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In der Kritik der Urteilskraft hat Kant selbst schon eine Einheit von Einbildungskraft und
Verstand, eine Einheit auch der Subjekte vor dem Objekt gesehen; in der Erfahrung des
Schönen z. B. erfahre ich zwischen Sinnlichem und Begriff, zwischen mir und Anderen einen
Einklang, der selbst ohne Begriff ist. Hier ist das Subjekt kein universaler Denker eines
Systems streng verbundener Gegenstände, kein Setzungsvermögen, welches das Mannig-
Vgl. hierzu ausführlich Wagner 2008. Der vorliegende Text stellt eine Zusammenfassung
einiger zentraler Abschnitte dieses Buches dar.
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148 Astrid Wagner
faltige, um eine Welt zu bilden, dem Verstandesgesetz unterwirft; vielmehr entdeckt und fühlt
es sich selbst als Natur […]. Eignet jedoch dem Subjekt eine solche Natur, dann ist die ver-
borgene Kunst der Einbildungskraft auch Bedingung der kategorialen Aktivität, und in ihr
muß nicht nur das ästhetische Urteil, sondern auch die Erkenntnis noch gründen […].²
Mit dem durch Husserl inspirierten Konzept der fungierenden Intentionalität ent-
faltet Merleau-Ponty einen Zusammenhang, in dem die von Kant nur angedeuteten
Funktionen der Einbildungskraft im Schematisieren ohne Begriffe in eine phäno-
menologische Perspektive überführt werden. Dies kann angesichts der Verschie-
denheit der beiden Ansätze nicht ohne Kritik geschehen. Drei Kritikpunkte sind zu
prüfen, die Kants Konzeption im Kern treffen könnten: der erste bezieht sich auf
empiristische Auffassungen von Wahrnehmung als einem Konglomerat aus
Empfindungsdaten, der zweite richtet sich gegen ein intellektualistisches Ver-
ständnis der Wahrnehmung als Urteil, der dritte beklagt den fehlenden Weltbezug
des transzendentalen Subjekts.
Die Rede von ‚reiner Empfindung‘, so Merleau-Ponty, impliziere die Vorstel-
lung einer absoluten Verhältnislosigkeit und Identität mit dem eigenen Zustand.
‚Reine Empfindung‘ wäre eine Empfindung ohne qualifizierten Inhalt. In der
phänomenalen Erfahrung findet sich nichts, was diesem Begriff entspräche.
Vielmehr ist, wie die Gestaltpsychologie zeigt, das Einfachste, was der Mensch
sinnlich auffassen kann, eine Figur, so klein sie auch sei, auf einem Untergrund.
Diese basale Struktur von Figur und Hintergrund, nicht aber ein theoretisches
Konstrukt wie das der ‚Empfindungsdaten‘, müsse als Grundlage des Wahrneh-
mungsphänomens angesehen werden, als diejenige „notwendige Bedingung,
unter der überhaupt ein Phänomen als Wahrnehmung angesprochen zu werden
vermag“.³ Selbst die Wahrnehmung des eigenen Zustands, zum Beispiel im Fall
von Schmerzen, impliziert immer schon ein Verhältnis. Man versteht sich nicht als
identisch mit seinem Zustand, z. B. ist man in der Lage, den Schmerz zu lokali-
sieren. In phänomenaler Hinsicht ist der Begriff der reinen Empfindung somit
unsinnig.
Wird bereits das Konzept der Empfindungsdaten als problematisch angese-
hen, so gilt das konsequent auch für eine Zusammensetzung der Wahrneh-
mungsgegenstände aus diesen. Umriss, Gestalt, Figur und phänomenaler Sinn
müssten dann als eine Summe von Lokaldaten konzipiert werden, die nur durch
Übung im schnellen Übergang von einer Empfindung zur nächsten erfassbar
wären. Diese Beschreibung des Wahrnehmungsprozesses ist jedoch mit den Er-
kenntnissen der Gestalttheorie und der phänomenologischen Psychologie un-
Merleau-Ponty 1966, 14 f.
Merleau-Ponty 1966, 22.
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 149
vereinbar, denen zufolge auch in sehr einfachen Fällen von Wahrnehmung die
Struktur eines Ganzen den einzelnen Elementen erst ihre Besonderheit verleiht
und immer auch Komponenten relevant sind, die nicht als ‚Empfindungsdaten‘
gegeben sind. Vielmehr müsse man von einer Eigengesetzlichkeit des Wahrneh-
mungsfeldes ausgehen, in dem Mehrdeutigkeiten, Unbestimmtheiten, Schwan-
kungen und Einflüsse des Zusammenhangs eine konstitutive Rolle spielen.⁴
Das Konzept der Empfindungsdaten sieht Merleau-Ponty ebenso wie die Rede
von ‚Qualitäten‘ als Elementen des Bewusstseins in dem Glauben an die Existenz
einer unabhängigen und objektiven Welt begründet. Diese wissenschaftliche
Weltauffassung werde auf die ihr zugrunde liegende ‚vorwissenschaftliche‘
Wahrnehmungswelt projiziert. Selbst den in der Wahrnehmungspsychologie so
wichtigen Begriff der ‚Aufmerksamkeit‘ stellt er in diesen Zusammenhang. Sobald
man das Konzept verwende, um die charakteristische Unbestimmtheit und Dy-
namik des Wahrnehmungsfeldes als Folgeerscheinung fehlender Aufmerksamkeit
zu qualifizieren, habe es keine andere Funktion als die einer „hypothetische[n]
Hilfskonstruktion, erfunden, das Vorurteil der objektiven Welt zu retten“, die
Annahme einer fertig vorliegenden Welt äußerer oder innerer Tatsachen, die es
nur richtig zu erfassen gilt.⁵ Stattdessen sollte Unbestimmtheit als grundlegendes
Charakteristikum des Wahrnehmungsphänomens anerkannt werden. Vor diesem
Hintergrund erscheint der klassische Begriff der Empfindung zusammen mit den
ihn integrierenden Konzepten (Sinnesdatum, Empfindungsqualität, Sinnesreiz,
Impression) als Spätprodukt eines gegenstandstheoretischen Denkens in der
zweifelhaften Absicht der Begründung einer objektiven Wissenschaft der Sub-
jektivität. Merleau-Ponty zufolge kommt es einem Kategorienfehler gleich, wenn
man die phänomenale Wahrnehmungswelt mit den Kategorien der wissen-
schaftlichen Welt analysiert.
Begeht auch Kant einen solchen Fehler, wenn er die Gesetzmäßigkeit der Welt
der Erscheinungen durch einen Rückgang in die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu
ergründen sucht? Anhand von zwei Punkten sei verdeutlicht, dass dies nicht der
Fall ist.
Es sei angemerkt, dass Merleau-Ponty sich an diesem Punkt nicht nur von diversen empiris-
tischen Konzeptionen von Wahrnehmung als Empfindung, sondern auch von den frühen und
mittleren Auffassungen des von ihm hoch geschätzten Edmund Husserl absetzt, der hinsichtlich
des intendierenden Bewusstseins (noesis) eine Unterscheidung zwischen intentionalen Be-
wusstseinszuständen und bloßen Empfindungsdaten als deren ‚Träger‘ vornimmt.
Merleau-Ponty 1966, 24. Es muss allerdings angemerkt werden, dass Merleau-Ponty diesem
‚Missbrauch‘ des Konzepts der Aufmerksamkeit ein neues Verständnis von Aufmerksamkeit
entgegensetzt, das er an späterer Stelle entwickelt: vgl. Merleau-Ponty 1966, 50 ff.
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150 Astrid Wagner
Die Empfindungen sind also gewiß Kunstprodukte, aber doch auch nicht willkürlich, sie sind
diejenigen letzten Unterganzen, in welche die natürlichen Gestalten durch ‚analytische
Einstellung‘ zerfallen können. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet tragen sie also zur
Kenntnis der Gestalten bei […].⁶
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 151
[…] es ist eben dies das phänomenale Wesen des Wahrnehmungsaktes, die Konstellation des
Gegebenen mit dem es verbindenden Sinn in eins schöpferisch erst entstehen zu lassen: nicht
bloß den Sinn zu entdecken, den es hat, sondern ihm einen Sinn erst zu geben.¹⁰
Diese ‚schöpferische Sinngebung‘ vollziehe sich nicht nach den Regeln der Ur-
teilsstruktur, nicht propositional oder prädikativ, sondern nach den Regeln einer
eigenen ‚Wahrnehmungssyntax‘, die jeder objektiven Beziehung bereits als
Grundlage diene.
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152 Astrid Wagner
Diese ‚Eigengesetzlichkeit‘ rückt allerdings erst mit der Kritik der Urteilskraft explizit ins
Zentrum des kantischen Interesses. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass auch in der Anthropo-
logie, in der die Leistungen und Funktionen der Einbildungskraft breit thematisiert werden, von
einer Strukturierung der sinnlichen Erscheinung ausgegangen wird, die nicht notwendig schon
einer expliziten Urteilsstruktur unterliegt. Deutlich wird dies zum Beispiel in Kants Stellungnahme
zur Frage der Möglichkeit einer Täuschung durch die Sinne, worin eine Verwechslung des ‚Sub-
jektiven der Vorstellungsart‘ mit dem Objektiven der Erfahrung zur Erklärung für die mögliche
Falschheit der Urteile herangezogen wird: „Die Sinne betrügen nicht. Dieser Satz ist die Ablehnung
des wichtigsten, aber auch, genau erwogen, nichtigsten Vorwurfs, den man den Sinnen macht;
und dieses darum, nicht weil sie immer richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht urtheilen;
weshalb der Irrthum immer nur dem Verstande zu Last fällt.“ (AA VII, Anthropologie in prag-
matischer Hinsicht, 146). Diese Überlegung deckt sich mit der Auffassung Merleau-Pontys, der
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 153
Gäbe es die in der Hypothese geforderte Konstanz der Verknüpfung von Reiz und
Wahrnehmungselement, ließe sich nicht erklären, warum die Knoten des Netz-
gitters bei der Bewegung der Augen über das Bild mal weiß aufleuchten, mal
schwarz erscheinen und mal schwarz mit einer weißen Umrandung sichtbar sind,
und dies nicht in beliebiger Abfolge, sondern in Abhängigkeit von der Fokus-
sierung des Blicks.
Merleau-Ponty würde nicht sagen, dass es in Fällen von ‚optischer Täuschung‘
zu einer ‚falschen Wahrnehmung‘ kommt. Vielmehr ‚sind‘ im Falle der zöllner-
schen Täuschung die Linien als Wahrnehmungsobjekte gegeneinander geneigt,
zufolge die Wahrnehmung in ihrer Phänomenalität nicht der prädikativen Unterscheidung von
wahr und falsch unterliegt.
Bei diesem Effekt handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Hermann-Gitters (vgl. dessen
Beschreibung in Hermann 1870) oder auch Hering-Gitters (vgl. Hering 1920). Man nennt die Grafik
in der neueren Literatur Scintillation Grid oder Szintillierendes Gitter (vgl. hierzu Ehrenstein/
Lingelbach 2002, 262– 268).
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154 Astrid Wagner
So bin ich selbst mein Leib, zumindest in dem Maße, in dem ich einen Erwerb mein Eigen
nenne, und umgekehrt ist mein Leib wie ein natürliches Subjekt, wie ein vorläufiger Entwurf
meines Seins im ganzen. So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung
der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit
aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der
Idee, nicht in Wirklichkeit gibt.¹⁵
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 155
Wenn Merleau-Ponty vom Leib als ‚natürlichem Subjekt‘ spricht, sollte das nicht
im Sinne eines expliziten oder objektive Erfahrung konstituierenden Selbstbe-
wusstseins verstanden werden.¹⁶ Vielmehr bedinge die Leiblichkeit die Form
unseres Zur-Welt-seins, ‚verankere‘ uns in der Welt, eröffne Situationen, die ein
Verhalten erfordern. Der Begriff des Verhaltens wird ausgedehnt bis in den Bereich
der instinktiven Reaktionen und Reflexe.¹⁷ Schon daran wird deutlich, wie der
Rekurs auf die Strukturen des phänomenalen Feldes und in einem zweiten Schritt
auf den existenziellen Modus des ‚Zur-Welt-seins‘ die klassische Entgegensetzung
von Leib und Seele, Materie und Bewusstsein, unterläuft. Tief liegende intentio-
nale Muster und Sinnstrukturen werden so bereits in dem üblicherweise phy-
siologisch beschriebenen Bereich körperlicher Reflexe ‚diagnostiziert‘.
Die ihm eigene präobjektive Sicht unterscheidet das Zur-Welt-sein von jedem Prozeß dritter
Person,von jederlei Modus der res extensa,wie auch von jederlei cogitatio, jeder Erkenntnis in
erster Person: so vermöchte es zwischen „Psychischem“ und „Physiologischem“ eine Brücke
zu schlagen.¹⁸
Diese ‚präobjektive‘ Sicht ist immer schon intentional, motiviert und erfordert eine
Ausrichtung auf die Welt, eine Form von Aufmerksamkeit, deren Wirken nunmehr
neu definiert ist durch die Schaffung, Konkretisierung und Präzisierung eines
perzeptiven Feldes. Die durchgängige Intentionalität der Wahrnehmung ist ge-
koppelt mit Formen des Verhaltens in der Welt und motiviert die Motorik des
Leibes dergestalt, dass sich ‚Bewegungsgewohnheiten‘ herausbilden, die an un-
seren alltäglichen Handgriffen, an dem sicheren Gang durch Türen und über
Treppen oder am Steuern eines Fahrzeugs durch den Straßenverkehr ablesbar
sind. Bewegungsgewohnheiten prägen und erweitern das Körperschema indivi-
duell und konstituieren den ‚habituellen Leib‘ in Abhängigkeit von häufig auf-
tretenden situativen Erfordernissen. So lässt sich erklären, dass auch nicht mehr
vorhandenen Gliedern instinktiv eine Funktion im Zusammenhang der Gesamt-
motorik des Leibes zugeordnet wird, die sie nicht mehr übernehmen können, dass
das fehlende Bein des Amputierten im Vollzug eines habituellen Verhaltensan-
satzes als fungierender Bestandteil des Körpers gefühlt wird.¹⁹ Diese auf unseren
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156 Astrid Wagner
führt erklärend weiter aus: „Die aus dieser verschwundenen hantierenden Gesten bleiben in jener
erhalten, und die Frage, wie ich mich im Besitz eines Gliedes fühlen kann, das ich in Wirklichkeit
nicht mehr besitze, ist schließlich die Frage, wie der habituelle Leib den aktuellen Leib zu ge-
währleisten vermag.“ (Merleau-Ponty 1966, 107).
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 157
Merleau-Ponty stützt sich in seinen Ausführungen zur Synästhesie (Merleau-Ponty 1966, 264–
275) vor allem auf psychologische Studien der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts (Gelb,
Goldstein, Werner, Zietz u. a.), eine der intensivsten Phasen der Synästhesie-Forschung. Auch die
zahlreichen, vor allem den Verhältnissen und Wechselwirkungen von Farbe und Ton gewidmeten
Studien von Georg Anschütz, die Merleau-Ponty überraschenderweise unerwähnt lässt, wurden in
dieser Zeit publiziert (zum Beispiel die Grundlagenbände Farbe-Ton-Forschungen, Anschütz
1927 ff.).
Erst seit wenigen Jahren ist das Phänomen der Synästhesien wieder verstärkt in den Fokus der
Forschung getreten. Während die diesbezüglichen Forschungen des frühen 20. Jahrhunderts vor
allem auf Fragestellungen der Psychologie bezogen waren, wird das Thema in der neueren For-
schung aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven untersucht. Hier sei nur auf einige ausge-
wählte Publikationen neueren Datums verwiesen: 1. im Bereich der Musikwissenschaft und
Musikpsychologie (de la Motte-Haber 1999); 2. in den Bereichen der Psychologie, Gehirnforschung
und klinischen Psychiatrie (Emrich/Schneider/Zedler 2002); 3. im Bereich der Semiotik (Posner/
Krampen/Schmauks 2002); 4. in allgemeiner Darstellung (Adler 2002). Trotz des Aufschwungs der
Wahrnehmungsphilosophie und der möglichen Relevanz für ästhetische Studien ist das Thema in
der Philosophie nur spärlich bearbeitet. Einer der wenigen, die sich philosophisch mit diesen
Phänomenen beschäftigt haben, ist Theodor W. Adorno (Adorno 1967).
Der experimentelle Umgang mit Drogen in der Absicht, ein tieferes Verständnis der Wahr-
nehmung zu erlangen und dieses dichterisch zu nutzen, war zunächst vor allem dem künstleri-
schen Geist der Romantik geschuldet. Die literarische Verarbeitung von Rauschphänomenen
findet sich zum Beispiel bei E.T.A. Hoffmann. Explizit widmete sich der literarische Kreis um
Charles Baudelaire der dichterischen Umsetzung von Rauscherfahrungen (Verlaine, Rimbaud
u. a.). Eines der eindrucksvollsten Produkte dieses Schaffens ist das in Baudelaires Les Fleurs du
Mal (1857) enthaltene Sonnett „Correspondances“, das in lebhaften Metaphern synästhetische
Erlebnisse sprachlich umsetzt und angesichts dessen man von einer synästhetischen Grundlage
der Metaphorik sprechen möchte. Ein literarisches Zeugnis synästhetischer Erfahrungen geben
auch Aldous Huxleys auf Meskalin-Experimente zurückgehende Essays The Doors of Perception
(1954) und Heaven and Hell (1956).
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158 Astrid Wagner
und zum Teil explizit so intendiert sind. Sie zeichnen sich nicht zufällig durch eine
außergewöhnlich expressive Sprache und hohe Metapherndichte aus.
Für Merleau-Ponty sind die Synästhesien in zwei Hinsichten wichtig: Erstens
sind sie ein deutliches Zeichen für eine holistisch zu beschreibende primordiale
Einheit der Sinnesempfindung, die der Teilung in einzelne Sinnesfelder vorgängig
ist. So lassen sich in Abhängigkeit davon, wie weit man sich von der primordialen
Ebene objektivierend distanziert oder umgekehrt auf sie einzulassen vermag,
unterschiedliche Empfindungstypen unterscheiden: im Bereich der Farben bei-
spielsweise von der klar definierten Oberflächenfarbe eines Gegenstandes, über
die eher diffuse umgebende atmosphärische Raumfarbe, bis hin zur Farbe, die als
Vibrieren des eigenen Blicks empfunden wird, oder schließlich zu einer nicht mehr
im engeren Sinne einer Qualität als Farbe zu qualifizierenden Empfindung der
Modifikation des eigenen leiblichen Zustandes.
In der Kunst ist die gesamte Bandbreite dieser Empfindungsformen realisiert,
teilweise explizit thematisiert und experimentell erprobt. So spielen die beiden
letztgenannten Varianten eine wesentliche Rolle in den mit chromatischen
Strukturen, Übergängen und Zuständen spielenden, ‚vibrierenden‘ Ölbildern von
Mark Rothko, die atmosphärische Raumfarbe hingegen in pointillistischen Bil-
dern von Georges Seurat oder in den atmosphärisch dichten Gemälden Jan Ver-
meers, die Oberflächenfarbe besonders deutlich in den Südseebildern von Paul
Gauguin. Für die Musik ließe sich eine ähnliche exemplarische Liste erstellen.
Zweitens benutzt Merleau-Ponty die Synästhesien, um zu zeigen, dass die
ihrer eigenen ‚Logik‘ folgenden Sinnesfelder einer Synchronisation bedürfen, die
durch tief liegende Funktionen des Leibes gewährleistet wird und im Zuge der
leiblichen Orientierung in der Welt erlernt wird. So erklärt sich, dass blind Ge-
borene, die nach einer Operation das Sehvermögen erlangt haben, die ‚Logik‘ des
Blicks und die Koordination der verschiedenen Sinnesfelder erst erlernen müssen,
erst erfahren müssen, dass man beispielsweise Lichtstrahlen nicht ertasten kann,
was bedeutet, dass sie ein adäquates Wahrnehmungsverhalten in Auseinander-
setzung mit der Lebenswelt erproben und entwickeln müssen. Diese pragmatische
Komponente, die menschliche Wahrnehmung an praktische und affektive Stel-
lungnahmen eines lebendigen Subjekts zur Welt koppelt und damit als intentional
auszeichnet, ist im Werk Merleau-Pontys nicht zu unterschätzen.
Will man verstehen, was es heißt wahrzunehmen, wodurch in der Wahr-
nehmung die Identifikation von Gegenständen erfolgt und wie sie verbunden ist
mit der expliziten Setzung, Beschreibung und Beurteilung von Objekten, will man
verstehen, wie die primordialen Leiberfahrungen und die präobjektive Wahr-
nehmung zusammenhängen mit der Wahrnehmung der uns vertrauten mensch-
lichen Kulturwelt, so gilt es, den Übergang vom phänomenalen zum transzen-
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 159
dentalen Feld zu vollziehen.²² Dies geschieht explizit im dritten Teil der Phäno-
menologie der Wahrnehmung.
Merleau-Ponty kombiniert also die phänomenologische Feld- oder Struktur-
analyse mit einer transzendentalphilosophischen Perspektive, die er in An-
knüpfung an Husserl mit dem Terminus ‚radikale Reflexion‘ belegt. Sie ist radikal,
insofern sie sich in allen Überlegungen der eigenen Perspektivität, der Veranke-
rung in einem individuellen Subjekt, bewusst zu bleiben bemüht und indem sie
sich der Setzung eines absoluten Bewusstseins oder eines transzendentalen
Subjekts strikt verweigert. Und damit ist zugleich der Hauptkritikpunkt Merleau-
Pontys an der kantischen Philosophie benannt, dass nämlich das transzendentale
Ich letztlich ein ‚weltloses‘ Subjekt bezeichne, dessen Zusammenhang mit der
Grunderfahrung des leiblichen Zur-Welt-seins, gar in einem sozialen Kontext,
schwerlich zu konstruieren sei.²³ Und so macht er es sich zur Aufgabe, den
transzendentalphilosophischen Teil seiner Phänomenologie der Wahrnehmung
im Kontext des Zusammenhanges von Ich und Welt, als eine Reflexion auf die
Bedingungen des Zur-Welt-seins zu entfalten.
Merleau-Pontys Kritik an Kants Konzeption des transzendentalen Subjekts ist
aus seiner Perspektive durchaus berechtigt, denn die ursprüngliche Einheit der
Apperzeption fungiert in der Tat als eine der „allgemeine[n] Bedingungen der
Möglichkeit einer Welt für ein Ich überhaupt“²⁴ und geht damit deutlich über die
individuelle Perspektive eines bestimmten reflektierenden Ich hinaus. Aber das
für Kant so grundlegende „ich denke“ ist mehr als nur eine allgemeine Bedingung
der Selbstzuschreibung möglicher mentaler Zustände überhaupt, sondern es ist
ein fungierender Akt der Verbindung, der „alle meine Vorstellungen [muss] be-
gleiten können“ (KrV B 131) und damit im konkreten Fall immer schon bezogen auf
individuelle, inhaltliche Vorstellungen und Zustände. Die Trennung der ‚reinen‘
oder ‚ursprünglichen Apperzeption‘ vom konkreten empirischen Selbstbewusst-
sein ist eine transzendental-logische und heuristische.²⁵
Macht man die Leistungen der produktiven und vor allem der freien, subjektiv
reflektierenden Einbildungskraft stark, so wie es in der Kritik der Urteilskraft er-
folgt, wird der vorgebrachte Kritikpunkt noch deutlicher aufgefangen. In Entfal-
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160 Astrid Wagner
tung der dort angelegten Perspektive könnte man erwidern: Es ist die Einbil-
dungskraft, kraft derer wir immer schon ‚zur Welt sind‘.Vor diesem Hintergrund ist
es aufschlussreich, dass im Zentrum der transzendental-phänomenologischen
Passagen der Phänomenologie der Wahrnehmung eine Analyse der Zeitlichkeit
steht, auf der die anderen Kapitel des Schlussteils, dem Bewusstsein und der
Freiheit gewidmet, systematisch aufruhen. Merleau-Ponty möchte die „[…] in je-
dem Begriff der Zeit schon vorausgesetzte Zeit in statu nascendi, im Ursprung ihres
Erscheinens selbst, zur Auslegung bringen, eine Zeit, die nicht Gegenstand un-
seres Wissens, sondern eine Dimension unseres Seins ist.“²⁶
So betrachtet er die Zeit weder als absolute, noch als Eigenschaft der Ge-
genstände, noch als immanenten Gegenstand des Bewusstseins, sondern als Form
des Engagements des Subjekts in der Welt, immer in Bildung begriffen, niemals
vollständig konstituiert, letztlich als den Vollzug des Lebens selbst. Dies ermög-
licht, das Phänomen der Zeit bis in die Ebene der primordialen Wahrnehmung und
der Leiblichkeit hinein bzw. aus dieser heraus verständlich zu machen.
Ausgangspunkt ist die gegenwärtige Zeiterfahrung, beschrieben als ein Prä-
senzfeld, in dem sich die Horizonte von Vergangenheit und Zukunft überlagern
bzw. als sukzessiv sich überlagernde, das Präsenzfeld ständig modulierende
Abschattungen präsent sind, als ein ‚Geflecht von Intentionalitäten‘. Die inten-
tionalen Horizonte von Vergangenheit und Zukunft sind nicht als explizite Erin-
nerungen und bewusste Projektionen zu verstehen. Ins Gedächtnis gerufene
Vorstellungen und auf Induktion gestützte Prognosen sind natürlich möglich, aber
sie basieren bereits auf dem Phänomen des lebendigen Zeitvollzugs, das Merleau-
Ponty zu erfassen sucht. Die vergangenen Momente der Zeit bleiben präsent in der
aktuellen Gegenwartserfahrung, modifizieren und prägen sie, sind noch ‚im Griff‘,
ebenso wie die unmittelbaren Erwartungshorizonte als ein ständiges und un-
mittelbares ‚Ausgreifen‘ aus der aktuellen Situation auf die Zukunft hin angesehen
werden können. Die Zeit wird beschrieben als eine einzige vorrückende, zentri-
fugale Bewegung, als ein ‚Ablaufsphänomen‘, das nicht durch explizite Ver-
knüpfungen einzelner Phänomene erklärt werden kann, sondern als dichtes Netz
von Retentionen und Protentionen, die in einer Gesamtbewegung des Überganges
einander permanent modulieren.
[D]ie „Synthesis“ der Zeit ist eine Übergangssynthese, die Bewegung eines sich entfaltenden
Lebens, und sie ist auf keine Weise zu vollziehen denn durch das Leben dieses Lebens […].
Allein die Zeit als ungeteilter Andrang und Übergang vermag die Zeit als Mannigfaltigkeit des
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 161
Dies ist das Phänomen der ‚erlebten‘ Zeit, und diese Zeit, so die zentrale These, ist
nicht zu trennen von der Subjektivität selber. Subjektivität ist Zeitlichkeit – Zeit ist
Subjektivität. Die so verstandene Subjektivität ist keine absolute Spontaneität,
welche Zeit erst konstituiert, sondern umgekehrt wird Zeit verstanden als
Grundlage der Spontaneität. In der Zeit als ‚passiver Synthesis‘ gründet der Zu-
sammenhang der vorgefundenen Dichte unseres leiblichen Erlebens, des Sich-
befindens in Situationen, mit dem immer schon bestehenden Engagiertsein in
diesen, mit der fungierenden Intentionalität, die jeder gelebten Zeit, jedem Zeit-
vollzug bereits einen Sinn verleiht.
Das als Zeitlichkeit qualifizierte Subjekt ist notwendig leiblich in der Welt
verankert. Indem es in Situationen engagiert ist, vollzieht es die Zeit, erlebt es Zeit.
Und das intentionale Geflecht der zeitlichen Dimensionen ist nichts anderes als
sein eigener Lebenszusammenhang, der sich in Form einer ‚Übergangssynthese‘
immer neu entfaltet und konstituiert. Hier schließt sich nun der Kreis und man ist
zurückverwiesen auf die in der Leiblichkeit gründende primordiale Ebene der
Wahrnehmung. Und es erweist sich als kohärent, dass Merleau-Ponty den Leib als
eine Art ‚natürliches Subjekt‘ auffasste, das sich der reflexiven Subjekt-Objekt-
Trennung hartnäckig widersetzt. In der primordialen Wahrnehmung koinzidieren
Sein und Bewusstsein im Präsenzfeld der Gegenwart, man könnte auch sagen als
Bewusstsein der Gegenwart. So verstandenes Bewusstsein geht immer schon
einher mit einer individuellen Situierung in der Welt, ist immer auch ein ‚Sein zu
…‘, ist von Grund auf intentional.²⁸
Nun ist auch erklärbar, dass Wahrnehmungsgegenstände vor jeder objektiven
Betrachtung und Setzung von Kausalbezügen strukturiert, gestalthaft und iden-
tifizierbar sind. Die räumlichen und zeitlichen Horizonte, Retentionen und Pro-
tentionen, gewährleisten die Identität der Gegenstände in der Wahrnehmung, die
mittels der Horizonte auch dann noch präsent bleiben, wenn sie nicht mehr im
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162 Astrid Wagner
Der thetischen oder Akt-Intentionalität zugrunde liegend als ihre Bedingung der Möglichkeit
fanden wir eine vor aller These und allem Urteil schon am Werke seiende fungierende In-
tentionalität – als einen „Logos der ästhetischen Welt“, „eine verborgene Kunst in den Tiefen
der menschlichen Seele“, die, wie eine jede Kunst, sich zu erkennen gibt nur in ihren Er-
gebnissen.³⁰
Die Lösung aller Transzendenzprobleme liegt in der Dichtigkeit der vorobjektiven Gegenwart,
in der wir unsere Leiblichkeit, unsere Sozialität und die Präexistenz der Welt finden, d. h. aber
den Ansatzpunkt aller irgend legitimen „Erklärungen“ – und in eins die Grundlage unserer
Freiheit.³²
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Vom „Schematisieren ohne Begriffe“ zur „fungierenden Intentionalität“ 163
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