten zunächst in das Licht einer be-
stimmten Erfahrungsqualität getaucht, die keine Unterschei-
dung in emotionale, kognitive oder voluntative Elemente
zuläßt; denn was wir in solchen Augenblicken erleben, was
die »Stimmung« (Heidegger) derartiger Situationen aus-
macht, beherrscht unser Selbst- und Weltverhältnis in so um-
fassender Weise, daß uns momentan die Heraushebung eines
bestimmten Aspekts unmöglich ist. In dieser ursprünglichen
Qualitätall unseres Erlebens kommt für Dewey die Tatsache
zum Tragen, daß wir als handelnde Wesen zunächst mit exi-
stentieller Distanzlosigkeit und praktischem Engagement
auf die Welt bezogen sind; an anderer Stelle verwendet er für
denselben Umstand den Begriff der »Interaktion«, 16 der
deutlich macht, daß es sich dabei nicht um eine selbstbe-
zogene, egozentrische EinstelJung handelt, sondern um ein
Bekümmertsein um alle situatiooalen Gegebenheiten im In-
teresse eines möglichst reibungslosen, harmonischen Aus-
tauschs: Uns ist die Welt nicht in Sorge um uns selbst er-
schlossen, vielmehr durchleben wir Situationen in Sorge um
die Bewahrung einer fließenden Interaktion mit der Umwelt.
Ich werde diese ursprüngliche Form der Weltbezogenheit im
folgenden »Anerkennung« nennen; damit soll hier vorläufig
nur der Umstand hervorgehoben werden, daß wir uns in un-
15 John Dewey, »Qualitatives Den ken• , a. a . 0 ., S. 97.
x6 Vgl. etwa John Dewey, Erfahmng 11nd Natf4r, Fra nk furt/M . 199 5, v. a .
Kap. 5·
serem Handeln vorgängig nicht in der affektiv neutralisier-
ten Haltung desErkennensauf die Welt beziehen, sondern in
der existentiell durchfärbten, befürwortenden Einstellung
des Bekümmerns: Wir räumen den Gegebenheiten der uns
umgebenden Welt zunächst stets einen Eigenwert ein, der
uns um unser Verhältnis mit ihnen besorgt sein läßt. Insofern
teilt der Begriff der »Anerkennung« auf dieser elementaren
Ebene nicht nur mit Deweys >> praktischem Engagement«,
sandem auch mir Heideggers )>Sorge « und Lukäcs' »Anteil-
nahme« den gleichen Grundgedanken der Vorgängigkeit ei-
nes existentiellen Interesses an der Welt, das sich aus der Er-
fahrung ihrer Werthaftigkeit speist. 17 Eine anerkennende
Haltung ist mithin Ausdruck der Würdigung der qualitati-
ven Bedeutung, die andere Personen oder Dinge für unseren
Daseinsvollzug besitzen.
De'-'·ey möchte nun im Fortgang seiner Darlegung zeigen,
daß wir zu einer rationalen Aufgliederung einer erlebten Si-
tuation nur gelangen können, nachdem wir uns von ihrer
qualitativen Einheit durch einen Akt der Distanznahme ge-
trennt haben: Das an analytischen Komponenten, was wir
für die intellektuelle Bewältigung eines Handlungsproblems
benötigen, ergibt sich für uns aus dem reflexiven Versuch,
nachträglich die Komponenten voneinander zu trennen, die
wir zuvor im Z usammenspiel einer einzigen Stimmung unge-
schieden erlebt haben. Erst jetzt, in der sekundären »Bear-
beitung« einer Situa~on, korrunt es mit der Zergliederung in
emoti.onale und kognitive Elemente auch zur Herausdestil-
lierung eines Erkenntnimbjekts, dem sich das handelnde In-
dividuum affektiv neutralisiert als Subjekt entgegensetzen
kann; all seine Aufmerksamkeit, die zuvor im ganzen der di-
17 Nach dieser Deutung enthält a uch die •Sorge« bei Heicegger, anders als
Ernst Tugendhat es in seiner Interpretation darstellt (d: rs., •Schwierig-
keitm in Heideggers Umweltanalyse•, in: ders., 4fsätze. 1992 -2000,
FraJJkfurtiM. 2.001 , S. 109-137), insofern stets ein Element der Dezen-
trierong, als es immer auch um eine Berücksichtigung der inneren An-
sprüchlichkeit des Objekts geht.
rekten Erfahrung verloren war, vermag es jetzt als kognitive
Energie auf die intellektuelle Bewältigung eines Problems zu
konzentrieren, das als hervorgehobene Entität sämtliche
weiteren Gegebenheiten in den Hintergrund treten läßt.
Aber der ursprüngliche, qualitative Erfahrungsgehalt, so be-
tont Dewey unermüdlich, darf in diesem kognitiven Prozeß
der Abstraktion nicht verlorengehen, weil sonst die schäd-
liche Fiktion eines bloß daseienden Objekts, eines »Gegebe-
nen «18 entsteht; sobald wir nämlich vergessen haben, welche
Art von Stimmung am Anfang unserer reflexiven Bemühun-
gen stand, gerät uns aus dem Blick, worurnwillen wir die Re-
flexion überhaupt erst begonnen haben. Um das Ziel aU un-
serer Denkoperationen nicht aus den Augen zu verlieren,
muß ihr Ursprung im qualitativen Erleben stets als Hinter-
grund bewußt gehalten werden.
Dewey macht diese Anforderung am Fall einfacher Prä-
dikationen kJar, die er als ein Beispiel für die sprachliche
Abstraktionsleistung beim Versuch der Fixierung eines Er-
kenntnisobjekts begreift. Nehmen wir eine beliebige Aus-
sage, die die Subjekt-Prädikat-Form besitzt, so legt ihre
sprachliche Gestalt die Vermutung nahe, als ob hier einer ge-
gebenen Entität eine Eigenschaft bloß attribuiert werde; be-
lassen wir es nun bei der Form der Prädikation, so bleibt es
ontologisch letztlich undurchschaubar, in welchem Verhält-
nis die Eigenschaft zur scheinbar unabhängigen Entität ei-
gentlich stehen soll; dieses Rätsellöst sich erst auf, wenn wir
uns rückblickend klarmachen, daß sich die prädikative Aus-
sage dem Versuch einer Abstraktion von einer qualitativen
Ausgangserfahrung verdankt; dann nämlich wird deudich,
daß sich Subjekt und Prädikat )) korrelativ« ergänzen, weil
sie ursprünglich die Bewegungsrichtung eines qualitativ er-
lebten Engagements anzeigren. 19 In einer Weise, die unzwei-
deutig an Heideggers Unterscheidung von »Zuhandenheit«
43
und »Vorhandenheit•• erinnert, erläutert Dewey sein Argu-
ment noch einmal am Beispiel der Prädikation, nach der
»alle Menschen sterblich sind«: Diese Aussage verliert den
suggestiven Charakter einer bloßen Attribuierung erst in
dem Augenblick, in dem wir sie in ihre ursprüngliche Form
des transitiven Satzes »Menschen sterben« überführen, der
die »Sorge<< um das »menschliche Schicksal« artikuliert,
welche am Anfang des sprachlichen Abstraktionsprozesses
stand.!O
Dewey ist offenbar der Überzeugung, daß sich nach einem
solchen Muster alle Aussagen entschlüsseln lassen können,
in denen Menschen durch ein Prädikat bestimmt werden.
Stets stellen derartige Prädikationen für ihn nur das Resultat
einer objektivierenden Umformulierung der Ängste, Sorgen
oder Hoffnungen dar, die wir Personen gegenüber empfin-
den, wenn wir ihnen in der gewöhnlichen Einstellung der
Anerkennung begegnen. An diesem Anfangspunkt sind die
beiden Glieder des späteren Aussagesatzes noch »korrela-
tiv« aufeinauder bezogen, weil sie stumme Erfahrungsqua-
litäten bilden, die nur in ihrem Zusammenspiel die Richtung
unserer Besorgnis offenbaren; nirgendwo »gibt« es hier
bereits eine klar umrissene, fixe Entität mit dem Titel
•>Mensch«, die unabhängig von der qualitativen Wirkung
wäre, welche wir in existentieller Anteilnahme antizipieren.
Erst d1e Transformation einer solchen Erfahrung in einem
allgemeinen Aussagesatz zerreißt den zirkulären Zusam-
menhang, der zuvor zwischen erlebter Person und verspürter
Wirkung bestand; und nun kann die ontologische Fiktion
entstehen, als »gäbe« es Menschenganz ohne Eigenschaften,
weil wir ihnen diese ja erst in der Prädikation als Attribut zu-
schreiben. In einer Formulierung, die der Sache, nicht dem
Worthut nach erneut an Heidegger erinnert, spricht Dewey
daher und wie später Winfried Sellars von der »trügerischen
Idee des >Gegebenen<•~ : »Das Einzige, was ohne nähere Be-
20 Ebd, S. 106.
44
stimmungen gegeben ist, ist die totale durchgängige Quali-
tät; und was dagegen spricht, sie als •gegeben• zu bezeichnen,
ist eben, dass das Wort etwas suggeriert, dem es gegeben ist,
Geist oder Denken oder Bewusstsein oder was auch immer,
sowie möglicherweise etwas, das gibt. In Wahrheit bezeich-
net >gegeben< in diesem Zusammenhang nur, dass Qualität
unmittelbar existiert oder schlicht da ist. In dieser Eigen-
schaft bildet sie das, auf was sich alle Objekte des Denkens
beziehen [... ].«21 Im Ausgang von diesem Gedankengang
möchte ich nun zu zeigen versuchen, daß das Anerkennen ge-
genüber dem Erkennen sowohl genetisch als auch begrifflich
einen Vorrang besitzt.
45
ru. Der Vorrang der Anerkennung
47
einen intentionalen Aktor wahrzunehmen, dessen Einstel-
lung z11r umgebenden Welt ebenfalls zielgerichtet ist und in-
sofemgleichgroße Bedeutung wie die eigene besitzt.
Was nun an all diesen entwicklungspsychologischen
Theorien bemerkenswert ist, die entweder mit George H.
Mead oder mit Donald Davidson die Notwendigkeit der Per-
spektivübernahme für die Entstehung des symbolischen
Denkens hervorheben, ist das Maß, in dem sie die emotio-
nale Seite der Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson
ignorieren; schon bei Mead gab es eine gewisse Tendenz, den
frühen Schritt zur Übe;:nahrne der Perspektive eines konkre-
ten Allderen so darzustellen, als spiele dabei dessen affektive
Beseuung durch das Kind kaum eine signifikante Rolle.5 Ins-
gesamt herrscht bei der überwiegenden Zahl der Versuche,
die Entstehung geistiger Tätigkeiten aus der kommunikati-
ven Beziehung zur Bezugsperson zu erklären, ein Hang zum
Kognitivismus vor: Die Dreiecksbeziehung, in die das Kind
sieb aktiv hineinversetzt, sobald es nach Phasen det Proco-
konversation die Unabhängigkeit der Perspektive der zwei-
ten Person erahnt, wird als ein weitgehend emotionsloser
Raum dargesteUt. Erst in jüngster Zeit haben einigeneuere
UnteiSuchungen diese kognitivistischen Abstraktionen rück-
gängig zu machen versucht, indem sie vergleichend Fälle von
autistischen Kindem heranzogen; dabei ist mit erstaunlicher
Regelmäßigkeit zutage getreten~ daß sich das Kleinkind erst
mit der Bezugsperson emotional identifiziert haben muß, be-
vor es deren Einstellung als korrektive Instanz gelten lassen
kann. Ich will an Forschungsergebnisse solcher Art anknüp-
fen, um den ontogenetischen Vorrang der Anerkennung vor
dem Erkennen belegen zu können.
Wahrscheinlich ist es der empirische Vergleich mit autisti-
schen Kindern gewesen, der es den soeben erwähnten Unter-.
suchungen erlaubt hat, eine größere Sensibilität für die affek-
6 VgJ. etwa Peter Hobson, Autism and the Deuelopment of Mind, Hove/
Hilsdale 1993; Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des
menschlichen Denkens, a. a. 0 ., S. 94 ff. Einen vorzüglichen Oberblick
liefert Manin Dornes, • Die emotionalen Ursprünge des Denkens•,
a. a. 0., S. 23 ff.
49
unterschleden habe; gemeinsam richten sie ihr Augenmerk
auf die Entwicklungen im kommunikativen Umgang, durch
die das Kind schrittweise lernt, aus der Perspektive einer
zweiten Person Gegenstände als Entitäten einer objektiven,
einsteUungsunabhängigen Welt wahrzunehmen. Aber im
Unterschied zu den kognitionszentrierten Ansätzen behaup-
ten nun Hobson und Tomasello, daß das Kindall diese inter-
aktiven Lernschritte nicht vollziehen könnte, wenn es nicht
zuvor ein GefüW der Verbundenheit mit seinen Bezugsperso-
nen entwickelt hätte; denn erst eine solche vorgängige Iden-
tifikation erlaubt es dem Kind, sich von der Präsenz des kon-
kreten Anderen so bewegen, so mitreißen oder motivieren zu
lassen, daß es dessen Einstellungsänderungen interessiert
nachzuvollziehen vermag.
Das Spezifische an dieser Theorie tritt vielleicht am besten
zu Tage, wenn wir uns noch einmal den Unterschieden in der
Erlclärung des Autismus zuwenden. Während die herkömm-
lichen, kognitionszentrierten Ansätze die Entstehung autisti-
schen Verhaltens auf kognitive Defizite zurückführen müs-
seo, die mit Störungen der Denk- oder Sprachfunktionen
zusammenhängen, bringen Tomasello und Hobsou als ent-
scheidende Ursache die mangelnde Ansprechbarkeit des
Kindes für die emotionale Präsenz der Bezugspersonen ins
Spiel; auch diese Teilnahmslosigkeit mag zwar ihrerseits
hirnphysiologisch oder genetisch bedingt sein, aber entschei-
dend bleibt doch die Tatsache, daß es dem Kind strukturell
verwehrt ist, sich mit dem konkreten Anderen zu identifi-
zieren. In einer Weise, die bereits eine Brücke zu meinem ei-
gentlichen Thema schlägt, hat Martin Dornes die Ergebnisse
dieser aHekt-sensiblen Erklärung des Autismus zusammen-
gefa:ßr: Weil das autistische Kind »gefühlsmäßig nicht an-
sprechbar ist, bleibt es in seiner Perspektive auf die Welt ge-
fangen und lernt keine andere kennen. Es sieht, oder genauer
ausgedrückt, es fühlt nicht, daß in Gesichtsausdrücken, Be-
wegungen und kommnnikativen Gesten Einstellungen zum
Ausdruck kommen. Es ist blind für den expressiv-mentalen
50
Gehalt solcher Äußerungen oder, wie man auch sagt, für ihre
Bedeutung. Der Säugling ist somit nicht >geistesblind<wegen
eines kognitiven Defizits; er ist geistesblind, weil er zuerst ge-
fühlsblind ist. << 7
Nur am Rande sei hier erwähnt, daß auch Theodor W.
Adorno an einigen Stellen seines Werkes derartige Über-
legungen angestellt hat. Vor allem in der Minima Moralia und
der Negativen Dialektik finden sich immer wieder Formulie-
rungen, die zu erkennen geben, daß er die Entstehung des
menschlichen Geistes ähnlich wie Hobson oder Tomasello an
die Voraussetzung einer frühen Nachahmung der geliebten
Bezugsperson gebunden hat: )) Ein Mensch wird zum Men-
schen«, also einem geistigen Wesen, nüberhaupt erst«, so
heißt es in einem berühmten Aphorismus der Minima Mora-
lia, »indem er andere Menschen imitiert<<; und gleich an-
schließend ist zu lesen, daß eine solche Imitation die )) Urform
der Liebe« darstellt.8 Es bandelt sich dabei um dieselbe De-
zentrierung, die auch die beiden anderen Autoren als Aus-
gangpunkt der geistigen Lernprozesse des Kindes sehen,
nämlich eine Art von existentieller, ja affektiver Anteilnahme
am Anderen, die es überhaupt erst ermöglicht, dessen Per-
spektive auf die Welt als bedeutsam zu erfahren. Das Sich-
Hineinversetzen in die Perspektive der zweiten Person ver-
langt den Vorschuß einer Form von Anerkennung, die in
kognitiven oder epistemischen Begriffen nicht vollständig zu
erfassen ist, weil sie stets ein Moment der unwillkürlichen
Öffnung, Hingabe oder Liebe enthält. Diese Zuwendung
oder, wie Adorno psychoanalytisch sagt, diese Libidinöse Be-
setzung des Objekts ist es, die das Kleinkind sich in der Weise
in die Perspektive des Anderen hineinversetzen läßt, daß es
mit ihrer Hilfe eine erweiterte und schließlich entpersönlichte
Vorstellung von der umgebenden Wirklichkeit erwirbt.
7 Martin Dornes, "Die emotionalen Ursprünge des Denkens• , a. a. 0.,
5. 2.6.
8 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurr/M. 2.ooi, 5. 2.92. (Aph.
99).
Natürlich ist dieser entwicklungspsychologische Gedanke
nicht rnit dem Ideengut gleichzusetzen, das ich zuvor durch
den Nachweis einer gewissen Konvergenz zwischen Lukacs,
Heidegger und Dewey herauspräpariert habe. Dort ging es
um den generellen Vorrang einer bestimmten Haltung der
Anteilnahme oder Anerkennung vor aUen neutraleren For-
men der Welrbeziehung, während es hier in einem nur zeit-
lichen Sinn um den Vorrang einer emotionalen Ansprech-
barlceit vor dem Schritt zum Erkennen von intersubjektiv
gegebenen Objekten geht; weder die Art der Vorrangigkeit
noch der spezifische Charakter dessen, wovon eine derarrige
Vorrangigkeit behauptet wird, sind also in beiden Fällen die-
selben- emotionale Verbundenheit oder Identifikation mit
dem konkreten Anderen ist etwas anderes als jene prinzi-
pielle Besorgnis um Situationale Gegebenheiten, die Heideg-
ger oder Dewey im Sinn haben. Gleichwohl kann doch der
ontogenetische Befund, so glaube ich, einen ersten Anhalts-
punkt für die Plausibilität der allgemeinen These liefern;
denn es scheint doch so zu sein, daß das Kleinkind erst aus
der Perspektive der geliebten Person eine Ahnung von der
Fillle an existentieUen Bedeutungen gewinnt, die Situationale
Gegebenheiten für den Menschen besitzen können; mithin
wird ihm durch die emotionale Verbundenheit mit seinen
Bezugspersonen eine Welt erschlossen, in der es um jener be-
deutungsvollen Qualitäten wiUen praktisch engagiert sein
muß. Genesis und Geltung, oder, marxistisch gesprochen,
Geschichte und Logik sollten nicht so weit auseinandergeris-
sen werden, daß die Entstehungsbedingungen des kindlichen
Denkens ohne jede Relevanz für die kategoriale Bedeutung
unserer Welterkenntnis bleiben. In genau diesem Sinn wollte
Adorno seine Aussagen über den libidinösen Affektgrund
unserer kognitiven Leistungen verstanden wissen: Die Tat-
sache, daß das Kind aus der Perspektive der geliebten Be-
zugsperson zu einem objektiven Verständnis der Wirklich-
keit gelangt, besagt über unsere Erkenntnis zugleich, daß sie
um so angemessener oder genauer ist, je mehr an Perspek-
tiven auf ein einziges Wahrnehmungsobjekt wir zu erfassen
vermögen; aber diese Übernahme weiterer Perspektiven, die
jedes Mal einen neuen Aspekt des Gegenstandes zu erkennen
geben, ist wie beim Kleinkind an die kaum verfügbare nicht-
epistemische Voraussetzung einer emotionalen Öffnung
oder Identifikation gebunden. Insofern bemißt sich für
Adorno die Exaktheit unserer Erkenntnis am Maß der emo-
tionalen Anerkennung, des affektiven Geltenlassens anderer,
möglichst vieler Perspektiven. Aber damit habe ich bereits
das Feld der entwicklungspsychologischen Argumentation
verlassen und bin unmerklich auf das Gebiet der eher kate-
gorialen Beweisführung geraten.
(2.) Was ich bislang bestenfalls zu zeigen vermocht habe
ist, daß in der Ontogenese, also in einem chronologisch zu
verstehendem Prozeß, das Anerkennen dem Erkennen vor-
ausgehen muß; wenn nämlich die genannten Untersuchun-
gen Recht haben, verhält es sich beim individuellen Bil-
dungsprozeß so, daß das Kleinkind sich zunächst mit seinen
Bezugspersonen identifiziert, sie emotional anerkannt haben
muß, bevor es mittels deren Perspektiven zu einer Erkennmis
der objektiven Wirklichkeit gelangen kann. Zwar habe ich
mit meinen letzten Bemerkungen zu Adomo bereits andeu-
ten wollen, daß diese emotionalen Entstehungsbedingungen
unseres Denkens aller Wahrscheinlichkeit nach auch etwas
über seine Geltungskriterien besagen; aber derartige Speku-
lationen können selbstverständlich njcht die Argumente er-
setzen, die nötig wären, um auch in einem begrifflichen Sinn
von der Vorrangigkeit der Anerkennung vor dem Erkennen
sprechen zu können. Heidegger und Dewey, vermutlich aber
auch Lukacs, hatten eine solche Art von Vorrangigkeit vor
Augen, als sie behaupteten, daß der episternischen Welt-
beziehung des Menschen prinzipiell eine Einstellung der
Sorge oder existentiellen Involviertheit vorausgehe; ihnen
ging es darum, den Nachweis anzutreten, daß unsere Er-
kennmisbemühungen scheitern oder ihren Sinn verlieren
müssen, wenn das Faktum dieser vorgängigen Anerkennung
53
aus dem Blick gerät. Bei Heidegger zeigt sich die damit um-
rissene Behauptung daran, daß er selbsr noch die gänzlich
versachlichte, »wissenschaftliche « Erkenntnis von Sachver-
halten als Derivat jener vorgängigen Einstellung begreift,
die er mit dem Begriffder ••Sorge« bezeichnet; 9 und beijohn
Dewey ist zu lesen, daß alle Forschung sich ihrer Herkunft
aus dem diffusen Problemaufriß lebensweltlicher Irritatio-
nen bewußt bleiben muß, um nicht das ))regulative Prinzip«
ihrer llemühungen aus den Augen zu verlieren. 10 Ich will ei.-
nen dritten, näher an ur:.;erem Thema angesiedelten Weg ein-
schlagen, um zu zeigen, daß unsere kognitiven Weltbezie-
hungen auch in einem begrifflichen Sinn an Einstellungen der
Anerkennung gebunden sind; mir scheint es nämlich ratsam,
an dieser Stelle die Überlegungen heranzuziehen, die "·anley
Cavell dem Verhältnis von Erkennen und Anerkennung ge-
widmet hat.
CaveU gelangt zu seinem eigenen Begriff der Anerkennung
{»acknowledgement«) bekanntlich auf dem Weg einer Kritik
der Vorstellung, daß wir von den mentalen Zuständen an-
derer Personen, dem sogenannten »Fremdpsychischen «, ein
direktes, unmittelbares Wissen besitzen könnten. 11 Nach sei-
ner Überzeugung haben sich die Vertreter einer solchen An-
nahme viel zu sehr auf eine Prämisse eingelassen, die im
Grunde genommen von ihren Gegnern, de~ Skeptikern, her-
rührt; diese haben nämlich die Frage nach dem Zugang zu
fremden Gefühlszuständen stets als eine epistemische Her-
ausforderung verstanden, so daß sie nach einer Antwort in
9 Vgl. etwa Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967 (TI. Aufl.),
5.136.
ro John Dewey, • Qualitatives Denken«, in: ders., Philosophie und Zivili-
sation,Frankfurt/M. 2.003, S.y4-n6, hier S. u6.
I I Vgl. Sranley Cavell, "Wissen und Anerkennen «, in: ders., Die Unheim-
lichkeit des Gewöhnlichen, bg. v. Davide Sparti und Espen Hammer,
Frankfurt/M. 1003, S. 34-75; zur lntersubjektivit.ätstheorie von Cavell
vg~ Espen Hammer, Stanley Cavell. Skepticism, Subjectivity, and the
OTfiiTUJry, Garnbridge (Mass.) 2.002., Kap. 3·
54
Kategorien gesicherten Wissens verlangen konnten. Solange
die Anti-Skeptiker nun versuchen, unter Bedingungen einer
derartigen Vorgabe den Skeptizismus zu widerlegen, sind sie
Cavell zufolge zwangsläufig zum Scheitern verurteilt; denn
auch sie können letztlich nicht bestreiten, daß unser Wissen
um fremde Empfindungszustände nie die Art von qualitati-
ver Gewißheit besitzen kann, die es für diejenigen hat, wel-
che um jene Zustände in der Perspektive der ersten Person
wissen. Der Versuch, den Zugang zum anderen Subjekt nach
dem Muster einer Erkenntnisbeziehung zu beschreiben, wird
der Tatsache nicht gerecht, daß es sich bei mentalen Zustän-
den nicht einfach um Objekte eines Wissens handelt; schon
die Behauptung, nach der ein Subjekt um seine eigenen
Schmerzen oder seine Eifersucht ))weiß«, täuscht darüber
hinweg, daß es von diesen Zuständen viel zu sehr verein-
nahmt oder >>durchbohrt<<u ist, um hier in einem neutralen
Sinn von einem Erkennen oder Wissen sprechen zu können.
Das Subjekt ist sich in seiner Beziehung zu Anderen nicht sel-
ber ein Objekt, über das es Auskünfte in Form von mittei-
lungswerten Tatsachen erteilt; vielmehr bringt es seinem In-
teraktionspartner gegenüber, wie Cavell mit Wirtgenstein
sagt, seineZustände zum Ausdruck, indem es ihn auf sie auf-
merksam macht.
Bis zu diesem Punkt ähnelt die Argumentation von Cavell
weitgehend derjenigen, die Sartre im dritten Teil von Das
Sein und das Nichts im Zusammenhang seiner eigenen Aus-
einandersetzung mit dem Skeptizismus entfaltet har. 13 Auch
Sartre ist der Überzeugung, daß sich der Skeptizismus bezüg-
lich des Fremdpsychischen nicht widerlegen läßt, solange an
dessen Prämisse eines primär kognitiven Zugangs zu ande-
55
ren Personen festgehalten wird; eine solche Art von Bezie-
hung zu unterstellen bedeutet nämlich, ein Ideal episterni-
scher Gewißheit zu errichten, das schon deswegen nicht zu
erreichen ist, weil Empfindungszustände für den Betroffenen
selber überhaupt keine Objekte eines Wissens oder Erken-
nens sein können. Sartre zufolge läßt sich diese Asymmetrie
nur überwinden, wenn die Beziehung eines Subjekts zu sei-
nem Gegenüber im Prinzip nach demselben Muster gedacht
wird, nach dem wir uns auch das Verhältnis jenes zweiten
Subjekts zu seinen eige'len Zuständen vorstellen; so, wie wir
hier nicht von Wissen, sondern von Betroffenheit oder Invol-
viertheit sprechen, sollten wir uns auch den kommunikativ
Handelnden nicht als ein epistemisches, sondern als ein exi-
stentidl involviertes Subjekt denken, das von den Empfin-
dungsmständen der anderen Person nicht neutral Kenntnis
nimmt sondern davon in seinem eigenen Selbstverhältnis af-
fiziert ist.
Auch in diesem Zwischenergebnis stimmt Cavell, trotz al-
ler methodischen Unterschiede, noch weitgehend mit Sartre
überem. Nachdem er nämlich gezeigt hat, daß sich Äuße-
rungen über eigene Empfindungszustände nicht als Bekun-
dungen eines Wissens verstehen lassen dürfen, zieht Cavell
daraus Konsequenzen für unser Verständnis der elementa-
ren Interaktionsbeziehung, die denjenigen der phänomeno-
logischen Analyse von Sarrre äußerst nahekommen: Wenn
ein Sprecher einer zweiten Person gegenüber seine EmP""
findungen im Normalfall zum Ausdruck bringt, indem er sie.
ohne Reklamierung eines Wissens auf sie aufmerksam
mache, so darf die sprachliche Reaktion dieser zweiten Per-
son nun ihrerseits nicht als Vollzug einer Erkennmis gedeu-
tet werden; vielmehr bekundet der Angesprochene durch
seine Erwiderung im allgemeinen nur seine »Anteilnahme«
an den Empfindungen, auf die der Sprecher ihn aufmerksam
gemacht bat. Bei Cavell heißt es: »Hier könnte ich nun sa-
gen, daß der Grund, weswegen ,Jch weiß, du hast Schmer-
zen< kei n Ausdruck von Gewißheit ist, der ist, daß es eine
Reaktion auf dieses Zeigen ist; es ist ein Ausdruck von An-
teilnahme.« 14
Mit diesem Begriff der »Anteilnahme« sind wir schon nah
bei dem Sachverhalt, der mich an der Argumentation von
Cavell vor allem interessiert. Was er mit Wirtgenstein sagen
möchte ist, daß vor aller möglichen Erkennmis von Empfin-
dungszuständen eines anderen Subjekts zunächst eine ge-
wisse Haltung stehen muß, in der ich mich in dessen Empfin-
dungswelt gleichsam existentiell einbezogen fühle; ist ein
solcher ,Ruck< einmal vollzogen und damit eine gewisse
Form der Verbindung mit dem Anderen hergestellt, so
nehme ich dessen Empfi.ndungsäußerlingen als das wahr,
was sie ihrem Gehalt nach sind, nämlich als an mich er-
gehende Forderungen, in einer entsprechenden Weise zu rea-
gieren. »Anerkennen «, »to acknowledge«, bedeutet dement-
sprechend für Cavell, eine Haltung einzunehmen, in der die
Verhaltensäußerungen einer zweiten Person als Aufforde-
rungen zu einer irgendwie gearteten Reaktion verstanden
werden können; 15 bleibt in der Folge jede und sei es bloß ne-
gative Reaktion aus, so bekundet sich darin nur, daß die
Empfindungsäußerung des Anderen nicht angemessen ver-
standen worden ist. Insofern bindet Cavell das Verstehen
von Empfindungssätzen ganz eng an die nicht-epistemische
Voraussetzung der Einnahme einer anerkennenden Haltung;
und die Unfähigkeit, eine derartige Einstellung einnehmen
zu können, bedeutet für ihn letztlich, zur Aufrechterhaltung
sozialer Beziehungen nicht in der Lage zu sein. 16 Es ist dies
die Stelle, an der die Wege von Cavell und Sartre sich tren-
nen. Zwar ersetzen beide Autoren das Erkenntnismodell so-
zialer Interaktion, das sie für eine Erblast des Skeptizismus
57
halten, durch ein Modell wechselseitiger Affizierthett: Sub-
jekte sind sich im allgemeinen gewiß, ein anderes Subjekt mit
geistigm Eigenschafren vor sich zu haben, weil sie von des-
sen Empfindungszuständen in einer Weise berührt werden,
daß sie sich zu irgendeiner Reaktion veranlaßt sehen. Wäh-
rend S:trtre aber nun aus diesem existentiellen Faktum die
negative Konsequenz zieht, daß die Subjekte sich wechsel-
seitig in der Freiheit ihrer grenzenlosen Transzendenz ein-
schränken, 17 beläßt es Cavell bei dem therapeutischen Hin-
weis auf den notwendigen Vorrang der Anerkennung; denn
für ihn ist die Gefahr, die mit der alltagsweltlichen Sogwir-
kung des erkenntnistheoretischen Modells einhergeht, viel
zu groß, als daß es nicht immer wieder eine Erinnerung an
das Faktum wechselseitiger Anteilnahme bedürfe. Das Ein-
zige, was Cavell mit seiner sprachanalytischen Intervention
bewirken möchte, ist die Abwehr eines falschen Bildes der
zwischenmenschlichen Kommunikation: Das Gewebe der
sozialen Interaktion ist nicht, wie in der Philosophie häu-
fig angenor1men, aus dem Stoff kog.nitiver Akte, sondern
aus dem Material anerkennender Haltungen gewebt. Der
Grund, warum wir gewöhnlich keine Schwierigkeiten ha-
ben, die Empfindungssätze anderer Subjekte zu verstehen,
liegt mithin darin, daß wir vorgängig eine Einstellung ein-
genommen haben, in der uns der handlungsauffordernde
Gehalt solcher Äußerungen wie selbstverständlich gegeben
ISt.
Mi1 dieser abschließenden Zusammenfassung dürfte klar-
geworden sein, warum ich glaube, daß Cavells Analyse
meine bislang nur theoriegeschichtlich verfolgte These um
ein systematisches Argument ergänzt. Schon Lukacs, Hei-
degger und Dewey waren nach meiner Interpretation der
Überzeugung, daß die Anerkennung im Feld sozialen Han-
deinsdem Erkennen generell vorausgehen muß; und die ent-
wicklungspsychologischen Befunde, von denen danach die
r7 Vgi.Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, a. a. 0., S. 47I ff.
;8
Rede war, haben die damit umrissene Vorstellung auch
schon in einem zeitlichen oder genetischen Sinn zu stützen
vermocht. Aber erst mit dem Rekurs auf Cavell wird es nun
möglich, über den zeitlichen Sinn hinaus auch den kategoria-
len Sinn dieser These zu verteidigen; denn nach seiner Ana-
lyse sind wir nur dann dazu in der Lage, die Bedeutung einer
bestimmten Klasse von sprachlichen Äußerungen zu verste-
hen, wenn wir uns in jener Haltung oder Einstellung befin-
den, die er als »acknowledgement« bezeichnet. Sprachliches
Verstehen ist, kurz gesagt, an die nicht-epistemische Voraus-
setzung der Anerkennung des ·Anderen gebunden. Mit den
Intentionen unserer drei Autoren scheint Cavell auch darin
übereinzustimmen, daß er mit dieser Form von »Anerken-
nungcc mehr oder anderes meint als herkömmlich im Begriff
der kommunikativen Einstellung oder Perspektivübernahme
festgehalten wird; denn wie in Heideggers Kategorie der
»Sorge(c steckt in Cavells Konzept doch ein Moment der af-
fektiven Anteilnahme, der vorgängigen Identifikation, das in
der Vorstellung des Verstehens von Handlungsgründen nicht
zur Geltung kommt.
Gewiß, Cavell ist nicht der Überzeugung, daß die Ein-
nahme einer solchen anerkennenden Haltung impliziert,
dem Anderen gegenüber stets eine wohlwollende, liebevolle
Reaktion zu zeigen; auch bloße Indillerenz oder negative
Empfindungen sind für ihn noch mögliche Weisen der in-
tersubjektiven Anerkennung, solange sich darin nur eine
nicht-epistemische Bestätigung der menschlichen Persona-
lität des Gegenübers spiegelt. 18 Insofern darf auch das Ad-
jektiv »positiv «, das icb bislang im Zusammenhang mit
dem Begriff der »Anteilnahme« verwendet habe, nicht im
Sinne eines Hinweises auf positive, freundliche Gefühls-
regungen verstanden werden; gemeint ist damit nur die exi-
stentielle, bis ins Affektive hineinwirkende Tatsache, daß
wir den Wert des Anderen in der Einstellung der Anerken-
59
nung rejahen müssen, selbst wenn wir ihn im Augenblick
verfluchen oder hassen. Aber vielleicht läßt sich auch noch
ein Schritt über CaveU hinausgehen und behaupten, daß in
solchen Fällen einer gefühlsmäßig negativ erlebten Aner-
kennung immer ein Gespür dafür mitschwingt, dem Ande-
ren in seiner Personalität nicht angemessen gerecht zu wer-
den; da bei würde es sich dann um jenes Moment in der
anerkennenden Haltung handeln, das herkömmlich »Ge-
wissen<< genannt wird.
Auf jeden Fall bleibt festzuhalten, daß die hier gerneinte
EinsteUung der Anerkennung eine ganz elementare Form der
intersubjektiven Bestätigung darstellt, die noch nicht die
Wahfllehmung eines bestimmten Wertes der anderen Person
einschließt: Was Cavell als »acknowledgement« bezf'ichnet,
Heidegger als >> Sorge« oder »Fürsorge•• und Dewey als »ln-
volviertheit«, liegt unterhalb der Schwelle, auf der die wech-
selseinge Anerkennung bereits die Bejahung spezifischer Ei-
genschaften des jeweiligen Gegenübers impliziert. 19 Gleich-
wohl bleibt ein Unterschied bestehen, der es schwer macht,
die Analysen Cavells einfach in den von mir herausprä-
parierten Traditionszusammenhang einzubeziehen: Im Ge-
gensatz zu Heidegger, Dewey oder Lukacs scheint er die
Geltungsbedingungen dessen, was er eine anerkennende
Haltung nennt, allein auf den Bereich der zwischenmensch-
lichen Kommunikation einzuschränken; jede Vorstellung in
die Richtung, daß wir uns auch gegenüber der nicht-mensch-
lieben Welt vorgängig in einer Einstellung der Anerkennung
19 lmofem handelt es sich hier auch um eine elementarere Form der Aner-
kennung, als ich sje in meinen bisherigen Ausführungen zum Thema be-
handelt habe (vgl. erwa: Axel Honneth, • Unsichtbarkeit. Über die mo-
ralische Epistemologie von Anerkennung«, in: ders., Unsichtbarkeit.
St.Jtionen einer Theorie der lntersubjektiuität, a. a. 0., S. ro-27).lnzwi-
scben gehe ich daher davon aus, daß dieser • existentielle « Modus der
Anrrkenoung allen anderen, gehairvolleren Fonneo der Anerkennung
zugrunde liegt, in denen es um die Bejahung von bestimmten Eigen-
schaften oder Fähigkeiten anderer Personen geht.
6o
befinden müssen, ist ihm ganz offensichtlich fremd. Auf
diese Differenz muß ich zurückkommen, wenn ich mich
nun im nächsten Schritt wieder dem Thema der »Verding-
lichung« zuwende, um dessen Klärung es mir in diesen Über-
legungen ja vor allem geht.
6I
IV. Verdinglichung als
Anerkennungsvergessenheit
3 Vgl. Martin Heidegger, Sein u11d Zeit, Tübingen 1967 (n. Auf!. ), erwa
S 33 u. S 44·
sozialen Totalisierung von VerdingJichung zu begreifen. Weil
Lukacsaber gleichzeitig behaupten muß, daß jene ursprüng-
liche Einstellung der Anteilnahme aufgrund ihrer sozialkon-
stitutiven Funktion nie ganz verlorengehen kann, gerät sein
Bild de1 Gesellschaft hier an seine Grenzen: Wenn alle Vor-
gänge innerhalb der Gesellschaft, nur weil sie objektivie-
rende Einstellungen erzwingen, verdinglicht sind, so muß
sich menschliche Sozialität letztlich aufgelöst haben. All
diese mißlichen Konsequenzen sind Folgen der begrifflichen
Srrateg~e, die Lukacs mit seiner Ineinssetzung von Verding-
Uchung und Objektivie:ung vollzogen hat; aus ihnen ist für
den Fortgang meiner Überlegungen nur zu lernen, daß der
Vorga.ng der Verdinglichung anders begrilien werden muß,
als er es in seinem Text getan bat.
Die Vorstellung, die Lukacs vom Prozeß der Verding-
lichung entwickelt hat, ist gewissermaßen nicht komplex,
nicht abstrakt genug; indem er diesen Vorgang letztlich mit
der Ersetzung des Anerkennens durch ein objektivierendes
Erkennen von Sachverhalten oder Personen identifiziert,
leugnet er unter der Hand, welche Bedeutung der Steigerung
von Objektivität im gesellschaftlichen Enrwicklungsprozeß
zufällt Eine Möglichkeit, den Fehler von Lukacs zu vermei-
den, könnte darin bestehen, mit Hilfe von externen Kriterien
zu entscheiden, in welchen sozialen Sphären eher die aner-
kennende Haltung oder eher die objektivierende Einstellung
funktional erforderlich ist; diesen funktionalistischen Weg
hat etwa Habermas eingeschlagen, als er in seiner Theorie
des kommunikativen Handeins versucht hat, unter »Ver-
dinglichung« geoau den Prozeß zu verstehen, durch den stra-
tegische, »beobachtende << Verhaltensweisen in solche soziale
Sphären eindringen, die dadurch in ihren kommunikativen
Bestandsvoraussetzungen gefährdet werden. 4 Der Nachteil
einer derartigen Begrilisstrategie scheint mir aber ganz of-
66
fensicntlich der, daß damit funktionalistischen Unterschei-
dungen implizit eine normative Beweislast zugewiesen wird,
die sie von Haus aus gar nicht übernehmen können; denn die
Frage, ab wann objektivierende Einstellungen eine verding-
lichende Wirkung entfalten, läßt sieb nicht dadurch beant-
worten, daß scheinbar wertneutral von funktionalen Erfor-
dernissen gesprochen wird. 5
Ich vermute daher, daß die Frage nach den Kriterien für
Prozesse der Verdinglichung überhaupt anders gestellt wer-
den muß: Solange wir an der sirnplizistischen Vorstellung
festhalten, der zufolge jede Form des teilnahmslosen Beob-
achtens in einem Gegensatz zur vorgängigen Anerkennung
steht, tragen wir dem Gedanken zu wenig Recnnung, daß die
Neutralisierung jener Anerkennung und Anteilnahme im
Normalfall dem Zweck der intelligenten Problembewälti-
gung dient; anstatt also mit Lukacs die Gefahr der Verding-
lichung überall dort beginnen zu lassen, wo die anerken-
nende Einstellung verlassen wird, sollten wir uns bei unserer
Suche eher an dem übergeordneten Gesichtspunkt orientie-
ren, in welchem Verhältnis die beiden Ejnstellungen zueinan-
der stehen. Auf dieser höheren Ebene, auf der es um Modi
der Beziehung geht, lassen sich zwei Pole ausmachen, die die
einfache Oppositionsbildung ersetzen können, mit der noch
Lukacs operiert hatte: Den anerkennungssensitiven Formen
des Erkennens auf der einen Seite stehen solche Formen des
Erkennensauf der anderen Seite gegenüber, in denen das Ge-
spür für ilire Herkunft aus der vorgängigen Anerkennung
verlorengegangen ist. Die etwas umständlichen Formulie-
rungen sollen deutlich machen, daß es prima facie sinnvoll
ist, zwei Weisen des Verhältnisses beider Einstellungsformen
danach zu unterscheiden, ob sie füreinander transparent
68
werden muß; das bedeutet umgekehrt nämlich, daß wir nicht
einmal mehr richtig wissen, mit wem wir es bei anderen
Menschen eigentlich zu tun haben, wenn jene ursprüngliche
Erfahrung direkter Anteilnahme dem Bewußtsein entzogen
ist. Vor allem aber Theodor W. Adomo hat immer wieder be-
tont, daß die Angemessenheit und Qualität unseres begriff-
lieben Denkens davon abhängig ist, in welchem Maße es sich
seiner ursprünglichen Bindung an ein Triebobjekt, also an
geliebte Personen oder Dinge, bewußt zu bleiben vermag; für
ihn war mit einer solchen Erinnerung an die vorgängig ge-
leistete Anerkennung sogar die Gewähr verknüpft, daß die
Erkenntnis ihren Gegenstand nicht zurichtet, sondern in al-
len Aspekten seiner konkreten Besonderheit erfaßt. 8 Keiner
dieser drei Autoren bat die nicht-epistemische Vorausset-
zung der Anteilnahme in einen schlichten Gegensatz zum be-
grifflichen Denken gebracht; vielmehr sind sie alle der Über-
zeugung, daß die Schwelle zur Pathologie, zum Skep:izismus
oder zum Identitätsdenken erst dann überschritten wird,
wenn in unseren reflexiven Bemühungen deren eigene Her-
kunft aus einem Akt der vorgängigen Anerkennung in Ver-
gessenheit gerät. Es ist djeses Moment des Vergessens, der
Amnesie, das ich zum Schlüssel einer Neubestimmung des
Begriffs der »VerdingJichung« machen möchte: In dem
Maße, in dem wir in unseren Erkenntnisvollzügen das Ge-
spür dafür verlieren, daß sie sieb der Einnahme einer aner-
kennenden Haltung verdanken, entwickeln wir die Tendenz,
andere Menschen bloß wie empfindungslose Objekte wahr-
zunehmen. Hier von bloßen Objekten oder gar von »Din-
70
zuvor geklärt werden, wie es überhaupt denkbar sein soll,
daß die Anerkennungsvoraussetzungen sozialer Praxis im
Vollzug dieser Praxis nachträglich wieder aus dem Blick ge-
raten. Im allgemeinen wird gesagt, daß wir bestimmte Re-
geln, die wir eher durch praktische Ühung als durch explizite
Anweisung erlernt haben, im nachhinein nicht wieder verler-
nen können- wie also soU es dann möglich sein, daß die so-
wohl genetisch als auch kategorial vorgängige Anerkennung
im VoUzug unserer alltäglichen Erkenntnisleistungen noch
einmal in Vergessenheit gerät? Die Beantwortung dieser
Frage fällt nach meiner Überzeugung leichter, wenn wir uns
klarmachen, daß »Vergessen« hier nicht die starke Bedeu-
tung besitzt, in der häufig der Ausdruck des »Verlernens «
verwendet wird; es kann nicht darum gehen, daß jenes Fak-
tum einfach dem Bewußtsein entzogen wird und insofern ge-
wissermaßen »verschwindet«, sondern es muß sich um eine
Art von Aufmerksamkeitsminderung handeln, die jenes Fak-
tum bewußtseinsmäßig in den Hintergrund treten und daher
aus dem Blick geraten läßt. Verdinglichung im Sinne der
»Anerkennungsvergessenheit « bedeutet also, im Vollzug des
Erkennens die Aufmerksamkeit dafür zu verlieren, daß sich
dieses Erkennen einer vorgängigen Anerkennung verdankt.
Nun gibt es für eine solche Form der Aufmerksamkeits-
minderung mindestens zwei examplarische Fälle, die gut ge-
eignet sind, um verschiedene Typen des Vorgangs der Ver-
dinglichung voneinander zu unterschieden. Das eine Mal
handelt es sich um den Fall, in dem wir im Vollzug einer Pra-
xis einen einzigen mit ihr verknüpften Zweck so energisch
und einseitig verfolgen, daß wir für alle anderen, womöglich
ursprünglicheren Motive und Zwecke die Aufmerksamkeit
verlieren; ein zufäUig herangezogenes Beispiel könnte hier
der Tennisspieler abgeben, der im Zuge der ehrgeizigen Kon-
zentration auf den Sieg das Gespür dafür verliert, daß es sich
bei dem Gegenspieler um seinen besten Freund handelt, um
dessentwillen er ursprünglich das Spiel begonnen hatte. Die
Verselbständigung eines Zwecks gegenüber seinem Entste-
71
hungskontext, mit der wir es in diesem Fall zu tun haben,
stellt nach meiner Auffassung eines der beiden Muster dar,
nach denen wir uns den Vorgang der Verdinglichung erklä-
ren können: Die Aufmerksamkeit für das Faktum vorgängi-
ger Anerkennung geht verloren, weil sich im Zuge unserer
Praxis der Zweck des Beobachtens und Erkennens der Um-
welt drrmaßen verselbsrändigt, daß er alle anderen Situa-
tionsgegebenheiten vollständig in den Hintergrund treten
läßt. Der andere Fall einer Aufmerksamkeitsminderung, der
hier zur Erklärung des Prozesses der Verdinglichung heran-
gezogen werden kann, ergibt sich nicht aus internen, son-
dern aus externen Bestimmungsgrößen unseres Handelns:
Auch eine Reihe von Denkschemata, die unsere Praxis beein-
flussen, indem sie zu einer selektiven Interpretation sozialer
Tatsachen führen, können nämlich die Aufmerksamkeit für
bedeursame Gegebenheiten einer Situation erheblich redu-
zieren. Ich will hier auf die Angabe eines Beispiels verzichten,
weil der Fall zu bekannt ist und daher keiner trivialen Exem-
plifizierung bedarf: Im VoiJzug unserer Praxis kann die Auf-
merksamkeit auf das Faktum vorgängiger Anerkennung
auch deswegen verlorengeben, weil wir uns von Denk-
schemata und Vorurteilen beeinflussen lassen, die mit jenem
Faktum kognitiv nicht zu vereinbaren sind - und insofern
wäre es vielleicht sogar sinnvoller, in diesem Fall nicht von
einem »Vergessen«, sondern von einer »Leugnung« oder
»Abwehr« zu sprechen.
Milder Unterscheidung dieser beiden Fälle haben wir die
zwei Muster kennengelernt, nach denen sich im Rahmen des
komplexeren Modells der Prozeß der VerdingHebung erklä-
ren läßt; entweder haben wir es, so ließe sich zusammenfas-
sen, mit einer Vereinseitigung oder Verhärtung der erken-
nenden Haltung durch die Verselbständigung ihres Zweckes
zu tun oder aber, im zweiten Fall, mit der nachträglichen
Leugnung der Anerkennung um eines Vorurteils oder Stereo-
typs willen. Erst mit dieser Klärung sind uns nun die Mittel
an die Hand gegeben, die es erlauben würden, zur eigent-
72
liehen soziologischen Erklärungsebene überzuwechseln;
denn wir verfügen jetzt über hinreichend differenzierte Vor-
stellungen darüber, welche Verlaufsform der Prozeß der Ver-
dinglichung annehmen könnte, um die soziale Realität un-
serer Gegenwart auf die mögliche Verursacbung solcher
Prozesse hin untersuchen zu können; und es müßte sich
dabei, soviel ist klar, enrweder um institutionalisierte Prak-
tiken handeln, die zu einer Verselbständigung des Zwecks
der Beobachtung anhalten, oder um sozial wirksame Denk-
schemata, die eine Verleugnung der vorgängigen Anerken-
nung erzwingen. Aber ich wilJ diesen Schritt zur soziologi-
schen Analyse erst im letzten Kapitel meiner Untersuchung
(vgl. Kap. VI} unternehmen, um mich statt dessen an dieser
Stelle einem Problern zuwenden, das ich bislang vorsichtig
vor mir hergeschoben habe. Dabei handelt es sich um die
Frage, ob wir aus den bislang entwickelten Argumenten für
einen Primat der Anerkennung auch Rückschlüsse auf das
Verhältnis des Menschen zur natürlichen Umwelt und zu
sich selbst ziehen können.
Die drei Philosophen, auf die ich mich in den ersten beiden
Kapiteln bezogen habe, waren allesamt der Auffassung, daß
sich auch in bezugauf unser Verhältnis zur Natur von einem
Vorrang der Anteilnahme, Sorge oder Anerkennung spre-
chen lassen kann: So, wie wir von anderen Menschen zu-
nächst affiziert sein müssen, bevor wir eine neutralere Ein-
stellung einnehmen können, muß sich uns auch die physische
Umwelt vor jedem stärker sachbezogenen Umgang zunächst
in ihrem qualitativen Wert erschlossen haben. Im Unter-
schied zu dieser umfassenden Behauptung haben sich dann
allerdings die Theorien, die ich im ur. Kapitel als unab-
hängige Belege herangezogen habe, auf Aussagen allein über
die interpersonelle Welt beschränkt: Sowohl Tomasello und
Hobsan aJs auch Stanley Cavell sprechen von einem Primat
der Identifikation oder Anerkennung nur in bezug auf an-
dere Menschen, nicht aber in bezug auf nicht-menschliche
Lebewesen, Pflanzen oder gar Dinge. Nun verlangt aber der
73
Begrili der »Verdinglichung«, den ich hier im Anschluß an
Lukac:5 wiederzubeleben versuche, daß wir mit der Möglich-
keit einer verdinglichenden Wahrnehmung nicht nur der so-
zialen Welt, sondern auch der physischen Umwelt rechnen;
es sollm ja gerade auch die Dinge unseres alltäglichen Um-
gangs sein, auf die wir uns nicht mehr angemessen beziehen,
wenn 1vir sie bloß noch neutral erfassen und nach externen
Gesidtspunkten registrieren. Unschwer ist also zu sehen,
daß mich diese Intuition mit einem Problem konfrontiert,
das ITilt der zu schma len Gelrungsbasis meiner bisherigen
Rede von der »Anerkennung« zusammenhängt; denn wie
soll sich die Idee einer Verdinglichung der Natur rechtfer-
tigen lassen, wenn doch bislang nur gezeigt ist, daß wir ge-
genüber anderen Menschen den Vorrang der Anerkennung
wahren müssen?
Auch an dieser Stelle will ich nicht einfach auf die Lösung
zurückgreifen, die Lulcics vor Augen stand, sondern einen
gänzlich anderen Weg einschlagen. Wenn wir uns an Lukacs
hielten, so müßte nicht nur gezeigt werden, daß wir auch der
Natur gegenüber zunächst stets eine Haltung der Anteil-
nahme einnehmen müssen; ein solcher Nachweis wäre ja,
wie v;ir gesehen haben, sowohl mit Heidegger als auch mit
Dewey leicht zu erbringe~ weil beide auf unterschiedliebe
Weise darauf bestanden haben, daß wir die physische Um-
welt vorweg in ihrer qualitativen Bedeutsamkeit erschlossen
haben müssen, bevor wir uns theoretisch auf sie beziehen
können. Lukacs hätte vielmehr darüber hinaus auch noch zu
zeigen, daß das Verlassen einer derartigen Perspektive letzt-
lich mit dem Ziel unvereinbar ist, die Natur möglichst ob-
jekti-v erfassen zu woUen; denn nur, wenn sich auch hier ein
solcher kategorialer Vorrang der Anerkennung vor dem Er-
kennen behaupten ließe, könnte er am Ende beweisen, daß
die instrumentelle Behandlung der Natur gegen eine notwen-
dige Voraussetzung unserer sozialen Praktiken verstößt. Ich
sehe nirht, wie dieser Nachweis heute zu erbringen wäre;
und auch bei Heidegger oder Dewey sehe ich kaum Anhalts-
74
punkte für die starke These, daß eine Objektivierung der Na-
tur den Primat der Sorge oder qualitativen Erfahrung irgend-
wie verletzten würde. Insofern ist der direkte Weg, den Lu-
kacs eingeschlagen hat, um seine Idee einer möglichen Ver-
dinglichung auch der äußeren Natur zu begründen, uns ganz
offensichtlich verschlossen; wir mögen zwar die Möglichkeit
eines interaktiven, anerkennenden Umgangs mit Tieren,
Pflanzen und sogar Dingen ethisch für begrüßenswert hal-
ten, aber aus dieser normativen Präferenz ergibt sich kein
Argument, mit dessen Hilfe sich die Unerserzbarkeit eines
derartigen Umgangs belegen ließe. Aussichtsreicher scheint
es mir hingegen, die Intuition von Lukacs auf dem Umweg
des Vorrangs der intersubjektiven Anerkennung selber wei-
terzuverfolgen; dabei kann ich mich auf eine Überlegung
stützen, die schon einmal kurz Erwähnung fand, als ich mich
auf Adornos Idee einer ursprünglichen Nachahmung bezo-
gen habe.
Auch Adomo hat sich den Gedanken zu eigen gemacht,
daß uns der kognitive Zugang zur objektiven Welt nur durch
die Identifikation mit wichtigen Bezugspersonen, also durch
die libidinöse Besetzung des konkreten Anderen, möglich ist;
aber er hat diesem genetischen Argument eine zusätzliche
Konsequenz abgerungen, die ein erhellendes Licht auf die
uns hier beschäftigende Frage wirft. Nach seiner Auffassung
bedeutet die Voraussetzung einer solchen Identifikation
nämlich nicht nur, daß das Kind lernt, Einstellungen zu Ob-
jekten von den Objekten selbst zu trennen und somit in sich
allmählich ein Konzept der unabhängigen Welt zu errichten;
vielmehr wird es die Perspektive der geliebten Person, in die
es sich ja hineingezogen fühlt, forthin in Erinnerung be-
wahren und als einen weiteren Aspekt des inzwischen objek-
tiv fixierten Gegenstande? betrachten. Die Nachahmung des
lrft,..,.,.....~...., Anderen, die sich aus libidinösen Energien speist,
~'Wllerlrä'tt sich gewissermaßen auf das Objekt, indem sie es
seine unabhängige Realität hinaus mit den zusätzlichen
ledieU1twllgslkolmponen1ten ausstattet, die die geliebte Person
75
an ihm wahrnimmt; und je mehr Einstellungen anderer Per-
sonen ein Subjekt im Laufe seiner libidinösen Besetzungen
auf einund denselben Gegenstand vereinigt, desto reicher an
Aspektm stellt sich dieser ihm am Ende in seiner objektiven
Realität dar. Insofern war Adomo durchaus der Überzeu-
gung, daß sich von »Anerkennung« auch in bezugauf nicht-
menschliche Objekte sprechen läßt; aber diese Redeweise
hatte fü.r ihn nur die entliehene Bedeutung, an jenen Objek-
ten aU die besonderen Aspekte und Bedeutungen zu respek-
tieren, die sie den Einstellungen anderer Personen verdan-
ken. Vielleicht müßte man die Schlußfolgerung Adomos
sogar noch schärfer formulieren und im Sinn eines internen
Zusammenhangs von Moral und Erkenntnis wiedergeben:
Die Anerkennung der Individualität anderer Personen ver-
langt von uns, Objekte in der Besonderheit a11 derjenigen
Aspekte wahrzunehmen, die jene Personen in ihren jewei-
ligen Sichtweisen mit ihnen verknüpfen. 9
Aber diese normative Zuspitzung führt schon erheblich
über das hmaus, was wir wirklieb benötigen, um mit Hilfe
von .Adorno den Gedanken einer möglichen »Verdingli-
chung« auch der Natur reformulieren zu können. Folgen wir
seinen Überlegungen, so ergibt sich nämlich eine Chance, die
dami1 verknüpfte Idee zu rechtfertigen, ohne auf Spekula-
tione.n über einen interaktiven Umgang mit der Natur zu-
rückzugreifen. Die VerdLnglicbung von menschlichen Wesen
bedeutet, so hatte ich zuvor gesagt, das Faktum ihrer Vorgän-
gigenAnerkennung aus den Augen zu verlieren oder zu ver-
leugnen; mit Adorno läßt sich nun hinzufügen, daß jene vor-
gängige Anerkennung auch beinhaltet, an den Objekten die
77
'1. Konturen der Selbstverdinglichung
1 Es is gar keine Frage, daß es genau dieser Unterschied isr, der in der klas-
siscren Entgegensetzung von "Erklären« und » Verstehen• stets fesrge-
halrm wurde. Vgl. exemplarisch Kail-Orro Apel, Die •Erklären:Verste-
hen •·Kontroverse ifl tran5zendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt/M.
197~·
über anderen Menschen eine verdinglichende Einstellung
einnehmen. Um nun gleichwohl die Idee einer Verding-
üchung der Natur nicht vollständig preisgeben zu müssen,
habe ich vorgescWagen, die Anerkennungsbedingungen der
menscWichen Interaktion in die Dimension unseres Um-
gangs mir der natürlichen Welt hinein zu verlängern: Wir
verletzen zwar keine praktische Voraussetzung unserer ko-
gnitiven Beziehung zur Natur, wenn wir ihr gegenüber eine
nur noch objektivierende Einstellung einnehmen, aber wir
verletzen doch in einem indirekten Sinn die nicht-epistemi-
schen Bedingungen unseres Umgangs mit anderen Men-
schen; denn wir »vergessen « unsere vorgängige Anerken-
nung dieser Personen auch dann, wenn wir in unserem
objektivierenden Verhalten von den existentiellen Bedeutun-
gen absehen, die sie den Bestandteilen ihrer natürlichen Um-
welt zuvor verliehen haben. Daß wir hier von einer »Aner-
kennungsvergessenheit« höherer Stufe reden können. habe
ich mit Verweis auf einige, vor allem in der Minima Moralia
anzutreffende Gedankengänge Adornos kJargemacht; in ei-
ner wesentlich überzeugenderen, direkteren Weise hat aber
William James in seinem berühmten Essay über die mensch-
liche •> Blindheit<< vorgeführt, wie sehr wir andere Menschen
mißachten oder gar übersehen können, wenn wir ihre exi-
stentiellen Aufladungen der sie umgebenden Dinge ignorie-
ren.2
Nun hat Lukäcs aber nicht nur von zwei, sondero von drei
Aspekten gesprochen, im Hinblick auf die ein Verhalten der
»Verdinglichung« beobachtbar sein soll; neben der inrersub-
2. Vgi. William James, .. Ober eine bestimmte Blindheit des Menschen• , in:
ders., Essays iiber Glaube und Ethik, Gütersloh 1948, S. 2.48-2.70; zu der
Vielzahl von existentiellen oder psychischen Bedeutungen, die Objekte
für Menschen besitzen können, vgl. die faszinierende Untersuchung von
Tilinann Habermas, Geliebte Objekte. Symbole und Jnstnmzente der
Iderztitätsbildung, Frankfurt/M. 1999. Die Verleugnung dieser Bedeu-
tungsvielfalt der uns umgebenden Welt ist es, was ich hier als ,.Verding-
licbung« der Natur bzw. objektiven Weh bezeichne.
79
jektiven Welt der Mitmenschen und der objektiven Welt na-
türlider Gegebenheiten hat er auch die Welt der inneren Er-
lebnisse, also der mentalen Akte, als einen Phänomenbereich
begriffen, dem wir statt in der geforderten Einstellung der
Anteilnahme in einer bloß betrachtenden Haltung begegnen
können. Lukacs unternimmt im ganzen nur geringe Anstren-
gungen, genauer zu beschreiben, wie die Struktur einer sol-
chen Selbstverdinglichung beschaffen sein soll; aber sein
exemplarischer Verweis auf den Journalisten, der gezwun-
gen sei, die eigene »Subjektivität«, sein »Temperament« und
seine •Ausdrucksfähigkeit«, den jeweils antizipierten Leser-
interessen anzupassen,3 hat offenbar genügend Anschau-
ungsmaterial geboten, um selbst Adorno nach beinah fünf-
undzv.anzig Jahren noch zu einem ausführlichen Zitat der
entsprechenden Stelle zu bewegen. 4 Auch Adorno gibt frei-
lieb in diesem Kontext nicht recht zu erkennen, wie wir uns
die Struktur einer solchen verdingliebenden Beziehung auf
sich selbst im einzelnen vorzustellen haben; zwar heißt es
jetzt erläuternd, daß das Subjekt sich auf seine eigenen psy-
chischen »Eigenschaften « wie auf »sein inwendiges Objekt((
richtet, wenn es sie zum »situationsgerechten Einsatz((
bringt,5 aber damit bleibt die Frage unbeantwortet, wie eine
positive, nicht verdinglichende Haltung gegenüber der eige-
nen Subjektivität zu beschreiben wäre. Wollen wir auch die-
sen ch:itten Komplex des Verdinglichungskonzepts von Lu-
kacs heute noch einmal wieder aufuehmen, so müssen wir
uns daher im Sinn unserer bisherigen Vergehensweise fra-
gen, ob mit Bezug auf die Selbstbeziehung ebenfalls von ei-
nem (notwendigen) Vorrang der Anerkennung gesprochen
3 Vgl. Georg Lukacs, •Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Prole-
tanaG• , in: ders., Geschichte ur1d Klassenbewußtsein (1923 \, Werke,
Band2 (Frühschriften 11), Neuwied und Berlin 1968, 5. 257- 397, hier
5.2.7!·
4 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 2.001, Aph. 147
(•Novi{>simum Organum• ), 5. 444·
5 Ebd.,S. 445·
So
werden kann: Ist die Behauptung sinnvoll, daß mensch-
liche Subjekte auch sich selbst gegenüber »zunächst und zu-
meist(<, wie Heidegger sagen würde, eine anerkennende Hal-
tung einnehmen müssen, so daß eine bloß noch erkennende
Selbstbeziehung als Verdinglichung und damit als Verfeh-
lung bezeichnet werden dürfte?
Es gibt nach meiner überzeugnng verschiedene theore-
tische Schlüssel, die herangezogen werden könnten, um zu
einer positiven Beantwortung dieser Frage zu gelangen. So
ließe sich zum Beispiel an die Objektbeziehungstheorie von
Donald Winnicott anknüpfen, der aus seinen Untersuchun-
gen zum Trennungsprozeß des Kleinkindes den Schluß ge-
zogen hat, daß die psychische Gesundheit des lndividuums
von einem spielerisch-explorativen Umgang mir dem eige-
nen Triebleben abhängt;6 was hier mit einem solchen er-
kundungsbereiten Modus der Selbstbeziehung gemeint ist,
dürfte im wesentlichen dieselben Eigenschaften besitzen, die
wir auch von einer anerkennenden Einstellung gegenüber
sich selbst erwarten würden. 7 Ein anderer Weg, um die These
vom Vorrang der Anerkennung in der Selbstbeziehung zu
stützen, könnte in der Rückbesinnung auf jene viel zu wenig
beachteten Überlegungen bestehen, die Aristoteles in seiner
Nikomachischen Ethik der »Selbstfreundschaft(( gewidmet
hat; 8 die Weise, in der hier ein gelingendes Selbstverhältnis
an die Voraussetzung der wohlwollenden Meisrerung der ei-
genen Triebe und Affekte gebunden wird, ließe sich mög-
licherweise ebenfalls als Hinweis auf die Art von Beziehung
verstehen, die derjenige mit sich unterhält, der seinem •> Inne-
6 Vgl. Donald W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, Sruttgart 1989; vgl.
dazu: Axel Honneth, Kampf um Anerkenmmg. Zur moralischen Gram-
matik sozialer Konflikte, Frankfurr/M. 1992., S. r 57 ff.
7 Vgl. etwa Axel Honneth, • Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophi-
sche Konsequenzen aus der Subjektkritik«, in: ders., Das Andere der Ge-
rechtigkeit. Aufsätze zm praktischen Philosophie, Frankfun/M. 2.ooo,
s. 2.37-254·
8 Aristoteles, Nikomachische Ethik, LX. Buch, 4.- 8. Kap.
8I
ren « in anerkennender Haltung begegnet. Und schließlich
könntm vielleicht auch, um noch ein drittes Beispiel zu nen-
nen, die Betrachtungen herangezogen werden, die Peter Bieri
jüngst über die Notwendigkeit einer »Aneignung« unseres
eigenen Willens angestellt hat: 9 Wenn wir zu wirklicher Wil-
lensfreiheit nur dadurch gelangen können, wie Bieri behaup-
tet, daß wir unsere Wünsche und Empfindungen nicht ein-
fach hinnehmen, sondern sie uns durch Artikulation zu eigen
machen, so ließe sich in einem solchen Prozeß der Aneignung
der Aufriß dessen vermuten, was eine anerkennende Selbst-
beziehung von uns verlangt.
Allerdings setzen alle diese Plausibilisierungen voraus,
daß wir bereits wissen, wie der Begriff »Anerkennung<< im
Zusammenhang der Selbstbeziehung angernessen zu ver-
wenden ist; der herkömmliche Ort des Ausdrucks ist die zwi-
schenmenschliche Interaktion, so daß vorläufig ganz unklar
ist, ob er auch auf das Verhältnis zu sich selbst Anwendung
finden kann. Zudem sind die drei genannten Denkmodelle
überwiegend eher im Sinn eines normativen oder ethischen
Ideals zu verstehen, wohingegen hier doch von einem Vor-
rang der »anerkennenden « Selbstbeziehung in einem sozial-
ontologischen Sinn die Rede sein muß; wenn nämlich die
Verdinglichung sich bis in das Verhältnis des Subjekts zu sich
selbst hinein erstrecken können soll, so muß ihr eine »ori-
ginäre«, normale Form von Selbstbeziehung vorausgesetzt
werden können, der gegenüber sie sich als problematische
Abwe1chung verständlich machen läßt. Aus diesen Gründen
scheint es mir angemessener, nicht sofort auf begrifflich ver-
wandre Vorstellungen zuzugreifen, sondern zunächst den
Sachverhalt als solchen ins Auge zu fassen: Die Weise, in der
wir uns gewöhnlich auf unsere Wünsche, Empfindungen und
Absichten beziehen, läßt sich überzeugend und sinnvoll mit
dem :Begriff der »Anerkennung « beschreiben.
Einen geeigneten Einstieg in die Begründung dieser These
12. Eine wahre Fundgrube für Einwände gegen das Erkenntnismodell der
Selbstbeziehung stellt der neue Roman von Pascal Mercier (Peter Bieri)
dar: ders., Nachtzug nach Lissabon, München/Wien 2.004.
IJ David H. Finkelstein, Expression and the Inner, a. a. 0., Kap. 2..
Bs
hung zunutze, an deren Erklärung das Erkenntnismodell des
Deteknvismus gescheitert war: Wir sprechen zwar mit
Selbstgewißheit und Autorität von unseren mentalen Zu-
ständen, ohne jedoch von deren Gehalt dieselbe Art von
sicherer Kenntnis zu besitzen wie von wahrnehmbaren Ge-
genständen. Aus dieser Asymmetrie zieht der Konstitutiona-
lismusden Schluß, daß es sich bei jenen Zuständen um etwas
handeln muß, an deren Zustandekommen wir selber aktiv
beteiligt sind: In dem Augenblick, in dem wir gegenüber un-
seren Interaktionspartnern bestimmte Intentionen artiku-
lieren, entschließen wir uns gleichsam dazu, sie in uns exi-
stieren zu lassen. Aus der Not der Unsicherheit über unsere
jeweilige Befindlichkeit wird hier rue Tugend einer kon-
struktiven Leistung gemacht: Wir beziehen uns auf unsere
mentalen Zustände, indem wir ihnei_t in einer ruckartigen
Entscheidung den Gehalt verleihen, den wir performativ an-
schlieJlend zum Ausdruck bringen. Gegenüber dem Erkennt-
nismodell hat diese Vorstellung den Vorteil, daß sie weder
ein inneres Wahrnehmungsvermögen voraussetzen noch in-
nere Zustände an Objekte angleichen muß; statt dessen wer-
den unsere Wünsche und Empfindungen kurzerhand zu Pro-
dukten eines freien Willensentschlusses ernannt, so daß das
betreffende Subjekt in vollem Maße für sie verantwortlich zu
sein scheint.
Schon cliese letzte Bemerkung läßt allerdings durchblik-
ken, daß der Konstruktivismus bei genauerer Betrachtung in
ebenso große Erklärungsnöte geraten muß wie zuvor der De-
tektivismus. Scheitert die Idee, nach der unsere Selbstbezie-
hung einen Akt der nach innen gerichteten Wahrnehmung
darstellt, am ungegenständlichen Charakter unserer inneren
Zustände, so die konstruktivistische Vorstellung an deren
obstruktiver, widerspenstiger Natur; keine der Empfindun-
gen, die wir innerlich verspüren, besitzt eine derart große
Plastizität, daß wir ihr durch einen Akt der Namensgebung
einfach eine beliebige Erfahrungsqualität verleihen könnten.
Phänomenologisch gesprochen begegnen uns unsere menta-
86
len Zustände vielmehr zumeist als Widerfahrnisse, als Ge-
fühle, Wünsche oder Absichten, denen wir passiv ausge-
liefert sind, bevor wir ihnen gegenüber einen gewissen
Spielraum interpretatorischer Aktivität erlangen;14 und es ist
diese einschränkende Natur unserer Empfindungen, den der
Konstruktivismus zu leugnen scheint, wenn er das Subjekt
mit einer unbegrenzten Fähigkeit zur Selbstattribuierung
ausstattet. Die Vorstellung, nach der wir mit unseren menta-
len Zuständen deswegen vertraut sind, weil wir sie selber er-
zeugen, scheitert an deren begrenzendem Charakter; zwar
besitzen wir gegenüber unseren Empfindungen stets einen
gewissen Spielraum der interpretatorischen Mitgestaltung,
aber cliesem sind durch einen hartnäckigen Rest an passivem
Ausgeliefertsein äußerst enge Grenzen gezogen.
Nun sollte clieser Verweis auf etwas Passives in unserer
Selbstbeziehung aber nicht dazu verleiten, sich erneut dem
Erkenntnismodell zuzuwenden und damit unsere innere
Empfindungen doch wieder als unabhängige Objekte zu
denken. Vom Konstruktivismus isr immerhin die Einsicht
beizubehalten, daß innere Zustände nicht unabhängig von
einem Bewußtsein von ihnen oder einem Sprechen über sie
gegeben sind: Ein Schmerz existierr nur, sobald das betrof-
fene Subjekt auf ihn aufmerksam wird, einen Wunsch ver-
spüre ich erst, wenn ich für ihn einen halbwegs passenden
Ausdruck gefunden habe. Der Fehler des Konstruktivismus
beginnt erst dort, wo er aus cliesem Bedingungsverhältnis ei-
nen Erzeugungsmechanismus macht, so, als ob allein das Be-
wußtsein des Schmerzes ihn überhaupt erst entstehen ließe,
all unsere Wünsche aus einem Akt der sprachlichen Formu-
lierung hervorgingen. Schon clie Tatsache, daß es etwas ist,
dem wir hier Ausdruck verleihen oder auf das wir unsere
Aufmerksamkeit richten, gibt zu erkennen, wie abwegig clie
I4 Vgl. exemplarisch: Hermann Schmitz, • Gefühle a ls Atmosphären und
das affektive Betroffensein von ihnen«, in: Hinrieb Fink-Eirel/Georg
Lohmann (Hg.}, Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurr/M. 1993,
s. 33 - 56.
Schlußfolgerung ist, die der Konstrukti,rismus aus seinem
richtigen Ausgangspunkt zieht: Denn ohne den Anstoß einer
passiven Empfindung würden wir gar nicht darangehen, un-
sere Aufmerksamkeit zu schärfen oder nach den passenden
Worten zu suchen. Das alles muß nun aber nicht heißen, als
Quelle jenes sinnJjchen Anstoßes ein Objekt zu unterstellen,
welches frei von aller begrifflichen Vorgeschichte wäre und
daher wie ein Stück erster Natur auf uns einwirkt; normaler-
weise sind wir mit unseren Wünschen und Empfindungen
vielmehr in einem gewissen Maße schon vertraut, weil wir
im Prozeß unserer Sozialisation gelernt haben, sie als innere
Bestandteile einer sprachlich geteilten Lebenswelt wahr-
zunehmen. Natürlich werd~n wir immer wieder auch von
menralen Zuständen überrascht, die uns vollkommen fremd
und opak erscheinen, weil es eine solche Vorgeschichte der
sprachlichen Sozialisation nicht gibt; aber auch in diesen
Fällen, die mir faktischer Unvertrautheit oder vorgängiger
Desyrnbolisierung zusammenhängen mögen, 15 können wir
den entsprechenden Empfindungen gegenüber eine Einstel-
lung einnehmen, in der wir deren Fremdheit durch Abgleich
mit dem Horizont des bereits Vertrauten weiter zu erschlie-
ßen und zu artikulieren vermögen. Wenn wir uns die Selbst-
beziehung nach einem derartigen Muster denken, so bietet
sich als mittlerer Weg zwischen Detektivismus und Kon-
struktivismus ein Modell an, das »Expressionismus« heißen
könnte: Wir nehmen unsere mentalen Zustände weder ein-
fach wie Objekte wahr, noch konstituieren wir sie durch
unsere Bekundungen, sondern wir artikulieren sie nach
Maßgabe des uns innerlich jeweils bereits Vertrauren. 16 Ein
Subjekt, das sich in dieser originären Weise auf sich selbst be-
zieht, muß die eigenen Empfindungen und Wünsche für et-
was halten, das es wert ist, artikuliert zu werden; insofern
Ij Vgl.Allied Lorenzer, Sprachzerstönmg und Rekonstruktion, Franlcfurr/
M. 1970.
I 6 Auch die Idee eines ., mittleren "Weges« übernehme ich von David H. Fin-
88
tun wir gut daran, auch hier von der Notwendigkeit einer
vorgängigen Anerkennung zu sprechen.
Eine derartige Form der Anerkennung gilt nicht dem In-
teraktionsparmer, der in seinem Personsein immer schon ak-
zeptiert sein muß, bevor auch nur irgendeine Art der Kom-
munikation mit ihm möglich sein soU. Vielmehr handelt es
sich in diesem Fall um eine Anerkennung, die das Subjekt
sich selbst vorweg entgegengebracht haben muß, um über-
haupt in einen expressiven Kontakt mit seinen mentalen Zu-
ständen treten zu können; werden nämlich die eigenen Wün-
sche und Empfindungen erst gar nicht der Artikulation für
wert erachtet, so kann das Subjekt zu seinem Inneren nicht
den Zugang :finden, den es in der Selbstbeziehung aufrecht-
zuerhalten gilt. In der letzten Zeit ist diese Art von Anerken-
nung seiner selbst häufig in Parallele zu Heideggers Begriff-
lichkeit als »Selbstsorge« bezeichnet worden; 17 gemeint ist
damit, daß das Subjekt auch sich selbst gegenüber zunächst
jene Haltung des engagierten Bekümmerns einnimmt, die
Heidegger als charakteristisch für unseren Umgang mit den
Dingen und anderen Menschen betrachtet hat. Wenn in ei-
nen solchen Umgang der Selbstsorge nicht mehr an ethischen
Bestrebungen hineinprojiziert wird, als was im Für-wert-
Halten der eigenen Wünsche und Empfindungen enthalten
ist, dann ist er mit der Haltung identisch, die ich hier als An-
erkennung seiner selbst bezeichnen möchte: Ein Subjekt, das
zu einer ~ressiven Selbstbeziehung in der Lage sein soll,
muß sich selbst vorweg soweit bejahen können, daß es die ei-
genen psychischen Erlebnisse für wert hält, aktiv erschlossen
und artikuliert zu werden. 18 Diese Bestimmung der Anerken-
nung seiner selbst entspricht in etwa dem, was Harry Frank-
92
Befindlichkeit finden konnten. Um nämlich überhaupt zu
wissen, was es heißt, Wünsche, Gefühle oder Absichten zu
haben, müssen wir diese vorgängig als einen bejahenswerten
Teil unserer Selbst erlebt haben, den es uns und unseren In-
teraktionspartnern verständlich zu machen gilt; und ebenso-
wenig wie die Anerkennung anderer Personen ist auch eine
derartige Anerkennung seiner selbst von nur genetischer
Vorrangigkei t.
An dieser elementaren Struktur der anerkennenden Selbst-
beziehung lassen sich nun ohne Schwierigkeit noch weitere
Aspekte ausmachen, die auch aU das beinhalten dürften, was
ich zu Beginn des Kapitels unter Verweis auf andere Theorien
erwähnt habe. Wenn Winnicott von der kreativ-spielerischen
Erkundung der eigenen Bedürfnisse spricht, Aristoteles von
der Freundschaft mit sich selbst oder Bieri von der Aneig-
nung der eigenen Wünsche, so handelt es sich dabei um zu-
sätzliche Facetten der Art von Anerkennung, die Subjekte
sich selbst gegenüber stets insofern entgegenzubringen ha-
ben, als sie ihre inneren Zustände als artikulationsfähigen
und -werten Teil ihres Selbst begreifen müssen. Gerät diese
vorgängige Selbstbejahung in Vergessenheit, wird sie igno-
riert oder vernachlässigt, so entsteht Raum für Formen der
Selbstbeziehung, die sich als »Verdinglichungen « seiner
selbst beschreiben lassen; denn die eigenen Wünsche und
Empfindungen werden dann wie dingliche Objekte erfahren,
die passiv beobachtet oder aktiv erzeugt werden können.
93
VI. Soziale Quellen der Verdinglichung
94
lichenden Einstellungen nicht bloß auf geistige oder kultu-
relle Entwicklungsprozesse zurückgeführt werden, so bedarf
es einer Identifizierung derjenigen sozialen Strukturen oder
Praktiken, die eine derartige Tendenz fördern oder veranlas-
sen. Ich will abschließend unter drei Gesichtspunkten einige
vorbereitende Überlegungen zu einer solchen »sozialen Ätio-
logie« (M. Nussbaum) der Verdinglichung entwickeln; dabei
kann ich mich auf einige Hypothesen stützen, die zuvor
schon in meinen Überlegungen eine Rolle spielten, als es um
die mög[jchen Ursachen für die »Anerkennungsvergessen-
heit« gegenüber anderen Personen ging:
(I) Lukacs beschreibt die Auswirkung der kapitalisti-
schen Marktgesellschaft so, als würde sie automatisch zu ei-
ner Verallgemeinerung verdingHebender Einstellungen in al-
len drei Dimensionen führen, bis daß sich am Ende nur noch
Subjekte gegenüberstehen, die sowohl sich selbst, ihre natür-
Hche Umwelt und alle anderen Menschen verdinglichen. Für
diesen totalisierenden Zug seiner Analyse sind eine Reihe
von begrifflichen und sachlichen Fehlern verantwortlich,
von denen ich hier nur diejenigen herausgreifen möchte, die
für eine weitere Behandlung des Themas besonders auf-
schlußreich sind. Unter begrifflichen Gesichtspunkten läßt
sich zunächst feststellen, daß Lukacs eine äußerst problema-
tische Neigung besitzt, Prozesse der Entpersönlichung sozia-
ler Beziehungen mit Vorgängen der VerdingHebung gleich-
zusetzen. BekanntHch war es Georg Simmel, der in seiner
Philosophie des Geldes untersucht hat, inwiefern mit der
Zunahme marktvermittelter Interaktionen zugleich eine
wachsende Vergleichgültigung gegenüber den Interaktions-
partnern einhergeht; 1 gemeint war damit, daß die unver-
wechselbaren Eigenschaften des Anderen .ihre kommunika-
tive Bedeutung verlieren, sobald er für einen Aktor nur noch
als Gegenüber eines geldvermittelten Tauschaktes auftritt.
95
Diesm von Simmel analysierten Prozeß der »Versachli-
chung« setzt Lukacs stillschweigend Ipit einem Vorgang der
sozialen Verdinglichung gJeich, ohne den zentralen Unter-
schied angemessen zu berücksichtigen; denn in einer durch
Geldverkehr »entpersönlichten« Beziehung muß der Andere
doc~ wie Simmel selbst hervorhebt/ als Träger allgemeiner
Personeneigenschaften präsent bleiben, um überhaupt als
vera11rworrungsfähiger Tauschpartner gelten zu können,
·während die Verdinglichung anderer Menschen bedeuten
würde, ihr Menschsein selber zu leugnen. Setzt die Entper-
sönlichung sozialer Beziehungen mithin die elementare An-
erkennung des anonym gewordenen Anderen als mensch-
liche Person voraus, so beinhaltet die Verdinglicbung gerade
ein .Eesrreiten oder »Vergessen << dieser vorgängigen Gege-
benheit. Insofern läßt sich der Vorgang der Verdinglichung
nicht mit dem allgemeinen Prozeß der »Versachlichung« so-
zialer Beziehungen gleichsetzen, den Georg Simmel als Preis
für die Zunahme negativer Freiheitenaufgrund der Verviel-
fältigung wirtschaftlicher Tauschbeziehungen beschrieben
hat.
Ebenso problematisch wie die Gleichsetzung von Entper-
sönlichung und Verdinglichung ist an Lukacs' Kategorien-
system aber auch die Tendenz, zwischen den unterschied-
lichen Dimensionen der VerdingJichung eine Art von not-
wendiger Einheit zu sehen. So sehr sich Lukacs a ucb um eine
begrililiche Differenzierung der drei Aspekte bemüht, also
zwischen der Verdinglichung anderer Personen, von Objek-
ten und des eigenen Selbst unterscheidet, so selbstverständ-
lich scheint er gleichzeitig zu unterstellen, daß jede dieser
Formen zwangsläufig den Auftritt der beiden anderen For-
men nach sich zieht; ihr wechselseitiges Zusammenspiel ist
für ilm keine empirische Frage, sondern Resultat einer be-
grifflichen Notwendigkeit. Demgegenüber hatte sich in un-
serer Analyse zumindest indirekt gezeigt, daß zwischen den
2 Vgl.ebd., S. 397·
unterschiedlichen Aspekten der Verdinglichung kein not-
wendiger Zusammenhang besteht; von einem solchen läßt
sich nur in Hinblick auf die Verdinglichung der objektiven
Welt sprechen, die als ein bloßes Derivat der Anerkennungs-
vergessenheit gegenüber anderen Menschen begriffen wer-
den muß (vgl. oben S. 7 5 ff. ), während sich diese Form der
Verdinglichung und die Selbstverdinglichung nicht notwen-
dig implizieren müssen. Es ist eine interessante, aber keines-
falls im vorhinein zu beantwortende Frage, ob und inwiefern
die Verdinglicbung von Menschen eine bestimmte Form der
Selbstverdinglicl:tung nach sich zieht, oder ob und inwiefern
umgekehrt die Selbstverdinglichung stets auch mit der Ver-
dinglichung anderer Personen einhergeht; es bedürfte auf
jeden Fall weiterer Analysen, bevor derartige lmplikations-
verhältnisse freigelegt werden könnten.
Ein drittes Problem der sozialen Ätiologie, die Lukacs
in seiner Verdinglichungsanalyse liefert, betrifft nicht seine
kategorialen, sondern seine sachlichen oder thematischen
Vorentscheidungen. In Nachfolge von Marx, letztlich der
Basis-Überbau-These, unterstellt Lukacs der ökonomischen
Sphäre ein so hohes Maß an kulturprägender Kraft, daß er
keine Mühe bat, von wirtschaftlichen Erscheinungen auf
direkte Folgewirkungen in der restlichen Gesellschaft zu
schließen; daher kann er wie selbstverständlich eine Infi-
zierung aller sozialen Lebenssphären durch jene Verding-
lichungsphänomene annehmen, die er ursprünglich und
eigentlich doch nur für den Bereich des kapitalistischen
Marktverkehrs ausgemacht hatte. Zwar dient als offizielle
Erklärung für diese totalisierende Tendenz der Verding-
lichung die Behauptung einer »Durchkapitalisierung« der
Gesamtgesellschaft; aber weder für die Familie noch für die
politische Öffentlichkeit, weder für die Eltern-Kind-Bezie-
hung noch für die Freizeitkultur zeigt Lukacs auch nur im
Ansatz, daß es zu einer solchen >>Kolonialisierung« durch
Prinzipien des kapitalistischen Marktes wirklich kommt.
Daher haftet seiner Idee einer Totalisierung der ökonomisch
97
begründeten Verdinglichung, die ihrerseits bereits problema-
tisch ~t, weil sie auf der Gleichsetzung mit Prozessen der
Entpe1sönlichung beruht, stets etwas Willkürliches an.
Mit der Privilegierung der Wirtschaftsphäre mag schließ-
lich a11ch das vierte, ebenfalls eher thematische Problem zu-
sammenhängen, das an Lukacs' soziologischer Erlclärung
der Verdinglichung ins Auge sticht. Liest man den Text sei-
ner Abhandlung heute mit einem Abstand von achtzig Jah-
ren, so muß man mit Erstaunen, ja Befremden feststellen,
daß Lu.kacs Phänomene der Verdinglichung überhaupt nur
in engster Verknüpfung mit Tauschprozessen zur Erwäh-
nung bringt; alles, was uns mittlerweile doch viel stärker als
Beleg für ein verdinglichendes Verhalten gilt, nämlich For-
men der bestialischen Entmenschlichung im Rassismus oder
Menscher handel,3 wird von ihm nicht einmal am Rande
thematisiert. Diese Ausblendung einer ganzen Klasse von
Verdinglichungserscheinungen ist nicht etwa zufälliger Na-
tur, so als habe Lukacs es nur an mangelnder Aufmerksam-
keit fehlen lassen oder derartige Vorkommnisse noch gar
nicht wahrnehmen können; sie verdankt sich vielmehr einer
systematischen Blindheit, die mit dem Vorurteil zusammen-
hängt, daß nur ökonomische Zwänge letzilieh zur Verleug-
nung der menschlichen Züge von Menschen führen können.
Den Einfluß von ideologischen Üherzeugungen, die ganze
Gruppen von Personen als entmenschlicht und daher wie
bloßeDinge erscheinen lassen, wollte Lukacs auf keinen Fall
berücksichtigt wissen. Sein Blick war so einseitig auf die ver-
haltensprägenden Wirkungen des kapitalistischen Waren-
verkehrs gerichtet, daß er daneben keine andere soziale
Quelle der Verdinglichung zur Kenntnis hat nehmen kön-
nen.
Es sind mindestens diese vier Probleme, die es heute rat-
sam erscheinen lassen, sich von dem soziologischen Erklä-
3 Vgl. dazu die eindringliche Analyse von Avis bai Margalit, Politik der
Wütde. Ober Achtung rmd Verachtung, Berlin 1997, 2.. TeiJ, 6.
rungsrahmen der Lukacsschen Verdinglichungsanalyse im
ganzen zu verabschieden. Zwar hat Lukacs mit großem
Recht zunächst auf solche Verdinglichungseffekre aufmerk-
sam machen wollen, die mit der institutionellen Ausweitung
des kapitalistischen Marktverkehrs einhergehen können;
zwar hat er in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache
in den Blick gerückt, daß wir gegenüber anderen Menschen
dann unsere vorgängige Anteilnahme und Anerkennung
wieder »vergessen« müssen, wenn wir sie nur noch wie Wa-
ren behandeln und betrachten; aber sein Ansatz ist sowohl
begrifflich wie thematisch viel zu sehr auf die Identität von
Warenverkehr und Verdinglichung zugeschnitten, als daß er
die theoretische Grundlage für eine zugleich umfassende und
differenzierte Analyse abgeben könnte.
(2) Die ersten Schritte, die nötig sind, um die soziale Ätio-
logie der Verdinglichung von Grund auf anders aufzuziehen,
habe ich an früherer SteHe bereits benannt: Wenn der Kern
aller Verdinglichung in einer »Anerkennungsvergessenheit«
besteht, dann müssen ihre sozialen Ursachen in Praktiken
oder Mechanismen aUfzusuchen sein, die ein solches Verges-
sen systematisch ermöglichen und verstetigen. Allerdings
stellt sich hier jetzt ein zusätzliches Problem, das zuvor noch
gar nicht angemessen in den Blick hat rücken können: Die
Tatsache, daß die Verdinglichung anderer Menschen und die
Selbstverdinglichung nicht zwangsläufig zusammen auftre-
ten, hat nämlich zur Folge, daß für sie beide ganz unter-
schiedliche Ursachen verantwortlich sein können. Zwar
handelt es sich bei den zwei Formen jeweils um Weisen der
Anerkennungsvergessenheit, aber deren Charakter ist so
verschieden, daß sie wahrscheinlich auch in ihrer sozialen
Herkunft, in der Art ihrer gesellschaftlichen Entstehung,
stark voneinander abweichen. Ich werde daher die beiden
Typen der Verdinglichung getrennt behandeln, wenn ich
jetzt versuche, die möglichen Ursachen ihrer sozialen Entste-
hung etwas genauer zu charakterisieren.
Gegenüber anderen Personen (oder Personengruppen)
99
können Menschen eine verdinglichende Haltung nur dann
einnehmen, so hatte sich gezeigt (vgl. Kap. IV), wenn sie
durch eine der beiden folgenden Ursachen deren vorgängige
Anerkennung aus dem Blick verloren haben: Entweder par-
tizipieren sie in einer sozialen Praxis, in der die bloße Beob-
achtuDg des Anderen so sehr zu einem Selbstzweck gewor-
den ist, daß alles Btwußtsein einer vorgängigen Sozial-
beziebnng erlischt, oder sie lassen sich in ihrem Handeln von
einem Überzeugungssystem leiten, das sie zu einer nach-
träglichen Leugnung dieser ursprünglichen Anerkennung
zwingt Beide Fälle sind dadurch gekennzeichnet, daß etwas
vorgängig intuitiv Beherrschtes im Nachhinein wieder ver-
lernt ~ird, aber nur im ersten Fall sorgt dafür das Ausüben
einer bestimmten Praxis selber, während es im zweiten Fall
die Folge der Übernahme einer spezifischen Weltsicht oder
Ideologie ist. Insofern ließe sich in Hinblick auf den zweiten
Fall auch sagen, daß die Verdinglichung hier das bloß habitu-
elle Derivat eines verdingliebenden Überzeugungssystems
ist: Die Kraft der Verleugnung gebt von den Gehalten einer
spezifuchen Ideologie aus und wird nicht durch das Ausüben
einer bestimmten Praxis erst erzeugt.
Nur diesen letzten Fall, die Entstehung einer verdingli-
ebenden Haltung durch das Ausüben einer vereinseitigten
Praxis1 bat Lukacs vor Augen gehabt, als er den kapitalisti-
schen Warentausch als soziale Ursache für alle Formen der
VerdingJichung beschrieben hat. Dabei hat er freilich nicht
nur dm bereits erwähnten Unterschied zwischen Entper-
sönlichung und Verdinglichung unberücksichtigt gelassen,
sondern auch die Tatsache ignoriert, daß im ökonomischen
Austausch der rechtliche Status beider Beteiligten sie wech-
selseitig vor einer bloß noch ve-rdinglichenden Haltung
schützt; denn so sehr der Andere jeweils auch nur noch unter
dem einen Gesichtspunkt der individuellen Nutzenmaximie-
rung betrachtet werden mag, seine rechtliche Einbindung in
den Tauschvertrag garantiert ihm eine zwar nur minimale,
aber dafür doch erzwingbare Berücksichtigung seiner per-
IOO
sonalen Eigenschaften.4 Diese Schutzfunktion des Rechts, in
der letztlich eine dürftige, aber um so wirksamere Überset-
zung des Faktums vorgängiger Anerkennung zu sehen ist,S
hat Lukacs nicht angemessen wahrnehmen können, weil er
die Institution des modernen Rechts selber für eine Aus-
geburt der Verdinglichungstendenzen des kapitalistischen
Wirtschaftssystems gehalten hat. Freilich macht der damit
thematisierte Zusammenhang in umgekehrter Richtung auf
den Tatbestand aufmerksam, daß die Möglichkeit einer bloß
noch verdinglichenden Haltung stets in dem Maße wächst,
in dem eine rein »beobachtende« Praxis nicht mehr an die
minimalen Anerkennungsgarantien des Rechts zurückge-
bunden ist: Überall dort, wo sich Praktiken des puren Be-
obachtens, Registrierens oder Berechnens von Menschen ge-
genüber ihrem lebensweltlieben Kontext verselbständigen,
ohne noch in rechtliche Beziehungen eingebettet zu sein, ent-
steht jene Ignoranz gegenüber der vorgängigen Anerken-
nung, die hier als Kern aller intersubjektiven Verdinglichung
beschrieben worden ist. Das Spektrum der gesellschaftlichen
Entwicklungen, in denen sich heute solche Tendenzen einer
Verdinglichung des Menschen spiegeln, reicht von der wach-
senden Aushöhlung der rechtlichen Substanz des Arbeitsver-
trags6 bis hin zu ersten Anzeichen einer Praxis, das Bega-
ror
bungspotential von Kindern nur noch genetisch zu messen
und zu manipulieren:7 In beiden Fällen droht die Gefahr, daß
institutionalisierte Hemmschwellen entfallen, die eine Leug-
nung der anerkennenden Primärerfahrung bislang verhin-
dert haben.
Schwieriger, als es auf den ersten Blick den Anschein hat,
ist das Verhältnis von sozialer Praxis und intersubjektiver
Verdinglichung im zweiten Fall zu bestimmen, also dort, wo
Überzeugungssysteme mit eindeutig verdinglichenden Typi-
sierungen anderer Personengruppen zum Zuge kommen.
Zwar hatte ich zuvor gesagt, daß es unter solchen Umstän-
den bloß einer Übernahme derartiger Ideologien bedarf, um
ein Subjekt zur Leugnung der vorgängigen Anerkerrnung
gelangen zu lassen; wir müßten uns diesen sozialen Vorgang
also so vorstellen, daß unter der Wirkung verdinglichender
Typisierungen (von Frauen, Juden, usw.) den entsprechen-
den Personengruppen jene personalen Eigenschaften nach-
träglieb wieder abgesprochen werden, die ihnen doch zuvor
aufgrund der sozialen Vorgängigkeit der Anerkennung ha-
bituell ganz selbstverständlich eingeräumt worden waren -
und tatsächlich vedahren ja auch eine Reihe von soziologi-
schen Erklärungsversuchen des Rassismus oder der porno-
graphischeu Repräsentation von Frauen nach einem derart
gestrickten Muster. Aber es ist bei einem solchen Vorgehen
vollkommen unklar, warum ein bloßes Gedankenkonstrukt
oder Beschreibungssystem die Kraft besitzen soll, ein vor-
gängig vertrautes Faktum nachträglich zu erschüttern und
nur sor.ial fragmentiert stehen zu lassen; auf jeden Fall ist es
schwer vorstellbar, wie schon Je an-Pa ul Sartre in seinen »Be-
trachtungen zur Judenfrage« gezeigt hat, daß menschliche
Wesen auf rein intellektuellen Wegen dazu zu bringen sein
sollen 1 die personalen Eigenschaften der Mitglieder anderer
102
Sozialgruppen hartnäckig zu leugnen. 8 Wahrscheinlich ist es
daher auch in diesem Fall sinnvoller, dem Praxiselement bei
der Erklärung Rechnung zu tragen und von einem korrelati-
ven Zusammenspiel von vereinseitigter Praxis und ideologi-
schem Überzeugungssystem auszugehen: Die soziale Praxis
eines bloß distanzierten Beobachtens und instrumentellen
Erfassens anderer Personen wird in dem Maße verstetigt, in
dem sie durch verdinglichende Typisierungen kognitiv Un-
terstützung findet, wie umgekehrt jene typisierenden Be-
schreibungen dadurch motivationalen Nährstoff erhalten,
daß sie den passenden Interpretationsrahmen für die verein-
seitigte Praxis liefern. Auf diese Weise bildet sich ein Verhal-
tenssystems heraus, das es erlaubt, dje Mitglieder bestimm-
ter Personengruppen wie »Dinge« zu behandeln, weil ihre
vorgängige Anerkennung nachträglich wieder geleugnet
wird.
(3) Schon ihrer Struktur nach ist die Anerkennungsver-
gessenheit gegenüber anderen Personen so sehr von derjeni-
gen verschieden, die die Verleugnung des artikulationsfähi-
gen Charakters des eigenen Selbst aufweist, daß es höchst
unplausibel wäre, für beide Formen der Verdinglichung ein
und dieselbe soziale Verursachung anzunehmen. Zwar kön-
nen wir sowohl für die intersubjektive Verdinglichung als
auch für die Selbstverdinglichung unterstellen, daß sie nur
im Ausnahmefall vom Subjekt direkt intendiert und daher
im aUgemeinen eher durch die Teilnahme an bestimmten
Praktiken anonym erzeugt werden; aber das bedeutet eben
nicht, wie Luk:ks noch vorausgesetzt hat, daß es in beiden
Fällen dieselben Praktiken sind, die die Tendenz zur verding-
lichenden Einstellung fördern. Wie also könnten djejenigen
sozialen Praktiken beschaffen sein, die die Eigenschaft besit-
103
zen, eine Haltung der Selbstverd.inglichung hervorzubrin-
gen? Eine Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach, aber
ich wiU zum Schluß wenigstens die Richtung andeuten, in
der eine Antwort zu finden wäre.
Auch die individuelle Selbstbeziehung, so hatte ich zu zei-
gen veiSucht, setzt eine spezifische Art der vorgängigen An-
erkennung voraus, weil sie von uns verlangt, unsere Wün-
sche Ulld Absichten als artikulationsbedürftigen Teil unseres
eigenen Selbst zu verstehen; eine Tendenz zur Selbstverding-
lichung entsteht nach meiner Auffassung hingegen immer
dann, wenn wir diese vorauslaufende Selbstbejahung (wie-
der) zu vergessen beginnen, indem wir unsere psychischen
Empfindungen nur noch als entweder zu beobachtende oder
herzustellende Gegenstände begreifen. Es liegt daher a uf der
Hand, die Ursachen für solche selbstverdinglichenden Ein-
stellungen in sozialen Praktiken zu suchen, die im weitesten
Sinn mit der Selbstpräsentation von Subjekten zusammen-
hängen; zwar wird man sagen müssen, daß in allem sozialen
Handeln stets auch eine Bezugnahme auf die eigenen Wün-
sche Ulld Absichten erforderlich ist, aber es lassen sich durch-
aus institutionalisierte Felder von Praktiken ausmachen, die
funktional auf die Präsentation des eigenen Selbst zuge-
schnitten sind- Bewerbungsgespräche, bestimmte Dienstlei-
stungen oder organisierte Partnerverrnittl ungen sind hier nur
die zUllächst ins Auge springenden Beispiele. Der Charakter
derartiger Institutionen, die vom Einzelnen verlangen, sich
selber öffentlich darzustellen, kann in hohem Maß varüeren;
das emsprechende Spektrum dürfte von Einrichtungen, die
noch Raum für experimentelle Selbsterkundungen lassen,
bis zu institutionellen Arrangements reichen, die den Betrof-
fenen nur noch zur Simulierung bestimmter Absichten an-
halten. Meine Vermutung ist nun, daß die Tendenz zur per-
sonalen Selbstverdinglichung zunimmt, je stärker d1e Sub-
jekte in Institutionen der Selbstpräsentation einbezogen
sind, die den zuletzt genannten Charakter besitzen: Alle in-
stituti<Jnellen Einrichtungen, die die Individuen latent dazu
104
zwingen, bestimmte Empfindungen bloß vorzutäuschen
oder abschlußhah zu fixieren, fördern die Bereitschaft zur
Ausbildung selbstverdinglichender Einstellungen.
Als Beispiele für institutionalisierte Praktiken, die heute
eine solche Entwicklungsrichtung nehmen, können hler glei-
chermaßen das Bewerbungsgespräch oder die internet-
vermittelte Partnersuche stehen. Während Bewerbungsge-
spräche in früheren Zeiten zumeist die Funktion besaßen,
anband von schriftlichen Dokumenten oder abverlangten
Fähigkeitsbeweisen die Eignung eines Bewerbers für eine
spezifische Tätigkeit zu überprüfen, nehmen sie inzwischen
nach Auskunft der Arbeitssoziologie häufig einen ganz ande-
ren Charakter an: Sie ähneln zunehmend Verkaufsgesprä-
chen, weil sie vorn Bewerber verlangen, sein zukünftiges Ar-
beitsengagement möglichst überzeugend und effektvoll zu
inszenieren, anstatt über bereits erworbene Qualifikationen
zu berichten. 9 Diese Aufmerksamkeitsverlagerung von der
Vergangenheit in die Zukunft zwingt den Betroffenen mit
aller Wahrscheinlichkeit eine Perspektive auf, in der sie ihre
eigenen, arbeitsbezogenen Einstellungen und Empfindungen
als etwas zu begreifen lernen, das sie wie »Gegenstände « zu-
künftig hervorzubringen haben werden; und je häufiger ein
Subjekt solchen Inszenierungszumutungen ausgesetzt ist, de-
sto eher wird es die Tendenz entwickeln, alle seine Wünsche
und Absichten nach dem Muster beliebig manipulierbarer
Dinge zu erfahren. In die andere Richtung der Selbstverding-
Lichung, diejenige, in der die eigenen Empfindungen bloß
noch passiv beobachtet und registriert werden, weisen heure
hingegen die Praktiken, die mit der Benutzung des lotemers
als Mittel der Partnersuche entstanden sind: Hier zwingt die
Art der standardisierten Kontaktaufnahme die jeweiligen
Benutzer zunächst dazu, ihre Eigenschaften in dafür vorge-
9 Hinweise auf diese Entwicklungen verdanke ich Srephan Voswinkel, der
am Institut für Sozialforschung (Frankfun/M.) ein von der DFG finan-
ziertes Projekt zum Strukturwandel des Bewerbungsgesprächs durch-
führt.
ros
sehenc, skalierte Rubriken einzutragen, während <Z-ie nach
der Feststellung von sich hinreichend überlappenden Eigen-
schaftm dann als elektronisch ausgewählte Paare dazu an-
gehalten werden, über ihre Gefühle füreinander sich wech-
selseitig in schnellem Zeittakt von E-Mail-Nachrichten zu
informieren. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich aus-
zumaJen, wie auf cliesem Weg eine Form der Selbstbeziehung
gefördert wird, in der die eigenen Wünsche und Absichten
nicht mehr im Lichte persönlicher Begegnungen artikuliert,
sandem nach Maßgabe beschleunigter Informationsverar-
beitung nur noch erlaßt und gleichsam vermarktet werden
müssen.10
Diese Beispiele dürfen freilich nicht mit prognostischen
Aussagen verwechselt werden; sie dienen hier am Ende viel-
mehr einer Veranschaulichung der Wege, auf denen soziale
Praktiken die Herausbildung verdinglichender Einstellungen
beförd"'rn könnten. Keinesfalls handelt es sich dabei um em-
pirische Voraussagen, die es gestatten würden, das tatsäch-
liche Entreteil solcher Verdinglicbungsprozesse zu erklären;
nicht eine faktische Entwicklung, sondern die Logik mög-
licher Veränderungen ist es, was derartige Spekulationen zu
erhellen vermögen. Aber vielleicht läßt sich aus dem eigen-
tümlicnen Status dieser zum Schluß vorgetragenen Über-
legungen eine Konsequenz ziehen, die die gesamte Absicht
meines hier unternommenen Versuchs betrifft. Die Gesell-
schafukritik hat sich in den letzten drei Jahrzehnten im we-
sentlichen darauf beschränkt, die normative Ordnung von
Gesellschaften daran zu messen, ob sie bestimmten Prinzi-
pien der Gerechtigkeit genügen; dabei hat sie bei allen Erfol-
gen in er Begründung solcher Standards, bei aller Differen-
zierung der zugrundezulegenden Hinsichten aus den Augen
verlorm, daß Gesellschaften auch in einem anderen Sinn
normativ scheitern können als in der Verletzung von allge-
ro Vgl.etwa Elizabeth Jagger, • Marketing the Self, buying an other: Dar-
ing n a post modern cunsumer society«, in: Sociology. Journal of the
Briti;h Sociological Association, Jg. 32, H. 4, 1998, S. 79 5-814.
J06
mein gültigen Gerechtigkeitsprinzipien. Für solche Verfeh-
lungen, die sich wohl weiterhin am besten mit dem BegriH
der »sozialen Pathologien « bezeichnen lassen, 11 fehlt es in-
nerhalb der Gesellschaftskritik mittlerweile nicht nur an
theoretischer Aufmerksamkeit, sondern auch an halbwegs
plausiblen Kriterien. Mit dem Verweis auf die Tatsache, daß
demokratische Gesellschaften ihre eigene soziale und politi-
sche Ordnung primär unter Bezug auf Gerechtigkeitsstan-
dards überprüfen, kann diese Beschränkung nicht gerecht-
fertigt werden; denn auch die Deliberation in der demokra-
tischen Öffentlichkeit stößt immer wieder auf Themen und
Herausforderungen, die sie vor die Frage stellt, ob bestimmte
soziale Entwicklungen jenseits aller Gerechtigkeitserwägun-
gen allgemein für wünschenswert gehalten werden können.
Bei der Beantwortung solcher, häufig »ethisch« genannter
Fragen darf eine philosophisch inspirierte Gesellschafts-
kritik natürlich keine sakrosankte Deutungshoheit für sich
beanspruchen; aber sie kann mit sozialontologisch gestütz-
ten Hinweisen auf die Logik möglicher Veränderungen von
außen dazu beitragen, den Diskurs in der Öffentlichkeit mit
guten Argumenten zu versehen und auf diesem Wege zu sti-
mulieren. Mein Versuch, den Verdinglichungsbegrill von
Lukacs anerkennungstheoretisch zu reformulieren, verdankt
sich einer derartigen Aufgabenstellung; er ist nicht ohne Be-
sorgnis darüber geschrieben worden, daß unsere Gesell-
schaften eine Entwicklung nehmen könnten, die Luk:ks vor
achtzig Jahren mjt unzureichenden Mitteln und in weit über-
zogener Verallgemeinerung vorausgeahnt hat.
u Axel Honneth, " Pathologien des Sozialen«, in: ders., Das Artdere der
Gerechtigkeit. Aufsätze zm praktischen Philosophie, Frankfurt/M.
2.000, 5. u-69.
•
Namenregister
I09
Mercier, Pascal 8 5 Searle, John R. 84
Seel, Martin 69, 76
Neuhooser, Fred 1.7 Sirnmel, Georg n, 95 f.
Nietzs<he, Friedrich 8 5 Sparti, Davide 30, 54, 68
Nussbtum, Martha 14, 2.4 f., 9 5
Taylor, Charles I?
Piaget,jean 47 Tomasello, Michael 47, 49- SJ,
73
Quantt, Michael 17 Tugendhat, Ernst 42, 89