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BETRACHTUNGEN

EINES UNPOLITISCHEN

Que diable allait-it faire dans cette galère?


Molière, ›Les Fourberies de Scapin‹

Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!


Goethe, ›Tasso‹

Zweite, durchgesehene Auflage


© 1960. 1974 S. F i s c h e r V e r l a g G m b H , F r a n k f u r t am M a i n
G e s a m t h e r s t e l l u n g : Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Printed in Germany
l e i n e n ISBN 3 1 0 0 4 8 1 7 7 1
Leder ISBN 3 1 0 7 4 8 1 0 1 7
VORREDE

Als ich im Jahre 1915 das Büchlein ›Friedrich und die große
Koalition‹ dem Publikum übergeben hatte, glaubte ich, »dem
Tag und der Stunde« meine Schuld entrichtet zu haben und
mich den künstlerischen Unternehmungen, die ich vor Aus-
bruch des Krieges eingeleitet, auch im Toben der Zeit wieder
widmen zu können. Das erwies sich als Irrtum. Wie Hundert-
tausenden, die durch den Krieg aus ihrer Bahn gerissen, ›ein-
gezogen‹, auf lange Jahre ihrem eigentlichen Beruf und Ge-
schäft entfremdet und ferngehalten wurden, so geschah es auch
mir; und nicht Staat und Wehrmacht waren es, die mich ›ein-
zogen‹, sondern die Zeit selbst: zu mehr als zweijährigem
Gedankendienst mit der Waffe, — für welchen ich am Ende
meiner geistigen Verfassung nach so wenig geschickt und ge-
boren war, wie mancher Schicksalsgenosse nach seiner physi-
schen für den wirklichen Front- oder Heimatdienst, und von
welchem ich heute, nicht gerade im besten Wohlsein, ein
Kriegsbeschädigter, wie ich wohl sagen muß, an den verwaisten
Werktisch zurückkehre.
Die Frucht dieser Jahre — aber ich nenne das keine ›Frucht‹,
ich rede besser von einem Residuum, einem Rückstand und
Niederschlag oder auch einer Spur, und zwar, die Wahrheit zu
gestehen, einer Leidensspur — das Bleibsel dieser Jahre also,
um den stolzen Begriff des Bleibens zu einem Substantiv nicht
allzu stolzen Gepräges zurechtzubiegen, ist vorliegender Band:
welchen ein Buch oder Werk zu nennen ich mich aus guten
Gründen wiederum hüte. Denn eine zwanzigjährige, nicht ganz
gedankenlose Kunstübung hat mich immerhin vor dem Be-
griff des Werkes, der Komposition zu viel Achtung gelehrt, als
daß ich diesen Namen in Anspruch nehmen könnte für einen
Erguß oder ein Memorandum, ein Inventar, ein Diarium oder
eine Chronik. Um dergleichen aber, um ein Schreib- und
Schichtwerk, handelt es sich hier, — obgleich der Band sich

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zuweilen, mit halbem Recht übrigens, als Komposition und als Künstler, wie ich glaube, zuweilen Nutzen gezogen habe.
Werk präsentiert. Mit halbem Recht: Ein organischer und im- Sie zeitigte aber von jeher den bedenklichen Nebenhang, un-
mer gegenwärtiger Grundgedanke wäre aufzuweisen, — wenn mittelbar-schriftstellerisch, kritisch, polemisch auf solche Reize
es nicht eben nur das schwankende Gefühl eines solchen wäre, zu reagieren, und zwar auch dann, ja gerade dann, wenn nicht
von dem allerdings das Ganze durchdrungen ist. Man könnte nur ein äußerer Hautkitzel in Frage stand, sondern wenn ich
von ›Variationen über ein Thema‹ sprechen, wenn dieses von innen her in gewissem Grad an dem Wahrgenommenen
Thema nur eben präzisere Gestalt gewonnen hätte. Ein Buch? teilhatte: eine rein literarische Streitbarkeit oder Streitsucht,
Nein, davon kann nicht die Rede sein. Dies Suchen, Ringen beruhend auf dem Bedürfnis nach Gleichgewicht und darum
und Tasten nach dem Wesen, den Ursachen einer Pein, dies ihrerseits wieder zur erbosten Einseitigkeit nur allzu ent-
dialektische Fechten in den Nebel hinein gegen solche Ur- schlossen, — ohne daß bei alldem die kritische Erkenntnis hin-
sachen, — es ergab natürlich kein Buch. Denn unter diese länglich bewußtseinsfähig, des Wortes, der Analyse fähig,
Ursachen zählte unzweifelhaft ein widerkünstlerischer und un- intellektuell reif genug wäre, um auf essayistische Erledigung
gewohnter Mangel an Stoffbeherrschung, wovon auch das ernstlich hoffen zu können. So, meine ich, entstehen Künstler-
deutliche und beschämende Bewußtsein immerfort rege war schriften.
und aus Instinkt durch eine leichte und souveräne Sprechweise Künstlerwerk sind diese Abhandlungen ferner in ihrer Un-
verhehlt werden sollte .. . Trotzdem, wie ein Kunstwerk Form selbständigkeit, ihrem Hilfs- und Anlehnungsbedürfnis, ihrem
und Anschein einer Chronik haben kann (was ich aus Er- unendlichen Zitieren und Anrufen starker Eideshelfer und
fahrung weiß), so kann am Ende eine Chronik auch Form und ›Autoritäten‹ — diesem Ausdruck schwelgender Dankbarkeit
Anschein eines Kunstwerkes haben; und so zeigt denn dies für empfangene Wohltat und des kindischen Triebes, dem
Konvolut, gelegentlich wenigstens, den Ehrgeiz und Habitus Leser all das wörtlich aufzudrängen, was man sich zum Troste
eines Werkes: es ist ein Mittelding zwischen Werk und Erguß, erlas, statt es den stummen und beruhigenden Untergrund
Komposition und Schreiberei, — wenn auch sein Existenzpunkt der eigenen Rede bilden zu lassen. Übrigens scheint mir, daß
so wenig genau in der Mitte, in Wahrheit so viel mehr nach bei aller Zügellosigkeit dieser Begierde ein gewisser musischer
der Seite des Nicht-Künstlerischen liegt, daß man besser tut, Takt und Geschmack in ihrer Befriedigung am Werke war:
es trotz seiner komponierten Kapitel als eine Art von Tage- Das Zitieren wurde als eine Kunst empfunden, ähnlich der-
buch zu nehmen, dessen frühe Teile aus den Anfängen des jenigen, den Dialog in die Erzählung zu spannen, und mit
Krieges und dessen letzte Abschnitte etwa von der Jahres- ähnlich rhythmischer Wirkung zu üben gesucht. ..
wende 1917/18 zu datieren sind. Künstlerwerk, Künstlerschrift: Es redet hier einer, der, wie
Wenn aber diese Aufzeichnungen kein Kunstwerk sind, so es im Texte heißt, nicht gewohnt ist, zu reden, sondern reden
sind sie es am Ende darum nicht, weil sie, als Aufzeichnungen zu lassen, Menschen und Dinge, und der also reden ›läßt‹
und Betrachtungen, nur allzusehr Künstlerwerk, Werk eines auch da noch, wo er unmittelbar selber zu reden scheint und
Künstlertums sind, — denn das sind sie in der Tat auf mehr als meint. Ein Rest von Rolle, Advokatentum, Spiel, Artisterei,
eine Weise. Sie sind es zum Beispiel als Erzeugnis einer gewis- Über-der-Sache-Stehen, ein Rest von Überzeugungslosigkeit
sen unbeschreiblichen Irritabilität gegen geistige Zeittenden- und jener dichterischen Sophistik, welche den Recht haben
zen, einer Reizbarkeit, Dünnhäutigkeit und Wahrnehmungs- läßt, der eben redet, und der in diesem Falle ich selbst war, —
nervosität, die ich von jeher an mir kannte und aus der ich ein solcher Rest blieb zweifellos überall, er hörte kaum auf,
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halb bewußt zu sein, — und doch war jeden Augenblick, was Warum mir die Galeere, während andere frei ausgingen? Ich
ich sagte, wahrhaftig meines Geistes Meinung, meines Her- weiß ja wohl, daß Künstler aller Art, soweit eben ihre phy-
zens Gefühl. Es ist meine Sache nicht, die Paradoxie dieser sische Person vom Kriege verschont blieb, und auch, wenn die
Mischung von Dialektik und wirklich, redlich sich mühendem Krisis und Zeitwende sie auf ungefähr derselben Altersstufe
Wahrheitswillen zu lösen. Daß es mir ernst war, dafür bürgt betraf wie mich, in ihrer Produktion durch sie überhaupt
zuletzt das Dasein selbst dieses Buches. nicht oder nur ganz vorübergehend gehemmt wurden. Werke
Denn ich wünschte wohl, sein feuilletonisierender Ton der Schönen Literatur wie der Musik und der bildenden Kunst
täuschte niemanden darüber, daß es die schwersten Jahre sind in diesen vier Jahren geschaffen und veröffentlicht wor-
meines Lebens waren, in denen ich es aufhäufte. Künstlerwerk den, haben ihren Urhebern Dank, Ruhm und Glück gebracht.
und kein Kunstwerk, ja; denn es entstammt einem in seinen Jugend kam an und wurde begrüßt. Aber auch Künstler auf
Grundfesten erschütterten, in seiner Lebenswürde gefährdeten höherer Lebensstufe, einer höheren sogar als der meinen, reg-
und in Frage gestellten Künstlertum, einem krisenhaft ver- ten sich fort, führten zu Ende, was sie unternommen, gaben
störten Zustande dieses Künstlertums, der sich zu jeder an- das schon Gewohnte, für ihre Kultur, ihr Talent Charakte-
deren Art von Hervorbringung als völlig ungeeignet erweisen ristische, und fast schien es, als wären ihre Erzeugnisse desto
müßte. Die Einsicht, aus der es erwuchs, die seine Herstellung willkommener, je weniger sie von den Geschehnissen berührt
als unumgänglich erscheinen ließ, war vor allem die, daß jedes erschienen und daran erinnerten. Denn die Nachfrage des
Werk sonst intellektuell wäre überlastet worden, — eine zu- Publikums nach Kunst war ja sogar gesteigert, seine Dank-
treffende Erwägung, die aber der wahren Sachlage noch nicht barkeit für das freie Werk lebhafter als sonst, die Aussicht
gerecht wurde; denn in Wahrheit hätte ein Fortarbeiten an auf jede Art Lohn, auch den materiellen, besonders günstig.
jenen Dingen sich als ganz unmöglich erwiesen und erwies Was ich da sage, ist eine captatio benevolentiae, und ich
sich, bei wiederholten Versuchen, als ganz unmöglich: dank mache kein Hehl daraus. Wirklich, ich trachte, mit diesem
nämlich den geistigen Zeitumständen, der Bewegtheit alles Buch zu versöhnen, indem ich darauf hinweise, wieviel Ver-
Ruhenden, der Erschütterung aller kulturellen Grundlagen, zicht es umschließt. Meine liebsten Pläne, auf deren Verwirk-
kraft eines künstlerisch heillosen Gedankentumultes, der nack- lichung viele — möge es ihnen nun zu Spott oder Ehre ge-
ten Unmöglichkeit, auf Grund eines Seins etwas zu machen, reichen — nicht ohne Begierde und Ungeduld warteten, stellte
der Auflösung und Problematisierung dieses Seins selbst durch ich zurück, um ein Schreibwerk zu bewältigen, von dessen
die Zeit und ihre Krisis, der Notwendigkeit, dies in Frage ge- innerer und äußerer Weitläufigkeit ich mir freilich, auch dies-
stellte, in Not gebrachte und nicht mehr als Kulturgrund fest, mal, eine nicht annähernd richtige Vorstellung machte, — ich
selbstverständlich und unbewußt ruhende Sein zu begreifen, hätte mich sonst, trotz allem, kaum darauf eingelassen. Ich
klarzustellen und zu verteidigen; der Unabweisbarkeit also erinnere mich wohl, daß mein Eifer anfangs bedeutend war,
einer Revision aller Grundlagen dieses Künstlertums selbst, daß der Glaube mich trieb, ich hätte mir und anderen viel
seiner Selbsterforschung und Selbstbehauptung, ohne welche Gutes, Belangreiches zu sagen. Aber dann: welche wachsende
seine Betätigung, Auswirkung und heitere Erfüllung, jedes Unruhe, welches Heimweh nach der ›Freiheit in der Begren-
Tun und Machen fortan als ein Ding der Unmöglichkeit er- zung«, welche Qual durch das unsäglich Kompromittierende
schien. und Desorganisierende alles Redens, welcher nagende Kum-
mer über das Versäumnis der Monate, der Jahre! Ist aber der
Warum denn aber mußte es gerade mir so erscheinen?
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Punkt überschritten, an dem ein Zurück, ein Liegenlassen und Sei dem wie ihm wolle, ich bringe den Ursprung dieser
Sichdavonmachen eben noch möglich war, so wird ›Durchhal- Blätter auf seinen einfachsten Namen, wenn ich ihn Gewissen-
ten‹ zu einem mehr noch ökonomischen als moralischen Im- haftigkeit nenne, — eine Eigenschaft, die einen so wesentlichen
perativ, — wenn auch der Wille zum Fertigmachen unbedingt Bestandteil meines Künstlertums ausmacht, daß man kurz
etwas Heroisches gewinnt in Fällen, wo an Fertigwerden gar sagen könnte, es bestehe daraus: Gewissenhaftigkeit, eine sitt-
nicht zu denken ist. Für ein Treiben und Schreiben wie dieses lich-artistische Eigenschaft, der ich jede mir je zuteil gewor-
gibt es immer nur einen Leitspruch, der seine Torheit, seinen dene Wirkung verdanke, und die mir nun diesen Streich
Jammer erklärt, ohne es ganz zu verwerfen. Er steht in Tho- spielte. Denn ich weiß wohl, wie nahe sie an Pedanterie grenzt,
mas Carlyle's ›Französischer Revolution‹ und lautet: »Wisse, und wer dieses ganze Buch als eine ungeheuere kindlich-hypo-
daß dies Universum das ist, was es zu sein vorgibt: ein Un- chondrische Pedanterie erklären und bezeichnen wollte, der
endliches. Versuche nie im Vertrauen auf deine logische Ver- ginge kaum fehl; mir selbst erschien es in mancher Stunde
dauungskraft, es zu verschlingen; sei vielmehr dankbar, wenn nicht anders. Die Frage des Mottos drängte sich mehr als ein-
du durch geschicktes Einrammen dieses oder jenes festen Pfei- mal, als hundertmal, mit einem Gelächter, wie es Unfaßbares
lers in das Chaos verhinderst, daß es dich verschlinge.« begleitet, durch all meine Explorationen, Explikationen, Ex-
pektorationen, und nachträglich, betrachte ich etwa meine un-
Nochmals, warum mußte »mein Leib sich mühen an Stelle
beholfenen Bemühungen um die politische Frage, mischt sich
der Christenheit«, — mit Claudels Violaine zu reden? War
selbst etwas von jener Rührung darein, die nicht verfehlen
meine seelische Situation denn besonders schwierig, — daß
wird, meine Leser anzuwandeln. »Was Teufel ging es ihn
sie so sehr der Erörterung, Darlegung, Verteidigung zu be-
an?« Allein es ging mich an, es lag mir wahrhaft und leiden-
dürfen schien? Vierzig Jahre sind wohl ein kritisches Alter,
schaftlich am Herzen, und unbedingt nötig schien, mit diesen
man ist nicht mehr jung, man bemerkt, daß die eigene Zu-
Fragen irgendwie nach meinem besten Wissen, Glauben und
kunft nicht mehr die allgemeine ist, sondern nur noch — die
Vermögen ins reine zu kommen. Denn so war die Zeit ge-
eigene. Du hast dein Leben zu Ende zu führen, — ein vom
artet, daß kein Unterschied mehr kenntlich war zwischen dem,
Weltlauf schon überholtes Leben. Neues stieg über den Hori-
was den einzelnen anging und nicht anging; alles war auf-
zont, das dich verneint, ohne leugnen zu können, daß es nicht
geregt, aufgewühlt, die Probleme brausten ineinander und
wäre, wie es ist, wenn du nicht gewesen wärest. Vierzig ist
waren nicht mehr zu trennen, es zeigte sich der Zusammen-
Lebenswende; und es ist nichts Geringes — ich wies wohl im
hang, die Einheit aller geistigen Dinge, die Frage des Men-
Text darauf hin —, wenn die Wende des persönlichen Lebens
schen selbst stand da, und die Verantwortlichkeit vor ihr um-
von den Donnern einer Weltwende begleitet und dem Bewußt-
faßte auch die Notwendigkeit politischer Stellungnahme und
sein furchtbar gemacht wird. Aber auch andere waren vierzig
Willensentschließung . . . Es war die Größe, Schwere und
und fuhren besser. War ich schwächer, verstörbarer, zerstör-
Schrankenlosigkeit der Zeit, daß es für den Gewissenhaften
barer? Mangelte es mir an Stolz und innerer Festigkeit, daß
und irgendwie — ich weiß nicht wovor oder vor wem — Ver-
ich mich an das Neue polemisch verlor, auf die Gefahr, meine
antwortlichen, für den, der sich selber wichtig nahm, über-
Selbstzerstörung damit zu betreiben? Oder muß ich mir ein
haupt nichts mehr gab, was er nicht wichtig zu nehmen
besonders reizbares Solidaritätsgefühl mit meiner Epoche zu-
brauchte. Alle Qual um die Dinge ist Selbstquälerei, und nur
schreiben, eine besondere Zugespitztheit, Empfindlichkeit, Ver-
der quält sich, der sich wichtig nimmt. Man wird mir jede
letzlichkeit meiner Zeitbestimmtheit?
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Pedanterie und Kindlichkeit dieser Blätter verzeihen, wenn gar natürlich, daß ein Künstler, der sich soeben im Werke
man verziehen hat, daß ich mich selbst wichtig nehme, — ein menschlich geopfert und hingegeben, ja hingeworfen hat, im
Faktum, das augenfällig wird dort, wo ich unmittelbar von nächsten Augenblick unter die Leute tritt ohne den Anflug
mir selber spreche, und freilich eine Eigenschaft, die man selbst eines Gefühls, daß er seiner bürgerlichen Person das Ge-
als den Urgrund aller Pedanterie empfinden und belächeln ringste vergeben habe, — und eine gesellschaftliche Öffentlich-
mag. »Himmel, wie er sich wichtig nimmt!« — zu diesem keit von Kultur, das heißt eine solche, die sich nach Möglich-
Zwischenruf gibt mein Buch allerdings auf Schritt und Tritt keit mit der geistigen Öffentlichkeit gleichsetzt, wird ihm
Gelegenheit. Ich habe dem nichts entgegenzustellen als die nicht nur recht geben, sondern die Verdienste, die er sich als
Tatsache, daß ich, ohne mich wichtig zu nehmen, nie gelebt ein Einsam-Öffentlicher erworben, mögen seiner bürgerlichen
habe noch leben könnte; als das Wissen, daß alles, was mir Ehre sogar zugute kommen.
gut und edel scheint, Geist, Kunst, Moral — menschlichem Dies alles aber gilt nur bedingungsweise. Es gilt nur dann,
Sichwichtignehmen entstammt; als die klare Einsicht, daß und nur dann erweist sich das Menschliche durch literarische
alles, was ich je leistete und wirkte, und zwar der Reiz und Publizität der sozialen Öffentlichkeit fähig, wenn es der gei-
Wert jedes kleinsten Bestandteiles davon, jeder Zeile und stigen Öffentlichkeit würdig ist, — andernfalls wird es durch
Wendung meines bisherigen Lebenswerkes — so viel und so Publizität zum Spott oder zum Skandal. Man muß an diesem
wenig dies nun besagen möge — ausschließlich darauf zurück- Gesetz, diesem Kriterium festhalten. Ich aber habe mich nun
zuführen ist, daß ich mich wichtig nahm. zu fragen, ob die Veröffentlichung dieser Blätter, des Produkts
Nahe verwandt der Gewissenhaftigkeit aber ist Einsamkeit, einer Einsamkeit, welche gewohnt ist, öffentlich zu sein, zu
— sie ist vielleicht nur ein anderer Name dafür: jene Einsam- Recht geschieht; das will sagen: ob sie sozialer Öffentlichkeit
keit nämlich, welche von der Öffentlichkeit zu unterscheiden sich fähig erweisen mögen, weil sie der geistigen Öffentlich-
für den Künstler so schwer ist. Sogar wird dieser im ganzen keit würdig sind, — und da würde es mir denn wenig helfen,
überhaupt nicht geneigt sein, zwischen beiden zu unterschei- wenn ich ihre Publizierbarkeit, ihr Recht auf Öffentlichkeit
den. Sein Lebenselement ist eine öffentliche Einsamkeit, eine oder das Recht, das die Öffentlichkeit darauf hat, nur mit
einsame Öffentlichkeit, die geistiger Art ist und deren Pathos menschlich-persönlichen Gründen verteidigen könnte. Allen-
und Würdebegriff sich von dem der bürgerlichen, sinnlich-ge- falls sind solche Gründe mitzunehmen. In Jahr und Tag
sellschaftlichen Öffentlichkeit vollkommen unterscheidet, ob- stockte meine Produktion, angekündigte Arbeiten blieben aus,
gleich in der Erfahrung beide Öffentlichkeiten gewissermaßen ich schien verstummt, gelähmt, schien ausgeschieden. War ich
zusammenfallen. Ihre Einheit beruht in der literarischen Pu- meinen Freunden nicht Rechenschaft schuldig darüber, wie
blizität, welche geistig und gesellschaftlich zugleich ist (wie ich die Jahre verbracht? Und wenn nicht von Schuldigkeit die
das Theater) und in der das Einsamkeitspathos gesellschafts- Rede sein sollte, — vielleicht durfte die Rede sein von einem
fähig, bürgerlich möglich, sogar bürgerlich-verdienstlich wird. Recht? Denn am Ende hatte ich gekämpft und entsagt, hatte
Die Rücksichtslosigkeit, der Radikalismus seiner mitteilenden es mir sauer werden lassen, mich redlich um Erkenntnis ge-
Hingabe möge bis zur Prostituierung, bis zur Preisgabe der müht, wenn auch mit unzulänglichen und dilettantischen
Biographie, bis zur vollständigen Jean-Jacqueshaften Scham- Kräften, und es war menschlich, zu wünschen, daß all das
losigkeit gehen, — die Würde des Künstlers als Privatperson nicht ganz ›umsonst‹, nicht in privater und unöffentlicher
bleibt dadurch völlig unangefochten. Es ist möglich, es ist so- Einsamkeit getragen, geduldet und getan sein sollte. Ich sage,

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solche Gründe sind mitzunehmen, — den Ausschlag geben sie Noch bin ich nicht so bleich, daß ich der Schminke brauchte;
nicht. Von der Seite des Geistigen her muß die Publizierbar- Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe!
keit dieser Blätter erwiesen, ihre Publikation gerechtfertigt
werden; es handelt sich um ihr geistiges Recht auf Öffentlich- Ich wiederhole: Eine Fixierung problematischer Art, sei sie
keit, — und wirklich, ich finde, daß ein solches besteht. nun Bild oder Rede, ist der bürgerlichen Öffentlichkeit fähig,
Diese Schrift, die die Hemmungslosigkeit privat-brieflicher sofern sie der geistigen würdig ist. In diesem Falle bleibt die
Mitteilung besitzt, bietet in der Tat, nach meinem besten Wis- private Würde durchaus unberührt davon. Ich habe dabei ein
sen und Gewissen, die geistigen Grundlagen dessen, was ich menschlich-tragisches Element des Buches besonders im Äuge,
als Künstler zu geben hatte, und was der Öffentlichkeit ge- jenen intimen Konflikt, dem eine Reihe von Seiten besonders
hört. War dieses der geistigen Öffentlichkeit würdig, so mag gewidmet sind und der auch sonst vielerorten mein Denken
auch der folgende Rechenschaftsbericht es sein. Und da es die färbt und bestimmt. Auch von ihm, und von ihm namentlich,
Zeit war, die ihn mir, und zwar unweigerlich, abverlangte, so gilt, daß seine Preisgabe, soweit eine solche überall noch mög-
scheint es, daß die Zeit ein Anrecht darauf besitzt: Ein Do- lich war, geistig berechtigt ist und darum der Anstößigkeit
kument, scheint mir, liegt vor, nicht unwert, von Heutigen entbehrt. Denn dieser intime Konflikt spielt im Geistigen, und
und sogar von Späteren gekannt zu sein, wenn auch allein um er besitzt ohne allen Zweifel genug symbolische Würde, um
seines zeitlich symptomatischen Wertes willen, in der Unend- ein Recht auf Öffentlichkeit zu haben und folglich, dargestellt,
lichkeit seiner geistigen Aufgeregtheit, in seinem Eifer, von nicht schimpflich zu wirken. Eine gebildete bürgerliche Öffent-
allen Dingen auf einmal zu reden . . . Ob ich mich aber dabei lichkeit, das heißt eine solche, die sich mit der geistigen mög-
nicht allein als schlechter Denker erwies, sondern auch durch lichst gleichsetzt, skandaliert sich nicht über die Preisgabe von
die Enthüllung der geistigen Fundamente meines Künstler- Persönlichem, das der geistigen Öffentlichkeit würdig ist, und
tums dieses mein Künstlertum selbst noch bloßstellte, diese worauf diese ein Anrecht hat. Das Vertrauen, das in solcher
Ungewißheit darf kein Grund für mich sein, die Schrift zu Preisgabe sich ausdrückt, möge sich als allzu ›einsam‹ und
verschließen. Was wahr ist, komme an den hellen Tag. Nie optimistisch-gutgläubig erweisen: sein Zunichtewerden wird
habe ich mich besser gemacht, als ich bin, und will dies weder nicht dem zur Unehre gereichen, der es hegte.
durch Reden noch auch durch kluges Schweigen tun. Nie fürch-
tete ich, mich zu zeigen. Der Wille, den Rousseau im ersten
Zeitdienst, sagte ich, hätte ich geleistet, indem ich dies Buch
Satz seiner ›Bekenntnisse‹ ausdrückt und der zu jener Zeit neu
schrieb, indem ich gewissenhafter- oder pedantischerweise
und unerhört schien: »einen Menschen, und zwar sich selbst
die von der Zeit aufgewühlten, aufgewirbelten Gründe mei-
in seiner ganzen Naturwahrheit zu zeigen«, dieser Wille, den
nes Wesens in gebundenen Sätzen wieder ›niederzulegen‹
Rousseau »bis heute beispiellos« nannte und von dem er
suchte. Aber mancher, nachdem er von den folgenden Kapiteln
glaubte, daß seine Ausführung keine Nachahmer finden werde,
Kenntnis genommen, wird urteilen, ich hätte der Zeit damit
— ist zur eingefleischten Selbstverständlichkeit, zum geistig-:
auf recht fragwürdige Art, ohne gesunde Liebe zu ihr, diszi-
künstlerischen Grund-Ethos des Jahrhunderts geworden, dem
plinlos, obstinat, unter hundert Bekundungen feindseligen
ich wesentlich angehöre, des neunzehnten; und auch über
Ungehorsams und bösen Willens ›gedient‹ und mich um ihre
meinem Leben, wie über dem so vieler Söhne dieser Bekenner-
Erfüllung, Vollendung, Verwirklichung wenig verdient ge-
epoche, stehen die Verse Platens:
macht. Nicht sowohl oder nicht nur als schlechter Denker
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hätte ich mich erwiesen, sondern auch und vielmehr als ein kein ›Führer‹ und will es nicht sein. Ich liebe nicht ›Führer‹,
schlecht Denkender, schlecht Gesinnter, als schlechter Charak- und auch ›Lehrer‹ liebe ich nicht, zum Beispiel ›Lehrer der
ter: indem ich nämlich Absterbendes, Hinfälliges zu stützen, Demokratie‹. Am wenigsten aber liebe und achte ich jene
zu verteidigen und dem Neuen und Notwendigen, der Zeit Kleinen, Nichtigen, Spürnäsigen, die davon leben, daß sie
selbst zu wehren, zu schaden versucht hätte. — Ich will darauf Bescheid wissen und Fährte haben, jenes Bedienten- und Läu-
erwidern, daß man der Zeit auf mehr als eine Weise dienen fergeschmeiß der Zeit, das unter unaufhörlichen Kundgebun-
kann und daß die meine nicht unbedingt die falsche, schlechte gen der Geringschätzung für alle weniger Mobilen und Behen-
und unfruchtbare zu sein braucht. Ein zeitgenössischer Den- den dem Neuen zur Seite trabt; oder auch die Stutzer und
ker hat gesagt: »Die Richtung aufzufinden, in der eine Kultur Zeitkorrekten, jene geistigen Swells und Elegants, welche die
sich fortbewegt, ist nicht so schwer, und mit Geheul sich ihr letzten Ideen und Worte tragen, wie sie ihr Monokel tragen:
anzuschließen nicht so großartig, als die Viertelsköpfe rings zum Beispiel ›Geist‹, ›Liebe‹, ›Demokratie‹, — so daß es heute
im Land es sich denken. Die eigentliche Bahn des Lebens zu schon schwer ist, diesen Jargon ohne Ekel zu hören. Diese
erkennen, die Rücksprünge, Widersprüche, Spannungen des alle, die Heulenden sowohl wie die Snobs, genießen die Frei-
Lebens, die Gegengewichte, die es braucht, die Widerkräfte, heit ihrer Nichtigkeit. Sie sind nichts, wie ich im Texte sagte,
die es neu spannen, wo es sich im Verbrauch seiner Kräfte und also sind sie ganz frei, zu meinen und zu urteilen, und
schwächt, die Gegenspieler, ohne die das Drama des Lebens zwar immer nach neuestem Schnitt und à la mode. Ich verachte
nicht vorwärts geht, — alles dies zu sehen nicht nur, sondern sie redlich. — Oder ist meine Verachtung nur verkappter Neid,
lebendig in sich selbst widereinander angehen zu fühlen, das da ich ihrer windigen Freiheit nicht teilhaft bin?
macht den Menschen, der ganz Mensch ist in seiner Zeit.« Inwiefern denn aber bin ich es nicht? Inwiefern bin ich ge-
Ein schönes Wort, mir recht aus der Seele gesprochen. Ich bunden und bestimmt? Wenn ich nicht nichts bin, wie sie, was
glaube nicht, daß es Wesen und Pflicht des Schriftstellers sei, bin ich denn also? — Es war diese Frage, die mich auf die »Ga-
sich »mit Geheul« der Hauptrichtung anzuschließen, in der leere« zwang, und durch »Vergleichung« suchte ich ihr Ant-
die Kultur sich eben fortbewegt. Ich glaube nicht und kann es wort zu finden. Die Erkenntnis, die mehrfach hervortreten
meiner Natur nach nicht glauben, daß es dem Schriftsteller wollte, war schwankend, nebelhaft, unzulänglich, dialektisch-
natürlich und notwendig sei, eine Entwicklung auf durchaus einseitig und durch Anstrengung verzerrt. Soll ich im letzten
positive Weise, durch unmittelbare und gläubig-enthusia- Augenblick noch einmal versuchen, sie zu leidlicher Beruhi-
stische Fürsprache zu fördern, — als ein rechtschaffener Ritter gung zu befestigen?
der Zeit, ohne Skrupel und Zweifel, geraden Sinnes, unge-
Ich bin, im geistig Wesentlichen, ein rechtes Kind des Jahr-
brochenen Willens und Mutes zu ihr, seiner Göttin. Schrift-
hunderts, in das die ersten fünfundzwanzig Jahre meines
stellertum selbst erschien mir vielmehr von jeher als ein Er-
Lebens fallen: des neunzehnten. Ich finde wohl in mir arti-
zeugnis und Ausdruck der Problematik, des Da und Dort, des
stisch-formale wie auch geistig-sittliche Elemente, Bedürfnisse,
Ja und Nein, der zwei Seelen in einer Brust, des schlimmen
Instinkte, die nicht mehr dieser Epoche, sondern einer neueren
Reichtums an inneren Konflikten, Gegensätzen und Wider-
angehören. Aber wie ich als Schriftsteller mich eigentlich als
sprüchen. Wozu, woher überhaupt Schriftstellertum, wenn es
Abkömmling (natürlich nicht als Zugehörigen) der deutsch-
nicht geistig-sittliche Bemühung ist um ein problematisches
bürgerlichen Erzählungskunst des neunzehnten Jahrhunderts
Ich? Nein, zugegeben, ich bin kein Ritter der Zeit, bin auch
fühle, die von Adalbert Stifter bis zum letzten Fontane reicht;
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wie, sage ich, meine Überlieferungen und artistischen Nei- ganda für Reformen sozialer und politischer Natur getrieben.
gungen in diese heimatliche Welt deutscher Meisterlichkeit Dagegen habe etwa Hegel, mit seiner fatalistischen Denk-
zurückweisen, die mich durch eine idealische Bestätigung mei- weise, seinem Glauben an die größere Vernunft des Siegrei-
ner selbst entzückt und stärkt, sobald ich mit ihr in Be- chen, seiner Rechtfertigung des wirklichen »Staats« (an Stelle
rührung komme; so liegt auch mein geistiger Schwerpunkt von »Menschheit« und so weiter) ganz wesentlich einen Erfolg
jenseits der Jahrhundertwende. Romantik, Nationalismus, gegen die Empfindsamkeit bedeutet. Und Nietzsche spricht von
Bürgerlichkeit, Musik, Pessimismus, Humor — diese Atmo- Goethe's Antirevolutionarismus, von seinem »Willen zur Ver-
sphärilien des abgelaufenen Zeitalters bilden in der Haupt- göttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen
sache die unpersönlichen Bestandteile auch meines Seins. Es und Ergründen Ruhe und Glück zu finden«. Seine Kritik, über-
ist aber besonders eine Grundstimmung und seelische Ver- all nicht ohne Sympathie, wird höchst positiv, sie umschreibt
anlagung, ein Charakterzug, wodurch das neunzehnte Jahr- in Wahrheit die Religiosität eines ganzen Zeitalters, indem
hundert, ins Große gerechnet, sich von dem vorhergehenden sie Goethe's Natur als einen »fast« freudigen und vertrauen-
und, wie immer deutlicher wird, auch von dem neuen, gegen- den Fatalismus umschreibt, »der nicht revoltiert, der nicht
wärtigen unterscheidet. Nietzsche war es, der diesen Charak- ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glau-
terunterschied zuerst und am besten in kritische Worte ge- ben, daß erst in der Totalität alles sich erlöst, als gut und ge-
faßt hat. rechtfertigt erscheint«.—
»Redlich, aber düster« nennt Nietzsche das neunzehnte Nietzsche's Kritik des abgelaufenen Jahrhunderts, dieser
Jahrhundert im Gegensatz zum achtzehnten, das er, ungefähr gewaltigen, aber wenig »hochherzigen«, im Geistigen wenig
wie Carlyle, feminin und verlogen findet. Dieses habe jedoch, galanten Epoche, erschien niemals großartiger zutreffend, als
in seiner humanen Gesellschaftlichkeit, einen Geist im Dienste unter der Optik des Jetzt und Heute. Ich fand kürzlich gedruckt,
der Wünschbarkeit besessen, den das neunzehnte nicht kenne. Schopenhauer sei »sozial-altruistisch« gewesen, und zwar, weil
Animalischer und häßlicher, ja pöbelhafter und eben deshalb seine Sittlichkeit im Mitleid gegipfelt habe, — ich setzte ein
»besser«, »ehrlicher« als jenes, sei das neunzehnte Jahrhun- dickes Fragezeichen dorthin, wo das stand. Die Willensphilo-
dert vor der Wirklichkeit jeder Art unterwürfiger, wahrer. Da- sophie Schopenhauers (der niemals geneigt war zu vergessen,
bei freilich sei es willensschwach, traurig und dunkel begehr- was man von der Natur des Menschen weiß), war ohne jeden
lich, fatalistisch. Weder vor der »Vernunft« noch vor dem Willen im Dienste der Wünschbarkeit, durchaus ohne jedes
»Herzen« habe es Scheu und Hochachtung an den Tag gelegt soziale und politische Interessement. Sein Mitleid war Er-
und, durch Schopenhauer, selbst die Moral auf einen Instinkt, lösungsmittel, nicht Besserungsmittel in irgendeinem der
nämlich das Mitleid, reduziert. Es habe sich, als das wissen- Wirklichkeit opponierenden, geistespolitischen Sinn. Scho-
schaftliche, im Wünschen bedürfnislose, losgemacht von der penhauer war Christ hierin. Man hätte ihm von sozial-refor-
Domination der Ideale und überall triebmäßig nach Theorien matorischen Aufgaben der Kunst reden sollen! — dem der
gesucht, geeignet, eine fatalistische Unterwerfung unter das ästhetische Zustand ein seliges Vorherrschen der reinen An-
Tatsächliche zu rechtfertigen. Das achtzehnte suche zu ver- schauung, ein Stillstehen des Ixion-Rades, ein Loskommen
gessen, was man von der Natur des Menschen weiß, um ihn vom Willen, Freiheit im Sinn der Erlösung und in keinem
an seine Utopie anzupassen. Oberflächlich, weich, human, für anderen Sinne war. — Da ist Flauberts harter Ästhetizismus,
»den Menschen« schwärmend, habe es mit der Kunst Propa- sein grenzenloser Zweifel mit dem nihil als Fazit, mit der
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höhnischen Resignation des »Hein, le progrès, quelle blague!« nur noch musikalischen Spätling des Bürgergeschlechts, dem
Da tritt Ibsens bürgerlich-böses Haupt hervor, ähnlich im kleinen Johann. »Der kleine Johann starrte auf seines Vorder-
Ausdruck dem Schopenhauers. Die Lüge als Bedingung des manns breiten Rücken, und seine goldbraunen, bläulich um-
Lebens, der Träger der ›sittlichen Forderung‹ als komische Figur, schatteten Augen waren ganz voll von Abscheu, Widerstand
Hjalmar Ekdal als der Mensch wie er ist, sein plump realisti- und Furcht . . .« — Nun, die Widersetzlichkeit, die sensitiv-
sches Weib als die Rechtschaffene, der Zyniker als Räsoneur: sittliche Revolte gegen »das Leben, wie es ist«, gegen das
da haben wir die Askese der Ehrlichkeit—barsches neunzehntes Gegebene, die Wirklichkeit, die ›Macht‹, — diese Widersetz-
Jahrhundert. Und wieviel von seinem brutalen und redlichen lichkeit als Merkmal des Verfalls, der biologischen Unzu-
Pessimismus, von seinem besonderen strengen, maskulinen und länglichkeit; der Geist selbst (und die Kunst!), verstanden und
›bedürfnislosen‹ Ethos waltet noch in Bismarcks ›Realpolitik‹ dargestellt als das Merkmal hiervon, als Entartungsprodukt:
und Anti-Ideologie! das ist neunzehntes Jahrhundert, das ist das Verhältnis, in
Ich erkenne, daß diese vielfach variierende Tendenz und welchem dieses Jahrhundert den Geist zum Leben sieht, —aber
Grundstimmung des neunzehnten Jahrhunderts, seine wahr- freilich wiederum in einer besonderen und extremen Nuance,
haftige, un-schönrednerische und unempfindsame, dem Kult welche erst nach der Kulmination jener melancholisch-ehr-
schöner Gefühle abholde Unterwürfigkeit vor dem Wirk- lichen Tendenz in Nietzsche möglich war.
lichen und Tatsächlichen die entscheidende Mitgift ist, die ich Nietzsche nämlich, der den Charakter der Epoche am schärf-
von ihm empfing; daß sie es ist, die mein Wesen gegen ge- sten kritisch gekennzeichnet hat, bedeutete in gewissem Sinn
wisse neu hervortretende und meine Welt als ethoslos ver- eine solche Kulmination: Die Selbstverneinung des Geistes zu-
neinende Strebungen einschränkt und bindet. Der Roman des gunsten des Lebens, des »starken« und namentlich »schönen«
Fünfundzwanzigjährigen, an der Schwelle des Jahrhunderts Lebens, das ist unzweifelhaft eine äußerste und letzte Los-
entstanden, war ein Werk ganz ohne jenen »Geist im Dienste machung von der »Domination der Ideale«, eine schon nicht
der Wünschbarkeit«, ganz ohne sozialen »Willen«, ganz un- mehr fatalistische, sondern begeisterte, erotisch berauschte
pathetisch, unrednerisch, unsentimental, vielmehr pessimistisch, Unterwerfung unter die ›Macht‹, eine Unterwerfung von
humoristisch und fatalistisch, wahrhaftig in seiner melan- schon nicht mehr recht maskuliner, sondern — wie sage ich —
cholischen Unterwürfigkeit als Studie des Verfalls. Eine ein- sentimentalisch-ästhetizistischer Art—und obendrein ein Fund
zige unscheinbare Anführung genügt, um den — man verzeihe für Künstler in noch ganz anderem Grade als Schopenhauers
mir doch das Wort—den geistesgeschichtlichen Platz des Buchs Philosophie! Es sind in geistig-dichterischer Hinsicht zwei
zu bezeichnen. Gegen den Schluß werden bittere und skurrile brüderliche Möglichkeiten, die das Erlebnis Nietzsche's zeitigt.
Schulgeschichten erzählt. »Wer«, heißt es, »unter diesen fünf- Die eine ist jener Ruchlosigkeits- und Renaissance-Ästhetizis-
undzwanzig jungen Leuten von rechtschaffener Konstitution, mus, jener hysterische Macht-, Schönheits- und Lebenskult,
stark und tüchtig für das Leben war, wie es ist, der nahm in worin eine gewisse Dichtung sich eine Weile gefiel. Die an-
diesem Augenblick die Dinge völlig wie sie lagen, fühlte sich dere heißt Ironie, — und ich spreche damit von meinem Fall.
nicht durch sie beleidigt und fand, daß alles selbstverständlich In meinem Falle wurde das Erlebnis der Seiostverneinung des
und in der Ordnung sei. Aber es gab auch Augen, die sich in Geistes zugunsten des Lebens zur Ironie, — einer sittlichen
finsterer Nachdenklichkeit auf einen Punkt richteten . . .«Und Haltung, für die ich überhaupt keine andere Umschreibung
diese Augen gehören dem durch Entartung sublimierten und und Bestimmung weiß als eben diese: daß sie die Selbstver-

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der seine, — ein Geist gesellschaftlicher Humanität. Die Ver-
neinung, der Selbstverrat des Geistes zugunsten des Lebens
nunft und das Herz: sie stehen wieder obenan im Vokabular
ist, — wobei unter dem ›Leben‹, ganz wie beim Renaissance-
der Zeit, — jene als Mittel, das ›Glück‹ zu bereiten, dieses als
Ästhetizismus, nur in einer anderen, leiseren und verschla-
›Liebe‹, als ›Demokratie‹. Wo wäre noch eine Spur von
generen Gefühlsnuance, die Liebenswürdigkeit, das Glück, die
»Unterwürfigkeit vor dem Wirklichen«? Aktivismus vielmehr,
Kraft, die Anmut, die angenehme Normalität der Geistlosig-
Voluntarismus, Meliorismus, Politizismus, Expressionismus;
keit, Ungeistigkeit verstanden wird. Nun ist Ironie freilich ein
mit einem Worte: die Domination der Ideale. Und die Kunst
Ethos nicht durchaus leidender Art. Die Selbstverneinung des
hat Propaganda zu treiben für Reformen sozialer und politi-
Geistes kann niemals ganz ernst, ganz vollkommen sein. Iro-
scher Natur. Weigert sie sich, so ist ihr das Urteil gesprochen.
nie wirbt, wenn auch heimlich, sie sucht für den Geist zu ge-
Es lautet kritisch: Ästhetizismus; es lautet polemisch: Schma-
winnen, wenn auch ohne Hoffnung. Sie ist nicht animalisch,
rotzertum. Die neue Empfindsamkeit ist kein Erzeugnis des
sondern intellektuell, nicht düster, sondern geistreich. Aber
Krieges; kein Zweifel aber, daß sie aufs mächtigste durch ihn
willensschwach und fatalistisch ist sie doch und jedenfalls weit
gesteigert wurde. Nichts mehr von Hegels ›Staat‹: die ›Mensch-
entfernt, sich ernstlich und auf aktive Art in den Dienst der
heit‹ ist wieder an der Tagesordnung, nichts mehr von Scho-
Wünschbarkeit und der Ideale zu stellen. Vor allem aber ist
penhauers Verneinung des Willens: der Geist sei Wille und
sie ein durchaus persönliches Ethos, kein soziales, genau so
er schaffe das Paradies. Nichts mehr von Goethe's persönlichem
wenig, wie Schopenhauers ›Mitleid‹ dies war; nicht Besse-
Bildungsethos: Gesellschaft vielmehr! Politik, Politik! Und
rungsmittel im geistespolitischen Sinn, unpathetisch, weil
was den ›Fortschritt‹ betrifft, über den Flauberts faustisches
ohne Glauben an die Möglichkeit, das Leben für den Geist
Heldenpaar zu einem so höhnischen Resultat gelangte: der
zu gewinnen — und eben hierin eine Spielart (ich sage Spiel-
Fortschritt ist Dogma — und keine blague, für den, der ›in
art) der Mentalität des neunzehnten Jahrhunderts.
Betracht kommen‹ w i l l . . . Dies alles zusammen ist das ›Neue
Selbst dem nun aber, der es nicht schon längst, seit zehn Pathos‹. Es vereinigt Empfindsamkeit und Härte, es ist nicht
oder fünfzehn Jahren sah, kann heute nicht mehr verborgen ›menschlich‹ in irgendeinem pessimistisch-humoristischen
bleiben, daß dieses junge Jahrhundert, das zwanzigste, aufs Sinn, es verkündet »entschlossene Menschenliebe«. Unduld-
allerdeutlichste Miene macht, dem achtzehnten weit stärker sam, ausschließlich, von einer französischen Bösartigkeit der
nachzuarten als seinem unmittelbaren Vorgänger. Das zwan- Rhetorik, beleidigt es, indem es alle Sittlichkeit für sich in
zigste Jahrhundert erklärt den Charakter, die Tendenzen, die Anspruch nimmt, — obgleich auch andere Leute am Ende mit
Grundstimmung des neunzehnten in Verruf, es diffamiert einer Art von Recht vermeinen, schon vor der Proklamation
seine Art von Wahrhaftigkeit, seine Willensschwäche und Un- der Tugendherrschaft nicht gerade als Liederjane, zum bloßen
terwürfigkeit, seinen melancholischen Unglauben. Es glaubt — Spaß gelebt zu haben, und versucht sein mögen zu antwor-
oder es lehrt doch, man müsse glauben. Es sucht zu vergessen, ten, was Goethe einem vorwurfsvollen Patriotismus zur Ant-
»was man von der Natur des Menschen weiß«, — um ihn an wort gab: »Jeder tut sein Bestes, je nachdem Gott es ihm ge-
seine Utopie anzupassen. Es schwärmt für ›den Menschen‹ geben. Ich kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur
ganz im dix-huitième-Geschmack, es ist nicht pessimistisch, mir zum Tagewerk bestimmt, mir Tag und Nacht keine Ruhe
nicht skeptisch, nicht zynisch und nicht — dies sogar am gelassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer
wenigsten — ironisch. Jener »Geist im Dienste der Wünsch- gestrebt und geforscht und getan, so gut und soviel ich konnte.
barkeit«, es ist offensichtlich der Geist, den es meint, es ist
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Wenn jeder von sich dasselbe sagen kann, so wird es um uns langen, als gäbe es zweierlei oder gar vielerlei ›Politik‹ und
alle gut stehen.« als sei nicht vielmehr die politische Einstellung immer nur
Was mich betrifft, so habe ich mir an verschiedenen Punk- eine: die demokratische. Wenn in den folgenden Abhandlun-
ten der nachfolgenden Aufzeichnungen deutlich zu machen gen die Identität der Begriffe ›Politik‹ und ›Demokratie‹
gesucht, inwiefern ich mit dem Neuen zu tun habe, inwiefern verfochten oder als selbstverständlich behandelt wird, so ge-
auch in mir etwas ist von jener »Entschlossenheit«, jener Ab- schieht es mit einem ungewöhnlich klar erkannten Recht. Man
sage an den »unanständigen Psychologismus« der abgelaufe- ist nicht ein ›demokratischer‹ oder etwa ein ›konservativer‹
nen Epoche, an ihr laxes und formwidriges tout comprendre, Politiker. Man ist Politiker oder man ist es nicht. Und ist man
— von einem Willen also, den man anti-naturalistisch, anti- es, so ist man Demokrat. Die politische Geisteseinstellung ist
impressionistisch, anti-relativistisch nennen möge, der aber, die demokratische; der Glaube an die Politik der an die De-
im Künstlerischen wie im Sittlichen, ein Wille jedenfalls, und mokratie, den contrat social. Seit mehr als anderthalb Jahr-
nicht bloße »Unterwürfigkeit«, wiederum war. Dergleichen hunderten geht alles, was man in geistigerem Sinn unter Po-
hat sich sichtbar genug bei mir kundgegeben, — nicht vermöge litik versteht, auf Jean Jacques Rousseau zurück: und er ist
eines Anschlußbedürfnisses, sondern einfach, weil ich nur der der Vater der Demokratie, indem er der Vater des politischen
eigenen inneren Stimme zu lauschen brauchte, um auch die Geistes selbst, der politischen Menschlichkeit ist.
Stimme der Zeit zu vernehmen. Warum mußte ich trotzdem Als Demokratie also, als politische Aufklärung und Glücks-
in Feindschaft mit dem Neuen geraten, mich davon abge- Philanthropie trat mir das Neue Pathos entgegen. Die Po-
stoßen, verneint, beleidigt fühlen und in der Tat von ihm litisierung jedes Ethos begriff ich als sein Betreiben; in der
beschimpft und beleidigt werden, um so unerträglicher und Leugnung und Schmähung jedes nicht-politischen Ethos be-
vergiftender, als es mit dem höchsten literarischen Talent ge- stand — ich erfuhr es am eigenen Leibe — seine Aggressivität
schah, mit der reißendsten Schreibkunst, der geübtesten Lei- und doktrinäre Intoleranz. Die ›Menschheit‹ als humanitärer
denschaft, über die es verfügt? — Weil es mir, mir persönlich, Internationalismus; ›Vernunft‹ und ›Tugend‹ als die radi-
in einer Gestalt entgegentrat, in der es das Tiefste und Gründ- kale Republik; der Geist als ein Ding zwischen Jakobinerklub
lichste in mir, das Persönlich-Unpersönlichste, das Unwill- und Großorient; die Kunst als Gesellschaftsliteratur und bös-
kürlichste, Unveräußerlichste und Instinktivste, das nationale artig schmelzende Rhetorik im Dienste sozialer ›Wünschbar-
Grundelement meiner Natur und Bildung gegen sich aufbrin- keit‹: da haben wir das Neue Pathos in seiner politischen
gen mußte: in politischer Gestalt. Reinkultur, wie ich es in der Nähe sah. Ich gebe zu, es ist eine
besondere, extrem romanisierende Form davon. Mein Schicksal
Bei keiner Analyse des Neuen Pathos wird das Wort ›Poli-
aber war es nun einmal, es so zu erleben; und dann, wie ich
tik‹ je zu vermeiden sein. Es liegt durchaus in seiner optimi-
schon sagte, ist es immer und jeden Augenblick im Begriff,
stisch-melioristischen Natur, daß es von Politik immer nur
diese Form anzunehmen: ›Tätiger Geist‹, das heißt: ein Geist,
zwei Schritte entfernt ist: ungefähr — und nicht nur un-
der zugunsten aufklärerischer Weltbefreiung, Weltbesserung,
gefähr — in dem Sinne, worin ein Freimaurer- und Illumina-
Weltbeglückung tätig zu sein »entschlossen« ist, bleibt ›Po-
tentum romanischer Färbung immer nur zwei Schritte davon
litik‹ nicht lange im weiteren und übertragenen Sinn, er ist es
entfernt ist und auch diese zwei Schritte niemals einhalten
sofort auch im engeren, eigentlichen. Und was für eine — um
wird. Wer aber fragte, was für eine Politik es denn sei, die
noch einmal einfältig zu fragen? Deutschfeindliche Politik,
das Neue Pathos verfolge, der zeigte sich in dem Irrtum be-
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das liegt auf der Hand. Der politische Geist, widerdeutsch als gleichen den politischen Geist für einen in Deutschland land-
Geist, ist mit logischer Notwendigkeit deutschfeindlich als fremden und unmöglichen Geist erklärt, so sollte ein Miß-
Politik. verständnis nicht aufkommen können. Wogegen das Tiefste in
Wenn ich auf den folgenden Blättern die Meinung vertrat, mir, mein nationaler Instinkt sich erbittern mußte, war der
daß Demokratie, daß Politik selbst dem deutschen Wesen Schrei nach ›Politik‹ in der Bedeutung des Wortes, die ihm
fremd und giftig sei; wenn ich Deutschlands Berufenheit zur in geistiger Sphäre gebührt: Es ist die ›Politisierung des
Politik bezweifelte oder bestritt, so geschah es nicht in der — Geistes‹ die Umfälschung des Geist-Begriffes in den der bes-
persönlich und sachlich genommen — lächerlichen Absicht, serischen Aufklärung, der revolutionären Philanthropie, was
meinem Volk den Willen zur Realität zu verleiden, es im wie Gift und Operment auf mich wirkt; und ich weiß, daß
Glauben an die Gerechtigkeit seiner Weltansprüche wankend dieser mein Abscheu und Protest nichts unbedeutend Per-
zu machen. Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche sönliches und zeitlich Bestimmtes ist, sondern daß in ihm das
Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, nationale Wesen selbst aus mir wirkt. Geist ist nicht Po-
aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht litik: man braucht, als Deutscher, nicht schlechtes neunzehntes
lieben kann, und daß der vielverschriene ›Obrigkeitsstaat‹ Jahrhundert zu sein, um auf Leben und Tod für dieses »nicht«
die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von einzustehen. Der Unterschied von Geist und Politik enthält
ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. Dieser den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft,
Überzeugung Ausdruck zu geben, dazu gehört heute ein ge- von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und
wisser Mut. Trotzdem wird damit nicht nur nicht dem deut- Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht
schen Volke irgendwelche Geringschätzung im geistigen oder Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur. Der Unter-
sittlichen Sinne ausgedrückt — das Gegenteil ist die Mei- schied von Geist und Politik ist, zum weiteren Beispiel, der
nung —, sondern auch sein Wille zur Macht und Erdengröße von kosmopolitisch und international. Jener Begriff entstammt
(welcher weniger ein Wille als ein Schicksal und eine Welt- der kulturellen Sphäre und ist deutsch; dieser entstammt der
notwendigkeit ist) bleibt dadurch in seiner Rechtmäßigkeit Sphäre der Zivilisation und Demokratie und ist — etwas ganz
und seinen Aussichten völlig unangefochten. Es gibt höchst anderes. International ist der demokratische Bourgeois, möge
›politische‹ Völker, — Völker, die aus der politischen An- er überall auch noch so national sich drapieren; der Bürger —
und Aufgeregtheit überhaupt nicht herauskommen und die auch das ist ein Motiv dieses Buches — ist kosmopolitisch,
es dennoch, kraft eines völligen Mangels an Staats- und denn er ist deutsch, deutscher als Fürsten und ›Volk‹: dieser
Machtfähigkeit, auf Erden nie zu etwas gebracht haben noch Mensch der geographischen, sozialen und seelischen ›Mitte‹
bringen werden. Ich nenne die Polen und Iren. Andererseits war immer und bleibt der Träger deutscher Geistigkeit,
ist die Geschichte ein einziger Preis der organisatorischen und Menschlichkeit und Anti-Politik . . .
staatsbildenden Kräfte des grund-unpolitischen, des deutschen
Im Nachlaß Nietzsche's fand man eine unglaublich in-
Volkes. Sieht man, wohin Frankreich von seinen Politikern
tuitionsvolle Bestimmung der ›Meistersinger‹. Sie lautet:
gebracht worden ist, so hat man, wie mir scheint, den Beweis
»Meistersinger — Gegensatz zur Zivilisation, das Deutsche
in Händen, daß es mit ›Politik‹ zuweilen durchaus nicht geht;
gegen das Französische.« Die Aufzeichnung ist unschätzbar.
was wiederum eine Art von Beweis dafür ist, daß es auch
Im blendenden Blitzschein genialischer Kritik steht hier auf
ohne ›Politik‹ am Ende gehen möchte. Wenn also meines-
eine Sekunde der Gegensatz, um den dieses ganze Buch sich
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müht, — der aus Feigheit viel verleugnete, bestrittene und ›menschlichen Zivilisation‹ handhabt, im Jahre 1914 sofort
dennoch unsterblich wahre Gegensatz von Musik und Politik, sein eigenes Wort und seinen eigenen Willen vereinigen
von Deutschtum und Zivilisation. Dieser Gegensatz bleibt konnte und dessen abscheulichen Argot er redete, wie er es
auf seiten des Deutschtums eine nur zögernd einzugestehende schon immer getan hatte. Ich wiederhole: Nicht mit der an-
Tatsache des Gemütes, etwas Seelisches, nicht verstandesmäßig ständigen, ritterlich respektvollen Feindschaft draußen, nicht
Erfaßtes und darum Unaggressives. Auf seiten der Zivilisation mit dem nouveau esprit, welcher im Geistig-Sittlichen mit
aber ist er politischer Haß: Wie könnte es anders sein? Sie ist Deutschland im Grunde sympathisiert, war er im Einverneh-
Politik durch und durch, ist die Politik selbst, und auch ihr men, sondern mit dem politischen, dem giftigen Feinde, wel-
Haß kann immer nur und muß sofort politisch sein. Der po- cher ist Gründer und Aktionär »d'un journal qui répand les
litische Geist als demokratische Aufklärung und »menschliche lumières«. Er war sein Held, seinen Sieg wünschte er, seine
Zivilisation‹ ist nicht nur psychisch widerdeutsch; er ist mit Invasion in Deutschland ersehnte er; und so war es billig.
Notwendigkeit auch politisch deutschfeindlich, wo immer er Der Triumph eines »Gesinnungsmilitarismus« (mit Max
walte. Und dies bestimmte die Haltung seines innerdeutschen Scheler zu reden) über den anderen hätte wenig Sinn gehabt;
Anhängers und Propheten, der unter dem Namen des Zivili- erflehenswert war der Sieg des pazifistisch-bourgeoisen »Zweck-
sationsliteraten durch die Seiten dieses Buches spukt. Die Ge- militarismus« (mit schwarzen Armeen) über den »Gesinnungs-
schichtsforschung wird lehren, welche Rolle das internationale militarismus« : Und hier nun, spätestens hier, gingen unsere
Illuminatentum, die Freimaurer-Weltloge, unter Ausschluß Meinungen, die des politischen Neu-Pathetikers und die meine,
der ahnungslosen Deutschen natürlich, bei der geistigen Vor- auseinander; der Gegensatz zwischen uns wurde im Drange
bereitung und wirklichen Entfesselung des Weltkrieges, des der Zeit akut; denn irgendwelche Gebundenheiten meines Seins
Krieges der ›Zivilisation‹ gegen Deutschland, gespielt hat. und Wesens bewirkten, daß ich Deutschlands Sieg wünschte.
Was mich betrifft, so hatte ich, bevor irgendwelches Material Das ist ein Wunsch, den zu erklären, zu entschuldigen man
vorlag, meine genauen und unumstößlichen Überzeugungen sich unter Deutschen die erdenklichste Mühe geben muß. Es ist
in dieser Hinsicht. Heute braucht nicht mehr behauptet, ge- im Lande kantischer Ästhetik vor allem ratsam, hervorzuheben,
schweige bewiesen zu werden, daß etwa die französische daß einem Deutschlands Sieg »ohne Interesse« gefallen
Loge politisch ist bis zur Identität mit der radikalen Partei, — würde. Ich bin weder ein Machtjunker, noch ein Schwer-
jener radikalen Partei, die in Frankreich recht eigentlich Pflanz- industrieller, noch auch nur ein kapitalverbundener Sozial-
stätte und Nährboden für den geistigen Haß auf Deutsch- imperialist. Ich habe kein Lebens- und Sterbensinteresse an
land und deutsches Wesen bildet. Nicht der nouveau esprit des deutscher Handelsherrschaft und hege sogar meine oppositio-
jungen Frankreich ist es, der eigentlich Deutschenhaß nährt; nellen Zweifel an Deutschlands Berufenheit zur Großen Po-
auch er liegt im Kriege heute mit uns, aber wir sind ihm ein litik und imperialen Existenz. Auch mir ist es am Ende um
Feind, den er ehrt. Deutschlands Feind im geistigsten, instinkt- Geist zu tun, um ›innere Politik‹. Ich stehe mit meinem Her-
mäßigsten, giftigsten, tödlichsten Sinn ist der ›pazifistische‹, zen zu Deutschland, nicht sofern es Englands machtpolitischer
›tugendhafte‹, ›republikanische‹ Rhetor-Bourgeois und fils Konkurrent, sondern sofern es sein geistiger Gegner ist; und
de la Révolution, dieser geborene Drei-Punkte-Mann, — und was den deutschen Verfechter der ›menschlichen Zivilisation‹
er war es, mit dessen Wort und Willen der deutsche Vertreter betrifft, so war es sehr bald nicht sowohl seine politische
des politischen Geistes, er, der das Neue Pathos im Sinne der Deutschfeindlichkeit, als vielmehr seine seelische Wider-

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deutschheit, was mich kümmerte, mir Furcht, Haß und Wider- gleich vor dem Ende? War es nicht Verderbnis, in Kämpfen
stand erregte, — zumal auch auf seiner Seite sehr bald die und Krisen die Verwirklichung von Ideen zu betreiben? Auch
›innere‹ Politik der ›äußeren‹ wieder den Rang ablief, die unser soll jetzt dies Los sein . . .«
Deutschfeindlichkeit hinter die Widerdeutschheit zurücktrat Welch ein unsäglich peinvoller Widerstand hebt mein In-
oder richtiger: von ihr abfiel und sie, als ihren Kern, zurück- neres auf vor dieser feindseligen Milde, all dieser schön stili-
ließ. Seine Deutschfeindlichkeit hatte bald wenig mehr zu sierten-Unannehmlichkeit? Sollte man denn nicht lachen? Ist
hoffen: Die militärische Invasion der Zivilisationstruppen in denn nicht jeder Satz, jedes Wort darin falsch, übersetzt,
Deutschland mißglückte. Worauf er mit einem starken Schein grundirrtümlich, groteske Selbsttäuschung, — die Verwechs-
von Recht seine Hoffnungen zu setzen fortfuhr, das war die lung der Wünsche, Instinkte, Bedürfnisse eines geistig in
geistige Invasion, die möglicherweise bei weitem stärkste und Frankreich naturalisierten Romanciers mit deutscher Wirklich-
überwältigendste politische Invasion des Westens, die je deut- keit? »Auch unser soll jetzt dies Los sein!« Ein hohes und
sches Schicksal geworden. Deutschlands seelische Bekehrung glänzendes, aber von Grund aus romanisiertes Literatentum,
(die eine wirkliche Verwandlung und Strukturveränderung das sich längst jeder Fühlung mit dem besonderen Ethos seines
sein müßte) zur Politik, zur Demokratie: sie ist es, worauf Volkes begab, ja schon die Anerkennung eines solchen be-
er hofft, — nein! die ihm, nicht ohne einen starken Schein von sonderen nationalen Ethos als bestialischen Nationalismus
Recht, wie ich sagte, zur triumphierenden Gewißheit gewor- verpönt und ihm seinen humanitär-demokratischen Zivilisa-
den ist, und zwar in dem Grade, daß er es heute bereits für tions- und ›Gesellschafts‹-Internationalismus entgegenstellt, —
möglich hält, es nicht mehr für Raub an seiner Ehre erachtet, dieses Literatentum träumt: Weil Deutschland damit umgeht,
Deutschland und sich selbst in der ersten Person Pluralis zu das Fundament der Auswahl für seine politische Führung zu
vereinigen, und über die Lippen bringt, was er all seiner Leb- verbreitern und dies ›Demokratisierung‹ nennt, werde es bei
tage noch nicht darüber gebracht: das Wort »Wir Deutschen«. »uns« nun so herrlich unterhaltsam wie in Frankreich zu-
»Wir Deutschen«, heißt es in einem zivilisationsliterarischen gehen! Es wirft, befangen in Wahn und Verwechslung, seinem
Manifest, das um die Jahreswende 1917/18 erschien, »haben, Lande und Volke ein Los, das nie und nimmer das ihre wird
nun wir zur Demokratie heranwachsen, vor uns das aller- sein können und dürfen, — ist es nicht so? Ich lasse die Rede-
größte Erleben. Ein Volk erlangt nicht die Selbstherrschaft, wendung stehen von Deutschlands »Heranwachsen zur Demo-
ohne über den Menschen viel zu lernen und mit reiferen Or- kratie« — einer Staats- und Gesellschaftsform also, zu welcher
ganen das Leben zu handhaben. Das Spiel der gesellschaft- Paraguay und Portugal schon des längern »herangewachsen«
lichen Kräfte liegt in Völkern, die sich selbst regieren, allen waren. Noch weniger halte ich mich auf bei der Kammer-
Augen offen, und auch die einzelnen dort erziehen einander, Tirade von den »sich selbst regierenden Völkern«. Worauf es
öffentlich handelnd, zur Erkenntnis von ihresgleichen. Aber ankommt, ist, daß nie, und lege er sich noch so viel »Demo-
kommen wir nun innerlich in Bewegung, dann fallen alsbald kratie« zu, daß niemals der deutsche Mensch das Leben mit
auch die Schranken nach außen, die europäischen Entfernun- den »reiferen Organen« eines Boulevard-Moralisten »hand-
gen werden kleiner, und als Verwandte auf gleichen Wegen haben« wird. Nie wird er unter dem »Leben« die Gesellschaft
erblicken wir die Mitvölker. Solange wir im staatlichen Still- verstehen, nie das soziale Problem dem moralischen, dem
stand verharrten, erschienen sie uns als Feinde — todgeweiht, inneren Erlebnis überordnen. Wir sind kein Gesellschaftsvolk
weil nicht auch sie verharrten. Kam nicht jede Umwälzung und keine Fundgrube für Bummelpsychologen. Das Ich und

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Und doch — welche triumphale, schon nicht mehr kämp- unserer gegenwärtigen Feinde, daß je die nationalen Demo-
ferische, sondern in glückstrahlende Milde übergegangene kratien sich zu einer geistig einheitlichen europäischen oder
Sicherheit spricht aus den angeführten Worten jenes Mani- Weltdemokratie zusammenschließen könnten. Was Dosto-
fests! Ist es möglich, über soviel subjektives Siegesbewußtsein jewski den »kosmopolitischen Radikalismus« nennt, ist jene
mit Achselzucken hinwegzugehen? Und sagte ich nicht selbst, Geistesrichtung, welche die demokratische Zivilisationsgesell-
daß seine Hoffnungen, sein Glaube, sein Triumph einen star- schaft der »Menschheit« zum Ziele hat; la république sociale,
ken Anschein von Recht besäßen? Ist die geistig-politische In- démocratique et universelle; empire of human civilization.
vasion des Westens so vollkommen vereitelt worden wie die Ein Trugbild unserer Feinde? Aber Trugbild oder nicht: Feinde
militärische? Das ist von vornherein unwahrscheinlich, denn Deutschlands müssen es unbedingt sein, denen dies ›Trug-
der militärischen Widerstandskraft Deutschlands kommt die- bild‹ vorschwebt, denn soviel ist sicher, daß bei einem Zu-
jenige seines nationalen Ethos — geben wir doch zu, was wir sammenschluß der nationalen Demokratien zu einer euro-
wissen! — bei weitem nicht gleich. Jene Invasion ist nicht päischen, einer Weltdemokratie von deutschem Wesen nichts
vereitelt worden und konnte es nicht werden, denn sie traf übrigbleiben würde: Die Weltdemokratie, das Imperium der
nicht nur auf ethische Schwäche, sondern auch auf positives Zivilisation, die »Gesellschaft der Menschheit« könnte einen
Entgegenkommen: die Wege waren ihr bereitet, nicht erst mehr romanischen oder mehr angelsächsischen Charakter
seit heute und gestern. Das nationale Ethos Deutschlands tragen, — der deutsche Geist würde aufgehen und verschwin-
kann sich an Klarheit, Distinktheit nicht mit dem anderer den darin, er wäre ausgetilgt, es gäbe ihn nicht mehr. Richard
Völker messen, es fehlt ihm, im eigentlichen und übertrage- Wagner erklärte einmal, vor der Musik vergehe die Zivilisa-
nen Sinne des Wortes, an ›Selbstbewußtsein‹. Es ist nicht tion wie Nebel vor der Sonne. Daß eines Tages die Musik,
wohlumzirkt, es hat so ›schlechte Grenzen‹ wie Deutsch- sie ihrerseits, vor der Zivilisation, der Demokratie, wie Nebel
land selbst. Seine größte Schwäche aber ist seine Unbereit- vor der Sonne vergehen könnte, hat er sich nicht träumen
schaft zum Wort. Es spricht nicht gut; und faßt man es in lassen. . .
Worte, so klingen sie mesquin und negativ, wie der Satz, es Dies Buch läßt sich davon träumen, — verworren und schwer
sei nicht deutsche Angelegenheit, »Ideen zu verwirklichen«. Da- und undeutlich, aber dies und nichts anderes ist der Inhalt
gegen hat das politisch-zivilisatorische Ethos in seiner hoch- seiner Ängste. »Finis musicae«: das Wort kommt irgendwo
herzig-rhetorischen Literaturfähigkeit den schwer widersteh- vor darin, und es ist nur ein Traumsymbol für die Demo-
lichen Schmiß und Schwung einfallender Revolutionstruppen. kratie. Der Fortschritt von der Musik zur Demokratie, — er
Es hat Bewunderer, Freunde, Verbündete innerhalb der
ist es, den es überall meint, wo es von ›Fortschritt‹ spricht.
Mauern, Verräter aus Edelmut, die ihm die Tore öffnen. Bald
Wenn es aber behauptet und aufzuzeigen sucht, daß Deutsch-
sind es fünfzig Jahre, daß Dostojewski, der" Augen hatte zu
land sich wirklich rapide und unaufhaltsam in der Richtung
sehen, fast ungläubig fragte: »Sollte es wahr sein, daß der
dieses Fortschritts bewege, so ist das freilich zunächst ein
kosmopolitische Radikalismus auch in Deutschland schon
rhetorisches Mittel der Abwehr. Denn es bekämpft ja offenbar
Wurzel gefaßt hat?« Das ist eine Art zu fragen, die einer
diesen Fortschritt, es leistet ihm konservativen Widerstand.
verwunderten Feststellung gleichkommt, und der Begriff des
In. der Tat ist all sein Konservatismus nur Opposition in
kosmopolitischen oder, richtiger, internationalen Radikalismus
dieser Beziehung; all seine Melancholie und halb ge-
selbst widerspricht der Versicherung, es sei ein ›Trugbild‹
heuchelte Resignation, all sein Hinsinken an die Brust der
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spiel zusammengefaßt. Ich sagte zugleich, was sie sind. Sie
Romantik und seine »Sympathie mit dem Tode« ist auch
sind das umständliche Erzeugnis einer Problematik, die Dar-
nichts anderes. Es verneint den Fortschritt überhaupt, um
stellung eines innerpersönlichen Zwiespaltes und Widerstrei-
jedenfalls diesen Fortschritt zu verneinen; es argumentiert
tes. Daß sie es sind, das macht dies Buch, welches kein Buch
recht wahllos und geht selbst zweifelhafte Bündnisse ein; es
und kein Kunstwerk ist, beinahe zu etwas anderem: beinahe
rennt gegen die ›Tugend‹ an, deckt den ›Glauben‹ mit Zita-
zu einer Dichtung.
ten zu, äußert sich herausfordernd über ›Menschlichkeit‹, —
dies alles, um diesem Fortschritt zu opponieren, dem Fort-
schritt Deutschlands von der Musik zur Politik.
Aber wozu der Aufwand? Warum die schädliche und kom-
promittierende Galeerenfron dieses Buches, die niemand von
mir verlangte noch erwartete, und für die ich nicht eine Spur
von Dank und Ehre haben werde? Man kümmert sich nicht in
diesem Maßstabe um etwas, was einen nicht zu kümmern
braucht, was einen nicht angeht, weil man nichts davon weiß
und nichts davon in sich selbst, im eigenen Blute hat. Ich
sagte, Deutschland habe Feinde in seinen eigenen Mauern,
das heißt Verbündete und Förderer der Weltdemokratie.
Sollte sich das im Engeren wiederholen, und sollte ich Ele-
mente, die dem ›Fortschritt‹ Deutschlands Vorschub leisten,
in meinem eigenen konservativen Innern hegen? Wäre es so,
daß mein Sein und — soweit davon die Rede sein kann —
auch mein Wirken durchaus nicht genau meinem Denken und
Meinen entspricht, und daß ich selbst mit einem Teil meines
Wesens den Fortschritt Deutschlands zu dem, was in diesen
Blättern mit einem recht uneigentlichen Namen ›Demokratie‹
genannt wird (und mit gleichem Wahlrecht nur oberflächlich
zu tun hat), zu fördern bestimmt war und bin? Und was für
ein Teil wäre denn das? Vielleicht das literarische? Denn die
Literatur — sagen wir nur abermals, was wir wissen! — die
Literatur ist demokratisch und zivilisatorisch von Grund aus;
richtiger noch: sie ist dasselbe wie Demokratie und Zivilisa-
tion. Und mein Schriftstellertum also wäre es, was mich den
›Fortschritt‹ Deutschlands an meinem Teile — noch fördern
ließe, indem ich ihn konservativ bekämpfe? —
Mit dem, was ich da sagte und fragte, habe ich die Motive
der folgenden Betrachtungen wie in einem musikalischen Vor-
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gung immer Fortschritte gemacht und sich ununterbrochen
DER PROTEST verändert. Die Entwicklung des Versuchs habe jedoch zum
Verlust des wesentlichen Teiles der christlichen Grundsätze
geführt. Die Erben der altrömischen Welt, dahin gelangt, das
In seiner krankhaft leichten, unheimlich genialen Art, die Christentum geistig zu verwerfen, verwarfen mit ihm auch
immer ein wenig an das verkommene Schwatzen gewisser re- das Papsttum: und zwar geschah das in der Französischen Re-
ligiöser Personnagen in seinen Romanen erinnert, spricht volution, die nichts anderes war (im Grunde nichts anderes)
Dostojewski — 1877 — über die deutsche Weltfrage, über als die letzte Gestaltveränderung oder Umverkörperung dieser
»Deutschland, das protestierende Reich«. Solange es über- selben altrömischen Formel der universellen Vereinigung. Die
haupt ein Deutschland gebe, sagt er, sei seine Aufgabe das Verwirklichung der Idee — wir folgen noch immer dem Do-
Protestantentum gewesen: »Nicht allein jene Formel des Pro- stojewski'schen Gedankengange — die Verwirklichung war
testantismus, die sich zu Luthers Zeiten entwickelte, sondern sehr unzulänglich. Zwar herrschte vollkommenste Zufrieden-
sein ewiges Protestantentum, sein ewiger Protest, wie er ein- heit bei jenem Teil der menschlichen Gesellschaft, der 1789
setzte mit Armin gegen die römische Welt, gegen alles, was für sich die politische Suprematie gewonnen hatte, nämlich
Rom und römische Aufgabe war, und darauf gegen alles, was bei der Bourgeoisie: diese triumphierte und hielt dafür, daß
vom alten Rom aufs neue Rom überging und auf all die Völ- weiterzugehen nun nicht mehr nötig sei. Diejenigen Geister
ker, die von Rom seine Idee, seine Formel und sein Element aber, die nach den unvergänglichen Gesetzen der Natur zur
empfingen, der Protest gegen die Erben Roms und gegen alles, ewigen Beunruhigung der Welt bestimmt sind, zum Suchen
was dieses Erbe ausmacht.« neuer Formeln des Ideals und des neuen Wortes, wie sie beide
Er führt dann in großen Zügen die Geschichte der römi- für die Entwicklung des menschlichen Organismus unentbehr-
schen Idee vorüber: angefangen beim alten Rom mit seinem lich sind, — sie schlugen sich zu den Erniedrigten und Um-
Gedanken einer universalen Vereinigung der Menschheit, sei- gangenen, denen die neue, revolutionäre Formel der allmensch-
nem Glauben an die praktische Verwirklichung dieses Ge- lichen Vereinigung nichts oder sehr wenig gegeben hatte: der
dankens in Gestalt einer Allerweltsmonarchie. Diese Formel, Sozialismus sprach sein neues Wort.
sagt er, sei gefallen, aber nicht die Idee; denn die Idee sei die Und Deutschland? Und die Deutschen? Dostojewski sagt:
Idee der europäischen Menschheit, aus ihr habe sich deren »Der charakteristischste, wesentlichste Zug dieses großen, stol-
Zivilisation gebildet, für sie allein lebe sie überhaupt. Der Ge- zen und besonderen Volkes bestand schon seit dem ersten
danke der römischen Universalmonarchie sei ersetzt worden Augenblick seines Auftretens in der geschichtlichen Welt
durch den der Vereinigung in Christo; worauf jene Spaltung darin, daß es sich niemals, weder in seiner Bestimmung noch
des neuen Ideals in das östliche, das Dostojewski als das Ideal in seinen Grundsätzen, mit der äußersten westlichen Welt hat
der durchaus geistigen Vereinigung der Menschen bezeichnet, vereinigen wollen, das heißt mit allen Erben der altrömischen
und in das westeuropäische, römisch-katholische, päpstliche Bestimmung. Es protestierte gegen diese Welt diese ganzen
erfolgt sei, in welcher Gestalt die Idee ihren christlichen, gei- zweitausend Jahre hindurch, und wenn es auch sein eigenes
stigen Charakter zwar nicht aufgegeben, aber die altrömische, Wort nicht aussprach — und es überhaupt noch nie aus-
politisch-imperiale Überlieferung bewahrt habe. Seitdem, sagt gesprochen hat, sein scharf formuliertes eigenes Ideal, zum
Dostojewski weiter, habe die Idee der universalen Vereini- positiven Ersatz für die von ihm zerstörte altrömische Idee —

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so, glaube ich —« (dies ist eine gewaltige Stelle; man spürt den Phasen seines ewigen Kampfes mit der äußersten west-
plötzlich, wo man ist: beim ersten Psychologen der Welt- lichen W e l t . . . «
literatur!) »so«, sagt er, »glaube ich, war es doch im Herzen
immer überzeugt, daß es noch einmal imstande sein werde, Wer sich der geistigen Anschauung großer Erschütterungen,
dieses neue Wort zu sagen und mit ihm die Menschheit zu zermalmender Katastrophen hingibt, läuft immer Gefahr, in
führen. Schon mit Armin begann es, gegen die römische Welt den Verdacht zu geraten, die Eitelkeit stachle ihn, an einem
zu kämpfen. Zur Zeit des römischen Christentums kämpfte Erdbeben seinen Witz zu erproben. Unter großen und schreck-
es mit dem neuen Rom mehr denn jedes andere Volk um die lichen Umständen erscheint der Geist sehr leicht als Frivolität.
Oberherrschaft. Endlich protestierte es in der allermächtigsten Dennoch ist ohne Geist kein Ding zu erkennen, das kleinste
Weise, indem es die neue Formel des Protestes aus den gei- nicht, geschweige die großen Geschichtsphänomene. Sie alle
stigsten, elementarsten Gründen der germanischen Welt zog. haben ein doppeltes Gesicht. Zieht man von der Französischen
Die Stimme Gottes tönte aus ihm und verkündete die Freiheit Revolution ›die Philosophie‹ ab, so bleibt die Hungerrevolte.
des Geistes. Die Spaltung war furchtbar und allgemein, — die Es bleibt eine Umwälzung in den Besitzverhältnissen. Aber
Formel des Protestes war gefunden und ging in Erfüllung, — wer wollte leugnen, daß der Französischen Revolution auf
wenngleich es noch immer eine negative blieb und das posi- diese Weise großes Unrecht geschähe? Es ist mit dem Erlebnis
tive Wort noch immer nicht gesagt wurde . . .« unserer Tage nicht anders, und unmöglich kann man den
Nach dieser Tat, so fährt Dostojewski ungefähr fort, er- erbitterten Puristen beistimmen, welche, aus freilich begreif-
stirbt der germanische Geist auf längere Zeit. Die westliche lichem Schrecken vor dem Feuilleton, darauf bestehen, die ein-
Welt aber, unter dem Einfluß der Entdeckung Amerikas, der zige Wirklichkeit dieses Krieges sei seine Erscheinung, näm-
neuen Wissenschaft, neuer Grundsätze, »sucht sich in eine lich namenloses Elend, und es sei frech, einen Sinn dafür zu
andere neue Wahrheit umzugebären«, gleichfalls in eine neue erwitzeln und diese abscheuliche Wirklichkeit zu fälschen und
Phase einzutreten; und der erste Versuch dieser Umgestal- zu beschönigen, indem man Geist hineinzutragen, hineinzu-
tung ist die Revolution. Welch verwirrendes Ereignis für den deuten versuche. Die Forderung solcher Abstinenz ist in-
germanischen Geist! Er versteht im Grunde, deutet Dostojew- human, obgleich sie humanitärem Schmerz über den Verfall
ski an, sowenig davon wie der romanische von der Reforma- der Brüderlichkeit entstammt. Nicht immer ist das Humani-
tion; ja, er ist nahe daran, seine Individualität einzubüßen und täre dasselbe wie das Humane.
den Glauben an sich zu verlieren. »Er konnte nichts gegen die Dostojewski's Anschauung der europäischen Geschichte
neuen Ideen der äußersten westlichen europäischen Welt sagen. oder vielmehr der eigentümlich widerstrebenden Rolle Deutsch-
Luthers Protestantismus hatte seine Zeit schon längst hinter lands in ihr ist nicht weniger wahr, weil sie geistreich ist. Daß
sich, die Idee aber des freien Geistes, der freien Forschung war seine Deutung Freiheiten, Einseitigkeiten, ja Fehler enthält,
bereits von der Wissenschaft der ganzen Welt angenommen glaube ich zu sehen. Wenn er etwa erklärt, die Entwicklung
worden. Der riesige Organismus Deutschlands fühlte mehr denn der römischen Vereinigungsidee habe in der Revolution zum
je, daß er keinen Körper, keine Form habe, die ihn ausgedrückt Verlust des wesentlichen Teiles der christlichen Grundsätze
hätte. Und damals entstand in ihm das dringende Bedürfnis, geführt, so scheint er mir zu verwechseln, was die Revolution
sich wenigstens äußerlich in einen einzigen festen Organis- selber verwechselte, nämlich das Christentum mit der Kirche;
mus zusammenzufügen: in Anbetracht der neuen herannahen- denn aller Vernunftkultus, aller Haß auf die Klerisei, aller

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entfesselte Hohn auf die Dogmen und Legenden der posi- wir konnten sie lesen, ohne uns sonderlich von ihr betroffen
tiven Religionen im allgemeinen und den »Bastard einer treu- zu finden, ja, ohne sie recht zu fühlen und zu verstehen. Heute
losen Ehefrau« im besonderen hinderte nicht, daß der Revo- brauchen wir sie nicht zu lesen und sind dennoch ihres Ver-
lution, soweit sie Rousseau'sches Geistesgepräge trug, ein ständnisses und der Anschauung ihrer Wahrheit voll. Denn
gutes Teil Christlichkeit, christlicher Universalität, christlicher es ist ein kriegerischer Gedanke, von kriegerischer Wahrheit,
Empfindsamkeit zugrunde lag. Nicht umsonst spricht Madame und in Kriegszeiten erglüht dieser Gedanke vom »protestie-
Roland in ihrem Brief an den Papst von »jenen evangelischen renden Reich« in seiner stärksten Wahrheitskraft, einleuch-
Grundsätzen, welche die reinste Demokratie, die zärtlichste tend für jedermann, — ja, es bestand vom ersten Augenblick
Menschenliebe und die vollkommenste Gleichheit atmen«. an im Grunde völlige und allgemeine Einhelligkeit über ihn:
Auch ist leicht festzustellen, daß bis zum heutigen Tage aller Deutschland stimmte in diesem Gedanken mit den Feinden
Rousseauismus, aller radikale Demokratismus, alles Revolu- überein und nicht nur mit den äußeren, sondern auch mit den
tionsepigonentum jeden Augenblick bereit ist, in christlichem sogenannten inneren Feinden, mit jenen Geistern, welche
Stile zu moralisieren, ja, das Christentum bewußt als Eides- unter uns gegen den deutschen Protest protestieren, — in gläu-
helfer anzurufen. Und endlich wird es irgend etwas auf sich biger Liebe dem europäischen Westen zugewandten Geistern,
haben, daß gegen Deutschland, gegen das Deutschland dieses von denen wir noch zu reden beabsichtigen. Alle, sage ich,
Krieges von gegnerischer Seite, aus dem Lager der ›Zivilisa- Freund und Feind, waren und sind einer Meinung, wenn auch
tion‹, der Vorwurf des Heidentums und der heimlichen Odins- nicht eines Sinnes, — denn das ist allerdings etwas anderes.
anbeterei geschleudert werden konnte, — irgend etwas, meine Wenn etwa Romain Rolland in seinem Kriegsbuche sagt, ich
ich, wird es auf sich haben damit, da in unserer eigenen hätte in einem gewissen Artikel, dessen einzelne meiner Leser
Mitte das Witzwort geprägt worden ist, die einzigen Christen sich möglicherweise erinnern (›Gedanken im Kriege‹, Novem-
in Deutschland seien die Juden. — Was aber das Verhältnis ber 1914), einem wütenden Stiere geglichen, der mit gesenk-
des deutschen Geistes zur römischen Welt betrifft, so sieht tem Kopf in den Degen des Matadoren rennt; ich hätte
Dostojewski, wie mir scheint, von zwei großen symbolischen alle Anklagen der Gegner als ebenso viele Ruhmestitel für
deutschen Ereignissen und Erlebnissen nur eines, während er Deutschland in Anspruch genommen und den Feinden Deutsch-
das andere, wohl geflissentlich, übersieht: er sieht das deutsche lands Waffen geliefert, — ihnen, mit einem Worte, in der un-
Ereignis ›Luther in Rom‹; aber er sieht nicht das andere, vorsichtigsten Weise zugestimmt: nun, so macht er damit
manchem Deutschen noch teuerere und wichtigere, das Ereig- eben nur jenen Unterschied zwischen Meinung und Gesin-
nis ›Goethe in Rom‹, — bei welchen formelhaften Andeutun- nung deutlich, auf dem eigentlich alle geistige Feindschaft
gen es hier sein Bewenden haben muß. beruht. Denn wo überhaupt keine Gemeinsamkeit der Ge-
danken besteht, da kann es keine Feindschaft geben, es herrscht
Dostojewski's Aperçu ist großzügig und einseitig, aber es
dort gleichgültige Fremdheit. Nur wo gleich gedacht, aber ver-
ist tief und wahr, — wenn man sich auch erinnern muß, daß
schieden empfunden wird, dort ist Feindschaft, dort wächst
wahre Gedanken nicht zu allen Zeiten gleich wahr sind. Dosto-
Haß. Zuletzt handelt es sich um einen europäischen Bruder-
jewski schrieb seine Betrachtung unter dem Eindruck von
zwist, lieber und guter Herr Rolland.
Bismarcks Persönlichkeit, wenige Jahre nach dem deutsch-
französischen Kriege, und sie war damals in hohem Grade Umfassendste Einhelligkeit also, meine ich, bestand vom er-
wahr. In der Zwischenzeit verlor sie an Wahrheitsintensität; sten Augenblick an darüber, daß die geistigen Wurzeln dieses
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Krieges, welcher mit allem möglichen Recht ›der deutsche
Krieg‹ heißt, in dem eingeborenen und historischen ›Prote- DAS UNLITERARISCHE LAND
stantentum‹ Deutschlands liegen; daß dieser Krieg im wesent-
lichen einen neuen Ausbruch, den großartigsten vielleicht,
den letzten, wie einige glauben, des uralten deutschen Kamp- Es liegt viel Selbstbeherrschung darin, wenn Dostojewski die
fes gegen den Geist des Westens sowie des Kampfes der Deutschen »ein großes, stolzes und besonderes Volk« nennt,
römischen Welt gegen das eigensinnige Deutschland bedeutet. denn wir wissen, daß er recht weit entfernt war, Deutschland
Ich lasse es mir nicht nehmen, daß aller deutsche ›Patriotis- zu lieben, — nicht aus übergroßer Sympathie für den äußer-
mus‹ in diesem Kriege — und namentlich jener, der sich un- sten Westen, sondern weil in seinen Augen Deutschland eben
erwarteter- oder kaum erwarteterweise kundgab — seinem doch und trotz seines Protestantentums dem »windigen Europa«
Wesen nach instinktive, eingeborene, oft erst nachträglich zugehörte, das er im Grunde seiner Seele verachtete. Viel
reflektierte Parteinahme für eben jenes Protestantentum war Selbstbeherrschung und gerechte Mäßigung also, als Folge
und ist; daß das deutsche Antlitz in diesem Kriege nach großer, freier, historischer Anschauung, liegt in seiner Art,
Westen gerichtet bleibt, — trotz der großen physischen Ge- von Deutschland zu sprechen. Denn statt »stolz und beson-
fahr, die von Osten drohte und zu drohen nicht aufgehört hat. ders« hätte er ebensogut »renitent, verstockt, böswillig« sagen
Die östliche Gefahr war furchtbar, und jene fünf Armeekorps können — und das wären ja noch milde Ausdrücke gewesen
mochten immerhin von der Westfront fortgenommen werden, im Vergleich mit denen, die der römische Westen uns in
so daß die Franzosen ihre grande victoire sur la Marne be- seiner großen Gesittung während des Krieges hat zukommen
kamen, — jeder von uns hätte zugestimmt, wenn er gefragt lassen. In der Tat enthält Dostojewski's Formulierung des deut-
worden wäre, denn es ging in Ostpreußen natürlich nicht so schen Wesens, der deutschen Urbesonderheit, des Ewig-Deut-
weiter. Das hindert nicht, daß dies gefährlich ungefüge Ruß- schen die volle Begründung und Erklärung der deutschen
land im gegenwärtigen Kriege lediglich das Werkzeug des Einsamkeit zwischen Ost und West, der Weltanstößigkeit
Westens ist; daß es geistig heute lediglich in Betracht kommt, Deutschlands, der Antipathie, des Hasses, den es zu tragen
insofern es westlich liberalisiert, — eben als Mitglied der und dessen es sich zu erwehren hat — in Erstaunen und
›Entente‹, in die es sich geistig, so gut es gehen will, einfügt Schmerz über diesen Haß einer Welt, den es nicht begreift,
(es geht gar nicht schlecht, wie die fesselnde Unterhaltung da es seiner selbst nur wenig kundig und überhaupt in Din-
zeigt, die der russische Minister des Auswärtigen, Herr Ssa- gen seelischen Wissens nicht gar weit vorgeschritten ist -:
sonow,mit einem englischen Romanschriftsteller über christen- die Begründung und Erklärung auch seiner ungeheueren Tap-
menschliche Sünderdemut und den unerträglichen »strikten ferkeit, welche es ohne Wanken mit der umringenden Welt
Moralismus« des Preußentums gepflogen hat, — eine sehr aufgenommen, mit dem römischen Westen, der heute fast
gute und geistreiche Unterhaltung, über die unsere Presse sich überall ist, im Osten, im Süden, sogar im Norden und jen-
in der unpassendsten Weise lustig zu machen suchte): als Mit- seits des Ozeans, wo das neue Kapitol steht, — jener blind-
glied der ›Entente‹, sage ich, welche, Amerika eingeschlossen, heroischen Tapferkeit, welche riesenhaft ausholend nach allen
die Vereinigung der westlichen Welt, der Erben Roms, der Seiten dreinschlägt . . . Und auch der gute Sinn des Vorwurfs
›Zivilisation‹ gegen Deutschland, das protestierende, so ur- der »Barbarei« ist erklärt darin, den mit Entrüstung zurück-
gewaltig wie nur je protestierende Deutschland ist. zuweisen eben doch unlogisch ist, da die Erben Roms in der

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Tat, wortkundig wie sie sind, kein besseres, einfacheres, schla- Humanität ist so bei weitem lockerer als das der Literatur,
genderes, agitationskräftigeres Wort finden konnten, um das, daß die musikalische Einstellung dem literarischen Tugend-
was instinktiv, von je zu je, gegen ihre Welt protestiert, da- sinn mindestens als unzuverlässig, mindestens als verdächtig
mit zu belegen, als eben dies. Denn nicht das ist das Schlimmste, erscheint. Auch nicht mit Dichtung: es steht damit allzu ähn-
daß Deutschland seinen Willen und sein Wort niemals mit lich wie mit der Musik; das Wort und der Geist spielen darin
dem der römischen Zivilisation hat vereinigen wollen: Was eine allzu indirekte, verschlagene, unverantwortliche und dar-
es ihr entgegenstellte, war nur sein Wille, sein störender, reni- um ebenfalls unzuverlässige Rolle. Sondern ausdrücklich mit
tenter, eigensinniger, »besonderer« Wille — aber nicht sein Literatur, mit sprachlich artikuliertem Geist, — Zivilisation
Wort, denn es hatte kein Wort, es war wortlos, es war nicht und Literatur sind ein und dasselbe.
wortliebend und wortgläubig wie die Zivilisation, es leistete Der römische Westen ist literarisch: das trennt ihn von der
einen stummen, unartikulierten Widerstand, und man darf germanischen — oder genauer — von der deutschen Welt, die,
nicht zweifeln, daß weniger der Widerstand selbst, als seine was sie sonst nun sei, unbedingt nicht literarisch ist. Die lite-
Wertlosigkeit und Unartikuliertheit von der Zivilisation als rarische Humanität, das Erbe Roms, der klassische Geist, die
»barbarisch« und haßerregend empfunden wurde. Das Wort, klassische Vernunft, das generöse Wort, zu dem die generöse
die Formulierung des Willens, wie alles, was mit Form zu Geste gehört, die schöne, herzerhebende und menschenwür-
tun hat, wirkt versöhnlich, gewinnend; es vermag mit jeder dige, die Schönheit und Würde des Menschen feiernde Phrase,
Art von Willen schließlich zu versöhnen, namentlich wenn die akademische Redekunst zu Ehren des Menschengeschlech-
es schön, generös, werbekräftig und klar-programmatisch ist. tes — dies ist es, was im römischen Westen das Leben lebens-
Das Wort ist unentbehrlich, um Sympathie zu erwerben. Was wert, was den Menschen zum Menschen macht. Es ist der Geist,
nützt riesenhafte Tapferkeit ohne das generöse Wort? Was der in der Revolution seine hohe Zeit hatte, ihr Geist, ihr
nützt die verstockte Überzeugung, daß man »noch einmal ›klassisches Modell‹, jener Geist, der im Jakobiner zur scho-
imstande sein wird, sein Wort zu sagen und mit ihm die lastisch-literarischen Formel, zur mörderischen Doktrin, zur
Menschheit zu führen«, wenn man es im entscheidenden tyrannischen Schulmeisterpedanterie erstarrte. Der Advokat
Augenblick nicht sagen kann oder will — (denn das läuft auf und der Literat sind seine Meister, die Wortführer des › d r i t -
dasselbe hinaus: Können ist eine Folge des Wollens, Wort- ten Standes‹ und seiner Emanzipation, die Wortführer der
geläufigkeit eine Folge der Liebe zum Wort, wie auch um- Aufklärung, der Vernunft, des Fortschritts, ›der Philosophie‹
gekehrt). Man kann ohne Wort die Menschheit nicht führen. gegen die seigneurs, die Autorität, die Tradition, die Ge-
Riesenhafte Tapferkeit ist barbarisch ohne ein wohlartiku- schichte, die ›Macht‹, das Königtum und die Kirche, — die
liertes Ideal, dem sie gilt. Nur das Wort macht das Leben Wortführer des Geistes, den sie für den unbedingt, einzig und
menschenwürdig. Wortlosigkeit ist menschenunwürdig, ist blendend wahren, den Geist selbst, den Geist an sich halten,
inhuman. Nicht nur der Humanismus — Humanität über- während es eben nur der politische Geist der bürgerlichen
haupt, Menschenwürde, Menschenachtung und menschliche Revolution ist, den sie meinen und kennen. Daß ›der Geist‹
Selbstachtung ist nach der eingeborenen und ewigen Über- in diesem politisch-zivilisatorischen Sinne eine bürgerliche
zeugung der römischen Zivilisation untrennbar mit Literatur Angelegenheit, wenn auch keine bürgerliche Erfindung ist
verbunden. Nicht mit Musik — oder doch keineswegs notwen- (denn Geist und Bildung sind in Frankreich nicht ursprünglich
dig mit ihr. Im Gegenteil, das Verhältnis der Musik zur bürgerlicher, sondern adelig-signoriler Herkunft, und der Bür-

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ger usurpierte sie nur) — das ist eine geschichtliche Tatsache,
DER ZIVILISATIONSLITERAT
die man ganz vergebens bestreitet. Sein Vertreter ist eigent-
lich der beredte Bürger, der literarische Anwalt des dritten
Standes, wie gesagt, und seiner geistigen sowohl wie auch,
nicht zu vergessen, seiner materiellen Interessen. Der Sieges- Man glaubte, das Ideal der Slawophilen sei:
zug dieses Geistes, der Prozeß seiner Ausbreitung, der das »Rettich zu essen und Denunziationen zu
Ergebnis ungeheuerer ihm innewohnender agitatorischer und schreiben«. Ja, Denunziationen! Sie setzten
sprengender Kräfte ist, wäre als ein Vorgang zu bestimmen, eben durch ihr Erscheinen und ihre Ansichten
alle so in Erstaunen, daß die Liberalen schon
der zugleich Verbürgerlichung und Literarisierung der Welt
bedenklich wurden und zu fürchten anfingen:
bedeutet. Was wir die ›Zivilisation‹ nennen, was sich selber
wie, wollten diese sonderbaren Leute sie nicht
so nennt, ist nichts anderes als eben dieser Siegeszug, diese am Ende denunzieren?
Ausbreitung des bürgerlich politisierten und literarisierten Dostojewski, Schriften
Geistes, die Kolonisation der bewohnten Erde durch ihn. Der
Imperialismus der Zivilisation ist die letzte Form des römi- Die großen Gemeinschaften besitzen jedoch — und es wäre
schen Vereinigungsgedankens, gegen den Deutschland › p r o - fast langweilig, wenn es sich anders verhielte — nicht jene
testiert‹; und gegen keine seiner Erscheinungsformen hat er geistige Einheitlichkeit, die sie in Kriegszeiten, und auch dann
das leidenschaftlicher getan, gegen keine einen furchtbareren nur vorübergehend, zu besitzen scheinen. Die Aufgabe, zu
Kampf auszufechten gehabt, als gegen diese. Das Einverständ- untersuchen, inwiefern dies für andere Länder zutrifft, darf
nis und die Vereinigung all jener Gemeinschaften, die dem uns hier nicht locken. Wir haben uns um Deutschland zu
Imperium des bürgerlichen Geistes angehören, heißt heute kümmern, — wobei das Wort ›kümmern‹ ein wenig etymo-
›die Entente‹ — mit einem französischen Namen, wie billig —, logisch zu nehmen ist und ohne jeden Chauvinismus fest-
und es ist wahrhaftig eine Entente cordiale, eine Vereinigung gestellt werden darf, daß aller Geisteskummer um Deutsch-
voll herzlichsten und im Geistigen, Wesentlichen, trotz man- land sich stets als besonders lohnend erwiesen hat. Es verhält
cher Temperamentsunterschiede, trotz machtpolitischer Diver- sich, unserer stillen Einsicht nach, mit Deutschland, wie folgt.
genzen, ausgezeichneten Einverständnisses: gerichtet gegen Die Gegensätze, welche die innere geistige Einheitlichkeit
das protestierende, der letzten Vollendung und endgültigen und Geschlossenheit der großen europäischen Gemeinschaften
Befestigung dieses Imperiums sich entgegensetzende Deutsch- lockern und in Frage stellen, sind im großen ganzen überall
land. Die Hermannsschlacht, die Kämpfe gegen den römischen die gleichen: sie sind im Grunde europäisch; doch sind sie bei
Papst, Wittenberg, 1813, 1870, — das alles war nur Kinder- den verschiedenen Völkern national stark differenziert und
spiel im Vergleich mit dem fürchterlichen, halsbrecherischen unter der nationalen Synthese vereinigt, so daß etwa ein
und im großartigsten Sinne unvernünftigen Kampf gegen die radikal-republikanischer Franzose ein ebenso echter, richtiger,
Welt-Entente der Zivilisation, den Deutschland mit einem vollkommener und zweifelloser Franzose wie ein klerikal-
wahrhaft germanischen Gehorsam gegen sein Schicksal—oder, royalistischer, ein liberaler Engländer ebensosehr ein Eng-
um es ein wenig aktivischer auszudrücken, gegen seine Sen- länder ist wie sein konservativer Landsmann: der Franzose
dung, seine ewige und eingeborene Sendung auf sich genom-
versteht sich mit dem Franzosen, der Engländer mit dem Eng-
men hat.
länder letzten Endes am besten und aufs beste. Es gibt jedoch
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ein Land und Volk, in welchem es sich anders verhält: ein langweilig, klar, dumm und undeutsch machen wollen und
Volk, das eine Nation in jenem sicheren Sinne, wie die Fran- also ein Anti-Nationalist sein, der darauf bestünde, daß
zosen oder Engländer Nationen sind, nicht ist und es wahr- Deutschland eine Nation in fremdem Sinne und Geiste
scheinlich niemals werden kann, weil seine Bildungsgeschichte, würde . . .
sein Menschlichkeitsbegriff dem entgegenstehen; ein Land, Eine sonderbare Bestrebtheit! Gleichwohl gibt es solche
dessen innere Einheitlichkeit und Geschlossenheit durch die Deutsche, und ganz irrig wäre es, zu glauben, daß für Deutsch-
geistigen Gegensätze nicht nur kompliziert, sondern beinahe land die Dinge so einfach lägen, wie es der großen Formel
aufgehoben wird; ein Land, wo diese Gegensätze heftiger, vom ›protestierenden Reiche‹ nach den Anschein haben könnte.
gründlicher, böser, des Ausgleichs unfähiger sich anlassen als Diejenigen, die es noch nicht wissen, müssen es unbedingt er-
sonst überall, und zwar, weil sie dort kaum oder ganz locker fahren — denn es ist sehr wichtig und interessant —, daß es
von einem nationalen Bande umschlungen, kaum irgendwie in Deutschland Geister gibt, die an dem ›Protest‹ ihrer Ge-
im Großen und Weiten zusammengefaßt sind, wie dies bei meinschaft gegen den römischen Westen nicht nur nicht teil-
den einander widersprechenden Willensmeinungen jedes an- nehmen, sondern sogar im leidenschaftlichsten Protest gegen
deren Volkes immer der Fall bleibt. Dies Land ist Deutschland. diesen Protest ihre eigentliche Aufgabe und Sendung sehen
Die inneren geistigen Gegensätze Deutschlands sind kaum und den innigen Anschluß Deutschlands an das Zivilisations-
nationale, es sind fast rein europäische Gegensätze, die bei- Imperium mit allen Kräften ihres Talentes fordern. Während
nahe ohne gemeinsame nationale Färbung, ohne nationale aber die inneren Gegner des amtlichen und wortführenden —
Synthese einander gegenüberstehen. In Deutschlands Seele o ja: wortführenden Frankreich im Kriege mit völligster Ent-
werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen, — im schiedenheit zu ihrem Lande stehen, leihen unsere Anti-Pro-
mütterlichen und im kämpferischen Sinne ›ausgetragen‹. testler ihrem kämpfenden Lande keineswegs Unterstützung
Dies ist seine eigentliche nationale Bestimmung. Nicht phy- und Sympathie, sondern bekennen sich, soweit ein solches Be-
sisch mehr — dies weiß es neuerdings zu verhindern —, aber kenntnis heute angängig ist, mit Begeisterung zur Gegenseite,
geistig ist Deutschland immer noch das Schlachtfeld Europas. zur Welt des Westens, der Entente, insbesondere Frankreichs,
Und wenn ich ›die deutsche Seele‹ sage, so meine ich nicht und warum insbesondere Frankreichs, soll gleich gesagt wer-
nur im großen die Seele der Nation, sondern ich meine ganz den. Diese Geister undeutsch zu nennen, — davor werde ich
im einzelnen die Seele, den Kopf, das Herz des deutschen In- mich hüten. Der Begriff ›deutsch‹ ist ein Abgrund, bodenlos,
dividuums: ich meine sogar auch mich selbst. Seelischer und mit seiner Negation, der Entscheidung ›undeutsch‹, muß
Kampfplatz für europäische Gegensätze zu sein: das ist man äußerst vorsichtig umgehen, um nicht zu Fall und Scha-
deutsch; aber nicht, sich die Sache leicht zu machen und die den dabei zu kommen. Ich nenne also, möge es auch leise-
nationale Schwäche, die — wie Nietzsche sagt — »heimliche treterisch scheinen, diese Geister beileibe nicht unpatriotisch.
Unendlichkeit« seines Volkes dadurch zu bekunden, daß man Ich sage nur: Ihr Patriotismus bekundet sich dergestalt, daß
sich etwa einfach französiert. Wessen Bestreben es wäre, aus sie die Vorbedingung der Größe, oder, wenn nicht der Größe,
Deutschland einfach eine bürgerliche Demokratie im römisch- so doch des Glückes und der Schönheit ihres Landes nicht in
westlichen Sinn und Geiste zu machen, der würde ihm sein seiner störenden und Haß erregenden »Besonderheit«, son-
Bestes und Schwerstes, seine Problematik nehmen wollen, in dern, um es zu wiederholen, in seiner bedingungslosen Ver-
der seine Nationalität ganz eigentlich besteht; der würde es einigung mit der Welt der Zivilisation, der Literatur, der
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herzerhebend und menschenwürdig rhetorischen Demokratie — denn solche gibt es. Es gibt, allgemein gesprochen, ohne
erblicken, — welche Welt durch die Unterwerfung Deutsch- Zweifel ein Maß von angeborenem Verdienst, von Geist und
lands in der Tat komplett würde: ihr Reich wäre vollendet und Kunst, mit dem man einer Kritik durch den nationalen Begriff
umfassend, es gäbe keine Opposition mehr gegen sie. nicht mehr unterliegt, vielmehr: mit dem man diesen Begriff
Der Typus dieses deutschen Anhängers der literarischen selbst bestimmt, vielleicht neu bestimmt, korrigiert, — ich ver-
Zivilisation ist, wie sich versteht, unser radikaler Literat, er, gesse das nicht. Ich lasse nicht außer acht, daß man mit sol-
den ich den ›Zivilisationsliteraten‹ zu nennen mich gewöhnt chem Range ein Faktor und Element des nationalen Schicksals
habe, — und es versteht sich deshalb, weil der radikale Literat, ist, — ein unseliger Faktor möglicherweise, — desto schlimmer
der Vertreter des literarisierten und politisierten, kurz, des für die Nation! Desto schlimmer, sage ich, für sie, — es ist ihr
demokratischen Geistes, ein Sohn der Revolution, in ihrer Unglück, es liegt an ihr, in ihr, in ihrem Wesen, wenn sie in
Sphäre, ihrem Lande geistig beheimatet ist. In der Tat ist das ihrer schwersten Stunde von etwelchen ihrer besten Geister
Wort ›Zivilisationsliterat‹ wohl ein Pleonasmus. Denn ich im Stiche gelassen und nicht nur im Stiche gelassen wird. In-
sagte ja schon, daß Zivilisation und Literatur ganz ein und dem man solche Geister bekämpft, ihre Tendenz trotz ihres
dasselbe sind. Man ist nicht Literat, ohne von Instinkt die Ranges bekämpft, hört man auf, Künstler zu sein: als welcher
»Besonderheit« Deutschlands zu verabscheuen und sich dem man gewohnt war, des Ranges zu achten und sich um die
Zivilisationsimperium verbunden zu fühlen; genauer: man ist Tendenz nicht sonderlich zu kümmern. Man wird vorüber-
beinahe schon Franzose, indem man Literat ist, und zwar klas- gehend zum Politiker — und hat sich desto sorgsamer vor
sischer Franzose, Revolutionsfranzose: denn aus dem Frank- politischen Lastern zu hüten, wie zum Beispiel davor, dem
reich der Revolution empfängt der Literat seine großen Über- Widersacher ungeistige, das heißt: gemeine Motive unterzu-
lieferungen, dort liegt sein Paradies, sein goldenes Zeitalter, schieben, selbst wenn das Umgekehrte bereits der Fall gewesen
Frankreich ist sein Land, die Revolution seine große Zeit, es sein sollte. Das Bewußtsein, den ›Fortschritt‹ für sich zu
ging ihm gut damals, als er noch ›Philosoph‹ hieß und in der haben, zeitigt offenbar eine sittliche Sicherheit und Selbst-
gewißheit, die der Verhärtung nahekommt und schließlich das
Tat die neue Philosophie, nämlich die der Humanität, Frei-
Gemeine zu adeln glaubt, einfach dadurch, daß sie sich seiner
heit, Vernunft vermittelte, verbreitete, politisch zubereitete...
bedient. Das ist eine Entschuldigung. Wir, die wir uns mora-
Indem ich vom deutschen Zivilisationsliteraten spreche, dem
lisch weniger geborgen fühlen, sind notwendig furchtsamer...
sein nationales Beiwort so sonderbar zu Gesichte steht, spreche
Aber kommen wir zur Sache!
ich nicht vom Gesinde und Gesindel, dem mit irgendwelchem
Studium, das man ihm widmete, allzu viel Ehre geschähe; Der radikale Literat Deutschlands also gehört mit Leib und
nicht also von jenem schreibenden, agitierenden, die inter- Seele zur Entente, zum Imperium der Zivilisation. Nicht, daß
nationale Zivilisation propagierenden Lumpenpack, dessen er mit sich zu kämpfen gehabt, daß die Zeit ihn in schmerz-
Radikalismus Lausbüberei, dessen Literatentum Wurzel- und lichen, seelischen Widerstreit gerissen hätte; nicht, daß sein
Wesenlosigkeit ist, — jener Hefe der Literatur, die als Hefe Herz hier und dort gebunden wäre, daß es mahnend, strafend,
und nationaler Gärstoff dem Fortschritt von einigem Nutzen begütigend nach beiden Seiten zu predigen und sich, wie der
sein mag, in der es aber an persönlichem Range oder einer sanfte Romain Rolland, über das Getümmel zu stellen ver-
Menschlichkeit, die anders als mit der Feuerzange anzufassen suchte : er stellt sich mit voller Leidenschaft in das Getümmel,
wäre, fehlt. Ich spreche von den edlen Vertretern des Typus, - aber auf die feindliche Seite. Vom ersten Augenblick an

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nahm er automatisch den Standpunkt der Entente ein, — ist: und zwar so vollkommen, daß es zu ruhigerer Zeit ein
natürlich, denn es war schon immer der seine gewesen. Mit wahres Vergnügen wäre, alle Hochherzigkeiten, Empfind-
unfehlbarer Treffsicherheit fühlte, dachte und sagte er genau samkeiten, Kindlichkeiten und Bösartigkeiten des noch zu
das, was gleichzeitig oder später Entente-Journalisten oder keiner kritischen Selbstbesinnung, keiner Resignation ge-
Entente-Minister sagten. Er war kühn, er war original, aber langten, des klassisch-ungebrochenen französischen National-
nur für deutsche Begriffe, nur relativ. Ich glaube, er machte charakters an ihm zu studieren. Er ist einer der besten fran-
Miene, seine Isoliertheit für tragisch auszugeben, — nicht zösischen Patrioten. Der Glaube trägt ihn und verleiht seinem
ganz mit Recht, denn sie bestand nur innerhalb Deutschlands, Stile zuweilen ein herrliches Tremolo, einen bewunderungs-
er dachte nicht eigentlich einsame Gedanken; was er dachte, würdigen Schwung: der Glaube an die Ruhmes- und Missions-
war nicht weiter erhaben, überlegen, liebevoll umfassend: es idee seines — des französischen — Volkes und daß es ein für
hätte in jedem Entente-Blatt stehen können, und es stand allemal zum Lehrer der Menschheit berufen sei, berufen, ihr
darin; kurzum, er dachte, wie im feindlichen Ausland Johann ›die Gerechtigkeit‹ zu bringen, nachdem es ihr ›die Freiheit‹
und jedermann, und das nenne ich nicht tragische Isoliertheit. gebracht hat (welche aber aus England stammt). Er denkt nicht
Man darf sagen: er hatte es gut während jener ersten Wochen nur in französischer Syntax und Grammatik, er denkt in
und Monate des Krieges, an die seine nicht zivilisations-lite- französischen Begriffen, französischen Antithesen, französi-
rarischen Landsleute zeit ihres Lebens denken werden, — da- schen Konflikten, französischen Affären und Skandalen. Der
mals, als die Welt, die demokratische öffentliche Meinung der Krieg, in dem wir stehen, erscheint ihm, völlig entente-kor-
Welt, gegen Deutschland losgelassen war, und als es Kot rekt, als ein Kampf zwischen ›Macht und Geist‹ — das ist
regnete: er hatte es recht gut, sage ich, denn alles, was damals seine oberste Antithese! —, zwischen dem ›Säbel‹ und dem
und späterhin dieses »große, stolze und besondere« Volk sich Gedanken, der Lüge und der Wahrheit, der Roheit und dem
hat sagen und antun lassen müssen, — ihm machte es weder Recht. (Ich brauche nicht hinzuzufügen, auf welcher Seite
heiß noch kalt, ihn berührte, ihn traf es nicht, — er nahm sich nach seiner Ansicht sich Säbel, Roheit und Lüge, auf welcher
ja aus, er gab den anderen recht; was sie sagten, hatte er wört- sich die antithetisch entsprechenden Ideale befinden.) Mit
lich schon längst gesagt. Undeutsch? Aus allen meinen Kräf- einem Worte: dieser Krieg stellt sich ihm als eine Wieder-
ten wehre ich mich dagegen, ihn undeutsch zu nennen, und holung der Dreyfus-Affäre in kolossalisch vergrößertem Maß-
werde nicht aufhören, mich dagegen zu wehren, solange die stabe dar, — wer es nicht glaubt, dem will ich Dokumente
Kräfte mir nicht versagen. Man kann höchst deutsch sein und unterbreiten, die ihn vollkommen überzeugen werden. Ein
dabei höchst antideutsch. Das Deutsche ist ein Abgrund, halten Intellektueller ist, nach der Analogie jenes Prozesses, wer
wir fest daran. Nein denn! er ist nicht undeutsch, er ist nur ein geistig auf Seiten der Zivilisations-Entente gegen den ›Säbel‹,
erstaunliches, sehenswürdiges Beispiel dafür, wie weit der gegen Deutschland ficht. Wem es anders ums Herz ist, wer
Deutsche es in Selbstekel und Einfremdung, in kosmopoliti- irgendwelchen trüben Instinkten folgend in diesem gewal-
scher Hingebung und Selbstentäußerung heute noch, im nach- tigen Streitfall zu Deutschland hält, der ist ein Verlorener,
bismärckischen Deutschland, bringen kann. Zu sagen, daß die ein Verräter am Geist, der steht gegen Recht und Wahrheit
Struktur seines Geistes unnational ist, mag statthaft sein. Sie — ob nun in eleganter oder in schlottrichter Haltung, das gilt,
ist es jedoch nur insofern, als — oder vielmehr, in dem Grade, mit Recht, dem Moralisten gleichviel — er steht gegen sie, und
daß — sie nicht deutsch-national, sondern national französisch jede Verdächtigung seiner Motive ist fortan nicht nur statt-

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haft, nein, auch geboten: Applaussucht, Erwerbssinn, die nette reich zu großem Glücke, denn sie brachte ihm die Republik,
Gabe, von den Verhältnissen zu profitieren, die nichts als das heißt: Wahrheit und Gerechtigkeit. Wenn aber dies, daß
menschliche Absicht auch wohl, den zum Schweigen oder zur die Vorsehung es gut mit Frankreich meinte, die einzige Er-
Intrige, zum Doppelsinn verurteilten Konkurrenten bei dieser klärung der Tatsache ist, daß Deutschland damals siegte (denn
Gelegenheit auszustechen und in Vergessenheit zu bringen, — von Geistes wegen konnte es unter einem nach der Meinung
es gibt keine Treuherzigkeit, auf die der Zivilisationsliterat des Zivilisationsliteraten völlig ungeistigen und widergeisti-
nicht mit verzerrter Miene verfiele, um die Parteinahme für gen Machtmenschen wie Bismarck doch wohl nicht siegen),
›den Säbel‹ in das rechte psychologische Licht zu setzen. Da es so ist es doch keine Entschuldigung für Deutschland. Ich weiß
aber (gewiß ein Indizium gegen Deutschland!) eine beträcht- nicht, es ist schwer zu erraten, was unser radikaler Literat
lich heiklere und verwickeitere Sache ist, für Deutschland zu damals gewünscht hätte; heute wünscht er, daß Deutschland
sprechen, als für die ›Zivilisation‹, wozu nur ziemlich viel durch die Entente geschlagen und bekehrt werde, — ihr Sieg
Schmiß und Tremolo gehört und man ist fertig, — da man, wäre der Sieg der Literatur für Deutschland und für Europa,
um für Deutschland zu sprechen, versuchen muß, so gut und es wäre sein Sieg, wie auch ihre Niederlage die seine wäre:
schlecht es nun gehen will, ein wenig in die Tiefe zu dringen, so sehr hat er die Sache der rhetorischen Demokratie zu der
so spricht der Zivilisationsliterat in solchem Falle auch noch seinen gemacht. Er wünscht also die physische Demütigung
mit klarer Verachtung von »Tiefschwätzerei«. Deutschlands, weil sie die geistige in sich schlösse; wünscht den
Zusammenbruch — aber man sagt es richtiger auf französisch:
So malen die Dinge sich im Haupt des Zivilisationslite- die débâcle des ›Kaiserreiches‹, weil durch diese physische
raten. Seine Sympathie für die Feinde des protestierenden und moralische debâcle — die moralische mag übrigens auch
Reiches ist geistige Solidarität. Seine Liebe und Leidenschaft vor der physischen kommen — endlich, endlich der heiß er-
ist bei den Truppen der westlichen Verbündeten, Frankreichs sehnte, handgreifliche und katastrophale Beweis erbracht wäre,
und Englands, auch wohl Italiens, in denen er die Heere des daß Deutschland in Lüge und Roheit statt in der Wahrheit
Geistes erblickt und mit denen die Zivilisation marschiert. und im Geiste gelebt hat. Ja, wäre heute noch darauf zu
Für sie schlägt sein Herz, — für Deutschland schlägt es recht hoffen, so wünschte er wohl von Herzen die demokratische
indirekt: in dem Sinn nämlich nur, als er mit seines Herzens Invasion in Deutschland, wünschte, daß es nicht bei irgend-
ganzer Inbrunst die deutsche Niederlage wünscht. Daß seine einem Marne-Valmy (es war jedoch eher ein Marne-Kolin)
Beweggründe geistiger, also edler Art sind, versteht sich am sein Bewenden haben möchte, sondern daß die Zivilisations-
Rande. Er wünscht die deutsche Niederlage ihrer geistigen truppen mit klingendem Spiel in Berlin einmarschierten: —
Bedeutung, der geistigen Folgen wegen, die sie für Deutsch- wie sein Herz sie empfangen würde! Wie er Mittel und Wege
land und für Europa mit sich brächte. Er wünscht sie aus ›in- finden würde, dem Triumph seiner Seele doppelsinnigen Aus-
neren‹ Gründen, — als Ersatz gleichsam für die Revolution, druck zu verleihen! Ach, das wird nicht geschehen. Es ist ein
an der Deutschland es ja bis heute hat fehlen lassen: denn undankbares Geschäft, den fluchenden Propheten zu machen
1848 war ein Fehlschlag, und Deutschlands Einigung ist nicht in einem Lande, wo Konsequenzen nicht eintreffen; dem
durch die demokratische Revolution, sondern durch das Lande der Halbheiten, das besten Falles sogar nur von halben
Schlimmste und Unverzeihlichste bewerkstelligt worden, wo- Katastrophen ereilt wird und keines reinlich romangemäßen
durch sie hätte bewerkstelligt werden können: durch die De- Schicksals fähig ist! Der Zivilisationsliterat wird nicht die
mütigung Frankreichs. Zwar gedieh die Niederlage Frank-
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débâcle des deutschen second empire zu schreiben haben, das billigt, wenn dieser im Dienste der Zivilisation unternommen
keinesfalls. Er wird froh sein müssen, wenn Deutschland nicht wird. Er folgt darin dem Beispiel Voltaire's, der Friedrichs
allzu auffällig siegt. . . Kriege zwar verabscheute, zum Zivilisationskriege (gegen die
Türken, mit denen Friedrich sich statt dessen beinahe ver-
Ich bitte, mir zu glauben, daß, wenn irgend etwas wie Spott bündet hätte) aber geradezu aufforderte. Wie könnte denn
oder Bitterkeit in meine Zeilen eingedrungen sein sollte, dies auch der Schüler der Revolution — um nicht zu sagen: ihr
gegen meinen Willen geschehen ist. Ich wünsche durchaus Epigone — das Vergießen von Blut um der guten Sache, um
nicht zu spotten oder bitter zu reden, sondern mein Bestreben der Wahrheit, des Geistes willen grundsätzlich verurteilen?
geht dahin, dieser Untersuchung einen — sagen wir: populär- »Entschlossene Menschenliebe« — das Wort gehört dem Zivi-
wissenschaftlichen Charakter zu wahren und einen literarisch- lisationsliteraten — entschlossene Menschenliebe ist nicht blut-
politischen Typus zu kennzeichnen. Es geschieht in dieser scheu; so gut wie das literarische Wort gehört die Guillotine
Absicht, daß ich zu folgender Bemerkung fortschreite. Die zu ihren Werkzeugen, wie vordem der freilich unblutige
logische, psychologische Gleichstellung nämlich der Begriffe Scheiterhaufen dazu gehörte. Es braucht also keineswegs gei-
›geschlagen‹ und ›bekehrt‹, die Gleichstellung der physi- len Ästhetizismus, wie bei Gabriele d'Annunzio, zu bedeuten,
schen und geistigen Demütigung eines Volkes beweist, daß wenn der Zivilisationsliterat grundsätzlich kein Kriegsgegner
der Zivilisationsliterat nicht eigentlich Kriegsgegner, nicht ist. Er frondiert gegen diesen Krieg, weil er einen deutschen
unbedingt Pazifist ist, daß er kriegerischer Entscheidung in- Krieg, ein historisches Unternehmen Deutschlands, einen Aus-
appellable geistige Gültigkeit zuerkennt, im Kriege eine ultima bruch des deutschen ›Protestes‹ darin erkennt; weil dieser
ratio, ja etwas wie ein Gottesgericht erblickt. Das ist auffal- Krieg deutschen Stempel trägt, seine Aktivität deutsch ist,
lend, aber es ist so. Wir beobachten da eine Art von Irratio- seine großen Taten bei Deutschland sind. Er frondiert nicht
nalismus, der in Wahrheit ein vergeistigter Rationalismus ist gegen ihn, insofern er einen Zivilisationskrieg gegen die bar-
und darin besteht, daß man den Krieg für ein Gottesgericht barische Renitenz Deutschlands darin sieht: in diesem Sinne,
erklärt, solange auch nur die geringste Aussicht vorhanden ist, für drüben, heißt er ihn gut. Er frondiert, kurz gesagt, nicht
daß Deutschland in irgendeiner Form, und sei es auch nur sowohl gegen den Krieg, als gegen Deutschland, und nur hierin
durch wirtschaftliche Erstickung, geschlagen wird. Keinesfalls ist die Lösung für allerlei Widersprüche zu finden, die der
länger! Denn sobald diese Aussicht entschwände, wäre er Un- Zivilisationsliterat sich scheinbar zuschulden kommen läßt
recht und rohe Gewalt, sein Ergebnis ohne geistige Bedeu- und die ohne jenes aufschließende Faktum durchaus wunder-
tung. Das darf uns jedoch nicht hindern, daran festzuhalten, lich wirken müßten. Sein Verhältnis zu diesem Kriege schwankt
daß ›der Geist‹ nicht notwendig pazifistisch ist, — wie schon zwischen humanitärem Abscheu und größter Bewunderung für
das Beispiel Italiens lehrt, wo vielmehr ›der Geist‹ den Krieg die soldatischen Leistungen der Feinde. Einerseits sieht er in
geradezu gemacht hat: denn nicht wahr, die Republikaner, der ›Entente‹ etwas Zartes, Gebrechliches, Köstliches, Edel-
Freimaurer, Radikalisten und Literaten Italiens, die den Krieg Schwaches, das durch das barbarische Deutschland brutali-
gemacht haben, repräsentieren doch dortzulande ›den Geist‹ siert zu werden natürlich große Gefahr läuft. Andererseits
— und nicht etwa die Sozialdemokraten, die sich gegen den aber hat er nur äußerste Verachtung für diejenigen seiner
Krieg gewehrt haben und in der Tat Pazifisten sind. Es ver- Landsleute, die die kriegerischen Tugenden und Kräfte der
hält sich so, daß der Zivilisationsliterat den Krieg nicht miß- Entente unterschätzten oder sogar noch unterschätzen. Er ist

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entzückt von den Leistungen der Zivilisationsmächte, er be- Auch er erkennt darin die uralte Auflehnung Deutschlands
wundert ihr Kriegsgerät, ihre Stahlplatten, Betongräben, Flie- gegen den westlichen Geist, gegen seinen, des Zivilisations-
gerpfeile, Ekrasit- und Stickgasbomben, ohne zu fragen, wie literaten, Geist — und ein Einschreiten Roms (Westroms, ver-
sich das alles mit Edelschwäche verträgt, und während er die- bunden mit Ostrom) gegen diese Auflehnung; einen Inter-
selben Dinge auf deutscher Seite ekelerregend findet. Eine ventionskrieg also der europäischen Zivilisation gegen das
französische Kanone scheint ihm verehrungswürdig, eine renitente Deutschland: denn wenn die Londoner ›Times‹ eines
deutsche verbrecherisch, abstoßend und idiotisch. Auch darin Tages erklärten, dieser Krieg werde von den Verbündeten
stimmt er mit sämtlichen Entente-Ministern und -Journali- »aus Interesse an Deutschlands inneren Zuständen« geführt,
sten überein, daß jeder deutsche Sieg nur Folge und Beweis so war das wohl freilich ziemlich genau das, was man unter
langjährig tückischer Vorbereitung ist, jeder Entente-Erfolg einer shameless audacity zu verstehen hat, aber es war völlig
aber einen Triumph des Geistes über die Materie bedeutet. im Sinne des Zivilisationsliteraten gesprochen, der ihn eben-
Wiederum aber duldet seine Liebe auch dies nicht, daß eine falls aus europäischem Interesse an den inneren »Zuständen«
Entente-Macht und gar namentlich Frankreich schlecht vor- seines Landes führt und, nachdem er während der ersten
bereitet, mangelhaft gerüstet sein könne. Gerüstet? Sie sind Kriegswochen, wie jeder Franzose, einer gewissen Demorali-
glänzend gerüstet! — Nochmals, die Logik von alldem liegt sation unterlegen war, seit dem Marne-Mirakel vom Endsiege
nicht auf der Hand. Aber wer wäre denn auch Pedant genug, überzeugt ist. »Deutschland wird sich schicken müssen«, sagte
von der Liebe Logik zu verlangen! er damals, und seine Augen glommen. Deutschland wird end-
Ich wünschte, wie gesagt, mich wissenschaftlich und infor- lich artig sein müssen, sagte er, und es wird dann glücklich
mativ zu verhalten. Dennoch geht wohl aus meiner Skizze des sein wie ein Kind, das nach Schlägen schrie und, wenn es
zivilisationsliterarischen Typs hervor, daß ich nicht recht mit welche bekommen hat, dankbar ist, daß man seinen Trotz
ihm übereinstimme. Meine Stellung zu den Ereignissen — eine gebrochen, ihm über seine Hemmungen hinweggeholfen, es
Stellung, die ich gewiß nicht ›wählte‹, eine zunächst sehr un- erlöst, es befreit hat. Wir erlösen und befreien Deutschland,
reflektierte und simpel-selbstverständliche Stellung — alles, indem wir es schlagen, es auf die Knie werfen, seine böse
was ich von Anfang an dazu äußerte, hat ihn erbittert, ich Renitenz, ihm selbst zur Wohltat, brechen und es zwingen,
habe es, soweit ich das nicht schon vorher getan hatte, auf Vernunft anzunehmen und ein ehrenwertes Mitglied der de-
immer dadurch mit ihm verdorben. »Mit Schmerz und Zorn«, mokratischen Staatengesellschaft zu werden.
sagt er, hat er sich von mir gewandt, wobei sein Schmerz
Ich gab schon zu, daß ich solchem Gedankengange nicht
seinen Zorn nicht hinderte, mir doppelsinnig-halböffentlich
recht zu folgen vermag; ich gehe weiter und gestehe, daß er
Dinge zu sagen, die in politischem Betrachte vorzüglich sein
mich sehr unliebsam berührt, mich irgendwie persönlich be-
mögen, menschlich genommen aber einfach tüchtige Gemein-
leidigt und empört, meine innerste Ehre antastet, ja, als ich
heiten sind, — ein Wink offenbar, daß auch die ›Politik der
ihn zuerst kennenlernte, recht eigentlich wie Gift und Oper-
Menschlichkeit‹ eben Politik bleibt und dem Menschlichen
ment auf mich wirkte. Aber woher das? Woher die Empörung
nicht eben zuträglich ist. Allein diese äußere Entfremdung ist
meines letzten und untersten, persönlich-überpersönlichen
um so bedauerlicher, als wir im Grunde ganz einer Meinung
Willens gegen die Willensmeinung eines guten Europäers,
sind, — nicht eines Sinnes, aber einer Meinung über diesen '
den eben sein gutes Europäertum vermag, den Niederbruch
Krieg, von dem auch er die Dostojewski'sche Auffassung hat.
seines Vaterlandes, die Gefügigmachung seines Volkes durch
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Merkwürdig, — denn die Tatsache besteht, daß mein eigenes
die Mächte der westlichen Zivilisation zu wünschen und zu
Sein und Wesen sich zu dem des Zivilisationsliteraten viel
glauben? Nie gehörte ich zu denen, die einen leichten und
weniger fremd und entgegengesetzt verhält, als die kalt ob-
triumphalen militärischen Sieg Deutschlands über seine Geg-
jektive Kritik, die ich dem seinen zuteil werden ließ, glauben
ner, mit Pauken und Trompeten, für ein Glück, ein europäi-
machen könnte. Was will er? Und wenn ich es nicht will —
sches oder ein deutsches gehalten hätten. Ich habe dem früh-
warum will ich es nicht? Es ist ja keineswegs so, daß er ein
zeitig Ausdruck gegeben. Woher aber das Gefühl, das mich
schlechter Bürger und Patriot wäre, der sich um Deutschland
zu Anfang des Krieges bis in den Grund meines Wesens be-
nicht kümmerte. Im Gegenteil! er kümmert sich aus allen
herrschte, daß ich nicht hätte leben — ohne im geringsten ein
Kräften darum, er fühlt sich im höchsten Grade verantwort-
Held und todesmutig zu sein, buchstäblich nicht weiter hätte
lich für sein Schicksal. Er will und betreibt eine Entwicklung,
leben mögen, wenn Deutschland vom Westen geschlagen,
— die ich für notwendig, das heißt: für unvermeidlich halte;
gedemütigt, im Glauben an sich selbst gebrochen worden
an der auch ich meiner Natur nach unwillkürlich in gewissem
wäre, so daß es sich »schicken« und die Vernunft, die ratio,
Grade teilhabe; der zuzujauchzen ich aber gleichwohl keinen
der Feinde hätte annehmen müssen? Gesetzt, das wäre ge-
Grund sehe. Er fördert mit Peitsche und Sporn einen Fort-
schehen, die Entente ihrerseits hätte rasch und glänzend ge-
schritt, — der mir, nicht selten wenigstens, als unaufhaltsam
siegt, die Welt wäre vom deutschen ›Alpdruck‹, dem deut-
und schicksalsergeben erscheint und den an meinem beschei-
schen ›Protest‹ befreit worden, das Imperium der Zivilisation
denen Teile zu fördern mein eigenes Schicksal ist; dem ich
hätte sich vollendet, oppositionslos übermütig geworden: das
aber trotzdem aus dunklen Gründen eine gewisse konser-
Ergebnis wäre ein Europa gewesen, — nun, ein wenig drollig,
vative Opposition bereite . . . Ich möchte ganz verstanden
ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-elegant, ein
sein. Ich meine also: Man kann einen Fortschritt sehr wohl
Europa, schon etwas allzu ›menschlich‹, etwas preßbanditen-
als unvermeidlich und schicksalsgegeben betrachten, ohne im
haft und großmäulig-demokratisch, ein Europa der Tango-
mindesten gestimmt zu sein, mit Hurra und Hussa hinter-
und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa à la
drein zu hetzen, — was, sollte ich denken, der Fortschritt auch
Edward the Seventh, ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie
gar nicht nötig hat. Der Fortschritt hat alles für sich, vor allem
eine Pariser Kokotte, — aber etwa nicht ein Europa, in dem es
die guten Federn. Wenn es scheint, daß die guten Federn die Zu-
für meinesgleichen sich weit vorteilhafter hätte leben lassen
kunft für sich haben, so verhält es sich in Wirklichkeit so, daß
als in einem ›militaristischen‹? Etwa nicht ein amüsantes,
vielmehr die Zukunft die guten Federn für sich hat. Es ist ein
ja! ein durch und durch amüsantes Europa, welches nicht zu
metaphysischer Beweis für die Güte und Zukünftigkeit einer
wollen bei einem Schriftsteller zum mindesten nicht von Egois-
Sache, wenn in ihrem Namen gut geschrieben wird. Aber man
mus zeugt? Denn ohne Zweifel wäre es ungemein artistisch
kann auch sagen: Solange noch für eine Sache gut geschrieben
gewesen, dies Entente-Europa für human freedom and peace,
wird, hat sie auch Wert und Berechtigung, selbst wenn sie nicht
und der Artist, soweit er eben ›Artist‹ ist, hätte sich pudel-
der Fortschritt ist. .. Ich wiederhole: Der Fortschritt hat alles
wohl darin fühlen können, das möge er bedenken und möge
für sich. Nur scheinbar ist er die Opposition. Der erhaltene Ge-
man ihm anrechnen . . .
genwille ist es, der in Wahrheit immer und überall die Oppo-
Im Ernst, meine Auflehnung ist sehr merkwürdig! Merk- sition bildet, der sich in der Verteidigung befindet, und zwar in
würdig für mich, — und ich habe die schlechte Gewohnheit,' einer, wie er genau weiß, aussichtslosen Verteidigung.
anderen als merkwürdig aufzudrängen, was mir so erscheint.
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Welches ist nun diese Entwicklung, dieser Fortschritt, von
dem ich sprach? Aber es ist eine Handvoll schändlich häßlicher EINKEHR
Kunstwörter nötig, um anzudeuten, um was es sich handelt.
Es handelt sich um die Politisierung, Literarisierung, Intel-
lektualisierung, Radikalisierung Deutschlands, es gilt seine Sollte es wirklich wahr sein, daß der kosmo-
›Vermenschlichung‹ im lateinisch-politischen Sinne und seine politische Radikalismus auch in Deutschland
Enthumanisierung im deutschen . . . es gilt, um das Lieblings- schon Wurzel gefaßt hat?
wort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu Dostojewski, Schriften
brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles Doch, auch ich habe teil daran . . . und nun wollen wir der
zusammenzufassen und auf den Generalnenner zu bringen: Einfachheit halber all jene Exküsen übergehen, die selbstver-
es gilt seine Entdeutschung . . . Und an all diesem Unfug ständlich im höchsten Grade am Platze sind, wenn heutigen-
sollte ich teilhaben? tags jemand Miene macht, von sich selbst zu reden. »Eine
Weltwende!« höre ich sagen. »Der rechte Augenblick, in der
Tat, für einen mittleren Schriftsteller, unsere Aufmerksam-
keit für seine werte literarische Persönlichkeit in Anspruch zu
nehmen!« Das nenne ich gesunde Ironie. Auf der anderen
Seite jedoch überlege ich, ob eine Weltwende nicht bei Lichte
besehen für jedermann recht wohl der Augenblick ist, in sich
zu gehen, mit seinem Gewissen Rats zu pflegen und eine Ge-
neral-Revision der eigenen Grundlagen anzusetzen, — begreif-
lich wenigstens und entschuldbar erscheint mir ein solches
Bedürfnis dort, wo auch in Hochzeiten der äußeren Politik
und der ›Macht‹ die innere Politik und die moralischen An-
gelegenheiten das beherrschende Interesse bleiben. Nur die
Sympathie freilich, nicht Gleichgültigkeit oder Abneigung,
wird zu überzeugen sein, daß es sich um Gewissensdrang
handelt, wo die Diagnose auf Selbstverliehtheit und eitle
Anmaßung im entferntesten möglich ist. Indem ich mich an-
schicke, geschmacklos zu sein, muß ich mir ein kleines Publi-
kum von Freunden, mir bekannten und unbekannten, ein-
bilden dürfen: Freunden in dem Sinne, daß ihnen aus dem
ernsten und heiteren Anteil, den sie an meinem früheren
Treiben und Schreiben genommen haben, eine gewisse Mit-
verantwortlichkeit dafür erwächst und bewußt ist, — Freun-
den also im Sinn jener Gewissens-Solidarität, die einen Künst-
ler mit seinem wahren Publikum verbindet und die stark
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genug sein möge, um auch ihnen, wie mir, über das zeitlich gesse ich auch hier nicht ganz, daß es beinahe zur deutschen
Gewagte der folgenden Abschnitte hinwegzuhelfen. Humanität gehört, sich undeutsch, und selbst antideutsch auf-
Die Sache fängt damit an, daß mein Recht auf ›Patriotis- zuführen; daß eine den Nationalsinn zersetzende Neigung
mus‹ mit gutem Fug bezweifelt werden könnte, denn ich bin zum Kosmopolitischen nach maßgeblichem Urteil vom Wesen
kein sehr richtiger Deutscher. Zu einem Teil romanischen,
der deutschen Nationalität untrennbar ist; daß man seine
latein-amerikanischen Blutes, war ich von jung auf mehr euro-
Deutschheit möglicherweise verlieren muß, um sie zu finden;
päisch-intellektuell als deutsch-poetisch gerichtet, — ein Un-
daß ohne einen Zusatz von Fremdem vielleicht kein höheres
terschied, nein, ein Gegensatz, über den, wie ich hoffen muß,
Deutschtum möglich ist; daß gerade die exemplarischen Deut-
von vornherein Einverständnis herrscht, so daß ich nicht wei-
schen Europäer waren und jede Einschränkung ins Nichts-als-
ter darauf zu bestehen brauche. Ein deutscher Dichter zu sein,
Deutsche als barbarisch empfunden hätten. Den großen Schil-
wie etwa Gerhart Hauptmann, wie noch Herbert Eulenberg
ler hat noch Fontane einen Halbfremden genannt, und wenn
es ist, habe ich mir nie einzureden versucht, — wobei ich mich
sein rhetorisches Drama eigentlich im grand siècle zu Hause
beeile, hinzuzufügen, daß hier keinen Augenblick vom Range,
ist, so fehlt nicht viel, daß Nietzsche das Werk des anderen
sondern ausschließlich vom Wesen die Rede ist. Diejenige
großen deutschen Theatralikers in die französische Romantik
Begabung, die sich aus synthetisch-plastischen und analytisch-
verweist. Was Goethe betrifft, so sind mindestens die W a h l -
kritischen Eigenschaften zusammensetzt und die Kunstform
des Romans als die ihr gemäße ergreift, ist überhaupt nicht verwandtschaften formal genommen kein sehr deutsches
eigentlich deutsch, der Roman selbst keine recht deutsche Gat- Werk, wie denn überhaupt die Prosa dieses Schriftstellers zu-
tung; vorderhand ist es nicht vorstellbar, daß hierzulande — weilen französiert, daß es eine Schande ist (eine Erscheinung,
im ›unliterarischen Lande‹ — ein Schriftsteller, ein Prosaist die bei dem ›Polen‹ Nietzsche nicht weiter auffallen kann),
und Romanschreiber im Bewußtsein der Nation zu repräsen- während Schopenhauer seine Paragraphen zunächst ins Latei-
tativer Stellung aufsteige, wie der Poet, der reine Synthetiker, nische übersetzt zu haben scheint, um sie dann mit einem Ge-
der Lyriker oder Dramatiker es vermag. Ich sage: vorder- winst an erzen-unsterblicher Präzision ins Deutsche zurück-
hand, denn der Zivilisationsliterat will, daß es anders werde, zuübersetzen . . . Zu solchen nationalen Unzuverlässigkeiten
und er weiß, warum. Es ist sicher, daß ein Vortreten des unserer Großen also hat man sich gewöhnt, gute Miene zu
Romans oder genauer: des Gesellschaftsromans im öffent- machen, und sich einfach entschlossen, dergleichen in den Be-
lichen Interesse der exakte Gradmesser wäre für den Fort- griff des höheren Deutschtums aufzunehmen. Unterdessen bin
schritt jenes Prozesses der Literarisierung, Demokratisierung ich nicht so toll, das Europäisieren meines Geschmacks mit
und ›Vermenschlichung‹ Deutschlands, von dem ich sprach, meinem Range in Verbindung zu bringen, (aber von dem
und den anzufeuern die eigentliche Angelegenheit und Sen- sollte ja überhaupt nicht die Rede sein). Es ist kein Verdienst,
dung des Zivilisationsliteraten ist. wenn es kein Tadel ist, daß intim und exklusiv Deutsches mir
niemals genügen wollte, daß ich nicht viel damit anzufangen
Kommen wir aufs Persönliche zurück! Ich sagte, ich sei kein
wußte. Mein Blut bedurfte europäischer Reize. Künstlerisch,
sehr guter und richtiger Deutscher, — und ließ dabei freilich
literarisch beginnt meine Liebe zum Deutschen genau dort,
in meinem Falle jene letzte Vorsicht außer acht, die ich im
wo es europäisch möglich und gültig, europäischer Wirkungen
Falle des Zivilisationsliteraten sorgfältig walten ließ. Gegen
fähig, jedem Europäer zugänglich wird. Die drei Namen, die
mich selbst darf ich unbedenklicher vorgehen. Dennoch ver-
ich zu nennen habe, wenn ich mich nach den Fundamenten
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meiner geistig-künstlerischen Bildung frage, diese Namen für Thomas Buddenbrook vor seinem Ende in einem verstaubten
ein Dreigestirn ewig verbundener Geister, das mächtig leuch- Winkel seines Bücherschrankes machte, — er machte ihn nur
tend am deutschen Himmel hervortritt, — sie bezeichnen nicht scheinbar zufällig, nicht viele Jahre vorher hatte Europa, das
intim deutsche, sondern europäische Ereignisse: Schopen- intellektuelle Europa, mit dem der Mittelstadt-Honoratiore
hauer, Nietzsche und Wagner. nervös sympathisierte, denselben Fund gemacht, der Pessimis-
Das kleine, hochgelegene Vorstadtzimmer schwebt mir vor mus Arthur Schopenhauers herrschte, er war große Mode im
Augen, worin ich, es sind sechzehn Jahre, tagelang hinge- intellektuellen Europa: denn dieser deutsche Philosoph war
streckt auf ein sonderbar geformtes Langfauteuil oder Kana- kein deutscher Philosoph‹ mehr im herkömmlichen, unzu-
pee, ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ las. Einsam-un- gänglich-abstrusen Sinne — er war wohl freilich sehr deutsch
regelmäßige, welt- und todsüchtige Jugend — wie sie den (kann man Philosoph sein, ohne deutsch zu sein?) — sehr
Zaubertrank dieser Metaphysik schlürfte, deren tiefstes Wesen deutsch, insofern er zum Beispiel durchaus kein Revolutionär,
Erotik ist und in der ich die geistige Quelle der Tristan- kein Busen-Rhetor und Menschheitsschmeichler, sondern
Musik erkannte! So liest man nur einmal. Das kommt nicht Metaphysiker, Moralist und politisch, gelinde gesagt, indiffe-
wieder. Und welch ein Glück, daß ich ein Erlebnis wie dieses rent war . . . Aber er war etwas sehr Überraschendes und
nicht in mich zu verschließen brauchte, daß eine schöne Mög- Dankenswertes darüber hinaus: ein ganz großer Schriftsteller
lichkeit, davon zu zeugen, dafür zu danken, sofort sich dar- nämlich, ein Schöngeist und Sprachmeister von umfassend-
bot, dichterische Unterkunft unmittelbar dafür bereit war! sten literarischen Wirkungsmöglichkeiten, ein europäischer
Denn zwei Schritte von meinem Kanapee lag aufgeschlagen Prosaist, wie es deren vorher unter Deutschen vielleicht zwei,
das unmöglich und unpraktisch anschwellende Manuskript — drei und keineswegs unter deutschen Philosophen gegeben
Last, Würde, Heimat und Segen jenes seltsamen Jünglings- hatte . . . Ja, das war neu, und die Wirkung davon war groß:
alters, höchst problematisch, was seine öffentlichen Eigen- auf das intellektuelle Europa, welches die Mode durchmachte
schaften und Aussichten betraf —, welches eben bis zu dem und ›überwand‹, auf Thomas Buddenbrook, der starb —, und
Punkte gediehen war, daß es galt, Thomas Buddenbrook zu auf mich, der nicht starb und dem ein überdeutsches Geistes-
Tode zu bringen. Ihm, der mir mystisch-dreifach verwandten erlebnis zu einer der Quellen seines literarisch so anstößigen
Gestalt, dem Vater, Sprößling und Doppelgänger schenkte ich ›Patriotismus‹ wurde.
das teure Erlebnis, das hohe Abenteuer, in sein Leben, dicht Es war um dieselbe Zeit, daß meine Passion für das Kunst-
vor dem Ende, wob ich es erzählend ein, denn mir schien, daß werk Richard Wagners auf ihre Höhe kam oder doch ihrem
es ihm wohl anstehe, — dem Leidenden, der tapfer stand- Höhepunkt sich näherte: ich sage ›Passion‹, weil schlichtere
gehalten, dem Moralisten und ›Militaristen‹ nach meinem Wörter, wie ›Liebe‹ und ›Begeisterung‹, die Sache nicht wahr-
Herzen, dem späten und komplizierten Bürger, dessen Nerven haft nennen würden. Die Jahre der größten Hingebungs-
in seiner Sphäre nicht mehr heimisch sind, dem Mitregenten; fähigkeit sind nicht selten zugleich auch diejenigen der größ-
einer aristokratischen Stadtdemokratie, welcher, modern und ten psychologischen Reizbarkeit, welche in meinem Falle durch
fragwürdig geworden, unherkömmlichen Geschmacks und von eine gewisse kritische Lektüre noch mächtig verschärft wurde;
entwickelt europäisierenden Bedürfnissen, die gesunder, enger und Hingabe zusammen mit Erkenntnis — eben dies ist Pas-
und echter gebliebene Umgebung zu befremden und — zu be- sion. Die innig-schwerste und fruchtbarste Erfahrung meiner
lächeln längst begonnen hat. In der Tat, den Fund, den Jugend war diese, daß Leidenschaft hellsichtig — oder ihres

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Namens nicht wert ist. Blinde Liebe, nichts als panegyrisch- schaffen auf eine für den Genießenden ohnehin strapaziöse
apotheosierende Liebe — eine schöne Simpelei! Eine gewisse Weise zu vereinigen. Aber die Beschäftigung mit ihr wird bei-
Art approbierter Wagner-Literatur habe ich nie auch nur lesen nahe zum Laster, sie wird moralisch, wird zur rücksichtslos
können. Jene verschärfend kritische Lektüre aber, von der ich ethischen Hingabe an das Schädliche und Verzehrende, wenn
sprach, war diejenige der Schriften Friedrich Nietzsche's: ins- sie nicht gläubig-enthusiastisch, sondern mit einer Analyse
besondere sofern sie Kritik des Künstlertums, oder, was bei verquickt ist, deren gehässigste Erkenntnisse zuletzt eine Form
Nietzsche dasselbe besagt, Wagnerkritik sind. Denn überall, der Verherrlichung und wiederum nur Ausdruck der Leiden-
wo in diesen Schriften vom Künstler und Künstlertum die schaft sind. Noch im ›Ecce homo‹ ist eine Seite über den
Rede ist — und es ist auf keine gutmütige Weise davon die ›Tristan‹, welche Beweis genug wäre, daß Nietzsche's Ver-
Rede —, da ist der Name Wagners, sollte er auch im Texte hältnis zu Wagner bis in die Paralyse hinein heftigste Liebe
fehlen, unbedenklich einzusetzen: Nietzsche hatte, wenn nicht geblieben ist.
die Kunst selbst — aber auch dies könnte man behaupten —, Der intellektuelle Name für ›Liebe‹ lautet ›lnteresse‹, und
so doch das Phänomen ›Künstler‹ durchaus an Wagner er- der ist kein Psycholog, der nicht weiß, daß Interesse einen
lebt und studiert, wie dann der so viel geringere Nachkömm- nichts weniger als matten Affekt bedeutet, — vielmehr einen,
ling das Wagner'sche Kunstwerk und in ihm beinahe die der zum Beispiel den der ›Bewunderung‹ an Heftigkeit weit
Kunst selbst durch das Medium dieser Kritik leidenschaftlich übertrifft. Es ist der eigentliche Schriftsteller-Affekt, und
erlebte — und dies in entscheidenden Jahren, so daß all meine Analyse vernichtet ihn nicht nur nicht, sondern er saugt, sehr
Begriffe von Kunst und Künstlertum auf immer davon be- anti-spinozistisch, beständig Nahrung aus ihr. Es ist also
stimmt, oder, wenn nicht bestimmt, so doch gefärbt und be- nicht der Panegyrikus, es ist die Kritik; und zwar die böse
einflußt wurden — und zwar in einem nichts weniger als herz- und selbst gehässige Kritik, ja geradezu das Pamphlet, vor-
lich-gläubigen, vielmehr einem nur allzu skeptisch-verschla- ausgesetzt, daß es geistreich und Produkt der Leidenschaft ist,
genen Sinn. — worin passioniertes Interesse sein Genüge findet: die bloße
Erkennende Hingabe, hellsichtige Liebe — das ist Passion. Lobpreisung schmeckt ihm schal, es findet, daß nichts daraus
Ich versichere, daß die Inständigkeit meiner Wagner-Leiden- zu lernen ist. Ja, sollte es etwa selbst dahin gelangen, den
schaft nicht die mindeste Einbuße dadurch erlitt, daß sie sich Gegenstand, die Persönlichkeit, das Problem, für das es brennt,
in Psychologie und Kritik brach — einer Kritik und Psycho- produktiv zu feiern, so wird etwas Wunderliches zustande
logie, die an Raffinement ihrem zauberischen Gegenstande, kommen, welches im Mißverstandenwerden beinahe seine
wie man weiß, gewachsen ist. Im Gegenteil, ihren feinsten Ehre sucht, ein Erzeugnis hinterhältiger und verschmitzt irre-
und schärfsten Stachel erhielt sie erst eben hierdurch, sie führender Begeisterung, das auf den ersten Blick einem Pas-
wurde erst eben hierdurch recht zur Leidenschaft — mit all den quill zum Verwechseln ähnlich sieht. Ich gab kürzlich ein
Ansprüchen, die eine rechte Passion an die nervöse Spann- kleines Beispiel dafür, als ich eine historisierende Schrift,
kraft nur immer stellen kann. Die Kunst Wagners, so poetisch, einen Abriß des Lebens Friedrichs von Preußen, zur Kriegs-
so ›deutsch‹ sie sich geben möge, ist ja an und für sich eine diskussion beisteuerte, — ein von den Zeitereignissen eingege-
äußerst moderne, eine nicht eben unschuldige Kunst: Sie ist benes/ja abgepreßtes Werkchen, dessen Veröffentlichung mir
klug und sinnig, sehnsüchtig und abgefeimt, sie weiß be- im ersten Augenblick — der Krieg währte noch nicht lange —
täubende und intellektuell wachhaltende Mittel und Eigen- von besorgten Freunden dringend widerraten wurde: und

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zwar nicht seines die Literatur beleidigenden ›Patriotismus‹ der Tat ist Wagner als geistige Erscheinung so gewaltig deutsch,
wegen, sondern aus gerade entgegengesetzten Gründen . . . daß mir immer schien, man müsse unbedingt sein Werk mit
Ich weiß wohl, wohin ich steuere, wenn ich von diesen Leidenschaft erlebt haben, um von der tiefen Herrlichkeit so-
Dingen rede. Nietzsche und Wagner — sie sind beide große wohl wie von der quälenden Problematik deutschen Wesens
Kritiker des Deutschtums: dieser auf mittelbar-künstlerische, irgend etwas — wenn nicht zu verstehen, so doch zu ahnen.
jener auf unmittelbar-schriftstellerische Weise, — wobei, wie Aber außerdem, daß dieses Werk eine eruptive Offenbarung
es modern ist, die künstlerische Methode an intellektueller deutschen Wesens ist, ist es auch eine schauspielerische Dar-
Bewußtheit und Un-Einfalt der schriftstellerischen nicht nach- stellung davon, und zwar eine Darstellung, deren Intellektua-
steht. Es hat, wie gesagt, wenn man Nietzsche beiseite nimmt, lismus und plakathafte Wirksamkeit bis zum Grotesken, bis zum
in Deutschland nie eine Wagner-Kritik gegeben, — denn das Parodischen geht, — eine Darstellung, die, sehr roh gesprochen,
›unliterarische‹ Volk ist damit auch das un- und anti-psycho- momentweise nicht völlig über den Verdacht erhaben ist, Bezie-
logische. Baudelaire und Barrès haben bessere Dinge über hungen zur Fremdenindustrie zu unterhalten, und die bestimmt
Wagner gesagt, als in irgendwelchen deutschen Wagner-Bio- scheint, ein neugierig schauderndes Entente-Publikum zu dem
graphien und -Apologien zu finden sind, und in diesem Ausrufe hinzureißen: »Ah, ça c'est bien allemand par exemple!«
Augenblick ist es ein Schwede, W. Peterson-Berger, der in Wagners Deutschtum also, so wahr und mächtig es sei, ist
seinem Buche ›Richard Wagner als Kulturerscheinung‹ uns modern gebrochen und zersetzt, dekorativ, analytisch, intellek-
Deutschen einige Winke darüber erteilt, in welcher Haltung tuell, und seine Faszinationskraft, seine eingeborene Fähig-
etwa man gut tut, sich einer so im ungeheuersten Sinne inter- keit zu kosmopolitischer, zu planetarischer Wirkung stammt
essanten Erscheinung zu nähern: in demokratisch aufrechter daher. Seine Kunst ist die sensationellste Selbstdarstellung und
Haltung nämlich, die es gestattet, überhaupt etwas davon zu Selbstkritik deutschen Wesens, die sich erdenken läßt, sie ist
sehen. Der Schwede spricht da von Wagners Nationalismus, danach angetan, selbst einem Esel von Ausländer das Deutsch-
seiner Kunst als einer national deutschen, und bemerkt, daß tum interessant zu machen, und die leidenschaftliche Beschäf-
die deutsche Volksmusik die einzige Richtung sei, die von tigung mit ihr ist immer zugleich eine leidenschaftliche Be-
seiner Synthese nicht umfaßt werde. Zu Charakterisierungs- schäftigung mit diesem Deutschtum selbst, das sie kritisch-
zwecken könne er wohl mitunter, wie in den ›Meistersingern‹ dekorativ verherrlicht. Sie wäre das an und für sich, aber wie
und im ›Siegfried‹, den deutschen Volkston anschlagen, aber sehr wird sie es erst sein, wenn sie sich von einer Kritik leiten
dieser bilde nicht die Grundlage und den Ausgangspunkt läßt, die, während sie der Kunst Wagners zu gelten scheint, in
seiner Tondichtung, sei niemals der Ursprung, aus dem sie Wahrheit dem Deutschtum im allgemeinen gilt, wenn auch nicht
spontan hervorsprudele, wie bei Schumann, Schubert und immer so unmittelbar ausgesprochenerweise wie in jener herr-
Brahms. Es sei notwendig, zwischen Volkskunst und natio- lichen Analyse des Meistersinger-Vorspiels zu Anfang des
naler Kunst zu unterscheiden; der erstere Ausdruck ziele nach Achten Hauptstücks von ›Jenseits von Gut und Böse‹. In
innen, der letztere nach außen. Wagners Musik sei mehr Wahrheit, wenn Nietzsche als Wagner-Kritiker im Auslande
national als volkstümlich; sie habe wohl viele Züge, die Rivalen hat, als Kritiker des Deutschtums hat er deren nir-
namentlich der Ausländer als deutsch empfinde, aber sie habe gends, weder draußen noch daheim: er ist es, der bei weitem
dabei ein unverkennbar kosmopolitisches Cachet. — Nun, es das Böseste und Beste darüber gesagt hat, und die Genialität
ist leicht, treffend zu sein, wenn man sehr zugespitzt ist. In der Beredsamkeit, die ihn ergreift, die ihn trägt, wenn er auf

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Schopenhauer, Nietzsche und Wagner: ein Dreigestirn ewig
deutsche Dinge, auf das Problem des Deutschtums zu reden
verbundener Geister. Deutschland, die Welt stand in seinem
kommt, ist Zeugnis seines durchaus leidenschaftlichen Ver-
Zeichen, bis gestern, bis heute — wenn auch morgen nicht
hältnisses zu diesem Gegenstand. Von Nietzsche's Deutsch-
mehr. Tief und unlösbar sind ihre Schöpfer- und Herrscher-
feindlichkeit zu reden, wie es in Deutschland zuweilen ge-
schicksale verknüpft. Nietzsche nannte Schopenhauer seinen
schieht — das Ausland, dank seinem weiteren Abstande, sieht
»großen Lehrer«; welch ungeheueres Glück für Wagner das
richtiger —, ist ebenso plump, wie es wäre, ihn einen Anti-
Erlebnis Schopenhauers war, weiß der Erdkreis; die Freund-
Wagnerianer zu nennen. Er liebte Frankreich aus artistisch-
schaft von Tribschen mochte sterben, — sie ist unsterblich, wie
formalen, wenn auch gewiß nicht aus politischen Gründen;
die Tragödie unsterblich ist, die nachher kam und die nie und
aber man zeige mir die Stelle, wo er von Deutschland mit je-
nimmermehr eine Trennung, sondern eine geistesgeschichtliche
ner Verachtung spricht, die englischer Utilitarismus, englische
Umdeutung und Umbetonung dieser ›Sternenfreundschaft‹
Unmusikalität ihm erweckten! Auf ihn, wahrhaftig! mögen
war. Die drei sind eins. Der ehrfürchtige Schüler, dem ihre
jene politischen Sittenrichter sich nicht berufen, die sich an-
gewaltigen Lebensläufe zur Kultur geworden, möchte wün-
maßen, ihr Volk literarisch zu züchtigen, es mit der klappern-
schen, von allen dreien auf einmal reden zu können, so schwer
den Terminologie des westlichen Demokratismus zu schul-
scheint es ihm, auseinanderzuhalten, was er dem einzelnen
meistern, aber nie, niemals im Leben ein einziges Wort der
verdankt. Wenn ich von Schopenhauer den Moralismus — ein
erkennenden Leidenschaft fanden, welches ihr Recht erhärtet
populäreres Wort für dieselbe Sache lautet ›Pessimismus‹ —
hätte, über deutsche Dinge auch nur mitzureden . . . Ich wollte
meiner seelischen Grundstimmung habe, jene Stimmung von
sagen: der junge Mensch, den Geschmack und Zeitumstände
»Kreuz, Tod und Gruft«, die schon in meinen ersten Ver-
nötigten, die Kunst Wagners, die Kritik Nietzsche's zur Grund-
suchen hervortrat: so findet sich diese »ethische Luft«, um mit
lage seiner Kultur zu machen, an ihnen hauptsächlich sich zu
Nietzsche zu reden, auch bei Wagner; in ihr steht ganz und
bilden, mußte gleichzeitig der eigenen nationalen Sphäre,
gar sein riesenhaftes Werk, und ebensogut auf seinen Einfluß
mußte des Deutschtums als eines überaus merkwürdigen, zu
könnte ich mich berufen. Wenn aber eben diese Grundstimmung
leidenschaftlicher Kritik anreizenden europäischen Elementes
mich zum Verfallspsychologen machte, so war es Nietzsche,
ansichtig werden; eine Art von psychologisch orientiertem
auf den ich dabei als Meister blickte; denn nicht so sehr der
Patriotismus mußte sich zeitig in ihm ausbilden, der mit poli-
Prophet irgendeines unanschaulichen »Übermenschen« war er
tischem Nationalismus natürlich überhaupt nichts zu schaffen
mir von Anfang an, wie zur Zeit seiner Modeherrschaft den
hatte, aber eine gewisse Reizbarkeit des nationalen Selbst-
meisten, als vielmehr der unvergleichlich größte und erfah-
bewußtseins, eine gewisse Ungeduld gegen plumpe, der Un-
renste Psychologe der Dekadenz .. .
wissenheit entspringende Beschimpfungen dennoch hervor-
brachte: in dem Sinne etwa, wie ein Kunstfreund, der tief Selten, denke ich, wird auf einen Nicht-Musiker — und ent-
durch das Erlebnis Wagners gegangen, aus höheren geistigen schiedeneren Nicht-Dramatiker — der Einfluß Wagners so
Gründen aber zum Gegner dieser Kunst geworden ist, Un- stark und bestimmend gewesen sein, wie ich es von mir zu
geduld in sich ausbrechen fühlen wird bei den Schimpfreden bekennen habe. Nicht als Musiker, nicht als Dramatiker, auch
rückständig-banausischer Ahnungslosigkeit. ›Interesse‹, um nicht als ›Musikdramatiker‹ wirkte er auf mich, sondern als
es umgekehrt zu wiederholen, ist der intellektuelle Name eines Künstler überhaupt, als der moderne Künstler par excellence,
Affektes, dessen sentimentaler Name — ›Liebe‹ lautet. wie Nietzsche's Kritik mich gewöhnt hatte ihn zu sehen, und
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im besonderen als der große musikalisch-epische Prosaiker besetzt. Man hört das Fragment zu Ende. Dann beginnt in der
und Symboliker, der er ist. Was ich vom Haushalt der Mittel, ganzen Runde der Kampf zwischen ostentativem Beifall und
von der Wirkung überhaupt — im Gegensatz zum Effekt, die- nationalem Protest. Man schreit »Bis!« und klatscht in die
ser ›Wirkung ohne Ursache‹ —, vom epischen Geist, vom Hände. Man schreit »Basta!« und pfeift. Es sieht aus, als ob
Anfangen und Enden, vom Stil als einer geheimnisvollen die Opposition das Feld behaupten werde; aber Vessella bis-
Anpassung des Persönlichen an das Sachliche, von der Sym- siert. Diesmal wird schonungslos in das Stück hinein demon-
bolbildung, von der organischen Geschlossenheit der Einzel-, striert. Pfiffe und Schreie nach einheimischer Musik zerreißen
der Lebenseinheit des Gesamtwerkes, — was ich von alldem die piano-Stellen, während beim forte die Zustimmungsrufe
weiß und zu üben und auszubilden in meinen Grenzen ver- der Enthusiasten die Oberhand haben. Aber nie vergesse ich,
sucht habe, ich verdanke es der Hingabe an diese Kunst. Heute wie unter Evvivas und Abbassos zum zweiten Male das
noch, wenn unverhofft eine beziehungsvolle Wendung, irgend- Nothung-Motiv heraufkam, wie es über dem Straßenkampf
ein abgerissener Klang aus Wagners musikalischem Kosmos der Meinungen seine gewaltigen Rhythmen entfaltete, und
mein Ohr trifft, erschrecke ich vor Freude. Aber dem jungen wie auf seinem Höhepunkt, zu jener durchdringend schmet-
Menschen, für den zu Hause kein Platz war und der in einer ternden Dissonanz vor dem zweimaligen C-Dur-Schlage, ein
Art von freiwilliger Verbannung in ungeliebter Fremde lebte, Triumphgeheul losbrach und die erschütterte Opposition un-
war diese Kunstwelt buchstäblich die Heimat seiner Seele. widerstehlich zudeckte, zurücktrieb, auf längere Zeit zu ver-
Schaufahrt mit Konzert auf dem Pincio . . . und eingesprengt wirrtem Schweigen brachte . . . Der zwanzigjährige Fremde
in das banal genießende Gewimmel internationaler Eleganz — fremd hier wie diese Musik, mit dieser Musik — stand ein-
stand der ärmliche und halb verwahrloste Junge zu Füßen gekeilt in der Menge auf dem Pflaster. Er schrie nicht mit, da
des Podiums, unter einem dickblauen Himmel, der nie auf- die Kehle ihm zugeschnürt war. Sein Gesicht, nach dem Po-
hörte, ihm auf die Nerven zu fallen, unter Palmen, die er dium spähend, das wütende Italianissimi stürmen wollten
mißachtete, und empfing, schwach in den Knien vor Begeiste- und das von den Musikern mit ihren Instrumenten verteidigt
rung, die romantischen Botschaften des Lohengrin-Vorspiels. wurde, — sein aufwärts gekehrtes Gesicht lächelte im Gefühl
Erinnerte er sich solcher Stunden, zwanzig Jahre später, als seiner Blässe, und sein Herz pochte in ungestümem Stolz, in
Krieg wurde zwischen dem Geist des Lohengrin-Vorspiels und jugendlich krankhafter Empfindung . . . Im Stolz worauf? In
der internationalen Eleganz? Sind vielleicht solche Erinnerun- Liebe wozu? Nur zu einem umstrittenen Kunstgeschmack? —
gen mitschuldig an seiner wahllos-unliterarischen Stellung- Wohl möglich, daß er an Piazza Colonna dachte, zwanzig
nahme in diesem Kriege? —Wagner-Demonstration auf Piazza Jahre später, im August 1914, und an die nervösen Tränen,
Colonna! Maëstro Vessella, damals Dirigent des Munizipal- die einst beim Siege des Nothung-Motivs jäh seine Augen
Orchesters (mit Kesselpauken: wenn Kesselpauken auf die überfüllend ihm über das kalte Gesicht gelaufen waren und
Piazza gebracht wurden, so hieß das, daß nicht die dumme die er nicht hatte trocknen können, weil ein fremdes Volks-
Militärkapelle, sondern das Stadtorchester konzertieren und gedränge ihn hinderte, den Arm zu heben. Trotzdem, ich
daß Wagner auf dem Programm stehen werde) — Vessella täusche mich nicht. Mochte immerhin das inständige Erlebnis
also, Verkündiger der deutschen Musik in Rom, spielt die dieser Kunst dem Jüngling zur Quelle patriotischer Gefühle
Totenklage um Siegfried. Jedermann weiß, daß es Skandal werden, — es war ein überdeutsches Geisteserlebnis, es war
geben soll. Der Platz ist gedrängt voll, alle Balkons sind ein Erlebnis, das ich mit dem intellektuellen Europa gemein-

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sam hatte, wie Thomas Buddenbrook das seine. Dieser deutsche
heit sehen zu lehren. Auch ist es diese wohl kaum, worauf man
Musiker war ja kein ›deutscher Musiker‹ mehr im alten, in-
timen und echten Sinne. Er war wohl freilich sehr deutsch heute bestehen müßte. Die ungeheuere Männlichkeit seiner
(kann man Musiker sein, ohne deutsch zu sein?). Aber es war Seele, sein Antifeminismus, Antidemokratismus, — was wäre
nicht das Deutsch-Nationale, Deutsch-Poetische, Deutsch-Ro- deutscher? Was wäre deutscher als seine Verachtung der
mantische an seiner Kunst, was mich bezauberte — oder doch »modernen Ideen«, der »Ideen des achtzehnten Jahrhunderts«,
nur, insofern dies alles intellektualisiert und in dekorativer der »französischen Ideen«, auf deren englischem Ursprung er
Selbstdarstellung darin erschien —: es waren vielmehr jene besteht: die Franzosen, sagt er, seien nur ihre Affen, Schau-
allerstärksten europäischen Reize, die davon ausgehen und für spieler, Soldaten gewesen — und ihre Opfer; »denn an der
die Wagners heutige, fast schon außerdeutsche Stellung Be- verdammlichen Anglomanie der ›modernen Ideen‹ sei zuletzt
weis ist. Nein, ich war nicht deutsch genug, um die tiefe die âme française so dünn geworden und abgemagert, daß
psychologisch-artistische Verwandtschaft seiner Wirkungsmit- man sich ihres sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts,
tel mit denen Zola's und Ibsens zu übersehen: welche beide ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfinderischen Vor-
vor allem Herren und Meister des Symbols, der tyrannischen nehmheit heute fast mit Unglauben erinnere«. (Jenseits von
Formel waren, gleich ihm, und von denen besonders der west- Gut und Böse.‹) Einen Absatz weiter ist von der »rasenden
liche Romancier, Naturalist und Romantiker wie er, als sein Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen
echter Bruder im Willen und Vermögen zur Massenbetäubung, Bourgeois« die Rede — nicht ohne jenen »tiefen Ekel«, mit
Massenüberwältigung erscheint .. . Die ›Rougon-Macquart‹ dem der deutsche Geist selbst sich gegen die anglo-französische
und der ›Ring des Nibelungen‹, — der ›Wagnerianer‹ denkt das Ideenwelt erhoben habe . . . »Mit tiefem Ekel« . . . Man sieht,
nicht zusammen. Trotzdem gehört es zusammen: für die An- wie gut sich Nietzsche über die renitente Rolle des deutschen
schauung, wenn auch nicht für die Liebe. Denn es gibt frei- Wesens in der europäischen Geistesgeschichte mit Dosto-
lich Fälle, in denen der Verstand auf einem Vergleiche be- jewski verstand, — er verstand sich ja auch in anderen Stük-
steht, den der Affekt auf immer von der Hand weisen möchte. ken mit ihm aufs beste. »Mit tiefem Ekel« . . . Da ist er, der
Die ›Rougon-Macquart‹ und der ›Ring des Nibelungen‹! Man Ursprung dieses Krieges, des deutschen Krieges gegen die
stellt mich hoffentlich nicht vor die Wahl. Ich fürchte, daß ich westliche ›Zivilisation‹! — Vor allem aber: wenn Nietzsche's
mich ›patriotisch‹ entscheiden würde. »großer Lehrer«, Schopenhauer, nur anti-revolutionär war —
Schopenhauer und Wagner . . . Soll ich auch über den drit- aus pessimistischer Ethik, aus Haß auf den unanständigen
ten »Stern der schönsten Höhe« ein Wort des Bekenntnisses Optimismus der Jetztzeit- und Fortschrittsdemagogen —, so
sagen? Ich erinnere mich wohl des Lächelns oder auch Lachens, war er selbst anti-radikal in einem bis dahin unerhörten,
das ich zu unterdrücken hatte, als eines Tages Pariser Lite- einem wahrhaft radikalen Sinne und Grade, und in dieser
raten, die ich über Nietzsche aushorchte, mir zu verstehen Eigenschaft und Willensmeinung kam sein Deutschtum zu
gaben, er sei im Grunde nichts anderes als ein guter Leser einem Elementarausbruch wie in sonst keiner andern. Denn
der französischen Moralisten und Aphoristiker gewesen. Hätten Anti-Radikalismus — ohne Lob und Tadel gesagt — ist die
sie wenigstens Pascal genannt. Aber sie brachten es nicht über spezifische, die unterscheidende und entscheidende Eigenschaft
Chamfort hinaus . . . Das war manches Jahr vor dem Kriege, oder Eigenheit des deutschen Geistes: dies Volk ist das un-
und der Krieg war nicht nötig, um mich Nietzsche's Deutsch- literarische eben dadurch, daß es das anti-radikale ist, oder,
um das bloß Verneinende, aber wiederum ohne Lob und Tadel,
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ins Positive, höchst Positive zu wenden, — es ist das Volk des bei diesem freilich in einem neuen, moderneren, farbigeren
Lebens. Der Lebensbegriff, dieser deutscheste, goethischste Lichte steht, — eine anti-radikale, anti-nihilistische, anti-
und im höchsten, religiösen Sinn konservative Begriff, ist es, literarische, eine höchst konservative, eine deutsche Idee, mit
den Nietzsche mit neuem Gefühle durchdrungen, mit einer der man in der Tat, bei noch so französierender Prosa, mit
neuen Schönheit, Kraft und heiligen Unschuld umkleidet, zum noch soviel Schlachtschitzenblut, noch soviel Oberflächen- und
obersten Range erhoben, zur geistigen Herrschaft geführt hat. Philosophenhaß auf das ›Reich‹ und das Bauern- und Korps-
Behauptet Georg Simmel nicht zu Recht, seit Nietzsche sei ›das studententum seines Urhebers — ganz ohne Rettung ein Deut-
Leben‹ zum Schlüsselbegriff aller modernen Weltanschau- scher ist.
ung geworden? Auf jeden Fall steht Nietzsche's ganze Moral- Und dennoch . . . der Redende darf das ›Einerseits‹ einer
kritik im Zeichen dieses Begriffes, und wenn emanzipatorische Sache mit desto entschiedenerem Nachdruck verfechten, je
Kühnheit im Verhältnis zur Moral bis dahin immer nur ästhe- sicherer er unterdessen im stillen des ›Andererseits‹ bleibt. . .
tizistischen Charakter getragen hatte, in Platens Vers: »Vor dennoch ist die Erziehung durch Nietzsche sowenig eine
dem Hochaltar des Schönen neige sich das Gute selbst« völlig eigentlich und einwandfrei deutsche Erziehung, wie die durch
beschlossen gewesen war, so war es Nietzsche, der mit un- Schopenhauer und Wagner. Ich bitte, an ein Wort, einen Vers
vergleichlich tieferem und leidenschaftlicherem Zynismus zum Stefan George's anknüpfen zu dürfen, die Klage, womit er das
erstenmal die höchsten moralischen Ideale, die Wahrheit selbst herrliche Nietzsche-Poem im ›Siebenten Ring‹ beschließt. »Sie
in ihrem Werte für das Leben philosophisch in Frage stellte, hätte singen, nicht reden sollen, diese neue Seele!« ruft er
indem er die radikalste Psychologie einem anti-radikalen, aus — und zitiert damit, wie man weiß oder auch nicht weiß,
anti-nihilistischen Willen dienstbar machte. Er hat das ›Gute‹ ein Wort seines Helden selbst, aus der späten Vorrede zur
nicht vor das Tribunal des Schönen, — vor das des Lebens ›Geburt der Tragödie‹ wo jenem Ausruf die Erläuterung hin-
selbst hat er es gezogen . . . oder wäre das ein und dasselbe? zugefügt ist: »Wie schade, daß ich, was ich damals zu sagen
Hat er das Schöne vielleicht nur mit einem neuen, heilig- hatte, nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht
rauschvollen Namen genannt, — mit dem des Lebens? Und gekonnt! .. .« Vielleicht... das klingt fast kokett geheimnis-
war also auch seine Auflehnung gegen die Moral mehr eines voll. Der Entwurf eines Empedokles-Dramas ist liegenge-
Künstlers und Liebenden Auflehnung, als eigentlich philoso- blieben, stark hölderlinisch, — er stammt von 1870-71, aus
der Zeit der dionysischen Schrift. Aber darf man es nun aus-
phischer Natur? Ich habe oft empfunden, daß Nietzsche's
sprechen, daß jenes schöne Klagewort in George's Munde für
Philosophie einem großen Dichter auf ganz ähnliche Weise
George bezeichnender ist als für den, dem es gilt? Daß der
zum Glücksfall und Glücksfund hätte werden können, wie die
Dichter, der als parnassien begann und dessen Kunst und
Schopenhauers dem Tristan-Schöpfer: nämlich zur Quelle einer
Persönlichkeit heute eine ganz deutsche Angelegenheit ist, —
höchsten, erotisch-verschlagensten, zwischen Leben und Geist
daß George, indem er ein Augenblicksbedauern, das von der
spielenden Ironie . . . Nietzsche hat seinen Künstler nicht, oder
Erinnerung an ein irrtümlich-unzukömmliches und darum ge-
noch nicht, wie Schopenhauer, gefunden. Wenn aber ich auf
scheitertes, nicht zustandegekommenes Unternehmen einge-
eine Formel, ein Wort bringen sollte, was ich ihm geistig zu
geben ward, verallgemeinert und auf die Gesamterscheinung
danken habe, — ich fände kein anderes als eben dies: die Idee
Nietzsche's bezieht und anwendet, Nietzsche als Gesamt-
des Lebens, — welche man, wie gesagt, von Goethe empfangen
erscheinung in gewissem Sinne verkennt, in gewissem Sinne
mag, wenn man sie nicht von Nietzsche empfängt, und die
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verkleinert? Denn es bedeutet unzweifelhaft eine Verkennung einer will und meint. Er war als Mann deutschen Schicksals
und Verkleinerung seiner kulturellen Sendung, es bedeutet der gute Bruder seines großen Gegenspielers Bismarck, dessen
ein Augenschließen vor seinen letzten, von ihm nicht ge- letzte, unwillkürliche, eigentliche Wirkungen ebenfalls in de-
wollten, rein schicksalsmäßigen Wirkungen, auch nur zu wün- mokratischer Richtung verlaufen. Wir wollen darauf an seiner
schen, daß diese »strenge und gequälte Stimme« — man kann Stelle zurückkommen. Für den Augenblick begnügen wir uns,
es nicht schöner sagen —, daß diese Stimme hätte singen festzuhalten, daß Wille, Meinung, Tendenz für die Wirkung,
mögen, statt ›bloß‹ zu reden, daß Nietzsche als neuer Höl- den Einfluß gerade der größten, der eigentlichen Schicksals-
derlin und deutscher Poet sich hätte erfüllen sollen, statt zu menschen auf die Entwicklung im Großen sehr wenig besagen
sein, was er war: nämlich ein Schriftsteller von oberstem und entscheiden. Und wenn es mit den Gewaltigen sich so
Weltrang; ein Prosaist von noch viel mondäneren Möglich- verhält, — wieviel mehr mit uns Geringen! Ich wüßte hübsche
keiten als Schopenhauer, sein großer Lehrer; ein Literat und Beispiele anzuführen für den Widerstreit zwischen Wille und
Feuilletonist höchsten Stils, etwas sehr Ententemäßiges — seien Wirkung, Tendenz und Natur, — einen Widerstreit, der in der
wir geschmacklos, aber charakteristisch! —, ein europäischer Krisis dieser Zeit unter offenbar harten inneren Kämpfen
Intellektueller mit einem Wort, dessen Einfluß auf die Ent- akut wurde, subjektiv wurde und ins Bewußtsein trat, so daß
wicklung, den ›Fortschritt‹, ja! geradezu den politischen Fort- gleichsam über Nacht aus einem antidemokratisch-konserva-
schritt Deutschlands durch kein Empedokles-Fragment, auch tiv-militaristischen Saulus ein entente-christlicher Paulus wurde,
nicht durch irgendwelche Lieder des Prinzen Vogelfrei oder der sich den seit zwanzig Monaten bohrenden Stachel aus dem
selbst Dionysos-Dithyramben gekennzeichnet wird, sondern Fleische gerissen und endlich sich selbst gefunden hatte. ›Be-
durch Produktionen, die in Haltung und Geschmack, in ihrer kehrung‹ — das ist nur ein anderes Wort für die Entdeckung
Leichtigkeit und Bösartigkeit, ihrem Raffinement und ihrem seiner selbst. . .
Radikalismus dermaßen undeutsch und antideutsch sind wie Nietzsche's Lehre also war für Deutschland weniger neu und
der ewig bewunderungswürdige Essay ›Was bedeuten aske- revolutionierend, sie war für die deutsche Entwicklung weni-
tische Ideale?‹. ger wichtig — ›wichtig‹ im guten oder schlimmen Sinne, wie
Es ist nicht zu bezweifeln: Nietzsche hat, unbeschadet der man nun will —, als die Art, in der er lehrte. Mindestens,
tiefen Deutschheit seines Geistes, durch seinen Europäismus allermindestens ebenso stark wie durch seinen ›Militaris-
zur kritizistischen Erziehung, zur Intellektualisierung, Psycho- mus‹ und sein Macht-Philosophem hat er durch seine äußerst
logisierung, Literarisierung, Radikalisierung oder, um das westliche Methode, als europäisierender Prosaist die deutsche
politische Wort nicht zu scheuen, zur Demokratisierung Geistigkeit beeinflußt, und seine ›fortschrittliche‹, zivilisato-
Deutschlands stärker beigetragen als irgend jemand. Ich stelle rische Wirkung besteht in einer ungeheueren Verstärkung,
fest, daß unser gesamtes Zivilisationsliteratentum bei ihm Ermutigung und Schärfung des Schriftstellertums, des litera-
schreiben gelernt hat, — worin ein Widerspruch liegt, der rischen Kritizismus und Radikalismus in Deutschland. Es ge-
letzten Endes keiner ist. Nietzsche, meine Herren Voluntari- schah in seiner Schule, daß man sich gewöhnte, den Begriff
sten, ist das schlagendste Beispiel dafür, daß in Hinsicht auf des Künstlers mit dem des Erkennenden zusammenfließen zu
die Entwicklung, den schicksalsmäßigen ›Fortschritt‹ alles ent- lassen, so daß die Grenzen von Kunst und Kritik sich ver-
scheidende Gewicht auf der Frage liegt, was einer ist (oder wischten. Er brachte den Bogen neben der Leier als apollini-
was aus einem wird und gemacht wird), nicht auf jener, was sches Werkzeug in Erinnerung, er lehrte zu treffen, und zwar

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tödlich zu treffen. Er verlieh der deutschen Prosa eine Sensitivi- ›Buddenbrooks‹, die Erzählung, mit der ich nach einigem
tät, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzen- leis-psychologischen Präludieren die Aufmerksamkeit eines
tuiertheit und Leidenschaft—ganz unerhört bis dahin und von breiteren Publikums gewann, ist gewiß ein sehr deutsches Buch,
unentrinnbarem Einfluß auf jeden, der nach ihm deutsch zu und dies nicht nur durch sein Milieu, meine hanseatische Hei-
schreiben sich erkühnte. Nicht seine Persönlichkeit, o nein! mat, die ältester deutscher Kolonialboden ist; auch nicht nur
aber seine Wirkung ähnelt außerordentlich der des in Paris im kulturgeschichtlichen Sinn: sofern sich darin die seelische
akklimatisierten Juden Heinrich Heine, den er pries und den Entwicklung und Differenzierung, die — nun ja, die ›Ver-
er als Schriftsteller sich selbst zur Seite stellte, — ähnelt ihr im menschlichung‹ des deutschen Bürgertums von der urgroß-
Schlimmen so stark wie im Guten... Dies zu analysieren kann väterlichen Generation bis zu meiner spiegelt. Der Roman ist
hier nicht meine Aufgabe sein. Es handelt sich um Feststellun- deutsch vor allem im formalen Sinn, — wobei ich mit dem For-
gen, die man im stillen nachprüfen möge. Was ich aber meine, malen etwas anderes meine als die eigentlich literarischen Ein-
wenn ich sage, daß die gewaltige Verstärkung des prosaistisch- flüsse und Nährquellen. Ich erinnere mich einer Besprechung
kritizistischen Elementes in Deutschland, die Nietzsche bewirkt des Buches im ›Mercure de France‹, etwa vom Jahre 1908,
hat, Fortschritt im bedenklichsten, politischsten Sinne, im Sinne worin es, bei freundlicher Schätzung, wegen seines Baus für
der ›Vermenschlichung‹, — Fortschritt in westlich-demokrati- unübersetzbar erklärt wurde. Romain Rolland, wie ich ihn
scher Richtung bedeutet und daß die Erziehung durch ihn nicht kenne, wäre vielleicht anderer Meinung; aber es läßt sich wohl
gerade das ist, was man eine Erziehung in deutsch-erhaltendem hören, daß dies Werk in französischer Sprache ein Unding und
Geiste nennen dürfte, das hoffe ich deutlich gemacht zu haben... Monstrum wäre. Es ist geworden, nicht gemacht, gewachsen,
nicht geformt und eben dadurch unübersetzbar deutsch. Eben
Solchen Einflüssen, solchen Bedürfnissen und Empfänglichkei- dadurch hat es die organische Fülle, die das typisch französi-
ten entsprach denn auch nur zu sehr meine eigene schriftstelle- sche Buch nicht hat. Es ist kein ebenmäßiges Kunstwerk, son-
rische Haltung: sie war derart, daß Leute, die sich nicht an- dern Leben. Es ist, um die freilich sehr anspruchsvolle kunst-
ders zu raten wußten, wie Adolf Bartels, einen Juden aus mir und kulturgeschichtliche Formel anzuwenden, Gotik, nicht
machen wollten,—wogegen ich der Wahrheit halber protestie- Renaissance . . . Das alles aber hindert freilich nicht, daß eine
ren zu sollen meinte. Wenn ich, in meinen Grenzen, dazu bei- vollkommen europäisch-literarische Luft darin weht, — es ist
trug, die deutsche Prosa-Erzählung zu europäisieren; wenn ich für Deutschland der vielleicht erste und einzige naturalistische
behilflich sein konnte, den Roman als Gattung für Deutsch- Roman und auch als solcher, schon als solcher von künstlerisch
land im Range und Ansehen zu erhöhen, so war das eine Aus- internationaler Verfassung, europäisierender Haltung, trotz
wirkung meines Blutes, nicht meines Ranges: denn der Rang des Deutschtums seiner Menschlichkeit. Es enthält nicht etwa
ist heutzutage kaum etwas Individuelles, er ist eine Frage des Raabe oder Jean Paul, es hat mit Spielhagen und anderem deut-
nationalen Niveaus, er berechtigt kaum zu aristokratischem, schen Roman überhaupt nichts zu tun. Der deutsche Einfluß
sondern nur zu einem demokratischen Selbstbewußtsein—»ich ist wunderlich zusammengesetzt: aus dem niederdeutsch-hu-
habe teil am deutschen Niveau«, darf der einzelne sich sagen; moristischen und dem episch-musikalischen Element, — er kam
»das ist mein Rang« —, einem Selbstbewußtsein, wie man von Fritz Reuter und Richard Wagner. Die anderen kamen
sieht, das in Zeiten nationaler Vereinsamung und Bedrohtheit überall her: aus Rußland, England, Frankreich — den Entente-
ins Anstößig-Patriotische zu entarten gar sehr Gefahr läuft... Ländern, wie man sieht, den Ländern des psychologischen

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Romans —, aus dem Dänemark Bangs und Jacobsens, dem fentlich, nicht wahr, Sie wissen es, — nicht die ›Buddenbrooks‹
Norwegen Kiellands und Lie's. sind Ihr Eigentliches, Ihr Eigentliches ist der ›Tonio Kröger‹!«?
Ich hatte, um, ihrer Schönheit wegen, Worte aus ›Dichtung Ich sagte, ich wüßte es.
und Wahrheit‹ anzuführen, »in vermögender Jugendzeit das Die Sache war die, daß, während in ›Buddenbrooks‹ nur
Nächstvergangene festgehalten und kühn genug zur günstigen der Schopenhauer-Wagner'sche Einfluß, der ethisch-pessimisti-
Stunde öffentlich aufgestellt«. Ich hatte mir zugleich durch das sche und der episch-musikalische, sich hatte geltend machen
breite Werk eine menschlich-künstlerische Basis geschaffen, auf können, in ›Tonio Kröger‹ das Nietzsche'sche Bildungselement
der ich bei weiterer Produktion würde fußen können, — hatte zum Durchbruch kam, das fortan vorherrschend bleiben sollte.
mir gleichsam den Geigenkörper gebaut, auf dem ich nun frei- Der dithyrambisch-konservative Lebensbegriff des lyrischen
hin konzertieren mochte, dessen gutes Holz immer wohllau- Philosophen und seine Verteidigung gegen den moralistisch-
tend mit den Saiten schwingen, dessen akustischer Hohlraum nihilistischen Geist, gegen die ›Literatur‹, war in dem Erlebnis
meinem Spiel volle Resonanz leihen würde . . . Es gibt Leute, und Gefühl, das die Novelle gestaltete, zur erotischen Ironie
die wissen wollen, dieses Spiel sei so gut nicht gewesen, als geworden, zu einer verliebten Bejahung alles dessen, was nicht
die Geige es verdient hätte, ich hätte mir das Konzert auch Geist und Kunst, was unschuldig, gesund, anständig-unproble-
sparen können, es werde schnell vergessen sein, und als wert- matisch und rein vom Geiste ist, und der Name des Lebens, ja,
voll übrigbleiben werde nichts als die gutgebaute Geige. Nun, der der Schönheit fand sich hier, sentimentalisch genug, auf die
einmal wenigstens entschied die Jugend, die ums Jahr 1880 Welt der Bürgerlichkeit, der als selig empfundenen Gewöhn-
geborene geistige Jugend Deutschlands, in anderem Sinne: das lichkeit, des Gegensatzes von Geist und Kunst übertragen.
war im Falle des ›Tonio Kröger‹, dieser Prosa-Ballade, die frei- Kein Wunder, daß dergleichen der Jugend gefiel. Denn wenn
lich ohne ›Buddenbrooks‹ schlecht bestünde und die so recht ›das Leben‹ gut dabei wegkam, ›der Geist‹ kam noch besser
ein Lied war, gespielt auf dem selbst gebauten Instrumente des weg, denn er war der Liebende, und ›der Gott‹ ist im Lieben-
großen Romans .. . den, nicht im Geliebten, was auch ›der Geist‹ hier ganz genau
wußte. Was er noch nicht wußte oder vorläufig beiseite ließ,
»Lebendige, geistig unverbindliche Greifbarkeit der Gestal-
war die Tatsache, daß nicht nur der Geist nach dem Leben,
tung«, heißt es in einer späteren Arbeit von etwas parodisti-
sondern auch das Leben nach dem Geiste verlangt, und daß
schem Meisterstil, »bildet das Ergötzen der bürgerlichen Mas-
sein Erlösungsbedürfnis, seine Sehnsucht, sein Schönheitsge-
sen, aber leidenschaftlich unbedingte Jugend wird nur durch
fühl — denn Schönheit ist nichts als Sehnsucht — vielleicht ern-
das Problematische gefesselt.« Ich dachte dabei an ›Budden-
ster, vielleicht ›göttlicher‹, vielleicht weniger hoch- und über-
brooks‹ und ›Tonio Kröger‹. Jene, durchaus plastisch, Kunst
mütig ist als das des ›Geistes‹. Ironie aber ist immer Ironie
— und kaum auch Geist, beschäftigten andauernd die gebildete
nach beiden Seiten hin, etwas Mittleres, ein Weder-Noch und
Mittelklasse; aber die intellektuelle und radikale Jugend, die
Sowohl-Alsauch, — wie denn ja auch Tonio Kröger sich als
den Radikalismus damals freilich noch nicht politisch meinte,
etwas Ironisch-Mittleres zwischen Bürgerlichkeit und Künstler-
ergriff den ›Tonio Kröger‹ als ihr gemäß, — dies Spiel war ihr
tum empfand und wie schon sein Name das Symbol für jeder-
wichtiger als die Geige . . . Wo ist er jetzt, der Göttinger Stu-
lei Mischlingsproblematik abgeben mußte, für die romanisch-
dent von damals, mit dem mager-nervösen Gesicht, der mir,
deutsche Blutsmischung nicht nur, sondern auch für die Mittel-
als wir alle nach der Vorlesung in Mütze's Weinstube tranken,
stellung zwischen Gesundheit und Raffinement, Anständigkeit
mit seiner hellen, bewegten Stimme sagte: »Sie wissen es hof-

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und Abenteurertum, Gemüt und Artistik: ein Situationspathos, denn Kunst war hier ganz als Leben begriffen, Leben und Kunst
das wiederum offenkundig von demjenigen Nietzsche's beein- zu einer Idee verschmolzen, wie vordem Kunst und Geist; der
flußt war, der den Erkenntniswert seiner Philosophie geradezu Geist, der reine Geist erschien separiert, als Literatur, als Kri-
daraus ableitete, daß er in beiden Welten zu Hause sei, in der tik, als »Heiligkeit und Wissen«, und der Held dieser Diskurse
Dekadenz und der Gesundheit, — er stehe, hatte er gesagt, war der durchaus Geistige und Geistliche, der Kritiker, der Li-
zwischen Niedergang und Aufgang. Das ganze Produkt war terat, oder, in seiner Sprache, der Prophet: denn wenn er den
eine Mischung aus scheinbar heterogenen Elementen: aus Weh- Propheten als einen Künstler definiert, der zugleich ein Heiliger
mut und Kritik, Innigkeit und Skepsis, Storni und Nietzsche, sei, so gibt er damit auch die Definition des Literaten. Er also,
Stimmung und Intellektualismus... Kein Wunder, wie gesagt, der Bruder Girolamo, war der Held dieser Szenen; und ob-
daß die Jugend hier zugriff, daß sie diese neunzig Seiten den gleich dialektische Gerechtigkeit ihm den kunstmächtigen Me-
zwei dicken Bänden der ›Buddenbrooks‹ vorzog! Jugend trach- dici zum ebenbürtigen Gegenspieler gab, so war die geheime
tet nach dem Geistigen viel mehr als nach dem Plastischen, und geistige Teilnahme des isar-florentinischen Autors doch recht
was sie in diesem Falle erregte, war ohne Zweifel die Art, wie sehr auf seiten des kritizistischen Intellektuellen,—etwa im Sinne
in der kleinen Geschichte der Begriff des ›Geistes‹ gehandhabt Pico's von Mirandola, wenn er auf Polizians Bemerkung, bes-
wurde, wie er zusammen mit dem der ›Kunst‹, unter dem ser sei es wahrhaftig, auch nur einen Stuhl machen zu können,
Namen der,›Literatur‹, dem unbewußten und stummen Leben irgendein schönes Ding, als nur dazu geboren zu sein, die
entgegengesetzt wurde . . . Was sie fesselte, war ohne Zweifel Dinge zu richten, mit seinem üppigsten Lächeln erwidert: »Nun,
das radikal-literarische, das intellektualistisch-zersetzende Ele- ich weiß nicht! Als Sammler und Liebhaber schätze ich die Er-
ment in dem kleinen Werk, — und wenn das andere, das deut- scheinungen nach ihrer Seltenheit. In Florenz gibt es eine Le-
sche, gemüthaft-konservative, diesem Gefallen keinen Abbruch gion von wackeren Leuten, die schöne Stühle machen können;
tat, sondern es sogar noch verstärkte, so war es, weil es als Ironie aber es gibt nur einen Bruder Girolamo . . .« Pico irrt. Der
erschien und weil Ironie selbst Intellektualismus im höchsten Seltenheitswert ist nicht beim Geiste. Es gibt viel mehr Geist
Grade ist. Sie ist aber überdies ein Zubehör der Romantik, als Kunst. Jene geheime Sympathie und Parteilichkeit aber ver-
und so war sie an ihrem Platze. Denn daß Tonio Kröger ein riet sich zum mindesten in der dick aufgetragenen Ironie, mit
Spätling der Romantik und zwar einer sehr deutschen Roman- der das löbliche Künstlervölkchen geschildert war, diese auf-
tik, — daß er der gute Bruder Schlemihls, Undinens, Heilings, geräumte Körperschaft von Schmarotzern, Raufbolden, Auf-
des Holländers ist, sah man das nicht? Nein, und ich selbst sah schneidern und Possenreißern, talentvoll, sinnlich und dumm
es damals nicht. Heute seh' ich es wohl; und auf die Frage, in- wie Bohnenstroh, deren moralische Unverantwortlichkeit so
wiefern ich deutsch sei, ist die Erzählung mir eine A n t w o r t . . . fröhlich durch Haus und Garten von Careggi s t o l p e r t . . . Es
Das Problem erschien anders gestellt in ›Fiorenza‹. Denn wäre gerecht gewesen, dieser Gruppe auf Seiten der ›Literatur‹
während Tonio Kröger den Gegensatz von Leben und ›Kunst‹ etwas Entsprechendes an menschlicher Geringfügigkeit gegen-
kultiviert und dabei die ›Kunst‹ sehr literarisch verstanden, überzustellen: so hätte sich gezeigt, daß nicht untergeordnetes
sie mit dem ›Geiste‹ in eins gerechnet hatte, so war in der Künstlertum, sondern untergeordnete ›Geistigkeit‹ das Schä-
dramatischen Novelle diese ideelle Einheit — und das war ein bigste und Verächtlichste auf Erden ist.
›Fortschritt‹! — durchaus zerrissen; die Antithese lautete nun- Auf jeden Fall sind es nicht diese harmlos Schaffenden, die
mehr: ›Geist gegen Kunst‹ oder auch ›Geist gegen Leben‹, im Stücke als Anwärter auf die Herrschaft, auf die Gunst und
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den Liebesbesitz ›Fiorenza's‹ auch nur in Betracht kämen . . .
gefälligst mir sagtet: Was heißt Euch Geist?« findet ihn in Be-
Der Titel war nicht weniger symbolisch, als der der Schrift-
reitschaft: »Die Kraft, Lorenzo Magnifico, die Reinheit und
stellernovelle; und er bezeichnet das, was persönlich und ur-
Frieden will.« »Reinheit und Frieden«! Sollte das in der plat-
sprünglich ist an diesem Versuch eines Liedes in höherem
ten Sprache der ›Zivilisation‹ nicht »human freedom and
Tone: jugendliche Ruhmeslyrik schwingt darin, Ruhmeslust,
peace« lauten? In vollem Ernst: es muß erlaubt sein, die mo-
Ruhmesangst eines in zartem Alter vom Erfolg Umstrickten,
ralisch-philosophische Formel ins Politische zu übersetzen,
von der Welt Umarmten. »O Welt! O tiefste Lust! O Liebes-
denn wenn es nur Philosophie ist, »nicht zu wollen«, so ist,
traum der Macht, süßer, verzehrender! . . . Man sollte nicht
»das Nichts zu wollen« — Politik, und der radikale Literat ist
besitzen. Sehnsucht ist Riesenkraft; doch der Besitz entmannt!«
ein Politiker: er sagt es seit Jahren schon selbst, — laut genug!
Der Rest ist Nietzsche. Denn jene beiden Cäsaren und ›feind-
stolz genug! — ein Politiker und Voluntarist, insofern er dem
lichen Brüder‹, die den erotischen Besitz der symbolischen Stadt
Geiste zur Macht verhelfen will und »mit Entschlossenheit«
einander streitig machen, Lorenzo und der Prior, — sie sind
den menschlichen Fortschritt in der Richtung auf Reinheit und
nur allzusehr der Dithyrambiker und der asketische Priester,
Frieden — auf human freedom and peace betreibt. Mit Ent-
wie beide im Buche standen: sind es so sehr, daß allerlei Ver-
schlossenheit .. .Wahrhaftig, es scheint, als sei auch dieses Mo-
suche, Weiteres, Eigeneres, weniger Theoretisches zu geben,
tiv, das Motiv der politischen Literaten-Entschlossenheit, das vom
ihre psychologische Typik zu intimeren und brennenderen
Zivilisationsliteratentum heute so unermüdlich variiert wird,
Problemen in Beziehung zu setzen, begreiflicherweise über-
mir schon damals nicht fremd, meinem Intellekt wenigstens
sehen wurden. Das Problem des literarischen Geistes hat mich
nicht fremd gewesen! Denn wenn mein politisierter Mönch in
mein Leben lang beschäftigt, und es beschäftigte mich vornehm-
die Worte ausbrach: »Ich hasse diese schnöde Gerechtigkeit, dies
lich hier: dieses Problem, das ich nicht liebte, obwohl ich, ein
lüsterne Verstehen, diese lasterhafte Duldung des Gegenteils!
halber Westler, es in mir selber trug, auf das aber geistige
Sie soll nicht an mich! Laßt sie schweigen!« — wenn er hinzu-
Pflicht mich beständig hinwies, weil ich sah, daß es, ursprüng-
fügte, er sei erkoren, er dürfe wissen und dennoch wollen, er
lich so undeutsch wie möglich, dank dem Wirken des Zivilisa-
müsse stark sein, und wie er da stehe, verkörpere er »das Wun-
tionsliteraten, täglich zu größerer Wichtigkeit und Aktualität
der der wiedergeborenen Unbefangenheit«;—wenn lange vor-
für Deutschland heran- und heraufwuchs. Der asketische Prie-
her, gleich zu Anfang des Stückes, Seine Exzellenz der Kardi-
ster Nietzsche's, er, der lieber das Nichts wollen, als nicht wol-
nal Giovanni dem Leibhumanisten die pikante Neuigkeit ins
len will, dieser nihilistische Cäsar, wurde mir — keineswegs
Ohr sagte, daß die Moral wieder möglich sei,— so ist das alles
unversehens — zum radikalen Literaten modernster Obser-
im höchsten Grade neupolitisch und zivilisationsliterarisch,
vanz, und ich sparte die Allusionen nicht, um merken zu las-
und ich wußte es wohl. Ich wußte wohl, daß der christliche Po-
sen, daß er mir dazu geworden. Ich machte ihn zum Vertreter
litiker Girolamo gegen den sündig in die Grube fahrenden
der »sacrae litterae«, zu einem, der »die Stadt mit Worten sich
Ästheten Lorenzo das Neue, das Allerneueste vertrat,—Dinge,
unterwirft«, der ›Florenz‹ beschimpft, und den dieses lüsterne
die zehn Jahre später in Deutschland große intellektuelle Mode
›Florenz‹ dafür liebt.. . »Was heißt Ihr böse?« fragt ihn der
sein, von denen jugendlich spröde Stimmen ein Geschrei ma-
sterbende Lebensfreund. Er antwortet: »Alles, was wider den
chen sollten, daß uns die Ohren gellen. Und mochte ich den
Geist ist — in uns und außer uns.« Und die weiterdringende
untergehenden Ästheten dem politischen Sieger des Augen-
Frage des anderen, der sich nicht geistlos dünkt: »Wenn Ihr
blicks auch zurufen lassen: »Der Tod ist es, den du als Geist
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verkündigst, und alles Lebens Leben ist die Kunst!«, ja, mochte und das Schwergewicht eines Buches stellt, zu leicht selbst in
ich diese Meinung auch teilen, — so galt, ich will es noch ein- Hinsicht auf den Verfasser. Den Pakt mit dem ›Menschen-
mal sagen, mein eigentliches Interesse, meine geheime intel- glück‹, der hier, wenn auch auf lockere Art, geschlossen wurde,
lektuelle Parteilichkeit und Neugier doch dem Vertreter des empfand sie, ohne das Neue, das in der Tendenz sich ankün-
literarischen Geistes und seinem Kunststück, sich vermittelst digte, zu beachten, als charakterlos, und sie prüfte die ›Hand-
»wiedergeborener Unbefangenheit« zum theokratischen Dem- lung‹ mit zu ernstem und sachlichem Blick, als daß sie sie
agogen tüchtig zu machen . . . nicht familienblattmäßig hätte finden müssen. Nun bin ich
weit entfernt, für den dichterischen Wert der Geschichte des
Will man mir erlauben, in diesem Zusammenhange auch
kleinen Prinzen, der im gravitätischsten Zeitungsstil zum Ehe-
von jenem Versuch eines Lustspiels in Romanform zu reden,
mann und Volksbeglücker gemacht wird, eine Lanze brechen
der ›Königliche Hoheit‹ heißt, — und der trotz seines höchst
zu wollen, — obgleich ich mir heute noch denken könnte, daß
individualistischen Titels zugleich einen Versuch mit dem
der alte Anatole France diesen ›Familienblattroman‹ nicht
›Glück‹, eine — wenn auch nicht eben vorbehaltlose — Versöh-
ganz ohne Behagen lesen würde. Da man sich auf den artisti-
nung mit der ›Menschlichkeit‹ darstellte? Von meinem zwei-
schen Wert nach deutscher Art nicht einließ, — den dichteri-
ten Roman, der sich von seinem Vorgänger in künstlerischer
schen im deutschen Sinne hat man gewiß nicht unterschätzt,
Hinsicht so auffallend — und nach jedem deutschen Begriff
wenn man ihn nicht eben hoch einschätzte. Sein geistiger Wert
keineswegs vorteilhaft — unterscheidet, daß man die Identität
aber, wenn er einen hat, beruht ganz und gar in seiner Eigen-
seines Verfassers mit dem von ›Buddenbrooks‹ kaum vermu-
schaft als Zeit-Symptom, als Merkmal deutscher Entwicklung,
ten würde? Hier ist auf einmal ein Buch, — durchaus nicht »ge-
— und kluge Leute, die es der Mühe wert fanden, ihre Klugheit
worden« und »gewachsen«, von allem Wuchernden und Strot-
auf eine so schnurrige Erscheinung anzuwenden, haben das
zenden sehr weit entfernt, ein durchaus geformtes Buch, auf
ganz wohl bemerkt. »Werden«, so hieß es in dem kritischen
Maß und Verhältnis gestellt, verständig, durchsichtig, gedank-
Versuch eines Österreichers (es war Hermann Bahr in eigener
lich beherrscht, — beherrscht von einer Idee, einer intellektuel-
Person), »werden die Deutschen unserer Zeit erkennen, daß
len Formel, die sich überall spiegelt, sich überall in Erinnerung
dieser Roman ein Zeichen ist?« Und er endigte ungefähr da-
bringt, möglichst lebendig gemacht wird, durch hundert De-
mit, meinen Roman ein Fanal der neuen Demokratie zu nen-
tails die Illusion des Lebens zu erzeugen sucht und doch ur-
nen. Mit Unrecht? Wurde in ›Königliche Hoheit‹ nicht ein
sprüngliche, warme Lebensfülle nie erreicht. Ein Kunstspiel,
kleiner einsamer Ästhet zum Volkswirt und zu ›tatkräftiger
nicht Leben. Formal genommen: Renaissance, nicht Gotik.
Menschlichkeit‹ wie man heute sagen würde, erzogen? Und
Französisch, nicht deutsch. Aber sehr deutsch eben freilich doch
wodurch? Durch die Liebe! Aber das ist im höchsten Grade
innerlich, in der Art (wenn auch nicht in der Form) seiner
zivilisationsliterarisch. Und ich würde auf einen so hohen
Geistigkeit und Ethik, seiner Empfindung von Einsamkeit und
Grad von Fortgeschrittenheit noch stolzer sein, als ich es ernst-
Pflicht. .. Auf jeden Fall hat es mich nicht gewundert, daß die
lich bin, wenn unterdessen ›die Liebe‹ nicht zur intellektuel-
französische Kritik, soweit sie nach deutschen Dingen neu-
len Moderichtung, zum literarisch-politischen Oppositionspro-
gierig ist, für ›Königliche Hoheit‹, für die Absichten, die Prosa
gramm geworden wäre, — und wenn ich das nicht überaus
des Romans viel mehr Geschmack hatte als die deutsche, —
schamlos fände. Auch ist nicht zu leugnen, daß das Buch,
welche ihn absolut und relativ als zu leicht befand: zu leicht
ungeachtet seiner demokratischen Lehrhaftigkeit, eine wahre
im Sinne der Ansprüche, die man in Deutschland an den Ernst
96 97
Orgie des Individualismus darstellt, dessen Noblesse in viel-
könig alles Zivilisationsliteratentums . . . Kurzum, der Zivili-
fältigen Erscheinungen unermüdlich abgewandelt wird; daß es
sationsliterat hatte ein Recht — ob er von diesem Recht nun
ihm in aller Fortschrittlichkeit an ›erhaltendem Gegenwillen‹
Gebrauch machte oder nicht —, auf mich und meine bescheide-
nicht fehlt; daß ein tiefes Zögern jene Wendung zum Demo-
nen Kräfte zu hoffen; und Stunden kamen, da nichts ihn län-
kratischen, zur Gemeinsamkeit und Menschlichkeit begleitet,
ger gehindert hätte, bedingungslos auf mich zu rechnen.
ja, daß diese Wendung eigentlich nur humoristischerweise,
In einer Zeitschrift (es war der ›März‹, — ein Name, poli-
nur ironice vollzogen wird und der Herzensernst des Erzäh-
tischen Frühlingsahnens voll) erschien ein Aufsatz, eine Stu-
lers — und des Zuhörers: das ist die Folge — den aristokrati-
die, dem ›Literaten‹ gewidmet, eine Aufklärung für Deutsche
schen Monstren, dem unmöglichen Colly-Dog und dem nicht
über Wesen und Herkunft dieses im höchsten Grade aktuellen
minder unmöglichen Dr. Überbein, zu gehören nicht aufhört.
geistigen Typus, — und Schmeichelhafteres, als ihm in diesem
Zwar wird Klaus Heinrich ›glücklich‹, und Raoul Überbein,
März-Artikel gesagt wurde, war dem Literaten in Deutsch-
der romantische Individualist, geht auf die tendenziöseste Weise
land überhaupt seiner Lebtage noch nicht gesagt worden. Ich
elendiglich zugrunde. Aber für so gemein, so politisch darf
fing damit an, ihn einen ›Brahmanen‹ zu nennen und ihm
man mich nicht halten, daß ich im ›Glücke‹ ein Argument
frei nach dem Vedam zu versichern, daß er mit mehr Klugheit
und im Zugrundegehen eine Widerlegung erblickte. Das wäre
und größerer Liebe zur Tugend geboren sei als alle Welt.
etwas anderes als moralisch, — es wäre tugendhaft; und wie
Seine Klugheit, erklärte ich, das sei sein Wissen um alles
ich über Tugendhaftigkeit denke, werde ich auf diesen Blät-
Menschliche, verbunden mit hoher Abenteuerlust und Meister-
tern noch sagen. Umgekehrt lieben die Erfinder von Geschich-
schaft auf dem Gebiete des Wortes. Seine Liebe zur Tugend
ten es sehr, gewissen Figuren ihre persönliche Sympathie, an-
aber sei: die Reinheit des Betrachtenden, der Wille zum Un-
deren dagegen ihre heitere Geringschätzung auszudrücken, in-
bedingten, der Ekel vorm Zugeständnis und der Korruption,
dem sie jene zugrunde gehen, diese aber glücklich werden
ein spottweise oder feierlich anklagendes und richtendes Be-
lassen . . . Wie dem auch sein mochte: die politisch-antiindi-
stehen auf dem Idealen, auf Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft,
vidualistische Tendenz — eine sehr undeutsche Tendenz oder
Güte und Menschenwürde. Nichts, sagte ich, sei bezeichnender
doch eine Tendenz, die eben erst im Begriffe ist, deutsch zu
für die literarische Anlage, als die zwiefache und im Grunde
werden —, sie war vorhanden; und wenn sie auf eine Weise
doch einheitliche Wirksamkeit jener philanthropischen Publi-
sich kundgab, doppelzüngig und unverbindlich genug, um den
zisten der Aufklärungszeit, welche in kriminalpolitischen Schrif-
Zivilisationsliteraten einiges Mißtrauen in ihre letzte Ernst-
ten die Gesellschaft vor das Forum der Menschlichkeit luden,
haftigkeit setzen zu lassen, — nochmals, sie war vorhanden,
ihre Zeitgenossen zum Abscheu gegen die Wildheiten der Ju-
sie war aufgenommen, sie war nicht ignoriert, und wäre sie
stiz, gegen Tortur und Todesstrafe erzogen, milderen Geset-
selbst weniger greifbar, wäre sie von Ironie noch stärker an-
zen den Weg bereiteten — und sich typischerweise zugleich
gekränkelt gewesen, — es gibt eine Art zu schreiben, gibt eine
durch Lehrschriften über Sprache und Stil, Abhandlungen über
westliche Haltung des Geistes und des Stiles, die deutlicher
die Kunst des Schreibens einen Namen machten. Philanthropie
spricht als alle Didaktik der Fabel; Ironie und Esprit, sie selbst
und Schreibkunst als herrschende Passionen einer Seele: das
sind zivilisationsliterarische Mächte; auch Europas weisester
habe etwas zu bedeuten; nicht zufällig fänden diese Leiden-
Greis, Anatole France in Paris, liebt es zuweilen, die Zivilisa-
schaften sich zusammen. Schön schreiben heiße beinahe schon
tion zu ironisieren, und ist dennoch der Abgott und Groß-
schön denken, und von da sei nicht weit mehr zum schönen
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Handeln. Alle Sittigung des Menschengeschlechtes — das sei politischen Konsequenzen dessen, was ich da ausgekramt hatte,
festzustellen — entstamme dem Geiste der Literatur, und schon lagen ja auf der Hand: die politische Konsequenz von »Phil-
den Volkspädagogen der Alten habe das schöne Wort als der anthropie und Schreibkunst«, das ist die radikale Republik,
Erzeuger der guten Tat gegolten. — Welch ein Sermon! Es ist die Advokaten- und Literatenrepublik, wie der Zivilisations-
Woodrow Wilson, den man zu hören glaubt, dieser hochge- literat sie im Haupte und Herzen hegt. . . Nochmals, ich hatte
stellte Gönner des Menschengeschlechtes, welcher, glaubwür- es getroffen. Aktivisten und Männer des ›Ziels‹ drückten mir
diger Versicherung zufolge, auf den Stil seiner Noten sich nicht ihre Anerkennung aus. In ihrer Art nicht weniger avancierte
wenig einbilden soll. War das alles nur Psychologie oder war Köpfe zählten die Ideen meines Literatenartikels jenen Din-
es Sympathie, Solidarität? — Ich ging weiter. Ich schied den gen zu, die »der neue Geist einer jüngsten Literatur dem Geiste
Literaten von der Kunst im naiven und treuherzigen Sinne, der älteren, der modernen seit Hebbel etwa, zu sagen hat«.
schied ihn ab von ihr im Namen des Geistes, der Moral und Kein Zweifel, ich befand mich im richtigen Boot; ich hatte den
der Kritik. Seine erkennenden und richtenden Triebe, sagte Anschluß, weiß Gott! Seit ›Buddenbrooks‹ war der Fortschritt
ich, entfremdeten ihn dem Künstler wie er im Buche stehe, — deutlich, der Fortschritt in fortschrittlicher Richtung. Zuletzt,
diesem aufgeräumten und harmlosen Wesen, das mit einem was wäre ›intellektueller‹ als die Parodie? Man hat teil an
Gemisch aus Widerwillen und frommer Scheu dem strengen der intellektualistischen Zersetzung des Deutschtums, wenn
Bruder begegne oder lieber noch nicht begegne. Ich schilderte man vor dem Krieg auf dem Punkte stand, den deutschen Bil-
›den Künstler‹ getreu nach dem Bilde meines Aldobrandino dungs- und Entwicklungsroman, die große deutsche Autobio-
in ›Fiorenza‹, ich zeigte ihn als Freudenmeister an den Höfen graphie als Memoiren eines Hochstaplers zu parodieren . . .
der Großen, als unbekümmerten Mitesser am Tische des rei-
chen Halunken und vermutete, daß, wenn irgendein löblicher
Charakterzug diesem sympathischen Gesellen mangeln sollte,
es etwa die Anständigkeit sein möchte, welche schlechterdings
nicht die Sache der Natur und des ›Temperamentes‹, sondern
diejenige des Wissens und der Kritik sei. Der Literat seines-
teils sei der wesentlich anständige Mensch; er sei anständig
bis zur Heiligkeit, anständig bis zur Absurdität, — denn das
Absurde, das sei das geistig Ehrenhafte . . . Und so ging es
fort. Freilich belehren mich meine Papiere, daß ich zur selben
Zeit auch gerade umgekehrt denken konnte. »Der Irrtum des
Literaten«, lese ich auf so einem Blatt, »ist sein Glaube, daß
nur der Geist anständig macht. Aber die Wahrheit ist eher
das Gegenteil: Nur wo kein Geist ist, gibt es Anständigkeit.«
Gleichviel; was ich drucken ließ, ist das Gültige. Und sicher
ist, daß es, um hamletisch zu reden, lächelnd um das Herz des
Zivilisationsliteraten saß. Zwar war ich im Geistig-Sittlichen
verblieben, war nicht ins Politische vorgeschritten. Allein die

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Es gibt ein schönes, tiefes Buch des jungen ungarischen Essay-
BÜRGERLICHKEIT isten Georg von Lukács, betitelt: ›Die Seele und die Formen‹,
und darin eine Studie über Theodor Storm, die zugleich eine
Untersuchung des Verhältnisses von »Bürgerlichkeit und l'art
pour l'art« ist, — eine Untersuchung, die mir, als ich sie vor
Wie alles war in der Welt entzweit,
Jahren las, sofort als das Vorzüglichste erschien, was über die-
Fand jeder in Mauern gute Zeit:
sen paradoxen Gegenstand je gesagt worden und die zu zitie-
Der Ritter duckte sich hinein,
ren ich ein besonderes Recht zu haben meine, da der Verfasser
Bauer in Not fand's auch gar fein.
Wo kam die schönste Bildung her, vielleicht dabei meiner gedacht — und an einer Stelle auch aus-
Und wenn sie nicht vom Bürger wär'? drücklich meiner gedacht hat. Auf ein Wissen, zu dem wir durch
Goethe unser Sein mit verholfen, haben wir ohne Zweifel ein beson-
deres Anrecht; und sind, indem wir es an uns nehmen, etwa
Meistersinger: Gegensatz zur Zivilisation, in der Lage eines Vaters, der sich lächelnd von seinem gelehr-
das Deutsche gegen das Französische. ten Sohn unterrichten läßt. — Lukács also unterscheidet vor
Nietzsche allem zwischen jenem fremden, gewaltsamen und maskenhaf-
Und dennoch mußte ich, als jetzt Krieg wurde, die Literatur ten, asketisch-orgiastischen Bourgeoistum, dessen berühmtestes
verraten? Mußte durch öffentliche Äußerungen, aus denen ein Beispiel Flaubert und dessen Wesen die abtötende Verneinung
teils ironisch hinterhältiger, teils aber auch geschmacklos-herz- des Lebens zugunsten des Werkes sei, — und dem echt bürger-
lich herausfahrender Nationalismus und Patriotismus sprach, lichen Künstlertum eines Storm, Keller, Mörike, welches das
den Zivilisationsliteraten aufs bitterste enttäuschen und mich Paradoxon seines Beiwortes erst eigentlich verwirkliche, indem
literarisch so heillos kompromittieren, wie ich es durch die ver- es bürgerliche Lebensführung, gegründet auf einen bürgerli-
unglückteste Novelle nicht vermocht hätte? Wie geschah das? chen Beruf, verbinde mit den harten Kämpfen der strengsten
— Die Frage zu beantworten, hätte ich mir durch die voran- künstlerischen Arbeit und dessen Wesen »des Handwerkers
gehenden Seiten sehr schwer gemacht, wenn ich sie nicht bei- Tüchtigkeit« sei. »Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens«,
nahe schon darin beantwortet hätte. Denn indem ich zu sagen schreibt Lukács, »bedeutet in erster Linie das Primat der Ethik
versuchte, inwiefern ich Europäer und westlicher Literat sei, im Leben; daß das Leben durch das beherrscht wird, was sich
sagte ich, wenn mir recht ist, zugleich immer auch etwas über systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtge-
die Ursprünge meines ›Patriotismus‹ aus. Um aber die Beant- mäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muß ohne Rück-
wortung jener Gewissensfrage: »Wie geschah das?« ein wenig sicht auf Lust und Unlust. Mit anderen Worten: die Herrschaft
zu vervollständigen, will ich jetzt von der Bürgerlichkeit reden, der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Mo-
von Bürgerlichkeit und Kunst, von bürgerlichem Künstlertum, mentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sen-
— in dem dunklen Gefühl, daß damit meine anstößige Haltung sationen gespeist wird.« Und indem er fortfährt, ergibt sich,
in diesem Kriege auf irgendeine Weise zu tun haben möchte, daß er dies ethisch-handwerkliche Meistertum, im Gegensatz
und fast in der Sicherheit, daß bei solcher Untersuchung auch zu dem Mönchsästhetizismus Flauberts, dessen bürgerliche Le-
für ein unpersönlich allgemeines Interesse diese oder jene An- bensführung eine nihilistische Maske war, als die germanische
regung abfallen wird. Gestalt des bürgerlichen Künstlertyps anspricht: Ästhetizis-
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mus und Bürgerlichkeit, gibt er zu verstehen, stellen hier eine der ›Kunst‹ und meine Bürgerlichkeit sei eine nihilistische
geschlossene und legitime Lebensform dar, und zwar eine Maske; wenn ich, freilich mit aufrichtiger Ironie nach beiden
deutsche Lebensform; ja, diese Mischung von Artistik und Seiten hin, der Kunst, dem ›Werk‹ vor dem Leben den Vor-
Bürgerlichkeit bilde die eigentlich deutsche Abwandlung des rang gab und erklärte, man dürfe nicht leben, man müsse ster-
europäischen Ästhetentums, das deutsche l'art pour l'art. ben, »um ganz ein Schaffender zu sein«. In Wahrheit ist die
Das ist glänzend — überaus fein und wahr! Aber wird man ›Kunst‹ nur ein Mittel, mein Leben ethisch zu erfüllen. Mein
mir erlauben, daß ich es nicht nur lobe, daß ich mich auch darin ›Werk‹ — sit venia verbo — ist nicht Produkt, Sinn und Zweck
wiedererkenne? Denn selbst nochmals in Erinnerung gebracht, einer asketisch-orgiastischen Verneinung des Lebens, sondern
daß hier niemals vom Range, sondern vom Wesen die Rede ist, eine ethische Äußerungsform meines Lebens selbst: dafür spricht
— gerade das, was der Essayist als das Kriterium des deutsch- schon mein autobiographischer Hang, der ethischen Ursprungs
bürgerlichen l'art pour l'art zu betrachten scheint: der bürger- ist, aber freilich den lebhaftesten ästhetischen Willen zur Sach-
liche Beruf nämlich, als wirkliche Lebensform und -Ordnung, lichkeit, zur Distanzierung und Objektivierung nicht ausschließt,
fehlt in meinem Falle. Es fehlte jedoch auch bei Conrad Ferdi- einen Willen also, der wieder nur Wille zur Handwerkstreue
nand Meyer, den man jener deutschen Zunft doch wohl zu- ist und unter anderem jenen stilistischen Dilettantismus er-
rechnen darf und muß (und der im Jahre 1870 sich als deutsch zeugt, welcher den Gegenstand reden läßt und zum Beispiel im
erkannte, die Partei Deutschlands ergriff!) —fehlte aus den ein- Falle des ›Tod in Venedig‹ zu dem erstaunlichen öffentlichen
fachsten, aus gesundheitlichen Gründen. Aber sollte wirklich Mißverständnis führte, als sei die ›hieratische Atmosphäre‹,
jene kritische Bedingung unerläßlich sein? Es ist ja klar, daß der ›Meisterstil‹ dieser Erzählung ein persönlicher Anspruch,
der Geist es liebt, statt der Realität das Symbol zu setzen. Man etwas, womit ich mich zu umgeben und auszudrücken nun
kann soldatisch leben, ohne im mindesten tauglich zu sein, als lächerlicherweise ambitionierte, — während es sich um Anpas-
Soldat zu leben. Der Geistige lebt im Gleichnis. Jener Primat sung, ja Parodie handelte . . . Nicht auf das ›Werk‹ also, son-
des Ethischen im Leben, von dem der Kritiker spricht,—bedeu- dern auf mein Leben kommt es mir an. Nicht ist das Leben
tet er nicht das Übergewicht des Ethischen über das Ästhetische? das Mittel zur Erringung eines ästhetischen Vollkommenheits-
Und ist dies Übergewicht nicht vorhanden, wenn das Leben ideals, sondern die Arbeit ist ein ethisches Lebenssymbol. Nicht
selbst, auch ohne bürgerlichen Beruf, den Primat vor dem irgendwelche objektive Vollkommenheit ist das Ziel, sondern
Werke besitzt? Ein Artistentum ist dadurch bürgerlich, daß es das subjektive Bewußtsein, daß ich »es besser auf keinen Fall
die ethischen Charakteristika der bürgerlichen Lebensform: machen konnte«. Wenn dieses innere Wesen meiner Arbeit auf
Ordnung, Folge, Ruhe, ›Fleiß‹ — nicht im Sinne der Emsigkeit, empfängliche Leute, wie meinen Wiener Gönner, von objektiv
sondern der Handwerkstreue — auf die Kunstübung überträgt. ästhetischer Wirkung sein kann, so ist doch ihr subjektiver
In Wien sagte mir vor Jahren ein kluger Jude: »Was Ihren Sinn durchaus ethisch, — so wenig ist meinesgleichen Schön-
Sachen Würde und Liebenswürdigkeit verleiht, ist, daß Sie, in- heitsfex, so wenig Ästhet im Boheme-Sinne und so sehr im
dem Sie sie hingeben, zu sagen scheinen: ›Besser kann ich es auf bürgerlichen.
keinen Fall machen.‹« Das war ein zweifelhaftes Kompliment,
aber ein sehr eindringliches, und darum habe ich es behalten. »Wie geschah das?« Vielleicht zum Teile aus diesem Wesens-
Es war eine romantische Jünglingstäuschung und Jünglings- grund. Vielleicht weil ich mich deutsch fühle kraft dieser Zu-
allüre, wenn ich mir ehemals einbildete, ich opferte mein Leben gehörigkeit zu einer bürgerlich-ethischen Artistik, die deutsch
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ist. Weil meinesgleichen nichts zu schaffen hat mit Flaubert- das Ethische, und nie habe ich mich im Wortsinn als ݀sthe-
schem Anachoretentum, noch mit der unleidlichen Schönheits- ten‹, sondern immer als Moralisten gefühlt.
Großmäuligkeit des d'Annunzio. Weil ich, persönlich aus alt- So war es deutsch, so war es bürgerlich; Ästhetizismus im
bürgerlicher deutscher Sphäre stammend, trotz aller modernen Wortsinne, Schönseligkeit also, ist die undeutscheste Sache
Fragwürdigkeit und europäisierenden Bedürfnisse, nach meiner von der Welt und die unbürgerlichste zugleich; man wird nicht
Art zusammenhänge mit jenen Repräsentanten deutsch-hand- zum Ästheten erzogen in Schopenhauerisch-Wagner'scher
werkerlichen Kunstmeistertums, von denen Meyer und Storm Schule, man atmet ethisch-pessimistische Luft dort, deutsch-
mir die nächsten sind. Zu jenem zieht mich soziale und mensch- bürgerliche Luft: denn das Deutsche und das Bürgerliche, das
liche Sympathie. Aber meine Verbindung mit Storm ist Stam- ist eins; wenn ›der Geist‹ überhaupt bürgerlicher Herkunft
mesverwandtschaft und mehr als das. Wenn ›Tonio Kröger‹ ist, so ist der deutsche Geist bürgerlich auf eine besondere
ins Modern-Problematische fortgewandelter ›Immensee‹ ist, Weise, die deutsche Bildung ist bürgerlich, die deutsche Bür-
eine Synthese aus Intellektualismus und Stimmung, aus gerlichkeit human, — woraus folgt, daß sie nicht, wie die west-
Nietzsche und Storm, wie ich sagte, so spricht Lukács in jener liche, politisch ist, es wenigstens bis gestern nicht war und es
Studie es aus, daß im Falle von ›Buddenbrooks‹ späte Be- nur auf dem Wege ihrer Enthumanisierung wird ...
wußtheit (die nichts mit dem Range zu tun hat) die Monu- Zu sagen, bei Schopenhauer und Wagner befinde man sich
mentalisierung' jener Verfallsstimmung ermöglichte, welche in bürgerlicher Sphäre, es sei eine bürgerliche Erziehung, die
Storms bürgerliche Welt umgibt. man durch sie erhalte, scheint eine widersinnige Behauptung;
Ethik, Bürgerlichkeit, Verfall: das gehört zusammen, das ist denn es fällt schwer, den Begriff der Bürgerlichkeit mit dem
eins. Gehört nicht auch die Musik dazu? Ich erinnere mich wohl, der Genialität zu vereinigen. Was wäre auch unbürgerlicher,
mit welchen Worten, mündlicher Überlieferung zufolge, Stefan als ihr hochgespannter, tragischer, heftig-qualvoller und in
George meine ›Buddenbrooks‹ abgelehnt hat: »Nein«, sagte Weltruhmesglanz mündender Lebensgang! Trotzdem sind sie
er, »das ist nichts für mich. Das ist noch Musik und Verfall.« rechte Kinder ihres bürgerlichen Zeitalters, und überall ist in
Noch! Späte, ja verspätete Bürgerlichkeit machte mich zum Ver- ihrer Menschlichkeit und Geistigkeit das Bürgerliche nach-
fallsanalytiker; und jene »ethische Luft«, der moralistische Pes- weisbar. Man sehe sich Schopenhauers Leben an: Seine hanse-
simismus (mit Musik), den ich von Schopenhauer und Wagner atisch-kaufmännische Herkunft; seine Seßhaftigkeit in Frank-
empfangen zu haben angab, er war es vielmehr, was ich bei furt; die kantisch-pedantische Unwandelbarkeit und Pünktlich-
diesen europäischen Deutschen als mein Selbst und Eigen vor- keit seines Tageslaufes; seine weise Gesundheitspflege auf
fand, was mich von vornherein zu ihnen zog und führte. Nicht Grund guter physiologischer Kenntnisse (— »Nicht dem Ver-
›Schönheit‹. Nie war es mir um ›Schönheit‹ zu tun. ›Schön- gnügen, sondern der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige
heit‹ war mir immer etwas für Italiener und Katzeimacher des nach« —); seine Genauigkeit als Kapitalist (er schrieb jeden
Geistes, — nichts Deutsches im Grunde und namentlich nicht Pfennig auf und hat sein kleines Vermögen durch kluge Wirt-
Sache und Geschmack einer künstlerischen Deutsch-Bürgerlich- schaft im Laufe seines Lebens verdoppelt); die Ruhe, Zähig-
keit. In dieser Sphäre überwiegt das Ethische über das Ästhe- keit, Sparsamkeit, Gleichmäßigkeit seiner Arbeitsmethode (— er
tische, oder richtiger: eine Vermischung und Gleichsetzung produzierte für den Druck ausschließlich während der ersten bei-
dieser Begriffe hat statt, welche das Häßliche ehrt, liebt und den Morgenstunden und schrieb an Goethe, daß Treue und Red-
pflegt. Denn das Häßliche, die Krankheit, der Verfall, das ist lichkeit die von ihm aus dem Praktischen ins Theoretische und
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Intellektuelle übertragenen Eigenschaften seien, die das Wesen form gerade in Deutschland besitzt. Als ich von dem bestim-
seiner Leistungen und Erfolge ausmachten): — das alles zeugt menden Einfluß sprach, den Wagners Künstlertum auf mich
ebenso stark für die Bürgerlichkeit seines menschlichen Teils, ausgeübt, ließ ich etwas Bedenkliches weg, versparte es mir
wie es Ausdruck bürgerlicher Geistigkeit war, daß er das ro- bis auf diese Stelle, und es handelt sich dabei weniger um
mantische Mittelalter, Pfaffentrug und Ritterwesen so ent- Wagners eigenes Bürgertum, als um seine Beziehungen zur
schieden verabscheute und durchaus auf klassischer Humani- Bürgerlichkeit, um seine Wirkung auf den Bürger. Gerade sie
tät bestehen zu sollen meinte. Übrigens gehört das zu jener ist aber der Punkt, in dem Wagners Einfluß zu einer Art von
Opposition, die er sich selber machte und in der man die Vor- Verderb werden kann und vielleicht in meinem Falle dazu ge-
stufe und Vorschule von Nietzsche's »Selbsthenkertum« erken- worden ist: ich meine das, was Nietzsche die »doppelte Optik«
nen darf, — es ist der stärkste Widerspruch zwischen Tendenz nennt, die artistische und die bürgerliche nebeneinander und
und Natur, die intellektuelle Verneinung seines Selbst, denn auf einmal, den Instinkt — denn es ist natürlich ein Instinkt,
wer wäre weniger klassisch, wer wäre romantischer gewesen als keine Berechnung; etwas durchaus Objektives, nichts Subjek-
er! Was aber Wagner betrifft, so findet sich ja in seiner mensch- tives —, raffinierte und gutmütigere Bedürfnisse zugleich zu
lichen und künstlerischen Persönlichkeit ein nicht nur bürger- befriedigen, die Wenigen zu gewinnen, und die Vielen oben-
licher, sondern geradezu bourgeoiser und parvenühafter Ein- drein, — ein Instinkt, der, nach meiner Einsicht, mit Wagners
schlag, — der Geschmack am Üppigen, am ›Atlas‹, am Luxus, Eroberertum, seinem Weltdurst, seiner ›Sündhaftigkeit‹ im
an Reichtum und bürgerlicher Pracht, — ein Zug des Privat- asketischen Sinne zusammenhängt, mit dem, was Buddha das
lebens zunächst, der aber tief ins Geistig-Künstlerische reicht. »Anhangen« nennt, seiner Sehnsucht, seinem sinnlich-über-
Ich bin nicht sicher, ob die Bemerkung mein Eigentum ist, daß sinnlichen Liebesverlangen. Es gibt ja eine Art von Künstler-
Wagners Kunst und das Makartbukett (mit Pfauenfedern) der- tum, bei welchem von all diesem, oder von diesem einen, durch-
selben zeitlichen und ästhetischen Herkunft sind? Aber wenn aus nicht die Rede sein kann, ein keusches, strenges, kaltes,
Wagner ein wenig bourgeois war, so war er auch Bürger in stolzes, ja steifes, das für die ›Welt‹ nichts als Verachtung
einem hohen, deutschen Sinn, und seine Selbst-Inszenierung und Hohn im Herzen und Geiste hegt und von keinerlei Dem-
und Kostümierung als deutscher ›Meister‹ hatte ihre gute in- agogie, keiner unbewußtesten Rücksicht und Kondeszendenz,
nere und natürliche Berechtigung: man täte unrecht, über dem keinem weltlichen Wirkungs-, Vereinigungs- und Liebesver-
Feuerflüssig-Vulkanischen, dem Dämonischen und Genialen in langen auch nur berührt ist. Wagner war weit davon entfernt.
seiner Produktion das altdeutsch-kunstmeisterliche Element zu In seinem Werk findet sich eine Stelle, die ihn in jedem Sinne,
übersehen, — das Treublickend-Geduldige, Handwerksfromme auch in diesem, resümiert: es ist das Zitat des Sehnsuchts-
und Sinnig-Arbeitsame . . . »An ihren Früchten sollt ihr sie motivs auf dem Worte »Welt« im II. Akt ›Tristan‹ — (»Selbst
erkennen.« Wagners europäischer Intellektualismus findet sich dann bin ich die Welt!«). Man wird mich nicht hindern, in
wieder in Richard Strauß, sein deutschbürgerliches Teil aber Wagners Begierde, seiner Welt-Erotik den Grund und Ursprung
in dem Käppchen-Meistertum und Treufleiß des liebenswerten dessen zu finden, was Nietzsche seine zweifache Optik genannt
Engelbert Humperdinck. hat, eines aus Bedürfnis entsprungenen Vermögens, nicht nur
Bürgerliches Künstlertum, ein verwirklichtes Paradoxon, ein die Feinsten — das ist selbstverständlich — zu fesseln, zu
Paradoxon immerhin, eine Doppeltheit und Zwiespältigkeit faszinieren, sondern auch die breite Masse der Schlichten; ich
auf jeden Fall, trotz der Legitimität, die diese geistige Lebens- sage: aus Bedürfnis entsprungen, weil ich überzeugt bin, daß

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jeder Künstler ohne Ausnahme genau das macht, was er ist, noch einmal geschieht es, daß ein reiner und freier Ausdruck
was seinem eigenen ästhetischen Urteil und Bedürfnis ent- meines Wesens, wie etwa der Friedrich-Essay, den literari-
spricht. Ein unehrliches Künstlertum, welches Wirkungen be- schen Rigorismus nötigt, dem lobenden Urteil der ›Bürger‹
rechnete und erzielte, die ihm selber ein Spott, denen es selbst wohl oder übel beizupflichten. Konnte es nicht geschehen, daß
überlegen wäre und die nicht zuerst auch Wirkungen auf ihren eine Europäer-Zeitschrift, die ›Weißen Blätter‹, den Aufsatz
Urheber wären, ein solches Künstlertum gibt es nicht. Und meisterhaft fand, — wenn auch seine Tendenz natürlich nicht
daraus folgt, daß die objektiven Wirkungen eines Künstlers, gebilligt werden könne?! Es ist das alte Lied von Tonio Krö-
auch die breit bürgerliche Wirkung Wagners, immer für sein ger: »Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim
eigenes Sein und Wesen beweisend sind. Er war ein sehnsüch- und habe es infolgedessen ein wenig schwer.« — Aber ist man
tiger oder, um das kältere Wort dafür einzusetzen, ein ehr- vielleicht gerade damit deutsch? Ist nicht deutsches Wesen die
geiziger Künstler. Was man aber in der Jugend wünscht, wirk- Mitte, das Mittlere und Vermittelnde und der Deutsche der
lich und von Naturrecht wegen wünscht, nicht nur zu wün- mittlere Mensch im großen Stile? Wenn es schon deutsch ist,
schen sich fälschlich und unnatürlicherweise einredet, — das Bürger zu sein, so ist es vielleicht noch deutscher, etwas zwi-
hat man im Alter die Fülle; und die Folge jener aristokratisch- schen Bürger und Künstler, auch etwas zwischen einem Pa-
demokratischen, artistisch-bürgerlichen Optik ist der Erfolg, trioten und Europäer, zwischen einem Protestler und West-
als welcher eben immer ein doppelter Erfolg ist: bei den Ar- ler, einem Konservativen und einem Nihilisten zu sein — und
tisten und bei den Bürgern, denn weder der reine Boheme- überaus deutsche Aufsätze zu schreiben, deren antiliterarische
und Zönakel-, noch der reine Publikumserfolg trägt mit Recht Tendenz jedes französisch akzentuierte Herz mit Widerwillen
seinen Namen. Glaube man doch ja nicht, daß ich im gering- erfüllen muß, die aber gerade von den Westlern, Europäern
sten aus Selbstgefälligkeit rede, wenn ich hinzufüge, daß ich und Literaten dennoch leider als »meisterhaft« angesprochen
vom ›Erfolge‹ ein Lied, mein kleines Lied, zu singen weiß! Ich werden müssen? —
sehe in ihm eine Lebenserfahrung wie eine andere, und ich
weiß, daß er für seinen Träger auf recht zweideutige Weise Das war Grübelei! Kommen wir zur Sache im engeren — oder
charakteristisch ist. Schlicht definiert bedeutet er: Diesen ver- weiteren — Sinne zurück und sprechen wir von Bürgerlichkeit
langte auch nach den Dummen .. . Was ich aber ferner weiß, und Politik: ich meine, von deutscher Bürgerlichkeit, gebilde-
ist, daß der ›Erfolg‹ als Folge jener doppelten Optik, die man ter Bürgerlichkeit, humaner und künstlerischer Bürgerlichkeit
schlimmer- und sündigerweise von Wagner lernt, eine prekäre und ihrem Verhältnis zur Politik, — welches, wie wir schon ein-
und nicht geheuere Behausung ist; daß er Lebensgefahr und fließen ließen, von Hause aus ein rechtes Unverhältnis ist und,
Eumenidenrache in sich selber birgt; daß ein Mann dieses Er- nachdem es schon von Bismarck mit zweifelhaft-halbem Erfolg
folges gewärtig sein muß, es auf die Dauer mit beiden Teilen in die Kur genommen worden, heute vom Zivilisationslitera-
zu verderben, mit der Bürgerlichkeit sowohl wie mit dem Ra- ten auf ›geistigere‹ Weise in die Kur genommen wird . . . Es
dikalismus : da denn in meinem Falle die Sache damit begon- ist ein hartes Stück Arbeit, das er sich vorgesetzt. Denn die
nen hat, daß ich den Literaten bereits ein Dorn im Auge oder deutsche Humanität widerstrebt der Politisierung von Grund
auch das kaum noch bin. Einer, Äternist seines Zeichens, hat aus, es fehlt tatsächlich dem deutschen Bildungsbegriff das poli-
mich neulich eine »Frohnatur« genannt . . . Gut, das ist das tische Element. Noch immer, nach halbhundertjährigem Reichs-
Ende! — Nein, es ist das letzte Ende immer noch nicht. Immer bestande, gelten für den höheren Deutschen die Worte des
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jungen Nietzsche aus der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung: strömt es von halbgebildet-exzitiertem Straßengerede über. Er
»Denn der, welcher den furor philosophicus im Leibe hat, wird redet zu keinem und zu uns allen, er streckt sogar sein Kinn
schon gar keine Zeit mehr für den furor politicus haben und über die Schulter des Wagenführers, diese gesetzte Schulter im
sich weislich hüten, jeden Tag Zeitungen zu lesen oder gar Dienstmantel, und schwatzt ihm von der Seite ins Gesicht. Er
einer Partei zu dienen: ob er schon keinen Augenblick anstehen schwätzt vom »schwarz-blauen Block« oder ähnlichem unmensch-
wird, bei einer wirklichen Not seines Vaterlandes auf seinem lich dummen Zeug, er steckt die Daumen in die Weste und ahmt
Platze zu sein. Alle Staaten sind schlecht eingerichtet, bei denen gassenhumoristisch einen Juden nach . . . Er war die Verzer-
noch andere als die Staatsmänner sich um Politik bekümmern rung des Volkes selbst, und gut habe ich den Blick im Sinne
müssen, und sie verdienen es, an diesen vielen Politikern zu- behalten, mit dem der Wagenführer sich endlich nach dem
grunde zu gehen.« Was aber hier von dem typischen Deut- peinlichen Menschen umwandte und ihn von oben bis unten
schen höherer geistiger Ordnung, wie er wenigstens bis gestern musterte, diesen nüchternen, gesetzten, schweigend-befremde-
sich vorstellte, gesagt ist, — hat es im Grunde nicht Gültigkeit ten, abschätzigen, leicht angewiderten Blick des Mannes im
für den Deutschen im großen und ganzen, für Deutschland Dienstmantel auf den von Politik und Halbbildung Trunke-
als Volksperson, ja für das eigentliche Volk in Deutschland? nen, einen Blick, der mir für das Verhältnis des deutschen
Wie dieses Volk sich ausnimmt, wenn es gilt, »bei einer wirk- Volkes zur Politik unvergeßlich bezeichnend schien. War er ein
lichen Not des Vaterlandes auf dem Platze zu sein«, haben wir Egoist, mein Wagenführer? Aber er ist »auf seinem Platze«
Anfang August 1914 gesehen, — überaus schön nimmt es sich gewesen, dafür verbürge ich mich, als wirkliche Not anbrach,
aus; wir möchten glauben: so schön wie kein anderes. Desto sein Gesicht war immer noch nüchtern, aber es war andächtig
schlechter steht ihm die flache Aufgeregtheit solcher Zeiten zu damals, und er hält seinen Platz bis zum heutigen Tag, sei es
Gesicht, die im engeren und inneren Sinne politisch sind, — über der Erde oder gedeckt von ihr. —
schlechter, wahrscheinlich, als jedem anderen; es entstellt sich Der Sinn des gesetztesten Volkes schien mir in dem Blick
dabei aufs unangenehmste, und es weiß das im Grunde selbst. dieses seines anständigen Sohnes zu liegen. Wende ich mich
Ich habe meine kleinen Erinnerungen an Straßen- und Tram- von ihm dem deutschen Künstler, der typisch deutschen Spiel-
bahnszenen in Reichstagswahltagen, ich sehe mich wieder auf art des bildenden Menschen, zu, so muß ich versuchen, ihr Bild
einer vorderen Plattform, hinter dem Wagenführer, einem und Wesen »mit meines Geistes Aug'«, wie Hamlet sagt, zu
noch jungen Mann mit einem Ehering an der Hand, mit der erfassen. Was sehe ich? Ich sehe ein etwas seitlich- und vorge-
er die Stromschaltkurbel regiert. Er steht da, umdrängt vom neigtes Antlitz von unvergleichlichem und unverwechselbarem
Publikum, in seinem soliden Dienstmantel, und tritt die Glocke, nationalen Gepräge, irgendwie altertümlich holzschnitthaft,
späht durch die regenbeschlagene Glasscheibe vor seinem Ge- nürnbergisch-bürgerlich, menschlich in einem unerhörten und
sicht. Ein Mann springt auf, den Hut im Nacken, mit wirren einmaligen Sinne, sittlich-geistig, hart und milde zugleich, —
Augen, Hitzflecken auf den Backenknochen, und beginnt schon ein hinein- und hinüberschauendes, nicht ›feuriges‹, eher ein
auf dem Trittbrett zu reden. Er ist in voller Aktion, in politi- wenig welkes Auge, einen verschlossenen Mund, Zeichen der
scher Rage. Er kommt aus dem Wahllokal, ein Agent wahr- Anstrengung und der Ermüdung auf der besorgt, doch ohne
scheinlich, ein Werber, ein Stimmenjäger, jedenfalls ein feuri- Grämlichkeit gefalteten Stirn . . . Waibling oder Weife? Ach,
ger Parteigänger. Er könnte nicht schweigen, man sieht es; nein: »Nur stiller Künstler, der sein Bestes tat, versonnen
sein Herz ist voller Politik und Halbbildung, und unablässig wartend, bis der Himmel helfe.« Was hätte dieser Treue, Wür-
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dige und Demütige, was dieser metaphysische Handwerker mit ein Werk dieser unpolitischen Bürgerkultur, dieser Zeit einer
Politik in irgendeinem westlich-demokratischen Gassensinn zu behaglich-genauen, helläugig-satirischen Alltagsgestaltung, der
schaffen? Er ist national, natürlich ist er es, wenn auch viel zu Zeit der Predigt und Mystik, der Fastnachtsspiele, Rechtsbücher
human und urban, kosmopolitisch umgetan und bürgerlich ge- und Chroniken ... einer Zeit des Aufschwungs deutscher Indi-
bildet, um in Zeiten friedlicher Arbeit mit dem Nationalen einen vidualität nach dem einen, der Demokratisierung des Persön-
trumpfenden Unfug zu treiben; er ist national und wird sich lichkeitsbegriffs nach dem anderen Historiker, der Zeit innigst-
dessen innig bewußt werden, wenn er das nationale Wesen in würdiger, national-meisterlicher Griffelkunst und Malerei, —
physischer und namentlich geistiger Bedrängnis sieht. Aber dieser Zeit, mit einem Wort, die es bewirkt, daß in deutscher
ein Politiker? Ein Manifestant und Tumultuant? Ein Men- Sphäre Bürgerlichkeit und Geistigkeit,Bürgerlichkeit und Kunst-
schenrechtler und Freiheitsgestikulant? Nein, nein! — meistertum innig sinnverwandte Wörter geblieben sind.
Es ist kein Zufall, daß mir, indem ich nach dem Bilde bür- Und der ›Weltbürger‹, ist nicht auch er — ein Bürger? Was
gerlicher Geistigkeit, des bürgerlich-kulturellen Typus trachte, stellt er denn anderes vor, als die Verbindung deutscher Bür-
ein mittelalterlich-nürnbergisch Gesicht erscheint. Man forscht gerlichkeit mit humanistischer Bildung? Ja, wie in das deutsche
in den Büchern, man forscht in der Not der Zeit nach den fern- Wort für ›Kosmopolitismus‹ Wort und Begriff des ›Bürgers‹
sten Ursprüngen, den legitimen Grundlagen, den ältesten see- aufgenommen ist, so ist auch diesem Wort und Begriffe selbst
lischen Überlieferungen des bedrängten Ich, man forscht nach der Welt- und Grenzenlosigkeitssinn immanent. —
Rechtfertigung. War es nicht so: das bürgerliche Zeitalter un- Wer bin ich, woher komme ich, daß ich bin, wie ich bin, und
serer Geschichte, das auf das geistliche und ritterliche folgte, mich anders nicht machen noch wünschen kann? Danach forscht
das Zeitalter der Hansa, das Zeitalter der Städte, es war ein man in Zeiten seelischer Bedrängnis. — Ich bin Städter, Bürger,
reines Kulturzeitalter, kein politisches, der Bürger trat das poli- ein Kind und Urenkelkind deutsch-bürgerlicher Kultur. Das
tische Erbe des Ritters nicht an. Dies Zeitalter war jedoch mütterlich-exotische Blut mochte als Ferment, mochte entfrem-
national im höchsten Grade, national mit Bewußtsein, nach Ge- dend und abwandelnd wirken, das Wesen, die Grundlagen ver-
wand und Haltung; man hat die bürgerliche Kultur die erste änderte es nicht, die seelischen Hauptüberlieferungen setzte es
rein nationale genannt. Welche Epoche ist es, die den Möser, nicht außer Kraft. Waren meine Ahnen nicht Nürnberger Hand-
den Fichte als die eigentliche Glanzzeit deutscher Geschichte werker von jenem Schlage, den Deutschland in alle Welt und
erschien? Es ist diese, es ist die Blütezeit der deutschen Hansa. bis in den fernen Osten entsandte, zum Zeichen, es sei das
Die Geschichte der deutschen Städte, sagt Treitschke mit einem Land der Städte? Sie saßen als Ratsherren im Mecklenburgi-
Ton der Verteidigung, sei »etwas durchaus Patriotisches« ge- schen, sie kamen nach Lübeck, sie waren »Kaufleute des römi-
wesen, und Geschichtsschreiber, die es beklagen, ja, es ein deut- schen Reiches«, — und indem ich die Geschichte ihres Hauses,
sches Verhängnis nennen, daß der politische Bund zwischen eine zum naturalistischen Roman entwickelte städtische Chro-
Monarchie und Bürgertum, die Begründung des Nationalstaa- nik schrieb, ein deutsches Buch, das man wohl auf ein Bord
tes, wie sie sich in andern Ländern damals vollzog, in Deutsch- mit den Schriftwerken der bürgerlichen Vorzeit stellen mag,
land versäumt wurde, rühmen laut die Bedeutung dieser Ge- erwies ich mich als viel weniger aus der Art geschlagen, als
schichte für die Ausbreitung sowohl wie für die Vertiefung ich selber mir träumen ließ. Ja, ich bin Bürger, und das ist in
deutschen Wesens. Ja, die Vertiefung des deutschen Typus — Deutschland ein Wort, dessen Sinn so wenig fremd ist dem
ich lese es nach, und ich erinnere mich, daß es wahr ist—, sie ist Geiste und der Kunst wie der Würde, der Gediegenheit und

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dem Behagen. Mein Sinn für Eleganz ist urbanen Ursprungs, Kern ihres Idealismus irgendwann durch eine radikale Ent-
er ist Kultur und nicht internationale Zivilisation, wie im Falle scheidung in Dingen politischer Freiheit deutlich wird. Grimm
des eleganten Bourgeois. Mein Sinn für Solidität ist dersel- als einer der Göttinger Sieben, Storm als Holsteiner, Uhland
ben Herkunft. Noch mein Instinktanspruch auf Würde und be- als Württembergischer und Paulskirchen-Abgeordneter gehen
haglichen Überfluß der materiellen Lebensführung hat ältere bis zum letzten, was in diesen Zeiten der Bürger opfern konnte,
Rechte und ist eines anderen Sinnes als die Üppigkeit des inter- zur Aufgabe ihrer Lebensstellung um politischer Dinge willen.
nationalen Bourgeois. Bin ich liberal, so bin ich es im Sinne Und diese Dinge sind in der geraden Aszendenz der heutigen
der Liberalität und nicht des Liberalismus. Denn ich bin un- Demokratie.« Wirklich? Was hat Storms Heimatsgefühl, sein
politisch, national, aber unpolitisch gesinnt, wie der Deutsche bedingungsloser trotzig-tätiger Widerstand gegen das okku-
der bürgerlichen Kultur und wie der der Romantik, die keine pierende Dänentum, das Opfer seiner Husumer Advokatur,
andere politische Forderung kannte als die hoch-nationale nach sein bitterer Gang ins Potsdamer Exil, — was hatte die poli-
Kaiser und Reich und die so gründlich undemokratisch war, tische Leidenschaft dieses Innerlichen und Tiefgetreuen, dessen
daß nur ihre seelischen Nachwirkungen die Politiker, Burschen- Freiheitspathos beschlossen ist in den Versen:
schaftler, Revolutionäre der Paulskirche das Erbkaisertum wol-
len ließen und sie, wie Vogt an Herwegh schrieb, »zu voll- Hör mich! — denn alles andere ist Lüge —
kommenen Aristokraten« machten... Kein Mann gedeihet ohne Vaterland!
Ein Bürger aber, das weiß ich wohl, bin ich auch in meinem — was hätte Storms ›Politik‹, die nichts war als ein inniges
Verhältnis zu diesem Kriege. Der Bürger ist national seinem Hegen metaphysischer Lebenswerte, mit dem Demokratismus
Wesen nach; wenn er Träger des deutschen Einheitsgedankens unseres Zivilisationsliteratentums zu schaffen? Mit Internatio-
war, so darum, weil er immer der Träger der deutschen Kultur ' nalismus, Menschenrechten, radikaler Aufklärung, Wohlstands-
und Geistigkeit gewesen ist. Oft aber ist die teleologische Funk- ideologie, Apotheosierung des Gesellschaftlichen, rhetorisch
tion des Krieges überhaupt darin erkannt worden, daß er die sentimentalem Revolutionsspektakel? Und stand es im wesent-
nationale Eigentümlichkeit bewährt, erhält und bestärkt: er ist lichen anders um das Politikertum der andern großen Bürger
das große Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Na- von damals? Sie waren Demokraten, sie waren Politiker, weil
tionalkultur, und meine Teilnahme an diesem Kriege hat mit zu ihrer Zeit der Begriff des Nationalen, der Vaterlandsliebe,
Welt- und Handelsherrschaft gar nichts zu tun, sondern ist mit dem des Demokratischen, mit dem der Politik selbst sich un-
nichts als die Teilnahme an jenem leidenschaftlichen Prozeß trennbar vermischte. Sie waren national, bevor sie Demokra-
der Selbsterkenntnis, Selbstabgrenzung und Selbstbefestigung, ten waren, sie waren es, indem sie Demokraten waren, — wäh-
zu dem die deutsche Kultur durch einen furchtbaren geistigen rend der heutige Krieg, der Kampf Deutschlands gegen den
Druck und Ansturm von außen gezwungen wurde . . . westlichen Demokratismus, es dem national Empfindenden aufs
»Gut! was du ›Bürgerlichkeit‹ nennen magst, dies Element äußerste erschwert, Demokrat zu sein, und ›Demokratie‹ in
ist lebendig in den eindrucksvoll ruhigen Gestalten zwischen Deutschland ein anderes Wort für ›kosmopolitischer Radika-
1820 und 1860, in der großen Zeit der deutschen Wissenschaft lismus‹ ist. Nein, Zivilisationsliteraten waren das wohl eigent-
und Erzählung. Denkt man aber an die höchsten und reinsten lich nicht, die deutschen Bürger von 1820-60. Aber des Wor-
Typen dieser Epoche, an Jakob Grimm, Uhland, Keller, Theo- tes wollen wir uns immerhin erinnern, das Goethe über Uhland
dor Storni, so ist es unmöglich, zu übersehen, daß der stählerne zu Eckermann sprach: »Geben Sie acht, der Politiker in Uhland
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wird den Poeten aufzehren. In täglichen Reibungen und Auf- heiligen Römischen Reiche deutscher Nation, — selbst seine
regungen leben ist keine Sache für die zarte Natur eines Dich- Vision und Lehre läßt die geistigen Brücken erkennen, die das
ters. Mit seinem Gesange wird es aus sein.« Und auch Adalbert Heute mit dem Damals verbinden. Gut, Dr. Foerster verneint
Stifters gedenkt man vielleicht mit mir, der es in liberalen nicht nur Bismarck, sondern auch die Reformation, und den
Literaturgeschichten büßt, daß er 1848 erklärte, er sei ein Gelehrten gelehrt zu befehden und zu widerlegen war gut und
Mann des Maßes und der Freiheit, und beides sei jetzt gefähr- recht, ihn zu beschimpfen aber bäurisch und falsch. Wie hätte
det, l e i d e r . . . in einer gleich der unseren gedanklich durchpflügten und auf-
Nach all dem wird man mir nicht mehr den jungen Richard gewühlten Zeit nicht auch seine mittelalterlich-universale Idee
Wagner von 1848/49 einwenden und das, was er später, nicht nach oben kommen sollen, die man reaktionär nennen mag,
eben passend, seine »dummen Streiche« von damals nannte. die aber mit modernster, über die Banngrenze des sechzehnten
Wagner war national, dies vor allem, ja einzig dies; von Paris Jahrhunderts zurückschauender europäischer Sehnsucht sehr
heimkehrend hatte der arme und namenlose junge Künstler, viel zu tun hat! Übernational, scheint mir, ist etwas ganz
in feierlicher Gefühlswallung am Ufer des Rheins hingewor- anderes und sehr viel Besseres als international; überdeutsch,
fen, »seinem deutschen Vaterland ewige Treue geschworen«; das heißt: überaus deutsch; und hundert-, tausendmal ist die
aus seinem Deutschtum, seinem Willen zu einem einigen und Willensmeinung dieses katholischen Deutschen, so wie er sie
hoheitsvollen Reich, nicht aus irgendwelchen kosmopolitisch- offenbart hat, mir lieber als die unsäglich widerdeutschen
radikalistischen Sympathien, stammte seine Teilnahme an der Deklamationen unserer italo-französischen Freimaurer, Re-
stürmischen Bewegung jener Zeit, und zehnfach hat er ver- volutionsepigonen und Fortschrittsopernsänger . . . Nein, ein
sichert, daß nur Polizeiaktuare ihn hätten als politischen Re- Zivilisationsliterat wenigstens ist Foerster nicht.
volutionär verfolgen können, daß Zeitpolitik ihn trotz der Hef- Was Wagner betrifft, so steht es fest, daß er als Künstler
tigkeit der Zustände nicht wahrhaft berührt habe, auch von und Geist sein Leben lang ein Revolutionär war. Aber ebenso
ihm gänzlich unberührt geblieben sei. Man darf nicht leugnen sicher ist, daß dieser nationale Kultur-Revolutionär die poli-
oder vergessen, daß die alles mitreißende Begeisterungswoge, tische Revolution nicht meinte und die Atmosphäre von 1848/49
die im Jahre 48 über Deutschland hinging, trotz ihres Ein- durchaus nicht als sein Element empfand. In seinen Lebens-
schlages von Weltbürgerlichkeits-Ideologie, nein, eben wegen erinnerungen spricht er von der »schrecklichen Seichtigkeit der
dieses deutsch-universalistischen Einschlages, eine nationale Wortführer jener Zeit«, von ihrer »aus den abgedroschensten
Sturmflut war und daß jede Art Geistigkeit, die sich ihr hin- Phrasen zusammengesetzten Beredsamkeit bei Versammlun-
gab, auch im August 1914 von Deutschland ergriffen worden gen und überhaupt im persönlichen Umgange«. Es habe ihn
wäre. Man soll vielmehr auf der Verwandtschaft und Zusam- erstaunt, sagt er, zu hören und zu lesen, »mit welcher unglaub-
mengehörigkeit, dem gemeinsamen nationalen Gepräge der lichen Trivialität es dabei herging, und wie bei allen es nur dar-
Bewegungen von 1848 und 1914 bestehen: diese ist nur die auf hinauslief, zu erklären, daß allerdings die Republik das
Wiederkehr jener auf einer anderen historischen Entwicklungs- Beste sei, man sich indessen aber die Monarchie, wenn sie sich
stufe. Der Gedanke ›Mitteleuropa‹, was ist er denn anderes gut aufführe, zur Not noch gefallen lassen könne«. Und den
als die Wiedergeburt der vorbismärckisch-großdeutschen Idee? Zivilisationsliteraten, den Macht- und Geist-Antithetiker, muß
Und selbst das Auftreten jenes christlichen Professors, Frantz- es nicht wenig abstoßen und beleidigen, wenn Wagner vom
Schülers und ernsten Träumers von Rück- und Heimkehr zum Frankfurter Parlamente sagt, man habe nicht wohl ersehen,
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wozu dieses gewaltige Reden der allermachtlosesten Menschen selbst zum höchsten, gotterfüllten Bewußtsein erhöht, und frei
führen sollte. Der machtlosesten! Dieser brutale Schwärmer sei das Volk nur, wenn einer herrsche, nicht wenn viele herr-
hatte eine Schwäche für ›die Macht‹, wie es scheint, er besann schen. Eine wunderlichere Politik treibt selbst Friedrich Wil-
sich nicht, mit ›der Macht‹ zu paktieren im Jahre 1870, — nein, helm Foerster nicht. Aber was hat dieser unmögliche Achtund-
ihr zuzujauchzen, ihr trunken zuzujauchzen und sich ihr zu- vierziger nicht alles gesagt! Zum Beispiel, daß die Kunst zur
liebe begeisterter aufzuführen, als je in den Tagen des Pauls- Zeit ihrer Blüte konservativ gewesen sei und es wieder wer-
kirchen-Geistes. Wenn es nach dem Zivilisationsliteraten ginge, den werde. Ferner den lapidaren, nie zerstörbaren Satz: »Der
wäre er also ›kein Kämpfer‹ gewesen, — o mein Gott! Er pries Deutsche ist konservativ.« Ferner den nur von Franzosen und
den »ungeheueren Mut« Bismarcks, feierte das deutsche Heer radikalen Weltverbesserern anfechtbaren Satz: »Die Zukunft
vor Paris; der Sieg über Frankreich, die Neuschöpfung des ist nicht anders denkbar, als aus der Vergangenheit bedingt.«
Reiches, die Krönung eines deutschen Kaisers: das war zuviel Ferner den überhaupt nicht anfechtbaren, den unsterblichen
für sein Künstlerherz, es brach in eine Art von Gesang aus, und erlösenden Satz: »Die Demokratie ist in Deutschland ein
der ungefähr lautete wie: »Es strahlt der Menschheit Morgen; durchaus übersetztes Wesen. Sie existiert nur in der Presse.«
nun dämm're auf, du Göttertag!« Kurzum, er trieb es ärger Sicher, Wagner hat den Gedanken der Völkerverbrüderung ge-
als irgendein Kriegsbejaher von 1914; denn niemand von uns liebt, aber von internationalistischen Neigungen war er recht
war so groß und heftig von Natur, um es ihm an widergeisti- weit entfernt: sonst hätten die Worte »fremdartig«, »über-
ger Ungebühr gleichzutun. — Will man sich Wagners Ver- setzt«, »undeutsch« in seinem Munde nicht ein Urteil, eine
hältnis zur Politik überhaupt und zum Jahre 48 im besonde- Verurteilung, ja Haß bedeutet, — und dergleichen bedeuteten
ren bis zur Erheiterung klarmachen, so braucht man sich nur sie. Warum aber haßte er die »Demokratie«? Weil er die Po-
zu erinnern, daß er damals ganz kürzlich den ›Lohengrin‹ voll- litik selbst haßte, und weil er die Identität von Politik und De-
endet und mit dem Vorspiel, diesem romantisch gnadenvoll- mokratismus erkannte. Warum glauben, wollen, haben die mit
sten aller existierenden Musikstücke, gekrönt hatte. ›Lohen- Lust und Talent politisierenden Völker die Demokratie? Eben
grin‹ und das Jahr 48 — das sind zwei Welten, verbunden weil sie die politisierenden Völker sind! Nichts ist klarer. Der
höchstens durch eines: das nationale Pathos. Und der Zivili- Geschmack eines Volkes an der Demokratie steht in umgekehr-
sationsliterat wird von einem richtigen Instinkt geleitet, wenn tem Verhältnis zu seinem Ekel vor der Politik. Wenn Wagner
er in satirischen Gesellschaftsromanen den ›Lohengrin‹ ver- irgendwie ein Ausdruck seines Volkes, wenn er irgendworin
ulkt, indem er ihn ins Politische übersetzt. Wahrscheinlich lag deutsch war, deutsch-human, deutsch-bürgerlich im höchsten
Wagnern der schöne Baß seines Königs Heinrich im Sinne, als und reinsten Sinne, so war er es in seinem Haß auf die Politik.
er im Dresdener ›Vaterlandsverein‹ jene grundsonderbare Rede Man mag es auf die geistige Enttäuschung schieben, die er aus
hielt, worin er sich als glühender Anhänger des Königtums, seiner Teilnahme an dem Dresdener Mai-Aufstande davon-
als Verächter alles Konstitutionalismus bekannte und Deutsch-
trug, wenn er es gleich darauf abschwört, sich je wieder auf
land beschwor, die »fremdartigen, undeutschen Begriffe«, näm-
solche Dinge einzulassen, und das Gebiet der Politik für »durch-
lich den westlichen Demokratismus zum Teufel zu jagen und
aus unfruchtbar« erklärt. Aber Sätze wie »Ein politischer Mann
das einzig heilwirkende altgermanische Verhältnis zwischen
ist widerlich« (aus einem Briefe an Liszt) kommen aus tieferen,
dem absoluten König und dem freien Volk wiederherzustel-
unpersönlichen Gründen: wann hätte je ein Engländer, Fran-
len: denn im absoluten König werde der Begriff der Freiheit
zose, Italiener, ja ein Russe einen solchen Ausspruch getan?
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Er kam hier aus vagen und innigen Künstlergrübeleien und es Reminiszenzen an Friedrich und Faust, die dabei mitwirk-
-hypothesen von einer Verderbnis, einer anarchisch-doktrinä- ten. Wie aber sollte der Zivilisationsliterat nicht satirisch
ren Politisierung der Menschheit, die von der Auflösung des gestimmt werden angesichts einer Geistigkeit, die sich anti-
griechischen Staates und der Zertrümmerung der Tragödie politisch — aber national, antipolitisch — aber imperialistisch
her datiert; von einer »ganz entschieden sozialen Bewegung«, gebärdet: er, der mit geübter Leidenschaft dafürhält, daß man
die mit politischer Revolution gar nichts zu tun hatte, sondern zwar unbedingt Politiker sein müsse, beileibe aber nicht na-
im Gegenteil einen menschlichen Zustand herbeiführen werde, tional empfinden dürfe, und der von ›Imperialismus‹ nur wie
der »das Ende der Politik« bedeuten, in dem es überhaupt von verruchtestem Teufelswerk und einem Verbrechen an der
keine Politik mehr geben und in dem also »die Kunst in ihrer Menschheit redet?
Wahrheit« möglich sein werde; von einer entpolitisierten, Der gegenwärtige Krieg lehrt wieder, daß in stürmisch-auf-
menschlichen und künstlerischen Lebens- und Geistesform also, gewühlten Zeiten jeder das Seine findet. Es gibt keine Welt-
die so recht eine deutsche und allem Deutschen günstige Le- anschauung, keine Ideologie, keine Glaubenslehre, auch keine
bens- und Geistesform sein werde, denn: »Große Politiker, so Schrulle und Marotte, die sich nicht durch den Krieg bestätigt
scheint es, werden wir Deutsche nie sein; aber vielleicht etwas und gerechtfertigt fände, die nicht freudig überzeugt wäre, daß
viel Größeres, wenn wir unsere Anlagen richtig ermessen . . .« gerade ihre Stunde und Zukunft nun angebrochen sei. Wagner
Von einer Entpolitisierung und Vermenschlichung der Erde, fand in der sogenannten Deutschen Revolution einiges von
von ihrer Deutschwerdung in des Wortes humanster und wi- sich selbst; er war jung und sehnsüchtig genug, ihr die Ver-
derpolitischster Bedeutung träumte dieser aus Deutschtum wirklichung seiner Kulturträume vom »Ende der Politik« und
und Künstlertum gemischte Geist, wenn er von jener Sehn- vom Anbruch der Menschlichkeit zuzutrauen. Sie hat ihn aufs
sucht sprach, die »nach dem einzig Wahren — dem Menschen« tiefste enttäuscht, er hat seine Teilnahme daran als »dumme
verlange: sehr im Gegensatz zum Zivilisationsliteraten, wel- Streiche« verleugnet, hat ihrem Todfeinde, dem listig-gewalt-
cher vielmehr von der ›Vermenschlichung‹ Deutschlands auf tätigen Reichsgründer zugejauchzt, obgleich Bismarcks Lösung
dem Wege seiner demokratischen Politisierung ›träumt‹ . . . der deutschen Frage nichts weniger als »das Ende der Politik«,
Aber ich sagte ja schon, daß der Zivilisationsliterat wohl weiß, sondern erst recht ihren Anfang für Deutschland bedeutete;
warum er Wagner satirisiert: er weiß es von Instinkt, denn und wenn auch jene »dummen Streiche« sehr ernste und schwere
gelesen hat er ihn nicht, und von seiner Musik versteht er Folgen für Wagners äußeres Leben nach sich zogen, so wäre
nicht einen Ton. Was ihm aber neu und dabei Wasser auf seine es doch ganz und gar absurd, zu behaupten, der politische Tru-
Mühle sein dürfte, ist, daß Wagner Imperialist war, — auch das bel von 48 sei ein inneres Erlebnis ersten Ranges für ihn, das
noch, es ist nachzuweisen! Schon 1848, in eben jener grund- große geistige Erlebnis seiner selbst gewesen. Dieses fand er
sonderbaren Rede, die er dem demokratischen ›Vaterlands- beträchtlich später, und es war so unpolitisch wie möglich, es
verein‹ in Dresden hielt, forderte er die Begründung deutscher war ein recht deutsches Erlebnis, moralistisch-metaphysischer
Kolonien. »Wir wollen es besser machen«, sagte er, »als die Art, —es kam zu ihm in die Einsamkeit seines Schweizer Exils,
Spanier, denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus, und es war nur ein Buch: es war die Philosophie Arthur Scho-
anders als die Engländer, denen sie ein Krämerkasten wurde. penhauers, worin er die geistige Erlösung des eigenen Wesens,
Wir wollen es deutsch und herrlich machen!« Die Kolonial- die wahre Heimat seiner Seele erkannte.
idee hat nie aufgehört, ihn zu beschäftigen, und vielleicht waren
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Auch Schopenhauer hat über Politik geschrieben, — gewiß doch, setz entstanden sein muß: wobei es, nach Schopenhauer, gleich-
die Politik ist ein Kapitel der Ethik. Seine Aspekte sind be- viel ist, ob der vorhergegangene Zustand derjenige der Anarchie
fremdlich; sie weichen von denen des Zivilisationsliteraten in oder der despotischen Willkür war. In beiden Fällen sei noch
wesentlichen Stücken ab. Scheinbar möchte es in seiner philo- kein Staat dagewesen, und der Staat sei vollkommen oder un-
sophischen Allgemeinheit hingehen, daß er die Freiheit für vollkommen, je nachdem er mehr oder weniger unvermischt
jenseit der Erscheinung, geschweige jenseit menschlicher Einrich- sei mit Anarchie oder Despotie. »Die Republiken«, sagt Scho-
tungen liegend erklärt. Dennoch ist das ein schlechter Anfang; penhauer mit zynischer Gelassenheit, »tendieren zur Anarchie,
ein resignierter, anti-rhetorischer, eigentlich schon anti-politi- die Monarchien zur Despotie, der deshalb ersonnene Mittel-
scher Grundton ist damit angeschlagen und jeder Skepsis, weg der konstitutionellen Monarchie tendiert zur Herrschaft
jedem Quietismus Tür und Tor geöffnet. Was soll man bereits der Faktionen.« Häßlich gedacht und ohne Schwung! Aber wahr
zu dem Satze sagen, daß zwischen Leibeigenschaft und Grund- ist es schon. Und wenn auf den vollkommenen Staat also wenig
besitz, überhaupt zwischen dem Leibeigenen und dem Pächter, Hoffnung ist, — welche Staatsform erklärt unser Philosoph für
Einsassen, Hypothekenschuldner und dergleichen mehr der Un- die vergleichsweise rechte? Die Monarchie. Selbstverständlich!
terschied mehr in der Form als in der Sache liegt, — denn ob mir Das mußte kommen. Beim ersten Wort war er uns verdächtig.
der Bauer gehöre oder das Land, der Vogel oder sein Futter, die Und warum redet er der Monarchie das Wort? Weil er mit der
Frucht oder der Baum, sei im Wesentlichen wenig verschieden? Vernunft — nicht gerade auf gespanntem, aber auf sehr nach-
Billigt er die Sklaverei? Das hat auch Rousseau getan, aber aus lässigem Fuße steht. »Des Linnäus künstliches und arbiträr
politischen Gründen. Er empfiehlt sie, weil man Leute brauche, gewähltes Pflanzensystem«, sagt er, »kann durch kein natürli-
die arbeiten, Handwerker, die das Notwendige herstellen; diese, ches ersetzt werden, so sehr auch ein solches der Vernunft an-
meint er, müssen Sklaven sein, damit der Staatsbürger Muße gemessen wäre, und so vielfach es auch versucht worden; weil
habe, sich ausschließlich der Politik zu widmen. Schopenhauer, nämlich ein solches nie die Sicherheit und Festigkeit der Be-
wie ich ihn kenne, wäre ebenfalls zu solchen Vorschlägen fähig stimmungen gewährt, die das künstliche und arbiträre hat.
gewesen, — wenn auch keineswegs aus einem sozusagen sich Ebenso nun kann die künstliche und arbiträre Grundlage der
überschlagenden Demokratismus. Seine Auffassung vom Staate Staatsverfassung . . . nicht ersetzt werden durch eine rein na-
ist zynisch-pessimistisch, — man kann sie nicht milder kenn- türliche Grundlage, welche, die besagten Bedingungen verwer-
zeichnen. Der Staat, sagt er, sei so wenig gegen den Egoismus fend, an die Stelle der Vorrechte der Geburt die des persönli-
überhaupt und als solchen gerichtet, daß er umgekehrt gerade chen Wertes, an die Stelle der Landesreligion die Resultate der
aus dem sich wohlverstehenden, methodisch verfahrenden, vom Vernunftforschung und so fort setzen wollte; weil eben, so sehr
einseitigen auf den allgemeinen Standpunkt tretenden und so auch dieses alles der Vernunft angemessen wäre, es demselben
durch Aufsummierung gemeinschaftlichen Egoismus aller ent- doch an derjenigen Sicherheit und Festigkeit der Bestimmungen
sprungen und diesem zu dienen allein da sei, — errichtet unter fehlt, welche allein die Stabilität des gemeinen Wesens sichern.
der zutreffenden Voraussetzung, daß reine Moralität, das heißt Eine Staatsverfassung, in welcher bloß das abstrakte Recht sich
Rechthandeln aus moralischen Gründen, nicht zu erwarten sei; verkörperte, wäre eine vortreffliche Sache für andere Wesen, als
außerdem er selbst ja überflüssig wäre. Das hat eine gewisse die Menschen sind: weil nämlich die große Mehrzahl derselben
bissige Heiterkeit. Aber wahr ist es schon, daß so und nicht höchst egoistisch, ungerecht, rücksichtslos, lügenhaft, mitunter
anders, immer und überall der Staat, der Staatsvertrag, das Ge- sogar boshaft und dabei mit sehr dürftiger Intelligenz ausge-

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stattet ist, so erwächst hieraus die Notwendigkeit einer in Ei- geführt, ganz komplett, mit Oberhaus und Unterhaus, bis auf
nem Menschen konzentrierten, selbst über dem Gesetz und die Habeas corpus-Akte und die Jury herab. Aus dem engli-
dem Recht stehenden, völlig unverantwortlichen Gewalt, vor schen Charakter und englischen Verhältnissen hervorgegangen
der sich alles beugt und die betrachtet wird als ein Wesen und beide voraussetzend, seien diese Formen dem englischen
höherer Art, ein Herrscher von Gottes Gnaden. Nur so läßt Volke gemäß und natürlich: ebenso aber sei dem deutschen
sich auf die Länge die Menschheit zügeln und regieren.« Volke sein Geteiltsein in viele Stämme, die unter ebenso vielen,
Wenn je über Politik mit grimmigem Humor geschrieben wirklich regierenden Fürsten stehn, mit einem Kaiser über alle,
wurde, so ist es hier geschehen. Die Stimme dieses Menschen der den Frieden im Innern wahrt und des Reiches Einheit nach
entbehrt jedes Tremolos, sein Stil jedes generösen Schmisses, außen vertritt, natürlich; weil aus seinem Charakter und sei-
er dient ihm dazu, die exakte und melancholische Wahrheit zu nen Verhältnissen hervorgegangen. Er salutiert dem großen
sagen. Mit Rousseau hat er die Gleichstellung von Natur und Verstande der Engländer, der sich darin zeige, daß sie ihre al-
Vernunft gemeinsam, doch wahrt er sie nicht pedantisch; denn ten Institutionen, Sitten und Gebräuche fest und heilig halten,
jeden Augenblick ist er auch bereit, diese Begriffe antithetisch auf die Gefahr hin, diese Tenazität zu weit und bis ins Lächer-
zu benützen. Die monarchische Regierungsform, sagt er, sei die liche zu treiben; weil eben jene Dinge nicht in einem müßigen
dem Menschen natürliche, fast so, wie sie es den Bienen und Kopfe ausgeheckt, sondern allmählich aus der Macht der Um-
Ameisen, den reisenden Kranichen, wandernden Elefanten, zu stände und der Weisheit des Lebens selbst erwachsen und da-
Raubzügen vereinigten Wölfen und anderen Tieren mehr sei, her ihnen, als Nation, angemessen seien. »Hingegen«, schreibt
welche alle einen an die Spitze ihrer Unternehmungen stellen. Schopenhauer, »hat der deutsche Michel sich von seinem Schul-
Auch müsse jede menschliche, mit Gefahr verknüpfte Unter- meister einreden lassen, er müsse in einem englischen Frack
nehmung, jeder Heereszug, jedes Schiff, einem Oberbefehls- einhergehn; das schicke sich nicht anders: er hat ihn demnach
haber gehorchen. Sogar der tierische Organismus sei monarchisch vom Papa ertrotzt und sieht nun mit seinen linkischen Ma-
konstruiert: das Gehirn nämlich sei der Lenker und Regierer. nieren und ungelenkem Wesen lächerlich genug darin aus.«
Selbst das Planetensystem sei monarchisch. Republiken aber Hierzu ließe sich anmerken, daß der englische Frack vergleichs-
seien widernatürlich, künstlich gemacht und aus der Reflexion weise immer noch ein kleidsameres Garderobestück für den
entsprungen, — was diesem widergeistigen Geiste, dieser anti- Michel sein möchte als die französische Phrygiermütze, die
rationalistischen Vernunft ohne weiteres Grund genug ist, sie man ihm heute partout auf sein sinnendes Haupt setzen will.
zu verurteilen. Wenn aber Schopenhauer von »Monarchie« Ähnlich aber, ja, ebenso wie Schopenhauer, haben Wagner,
spricht und sie befürwortet, so meint er offenbar nicht die kon- Lagarde, Nietzsche und andere große Deutsche über die Verfäl-
stitutionelle Monarchie, sowenig wie Wagner sie meinte: Er schung deutschen Wesens durch den Import ihm völlig frem-
macht sich lustig über sie, indem er sagt, die konstitutionellen der und unnatürlicher politischer Institutionen geurteilt; ja,
Könige besäßen eine unleugbare Ähnlichkeit mit den Göttern Lagarde hat gesagt, daß es nie eine deutsche Geschichte gege-
des Epikur, als welche, »ohne sich in die menschlichen Angele- ben habe, wenn nicht etwa der regelrecht fortschreitende Ver-
genheiten zu mischen, in ungestörter Seligkeit und Gemüts- lust deutschen Wesens deutsche Geschichte sein solle. Dieser
ruhe, da oben in ihrem Himmel sitzen«. Sie seien nun aber regelrechte Fortschritt ist der Fortschritt selbst. Fontane freilich
einmal jetzt Mode geworden, und in jedem deutschen Duodez- glaubte zu wissen, daß unsere Demokraten, soweit sie England
fürstentum werde eine Parodie der englischen Verfassung auf- je mit Augen gesehen, den ganzen englischen »Plunder« be-

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kämpfen und bespötteln. Nun, wenn der Parlamentarismus zes von Willkür und Gewalt notwendig bedürfe, um, seiner
Plunder ist, und doch für ein Volk, das sich politisieren muß, eigentlichen nur idealen und daher ätherischen Natur unge-
nichts anderes übrigbleibt, als diesen Plunder zu übernehmen, achtet, in dieser realen und materialen Welt wirken und
weil es nichts Besseres gibt und politisch nichts Neues und bestehn zu können, ohne sich zu evaporieren und davonzuflie-
Originales erfunden werden kann: dann ist die Politik selbst gen, in den Himmel. . . Als eine solche notwendige chemische
Plunder, und mit dieser Art von Gläubigkeit, von Begeisterung Basis oder Legierung mag wohl anzusehn sein alles Geburts-
tritt das deutsche Volk in seine demokratisch-weltpolitische recht, alle erblichen Privilegien, jede Staatsreligion und man-
Periode ein. — ches andere; indem erst auf einer wirklich festgestellten Grund-
Ich sagte, Schopenhauers Verhältnis zur Vernunft sei ein lage dieser Art das Recht sich geltend machen und konsequent
recht lässiges Verhältnis. Nicht besser, nicht leidenschaftli- durchführen ließe.« Worauf Schopenhauer sich längere Zeit
chem aber verhält er sich zum Recht. Erstens ist das Recht ihm über jenes Land mokiert, wo man es versucht habe, ganz ohne
ein bloßes Negativum, nur eben die Verneinung des Unrechts: solche arbiträre Grundlage fertig zu werden, also das unver-
wodurch es ohne Zweifel bereits an Pathos verliert. Zum zweiten setzte, reine und abstrakte Recht herrschen zu lassen: die Ver-
stellt er fest, daß das Recht an sich selbst machtlos ist: von Na- einigten Staaten, — deren Beispiel nicht anlockend sei; denn
tur herrsche die Gewalt. Diese nun zum Rechte hinüberzu- abgesehen von niedrigem Utilitarianismus, Unwissenheit, Bi-
ziehen, so daß mittelst der Gewalt das Recht herrsche, dies sei gotterie, Dünkel, Roheit und einfältiger Weiberveneration seien
das Problem der Staatskunst, — welche immer schon viel ge- dort Negersklaverei und -mißhandlung, lynchlaw, ungestraf-
leistet habe, wenn möglichst wenig Unrecht im Gemeinwesen ter Meuchelmord, brutalste Duelle, offene Verhöhnung des
übrigbleibe; denn daß es ganz, ohne irgendeinen Rest, ge- Rechts und der Gesetze, Repudiation öffentlicher Schulden,
schehen sollte, sei bloß das ideale Ziel, welches nur approxi- empörende politische Eskrokerie von Nachbarprovinzen, im-
mativ erreicht werden könne. Werde nämlich das Unrecht von mer wachsende Ochlokratie und dergleichen mehr an der Tages-
einer Seite hinausgeworfen, so schleiche es sich von der an- ordnung. Dies Probestück also einer reinen Rechtsverfassung
deren Seite wieder herein, weil eben die Unrechtlichkeit tief spreche gar wenig für die Republiken, noch weniger aber die
im menschlichen Wesen liege. Zudem seien hier alle Experi- Nachahmungen desselben in Mexiko, Guatemala, Kolumbien
mente gefährlich; weil man es mit dem am schwersten zu be- und Peru.
handelnden Stoff, dem Menschengeschlechte zu tun habe, des- Exzerpte zu machen ist beschwerlich. Wenn es mir aber ge-
sen Handhabung fast so gefährlich sei wie die des Knallgol- lungen ist, mit obigen Zitaten unsere Radikalisten, Republi-
des. »Im allgemeinen aber«, fährt Schopenhauer fort, und nun kaner, Recht- und Macht-Antithetiker und Revolutionsschul-
kommt der Pferdefuß erst recht zum Vorschein, »im allgemei- meister zu ärgern, so soll mich die Mühe nicht gereuen. Denn
nen aber ließe sich sogar die Hypothese aufstellen, daß das Recht diese lesen nicht Schopenhauer, wohl aber mich; und so mußte
von einer analogen Beschaffenheit sei, wie gewisse chemische ich die Gelegenheit ergreifen, ihnen einiges Verwirrende aus
Substanzen, die sich nicht rein und isoliert, sondern höchstens seinen Äußerungen zur Politik, auf dem Wege der Zwangs-
nur mit einer geringen Beimischung, die ihnen zum Träger ernährung gleichsam, beizubringen. Es ist nur wenig und nur
dient oder die nötige Konsistenz erteilt, darstellen lassen . . . das Drastischste, keineswegs das Ernsteste und Tiefste; aber
daß demnach auch das Recht, wenn es in der wirklichen Welt jene schwer zu verstimmen genügt es sicher. Denn wo bleibt
Fuß fassen und sogar herrschen soll, eines geringen Zusat- bei solchen Anschauungen die Volkssouveränität? Die Souve-
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ränität des Volkes, sagt Schopenhauer, ist eine Tatsache, denn Vermögens, des Stabes, an dem er das Leben zurücklegte, der
niemand kann ursprünglich das Recht haben, ein Volk wider die Stütze seiner geistigen Existenz war, an die Kämpfer der
seinen Willen zu beherrschen. Er beeilt sich aber hinzuzufügen: Ordnung — es spricht daraus, sage ich, ein Trotz, eine Heraus-
»Jedoch ist das Volk ein ewig unmündiger Souverän, welcher forderung des Liberalismus, die schon darum keine Gefahr läuft,
daher unter bleibender Vormundschaft stehn muß und nie seine mit Philisterei verwechselt zu werden, weil sie so ganz ohne
Rechte selbst verwalten kann, ohne gränzenlose Gefahren her- Furcht und Feigheit vor dem Scheine des Philistertums ist; eine
beizuführen; zumal er, wie alle Unmündigen, gar leicht das Herausforderung, Verhöhnung, Verneinung nicht nur des Libe-
Spiel hinterlistiger Gauner wird, welche deshalb Demagogen ralismus und der Revolution, sondern der Politik selbst; ein
heißen.« Auch ist unser Theoretiker in die Lage gekommen, antipolitischer oder doch überpolitischer Sinn, der deutsch ist,
seiner Gefühle für Volks Souveränität praktisch innezuwerden deutsch-bürgerlich, deutsch-geistig: und nur um auf diesen Sinn
und sie praktisch zu bekunden: Das war im September 1848, und Geist einiges Licht fallen zu lassen, geschieht es, daß ich
als auf der Sachsenhäuser Brücke, seiner Wohnung schräg mich bei Wagners und Schopenhauers Verhalten zur Politik so
gegenüber, eine Barrikade errichtet war, — und Schopenhauer lange verweile.
im Jahre 48, das ist ein Anblick für Götter, unsterblicher Hei-
terkeit voll! »Die Schurken«, schreibt er an Frauenstädt, »bis Es gibt keine nationaleren Persönlichkeiten als die dieser bei-
dicht vor meinem Hause stehend, zielend und schießend auf den großen Deutschen der spätbürgerlichen Epoche. Aber der
das Militär in der Fahrgasse, dessen Gegenschüsse das Haus Sinn dieses Wortes ›national‹ ist darum so schwankend und
erschüttern: plötzlich Stimmen und Geboller an meiner ver- zweifelhaft, weil es sowohl ein Sein wie ein Meinen bedeuten
schlossenen Stubenthüre: ich, denkend, es sei die souveräne Ka- kann, und weil das Meinen mit dem Sein durchaus nicht immer
naille, verrammle die Thür mit der Stange .. .« Es sind aber zusammengeht. Was man ist, braucht man keineswegs auch
österreichische Soldaten, und eilig öffnet er »diesen werthen zu meinen; man kann es aber auch sehr stark meinen, wollen
Freunden«, damit sie aus seinen Fenstern »auf die Souveränen und sagen, und wenn man national ist, so spielt man zuweilen
schießen« können, und dem Offizier, der aus dem ersten Stock- auch die Rolle des Nationalisten. Wagner, der nationale Kul-
werk des Nachbarhauses »das Pack hinter der Barrikade« re- turrevolutionär, hatte, obgleich antipolitisch, nationalistische
kognosziert, schickt er sogleich seinen »großen doppelten Opern- Meinungen. Schopenhauer, durchaus unrevolutionär und so
kucker« . . . Nicht genug mit dem Opernkucker! Vier Jahre unpolitisch, daß er das alte deutsche Verschen »Ich danke Gott
später setzt er vor Notar und Zeugen — wen zum Universal- an jedem Morgen, daß ich nicht brauch' fürs Röm'sche Reich
erben seines Vermögens ein? »Den in Berlin errichteten Fonds zu sorgen« ausdrücklich zu seinem Wahlspruch erhob und er-
zur Unterstützung der in den Aufruhr- und Empörungskämp- klärte, nicht mit denen über Staatsmittel rechten zu wollen,
fen der Jahre 1848 und 1849 für Aufrechterhaltung und Her- »welche die schwere Aufgabe haben, Menschen zu regieren, das
stellung der gesetzlichen Ordnung in Deutschland invalide ge- heißt unter vielen Millionen eines, der großen Mehrzahl nach,
wordenen preußischen Soldaten, wie auch der Hinterbliebenen gränzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen,
solcher, die in jenen Kämpfen gefallen sind.« — Ein Philister? neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und quer-
Tolstoi hat ihn »den genialsten aller Menschen« genannt! Es köpfigen Geschlechtes Gesetz, Ordnung, Ruhe und Frieden auf-
spricht aus diesem Philosophen-Testament, dieser demonstra- recht zu erhalten«, — Schopenhauer also, war er nicht nur na-
tiven, grimmig höhnischen Verschreibung seines bürgerlichen tional, empfand, wollte, meinte, dachte er auch so? Man weiß,

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daß er sich gelegentlich bequemte, seinen gewaltigen Weltver- sie liege nicht im operari, sondern im esse, — im Handeln zwar
stand auch der deutschen Politik nutzbar zu machen. Aber seine also herrsche unentrinnbare Notwendigkeit und Determiniert-
Teilnahme am Schicksal Deutschlands beschränkt sich litera- heit, aber das Sein sei ursprünglich und metaphysisch frei: Der
risch auf die Abwehr politischer Anglisierung und auf jene Mensch, der das Strafbare tat, hätte zwar notwendig, als em-
beiläufige, sehr von oben herab kommende Bemerkung: die
pirischer Charakter, unter dem Einfluß bestimmter Motive, so
von Deutschlands Erzfeinde, dem ersten Bonaparte, klüglich
gehandelt, aber er hätte können anders sein, — und auch der
aufgehobene Kaiserwürde müsse, und zwar möglichst effektiv,
Gewissensbiß ziele aufs Sein, nicht auf das Handeln. Das ist
wiederhergestellt werden; denn an ihr hänge die deutsche Ein-
der tiefste Gedanke, den ich je nachdenken konnte, oder viel-
heit und werde ohne sie stets bloß nominell oder prekär sein.
mehr : er gehört zu denen, die ich nachgedacht hatte, bevor er
Er fügt hinzu, die Kaiserkrone sollte abwechselnd an Österreich
mir ausdrücklich vorgedacht worden, bevor ich ihn gelesen
und Preußen übergehen, auf Lebenszeit. — Das ist nicht viel.
hatte. Denn liebt man einen Schriftsteller sehr, so hat man auch
Empfand Schopenhauer national?
diejenigen seiner Gedanken, die er auf noch ungelesenen Buch-
Es ist Vorsicht geboten. Man antworte: Er empfand nicht seiten entwickelt, — kein logisches, sondern ein sympatheti-
demokratisch, — und das Demokratische mußte ihm eins er- sches Vorwegnehmen, welches eigentlich dann nur noch für
scheinen mit dem Nationalen. In diesem Sinne war er anti- glückliche Bestätigungen Raum läßt. Ähnlich erging es mir
national. Schopenhauer war Aristokrat seinem menschlichen mit Schopenhauers Gleichsetzung von Mut und Geduld. —
und seinem tiefsten geistigen Wesen nach, und sein Aristo- Mit seiner metaphysischen Bestimmung der Willensfreiheit
kratismus äußerte sich hauptsächlich als radikaler Individua- also, wie man sieht, rettete Schopenhauer, allem Determinis-
lismus. Denn der Individualismus ist in deutscher Sphäre nicht mus zum Trotz, den Begriff der Schuld. Daß aber dies ein ari-
sowohl eine liberale als eine aristokratische Weltanschauung, stokratischer Begriff ist, versteht man, wenn man seine Ergän-
— wie es später der Fall Nietzsche zur Evidenz brachte. Scho- zung, den Begriff des Verdienstes mit denkt, — um welchen es
penhauers Aristokratismus tritt hundertfältig und bei jeder Schopenhauern, wie ich ihn kenne, weit mehr zu tun war als
Gelegenheit hervor; alle Feindschaft gegen das irgendwie Aus- um den der Schuld. Ich erinnere daran, daß auch Goethe gern
gezeichnete führt er auf Neid zurück, und wenn der Neid des von »angeborenen Verdiensten« spricht, — eine in moralischer
Pöbels, meint er, schließlich auch überall triumphieren sollte, Hinsicht eigentlich absurde, aber unvergleichlich aristokratische
den Adel des Geistes, des großen Kopfes werde man doch stehen Wortkoppelung. Schuld und Verdienst: ein aristokratisches
lassen müssen. Aber seine Sympathie mit aller Noblesse ist so Begriffspaar; und sofort bringen sie auch einen aristokratischen
unbedingt, daß er, der Bürger, der Ritterehre und Herrensitten Gerechtigkeitsbegriff: hervor, welcher nicht besagt: »Allen das
grimmig verhöhnt, nicht ansteht, zu erklären, geistiger Adel Gleiche«, sondern: »Jedem das Seine« . .. Wie aber Schopen-
werde sich mit dem der Geburt, mit Fürsten und großen Herren hauers Aristokratismus eins ist mit seinem Individualismus,
immer recht wohl vertragen und verstehen: er sagt es aus so ist sein Antinationalismus eins mit seinem Antidemokratis-
Trotz gegen den Pöbel und seinen Neid. Wie weit aber sein mus: Er war antinational oder vielmehr übernational, weil er
Aristokratismus ins Metaphysische reicht, begriff ich in jener Individualist und Aristokrat war. Er liebte die Völker und Na-
glücklich-ernsten Stunde, da mir seine kantisch beeinflußte tionen nicht, auch nicht seine eigene, er sah sie kaum; denn
Lehre von der Willensfreiheit aufging: Mit der Freiheit, sagt die Masse schien ihm erbärmlich oder überhaupt zu negieren.
er, verhalte es sich umgekehrt, als man lange geglaubt habe; »Jede Nation«, sagt er, »spottet über die andre, und alle haben
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recht.« Er lobte seine Deutschen für ihren Mangel an National- gertum nicht etwas anderes ist als demokratischer Internatio-
stolz, einen Mangel, der ihre Ehrlichkeit beweise, während er nalismus und ob solches Weltbürgertum sich nicht mit tiefer
den Franzosen ihrer abgeschmackten Ehrsucht, lächerlichen nationaler Gebundenheit sehr wohl verträgt. Inwiefern Scho-
National-Eitelkeit und unverschämten Prahlerei wegen den penhauer ein ›Europäer‹ im Sinne des Zivilisationsliteraten
Text liest, wie nur er es versteht. Er ist nicht weniger ausfäl- war, habe ich angedeutet: er war es als Schriftsteller, als Es-
lig gegen den Patriotismus bei sich zu Hause, gegen das Dem- sayist und mondäner Literat. Aber gerade bei ihm erscheint
agogentum der »deutschen Brüder«. Trotzdem gibt es einen Überdeutschtum als eine Steigerung, nicht als eine Verwischung
Punkt, wo Schopenhauers Antinationalismus schwach wird, wo und Aufhebung des Deutschtums, am wenigsten als Anbetung
ein patriotisches, ja nahezu chauvinistisches Gefühl unver- des politischen Westens; als Philosoph war er ja nicht nur über-
national, sondern auch übereuropäisch, ein Asiat, der erste
sehens zum Durchbruch kommt, — ich meine die Sprache. Scho-
große Verehrer Asiens in Europa, und was er gesagt haben
penhauer war ein begeisterter, fanatischer, eifersüchtiger Ver-
würde, wenn er in einer »Europäischen Zeitung« gelesen hätte,
ehrer und Hüter der deutschen Sprache, und diese Leidenschaft
die Engländer hätten den Indiern »die Seele geweckt«, und
äußert sich unmittelbar in manchem stolzen Wort zu ihren
zwar »zur Revolte«, das möchte ich wissen, oder vielmehr: ich
Ehren, heftiger aber noch mittelbar, durch die Wut, mit der er
weiß es . .. Nein, wenn die Bestimmung des Europäers, mit
diejenigen anfällt, die diese herrliche, dem Griechischen seiner
der wir kürzlich beschenkt wurden: daß er nämlich nichts an-
Meinung nach ebenbürtige Sprache verderben, verhunzen, läß-
deres als der humanitäre Geschäfts- und Fortschrittsmann sei,
lich, ohne Liebe und Ehrfurcht behandeln, — und mit geradezu ,
— wenn diese glanzvoll hingelegte Bestimmung zutrifft, dann
erheiternder Befangenheit in den verachtungsvollen Schimpf-
war Arthur Schopenhauer kein Europäer. Aber wer war es
reden, womit er, der europäische Schriftsteller, andere euro-
dann eigentlich bis heute, abgesehen von den hochehrenwerten
päische Sprachen bedenkt, — namentlich das Französische, »diese
Mitgliedern der Ostindischen Kompanie?
armselige Sprache, diesen ekelhaften Jargon, dieses auf die
niedrigste Weise verdorbene Italiänisch mit den scheußlichen
Endsilben und dem Nasal«. — Es ist kaum zuviel gesagt, wenn Um den Sinn und Geist deutscher Bürgerlichkeit, sagte ich, sei
man Schopenhauer einen Sprachchauvinisten nennt, und diese es mir hier zu tun. Es ist mir zu tun um die Wiederherstellung
Erscheinungsform des Nationalismus ist sicher die geistigste. des Begriffs ›Bürger‹ selbst in seiner Reinheit und Würde,
Aber es fragt sich, ob das nationalistische Vorurteil mit seiner nachdem er von einem Literatentum, das in übersetzter Begriffs-
höchsten Vergeistigung nicht auch seine letzte Tiefe und Lei- welt lebt und webt, aufs schmählichste verderbt worden. In
denschaftlichkeit errreicht. Es fragt sich ferner, ob ein gründlich Wahrheit ist das Wort ›Bürger‹ als Lieblingsschimpfwort un-
aristokratisch empfindender Geist, der an die Gleichwertigkeit serer Literatenschaft, mit Wagner zu reden, »in Deutschland
ein durchaus übersetztes Wesen«. Er ist die mechanisch-lite-
der Sprachen nicht glaubte, an die Gleichwertigkeit der Natio-
rarische Übersetzung des französischen bourgeois, wie die Pa-
nen glauben konnte und im ›europäischen Gleichgewicht‹
riser bohème, das romantische Zigeunertum von 1830, ihn sah
einem demokratischen Völkerbunde, das Ideal internationaler
und meinte: des großen Amusischen, Engherzigen und auf
Politik hätte erblicken können. Es fragt sich, ob Schopenhauers
Nützlichkeit Bedachten, welcher gerade gut genug dazu war,
Antinationalismus ganz ebenso echtbürtig war wie sein Anti-
durch den Anblick seiner kümmerlich gravitätischen Sattheit
demokratismus, — ob er nicht nur, unter dem Einfluß der Zeit,
der Sammetflausherrlichkeit des artistischen Libertins immer
das eine mit dem andern verwechselte. Ob deutsches Weltbür-

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neue Lust an sich selber einzuflößen. Die deutsche Romantik notwendig-wesentlichen Gegensatz hier schlechterdings nicht
besaß kein allgemein akzeptiertes Wort, das dem französischen die Rede sein kann, und daß die Vornehmtuerei des Künstlers
›bohémien‹ entsprochen hätte. Und was das Wort ›bour- und Geistigen gegen den ›Bürger‹ bloße Unart und in Deutsch-
geois‹ betrifft, so ist es freilich durch das kapitalistische Zeit- land etwas durchaus Übersetztes ist. Der Artist, der Zigeuner
alter internationalisiert worden, aber es mit ›Bürger‹ zu über- und Libertiner vergesse doch nicht oder bemerke endlich, daß
setzen, ist ein Literatenunfug. Die deutsche Romantik sprach ein gutes Stück seiner selbst im deutschen Bürger steckt: denn
vom ›Philister‹; aber Bürger und Philister: das ist nicht nur Artistik, Zigeunertum und Libertinage ist der überpolitische
ein Unterschied, es ist ein Gegensatz. Denn der Philister ist Teil des Menschlichen, jener Teil, der im Staatlich-Gesellschaft-
der wesentlich unromantische Mensch; zur deutschen Bürger- lichen nicht aufgeht, — der atomistisch-individualistische Teil,
lichkeit aber gehört unverbrüchlich ein romantisches Element: der für den deutschen Bürger beinahe das Menschliche selbst
der Bürger ist romantischer Individualist, denn er ist das gei- ist. Was man ›Liberalismus‹ nennt, möchte nur die politische
stige Produkt einer überpolitischen oder doch vorpolitischen Form und Erstarrung dieser seiner menschlichen Libertinage
Epoche, einer Humanitätsepoche, in der, wie Turgenjew in sein; und wenn Liberalismus nichts Gutes ist, unterderhand
seiner Faust-Kritik sagt, »die Gesellschaft in Atome zerfiel zu einem anderen Namen für Charakterlosigkeit wurde, so
und bis zur eigenen Negation ging, in der jeder Bürger sich beweist das nichts anderes, als daß die Politik eben alles ver-
in einen Menschen verwandelte«. Man nenne also—und man dirbt. Auf jeden Fall hat der Dünkel, mit dem kosmopolitische
tut es ja heute — den Bürger in seiner geistigen Reinkultur Literaten seit zehn Jahren bei uns vom »Bürger« reden, nicht
einen Atomisten: diesen Begriff des atomistischen Bildungs- gestern erst begonnen, mich ungeduldig zu machen: um so un-
individualismus mit dem des Philistertums sich decken zu las- geduldiger, als ich ihm ehemals wohl gar Waffen geliefert
sen wird immer schwerfallen. Der Philister ist Spießbürger, habe. Man ist am Ende das. Letzte nicht, wenn man ein deut-
Staatsbürger und nichts als das, nichts darüber hinaus; wie scher Bürger ist. Deutsche Bürgerlichkeit, das war immer deutsche
denn Schopenhauer, der den Staat für eine bloße Schutzanstalt Menschlichkeit, Freiheit und Bildung. Der deutsche Bürger,
gegen die eingeborene Ungerechtigkeit des Menschengeschlech- das war eigentlich der deutsche Mensch, und zu seiner Mitte
tes erklärt, auf »die Philosophaster« (nämlich Hegel) schimpft, strebte von oben und unten alles, was zur Freiheit und Gei-
»welche, in pompösen Redensarten, den Staat als den höch- stigkeit strebte . . .
sten Zweck und die Blüte des menschlichen Daseins darstellen »Aber aus welchen Träumen redest du! Von welchem Jahre
und damit eine Apotheose der Philisterei liefern«. Der deutsche bist du, wann und wo lebtest du! Beiläufig bemerkst du, das
Bürger ist heute Staatsbürger, Reichsbürger, und der Krieg Wort Bourgeois sei durch die kapitalistische Epoche internatio-
arbeitet mit Macht an der Vollendung seiner politischen Er- nalisiert worden; aber du weißt ja genau, daß die Sache selbst,
ziehung. Aber nie wird er Staatsphilister, Reichsphilister sein, daß der Bourgeois selbst internationalisiert worden, daß er in
nie glauben lernen, daß der Staat Zweck und Sinn des mensch- Deutschland zu Hause ist wie irgendwo! Hast du geschlafen?
lichen Daseins sei, daß die Bestimmung des Menschen im Hast du die Entwicklung, nein, die unvermittelte und wie durch
Staate aufgehe und daß Politik menschlicher mache. Die Tat- den Stab der Circe bewirkte Verwandlung des deutschen Bür-
sache, von der wir ausgingen: daß die Mischung von Artistik gers, seine Entmenschlichung und Entseelung, seine Verhär-
und Bürgerlichkeit in Deutschland eine legitime geistige Le-
tung zum kapitalistisch-imperialistischen Bourgeois verschla-
bensform ist, lehrt klar und deutlich, daß von einem irgend
fen? Der harte Bürger: das ist der Bourgeois. Es gibt den

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wesen von stark konservativem Gepräge, das von der Errich-
geistigen Bürger nicht mehr. Du sprichst von Zeiten, die
tung des Reiches nicht eben viel materiellen Nutzen gehabt
vergangen sind, von 1850 allenfalls, aber nicht von 1900.
hatte (ich habe ja von dem Niedergange eines dortigen Han-
Dazwischen war Bismarck, dazwischen war der Triumph der
delshauses inmitten der deutschen Siegesprosperität erzählt —
›Realpolitik‹, die Härtung und Verhärtung Deutschlands zum
auch von dem abenteuerlichen Ausflug seines letzten Inhabers
›Reich‹; die Verwissenschaftlichung der Industrie und die In-
aufs Gebiet bürgerlich-pessimistischer Philosophie) und dessen
dustrialisierung der Wissenschaft; die Regelung, Erkältung,
sozialen Zuständen, obgleich ein sozialdemokratischer Reichs-
Verfeindseligung des unmöglich gewordenen patriarchalisch-
tagskandidat nicht nur aufgestellt, sondern wohl gar auch ge-
menschlichen Verhältnisses von Brotherr und Arbeitnehmer
wählt wurde, bis tief in meine Lebenszeit hinein ein patriar-
durch das soziale Gesetz; Emanzipation und Ausbeutung;
chalischer Charakter erhalten geblieben war. Wenn ich mich
Macht, Macht, Macht! Was ist heute Wissenschaft? Enges und
an den Ton, das Verhältnis zwischen meinem Vater und seinen
hartes Spezialistentum zum Zwecke des Nutzens, der Ausbeu-
Speicherarbeitern erinnere, so bin ich wenig bereit, zu glauben,
tung und Herrschaft. Was ist Bildung? Vielleicht Menschen-
daß durch Emanzipation und soziales Gesetz Menschlichkeit
tum? Weite und Güte? Nein, nichts als ein Mittel zum Ver-
und Menschenwürde sonderlich gefördert worden sind: Ich
dienen und zur Herrschaft. Was Philosophie? Vielleicht noch
hüte mich, gegen Zeitnotwendigkeiten zu revoltieren, und be-
immer kein Mittel, zu verdienen, aber hart beschränktes Spe-
weine nicht das Abgelebte; aber ich lasse mir nicht einreden,
zialistentum ebenfalls, im Stil und Geiste der Zeit. Sieh ihn
daß Fortschritt immer ein Fortschritt zum Glücklicheren und
dir an, deinen ›deutschen Bürger‹ von heute, diesen imperiali-
Bessern sei. — Bürgerlichkeit also, und zwar patriarchalisch-
stischen Grubenbesitzer, der nicht zögern würde, fünfhundert-
aristokratische Bürgerlichkeit als Lebensstimmung, Lebensge-
tausend Menschen und das Doppelte zu opfern, um Briey zu
fühl ist mein persönliches Erbe. Die Bürgerlichkeit, die meine
annektieren und Herr der Welt zu sein! Nochmals, du hast ge-
Jugend umgab, und die mit neudeutschem Bourgeoistum sehr
schlafen, du schläfst noch immer, du redest im Traum.«
wenig zu tun hatte, war freilich im Durchschnitt eine nichts
Muß ich entgegnen? Dies Buch ist Selbsterklärung und Selbst-
weniger als geistige Bürgerlichkeit; Literatur mochte ihr als
aufklärung, — keine Polemik; obgleich die Erklärung meiner-
Wunderlichkeit und verdachterregende Exzentrizität erschei-
selbst notwendig zuweilen polemische Formen annimmt. Es
nen, sie war handelsherrlich-materiell, und künstlerisch konnte
möchte Gestalt sein, — und was Polemik scheinen mag, ist eben
man sie höchstens in einem sehr objektiven Sinn, als Erschei-
nur Wegmeißelung, Ausbildung, Kontur. So will ich auch hier
nung ihres Alters, ihrer Tradition und Kultur, ihres Stiles,
nur mich erklären und umreißen, nicht polemisieren, — es gibt
kurz ihres Seins und nicht ihres Empfindens wegen nennen.
nicht viel zu polemisieren gegen die Ein- und Weckrede dort
Mein eigentliches Erlebnis nun aber, das mich in den Stand
oben. Denn es ist wahr, ich habe die Verwandlung des deut-
setzte, der Literatur ein für die Geschichte des deutschen Bür-
schen Bürgers in den Bourgeois ein wenig verschlafen, ich weiß
gertums charakteristisches Werk zu geben, war die ›Entartung‹
von ihr immerhin, doch anders kaum als vom Hörensagen,
einer solchen alten und echten Bürgerlichkeit ins Subjektiv-
ich habe sie, obwohl fünf Jahre nach 1870 geboren, nicht recht
Künstlerische: ein Erlebnis und Problem der Überfeinerung
erlebt. Wie kam denn das?
und Enttüchtigung, nicht der Verhärtung; ein Lebensprozeß,
Erstens verbrachte ich meine Kindheit und erste Jugend in
dem ich nicht nur irgendwie als Zeitgenosse kritisch an-
einer staatlich selbständigen, oligarchischen Stadtdemokratie
wohnte, sondern den unmittelbar und tief anzuschauen ich
des Nordwestens, einem altbürgerlich-gravitätischen Gemein-
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geboren war. Mit einem Worte: Was ich erlebte und gestal- lich; München ist die Stadt der angewandten, und zwar der
tete — aber ich erlebte es wohl erst, indem ich es gestaltete —, festlich angewandten Kunst, und der typische Münchner Künst-
das war auch eine Entwicklung und Modernisierung des Bür- ler immer ein geborener Festordner und Karnevalist. Daß ich,
gers, aber nicht seine Entwicklung zum Bourgeois, sondern solange ich hier lebe, in einem gewissen Protest gegen diese
seine Entwicklung zum Künstler, — und wenn ich neben den Sinnen- und Festkultur gelebt habe, hat vielleicht der geistes-
Verfallsbürger den Aufstiegsbürger, den Neuankömmling, Auf- fanatischen Mönchskritik, die in ›Fiorenza‹ am Regiment Lo-
käufer und Nachfolger stellte, so geschah es flüchtig und ohne renzo's des Prächtigen geübt wird, einen persönlichen Einschlag
daß ich an diesem Gegentyp in irgendeinem Sinne sonderlich gegeben. Daß ich blieb und nicht etwa nach Berlin ging, war
teilgenommen hätte. Das Problem, das mir auf den Nägeln gleichwohl nicht bloße Trägheit. Es wäre müßig, mich zu fra-
brannte und mich produktiv machte, war kein politisches, son- gen, wie ich geworden wäre, wenn ich diese zweiundzwanzig
dern ein biologisches, psychologisches; und daß ich ihm als Jahre, deren erste Hälfte entscheidende Entwicklungsjahre
Künstler all meine Aufmerksamkeit zuwandte, das war wohl waren, nicht hier, sondern in der scharfen Luft der preußisch-
wiederum recht deutsch: das Seelisch-Menschliche ging mich amerikanischen Weltstadt verbracht hätte. Auf jeden Fall hat
an; das Soziologisch-Politische nahm ich eben nur halb unbe- es seinen Reiz und Nutzen, in Protest und in Ironie gegen
wußt mit, es kümmerte mich wenig. seine Umgebung zu leben: das erhöht das Lebensgefühl, man
Das Buch nun ferner, in dem ich jenes seelische Erlebnis ge- lebt eigentümlicher und selbstbewußter unter diesen Umstän-
staltete, schrieb ich in München, wohin ich zeitig verpflanzt den. Wenn ich aber nachdenke, so finde ich, daß die Mün-
worden war, — und dieser Zufall oder Nicht-Zufall bedeutet chener Atmosphäre dadurch etwas Verwandtes und Gemäßes
abermals eine Entscheidung und Erklärung für meine politische für mich hatte und behält, daß die alte deutsche Mischung von
Verschlafenheit. Die bayrische Hauptstadt hat an der Ver- Kunst und Bürgerlichkeit hier noch ganz lebendig und gegen-
wandlung der deutschen Dinge selbstverständlich in gewissem wärtig ist. Diese Stadt ist völlig unliterarisch, die Literatur hat
Grade teilgehabt. Das Eindringen neudeutschen Geistes, die hier gar keinen Boden. Aber so wenig der Münchener Bürger
Amerikanisierung des deutschen Lebensstils äußerte sich dort weiß, was ein Literat ist — er hat tatsächlich keine Ahnung
in einer gewissen plumpen Korruption, einem Schieber- und davon, der Schriftsteller lebt hier völlig inkognito —, so gut
Unternehmertum von eigentümlich naiver Note, und meine weiß er, was ein Künstler ist: und nicht nur daher, daß seine
Interesselosigkeit hinderte nicht, daß ich dies und das davon Könige es ihn gelehrt haben. Frank Wedekind sagte einmal,
zu sehen bekam. Die Stadt, in der Modernisierung ihrem eige- der Münchener Bürger sei selbst ein Künstler, denn er wolle
nen Gesetze folgend, wahrte ihren historischen Charakter als seine Ruh' und er wolle sich amüsieren, — was nun freilich
künstlerisches Kulturzentrum, indem sie ihn mit Eifer ins Frem- eine überaus münchnerische Bestimmung des Künstlertums
denindustrielle entwickelte: sie ist heute in Friedenszeiten ein bleibt, die anderwärts kaum verstanden werden wird: es ist
großstädtischer Badeort mit blühendem Hotelbetrieb und einer eben die, gegen die ich zwanzig Jahre in stillem Protest gelebt
Art von Verschönerungsverein an der Spitze, der, unter kräf- habe. Das Wichtigste aber ist, daß wirklich Künstlertum hier
tigster Reklame, darauf bedacht ist, daß einem aus aller Welt auf alte, echte Weise aus dem Bürgertum erwächst und mit
zuströmenden Reisepublikum urwüchsig-hochstehende, kul- ihm verwachsen bleibt, daß das alteingesessene Münchener
turell-erquickliche Unterhaltung reichlich geboten wird. Ihre Bürger- und Handwerkertum künstlerisch durchsetzt ist: der
tiefreichende künstlerische Kultur ist weniger geistig als sinn- geistig-kulturelle und selbst der gesellschaftliche Abstand zwi-
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schen dem Handwerker (artista) von unpersönlicher, nicht mit einem Wort nicht zu Nennende inauguriert: sein inniger
bildungsmäßiger Kultur und dem akademischen Künstler ist Zusammenhang mit der deutschen Romantik ist von gelehrt-
sehr geringfügig, und es ist münchnerisch, daß von zwei Brü- literarischer Seite (Joël) aufs schönste dargetan worden, und
dern, Trägern eines altbürgerlichen Namens, der eine etwa die feinsten Wurzelfasern seines Wesens ruhten in einer Sphäre
Bäcker oder Brauer (und Mitglied des ›Kunstvereins‹!), der deutsch-idealistischer Humanität, die noch so späte Äußerun-
andere ein berühmter Architekt oder Erzgießer ist. Diese Kul- gen wie diese Sätze aus einem Brief an Overbeck (von 1880!)
turverhältnisse sind sehr altdeutsch-städtisch — man hört die durchdringt: »Ich verdanke Dir so viel, teurer Freund, daß ich
›Meistersinger‹ nirgends besser als in München: besser als dem Schauspiel Deines Lebens so in der Nähe zusehen durfte:
in dem bourgeoisen Nürnberg —; und ohne Zweifel trugen sie in der Tat, Basel hat mir Dein Bild und das Jacob Burck-
dazu bei, daß mir das Erlebnis der Entwicklung des deutschen hardts gegeben .. . Die Würde und die Anmut einer eigenen
Bürgers zum Bourgeois gewissermaßen vorenthalten blieb: Sie und wesentlich einsiedlerischen Richtung im Leben und Er-
hielten mir eine Bürgerlichkeit gegenwärtig, die zwar eher kennen: dies Schauspiel wurde mir durch die nicht genug zu
noch ungeistiger im literarischen Sinne war als die heimat- verehrende Gunst meines Schicksals ›ins Haus geschenkt‹ «
liche und auch nicht deren materiell-aristokratische Lebens- Ist nicht dies eben der Geist, aus welchem die Antithese des
kultur besaß, dafür aber unmittelbar als sinnlich-künstlerische furor philosophicus und des furor politicus hervorgeht? Eine
Kultur sich darstellte; und was ich aus bürgerlichem Wesen deutsche Antithese wahrhaftig! Mit ›Philosophie‹ ist da etwas
herauswachsen sah, war wiederum nicht der harte Bourgeois, höchst Unfranzösisches gemeint und auch nichts Exklusiv-
sondern der Künstler, ohne daß es sich diesmal dabei im min- Gelehrtes. Das Wort steht da im. bürgerlich-kulturellen, im
desten um Degeneration gehandelt hätte. deutschen Sinn, und wenn Nietzsche, der sich »den letzten
Kurzum, ich muß zugeben, daß ich Glück gehabt habe; ich unpolitischen Deutschen« nannte, die philosophische Geistes-
habe die Entwicklung nicht schlimm erlebt. Herkunft und Er- verfassung der politischen als die bessere, höhere, edlere gegen-
lebnis haben mir die Verwandlung des deutschen Bürgers in überstellt, so ist auch das höchst deutsch, höchst bürgerlich
den Bourgeois fast vorenthalten. Auch meine ›Bildung‹ tat in dem Sinne, den ich diesem Worte beilege, — und kein
es, — wenn ich, als Künstler einer Generation von ›Natura- chronologischer Einwand scheint mir stichhaltig gegen diese
listen‹ zugehörig, die auf positive Gelehrsamkeit nicht eben Deutschheit als Bürgerlichkeit: sie muß mir, wie ich bin und
bedacht war, intellektuelle Bildung irgend in Anspruch neh- sehe, als etwas Unsterbliches, von keiner Entwicklung, keinem
men darf. Ich habe die beiden, der Kunstsphäre nicht nur Fortschritt ernstlich Angreifbares erscheinen.
nahen, sondern mit einem großen Teil ihres Wesens in ihr An der Spitze des Reiches steht heute ein Mann, den Volks-
webenden Geister genannt, die meine geistigen Erzieher waren. mund und Witzblatt gern einen »Philosophen« nennen. Das
Ich kenne den spezialisierten Bourgeois-Philosophen nicht, ich ist Spott, denn es will sagen, daß er ein schlechter Politiker sei.
habe ihn nicht gelesen. Ich bin nicht über Schopenhauer und Gibt man aber zu, daß Herr von Bethmann Hollweg, Politiker
Nietzsche hinausgekommen — und meiner Treu, das waren oder nicht, gerade in dieser Kriegszeit als anständiger Exponent
nicht Bourgeois. Schopenhauer gehörte noch gänzlich dem bür- deutschen Wesens an seinem Platze ist; findet man es gut, wie
gerlich-romantischen Zeitalter an; und soweit auch Nietzsche ich es gut und richtig finde, daß an diesem Platz heute nicht
über das Romantische sowohl wie über das Bürgerliche hin- der glatte, mondäne und viel ententemäßigere Fürst Bülow
ausreicht, so gewiß er das Neue, noch Namenlose, oder doch steht; erkennt man ferner an, daß der Staatsmann, der das
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Deutschland dieses Krieges geistig-politisch repräsentiert, we- tisch verstanden habe, so ist es ihre Art von Heldentum, die
der Junker noch Bourgeois, sondern ein Repräsentant des bür- modern-heroische Lebensform und -haltung des überbürdeten
gerlichen Menschen, der Bildung, der Humanität, der ›Philo- und übertrainierten, »am Rande der Erschöpfung arbeitenden«
sophie‹, der Gesittung im geistigsten, würdigsten Sinne ist: Leistungsethikers ... und hier ist meine seelische Berührung,
dann hat man eingeräumt, daß deutsches Wesen sich noch eine einzige, aber eine wichtige und mich erschütternde, mit
immer im Zeichen dessen, was ich Bürgerlichkeit nenne, cha- dem Typus des neuen Bürgers. Ich habe ihn niemals real, als
rakteristisch offenbart. Ich werde meine Sympathie für die politisch-wirtschaftliche Erscheinung, gestaltet; dazu reichte
Person dieses Reichskanzlers oder doch für den Typus, den sie weder meine Sympathie noch meine Kenntnis aus. Aber das
vertritt, bei allem Verständnis für die Sorge, ja den Haß der Dichterische, das schien mir immer das Symbolische zu sein,
Patrioten, die ihn befehden, niemals verleugnen. Es ist kein und ich darf sagen, daß ich beinahe nichts geschrieben habe,
Zufall, daß er heute regiert, es ist auch keiner, daß er alles An- was nicht Symbol wäre für ein Heldentum dieser modernen,
rennens ungeachtet noch immer so fest steht. Es hat geistige, neubürgerlichen Art. Ja, so gesehen, ist Thomas Buddenbrook
ja, so gewagt es klingt, es hat künstlerische Gründe, daß man nicht nur ein deutscher Bürger, sondern auch ein moderner
sich schwerlich entschließen wird, ihn während dieser Krisis Bourgeois; er ist die erste Figur, an deren Gestaltung dies ent-
des Deutschtums zu entfernen. — scheidende Erlebnis teilhatte; und über die Hauptfiguren des
Bin ich zu Ende? Nicht ganz. Denn nachdem ich gesagt habe, Renaissancespiels, über alles Leben des Prinzenromans bis auf
warum ich die Umwandlung des deutschen Bürgers in den Bour- Gustav Aschenbach wirkte dieses Erlebnis gestaltend und sym-
geois gewissermaßen verschlief: — der Grund war, daß ich den bolschaffend in meine Arbeit hinein.
Prozeß der Entbürgerlichung auf eine allzu intim-psycholo- Ich lege einigen Wert auf die Feststellung, daß ich den
gische, ganz unpolitische Weise erlebte —, will ich mir nicht Gedanken, der modern-kapitalistische Erwerbsmensch, der
verschweigen, inwiefern der Bürger in seiner Modernität den- Bourgeois mit seiner asketischen Idee der Berufspflicht sei ein
noch weder von meinem Erkennen, noch sogar von meiner Geschöpf protestantischer Ethik, des Puritanismus und Kalvinis-
seelischen Teilnahme völlig ausgeschlossen blieb, — ja inwie- mus, völlig auf eigene Hand, ohne Lektüre, durch unmittelbare
fern solche Erkenntnis und Teilnahme in meiner Dichtung Ge- Einsicht erfühlte und erfand und erst nachträglich, vor kur-
stalt geworden. Mein bißchen Prosa wußte von jung auf so zem, bemerkt habe, daß er gleichzeitig von gelehrten Denkern
wenig eines kritizistischen Einschlags zu entbehren, daß mir gedacht und ausgesprochen worden. Max Weber in Heidelberg
die Begriffe ›Prosa‹ und ›Kritik‹ fast als identisch erschienen. und nach ihm Ernst Troeltsch haben über »die protestantische
Aber mein Kritizismus bezog sich von jeher auf das Leben, Ethik und den Geist des Kapitalismus« gehandelt, und auf die
nicht auf irgendwelche politische Fatalitäten, und wenngleich Spitze getrieben findet sich der Gedanke in Werner Sombarts
auch mir Schriftstellerei, ja Dichtung beinahe nichts anderes 1913 erschienenem Werke ›Der Bourgeois‹, — welches den
als Wirklichkeitskritik durch den Geist bedeutet, so war ich kapitalistischen Unternehmer als Synthese des Helden, Händ-
vielleicht zu positiv gerichtet, um zur rein negativen Charak- lers und Bürgers deutet. Daß er in hohem Grade recht hat, geht
teristik, zum Pamphlet, zur sympathielosen Satire dichterisch aus der Tatsache hervor, daß ich seine Lehre zwölf Jahre, be-
disponiert zu sein. Ich glaube nicht, daß ohne Sympathie über- vor er sie aufstellte, als Romanschriftsteller gestaltet hatte:
haupt Gestalt werden könne—die bloße Negation gibt flächige gesetzt nämlich, daß die Figur des Thomas Buddenbrook, die
Karikatur. Wenn ich irgend etwas von meiner Zeit sympathe- vorwegnehmende Verkörperung seiner Hypothese, ohne Ein-
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fluß auf Sombarts Denken gewesen ist. Was ich aber als neu die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft.«
hinzufügen möchte, ist die Vermutung, welche einer Gewißheit Das war um jene Zeit, als er zu Basel dreimal in einer Woche
gleichkommt, daß unsere Übereinstimmung über die psycho- — der Karwoche — die Matthäus-Passion hörte . .. Kreuz, Tod
logische Reihe Kalvinismus, Bürgerlichkeit, Heldentum‹ durch und Gruft! Er schleuderte seine späten, schweflichten Blitze
ein höheres, das höchste geistige Mittel besteht: durch das gegen das »asketische Ideal«, aber er selbst war der unbeding-
Mittel Nietzsche; denn ohne dies zeitbeherrschende Erlebnis, teste und fanatischste Asket der Geistesgeschichte. Er nannte
das alles geistige Erleben der Epoche bis in seine letzten Zer- Renan einen Hanswursten in psychologicis, weil dieser die Be-
teilungen beeinflußt und das ein auf unerhört neue, moderne griffe ›Genie‹ und ›Held‹ in die Persönlichkeit Christi hin-
Art heroisches Erlebnis war, wäre unzweifelhaft der Sozial- eingetragen habe, aber er, was war er denn selbst, wenn nicht
wissenschaftler so wenig auf seinen protestantisch-heroischen Held, Genie und »Gekreuzigter« in einer Person? Denn wahr-
Lehrsatz verfallen, wie der Romandichter die Gestalt seines haftig, man soll nicht glauben, daß die Unterschrift jenes
›Helden‹ hätte sehen können, wie er sie sah. Bernoulli, in Wahnsinnszettels an den dänischen Kritiker eine Blöd- und
seinem Overbeck-Nietzsche-Buche bemüht, dem Leser von Unsinnsunterschrift war . . .
Nietzsche's »Heroismus der Schwäche« einen Begriff zu geben, Bin ich zu schelten, weil ich von so hohen und schrecklichen
verfällt darauf, eine Stelle aus meinen Fiorenza-Dialogen an- Dingen rede oder stammle, während es sich um erheblich Ge-
zuführen; er wäre nicht darauf verfallen, wenn jene Repliken ringeres, um den bourgeoisen Erwerbs- und Leistungsmenschen
nicht eben vom Geiste Nietzsche's durchtränkt wären. Derselbe handelt und um die seelisch-symbolische Sympathie mit ihm,
schweizerische Forscher aber ist es auch, der Nietzsche irgend- die mich hinderte, ihn als ganz und gar widerwärtigen Typus
wo einen »gottlosen Calvin« genannt und anderswo mit guten zu empfinden? Die Welt ist tief, — überall, in jeder Erschei-
Belegen nachgewiesen hat, daß Nietzsche in politischer Hin- nung; und ich sehe nun einmal, daß das tragisch-ethische
sicht ursprünglich ein Fürsprecher des Mittelstandes war . . . Nietzsche-Erlebnis in mein Erlebnis des bürgerlichen Leistungs-
Meine Jugend, so darf ich sagen, hinderte mich nicht, den ethikers hineinspielte, möge dies bei den gelehrten Psycho-
Ethiker in Nietzsche zu erkennen zu einer Zeit, als seine Mode- logen des Kapitalismus auch keineswegs der Fall gewesen
und Gassenwirkung auf eine Art von hektischer Kraft- und sein. Ich sehe ferner, daß eben dieser Gefühlseinsicht in den
›Schönheits‹-Anbetung hinauslief. Die seelischen Voraus- Zusammenhang von kapitalistischer Neubürgerlichkeit und
setzungen und Ursprünge aber der ethischen Tragödie seines protestantischer Ethik eine gewisse zeitkritische Modernität
Lebens, dieses unsterblichen europäischen Schauspiels von meiner Produktion entstammt. Und ich sehe endlich, daß mein
Selbstüberwindung, Selbstzüchtigung, Selbstkreuzigung mit ›Patriotismus‹ von 1914 ganz wesentlich eine plötzliche und
dem geistigen Opfertode als herz- und hirnzerreißendem wohl recht vorübergehende Politisierung dieser Sympathie,
Abschluß, —wo anders sind sie zu finden, als in dem Protestan- dieser symbolischen Teilnahme war.
tismus des Naumburger Pastorsohnes, als in jener nordisch- ›Gegen den Militarismus‹ erklärte anno 1914 ›die Zivilisa-
deutschen, bürgerlich-dürerisch-moralistischen Sphäre, in wel- t i o n ‹ ins Feld zu ziehen. Nun, was mir ›Militarismus‹ hieß,
cher das Griffelwerk ›Ritter, Tod und Teufel‹ steht, und die war beinahe nichts anderes als Modernität, war das gefähr-
immer die Heimatsphäre dieser strengen, durchaus nicht ›süd- dete und höchst angespannte Dasein mit schlechten Grenzen‹.
lichen‹ Seele geblieben ist? »Mir behagt an Wagner«, schreibt Was ich unter Zivilisation verstand, war das Gegenteil davon,
er Oktober 1868 an Rohde, »was mir an Schopenhauer behagt: nämlich Sicherheit und Schlaffheit. Der Heroismus Deutsch-

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lands, unbestimmbar seiner Natur nach als Angriff oder Ver-
teidigung, schien freilich ganz und gar kein Heroismus der »GEGEN RECHT U N D WAHRHEIT«
Schwäche, sondern strotzender Kraft; und doch war es der-
selbe Heroismus noch immer, der die ganze Werdensgeschichte
dieses unwahrscheinlichen und dennoch so überaus wirklichen Es wird klar: Wenn ich mein Recht auf Patriotismus unter
Reiches durchzog — dieses Reiches, in dem Politik zu machen Zweifel zu stellen habe, wenn es vor meinem Gewissen der
aus äußeren wie aus inneren Gründen beinahe unmöglich ist Verteidigung bedarf, so ist es weniger darum, weil ich kein
und das dennoch durch seine Kraft, Tüchtigkeit, Modernität sehr richtiger Deutscher bin, als darum, weil mein Verhältnis
zu großem Unternehmen, großer Politik verpflichtet —, dieses zur Politik auf gut deutsche Art ein Unverhältnis ist. Denn
Volkes, das, wie Hamlet, zur Tat nicht eigentlich geboren, aber Politik ist Teilnahme am Staat, Eifer und Leidenschaft für den
unausweichbar berufen war. Berufen sein, sei es zu einem Wis- Staat, — und meinesgleichen ist nichts weniger als hegelisch
sen oder einer Tat, zu der man nicht geboren ist, das schien mir gesinnt, ich finde nicht, daß der Staat »wie ein Irdisch-Gött-
immer der Sinn des Tragischen, — und wo Tragik ist, darf liches zu verehren« sei, ich sehe in ihm keinen »Selbstzweck«,
Liebe sein. Früh hatte Verehrung für die Schopenhauerische — etwas Technisches mehr als etwas Geistiges, eine Maschine,
Gleichung von Mut und Geduld, hatte die Liebe zum ›Trotz- die zu betreuen und zu beaufsichtigen Sache der Fachmänner
dem‹, oder — daß ich das ekel verpönte Wort noch einmal ist; ich meine nicht nur nicht, daß die Bestimmung des Men-
freigebe — zum Ethos des ›Durchhaltens‹ mich vor das Stand- schen im Staatlich-Gesellschaftlichen aufgehe, sondern ich finde
bild jenes unheimlichen und populären Königs geführt, dessen diese Meinung sogar abstoßend inhuman; ich meine, daß wich-
Taten und Leiden all dies in die Wege geleitet. .. Zum Lachen tigste Teile des Menschengeistes: Religion,Philosophie,Kunst,
genau sah ich in der Entstehungsgeschichte unseres Krieges Dichtung, Wissenschaft neben, über, außer dem Staate und oft
Friedrichs Geschichte sich wiederholen. Ich schrieb sie auf, die genug gegen ihn existieren; jede Verwendung und Verwend-
eine zugleich mit der anderen. Ich war begeistert, ja. Aber barkeit dieser Organe des Menschengeistes als Staatsorgan,
nicht wie ein Patriotard oder diensteifriger Mitläufer begei- jede offizielle, uniformierte und reglementierte Geistigkeit also,
stert ist, sondern begeistert von Historie, von psychologischem scheint mir die Ironie herauszufordern; auch ein ›Ministerium
Wiedererkennen — und von unendlicher Sympathie. Diese der schönen Künste‹ scheint mir das zu tun; nie hatte ich für
Sympathie, diese Ergriffenheit von Deutschlands tragisch- meine Person gern mit dem Staate zu schaffen, meine Empfin-
historischem Schicksal war ›widergeistig‹ im Sinn des Zivili- dungen für ihn waren von jeher so liederlich lau und indivi-
sationsliteraten, ich weiß es. Aber ich glaube, sie war mensch- dualistisch undevot wie möglich; ich war ein unpolitischer
lich und dichterisch, und nie werde ich mich ihrer schämen. Mensch, war, was der Zivilisationsliterat einen ›Ästheten‹
n e n n t . . . Aber ist Patriotismus nicht Politik? Bleibt er nicht,
als Politik, für den Künstler eine Exzentrizität? Denn Politik
ist unmenschlich; des Künstlers Sache aber ist am Ende, wenn
nicht ›Menschlichkeit‹, so doch das Menschliche. Durchaus ver-
stehe ich diejenigen, die erklären: »Ich kann nicht ein ganzes
Volk lieben oder hassen; ich kenne nur Menschen.« Gut, zu-
weilen scheint auch mir, daß einzig diese Denkweise einem

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Künstler ansteht, — obwohl . . . Obwohl zunächst einmal die eher mythisch-primitiver als politisch-geistiger Natur bedeu-
plötzliche groteske Personifizierung der Nationen, die Erschei- ten. Um einen Künstler aber, dem das Primitive ein durchaus
nung ihrer Menschlichkeit in großem Stile, die der Krieg mit fremdes Element, der jedes ›Rückfalls‹ ins Primitive durchaus
sich brachte, gerade für den Künstler etwas im höchsten Grade unfähig geworden wäre, stünde es, glaube ich, nicht gut. Ein
Anschaulich-Hinreißendes hatte. Ereignisse wie diese heben Künstler ist vielleicht nur eben so weit Künstler und Dichter,
auf einmal die Individualität der einzelnen Völker, ihre ewigen als er dem Primitiven nicht entfremdet ist; und gesetzt selbst,
Physiognomien mächtig hervor; ihr Urwille, ihr »intelligi- er wäre ein ›Bürger‹, so ist er Künstler und Dichter vielleicht
bler Charakter« schien uns wie Felsgestein herauszutreten: Eng- nur eben so weit, als er Volk ist und volkhaft primitiv zu
land, Frankreich, Deutschland, Italien, sie benahmen sich so schauen und zu empfinden nie ganz verlernte. »Das Volk«,
richtig, so ganz wie es im Buche, im Märchenbuche steht, daß, sagt Paul de Lagarde in seiner Polemik gegen das allgemeine
meine ich, der Künstler noch mehr als der Historiker zu ent- Stimmrecht, »das Volk spricht gar nicht, wann die einzelnen
schuldigen war, wenn stärkste Anschauungslust ihn erschüt- Individuen sprechen, aus denen das Volk besteht. Das Volk
terte und begeisterte. Politik? Aber Politik war es nicht, wenn spricht nur dann, wann die Volkheit . . . in den Individuen zu
man des Reichskanzlers Rede vom ›Unrecht‹, das Deutschland Worte kommt: das heißt, wann das Bewußtsein der allen Ein-
mit dem Einmarsch in Belgien begehe, schön, wenn auch nichts zelnen gemeinsamen Grund- und Stammnatur wach und sich
weniger als politisch und nicht einmal zutreffend, fand. Denn über ihr Verhältnis zu großen Tatsachen der Geschichte klar
diese Haltung und Redeweise des ergriffenen Mannes wollte wird . . . In betreff einzelner Gesetze und einzelner Verwal-
nicht Politik sein, sie war un- und antipolitisch im allerdeut- tungsmaßregeln bleibt das Volk völlig stumm, wenn man es
schesten Sinn, sie war so echt, durch Echtheit so großartig, dem auch Mann für Mann um seine Meinung angeht und von
überpolitischen, gewaltig ethischen Augenblick so angemes- Mann für Mann Antwort erhält.« Mir scheint, volkhaft in
sen, daß politische Einwände dagegen immer werden erbärm- diesem Sinne ist das politische Verhältnis des Künstlers und
lich wirken müssen. — Eine Fresko-Psychologie also, die na- Dichters. Seine politische Stunde ist gekommen, wenn »die
tional-psychologische Erkenntnis und Selbsterkenntnis hat in Volkheit in den Individuen zu Worte kommt«, nicht, wenn es
Zeiten wie dieser ihre gute Zeit: man lernt sich kennen, man um staatstechnische Fragen geht; sie ist gekommen, wenn es
wird an vieles Tiefste erinnert, wird sich seiner selbst national sich, mit Lagarde zu unterscheiden, um Enthusiasmus, nicht um
bewußt; und da in Notzeiten Selbstverneinung erbärmliche Geschäfte handelt. Seine Sache ist nicht der Staat, wohl aber
Schwäche wäre; da in solchen Zeiten Selbsterkenntnis und ist das Vaterland auch seine Sache; und das Erlebnis, das der
Selbstbehauptung eins sind, eins sein müssen; so ist kein Schritt Krieg ihm bereitete, ist dies, daß er des Vaterlandes, worauf
mehr vom Bewußtsein seiner selbst zum Selbstbewußtsein, zur Staat und Politik ihm so lange den Blick verstellt hatten, viel-
kriegerischen Freude an sich selbst, zum unpersönlichen Stolz, leicht zum erstenmal ansichtig, — des Verhältnisses der Volk-
zum ›Patriotismus‹. Es ist wahr: der Krieg begünstigt, er er- heit, die auch in ihm zu Worte kam, zu den großen Tatsachen
der Geschichte mit Ergriffenheit inne wurde.
zwingt beinahe primitive Anschauungen, primitive Gefühle;
aber sollte das einem Künstler unbedingt als Einwand gegen Man versetze sich nun aber überdies in die Lage jemandes,
ihn gelten? Es ist wahr: die Völker als mythische Individuen für den jener Zustand der Abwehr und notgedrungenen na-
anzuschauen ist eine primitiv-volkstümliche Anschauungs- tional-geistigen Selbstbehauptung nicht erst, wie für die mei-
weise, und Patriotismus selbst möchte eine Ergriffenheit von sten, im August 1914 sich herstellte; der vielmehr lange in
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brüderlicher Nähe einer bedeutenden und im naiv französi- sondern eine erschütternde Selbstoffenbarung der Wahrheit
schen Stile aggressiven Geistigkeit gelebt hatte, welche ihrer- ist, — nicht mich betrifft, sondern ein großes und besonderes
seits bei Kriegsausbruch nur darum ihr Wort und Gefühl so- Volkswesen außer mir.
fort mit dem der wider Deutschland geifernden Welt hatte Außer mir. Man weise mir nach, daß ich nur einmal, in
vereinigen können, weil keine Ausschreitung fremden Hasses einem Augenblick bramarbasierender Unbesonnenheit, mich
ihre eigene hemmungslose, sympathielose und niederdrük- eingerechnet hätte, »wir« gesagt hätte, wenn ich von Deutsch-
kende Wut gegen das Sein und Wesen, das geschichtliche Er- land sprach: nach Art gewisser unabkömmlicher Bäuche, aus
leben und die Wirklichkeitsform dieses Landes überbieten oder denen die Forderung ausgiebiger Annexionen tönt, weil.»wir«
auch nur erreichen konnte: einer Geistigkeit, die längst mit »nicht umsonst geblutet haben dürfen«; man überführe mich
schneidend unduldsamster Schärfe darauf bestanden hatte, daß eines solchen »wir«, und ich will ein chauvinistischer Prahl-
man Deutschland, ausgemacht Deutschland! als den morali- hans heißen mein Leben lang. Nie war die individualistische
schen Schandfleck der Menschenerde erkenne oder auf den An- Distanzierung des Ich vom Ganzen so sehr ein Gebot des An-
spruch verzichte, ein Mann des Gedankens zu heißen; einer standes, ein Gebot des Stolzes und der Bescheidenheit, wie
Geistigkeit, die mit dem Namen des Deutschen Reiches durch- heute, da persönliche Wichtigkeit sich hinter dem nationalen
aus die Vorstellung einer Prunk- und Reklamefassade hatte Vorzeichen bläht und mancher Lump sich einbilden mag, weni-
verbinden wollen, hinter der es nichts als Fäulnis und Moder,
ger ein Lump zu sein, weil er sich einen deutschen Lumpen
Brutalität und Sklavenmisere gäbe; einer Geistigkeit, welche,
nennen darf. Wollte ich doch, ich wäre ein Schwede oder Luxem-
die tiefe Anständigkeit deutschen Selbstekels zur Fratze trave-
burger, damit ich dem Verdachte, mein ›Patriotismus‹ sei ein
stierend, das Deutschland der letzten vierzig Jahre zu einem
Versuch, mich mit fremden Federn zu schmücken und meine
Second empire à la Offenbach satirisch talentvoll hatte umfäl-
Blöße mit dem nationalen Ehrenkleide zu decken, dokumen-
schen wollen, das einer schmählichen débâcle entgegencanca-
tarisch begegnen könnte. Nein! hier bin ich, und dort ist Deutsch-
nierte: und alles dies aus dem einzigen Grunde, weil Deutschland
land. Meine Ehre gewinnt nichts durch seine Tugend. Ich
keine Demokratie im herzerhebend-westlichen ›Menschlich-
bin einzeln, ich sehe zu. Lieber will ich auf eigene Hand ein
keits‹-Geiste gewesen war! Wie hätte ich, der so verbissen
Elender sein, als vom Ruhm der Nation borgen, indem ich in
irrtümliche Lehrmeinungen zu teilen aus einfacher Billigkeit
ihr ›aufgehe‹. Mit Kriegsgeschrei aufgehen in der Nation, —
mich geweigert hatte — wie hätte ich nicht tiefste Genugtuung
das ist kein übles Mittel, die eigene Schwäche zu vergessen und
empfinden sollen darüber, daß sie sich als Irrtümer nun so
lächerlich offenbarten: darüber, daß Deutschland sich im Wet- in Vergessenheit zu bringen. Ich erkläre, daß ich es ganz und
ter nun immerhin ein wenig anders bewährte als irgendein gar von der Hand weise, dieses Mittel.
wurmstichiges Prestige-Empire im Jahre 1870! Vor Recht- Außer mir. Wahrhaftig, da ist noch ein Zweifel an meinem
haberei, Rechtbehalterei bewahre mich Gott! Wer sich des Recht auf Patriotismus! Was habe ich im Grunde gemein mit
Rechtbehaltens im Wortstreit nicht schämt, wer es nicht schleu- diesem strotzenden Volk, dessen ungeheure Tüchtigkeit heute
nigst zu vertuschen sucht, daß er recht behielt, den verachte den Schrecken und die Bewunderung derer bildet, die sich zu-
ich als roh im menschlichen und geistigen Sinn. Hier aber, dies sammentaten, um es zugrunde zu richten? Chronist und Er-
eine und große Mal, ist Rechtbehalten süß, brauche ich mich läuterer der Décadence, Liebhaber des Pathologischen und des
seiner nicht zu schämen, da es kein eitler Diskussionstriumph, Todes, ein Ästhet mit der Tendenz zum Abgrund: wie käme
ich dazu, mich mit Deutschland zu identifizieren, wie komme
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ich zur positiven Kriegsteilnahme, zum patriotischen Enthu- Wort, statt vor hundert Jahren, vor zweien könnten geschrie-
siasmus? Steht er mir an, kommt er mir zu? Kann er echt sein? ben sein, und die dann sicher von gewissen geistigen Herren
— Laßt mich antworten darauf mit der Berufung auf einen als Hetzartikel gebrandmarkt worden wären. Kein Zweifel,
Großen, der tiefkrank war von Anbeginn, grund-pathologisch seine Vergeistigung war wenig fortgeschritten. Wie hätte er
in jeder Stoffwahl, hysterisch, extrem, romantisch, »hypo- sich sonst der verbrecherischen Gedankenlosigkeit — wenn es
chondrisch«, Goethen ein Ärgernis. Und der doch, als Deutsch- nichts Schlimmeres war — schuldig machen können, das Volk,
land in Not war, die Donnerworte fand von der »Gemein- sein Volk, das ewige Volk zu verwechseln mit dem zufälligen,
schaft«, die nur mit Blut, vor dem die Sonne verdunkelt, zu lebenden Geschlecht, dessen Laster und Irrtümer er kennen
Grabe gebracht werden solle. Kam es ihm zu? Stand es dem mußte: die menschlich mangelhafte Gemeinschaft der Leben-
Leidenden und Komplizierten an, einfach zu sein? Zu lieben den mit jener hohen, deren Dasein, wie er sagte, durch das
hier, zu hassen dort? Hätte es dem Geistigen nicht vielmehr Dritteil eines Erdalters geheiligt sei; die, unbekannt mit dem
geziemt, Napoleon zu verehren, die Vollendung des Revolu- Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und
tionsimperiums, das vereinigte französische Europa zu wün- der Duldung so würdig sei wie irgendeine; die, weit ent-
schen? So wäre es ohne Zweifel literarischer gewesen . . . Aber fernt, in ihrem Busen auch nur eine Regung von Übermut zu
ganz offenbar war er nicht literarisch. Ganz offenbar gebrach tragen, bis auf den heutigen Tag an ihre eigene Herrlichkeit
es ihm an jener ›Vergeistigung‹, welche, nach der Aussage nicht geglaubt habe, sondern herumgeflattert sei, unermüdlich,
unseres Zivilisationsliteraten, der es aus Erfahrung weiß, ihren einer Biene gleich, alles, was sie Vortreffliches fand, in sich
Mann »so weit über die Volksgenossen hinausführt, daß ge- aufzunehmen, gleich als ob nichts von Ursprung herein Schönes
wisse nationale Ereignisse ihn abgesondert erscheinen lassen in ihr selber wäre, während gleichwohl in ihrem Schoße die
wie einen Feind«. Nein, er glaubte nicht, seinem Genie eine Götter das Urbild der Menschheit reiner, als in irgendeiner an-
solche Absonderung schuldig zu sein. Seine Gesinnung ver-
dern, aufbewahrt hätten; mit jener Gemeinschaft, die den
langte nicht, daß er »Verbannung und Schweigen« ertrage,
Leibniz, Gutenberg und Keppler, Hutten und Sickingen, Luther
wie der Zivilisationsliterat sie heute — in rhetorischer Suade —
und Melanchthon, Joseph und Friedrich, Dürer, Cranach und
ertragen zu müssen versichert. Er sprach. Und nicht Verkannt-
Klopstock hervorgebracht, die die Wilden der Südsee noch,
heit und hochnäsige Entfremdung sprach aus ihm. Der krank-
wenn sie sie kennten, zu beschützen herbeiströmen würden
haft zerquälte Künstler, der, ungeahnt von den Lebenden in
und deren Dasein keine deutsche Brust überleben solle — ? Wie,
seiner Größe, zu persönlicher Dankbarkeit sich für nicht im
frage ich, hätte Kleist dieser Gedankenlosigkeit und Verwechs-
mindesten verpflichtet fühlen konnte, er sprach für Deutschland
lung schuldig werden können, wenn er nicht ein falscher
in den innig hinreißendsten Akzenten: ja, dieser hysterische
Geistiger, falsch Begeisterter, ein Schmeichler und Streber ge-
Junker, — Logiker, Propagandist, Drauf- und Durchgänger des
wesen wäre, dem es darauf ankam, ›Nationaldichter‹ zu wer-
Ungeistes und des Rückfalls in untermenschliche Schwäche,
den: ganz wie wir Elenden von heute, die Vergeistigung nicht
mitrennend, verantwortungslos anfeuernd und vor Hochge-
fühl von Sinnen, er wurde um Deutschlands willen zum win- bis zu wünschenswerter Höhe über ihre Volksgenossen hin-
digen Journalisten, er schrieb jenen Artikel, jene zwei Seiten ausgeführt hat und die der Zivilisationsliterat desselben Ver-
gewaltiger, im ernstesten Sinne rednerischer Prosa, die ›Was brechens sowohl wie derselben Motive zeiht? — Man könnte
gilt es in diesem Kriege?‹ überschrieben sind, die Wort für einwenden, das zufällige, menschlich-mangelhafte lebende Ge-
schlecht sei nun einmal die zeitliche Erscheinung jener hohen
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und ideell verklärten Gemeinschaft; es sei schwierig, in Zeiten Stirn triefte, und meinten, ein ruhiges, gemächliches und
wie dieser das zeitliche Volk so ganz vom ewigen Volke zu sorgenfreies Leben sei alles, was sich in der Welt erringen
trennen, mit jenem sei dieses in Not, das lebende Geschlecht ließe.« — Und es kommt die Frage: »Warum also mag das
habe die Sache des ewigen Volkes im Fleische durchzufechten, Elend wohl, das in der Zeit ist, über sie gekommen sein?« —
und wenn es dieser Aufgabe sittlich nicht würdig sei, so seien Und die Antwort: »Um ihnen diese Güter völlig verächtlich
früher lebende Geschlechter ihrer wohl auch nicht würdiger zu machen, und sie anzuregen, nach den höheren und höch-
gewesen. Man könnte daran erinnern, daß, wie Lagarde sagt, sten, die Gott den Menschen beschert hat, hinanzustreben.« —
»ein Volk allerdings auch eine natürliche Grundlage hat und »Und welches sind die höchsten Güter der Menschen?« —
aus Individuen besteht, daß aber diese natürliche Grundlage in »Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe und Treue, Schönheit,
der Nationalität aus dem Physischen ins Historische übersetzt Wissenschaft und Kunst.«
und darum als bloß Natürliches nicht mehr vorhanden ist«. Eine tolle Aufzählung! Eine tolle, höchst widerliterarische
Man könnte schließlich hinzufügen: wenn es dem Zivilisations- Rangordnung der Güter! Die Religion zuerst, Vaterland und
literaten allzu sauer werde, dergleichen zu denken, so möge er Kaiser an zweiter und dritter Stelle, die Freiheit an vierter,
die politischen Moralitäten lieber sparen. Aber solche Einwen- und die Literatur ganz zuletzt! Aber wird hier das lebende
dungen und Erinnerungen wären müßig, denn jene demago- Geschlecht mit dem ewigen Volk verwechselt? Wird es mit Lob-
gische Verwechslung, die den Zivilisationsliteraten so sehr er- hudelei bedient? Wird es auch nur geschont? Nein, das wird es
bittert, hat gar nicht statt, — weder in Kleists Fall noch bei uns nicht! Und das wurde es auch jetzt nicht, vor zwei Jahren! Es
falschen Geistigen von heute, die wir, wie der Zivilisations- wurde ihm nicht gesagt, von niemandem, daß es den Gipfel
literat sagt, »dem Ungeist gedankliche Stützen liefern«, — sie der Tugend innegehabt habe oder auf gutem Wege gewesen
hat nicht statt, sage ich, und ich werde es beweisen. sei, ihn zu erreichen. Sofort, in den ersten Rausch hinein der
»Vielleicht meinst du«, wird im ›Katechismus der Deutschem Reinigung und des Aufstandes, sprach die Besinnung und
gefragt, »die Deutschen befanden sich schon, wie die Sachen mahnte, was vorher gewesen sei. Ich beneide denjenigen nicht,
stehen, auf dem Gipfel aller Tugend, alles Heils und alles ich beneide niemanden, der sich damals auszuschließen, sich
Ruhms?« — Es antwortet: »Keineswegs, mein Vater.« — Und unberührt zu halten vermochte von einer Erschütterung, die
wieder: »Oder waren wenigstens auf gutem Wege, ihn zu er- überall hinreichte, deren Wellen den abseits und einzeln auf
reichen?« — Die Antwort: »Nein, mein Vater, das auch nicht.« dem Lande, den weit über See Lebenden im Nu erreichten und
ergriffen, in jeder Brust das Stillste, Älteste, Einfachste und
— »Von welcher Unart habe ich dir zuweilen gesprochen?« —
Stärkste weckten. Mich befremdet ein Moralismus, der mit auf-
»Von einer Unart?« — »Ja; die dem lebenden Geschlecht an-
gerichtetem Magisterfinger dem gestellten Deutschland bedeu-
klebt.« — Diese Unart sei eine Überreiztheit des Verstandes,
tete, erst wenn es sich durch ›innere Politik‹, durch eine oder
heißt es. Die Deutschen reflektierten, wo sie empfinden oder han-
die andere Dreyfusaffäre sittlich geläutert habe, werde es be-
deln sollten, sie meinten, alles durch ihren Witz bewerkstelli-
rechtigt sein, sich irgend nach außen zu wenden, — als ob der
gen zu können, und gäben nichts mehr auf die alte, geheim-
gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in
nisvolle Kraft der Herzen. — Aber dann: »Woran hingen sie«,
der Bereitschaft zu strengster Prüfung, in der hohen und freudig
geht das Fragen weiter, »mit unmäßiger und unedler Liebe?«
ernsten, von Leichtsinn und Übermut reinen Bereitschaft auch,
— »An Geld und Gut, trieben Handel und Wandel damit, daß ihre Weltstunde zu schauen, den »Tag des Ruhmes«, den Goethe
ihnen der Schweiß, ordentlich des Mitleidens würdig, von der
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ihr 1813, in jenem Gespräche mit Luden, verkündigt, — als ob denken. Ja, auch nur ganz allgemein zu fragen, wie ein heute
das alles mit Moral nicht vielleicht von weitem allerlei zu tun lebender Mensch von Goethe's Range über unsere Angelegen-
gehabt hätte. Ich beargwöhne die steif ablehnende Kälte einer heiten urteilen würde, ist sinnlos; denn es lebt kein solcher,
›Vergeistigung‹, die sich zu vornehm dünkte, den Traum eines und daß keiner lebt, ist kein Zufall, sondern es liegt in der
Volkes von Heimsuchung und notgeborener Tat einen Tag Zeit, und die gedankliche Verkoppelung Goethe'scher Majestät
auch nur, eine Stunde lang mitzuträumen und sich den in aller mit dieser demokratischen, von persönlicher Größe unbeauf-
Geschichte unerhörten, auch von sehenden Feinden als beispiel- sichtigten Zeit ist völlig unersprießlich und ohne Sinn. Unter-
los bestaunten Leistungen dieses Volkes hämisch-hartnäckig dessen gibt es Literaten, die sich die erdenklichste Mühe geben,
verschließt, — nur weil sie sonst nicht ›recht behielte‹, weil sich zu den Geschehnissen so zu verhalten, wie der Groß-
es sonst die Frage zu beantworten gälte, ob ein niedrig denken- herr einer kosmopolitischen Bildungsepoche, dem einzig die
des und sklavisches Volk dieser Leistungen fähig sein würde, Frage: Kultur oder Barbarei am Herzen liegen durfte und der
— und die sich, ihre verstockte Haltung zu rechtfertigen, am allerdings lieber noch die Franzosen als die damals uns ver-
Ende wohl gar auf die des sonst als Ästheten, Quietisten und bündeten Kosaken und Baschkiren in Deutschland sah, sich
Fürstenknecht verpönten Goethe, des Goethe von 1813, beru- möglicherweise dazu verhalten würde. Ich achte sie gar nicht.
fen zu dürfen meint: gerade als ob Goethe, der auf der Gegen- Ich beargwöhne, um es zu wiederholen, jene ›Vergeistigung‹,
seite nicht, wie wir, die Herren Asquith und Poincaré, sondern die sich demokratisch nennt, während sie das Gegenteil ist, näm-
Napoleon Bonaparte erblickte, ein Zivilisationsliterat und al- lich die hochnäsigste Entfremdung und Selbstausschließung;
bern genug gewesen wäre, auf die humanitäre Lügenphrase ich beargwöhne sie nicht nur, ich sah und weiß, wie es in
des demokratischen Imperialismus gehobenen Busens hinein- Wirklichkeit darum steht. Ich weiß und sah, daß diese ›Ver-
geistigung‹ rechthaberischer Besorgnis um ein gehätscheltes
zufallen, — er, der über Deutschlands »Besonderheit« ganz
Ideensystem gleichkommt, das man plötzlich zu seinem Schrek-
sicher nicht schlechter als Dostojewski Bescheid wußte, der
ken einer stürmischen Zugluft ausgesetzt s a h . . . »Meine Ideen!
es seinem Kaiser nachsprach, daß »das Schicksal der Deutschen
Was wird aus meinen Ideen?« — das war ihre erste Frage bei
noch nicht erfüllt« sei und daß sie, hätten sie keine andere
Kriegsausbruch und wird immer ihre erste und letzte sein. Ich
Aufgabe zu erfüllen gehabt, als das römische Reich zu zerbre-
wüßte nun aber nicht, daß diejenigen, die einer solchen Art
chen und eine neue Welt zu schaffen und zu ordnen, längst
von Vergeistigung nicht teilhaft waren und sind, der Verwechs-
würden zugrunde gegangen sein. Zuletzt ist es müßig bis zur
lung des lebenden Geschlechts mit dem ideellen Volke sich
Insipidität, den spirit des Beherrschers einer versunkenen na-
schuldig gemacht und jenem Süßigkeiten gesagt hätten: viel-
tionalen Epoche zu zitieren, um ihm seine Meinung über die
mehr erinnere ich mich, daß über Schwarzmalerei und Buß-
derzeitige Weltlage abzufragen; denn was man bei einem so
predigerton geklagt wurde in Hinsicht auf die Schilderungen,
kindlichen Experiment vernimmt, ist nicht Goethe's Wort, son-
welche der Zustand von vor dem Kriege vielfach erfuhr. Über
dern eine hohle und nichtige Geisterstimme, die aus uns selber den wölfischen Merkantilismus, die geistige Zersetztheit und
kommt, während wir uns bereden möchten, sie töne aus der Anarchie, die sittliche Ratlosigkeit der zusammengebrochenen
Ewigkeit. Der verewigte Geist ist eingegangen in unsere Welt, Friedenswelt, die doch die Welt des lebenden Geschlechtes ge-
nicht auf oder außer ihr, und selbst den kürzlich geschiedenen wesen war, wurde, scheint mir, damals manch äußerstes Wort
wie den, der im Fleische Friedrich Nietzsche hieß, können wir gesagt, — wenn freilich auch solche Kritik nicht bloß national
uns von außen und oben über sie urteilend nicht ernstlich
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gemeint war, sondern sich auf einen Weltzustand bezog, an dies Volk, das so gar kein Volk des Wortes ist, das auch jetzt
dem Deutschland nur teilgehabt; wenn sie also auch nicht, wieder sein Wort, sein eigenes Wort nicht in Bereitschaft hatte
um nur recht moralisch-innerpolitisch zu erscheinen, sich ge- und also einen Anblick literarischer Hilflosigkeit bot, von sei-
bärdete, als sei es so schlimm nur bei uns, überall sonst aber nen frech beredten Feinden besudelt wurde, die Spitze zu bie-
sehr schön und edel zugegangen. Das Gewissen sprach laut, ten. Ich erinnerte mich des europäischen Literaten in mir, den
die Hoffnung auf ›Erneuerung‹ sprach noch lauter und viel- ich freilich nicht sehr hoch achte; mir fiel ein, daß ich das, was
stimmiger; und, seien wir ehrlich, wir schämen uns heute ein die Bourgeois-Rhetoren drüben können, auch noch könne, daß
wenig all jenes finsteren und freudigen Ungestüms. Wer in ich zu schreiben gelernt habe, ebenso gut schließlich wie sie, —
der problematischen Sphäre der Literatur gelebt hatte, mochte und daß dieser Fall, mein Fall, in welchem eine lateinische
geneigt sein, von der eigenen Qual auf den Zustand des Lebens Esprit-Mitgift mit herzlicher, ganz undifferenzierter Partei-
selbst und des Volkes zu schließen, — des Volkes, das unter- nahme für Deutschland zusammenfalle, eine Seltenheit sei, ein
dessen über alle literarische Vorstellung hinaus einfach, gelas- Ausnahmefall, gewissermaßen ein Glücksfall, der manifest wer-
sen und tüchtig geblieben war. Und andererseits hat der Er- den müsse . . . Ich dachte, daß man denen dort drüben mit
neuerungs-Idealismus sich wohl oder übel belehren lassen ihren eigenen Waffen begegnen müsse, mit Advokatenkunst,
müssen, daß der Mensch »aus Gemeinem gemacht« bleibt und Geist, Antithesen, Witz, Verve, Eleganz, dialektischen Para-
auch heute eifrig darauf bedacht ist, sich das Heroisch-Histo- den . .. Glänzen? nein, der Zivilisationsliterat irrt, wenn er
rische durch Lebensmittelwucher und dergleichen humoristische sagt, daß ich glänzen wollte. Ich wollte dienen, wollte helfen.
Hilfsmittel »menschlich näher zu bringen« . . . Oder vielmehr, weit entfernt zu glauben, daß ich wirklich die-
nen und helfen könne, wünschte ich, mein Verlangen danach
Aber ich habe diesem Kapitel die Überschrift ›Gegen Recht
eilends zu verdeutlichen, darüber, wo mein Herz war, keinen
und Wahrheit‹ gegeben, und das kann nur eine Bedeutung
Zweifel zu lassen: und so entstand jene frühe und rasche Im-
haben: ich wünsche hier einen Augenblick von meinen Beiträ-
provisation, die ›Gedanken im Kriege‹ überschrieben war und
gen zur öffentlichen Kriegsdiskussion zu reden, jenen zwei,
in der manches, was in der Folge besser, gültiger, haltbarer
drei felddienstmäßig gerüsteten Artikeln, die zu dem Büchlein
gesagt worden ist, mit ungewohnter Geistesgegenwart vorweg-
›Friedrich und die große Koalition‹ vereinigt wurden, — und
genommen wurde; jener dem »bösen« König gewidmete Essay
in denen nun freilich von kleistischer Leidenschaft wenig zu
sodann, dessen glücklich-leichte Eigenschaften daher rühren,
spüren war. Denn wenn ich Zweifel hege, ob einer Existenz
daß ich von langer Hand her auf ihn vorbereitet war, und der
wie der meinen Patriotismus ›zukommt›, so weiß ich von
›Patriotismus‹ wirklich beinahe literarisch annehmbar zu ma-
einigen Dingen mit Sicherheit, ob sie mir zukommen oder nicht.
chen wußte; und auch der Brief an das Schwedische Tagblatt‹, —
Donnerworte kommen mir nicht zu. Und ich glaube nicht, daß diese erste und wohl auf immer einzige kleine politische Aktion
sie heute irgend jemandem anstünden. Wahrscheinlich sind sie meines Lebens, ein Ding, wahrhaftig, wie man es nicht schreibt,
Sache der Kanonen. Die Literatur ist heute von demokratischer wenn man glänzen, sondern wenn man nützen möchte . . . Irre
Verfassung: kein Wunder, daß die Literaten auch sonst nach ich mich, wenn ich zu wissen glaube, daß es weniger die pa-
der Demokratie verlangen. — Nein, eine andere Art und Weise, triotische Tendenz dieser Artikel, als ihre westlich-literarische
anderes als Donnerworte, war mir angemessen, um den geist- Form war, was unserem Literatentum böses Blut machte? Der
reichen Beschimpfungen, mit denen die literarische Zivilisation zweifellose und manchen falsch anmutende Kontrast zwischen
Deutschland überschüttete, der Boulevard-Psychologie, womit
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ihrer Parteinahme und der Art und Weise, auf welche darin geworden. Der Franzose von Geburt heißt Romain Rolland;
Partei genommen wurde? »In eleganter Herrichtung«, klagte und daß er Franzose ist, Franzose mit Haut und Haar und also
der Zivilisationsliterat, hätte ich »gegen Wahrheit und Gerech- im Grunde ganz ohne kosmopolitische Begabung, das lehrt sein
tigkeit gestanden«, und gab mit eben diesem Worte »Herrich- unendlich wohlmeinendes Kriegsbüchlein, dessen Paris skan-
tung« zu verstehen, daß die »Eleganz« in solchem Falle auf dalisierende Wirkung nicht recht verständlich ist, da sich sein
Lug und Trug beruhen müsse; denn er lebt der — nicht völlig Titel — ›Au dessus de la mêlée‹ — bei der Lektüre als eine aus-
unbegründeten — Überzeugung, daß ›Patriotismus‹ und der gemachte Selbsttäuschung herausstellt. Ist denn nicht auch die-
Stil eines Schusters Dinge sind, die einander von Natur und ses ›Au dessus‹ eine naive Überheblichkeit und Unmöglich-
Rechts wegen notwendig bedingen. Daß aber jener Kontrast keit im Europa von heute? Unparteilichkeit, Überparteilichkeit,
auch von solchen empfunden und bemerkt wurde, die sich nicht ›Neutralität‹, gibt es das heute unter leidlich lebhaften Gei-
sittlich entrüstet, sondern nur beobachtend und feststellend stern der neutralen oder kriegführenden Welt? War Norwegens
dazu verhielten, zeigte mir mancher Brief, den ich damals er- höchster Prosa-Poet, Knut Hamsun, neutral, als er seinen Bei-
hielt. »Eine Polemik gegen die Zivilisation«, hörte ich da; »aber trag für das deutsche Kampfbuch ›England im Spiegel der Kul-
in einer Form, die Inhalte aus dem Gebiete der Zivilisation turmenschheit‹ lieferte? Und kann Romain Rolland, der das King
erwarten ließe . .. Darf ich Sie bitten, sich diesen Satz anzu- Albert's book mit dem hochempfindsamen Artikel ›Au Peuple
sehen? Und in diesem Satz die Herkunft aller Nachdrucksworte qui souffre pour la justice‹ versah, im Ernste glauben, er stehe
zu prüfen? Gedanken und Wörter sind französisch. Diese an- über dem Gemenge? Er glaubt es. Er glaubt, für Deutschland,
dere Partie zeigt englische Sprachverhältnisse. Dort wieder ist »das wahre Deutschland«, welches nicht das die Gerechtigkeit
ein Nerventrakt von vollkommen französischem Stil.« Aber bestreitende Deutschland dieses Krieges ist, ebenso unmittel-
mir schien, eben das war der Witz, die eigentliche Pointe des bar und innig zu empfinden wie für das wahre Frankreich,
Ganzen. Und wenn ein deutscher Gelehrter und Soldat mir welches offenbar eins ist mit dem Frankreich dieses Krieges;
später schrieb: »Für Sie persönlich liegt das Problematische der und dieser Glaube ist es, aus dem er das Recht ableitet, mich,
Situation darin, daß Ihr eigenstes Mittel, das Wort, durch jene einen Wortführer des falschen Deutschland, so bitter zu
anderen usurpiert ist«, — so schien mir vielmehr, daß ich das schelten.
eigenste Mittel der anderen usurpiert und gegen sie gewandt Ich habe in dem Dichter des ›Jean-Christophe‹ den Bau-
hätte . .. meister eines großen Werkes zu ehren. Nichts darf mich hin-
dern, die Reinheit und Güte seines Menschentums zu empfin-
Zwei Schriftsteller hohen Ranges haben jene Kriegsaufsätze, den und mich davor zu beugen. Auch sehe ich wohl, daß
von denen übrigens, meiner gelassenen Einsicht nach, nur das dieser Schriftsteller eine für sein Vaterland — kaum auch für
Hauptstück, der Friedrich-Versuch, literarisch ernstlicher in Be- Deutschland — überaus wichtige und neue geistige Erscheinung
tracht kommt, heftig angegriffen: der eine geradezu und in ist. Sein großes Prosawerk ist keine Gesellschaftskritik fran-
vollster Öffentlichkeit, der andere mittelbar, anspielungsweise zösischer Observanz, sondern ein Bildungs- und Entwicklungs-
und doppelsinnig-halböffentlich, — Franzose der eine und Dich- roman im deutschen Stile und hat geradezu einen deutschen
ter von europäischem Ruf, der andere ein . . . nun, ja doch! ein Musiker zum Helden. Es gibt Elemente in Rollands Wesen,
Deutscher also, den Vergeistigung dermaßen hoch über seine die man antidemokratisch, antirationalistisch, antiintellektua-
Volksgenossen emporgeführt, daß er ebenfalls zum Franzosen listisch nennen darf und die ihn daheim bis zu einem gewis-

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sen Grade landfremd erscheinen lassen. Er ist es jedoch nur französischen, allzu französischen Konflikte überhaupt ernst
insofern, als er einem Frankreich angehört, das mit dem offi- nimmt, daß es überhaupt teilhat an der unseligen und lebens-
ziellen und wortführenden — o ja: wortführenden! — Frank- feindlichen Antithetik der französischen Geistes- und Staats-
reich nicht identisch ist, nicht also mit dem zentralistisch-haupt- verfassung, — was wahrscheinlich, ja offenbar nicht der Fall
städtischen Frankreich der Kammern und Zeitungen, des ist. Nein, er findet sich gewiß nicht vor die Wahl gestellt, ent-
doktrinärenRadikalismus,derfanatischenTraditionsfeindschaft, weder ein Fortschrittsbanause und Pfaffenfresser oder ein hy-
des Rhetor-Bourgeois und des Herrn Poincaré. »Ihr denkt im- sterischer Kirchenbeweiner zu sein. Er weiß, daß die Antithese,
mer nur«, schrieb er eines Tages an einen ihm und mir ge- welche die Leidenschaft selbst sein möchte, während sie bloß
meinsamen österreichischen Freund, »an die Erscheinung Frank- witzig ist, Starrheit, Unfreiheit, Unfruchtbarkeit, Lebensfeind-
reichs seit dem sechzehnten Jahrhundert, aber vor dieser Zeit lichkeit bedeutet, — und daß er es ist, ein Franzose, der dies
ist es unendlich weiter und tiefer. So lebt es fort in Herz und heute vielleicht in aller Welt am besten und tiefsten weiß, das
Geist unserer Provinzbevölkerung . . . Unsere Literatur gibt eine ist eine sehr merkwürdige Tatsache. Vielleicht muß man Fran-
viel zu beschränkte Vorstellung von unserem Volke; sie wurde zose oder in gewissem Grade Franzose sein, um fähig gewe-
durch die alt-neue Pseudorenaissance des sechzehnten Jahr- sen zu sein, Rationalismus und Intellektualismus recht gründ-
hunderts verfälscht und durch die Unduldsamkeit der herr- lich zu durchleiden und sich endlich dann, wie Rolland, zu den
schenden Rasse, die Frankreich erobert hat, — den König der Schöpfern, zu Goethe und Tolstoi zu flüchten? Im ›Jean-Chri-
Isle de France und seine Verbündete, die Kirche. Die anderen stophe‹ findet sich die wahrhaft anständige und gewiß un-
Künste, minder der Raison unterworfen, haben sich früher sterbliche Stelle: »Jeder unserer Gedanken ist nur ein Augen-
frei gemacht. Denken Sie an das Hervorbrechen des Impres- blick unseres Lebens. Wozu nützte uns das Leben, wenn nicht
sionismus . . . Vergessen Sie nie, daß wir das Volk sind, das um unsere Irrtümer zu berichtigen, unsere Vorurteile zu be-
die gotische Baukunst schuf, das Volk der Chansons de geste siegen und täglich Herz und Gedanken weiter zu machen? . . .
und der Artusromane. Unsere wahren Bücher sind unsere Jeden Tag nützen wir, ein wenig mehr Wahrheit zu erlangen.
Dome. Wer die Skulpturen am Hauptportal von Amiens, Wenn wir am Ziele sind, dann sagt, was unsere Mühe wert
Bourges, Vezelay buchstabiert, liest in der Seele der heutigen war.«
Pikardie, des heutigen Berry oder Burgund. Das sind unsere Sätze, so sympathisch, so erhaben über Doktrinarismus und
Kraftreserven ...« Rechthaberei wie dieser, Zeugnisse tiefster, ehrlichster Willig-
»Unsere wahren Bücher sind unsere Dome!« Ein sonderbarer keit zu leben und zu lernen, bietet auch das Kriegsbüchlein in
Ausspruch für den Bürger eines Landes, das man als das lite- nicht geringer Zahl, — dieses Buch, worin das lebendige Deutsch-
rarische Land par excellence zu betrachten gewöhnt ist, und land in ein »wahres« und ein »falsches« so starr und strenge
für den Bürger der radikalen Republik insbesondere! Ich weiß geteilt erscheint; ja — was mich ärgern müßte — gerade jenes
nicht, wie Rolland sich alles in allem zu Maurice Barrès ver- Kapitel enthält ihrer am meisten, gerade jenes ist, wenn ich
hält; in dem verzweifelten Kampfe jedenfalls, den dieser vor nicht irre, das merkwürdigste und wertvollste des Buches, das
dem Kriege zur Verteidigung der gotischen Baudenkmale sei- den Hauptangriff enthält auf den »article monstrueux de Tho-
nes Landes gegen die boshafte Zerstörungssucht des regieren- mas Mann (dans la Neue Rundschau de novembre 1914) . . .
den Apotheker-Atheismus führte, muß sein Gefühl auf Barrès' proclamant que la pensée allemande n'avait pas d'autre idéal
Seite gewesen sein, — gesetzt nämlich, daß sein Gefühl solche que le militarisme —«. Der Aufsatz heißt ›Les idoles‹. Er er-

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schien zuerst im Journal de Genève‹, Dezember 1914, und So also gibt der außerordentliche Franzose meinen Gedan-
genoß also schon damals eine bedeutende Publizität. Von dem kengang von damals wieder. Er sagt zusammenfassend, ich
Buche, dessen Mittelpunkt er nun bildet, liegt mir ein Exem- hätte demonstriert, daß die Kultur nichts anderes sei als »la
plar der 29. Auflage vor. Es ist ratsam, daß ich auf Rollands force«; und er endigt damit, das Ganze »ein verbrecherisches
Anklagen zwei Worte erwidere. Übergebot an Gewalttätigkeit« zu nennen. »Monstrueux«,
Er schreibt: »Aber ich weiß wohl, was die französischen In- »Délire de fanatisme irrité«, »Forfanterie d'orgueil«, »Dé-
tellektuellen von dem Artikel ›Gedanken im Kriege‹ denken mence«, »Surenchère criminelle de violence«: das sind starke
werden: Deutschland konnte ihnen keine furchtbarere Waffe Worte im Munde eines Mannes von übrigens fast geistlicher
gegen sich selbst liefern. In einem Wahnsinnsanfall des Stol- Sanftmut; wilde, französische Worte, gerichtet gegen eine
zes und des gereizten Fanatismus sucht Mann um jeden Preis Äußerung, deren Dynamik nichts von solchen Ausdrücken
seinem Lande einen Schmuck und Ruhmestitel aus den schlimm- weiß; äußerst harte Worte, ausgestoßen gegen jemanden, den
sten Vorwürfen zu machen, die man dagegen gerichtet hat. Herr Rolland dennoch von früher her irgendwie zu schätzen,
Während ein Ostwald sich bemüht, die Sache der Kultur mit zu achten scheint. Ich schließe dies aus verschiedenen Anzei-
derjenigen der Zivilisation zusammenfallen zu lassen, stellt chen, auch daraus zum Beispiel, daß er einem deutschen Lite-
Mann die Lehre auf: Es gibt nichts Gemeinsames zwischen raten fast bewundernde Anerkennung dafür ausdrückt, daß er
ihnen. Der gegenwärtige Krieg ist derjenige der Kultur (das mich so ganz »ohne Rücksicht« (sans égards) attackiert habe . . .
heißt: Deutschlands) gegen die Zivilisation; und indem er die »Kunststück!« würde, wie ich ihn kenne, der betreffende
Prahlerei des Stolzes bis zur Verrücktheit treibt, definiert er die deutsche Literat dazu sagen . . . Die Sache wollte es, daß auch
Zivilisation als Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Rolland keinerlei Rücksicht walten ließ, und es wäre schön für
Auflösung, Geist, und die Kultur als eine ›geistige Organisa- mich und ein wenig sogar auch für ihn, wenn ihm das nicht so
tion der Welt‹, die ›blutige Wildheit‹ nicht ausschließe. Die ganz leichtgefallen wäre. Ich darf mir sagen, daß sein Zorn
Kultur sei ›die Sublimierung des Dämonischen‹. Sie sei ›über selbst der Schätzung entspringt. Ich muß hinzufügen: er ent-
der Moral, der Vernunft, der Wissenschaft‹. Während ferner springt der Überschätzung, — ich meine der Überschätzung
ein Ostwald, ein Haeckel im Militarismus nur ein Instrument, meiner Stellung und des nationalen, internationalen Gewich-
eine Waffe sehen, deren die Kultur sich zu ihrem Siege be- tes, das meinem Worte beizumessen ist. Wie käme er sonst
dient, versichert Thomas Mann, daß die Kultur und der Mili- dazu, gerade meinen Artikel, unter fünfhundert ähnlichen
tarismus Brüder seien, daß das Ideal der einen und das des Äußerungen, der französisch lesenden europäischen Öffent-
anderen eine und dieselbe Sache sei, daß sie das gleiche Prin- lichkeit so erbittert zu denunzieren? In einem Atem mit Ost-
zip enthalten, daß ihr Feind der gleiche sei, — und dieser Feind wald und Haeckel führt er mich an. Aber das ist lächerlich.
sei der Friede, es sei der Geist. Er wagt es schließlich, sich und Das Auge des Ausländers sieht da zusammen, was außer-
seinem Vaterlande eine Standarte aus den Versen (von Schiller) ordentlich wenig miteinander zu tun hat. Ich bin weder Monist,
zu machen: noch Esperantist, noch ein Freund von Welträtsel-Lösungen,
noch auch nur ein Affenorthodoxer. Vor allem aber bin ich
Das Gesetz ist der Freund des Schwachen, kein offizielles Tier, kein nationaler Würdenträger, kein Bonze,
Möchte gern die Welt verflachen, der, wenn er spricht, es in dem Bewußtsein tut, Deutschland
Aber der Krieg läßt die Kraft erscheinen . ..« gegen das Ausland zu repräsentieren. Meine Unabhängigkeit

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ist die eines Bohemiens. Und die französischen Intellektuellen gebrauch die Dinge so zurechtgelegt, hatte vor Jahren schon
hatten über Deutschland schon so manches gesagt, daß ich meine Bestimmung der beiden Begriffe in aphoristischer Form
mich den Teufel darum zu kümmern brauchte, was sie über öffentlich mitgeteilt. Ich wäre ja fast kein deutscher Schrift-
meinen Artikel sagen würden. Indem ich ihn schrieb, betei- steller, wenn ich niemals dies Thema variiert, niemals auch
ligte ich mich auf meine Art an den stillen Gesprächen, die meinerseits eine ›endgültige‹ Definition dieser vieldeutigen
das verfemte, bespieene Deutschland, unter dem unerhörten und viel mißbrauchten Wörter zu liefern versucht hätte. Hun-
Druck der demokratischen öffentlichen Welt-Meinung, mit sei- dertfach ist das vor mir in Deutschland versucht worden, von
nem Gewissen führte. Das ist alles. Und sprach ich dabei denn Denkern und Dichtern, ohne daß eine Deutung sich allgemein
also nun wirklich so schauderhafte Verrücktheiten aus, wie durchzusetzen vermocht hätte: es wäre denn die gewesen, daß
Ihr Bericht ein entsetztes internationales Publikum hat glau- ›Kultur‹ auf Geistiges, ›Zivilisation› auf Materielles sich be-
ben lassen? ziehe. Das fand ich ungenügend, ja falsch; denn mir schien,
Vor allem, cher maître, scheint mir, daß man im Gebrauch daß der Zivilisation bei weitem zu wenig Ehre damit geschähe.
der Anführungsstriche, des Zitatzeichens also, mehr Sorgfalt Ich sagte mir, daß Zivilisation nicht nur ebenfalls etwas Gei-
beobachten sollte, als es offenbar Ihre Gewohnheit ist. Ich stiges, sondern vielmehr und sogar der Geist selber sei, —
habe niemals gesagt, die Kultur sei ȟber der Moral, der Ver- Geist im Sinne der Vernunft, der Sittigung, des Zweifels, der
nunft, der Wissenschaft«, — sowenig wie ich gesagt habe, daß Aufklärung und endlich der Auflösung, während Kultur im
sie »die Gewalt« sei oder daß der deutsche Gedanke kein an- Gegenteile das künstlerisch organisierende und aufbauende,
deres Ideal als den Militarismus habe. Das sind Albernheiten. lebenerhaltende, lebenverklärende Prinzip bedeute. Sie nen-
Aber es gibt keine stark pointierte Äußerung, die man nicht nen das »pousser la forfanterie jusqu' à la démence«, aber ge-
ins Alberne verbiegen und abstumpfen könnte, wenn man Lust rade Sie, wie Sie sind, würden, wenn nicht Krieg wäre, wahr-
hat. Sie sind Schriftsteller, Romain Rolland, und Sie haben scheinlich weder forfanterie noch démence darin entdecken, und
meinen Artikel gelesen und interpretiert, wie ein begriffs- jedenfalls kann ich Ihnen beweisen, daß solche Auffassung
stutziger, im Geistigen unbewanderter Spießer ihn gelesen dem französischen Denken keineswegs fremd ist. Kennen Sic
und interpretiert haben würde. Gesetzt wirklich, ich hätte den die Briefe George Bizets, des Carmen-Komponisten? An einen
deutschen Gedanken mit dem »Militarismus« für eins erklärt, Freund schreibt er über Vernunft und Kunst, über die Ver-
so würde ich immer noch unter »Militarismus« etwas anderes nunft als unerbittliche Feindin der Kunst. »Ich glaube«, sagt
verstanden haben, als die Entente-Presse darunter versteht, er, »die gesamte Zukunft gehört den Vervollkommnungen
nämlich nicht gerade Junkerherrschaft und rohe Gewalt; wie unseres sozialen Kontraktes. In der vervollkommneten Gesell-
ich denn auch, wenn ich Kultur als »eine gewisse geistige Or- schaft wird es keine Ungerechtigkeiten, folglich auch keine Un-
ganisation der Welt«, also als das Gegenteil von geistiger zufriedenen, und keine Angriffe auf den sozialen Pakt mehr
geben, keine Priester, keine Gendarmen, keine Verbrecher,
Anarchie definierte, mit »Organisation« etwas anderes meinte,
keine Ehebrüche, keine Prostitution, keine lebhaften Erregun-
als die Zeitungen tagtäglich damit meinen. Zweifellos halten
gen, keine Leidenschaften und halt! auch keine Musik, keine
Sie meine Antithese von ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ für eine
Poesie, keine Ehrenlegion, keine Presse (ah bravo!), besonders
Improvisation ad hoc, auf die ich früher niemals verfallen
kein Theater, keine Illusion, also keine Kunst mehr! Unselige,
wäre, für eine Ausgeburt also der Kriegspsychose. Das wäre
die ihr seid, euer unvermeidlicher und unerbittlicher Fortschritt
ein Irrtum. Längst vor dem Kriege hatte ich mir für den Haus-
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tötet die Kunst! Meine arme Kunst! Ich bin dessen sicher. Die ich denn der Zivilisation nicht Ehre? Man hat sie materiell
vom Aberglauben am meisten angesteckten Gesellschaften genannt: ich leugne, daß sie es sei. Man hat sie einfach als den
waren auch die großen Förderer der Kunst . . . Ah, beweisen staatlich geordneten und gezähmten menschlichen Zustand zu
Sie mir doch, daß wir eine Kunst der Vernunft, der Wahrheit, bestimmen versucht: auch das genügt mir nicht, denn ich sehe,
der Exaktheit haben können, und ich gehe mit Waffen und daß sie ein viel zu geistiges Prinzip ist, um beim Staate halt-
Gepäck in Ihr Lager über .. . Als Musiker erkläre ich Ihnen, machen zu können, viel zu sehr Wille zur Auflösung, um nicht
daß, wenn Sie den Ehebruch, den Fanatismus, das Verbrechen, auch nach der Auflösung des Staates zu streben. Sie sind Fran-
den Irrtum, das Übernatürliche beseitigen, keine Note mehr zose, und Sie leugnen das? Die Zivilisation wird sich nicht
geschrieben werden kann; ich versichere Sie, ich würde eine damit begnügen, den Staat aufzulösen. Sie wird die nationalen
viel bessere Musik schreiben, wenn ich an alles glaubte, was Leidenschaften einschläfern und zur Ruhe bestatten. Sie wird
nicht wahr ist. Kurz zusammengefaßt: die Kunst geht in dem die pazifizierte Esperanto-Erde schaffen, auf welcher der Krieg
Maße herunter, wie die Vernunft fortschreitet. Sie glauben es unmöglich ist, — ich glaube an sie, wie Sie sehen; ich glaube
nicht, es ist aber doch wahr. Schaffen Sie mir doch heute einen an ihre Zukunft, und wie sollte ich nicht? Sie ist die Zukunft
Homer, einen Dante. Womit denn? Die Phantasie lebt von und der Fortschritt selbst. Natürlich ist der Pazifismus eine
Chimären und Gesichten. Sie unterdrücken mir die Chimären, Sache der Zivilisation, im Grunde ihre eigentliche und Haupt-
dann ist es natürlich mit der Einbildungskraft zu Ende. Keine Sache. Sie will Reinheit und Frieden, denn sie ist die Literatur,
Kunst mehr! Überall Wissenschaft. Fragen Sie mich, ob denn sie ist der Geist. Muß ich noch sagen, welches ihre stärkste
das ein Übel wäre, so lasse ich Sie gleich los und streite gar Waffe, ihr wirksamstes Zersetzungsmittel ist? Aber es ist die
nicht mehr herum, weil Sie recht haben. Aber doch schade, sehr Psychologie! — die Psychologie, die mir immer als die Wissen-
schade .. .« schaft an sich, als die Erkenntnis selbst erschienen ist. Die
»Weil Sie recht haben«: das ist die ironische Anerkennung Psychologie entmutigt jede Dummheit und Leidenschaft, sie
des zivilisatorischen Fortschritts durch einen geistvollen fran- entmutigt Leben und Kunst — durch Wissen. Denn die Kunst
zösischen Künstler, der in eben diesem »unvermeidlichen« wird unmöglich, der Künstler wird unmöglich, wenn sie durch-
Fortschritt die Auflösung und den Ruin der Kunst erblickt. Die schaut sind. Die Psychologie wirkt also nichts weniger als kul-
Gegensätzlichkeit von Zivilisation und Kultur ist in seinen turbildend, sondern im höchsten Grade fortschrittlich zerset-
Worten nicht ausdrücklich statuiert, aber sie geht als seine zend, im höchsten Grade zivilisatorisch. Das alles liegt auf der
Überzeugung unzweifelhaft daraus hervor. Wenn er sagt, daß Hand. Selbstverständlich kann man die Dinge auch anders
die vom Aberglauben am meisten angesteckten Gesellschaften ordnen, aber für den Augenblick und in ihrer Art ist diese
die großen Förderer der Kunst gewesen seien, so ist es Kultur, Anordnung unwidersprechlich.
was er diesen abergläubischen Gesellschaften zuspricht, und er Was Ihnen, Romain Rolland, mißfällig daran ist, weiß ich
meint dasselbe wie ich, wenn ich sage, daß Kultur »blutige nicht nur, sondern ich vermag das Wesen Ihres Widerstandes
Wildheit« nicht ausschließe, während Zivilisation die Wild- auch vollkommen zu würdigen. Noch ein anderer fremdländi-
heit sänftige, den Aberglauben aufkläre, die Leidenschaften scher Dichter, der schwedische Akademiker Per Hallström, hat,
entmutige. Kultur ist Bindung, Zivilisation Auflösung. Das in einem Artikel, der auch in deutscher Sprache erschienen ist,
liegt auf der Hand. Wer will mir verbieten, die Dinge so zu
meinen Kriegsaufsätzen die Ehre einer kritischen Analyse er-
sehen, wenn ich sie einmal so sehe? Und nochmals: erweise
wiesen, wenn auch in anderem Sinn und Geiste als Sie: im
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Sinne politischer Sympathie nämlich und im Geiste wesent- dank dem Haß der Feinde, so ganz auf eigene Kraft gestellt
licher Zustimmung. Er sagt jedoch: wie anregend für die Re- war, ohne die Stütze der Phrasen und Formeln, die die Wirk-
flexion die Idee des Gegensatzes von Zivilisation und Kultur lichkeit verdunkeln, aber mit jenem Feuer im Gemüt, das bis
auch sei, so wolle für ihn dieser Gegensatz doch nicht so recht auf den Grund der Lebenswerte brennt und dort Halt findet,
seine Schärfe behalten. Handle es sich hier nicht eigentlich um darum ist es unüberwindlich gewesen.« Wie schön ist das!
ein zusammenhängendes, wenn auch unendlich zusammenge- Und wie wahr! Auf eine vollere, stärkere, reinere Art wahr
setztes Wesen? Und er schlägt vor, dieses Wesen als einen als meine antithetische Wahrheit, — ich sehe es und gebe es zu.
Baum zu symbolisieren, einen Baum mit Blättern und Blüten; Ich fühlte das Bedürfnis und das Vermögen, dem deutschen
dann, sagt er, sei die Kultur die Blüte, die Zivilisation das Heroismus intellektuelle und formelhafte Stützen zu leihen,
Blätterwerk. Eine poetische Art, die Dinge zu sehen, nicht wahr? deren dieser sehr unliterarische Heroismus gar nicht bedurfte
— statt einer intellektuellen. Eine germanische Art. Aber das, und die ihn, hätte er sie angenommen, nur belästigt und ver-
was Leben und Einheit des Baumes ist, fragt Hallström weiter, wirrt haben würden. Ich war witzig, ich war antithetisch, wo
was in der Erde tastet, was zum Licht empor will, in den Blü- es sich um das Leben — ich war französisch, wo es sich um
ten leuchtet, im Sturme kämpft, — wie solle man das nennen? Deutschland handelte. Und eben dieses Franzosentum in mei-
Nicht Zivilisation und nicht Kultur. Und dann spricht er in ner Formulierung der Dinge stieß Sie ab. Denn das Bemer-
starken, innigen Worten, in Worten, werter Herr Rolland, die kenswerte unseres Falles, Herr Rolland, besteht darin, daß
fast die Ihren sein könnten, vom Urquell, von der Synthese, Sie Germane genug sind, um sich gegen bloß glänzende For-
vom Leben selbst, in dessen Tiefen und dunkler Gewalt die meln und Antithesen aufzulehnen, während ich Franzose und
mystischen Größen, die ich mit Recht in der Formel meiner lateinischer Sophist genug bin, um davon fasziniert zu werden.
Nation betont hätte, ihr Wesen hätten. »Sie werden an den Glauben Sie nicht, daß diese Faszination sehr nachhaltig
Tag gezwungen«, sagt er, »in Völkern wie in Individuen, sein wird! Daß ich der Mann bin, mein Leben lang eine in-
wenn der Druck zu hart wird und sich der Grenze dessen tellektuelle Formel anzustarren, wie der indische Heilige seinen
nähert, was das Leben zu ertragen vermag. Sie sind unermeß- Nabel! Ich bin nicht dieser Mann. Ich bin kein Systematiker,
liche Werte, und sie werden nur um den höchsten Preis er- kein Doktrinär; ich fröne nicht dem schändlichen Irrwahn
kauft. Der Krieg ist ein solcher, der Krieg, der die Früchte einer des Rechthabens, und nie werde ich mich mit einer Wahrheit,
ganzen Geschichte und die höchsten Güter eines ganzen Staats- die ich für die Wahrheit erachte, zur Ruhe setzen, um für den
wesens bedroht, ja seine Existenz selbst. Das einfachste Herz Rest meines Lebens davon zu zehren. Daran hindert mich
faßt da, was es gilt .. .« Das einfachste. Ich sei zu uneinfach, Neigung zum Überdruß und zum Ekel und ein allzu lebhaftes
zu romantisch, problematisch und scharfsinnig gewesen, sagt Bedürfnis nach neuer, frischer und erfrischender Wahrheit.
Hallström, in meiner Grundauffassung des deutschen Herois- »Jeder unserer Gedanken ist nur ein Augenblick unseres Le-
mus, denn dieser sei eines ganz unmittelbaren und warmen bens .. . Wozu nützte uns das Leben, wenn nicht, um täglich
Verständnisses sicher. »Er war die aus bitterer Not und Gefahr Herz und Gedanken weiter zu machen?« Sie haben recht! —
hervorgezwungene Klarheit einer gehaltvollen und mächtigen Aber haben Sie unbedingt recht? Oder ist nicht vielleicht der Ge-
Natur über sich selbst, über die innersten Bedingungen des danke, daß die Wahrheit nur eine Augenblickserfahrung sei,
Lebens und ihre eigene Stärke. Daraus ward der Sieg geboren, ein sehr westeuropäischer, bindungsfeindlicher, zersetzungs-
und darin wird er Bestand haben. Gerade weil Deutschland, freundlicher, mit dem Nichts liebäugelnder Gedanke, ein Ge-

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danke des westlichen Individualismus, ein Gedanke der licher ›Befreiung‹ der Menschheit beklagen mag, ohne damit
›Zivilisation‹ und ein im höchsten Grade, im tiefsten Sinne gegen die sendungsvolle Eigenart und Majestät deutschen
widerdeutscher Gedanke? Geistes, die sich darin offenbart, das geringste auszurichten.
»Ich fragte Goethe«, erzählt Eckermann, »welchen der neue- Mir ist also, als reihe die Tat des bismärckischen Deutschland
ren Philosophen er für. den vorzüglichsten halte. ›Kant‹, sagte von 1914, sein Einschreiten gegen die völlige Liberalisierung,
er, ›ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch der- Zivilisierung, Literarisierung der Welt, dieses Einschreiten
jenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat, und die aus erhaltendem, aufhaltendem, sozialem Instinkt, aus Willen
in unsere deutsche Cultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat zur Bindung, zum Kultus und zur Kultur, — als reihe dieser
auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt Krieg sich den früheren deutschen Taten folgerecht und charak-
brauchen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, teristisch an . . . Nein, mir ist nicht nur so, es ist so, und noch-
besitzen Sie schon.‹« — Nun, auch auf mich hat Kant gewirkt, mals : im Grunde herrscht allgemeine Einhelligkeit über diese
einfach weil ich ein Deutscher bin; auch ich besitze, was er mir Bewandtnis. Was bedeutet es denn, daß alle konservativen
geben konnte, ohne ihn je gelehrterweise studiert zu haben. Elemente der Welt, in Madrid, Rom, Athen, Bukarest, Stock-
Und da ist mir denn nun, als sei der gegenwärtige Krieg, der holm, St. Petersburg geheim oder offen mit Deutschland sym-
gewiß, von einer Seite gesehen, ein Krieg um Macht und Ge- pathisieren, während aller Liberalismus uns haßt wie die
schäft, von der anderen gesehen aber ein Krieg zwischen Ideen Pest? . . . »Der Deutsche ist konservativ«, sagte Wagner . . .
ist, in rein geistiger Sphäre schon einmal geführt worden; als Nein, ich starre nicht abgöttisch eine intellektuelle Formel an.
habe sich der deutsche Geist schon einmal »mit tiefem Ekel«, Ich genuflektiere vor keinem ›Idol‹. Ich wünsche nicht mit
wie Nietzsche sagt, gegen die »modernen Ideen«, die west- Phrasen und Antithesen die Wirklichkeit zu verdunkeln. Was
lichen Ideen, die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts, gegen aber aufs lebendigste wahr, aufs wirklichste wirkend ist an
Aufklärung und Auflösung, Zivilisation und Zersetzung er- dem Gegensatz von »Zivilisation« und »Kultur«,— wie wollen
hoben, und als sei eben Kant es gewesen, in dem sich der so- Sie, Romain Rolland, mir verwehren, dieses zu sehen und aufs
ziale, erhaltende, aufbauende, organisatorische deutsche Geist lebendigste zu empfinden? Wie wollen Sie mich hindern, den
gegen den westlichen Nihilismus erhoben habe, nachdem er Begriff der Kultur mit dem der Moral in Verbindung zu brin-
selbst durch alle Tiefen der wertauflösenden Skepsis hindurch- gen (ich tat es sofort in jenem rasch improvisierten Aufsatz
gegangen. Als habe er die Frage, ob Wahrheit mehr sei als vom Herbst 1914) — da doch allerdings, wie schon Schopen-
eine Impression und eine Augenblickserfahrung (er sprach auf hauer in seiner Ästhetik bemerkt, die Vorzüge der deutschen
seine furchteinflößende Gelehrtenart von der »Möglichkeit Nation, wie die ihrer Kunst, vorwiegend moralischer Art sind,
synthetischer Urteile a priori«), in militaristischem Kommando- im Gegensatz zum Intellektualismus der westlichen Zivilisa-
tone bejaht, — denn was ist sein »kategorischer Imperativ« tion? Oder mich als Tollen verschreien, wenn ich sage, Frie-
anderes, als die Statuierung der Wahrheit als Verpflichtung, densliebe und Kriegertugend seien darum in der Natur der
der Verpflichtung als Wahrheit? Mir ist, als sei dies kriegerisch- Deutschen so wohl vereinbar, weil ihr Soldatentum nicht aus
kategorische Einschreiten Kants gegen die völlige Liberalisie- Gloiresucht entspringe, nicht Ausdruck einer kecken, brillanten
rung der Welt ganz nahe verwandt einer anderen gewaltig und bravourösen Rauf- und Attackierlust sei, wie ehemals das
aufhaltenden und wiederherstellenden deutschen Tat: derjeni- der Franzosen, die von Hause aus ein viel kriegerischeres Volk
gen Luthers, — welche man ebenfalls im Interesse fortschritt- sind als die Deutschen und deren innere Politik beständig

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von der Furcht vor irgendwelchem Säbelcäsarismus beherrscht Wieso, nach Klarheit über sich selbst zu ringen. Vorderhand
ist, — sondern moralischen Wesens, ein Heldentum im Namen war es vorbei mit dem bloßen Sein, dem Sein durch die Kunst;
der ›Not‹, eben jener ›heiligen Not‹, in deren Zeichen vom es galt zu wissen, es galt ein Sein auf Grund des Gedankens.
ersten Augenblick an für die Deutschen dieser Krieg stand, Dies wurde in jenen Tagen Gewissenspflicht für ein ganzes
und die mit ›nécessité‹, Herr Rolland, sehr kümmerlich über- Volk; es wurde Gewissenspflicht auch für den einzelnen, sich
setzt ist, da das Wort ›Not‹ etwas mehr bedeutet als ein unter den tumultuösesten, der Kontemplation ungünstigsten
trocknes Vernunftanerkenntnis: das höchste schöpferische Pa- Umständen ein Sein auf Grund des Gedankens zu schaffen.
thos nämlich, — ›Not‹ war das Lieblingswort Richard Wag- Glich nicht Deutschland einem Manne, der, gezwungen, aus
ners. — Das alles, mein Herr, sind weder Flausen, noch Prah- allen Leibeskräften eine Übermacht von Feinden abzuwehren,
lereien, noch Sophismen, noch Verrücktheiten, sondern es sind die ihm nach dem Leben trachten, gleichzeitig alle seine Gei-
seelische Tatsachen, die Grundtatsachen dieses Krieges, die man steskräfte in sich kehrt, mit nach innen gerichtetem Blicke
weder mit philanthropischen Tränenströmen hinwegschwemmt, ficht? »Der Druck«, schreibt Hallström, »den der erfindungs-
noch durch unwürdig grobe Schimpfreden aus der Welt schafft. reiche Haß des Feindes und seine behende Lügenhaftigkeit auf
Vermittelst ausführlicher, tastender und grüblerischer Selbst- die größte Nation der Gegenwart konzentriert hat, muß für
gespräche wurde die Nation sich ihrer bewußt, in Tagen, da jeden Deutschen schwer zu tragen gewesen sein.« Kein Wort,
ihr ein furchtbarer Zwang Klarheit, Selbstbewußtsein, das kein Laut in Ihrem gepriesenen Au-dessus-Buche, Romain
Verständnis ihrer Bestimmung zur Lebensbedingung machte, Rolland, gibt Kunde davon, daß eine Ahnung dieser nach-
— und ich möchte wohl wissen, warum nicht auch ich mir auf denklichen Sympathie Sie je auch nur berührte. Sie gehören
meine Art ihrer hätte bewußt werden dürfen, warum nicht der beliebtesten, verhätscheltsten, einleuchtendsten Nation der
auch ich mein Denken und Trachten in den Dienst deutschen Erde an, und Ihr sanftes Herz schlägt hoch in der patriotischen
Selbstverständnisses, einer positiven deutschen Selbstkritik Überzeugung, daß Frankreich »mit reinen Händen und un-
hätte stellen dürfen. schuldigen Herzens« kämpfe und sein Leben für die göttliche
Gerechtigkeit in die Schanze schlage. Frankreich! Aber kein
Erinnern Sie sich, verehrter Herr Rolland, einer kleinen
Wort weiter. Es gehört nicht zu meiner Aufgabe, Ihnen aus-
Studie über zwei deutsche Schriftsteller — Emil Strauß und
einanderzusetzen, daß Frankreichs Hände nicht rein sind, und
mich —, die eines Tages — niemand dachte an Krieg — in einer
daß »Unschuld« nicht Schuldlosigkeit ist. Deutschland war nie
Ihnen nahestehenden Zeitschrift, dem ›Effort libre‹, erschien?
»unschuldig« genug, sich schuldlos zu wähnen. Es schien ihm
Es stand darin über mich ein Satz, den ich damals mit dem
duckmäuserisch, durchaus nicht schuldig zu sein, nicht schul-
Bleistift angemerkt und jetzt wieder aufgesucht habe. »Car il
dig werden zu wollen. Es hat, ohne sich frömmlerisch zu sper-
est plus Allemand et moins Latin que vous ne pourriez le
ren, seinen Teil von tragischer Schuld an diesem Kriege wie ein
croire de premier abord«, stand da. »C'est là son originalité.«
Mann auf sich genommen; denn seine Bildung setzte es in den
Diese Eigenart, die damals eine so friedlich-sachliche Feststel-
Stand, Tragik zu sehen, wo ihr anderen eine sentimental-mo-
lung erfuhr, war lange eine latente Eigenart, eine Eigenart des ralische Affäre und ein Melodrama saht oder zu sehen euch
Seins, kaum auch des Wissens gewesen, hatte nur unwillkür- einredetet. Es hat bitter der psychologischen Tartüfferie gelacht,
lichen, mittelbar-künstlerischen Ausdruck gefunden. Auf ein- welche zwischen ›Defensive‹ und ›Offensive‹ säuberlich unter-
mal, im Hochsommer 1914, wurde sie akut, wurde sie Wissen, scheidet, es hat gewußt, daß zwischen frivolem ›Angreifen‹
trat ins bewußte Gefühl und begann nach ihrem Woher und
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und schicksalsmäßigem ›Im Angriff sein‹ ein Unterschied ist, Frankreichs Bestehen nicht davon abhing, ob es den jüdischen
in tiefster Seele gewußt, daß es sich nicht nur in unschulds- Hauptmann endlich freisprach oder zum ich weiß nicht wie-
voller Verteidigung, sondern auch in notvoll schöpferischem vielten Male verurteilte; daß aber Deutschland mutmaßlich
Angriff befinde, — während Frankreich, das Frankreich überhaupt nicht bestünde, wenn Friedrich nicht in Sachsen ein-
Poincaré's und Eduards VII., das Frankreich des russischen gerückt wäre, und daß es heute vielleicht nicht mehr in der
Bündnisses, das Frankreich, welches Juli 1914 auf Deutsch- Lage wäre, sich seiner unsterblichen Seele zu erfreuen, wenn
lands letzte, entscheidende Frage, was es zu tun gedenke, ge- es August 1914 nicht ähnlich gehandelt hätte. Aber diese Ein-
antwortet hat, es werde »nach seinem Interesse« handeln: wände sind offenbar hinfällig, und Frankreich, das »nach sei-
während dieses Frankreich sich in eitler Unschuld wiegt und, nem Interesse handelte«, belehrt das Volk Schillers durch Ihren
um sich der Tapferkeit seiner Soldaten zu versichern, ihnen Mund, daß nicht das Leben der Güter höchstes ist. Hoch über
vorlügt, sie müßten Frankreichs Boden befreien, — als ob die- dem Gemenge stehend finden Sie, daß die Denker Deutsch-
ser Boden nicht geräumt sein würde in dem Augenblick, wo lands brav für das sterbliche Teil ihres Landes fechten, sich um
man Deutschland zu leben gestattet. Frankreich unschuldig! sein ewiges Leben aber nicht weiter beunruhigen. Mit einem
Frankreich unkriegerisch! Sein friedlichster, geistigster Sohn Worte, es fehlt uns an Gewissen. Sie haben die Unparteilich-
noch ist mehr auf die militärische Ehre des Vaterlandes be- keit, zu behaupten, es fehle Deutschland an Gewissen, — dem
dacht als bei uns die Generalstäbler, — ja, Ihnen, Rolland, dem Volke, das um des Gewissens willen dreißig Jahre lang blutete
Philanthropen und Pazifisten, könnte ich nachweisen, daß Sie und an sein irdisches Heil nicht dachte, während unterdessen
die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit, die nach ihr anderen wurdet, was ihr heute seid. »Es sind fünfzehn
der Einsicht Einsichtiger den Krieg und nichts anderes bedeu- Jahre«, schreiben Sie, »daß jener berühmte Prozeß spielte, in
tete, privatim verteidigt und gebilligt haben, weil Frankreichs dem man einen einzelnen unschuldigen Menschen der Staats-
Ehre sie fordere, weil Frankreich stark sein müsse, um den macht entgegengesetzt sah. Damals haben wir, wir Franzosen,
Frieden wollen zu dürfen . . . Genug! Genug! dem Idol des Staatswohles die Stirn geboten und es zerbro-
An jener Stelle, wo der Schwede von dem Druck des Hasses chen, da es das ewige Heil Frankreichs bedrohte.« Großes
spricht, der sich auf Deutschland versammelt habe, fügt er hin- Frankreich! Es hat zwar damals das Idol des Salut Public nur
zu, daß meinesgleichen nicht so einfach gegen die widrige Ab- recht symbolischerweise zerbrochen, — aber immerhin, es tat
surdität hätte reagieren können; meine Natur, sagt er, habe so. Es war für Frankreich nicht ganz so gefährlich, den Juden
mich gezwungen, das Wie und Warum vernunftgemäß zu er- zu rehabilitieren, wie es für Deutschland gefährlich gewesen
gründen, und daraus sei »ein sehr interessanter Entwurf zu wäre, die heilige Neutralität Belgiens zu wahren — (wo wäre
deutscher Seelengeschichte in ihrer Eigenart geworden«. Nicht sie heute?); allein »le geste était beau«. Wollen Sie glauben,
das ist es, was nach Ihrer Meinung daraus hätte werden dürfen. verehrter Herr Rolland, daß die Prahlerei mit der generösen
Nicht moralisch — ich hätte tugendhaft sein müssen. Ich hätte Tatsache, daß Hauptmann Dreyfus nur zwei- oder dreimal
gegen das ›belgische Verbrechen‹ protestieren müssen, denn und nicht auch zum dritten oder vierten Male um des Staats-
wahrhaft groß, sagen Sie, seien nur die Völker, die gegen die wohles willen unschuldig verurteilt wurde, mich ein wenig
Doktrin des Staatswohles ihre unsterbliche Seele verteidigen. anmutet wie gewisse Reklame-Reden des Herrn Theodore
Wie welches Volk es getan habe? Wie Frankreich es im Drey- Roosevelt, worin er die Abschaffung der amerikanischen
fus-Prozeß getan habe! Man könnte darauf erwidern, daß Negersklaverei im neunzehnten Jahrhundert mit klaffendem

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Mundwerk als eine sittliche Ehren- und Wundertat sonder- und der Gerechtigkeit also hat Deutschland ernsthafter, prak-
gleichen feierte? Meinen Sie nicht, daß Handlungen, wie die tischer, wirklicher gedient, als ihr mit der Renommiergeste
Freisprechung eines offenbar fälschlich Verurteilten und die eurer Affäre, — eine Erwiderung dies, kein Angriff; eine Fest-
Beseitigung einer skandalös gewordenen sozialen Rückstän- stellung zur Abwehr euerer stets aggressiven Tugendprahlerei.
digkeit, recht leise, bescheiden und in verschämter Stille ge- Dreyfus freigesprochen? Aber er ist verurteilt worden! Er
schehen sollten, statt mit moralischen Posaunenstößen der ist endgültig zum ich weiß nicht wievielten Male verurteilt
Welt als Großtaten zum ›Heile der Menschheit‹ verkündigt worden, und zwar in dem Augenblick, als Frankreich die Ant-
zu werden? Kelto-romanischer Stil! Der rhetorischen Tugend wort gab, es werde »nach seinem Interesse« handeln. Wie,
ist Humanität nicht selbstverständlich. Sie ist ihr eine Helden- wenn es geantwortet hätte: »Wir sind das russische Bündnis
leistung, die ohne Ende zu Kultur-Propaganda-Zwecken her- eingegangen, um uns vor Angriff zu schützen und dem Erd-
halten muß und für die man die Bewunderung des Erdkreises teile den Frieden zu wahren. Wenn aber Rußland gegen Europa
heischt. marschiert, so stehen wir zu Europa« ? Der Krieg wäre zu Ende
Die Dreyfus-Affäre war ein geistreicher Zank und Stank, wie gewesen. Statt dessen traten die französischen Sozialisten ins
Deutschland, es ist wahr, bisher noch keinen hervorbrachte. Ministerium und sanken damit, wie Paul Lensch in seinem
Deutschland wird schon nachkommen; der Zivilisationsliterat Buche schreibt, »zu Hehlern und Helfershelfern jener inter-
wird das Seine tun. Aber können wir dafür, daß sich unter nationalen Mörderbande herab, die ihre Spitzel in allen Haupt-
unseren Offizieren keine Verräter befinden und daß die fran- städten hat«. Dreyfus wurde verurteilt in der Stunde, da
zösische Staatsantithetik von Säbel und Kirche auf der einen Jaurès fiel, und er bleibt verurteilt, solange die französischen
und der ›Gerechtigkeit‹ auf der anderen Seite, von Geist und Sozialisten ihrer Regierung Mordhehlerdienste leisten. Frank-
Macht, Tugend-Republik und dem Salut Public der Feder- reich schuldlos! Aber nun wirklich kein Wort weiter.
büsche uns gar nichts angeht? Sie geht uns nichts an! Ver- Ginge es nach Ihnen und Ihrer Au-dessus-Meinung, Herr
stehen Sie das? Wir können an den Affären, die euch aus die- Rolland, so wäre Frankreich nicht nur ohne politische Schuld
ser Antithetik erwachsen, intellektuell teilnehmen, aber unsere am Kriege, es hätte sich auch geistig während des Krieges in
eigene Sittlichkeit berühren sie nicht! Die arrogante Einfalt, der edelsten Abwehr befunden. Sie gestehen zwar: »Ich bin
mit der ihr anderen Völkern euere Denk-Schemata unterlegt, nicht stolzer auf die französischen Intellektuellen. Der Miß-
uns nach eueren Wertmaßstäben beurteilt, — wie wäre es, wenn brauch, den sie mit dem Idol der Rasse, der Zivilisation, der
ihr euch ihrer endlich entschlügt? Moral! Innere Politik! Aber Latinität treiben, bereitet mir keine Genugtuung.« Aber Sie
sollte die Berechtigung zu äußeren Abenteuern, zum Kriege, nennen keinen Namen, Sie fallen niemanden mit »monstrueux«
nach den inneren Zuständen eines Landes zu bestimmen sein, und »délire de fanatisme« an, Sie mäßigen sich bewunderungs-
danach also, wie weit es vor allem einmal mit seinem sozialen würdig, wo es sich um Ihre Landsleute handelt, und üben
Gewissen in Ordnung ist; so hätte Deutschland das Recht zum Strenge nur gegen die deutsche Kriegsbetrachtung, deren Er-
Kriege vor Frankreich, England, Italien, geschweige vor Ruß- gebnis doch keinesfalls war, daß die Franzosen »stinkende
land. Denn lebendiger am Werke als sonst überall war hier Tiere« und eine endlich auszutilgende Rasse seien, — während
der Glaube an die Würde des Staates, an seine sittliche Be- die französische fast ohne Ausnahme zu diesem Ergebnis in
rufenheit, die Auffassung des Staates als einer Anstalt zum bezug auf uns gelangte. Ach, wie wenig verdienen Sie das
Schutze sozialer Gerechtigkeit. Dem ›Inneren‹, dem Gewissen Brandmal des enboché, wie wenig das Exil! Wie maßvoll ist
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Ihre Gerechtigkeit! Welch ein unduldsames Land ist das, dem tion, als Beschützer der Lutheraner, Straßburg und Holland
Sie von Genf aus den Brief schreiben mußten ›A ceux qui griffen sie an im Namen der absoluten Monarchie, Spanien,
m'accusent‹! »Ich liebe überhaupt kein Idol«, erklären Sie Neapel und Lothringen gewannen sie im Namen der Legiti-
tapfer, »— nicht einmal das der Menschlichkeit.« Sie fügen mität, und endlich Holland, die Niederlande, das ganze linke
jedoch hinzu: »Wenigstens aber bieten die Idole, denen die Rheinufer vereinigten sie oder verbündeten sie wenigstens
Meinen fronen, weniger Gefahren dar; sie sind nicht aggres- aufs engste mit Frankreich im Namen der Freiheit und des
siv.« — »Elles ne sont pas agressives«! Es steht so da und es republikanischen Prinzips. Viermal wechselten sie das Prinzip,
bleibt stehen, auch nachdem man sich die Augen gerieben. Die aber mit jedem stahlen sie uns ein Land weg.« Es ist eine Lüge,
Ideen und Idole Frankreichs nicht aggressiv! Ei, und die Her- daß die revolutionären Tugend-Prinzipien der Freiheit, Gerech-
ren Intellektuellen in Paris hätten diese Ideen und Idole wohl tigkeit, Menschlichkeit, gehegt von Frankreich, einen minder
lediglich gegen freche Herausforderungen und Beschimpfun- aggressiven Charakter trügen als irgendein früheres. Sie schät-
gen von unserer Seite verteidigt? Ihre Haltung in diesem zen Max Scheler? Zum mindesten zitieren Sie ihn. »Die Gleich-
Kriege wäre alles in allem diejenige würdigster Überlegenheit heit der Nationen und ihre Gleichwertigkeit«, sagt er in einer
gewesen? — Die französischen Intellektuellen, mein Herr, haben Studie ›Über die National-Ideen der großen Nationen‹, »das
sich wie die Narren aufgeführt, das ist die Wahrheit; und ver- ist Frankreichs nationaler Demokratismus und gleichzeitig sein
glichen mit dem rasenden Unsinn, den sie gegen Deutschland weltanschaulicher Stabilitätsgedanke — derselbe, der seine ge-
ausspieen, war unsere ganze »Kriegsliteratur‹, mein bißchen samte Philosophie und Wissenschaft durchwaltet. Aber gerade
Kultur- und Zivilisationsspintisiererei mit einbegriffen, nur das nun hält es seit den napoleonischen Kriegen für seine eigen-
harmloses Geplauder. Es gab keine sichtbare Ausnahme. Ich tümliche höchstnationale Mission, diese spezifisch französi-
weiß wohl, daß es illoyal ist, sich der Kritik zu bedienen, welche schen Ideengehalte der ›Menschenrechte‹ und des historischen
die Nationen durch ihre Schriftsteller an sich selber üben, aber Stabilismus nicht nur in seinen Grenzen zu verwirklichen,
es war unmöglich, sich nicht der Voltaire'schen Definition des sondern sie hinaus in die Welt zu tragen, die Welt und alle
Franzosen als einer Kreuzung aus Affe und Tiger zu erinnern. anderen Nationen damit zu erfüllen. Diese Mission aber ist
Europas weisester Greis, Anatole France, wo war sein Wissen, ihm umkleidet mit dem ganz eigenartigen gallischen Wert-
sein Zweifel, seine radikale Freiheit? Das Melodrama ergriff charakter des nationalen Ruhmesglanzes. Der Ruhm (gloire)
Besitz von seinem feinen Hirn, und er geiferte. Nicht aggressiv also eines ›Führers‹, ›Lehrers‹ und ›Erziehers‹ der Menschheit
— die französischen Idole! Aber die Geschichte, Herr Rolland, — das ist Frankreichs nationale Missionsidee. Daß gerade die-
lehrt, daß die französischen Idole und Prinzipien überhaupt ser Anspruch und Gedanke seinen Träger bis zum äußersten
immer nur dazu da waren, um die französische Aggressivität aggressiv und kriegerisch macht, aggressiv gegen alle Völker,
zu decken! Moltke sagt es in seinem Aufsatz über ›Die west- die eine andere, von Frankreich mißachtete Selbstauffassung
liche Grenzfrage‹ vom Jahre 1841. »Unter wieviel falschen ihrer Mission haben oder kraft eigenen nationalen Geistes sei-
Vorwänden«, sagt er, »für welche ganz entgegengesetzten ner Führerschaft sich nicht unterwerfen, das übersieht Frank-
Prinzipe waren die Franzosen nicht schon zu uns gekommen, reich von jeher in der denkbar naivsten Weise.« —Ist Unschuld
um uns unter der Maske von Hilfeleistungen zu berauben! Schuldlosigkeit? Ich meine jene Unschuld, sanfter Meister, die
Burgund entrissen sie uns im Namen des Papstes, die lothrin- aus Ihrem wohllautenden Bekenntnis spricht: »Je n'ai jamais
gischen Bistümer und das Elsaß im Namen der Reforma- pu distinguer la cause de la France de celle de l'humanité.«
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Von wem glaubten Sie wohl zu reden, als Sie mich dem die Waage zu halten. Die Internationalität des Kapitals und des
internationalen Publikum als kriegstoll meldeten? Vielleicht war Sozialismus, die merkantile Verfilzung Europas, die herrschen-
ich nicht Pazifist gewesen, nein, das nicht. Der Pazifismus war den zivilen Ideale des ›Verkehrs‹ und der ›Sicherheit‹ schienen
mir eine Puschel gewesen wie eine andere, ein Steckenpferd mir den Krieg für die Dauer des jetzigen Weltzustandes un-
für Leute, die nichts anderes zu tun haben, als große, wohl- denkbar zu machen. Was mich persönlich betrifft, so war ich ein
feile Steckenpferde zu reiten. Ich fand es oberflächlich, mania- bürgerlicher Künstler gewesen, national bis zu einem gewissen
kalisch und kindlich, die Welt aus dem Punkte des militäri- Grade, gewiß, aber viel zu urban und auch viel zu kosmopolitisch
schen Friedens kurieren zu wollen; ich glaubte nicht, daß das umgetan, um in Zeiten friedlicher Arbeit mit dem Nationalen
Leben je friedlich sein könne, und auch nicht, daß die liebe einen trumpfenden Unfug zu treiben. Mein Gott, ich gehörte
Menschheit in ewigem Frieden sich wesentlich schöner ausneh- sogar einer deutsch-französischen Verständigungsgesellschaft
men werde als unter dem Schwerte. Solange die Menschheit ›Pour mieux se connaître‹ an! Das Gerassel der ›Alldeutschen‹,
nicht, dachte ich, in weißen Gewändern, Palmzweige in den soweit es überhaupt zu mir drang, war mir ein Unfug und ein Ge-
Händen und literarische Stirnküsse tauschend umherwallt, wird lächter gewesen, nicht weniger als hoffentlich Ihnen das Pfau-
es wohl dann und wann Krieg geben auf Erden; solange sie chen der Patriotenliga. Ich hatte verstimmt die Achseln gerückt,
Blut in den Adern hat, dachte ich, und nicht lindes Öl, wird wenn Herr Harden den Präventivkrieg predigte... Da kam der
sie es wohl vergießen wollen dann und wann. Also, nicht Pa- Krieg. Kein politischer Krieg, meiner Einsicht nach. Nicht jener
zifist hatte ich mich nennen dürfen. Aber friedlich war ich ge- Präventivkrieg, zu dem Deutschland eine günstige Gelegenheit
wesen, bestimmt nicht weniger friedlich als Sie, Herr Rolland, nach der anderen verpaßt hatte. Sondern der Krieg im letzten
und obgleich ich die friedliche Durchdringung Marokkos erlebt und äußersten Augenblick, ein moralischer Krieg, wenn anders
hatte, gegen die Sie meines Wissens nichts zu erinnern fanden; überhaupt der Selbsterhaltungswille der Staaten moralisch ge-
den Burenkrieg, während dessen ich unmoralisch genug war, nannt werden darf. Die physische Gefahr war entsetzlich, aber
gut englisch zu sein, da ich fand, daß England wichtiger sei sie hätte mich nur geängstigt, meine nationale Teilnahme wäre
als die Burenrepublik; die abessinische und die lybische Ex- passiv sorgend geblieben, wenn der Krieg nur im Physischen
pedition, den amerikanisch-spanischen, den japanisch-chinesi- gespielt hätte. Was mich in Aktion versetzte, war die Empö-
schen, den russisch-japanischen Krieg und die Balkankriege: rung meines Gerechtigkeitsgefühls. Es schien, als ob meinem
so hätte ich doch Haus und Heim verwettet, daß ich und meine Lande nichts übrigbleiben solle, als unter dem Haß und der
Welt den europäischen Krieg nicht sehen würden. Ich leugne Verachtung der Welt zu verschwinden: das war Dummheit,
nicht, daß ein Gran Verachtung und Selbstverachtung dieser Heuchelei und Wahnsinn. Ich wußte aus meinem Schopenhauer,
unerschütterlichen Überzeugung beigesetzt war. Nein, ich und und meine eigene Welterfahrung hatte es mir bestätigt, daß
meine Welt, wir würden den Krieg nicht sehen . . . Die Ermor- international die Gewalt herrscht und nicht das Recht. Würde
dung des Erzherzogs, die vielen Alarm bedeutete, genügte es je anders werden? Vielleicht. Was könnte ich dagegen ha-
nicht, mich irrezumachen. Die Erklärung des Kriegszustandes, ben. Solange es aber so war, blieb es ein so empörender als
noch der Mobilmachungsbefehl genügte nicht dazu. Pression alberner Schwindel, ausgemacht Deutschland als Sündenbock
und Gegenpression, sagte ich; ihr werdet sehen, es kommt zu in die Wüste zu schicken, nur weil es in seinem Denken und
nichts . . . Wie hätte ich anders denken sollen? Die internatio- auch Reden redlich-pessimistischer, weniger herzerhebend-rhe-
nalen Tendenzen der Zeit schienen mir den nationalen vollauf torisch gewesen war als die anderen. Nicht, weil ich so etwas

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wie ein Deutscher bin, empörte mich dieser schamlose Tugend- und kolonialem Gebiet dasselbe Schicksal zu bereiten wie
Humbug, sondern weil ein ganz primitives, ungekünsteltes, denen von früher. Ich sah freilich auch, daß der deutsche Zivili-
unverdrehtes Gefühl für Recht und Billigkeit in mir lebt. Ich sationsliterat den Lügen-Idealismus der Feinde stockernst nahm;
sah Deutschland nicht schuldiger als die anderen, ich sah wohl daß keine Dummheit oder Infamie ihm zu schlecht war, sie
den Einschlag von Aggressivität in seiner Erhebung, aber ich auch seinerseits aufzunehmen, mitzusprechen und gegen sein
fand das gleiche Maß davon bei den anderen, ich sah die an- Land zu richten. Aber warum, fragte ich mich, immer nur gegen
deren genau ebenso willens und bereit, Geschichte zu machen, das eigene Land? War das Gerechtigkeit? War es nicht recht
wie Deutschland. Die ekelhaft politische Ausbeutung des ›bel- uneuropäisch, auch in diesem europäischen Augenblick, Mo-
gischen Verbrechens‹ drängte mich enger an Deutschland. Ich ral und Gewissenhaftigkeit so ganz nur gegen das eigene Land
sah, daß jedermann, auch Jaurès, den Durchmarsch von jeher zu kehren und alle übrigen völlig zu vernachlässigen? — Ich
als das Selbstverständliche und einzig Vernünftige betrachtet vergaß nicht ganz, auf die Freiheit meines Geistes bedacht zu
hatte, — als ebenso selbstverständlich, wie daß im Falle des sein. Zu einem Zeitpunkt, als die Wogen der nationalen Be-
deutsch-englischen Krieges die nicht minder ›unrechte‹ Blockade geisterung am höchsten gingen, gab ich mich leidlich unabhän-
erfolgen würde. Ich sah, daß weder England noch Frankreich gigen Gedanken über ›Defensive‹ und ›Offensive‹ hin, die ich
zur Erhaltung des Friedens in St. Petersburg irgendeinen Schritt in meiner Schrift über Friedrich den Großen niederlegte, und
unternommen hatte, der dem,von Deutschland auf Wien aus- die neutrale Zuschauer, Schweizer und Schweden, zur Aner-
geübten Druck entsprochen hätte. Ich sah, daß die Pariser Re- kennung meines Gerechtigkeitswillens bestimmten. War ich
gierung ihrem Volke die Tatsache der russischen Mobilmachung deutscher, Romain Rolland, als Sie französisch waren? Nein.
unterschlagen hatte, weil die Republik zu ihrer ewigen Befesti- Aber das Bemerkenswerte unseres Falles besteht darin, daß
gung Elsaß-Lothringen hatte zurückerobern wollen, und ich das bescheidene Maß von Freiheit, welches Sie in ›Au dessus
sah den Eintritt der französischen Sozialisten in diese Regie- de la mêlée‹ bekundeten, viel Wut unter den Ihren gegen Sie
rung. Niemals, auch als die ›piazza‹ noch nicht das Gegenteil aufregte, während ich, bei mir zu Hause, Wut und Verachtung
bewiesen hatte, war ich Literat genug gewesen, an die Rein- mir zuzog durch das äußerst bescheidene Maß von Chauvinis-
heit, Unschuld und wesentliche Friedfertigkeit der Demokratie mus, das ich in ›Friedrich und die große Koalition‹ an den
zu glauben. Ich hatte von Entente-Plänen zur Aufteilung Öster- Tag legte. Das ist der Unterschied zwischen Frankreich und
reichs, von Jean Jaurès' angstvollem Kampf gegen die franzö- Deutschland.
sische Kriegspartei, von Morels Anklagen gegen die bösartige
Marokko-Politik des Foreign Office gehört; ich hatte vom Wesen Mehr als befreundet, weniger als Freund . .. Nicht der Fremde,
und Endsinn des Pariser Russengeschäftes dies und jenes be- nicht der ›Feind‹ war es, der gegen die Position, in welche
griffen und mußte oder durfte mir sagen, daß zu dem Zeitungs- die Zeitereignisse mich drängten, diese Gefühlshaltung, die zu
typus des ›Matin‹, des ›Journal‹ und der Northcliffe-Presse in erklären — nicht zu rechtfertigen, denn das Gefühl ist frei —
Deutschland kein Gegenstück existiere. Ich hatte einiges von dies Buch mir dienen muß, die wütendsten Angriffe gerichtet
englischer Geschichte gewußt, gewußt, daß Demokratismus und hat. Rolland schalt und klagte mit heftigen Worten, aber er
Imperialismus am wenigsten dort einen Widerspruch bilden, zischte nicht. Er glaubte zur Abschreckung aufzeigen zu müs-
und nicht gezweifelt, daß England auch unter liberaler Regie- sen, was ihm fiebrische Verirrung schien; seine Absicht war
rung trachten müsse, einem neuen Rivalen auf kommerziellem nicht, zu entehren, zu töten — und statt des Entehrten und Ge-
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töteten sich zu insinuieren, mit dem Empfehlungsrufe: »Man symbolisch-politische und zivilisatorische Bedeutung zu; kurz-
achte auf den, der liebt!« Ein solcher Wille und Haß war einem um, sie war ›Neues Pathos‹, politisches Pathos, und man erin-
viel Näheren vorbehalten. Es war der deutsche Zivilisations- nerte sich dabei des Zurufs, den Strindberg an Björnson rich-
literat, der mir das Giftigste und Erniedrigendste gesagt h a t . . . tete: »Sei wahr, Björnson! Du bist unwahr wie ein Festredner!«
War es Gift nur für mich? erniedrigend nur für mich? Es ist Weder eine politische noch eine ästhetische Kritik des be-
seine Sache/darüber nachzudenken, — Sache desjenigen, durch deutenden Werks soll versucht werden. Es ist nicht der Ort,
dessen lateinisch beredten Mund der Zivilisationsliterat zu und es kann zuletzt nicht ausgemacht meine Aufgabe sein, den
mir sprach. Glanz und die Geste, den steilen Dünkel, den hochhysterischen
Anzugeben, welcher Mund das war, lehne ich ab; denn es Haß und die harte ›Menschenliebe‹ dieser doppelsinnigen Bio-
hat eine melancholische und blamable Bewandtnis damit. Der graphie zu würdigen. Durchaus persönlich, durchaus mensch-
Krieg währte noch nicht lange, als in einer Zeitschrift eine po- lich habe ich mich gegen sie meiner Haut zu wehren, habe die
litische Dichtung von höchsten literarischen Eigenschaften er- genialischen Albernheiten und rasenden Niedrigkeiten zurück-
schien, die insofern eine gewisse Familienähnlichkeit mit mei- zuweisen, die sie mir nachsagt, oder ins Gesicht sagt: Denn
nem Friedrich-Versuch besaß, als auch sie ihren Zauber, ihre daß es, um ein vergleichsweise harmloses Beispiel zu nennen,
Tiefe darin suchte und fand, das Gegenwärtige und das Ver- ein rhetorischer Plural ist, wenn darin von »jenen Tiefschwät-
gangene sich ineinander spiegeln zu lassen. Die Rolle etwa, zern« die Rede geht, »die gedankliche Stützen liefern für den
die in meinem Artikel der Siebenjährige Krieg gespielt hatte, Ungeist«, darüber wird jeder Zweifel beseitigt durch den Zu-
spielte hier die Dreyfus-Affäre; als Gegenfigur zu König Fried- satz, »jene Tiefschwätzer« bildeten sich ein, »Erkenntnisse zu
rich erschien hier der französische Schriftsteller, welcher der haben, und jenseits aller Erkenntnisse könnten sie die Ruhm-
handelnde Held jener forensischen Historie war. Der Unter- redner der ruchlosen Gewalt sein«. Das ist dick und deutlich.
schied aber war der, daß, während ich meinen König so natu- Denn an irgendeiner Stelle meines Kriegsbüchleins habe ich
ralistisch schlechtgemacht hatte, daß die Charakterstudie auf mir den Satz zuschulden kommen lassen: »Deutsch ist der ka-
einfältigere Leser als Pasquill wirken konnte, ja, daß sie tegorische Imperativ jenseits der abgründigsten Skepsis.« Nun
entrüstete Gegenschriften hervorrief, — jene Dichtung ihren leugne ich nicht, daß solche Gedanken und Dikta, die typisch
Helden, Emile Zola also, den wuchtigsten Faust- und Machtmen- sind für die hastige Schanzarbeit unserer geistigen Defensive
schen der Kunstgeschichte, einen epischen Giganten von viehi- vom Anfang des Krieges, mich heute schon ein wenig abge-
scher Sinnlichkeit, stinkender Übertriebenheit, unflätiger Kraft, schmackt anmuten. Ist gleichwohl etwas daran? Doch, man-
als »weitesten Geist«, Gerechtigkeitsheiligen und verklärten ches. Ich dachte so damals, und ich kann ganz leicht noch heute
Lehrer der Demokratie (»die Haare im Nacken halb lang«) in so denken:
die politische Bürgerglorie erhöhte. Sie war »Dichtung« leider Nietzsche's Moralkritik im Zeichen des Lebens, dachte ich,
eben damit, daß sie von Wahrheit, von jedem Willen und ist wesentlich gar nichts anderes als Kants »praktische Ver-
Versuch, ihre Liebe in ironische Zucht zu nehmen, von jeder nunft«. Auch in Kants praktischer Philosophie, die nach der
tieferen, strengeren und menschlicheren Gerechtigkeit also theoretischen, radikalen und alles zermalmenden kam, handelt
schrecklich weit entfernt war; ihr Wahrheits- und Gerechtig- es sich nicht mehr um ›Wahrheit‹, sondern um praktische
keitsbegriff war forensisch beschränkt, denn der forensischen ethische Postulate, — um ›das Leben‹. Dieser Wille zur Praxis,
Wahrheit und Gerechtigkeit kam in dem Prozeß, den sie besang, zur Ethik, zum Imperativ, zum Leben jenseits der tiefsten Er-
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kenntnis ist offenbar typisch national; es ist deutsch, den So ward ich ruhiger und kalt zuletzt,
Radikalismus ins Geistige zu verweisen und dem Leben gegen- Und gerne möcht' ich jetzt
über praktisch-ethisch, anti-radikal sich zu verhalten. Dies ist Die Welt, wie außer ihr, von ferne schau'n:
der eigentlich politische Gedanke und Instinkt des unpoliti- Erlitten hat das bange Herz
schen Volkes. Von dieser Denkweise und geistigen Struktur, Begier und Furcht und Grau'n,
diesem zugleich ironischen und kategorischen Begriff der Po- Erlitten hat es seinen Teil von Schmerz,
litik habe auch ich, ohne im mindesten ›Philosoph‹ zu sein, Und in das Leben setzt es kein Vertrau'n;
irgendwie irgend etwas abbekommen; zum mindesten weiß ich Ihm werde die gewaltige Natur
eben genug davon, um ein Recht zu haben, andeutungs- und
Zum Mittel nur,
ahnungsweise davon zu reden. Was aber macht der Dreyfusard
Aus eigner Kraft sich eine Welt zu bau'n.
daraus? Er versteht die Sache so, ich »bildete mir ein, Erkennt-
nisse zu haben, und jenseits dieser Erkenntnisse dürfte ich den
Ich weiß nicht zu sagen, warum ich den Wahlspruch zuletzt
Anwalt von Lüge und Gewalt machen«. Das ist entweder nicht
unterdrückte. Mit inniger Genauigkeit drückt er den Zustand,
intelligent oder es ist nicht nobel. Auf jeden Fall ist es nur ein
das Schicksal früher Weltgerechtigkeit, Werkgerechtigkeit aus,
harmloses Beispiel...
die mit ›Reife‹ wenig und mit minderwertiger Lebensgewandt-
Was gibt es noch? Leidenschaftlichste Dinge! Kaum sind nur heit überhaupt nichts zu schaffen hat. Ich nenne sie ein Schick-
ein paar Worte gefallen, so erscheint schon das schmucke Sätz- sal, eine Gestaltungsform menschlichen Lebens, und nehme da-
chen: »Sache derer, die früh vertrocknen sollen, ist es, schon mit einige Sympathie für sie in Anspruch, gleichviel ob man
zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hin- sie nun als einen Glücksfall oder als ein Verhängnis betrachte.
zutreten.« — Ich gestehe, für einen Dichter der Menschenliebe Ist sie mit Notwendigkeit ein Verhängnis und zahlt es sich
und gelernten Philanthropen ist das alles, was man erwarten teuer, schon früh zur Männlichkeit des Werkes angehalten,
kann. Radikale Polemik darf man das nennen. Es ist ja ein früh, schon als Jüngling, durch ein Werk der Welt gerecht ge-
kleiner Guß Schwefelsäure, en passant dem Nächsten ins An- worden zu sein — in kleinen und mittleren Fällen wenigstens:
gesicht. Wirklich, schon zu Anfang meiner zwanzig Jahre »trat da ja ganz große Fälle, der Fall Goethe's etwa und seines sen-
ich hin«, — nicht sehr bewußt, aber ziemlich weltgerecht, wie sationellen Jugendromans, das Gegenteil zu beweisen schei-
es schien. Nicht selbstgerecht, aber weltgerecht, — so früh. Wie nen? Ist frühes Verdorren der Sold, die Buße, die unweigerlich
kam das? — Es gibt, meint Goethe, für jeden Menschen die
für eine so strenge Schicksalsgunst zu zahlen ist? — Nun, es
Stunde, da er »vertrieben wird aus dem Paradiese der warmen
gibt Formen künstlerischen Verdorrens, die ihre begeisterten
Gefühle, um ein Mann zu sein und im Werke ein neues geisti-
Liebhaber finden und von diesen als das gerade Gegenteil des
ges Paradies zu finden«. Das ist wahr. Die Stunde aber, von
Verdorrens empfunden werden: die Form der politischen Tu-
der Goethe spricht, kommt früher für den einen und für den
gend zum Beispiel, in der das Verdorren Zola's sich abspielte.
anderen später. Ich erinnere mich, daß ich während der Arbeit
Nicht diese ist es, so viel ist sicher, die das Schicksal mir zu-
an ›Buddenbrooks‹ plante, dem Werk als Motto die Verse
gewiesen hat. Wäre sie es, — vielleicht, sogar wahrscheinlich,
Platens voranzuführen:
daß ich Sympathie fände, dort, wo ich jetzt bösen Hohn ernte.
Was ist verdorren? Der Tod ist dem Leben eingeboren, Leben
selbst ist Sterben und dennoch Wachstum zugleich. Im künst-
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krischen Leben zumal sind Wachstum und Verdorren untrenn- den rhetorischen Plural hernieder. Diese Wortführer und An-
bar verschlungen, und spätere Werke mögen gegen die ersten, wälte—sie mögen sich später verantworten, wenn sie können—,
frischen neben Merkmalen des Dorrens bedeutende Vorzüge »das Eine steht fest von vornherein: sie haben es leichter. Ihre
an Geist und Kunst besitzen. Das Leben eines Künstlers, wie Gesinnung verlangt nicht, daß sie Verbannung und Schwei-
sein Werk, ist eine Einheit von vornherein, und wenig ver- gen« (Verbannung? Schweigen?), »daß sie Verbannung und
schlägt zuletzt die Art seines Ablaufs. Die Lust, mit der ich Schweigen ertragen. Im Gegenteil ziehen sie Nutzen daraus,
gewisser Dinge gedenke, die ich noch bilden möchte, bietet mir daß wir andern schweigen und verbannt sind; man hört nur
Gewähr, daß ich auch außer mir, auch in der Menschenwelt sie, es ist ihr günstigster Augenblick. Nicht mehr als mensch-
Lust damit wecken werde. Dennoch ist es sehr möglich, daß ich lich, wenn sie ihn wahrnähmen und ihren vorgeblichen Pa-
zeitig das Beste gab, das zu geben mir vorbestimmt war, — ein triotismus noch lauter beteuerten, als sie es vielleicht tun
Los, das man traurig oder selbst tragisch nennen mag, solange
würden, wenn nicht wir andern damit in Vergessenheit zu
der, dem es fiel, noch lebt und kämpft. Ruhen wir in der
bringen wären. Man müßte sie sich ansehen, ob es nicht auch
Tiefe, so will es nicht viel bedeuten, zu welchem Zeitpunkt wir
sonst schon die waren, die das Profitieren verstanden. Waren
am besten das waren, was wir waren, und unser glücklichstes
sie etwa Kämpfer? Oder lag es vielleicht in ihrer Art, was die
Werk lobt unseren Namen, gleichviel ob es nun am Anfang,
Macht — die Macht der Menschen und der Dinge — herbei-
inmitten oder am Ende unseres zeitlichen Lebens steht. Daß
führte, zum Besten zu wenden, und auch zu ihrem eigenen
auch ein Künstlerleben ein Menschenleben ist, — die Humani-
Besten? Wie, wenn man ihnen sagte, daß sie das Ungeheure,
tät der Arena kümmert es nicht. Ob sie den Triumph des Gla-
das jetzt Wirklichkeit ist« (die Verurteilung Dreyfus'), »daß
diatoren beheult oder mit Neugier und Hohn seinem Erliegen
sie das Äußerste von Lüge und Schändlichkeit« (es ist von der
zusieht: dieselbe Grausamkeit ist in beidem. Aber sollten
Verurteilung des jüdischen Hauptmanns die Rede) »eigenhän-
gleich Gefährdete, Künstler, — sollte ein Künstler gar noch, der
dig mit herbeigeführt haben, — da sie sich ja immer in feiner
›Menschlichkeit‹ zu seinem Panier erwählte, sich die schnöde
Härte dieser Betrachtungsart zu eigen machen? Wäre es wahr, Weise zweifelnd verhielten gegen so grobe Begriffe wie Wahr-
daß die ins Weite gerichtete, die allgemeine Liebe nur auf Ko- heit und Gerechtigkeit« . . . »Im äußersten Fall, nein, dies glau-
sten der Liebesfähigkeit im ›Engen‹, dort also, wo Liebe einzig ben wir nicht, daß sie im äußersten Fall Verräter werden könn-
Wirklichkeit hat, gedeiht? Und daß sie ihren sittlich satten ten am Geist, am Menschen. Jetzt sind sie es. Lieber als
Besitzer über sein eigenes Wachsen oder Verdorren in eine umzukehren und, es zurückbannend, hinzutreten vor ihr Volk,
befremdende Sicherheit wiegt? laufen sie mit seinen abscheulichsten Verführern neben ihm
her und machen ihm Mut zu dem Unrecht, zu dem es verführt
Gleichviel. Der politische Säurespritzer war gezielt und traf. wird. Sie, die geistigen Mitläufer, sind schuldiger, als selbst
Blind, mit zerätzter und dick verbundener Miene ist man des die Machthaber« (des Dreyfusprozesses), »die fälschen und das
Weiteren gewärtig. Und das Weitere, Eigentliche findet sich, — Recht brechen. Für die Machthaber bleibt das Unrecht, das sie
es bricht in dem Augenblick herein, da der Philanthrop auf den tun, ein Unrecht; sie wenden nichts ein als ihr Interesse, das
»Rückfall in untermenschliche Zustände« zu reden kommt, »der sie für das des Landes setzen. Ihr falschen Geistigen dreht Un-
dem Lande« (dem Frankreich vom Jahre 1900) »heute bereitet recht in Recht um, und gar in Sendung, wenn es durch eben
wird«, auf die Wortführer und Anwälte, die dieser Rückfall das Volk geschieht, dessen Gewissen ihr sein solltet« . . . »Der
finde, — und nun prasselt und prügelt es ohne Hemmung auf ganze nationalistische Katechismus, angefüllt mit Irrsinn und
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Verbrechen, — und der ihn predigt, ist euer Ehrgeiz, dürfti- und Bruderkriege werden europäische Kriege geführt, und zwar
ger noch, eure Eitelkeit . . . Durch Streberei Nationaldichter mit Waffen, die an fortgeschrittener Grausamkeit denen nichts
werden für ein halbes Menschenalter, wenn der Atem so lange nachgeben, die an den Fronten wüten. Da stehe ich im Erdge-
aushält; unbedingt aber mitrennen, immer anfeuernd, vor Hoch- riesel, Eisenhagel, gelben Stickqualm einer Giftgasbombe und
gefühl von Sinnen, verantwortungslos für die heranwachsende weiß nicht, ob ich noch lebe. Doch, ich lebe wohl noch. Und so
Katastrophe, und übrigens unwissend über sie, wie der Letzte!« gälte es denn nun Erwiderung, Heimzahlung, schreckliche Gegen-
. . . »Jetzt macht es nichts aus, daß man in eleganter Herrich- rechnung? Es eilt nicht. Eine allgemeine moralische Betrach-
tung gegen die Wahrheit und gegen die Gerechtigkeit steht; tung stehe voran. Es wird gut sein, mir gegenwärtig zu machen,
man steht gegen sie und gehört zu den Gemeinen, Vergäng- daß ich, wo es sich um den Kampf der Geister und Federn, um
lichen. Man hat gewählt zwischen dem Augenblick und der Kritik, Polemik handelt, Grausamkeit und sogar Infamie durch-
Geschichte, und hat eingestanden, daß man mit allen Gaben aus nicht für etwas Verbotenes und Entehrendes halte. ›Infa-
doch nur ein unterhaltsamer Schmarotzer war.« mie‹ ist ein sehr gesellschaftlicher Einwand und Vorwurf, der
in höherer, geistiger Sphäre wenig besagen will. Ich rede nicht
Es war kein heiteres Geschäft, das abzuschreiben," doch nun
von jener schoflen und negativen Infamie, die man besser ethi-
bin ich froh, daß es dasteht: nicht nur in jener Europäer-Zeit-
sche Ohnmacht hieße: Anständigkeit als Velleität, als drittes
schrift, sondern auch hier in diesem Buch. Denn es gehört hin-
Wort und Unmöglichkeit ist, nebenbei bemerkt, ein Problem,
ein in dieses Buch, das ein Dokument sein und als solches
das sich aufdrängt und zur novellistischen Gestaltung in hohem
zurückbleiben möchte, wenn die Wasser sich verliefen. Es ge-
Grade reizt. Sondern ich meine die positive und passionierte,
hört in dieses Buch, welches von der Überzeugung erfüllt ist,
blutig-freche, stolze und verzweifelte Infamie, welche ›An-
daß der gegenwärtige Krieg nicht nur um Macht und Geschäft,
ständigkeit‹ durchaus nicht als ihr Gegenteil empfindet oder,
sondern namentlich auch um Gedanken geführt wird, und das
indem sie es tut, einem kindlichen Irrtum unterliegt, da sie
schon auf einer ersten Seite zu bemerken gab, wie Deutsch-
einer völlig anderen, einer höheren moralischen Ordnung an-
land das Land sei, wo die geistigen Gegensätze Europas fast
gehört als Anständigkeit. Es ist mit dieser Infamie wie mit
ohne gemeinsame nationale Färbung, ohne nationale Synthese
der Ausschweifung, — von der Dmitri Karamasow sagt: »Ich
widereinander stehen, — in dessen Seele der Kampf zwischen
liebte die Ausschweifung, ich liebte auch die Schmach der Aus-
den Gegensätzen Europas ausgetragen werden muß . . . Was!
schweifung, ich liebte die Grausamkeit: bin ich denn nicht eine
europäische Kriege würden nicht mehr auf Deutschlands Bo-
Wanze, ein böses Ungeziefer?« Diese Infamie ist nicht ego-
den ausgefochten? Und ob sie es werden! Europäische Kriege,
istisch, ist in jedem anderen als dem bürgerlichen Sinne nichts
sofern sie nur auch im Geistigen geführt werden, und das
weniger als gemein. Sie ist ein Opfer, ein Wegwurf, eine Selbst-
müssen sie immer, werden zugleich auch deutsche Bruderkriege
erniedrigung, eine schonungslose, fanatische und schmähliche
sein, das bleibt das Schicksal dieses europäischen Herzvolks, und
Hingebung, welche der Generosität nicht nur nicht entbehrt,
das ist, bei aller Wucht seines Leibes, seine innere, sittliche,
sondern eine schmutzige und blutige Form der Generosität
seine politische Schwäche, — es wird vielleicht sein Verhängnis
selber ist. Dem Reinen — aber ich will lieber sagen: dem Sau-
sein. Deutschland hat keine eherne Stirn wie England, es hat
beren — mag der Anblick der Infamie Ekel erwecken, doch
nicht Frankreichs einheitlich sentimentalen Schwung. Deutsch-
nicht ohne ihm zugleich eine gewisse Ehrfurcht einzuflößen
land ist keine Nation . . .
und ihn Ahnungen einer mystischen Moralität zu lehren.
Auf deutschem Boden, sage ich, sogar als deutsche Bürger-
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Vor allem ist dem leidenschaftlich verantwortlichen Kritiker die bestimmte Erklärung vorzubereiten, daß es Infamien gibt,
ein Recht auf Infamie unbedingt einzuräumen. Gesetzt, ein die ich hinnehme, nämlich aus Gewissenszweifel, ob sie nicht
Werk erschiene, das, als Produkt einer außerordentlichen künst- berechtigt sein könnten, — und Infamien, die nicht hinzuneh-
lerischen Anstrengung, kraft klügster innerer und äußerer Si- men ich vollkommen entschlossen bin. Jene sind solche, die
cherungen und blendender, einschüchternder Eigenschaften auf sich gegen meine Produktion, gegen mein Künstlertum rich-
Publikum und Durchschnittskenner eine außerordentliche Wir- ten, das ich selbst, wie alles Künstlertum, zu allererst auf dem
kung hervorbrächte, tausend Federn zu seinem Preise in Be- Striche habe; diese aber solche, die meinen Charakter, meine
wegung setzte, die Öffentlichkeit monatelang in Atem hielte, geistige Ehre betreffen. Daß wider meinen besseren Willen
— ein Kritiker aber, verantwortlich gemacht durch seine Ga- Falsches in mein Werk eingedrungen sein mag, glaube ich zu-
ben, seiner Sehschärfe, seines Instinktes sicher, würde dies weilen zu sehen. Niemandem kann übler zumute sein in sol-
Werk als innerlich falsch, seine Wirkung als betrügerisch, schäd- chen Augenblicken; niemand kann das Falsche im eigenen
lich, kulturstörend erkennen: es gäbe beinahe — und auch die- Werke bitterer, höhnischer und gramvoller verachten, niemand
ses Beinahe könnte ich streichen — kein Mittel, dessen er sich das Problematische darin mit mehr Abneigung erkennen, als
nicht bedienen dürfte, um das Bestaunte zu diskreditieren, zu ich es tue, — obgleich mir von jeher schien, daß das Problema-
entwürdigen und zu vernichten. Denn es ist ganz klar, daß, tische recht eigentlich in der künstlerischen Sphäre beheimatet,
je stärker die wirkenden Eigenschaften eines schlechten Wer- ja, daß die Kunst die problematischste Sphäre des Menschlichen
kes sind, desto schärfer und unbedenklicher die Mittel sein sei. Daß ein Künstler wirkliche Würde gewinnen könne, glaubte
müssen, mit denen man seine Autorität zu Fall bringen will. ich verneinen zu müssen, und ich machte aus solcher Vernei-
Niemand verlange, daß der Kritiker in einem solchen Falle nung ein problematisches Kunstwerk, das aber außer und über
›Gerechtigkeit‹ übe; daß er die positiven Verdienste, die dem seiner Problematik die geistige Ehre seiner zweifelvollen und
Werke und seinem Autor immerhin zukommen mögen, her- schmerzlichen Ehrlichkeit hat. Die Kunst ist etwas sehr ande-
vorkehre oder auch nur bemerke: Sie müssen ihm hassens- res als die Literatur, welche lauter, rational, humanitär und
werter scheinen als die Falschheiten, denn sie sind es, die die- edel ist. Jene letzte, schon außerkünstlerische oder eben auch
sen zur Wirkung verhelfen, und seine Aufgabe ist hier nicht, noch künstlerische Ehrlichkeit mag der Punkt sein, in dem der
zu erkennen, sondern zu vernichten. Niemand, am wenigsten Kritiker, der ein Literat und also ein Heiliger ist, und der
der Autor, klage über Infamie, wenn der Kritiker in solchem Künstler, der problematischen Wesens und unrein ist, sich end-
Falle seine legitime Bosheit auch an der Person des Autors lich dennoch finden und verständigen können. Aber ein Künst-
übt — man kann gar nicht boshaft sein, ohne persönlich zu lertum ohne jeden Einschlag von Scharlatanerie, jede Neigung
sein —; wenn er also die Entstehung des falschen Werkes po- zu femininer Lüge hat es vielleicht nie gegeben, und der Künst-
lemischerweise in die Tiefen der Privatpersönlichkeit hinein ler überhaupt, dieser »über alle Maßen sinnliche und eitle
zu verfolgen sucht: Werk und Leben hängen in allen ernsten Affe«, wie Nietzsche ihn genannt hat, wird die Zuchtrute der
Fällen viel zu innig zusammen, als daß leidenschaftliche Kritik Literatur, der Kritik, der boshaften und selbst infamen Erkennt-
nicht jeden Augenblick auf das Leben überzugreifen bereit sein nis immer vortrefflich brauchen können, um nicht geistig zu
müßte, und das Verlangen nach kritischer Sachlichkeit beruht entarten und den Glanz und die Ehren, mit denen die Welt
fast immer auf Prüderie und Unverständnis. seinem Talente dankt, schließlich mit verdummtem Gewissen
entgegenzunehmen. Ich vergesse nie die Erschütterung, mit der
Habe ich wacker geredet, Kritiker? Ich sagte dies, um auf
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ich zum ersten Male jenen Brief Gogols las, worin er über die Hier aber handelt es sich nicht um Werk und Kunst. Hier
Kritik spricht, die seinem großen Roman zuteil geworden. »Sie handelt es sich um meine menschliche und geistige Ehre, gegen
haben unrecht«, sagt er, »sich so über den maßlosen Ton auf- die selbstgerechte Zügellosigkeit, die sich für Leidenschaft aus-
zuregen, in dem manche Angriffe gegen die ›Toten Seelen‹ ge- gibt, sich als Menschenliebe empfiehlt, Beleidigungen schleudert,
schrieben sind: das hat auch seine gute Seite. Mitunter brau- die mir allerdings etwas Neues und Fremdes sind. Es handelt
chen wir Menschen, die über uns empört sind. Wer ganz von sich um die Gefühls- und Geisteshaltung, die ich, im Gegen-
der Schönheit einer Sache ergriffen ist, der sieht die Mängel satz zum deutschen Zivilisationsliteraten, in diesem Kriege
nicht und verzeiht alles; wer uns dagegen zürnt und gegen eingenommen, und um einen ›psychologischen Kommentar‹
uns erbittert ist, der wird versuchen, alles Häßliche, allen Un- dazu, vor dem ich nicht das Haupt beugen werde, dem ich viel-
rat in uns aufzuwühlen und ihn so deutlich ans Licht zu stel- mehr stolz und verächtlich die Stirn bieten darf und muß. Denn
len, daß wir ihn sehen müssen, ob wir nun wollen oder nicht. jene meine Haltung und Parteinahme, möge sie von aller
Man bekommt so selten die Wahrheit zu hören, daß man schon Literatur verlassen gewesen sein: sie war notwendig, gesetz-
um eines kleinen Körnchens Wahrheit willen die Kränkung mäßig, folgerecht, echt und wahr, sie war Ergebnis, Quint-
verzeihen sollte, die in dem Ton liegt, in dem sie ausgespro- essenz, unmittelbarer Ausdruck meines Wesens, meiner Her-
chen wird. In den Kritiken B.s, S.s und P.s steckt viel Richti- kunft, Erziehung und Bildung, meiner Natur und Kultur, die
ges, ja selbst in dem Rat, der mir gegeben wird, ich solle zu- nicht ganz gemein, nicht ganz und gar schlecht sein kann, da
erst einmal Russisch lernen und dann Bücher schreiben .... Ja, ich ihr zwei oder drei Werke abgewann, die gut sind und von
selbst die Epigramme und die Scherze, die gegen mich gerich- einiger Dauer sein werden, die auf die Zeit, die Kultur der Er-
tet wurden, hatte ich nötig, trotzdem sie mir zuerst durchaus zählung, die Sprache, die Herzen, die Geister gewirkt haben,
nicht gefielen und mir keineswegs angenehm waren. O wie wie irgend eines im letzten Vierteljahrhundert, — und wer
sehr bedürfen wir der ständigen Püffe und Stöße, wie sind uns dieses mein rechtmäßiges Gefühl durch psychologische Erbärm-
dieser beleidigende Ton und diese boshaften, aufs tiefste ver- lichkeiten zu erniedrigen trachtet; wer mir aus zuchtloser Recht-
wundenden Spöttereien vonnöten! Auf dem Grunde unserer haberei ins Gesicht sagt, ich sei damit zum Verräter am Geist
Seele liegt so viel kleinliche, armselige Eitelkeit, so viel häßli- geworden, ich stünde damit gegen Recht und Wahrheit, ich
cher, leicht verletzter Ehrgeiz verborgen, daß wir in einem fort hätte mich damit als Schmarotzer bekannt, dem werde ich den
Püffe erhalten und mit allen nur möglichen Zuchtruten gezüch- Namen seiner Tat nennen und so, daß er ihn nicht verges-
tigt werden sollten, ja, wir sollten uns stets dankbar über die sen soll.
Hand freuen, die uns züchtigt.« Das ist freilich allzu slawisch- Ein französischer Publizist hat kürzlich wieder einmal aus-
sklavisch gesprochen für meinen Geschmack. Stolzer, wenn auch gesprochen, es sei das nationale Übel seiner Landsleute, daß
noch schwerer, mag der Künstler leben, der seinen Literaten, Kri- sie dem Gegner stets gemeine Beweggründe unterstellen. Der
tiker und Züchtiger selber in sich trägt: Er wird sich zu aller Kri- Zivilisationsliterat ist Franzose auch hierin. Nichts kann fran-
tik, die von außen kommt, nicht sowohl demütig als im Grunde zösischer sein als das Durcheinander von zischender Medisance
freundschaftlich verhalten, und er wird schneidende Wahrheiten und schönrednerischem Hochsinn, das seinen Stil ausmacht.
und selbst infame Halbwahrheiten, die sein Werk betreffen, mit Aber aus welcher Grundneigung stammt das polemische La-
einem Schweigen aufnehmen, das Zustimmung bedeuten mag, ster, das jener Schriftsteller an seinen Franzosen zu rügen nicht
oder doch wenigstens bedeutet: du sagst mir nichts Neues. umhinkann? Oh, daher, daß sie Psychologen sind!—Aber Psy-
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chologie ist ja das Billigste und Gemeinste. Es gibt nichts tät nicht gänzlich entbehrt. Es reicht aber diese Legitimität
Irdisches, worin sich nicht durch ›psychologische Analyse‹ Er- vielleicht noch etwas tiefer und weiter. Ich gehöre geistig je-
denschmutz entdecken und isolieren ließe, keine Tat oder Mei- nem über ganz Europa verbreiteten Geschlecht von Schriftstel-
nung, kein Gefühl, keine Leidenschaft. Man sage mir doch, lern an, die, aus der décadence kommend, zu Chronisten und
welchen Nutzen Psychologie je auf Erden gestiftet hat! Hat sie Analytikern der décadence bestellt, gleichzeitig den eman-
der Kunst genützt? Dem Leben? Der ›Würde des Menschen‹? zipatorischen Willen zur Absage an sie, — sagen wir pessimi-
Nie. Nützlich sein kann sie einzig dem Haß, der außerordentlich stisch : die Velleität dieser Absage im Herzen tragen und mit
›psychologische Kommentare‹ liebt, weil durch solche schlech- der Überwindung von Dekadenz und Nihilismus wenigstens
terdings alles kompromittiert werden kann. Wer gerade nicht experimentieren. Einsichtige werden Spuren dieser Richtung,
haßt, dem muß ›Psychologie‹ als die überflüssigste Errungen- dieses Wollens und Versuchens in meinen Arbeiten überall
schaft der Neuzeit erscheinen. — Und wenn ich dem Zivilisa- finden; und wenn ein geistreicher Korrespondent mich nachträg-
tionsliteraten mit gleicher Münze heimzahlte? Wenn ich ihm lich aufmerksam machte, daß Maurice Barrès eine Novelle ge-
›psychologisch‹ begegnete? Wenn ich ihn anhielte, die Art schrieben habe, die fast genau den Titel meiner letztveröffent-
von Erkenntnis, mit der er mich traktiert, gegen sich selbst zu lichten trage — sie heißt: ›La mort de Venise‹ —, so tat er es
wenden und sich zu fragen, ob Politik nicht ein Vorwand sein nicht ohne Anspielung auf eine entfernte Zusammengehörig-
kann? Neigte er im mindesten zu sittlicher Hypochondrie, er keit. Es ist klar, daß Barrès' Nationalismus und Katholizis-
müßte erbleichen und verstummen. Aber er neigt nicht zu sitt- mus, sein Ergreifen und Propagieren der Revanche-Idee als
licher Hypochondrie, - ach, nein. Er ist der Sicherste, der Ge- eines exzitierenden Mittels nichts anderes bedeutete als den
borgenste, der Tugendhafteste, er, der im Rechte und in der Versuch zur Überwindung der dècadence; und ebenso klar ist,
Wahrheit wohnt. Suchende Jugend freilich bleibt aufmerksam wie höchst national bestimmt die Art dieses Versuchens war —
zu machen, daß einer dünkelhaften Fahrlässigkeit, wie der sei- und wie sich eine deutsche Art etwa davon unterscheiden
nen, niemals der Zweifel, niemals die Lockerheit bürgerlich- müßte. Diese, nicht wahr, würde nicht politisch sein (und zum
artistischer Skepsis und das uneingeschläferte Gewissen, son- Präsidentenstuhl einer Patriotenliga führen), sondern mora-
dern ausschließlich die gefestigte Tugend fähig ist. lisch; sie würde auch nicht katholisch sein und von etwas
Äußerem, vom Kult der Traditionen alles erhoffen, sondern
Noch einmal, was habe ich getan? Ich habe in diesem Kriege
protestantisch, sondern an das innere Pflichtgefühl appellie-
die Geschichte des Königs erzählt, von dem Goethe gesagt hat,
rend, sondern kantisch-preußisch . . . Werde ich deutlich? Hier
daß durch seine Taten »der erste wahre und höhere eigentliche
ist die geistige Rechtmäßigkeit meines Verhältnisses zum Fried-
Lebensgehalt in die deutsche Poesie gekommen« sei. Ich er-
rich-Stoff. Ich gebe sie preis — nicht aus Freude an erkältender
zählte sie auf meine Art, mit einer ziemlich gebrochenen und
Selbstenthüllung, sondern um der Dummheit zu begegnen,
versteckten Begeisterung, so daß die Schrift Wohlwollenden
die zu verstehen gibt, ich hätte anno 14 mein Mäntelchen ge-
für zunächst unpublizierbar galt. Das hinderte nicht, daß min-
schwind nach dem Winde gehängt.
der Wohlwollende in dieser Stoffwahl ein Symptom feiler Be-
Einen ›Abriß für den Tag und die Stunde‹ nannte ich die
hendigkeit, aktueller Anpassungsfähigkeit erkennen zu dür-
aktuelle Schrift. Das war sie; und nicht nur ein Abriß der Ge-
fen glaubten, die mir wenig zur Ehre gereiche. Ihnen habe ich
schichte, sondern ein rascher und, wie ich immer noch hoffe,
am Schluß des vorigen Kapitels obenhin angedeutet, inwiefern
vorläufiger Abriß eigener lange gehegter Träume und Ent-
mein Verhältnis zu dem historischen Gegenstand der Legitimi-
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würfe, die dichterischer Natur gewesen waren und deren deutet, und wenn er recht hat mit diesem »Ich glaube nicht«;
geistigen Kern als Essay herauszustellen ich in jenen Tagen wenn es wahr ist — und ich fühle, es ist wahr —: daß die Wech-
selbstvergessen und rücksichtslos genug war. So wirkte das selwirkung von historisch-poetischer Vorbereitung und aktuel-
aktuelle Erlebnis, welches freilich seinerseits ohne die histo- lem Erlebnis meine Seele in den Stand setzte, den Heldenmut
risch-dichterische Wegbereitung von minderer Gewalt über des Mannes, »durch dessen Taten der erste höhere Lebens-
mein Gemüt gewesen wäre. Eine wie heftige und — ich darf es gehalt in die deutsche Poesie gekommen«, so intensiv und
sagen — wie fruchtbare Gewalt es wirklich darüber besaß, hat stark zu begreifen, wie er nie zuvor begriffen worden ist (was
ein Mann wenigstens teilnehmend erkannt und ausgespro- wirklich nicht zu verwundern wäre und gar kein Verdienst,
chen : der schwedische Dichter, von dessen Studie über das Fried- sondern eben nur eine Fügung bedeuten würde), — wenn es so
rich-Büchlein ich erzählte. Dort, wo Hallström über den Ein- ist, wie stehst du dann vor mir, Mensch, Künstler, Bruder, mit
fall in Sachsen spricht, wo er, in Übereinstimmung mit meiner
deinem reißenden Geschwätz? Ein Erkennen und Nacherleben,
Darstellung, den Heroismus gegenüber der Gefahr, wie groß
das in so brennender Tiefe nie zuvor auch nur möglich war,
er immer gewesen sei, »beinahe leicht« nennt im Vergleich mit
und die annähernde Mitteilung dieses Erkennens und Nacher-
dem Heroismus, »ungebeugt unter dem Druck des Hasses die
lebens durch das literarische Wort: ist das eine Sache strebe-
Seele aufrecht zu erhalten, alle Verantwortung allein zu tra-
rischer Mitläuferei, kann es eine Sache sein schmauchenden
gen, allein all das zu stützen, was in einer in ihrem Leben
Bürgerbehagens? Leidenschaft, ungewollte, nicht literatenhaft
bedrohten Nation unter dem Warum und Wohin der Fragen
erstrebte und ausgeschrieene, sondern innige und, mag sein,
zweifelt und kränkelt«, — da fügt er hinzu: »Ich weiß nicht, ob
mit Ironie und Humor maskierte Passion ist es, die einzig der-
dieser Heldenmut Friedrichs, die Grundlage all seiner unver-
gleichen möglich macht, aus der einzig das Neue und so noch
gleichlichen Taten", je zuvor so intensiv und stark begriffen
nicht Gewesene hervorgeht, — Leiden also, Schmerz, opfernde
worden ist. Es wäre nicht zu verwundern, wenn es gerade
Hingabe an ein reinigend Überpersönliches . . . Achtest du die
dieser Schicksalszeit Deutschlands vorbehalten geblieben wäre,
die richtigen Maße zu finden — die historische Vergangenheit Leidenschaft, das Erlebnis nicht mehr, beschimpfst du sie, falls
wiederholt sich ja in dem, was jetzt ist, in allen wesentlichen sie ›dem Geiste‹, das heißt: deiner radikalen Lehrmeinung
Zügen. Dies brennend deutlich gesehen und die Parallele mit nicht dienen? Dann bist du verloren! Dann mag deine Prosa
Schärfe und Tiefe durchgeführt zu haben, das ist es, was Manns noch so hartbunt und schmissig, deine Geste noch so genialisch
Aufsatz so bedeutend macht.« — Warum sollte ich die Erschüt- steil, dein Atem noch so heiß, deine Kantilene noch so schmel-
terung verhehlen, mit der ich diese Worte eines Ausländers zend sein, — dann bist du kein Künstler mehr und auch kein
gelesen und wiedergelesen habe? Und aus dieser Erschütterung, Mensch: dann bist du ein in Bigotterie verknöcherter Doktri-
die zu stolz und ernst ist, um mit Alltagseitelkeit etwas ge- när und Schulmeister.
mein zu haben, richte ich jetzt das Wort an den leichtsinnigen Damit ist alles gesagt. Denn was sollte ich im einzelnen
Rhetor, der mir sagt, ich sei in jener Schrift neben meinem zurückgeben auf die Haß- und Verdächtigungsarie, aus der ich
Volke mit seinen abscheulichsten Verführern hergelaufen und ein paar besonders brillante Passagen hier wiedergab? Was
hätte ihm Mut gemacht zu dem Unrecht, zu dem es verführt etwa erwidern auf die Beschuldigung der patriotischen Stre-
worden. Wenn es zutrifft, was der Schwede sagt; wenn sein berei? Ich kenne an mir die Neigung zur Selbstmißhandlung,
»Ich weiß nicht, ob« eigentlich ein »Ich glaube nicht, daß« be- eine vielleicht unmännliche Bereitschaft, gehässige und offen-
bar boshafte Stilisierungen meines Wesens mir zu eigen zu
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machen und Ja dazu zu sagen. Den Vorwurf der Streberei Der nationalistische Katechismus möge, womit immer, an-
betrachte ich nur mit Kopfschütteln; ich weiß nichts damit an- gefüllt sein: ich bin, glaube ich, deutsch eben darin, daß ich
zufangen. Klugheit im Verhalten zur Welt und ihren Mächten mich von jeher sehr wenig fest in ihm fühlte, und der Krieg
war nie meine Sache; dazu war ich zu sehr allein, zu sehr hat daran nicht viel geändert. Es ist wahr, die Erhebung von
›Dichter‹; und noch dies Buch bezeugt, wie mir scheint, daß 1914 riß auch mich zu dem Glauben und zu dem Bekenntnis
Politik auch in diesem Sinn meinem Wesen fremd ist. Wo ich des Glaubens hin, daß das Volk, dem anzugehören ich die
ihrer ansichtig werde in künstlerischer Sphäre, beobachte ich eigentümliche Ehre habe, große Herrschaftsrechte, gültigen An-
sie ohne Entrüstung, aber mit lächelndem Erstaunen. Ich sehe spruch auf die Teilhaberschaft an der Verwaltung der Erde,
einen Meister dem »Jungen Geschlechte« öffentlich schöntun, kurz, auf politische Macht besitze und die Anerkennung dieser
obgleich er es privatim verachtet; und das ist klug. Ich höre natürlichen Rechte erkämpfen dürfe, ja müsse. Heute habe ich
einen anderen oder auch denselben Meister »den letzten Re- zum mindesten Stunden, wo dieser Glaube schwankt und bei-
porter« für seinen Bruder im Geiste erklären, gesetzt nur, daß nahe am Boden liegt; denn ich sage mir, daß ein Herrscher-
sein Blatt demokratischen Grundsätzen huldigt; und das ist volk, beschränkt, hart, icherfüllt und national sattelfest, wie
wiederum klug, denn so wird man zum Abgott und Schoß- Herrschervölker sein müssen, sich kaum von seinen vornehm-
kind der großen, der linksliberalen Presse. Ich sehe einen drit- sten Geistern an seinen Rechten würde irremachen lassen,
ten oder auch nochmals denselben Meister sich um die Gunst wie es in Deutschland der Fall ist. Die Erfülltheit der Nation
der Masse bewerben, indem er sich ihr als Sänger der Demo- von sich selbst und ihrem Recht hat fünf, sechs Wochen ge-
kratie empfiehlt. Ich sehe ihn also seine Dichtung innerpoli- dauert, kaum länger, obwohl ihre Leistungen erst dann ins
tisch aktuell machen, Liebe unterderhand mit Massenvertrieb Ungeheuere und — für die andern — ewig Denkwürdige wuch-
verwechseln, Tugend und Nutzen vereinigen. Ist es Streberei, sen. Diese nationale Erfülltheit wurde sofort als geistig un-
dies alles? Möglicherweise. Mich mutet es fremd an, — humo- national empfunden, der Gegendruck war sofort sehr stark,
ristisch, aber fremd. — Und patriotische Streberei? Es gibt, ver- und rasch ist sie der Nation verächtlich gemacht worden auf
steht sich, auch das. In allen Ländern ist es möglich, mit Pa- eine Weise, die in jedem anderen Lande unvorstellbar ist.
triotismus Geschäfte zu machen. Wie aber für mich die Dinge Deutscher Nationalismus — wo ist er? Ich wollte, ich wäre
standen und lagen, so weiß ich wohl, wie, im Gegenteil, meine fähig, zu wünschen, es gäbe dergleichen. Heute, mitten in
Haltung und Redeweise hätte ausfallen müssen, wenn Klug- diesem Kriege, angesichts einer feindlichen Geschlossenheit
heit sie mir diktiert hätte. Ich hätte müssen aus meinem Her- und Entschlossenheit, von der bei uns ganz wenige Köpfe sich
zen eine Mördergrube machen, meinem kämpfenden Volk den ein Bild zu machen auch nur versuchen, wendet ein berühmter
pazifistisch-humanitären Knüttel zwischen die Beine werfen, Publizist sich in europäischem Allgefühl gegen Lessing, den
den Krieg recht häufig für ein deutsches Verbrechen am Geiste literarischen Nationalpädagogen, weil er die Franzosen eine
erklären, — und ich hätte freilich sowenig wie für den Fried- eitle Nation genannt, dem Herrn vor Voltaire kritisch zuge-
rich-Essay einen Orden bekommen, aber meine Ehre, meine setzt und in sein preußisches Soldatendrama die Figur des
Literatenehre nämlich, wäre gerettet gewesen. Ich war's nicht Riccaut gestellt hat. Er habe sich erniedrigt, sagt der Publi-
imstande. Und daß ich's nicht war, trägt mir die Bezichtigung zist, und unüberblickbaren Schaden habe er damit gestiftet.
ein, mein Ehrgeiz, ach nein, meine Eitelkeit hätte den »natio- Inniger Zuruf aus den Tiefen der nationalen Seele: Sehr wahr!
nalistischen Katechismus« gepredigt. — Ja, das ist wahrhaft eine Blütezeit des deutschen Chauvinis-

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mus. Nach zwei Jahren Krieg feiert unsere nationale Schwäche (um mich denn endlich auch meinesteils zu diesem Worte auf-
Orgien, die deutsche Selbstaufgabe und Selbstentäußerung ist zuraffen), schuldig an dem heutigen Zustand Europas, an sei-
längst wieder beinahe vollkommen. Wäre nicht das nackte ner Anarchie, an dem Kampf aller gegen alle, an diesem Kriege
wirtschaftliche Muß — es gäbe kein Halten in diesem rapiden ist die nationalistische Demokratie. Das nationale Prinzip ist
Prozeß des Sichvergessens, Sichwiederverlierens, es gäbe kein das atomistische, das anarchistische, das anti-europäische, das
›Durchhalten‹. Bewunderung der deutschen Taten? Man fin- reaktionäre Prinzip. Die Demokratie ist reaktionär, denn sie ist
det sie möglicherweise in Schweden, aber nicht bei uns, und nationalistisch und ohne jedes europäische Gewissen. Wo, unter
so ist es in der Ordnung; man soll nicht sagen, daß ich es an- den Feinden Deutschlands, gäbe es europäisches Gewissen? In
ders wünsche. Haß gegen den Todfeind? Es gibt keinen. Es England etwa, —um von dem unverschämten Gebaren der klei-
gibt ausschließlich Bewunderung der Feinde, — und das Kraft- nen nationalen Egoismen zu schweigen? Europäisches Gewissen,
bewußtsein, das sich darin ausdrückt, ist ein Bewußtsein phy- übernationale Verantwortlichkeit ist einzig und allein in dem
sischer Kraft, keineswegs nationaler Charakterstärke. Es ist unpolitischen und anti-demokratischen Volke, in Deutschland
das Bewußtsein der Grenzsicherheit, dieses Ruins alles natio- lebendig, — der deutsche Zivilisationsliterat aber sieht es nicht.
nalen Pathos. Denn um nationale Leidenschaft in Deutschland Er lauscht verklärt auf die Phrasen von der ›freien Gesellschaft
geistig möglich zu machen, ist tiefste Erniedrigung, äußerstes der Staaten‹, vom ›demokratischen Völkerbund‹ vom ›demo-
Elend nötig, und dieser Krieg, unselig nicht, weil er nicht ganz kratischen Frieden‹ welche aus dem Mundwerk des west-
gut, sondern weil er nicht ganz schlecht geht, — diese Halb- lichen Rhetors rollen,—verlogenerweise, denn er glaubt selbst
heit, die das Land in Sicherheit läßt, Gleichgültigkeit gegen nicht, und kein verständiger Mensch in der ganzen Welt glaubt
die Ereignisse, öffentliche Apathie und individuelle Korrup- ernstlich an diese Gesellschaft, diesen Bund und diesen Frie-
tion züchtet: — ich gebe zu, daß im nationalen Sinne nichts den. »Glauben Sie an den Völkerbund?!« rief Herr George
Schlimmeres hätte kommen können. »Niemand«, sagt Goethe, Clémenceau seiner Kammer zu... Und die Kammer verstummte.
»sieht erbärmlich aus, der in sich einiges Recht fühlt, fordern Nein, nicht der Friede der nationalistisch-internationalen De-
zu dürfen.« Er sagt auch: »Gerechtigkeit — Eigenschaft und mokratie ist es, den Europa braucht, — er ist unmöglich, er wäre
Phantom der Deutschen.« Ein gebildetes Volk, wer wollte es keiner, er wäre die verewigte Anarchie. Der Friede Europas sei
leugnen, und ein gerechtes Volk. Aber ein Herrschervolk? Ich nicht international, sondern übernational, er sei kein demokra-
zweifle. Ich verzweifle alle paar Tage daran. tischer, sondern ein deutscher Friede. Der Friede Europas kann
nur beruhen auf dem Siege und der Macht des übernationalen
Nein, Deutschland besteht die nationalistische Katechese
Volkes, des Volks, das die höchsten universalistischen Über-
schlecht! Und doch: ist es nicht eben dies, worauf der beste
lieferungen, die reichste kosmopolitische Begabung, das tiefste
Glaube an Deutschlands Sendung sich gründet? Der nationali-
Gefühl europäischer Verantwortlichkeit sein eigen nennt. Daß
stische Katechismus liegt in den Händen und herrscht in den
das gebildetste, gerechteste und den Frieden am wahrsten liebende
Köpfen der politischen, der demokratischen Völker; ihre Wort-
Volk auch das mächtigste, das gebietende sei, — darauf, auf der
führer sind es, die ihn predigen; zu den ›unsterblichen Prinzi-
durch keine Zettelung mehr antastbaren Macht des Deutschen
pien‹ der Revolution gehört das nationale Prinzip, und als
Reiches ruhe der Friede Europas. Wenn das heißt, den nationali-
ideologisches Sprengmittel zur Zerstörung Österreichs muß es
stischen Katechismus bekennen, nun wohl, dann bekenne auch ich
heute dienen. Demokratie und Nationalismus, das ist eines
ihn, dann habe ich ihn immer bekannt. Und also, spricht der
Ursprungs, das ist ein und dasselbe. Und schuldig — schuldig
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Philanthrop, habe ich den Krieg »eigenhändig mit herbeigeführt«. Ihr würdet es sehr übelnehmen, wollte man der Französi-
Nein, nicht darum, ich irre mich. Sondern weil ich ein Zweif- schen Revolution den Tatcharakter abstreiten. Auch dieser
ler war. Weil ich mich »immer in feiner Weise zweifelnd ver- Krieg ist ebensosehr wie eine europäische Katastrophe eine
hielt gegen so grobe Begriffe wie Wahrheit und Gerechtig- gemeinsame europäische Aktion: und ich hatte nun freilich
keit«. Grobe Begriffe? Das sind keine groben Begriffe. Es sind immer geglaubt, eine ganz andere geistig-seelische Verfas-
die höchsten und reinsten. Und ein Tugendmaulheld, wer sie sung, Gewöhnung und ›Geste‹ als Zweifel und Quietismus
unnützlich im Munde führt. Zweifelnd? Ich hätte Wahrheit sei es, die die Tat zeitige, oder doch vorbereite, oder doch an-
und Gerechtigkeit als ewige Ideen bezweifelt, ich hätte sie nie kündige, — nämlich eine — wenn auch künstliche — Festigung;
geliebt, nie auf den zweitausend Druckseiten, die ich in diesen ein — wenn auch krampfhafter — neuer Wille und ›Neues Pa-
zwanzig Jahren langsam, mit höchstem Bedachte schrieb, wäre thos‹; ein — wenn auch hysterischer — Schrei nach Bewegtheit
es mir um Wahrheit zu tun gewesen — und also um Gerech- und Bewegung um jeden, aber auch jeden Preis . . .
tigkeit? Denn sind das nicht nur Namen — sind alle höchsten Man sollte über die Beziehungen des Geistes zu den Ereig-
Wörter, auch ›Freiheit‹ und ›Schönheit‹, nicht nur Namen nissen nicht so leichtfertig reden, wie der Philanthrop, um be-
für das Eine, das Göttliche, das Absolute? Gerechtigkeit! Der schuldigen und verdächtigen zu können, sich nicht schämt es
weiß nicht, was sie ist, für den sie nichts als ein politisches zu tun. Daß solche Beziehungen bestehen, daß dieser Krieg
Geschrei ist, — eine Fanfare also, die zu blutigen Taten — und kein Zufall, nicht unvermittelt und unangekündigt vom Him-
seien es auch nur Literaturtaten — ruft. Als geistige Leiden- mel gefallen oder aus der Hölle gebrochen ist, wer sähe nicht
schaft, als Melancholie und Wahrheit kennt sie nur der, dem das. Aber sie aufzudecken und klarzustellen, diese Beziehun-
sie höchste Angelegenheit des Gewissens, ja, das Gewissen gen; zu unterscheiden, zum Beispiel, in welchem Grade Dosto-
selber ist. Ausdruck dieser Gerechtigkeit mag freilich nicht jewski ein Held, der russische Held und Prophet dieses Krieges
schmissiges Pathos sein; es mag sein, daß sie zum Quietismus ist, das scheint mir die heikelste der Aufgaben. Dostojewski
führt. Aber die nichts als angreifende, die zweifellose, ge- war Dichter, war Künstler, war nationaler Ausdruck, — und
wissenlose und grundsätzlich ungerechte Gerechtigkeit, — was man weiß nicht, ob ein Künstler überhaupt jemals mehr ist
ist sie, wenn sie sich niemals durch jene andere korrigieren als das, mehr als Ausdruck und Mundstück, nämlich auch
läßt, was ist sie anderes als Zuchtlosigkeit und Voluptuosi- Führer, Diktator, Präger und Bildner seines Volks. Man weiß
tät? Daß es anständig sei, Wahrheit und Gerechtigkeit tag- also nicht, wie sehr Dostojewski die russische Idee, den Pan-
ein tagaus durch die politische Gosse zu ziehen; daß es an- slawismus und den Ruf nach Konstantinopel nur von der Na-
ständig und richtig sei, sie mit der radikalen Republik zu ver- tion empfing, nur als Nationaldichter verkörperte — und wie
wechseln, ja, das habe ich bezweifelt; und also war ich ein sehr die Idee durch ihn auf die Nation zurückwirkte. Daß
Zweifler und Quietist, — der Philanthrop möge recht behalten. dieser große Christ den Krieg überhaupt gelobt und gepriesen
Wie denn nun aber! Zweifel und Quietismus hätten diesen hat, wissen wir. Und wenn das Maß politischer Wirkung nach
Krieg herbeigeführt? Aus Quietismus und ›bürgerlichem‹ dem Maße politischen Willens zu bestimmen wäre, so müßte
Zweifel wäre je die Tat, die böse oder gute, hervorgegangen? man wohl einen Helden dieses Krieges in ihm erblicken, —
Das ist neu, das ist paradox. — Aber dieser Krieg, ruft ihr, ist eher jedenfalls als in Nietzsche, den wenigstens ich nie ohne
keine Tat, er ist eine Katastrophe! — Beides. Jede große Um- Erbitterung als den Urheber politischer Wirkungen nennen
wälzung ist immer sowohl das eine und das andere gewesen. hören kann. »Nietzsches größtes Verdienst in sachlicher Hin-
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sicht«, sagt Emil Hammacher in seinem Buche ›Hauptfragen und antinational, kurz: radikale Aufklärung; aber der roma-
der modernen Kultur‹, »ist die Scheidung des metaphysischen nische Aktivismus ist nationalistisch und kriegerisch, ist radi-
vom sozialen Leben . . . Er hat die Einsicht wiedergefunden, kale Reaktion. Der deutsche ›Aktivist‹ hat von Nietzsche
daß der Individualismus falsch ist und doch das Überindivi- schreiben gelernt, und das mag ein Mißbrauch sein, denn
duelle sich durch die Persönlichkeit selbst und nur durch sie Nietzsche war kein Aufklärer. Aber der romanische hat von
verwirklicht; im Verhältnis zu dem metaphysisch Überindivi- ihm politisieren gelernt, und das ist ein viel schlimmerer Miß-
duellen ist ihm das sozial Überindividuelle, die Gesellschaft, brauch. Die Politisierung Nietzsche's, das ist die Verhunzung
gleichgültig und untergeordnetes Mittel.« Nietzsche stimmte Nietzsche's, nichts anderes, und wenn irgend etwas Geistiges
also, nach Hammacher, mit dem Christentum in der Trennung den Krieg aktiv herbeigeführt hat, so war es dies: die Un-
des Metaphysischen und Sozialen überein; er war sowenig fähigkeit der Romanen, Philosophie und Politik auseinander-
Politiker wie Jesus selbst, als er in jenem unsterblichen Wort zuhalten.
zwischen den Pflichten gegen den ›Kaiser‹ und denen gegen Freilich ist es eben diese Unfähigkeit, die der Zivilisations-
›Gott‹ unterschied. Will man es als politische Wirkungen literat den Westvölkern zur höchsten Ehre anrechnet, sie eben
Nietzsche's ansprechen, daß er einige Grubenbesitzer oder Groß- ist es, zu der er auch sein Volk erziehen möchte und mög-
börseaner bewog, sich für Renaissancemenschen zu halten, licherweise wirklich zu erziehen im Begriffe ist. Was man Ak-
oder daß ein paar dumme Jungen und Fräulein ihn dahin tivismus, Voluntarismus, Neues Pathos nennt, ist nichts an-
verstanden, sie müßten sich amoralistisch ›ausleben‹, — in deres als das Nicht-Trennen von Philosophie und Politik:
Gottes Namen, das ist nicht ernst. Wo aber Nietzsche sehr hier sieht der Zivilisationsliterat die Tugend, die, wenn sie
ernsthafte politische Wirkungen, und zwar im kriegerischen
herrschend gewesen wäre, den Krieg verhindert hätte, wäh-
Sinne, gehabt hat, das weiß ich genau und werde es sagen.
rend der gegenteilige Instinkt, die Trennung des Metaphysi-
Ich komme dabei auf die jüngste Apotheosierung Emile schen vom Sozialen, nach seiner Meinung das Laster selbst ist,
Zola's zurück, des französischen Romancier-Aktivisten, dessen welches den Krieg nicht verhindert und das heißt: herbeige-
Aktivität freilich gerade gegen jene Bewegung gerichtet war, führt habe. Aber so einfach sind die Dinge nicht, wie sie dem
die in Frankreich den Namen des Aktivismus eigentlich für sich scheinen, dem es ums Anklagen, um Beschuldigen zu tun ist.
in Anspruch nahm und, trotz aller radikalen Republik, nach Der falsche Nietzscheanismus Frankreichs lehrt, daß die Poli-
Zola's Tode höchst lebendig blieb: gegen den politischen Akti- tisierung der Philosophie ebensowohl radikale Reaktion wie
vismus der ›Action française‹ und der Patriotenliga. Seine radikale Aufklärung, ebensowohl Krieg wie Pazifismus be-
Aktivität war individualistische Gerechtigkeitsempörung gegen deuten kann; und ohne Anklage, ohne Beschuldigung stelle
ein politisches Lebenspathos, das sich bereit erklärte, einen ich fest, daß der deutsche ›Aktivismus‹, obgleich seine poli-
wahrscheinlich ›Unschuldigen‹ dem Staatsinteresse, — die tische Lehrmeinung pazifistisch ist, mit der europäischen Ge-
›Wahrheit‹ dem ›Leben‹ zu opfern. Das war politisierter und samt-Aktion und -Katastrophe, in der wir stehen, viel mehr
also korrumpierter Nietzsche. Nie hat in Deutschand eine zu tun hat, sie seelisch, der Geste nach, weit eher vorbereitet
Seele daran gedacht, das Nietzsche'sche Lebenspathos zu poli- und angekündigt hat als irgendwelcher ›bürgerliche‹ Quie-
tisieren. Das wäre ganz undeutsch gewesen. Es zu tun, war tismus und ›Zweifel‹, irgendwelche apolitische, auf Erkennt-
den Romanen vorbehalten — wie es sich gehörte. Was sich in nis und Form eingestellte Artistik. Wo wären die seelischen
Deutschland ›Aktivismus‹ nennt, ist pazifistisch, humanitär Beziehungen etwa meiner deutsch-bürgerlich-artistischen Pro-
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duktion zum Kriege, — wenn ich an dieser Stelle von gewissen Härte, Unheiterkeit, Unerbittlichkeit, Bösartigkeit, Inhumani-
nur symbolisch-ethischen Beziehungen absehen darf, die man tät, mit der gewisse neueste Geschichten erzählt sind, und ich
heute freilich als ›aktuell‹ zu empfinden geneigt ist? Daß auch sage mir: Ob die politische Lehrmeinung dieser Herren Kol-
in mir und durch mich, wie durch jedes einigermaßen emp- legen nun pazifistisch ist oder nicht, tut wenig zur Sache, —
findliche Instrument, das Kommende sich irgendwie ankün- hier ist der Krieg! Sie sangen ihn in jeder Zeile, bevor er da
digte, weiß ich wohl. Die Arbeiten, in denen der Krieg mich war, und nie gab es ein besseres Beispiel dafür, wie wenig das
betraf und unterbrach, sind so sehr inspiriert von dem, was, Meinen das Sein verkündigt. Und entspricht meiner klaren Ein-
ungeahnt von mir, heraufzog, daß man, der Chronologie nicht sicht nicht ihr eigenes Bekenntnis, ihr eigener Stolz? Ein Ex-
sicher, in Zukunft ohne Schwanken Eingebungen des Krieges pressionistenführer, von der malerischen freilich, nicht der lite-
darin erblicken würde. Auch sehe ich wohl, wie etwa die Er- rarischen Fakultät, rief August 1914 aus: »Das ist unsere
zählung ›Der Tod in Venedig‹ in der Zeit steht, dicht vor Stunde!«
dem Kriege steht in ihrer Willensspannung und ihrer Morbi- Der Philanthrop freilich meint es anders. Mein günstigster
dität: sie ist auf ihre Art etwas Letztes, das Spätwerk einer Augenblick, meint er, sei das Heute, der günstigste von mei-
Epoche, auf welches ungewisse Lichter des Neuen fallen . . . nesgleichen; denn während er zur »Verbannung« und zum
Aber nicht solche Zusammenhänge und bloß sensitiv-seismo- »Schweigen« verurteilt sei, höre man nur uns, nur mich, und
graphische Ausschläge sind es, die ich hier meine. Es sind viel- wir zögen, ich zöge Nutzen aus der Gunst der Stunde, indem
mehr Sympathien des Willens, des Temperaments, der Ge- ich durch überlautes Beteuern meines Patriotismus irgendwelche
bärde, des pathetischen Bedürfnisses, — Sympathien, von denen »Andere« in Vergessenheit zu bringen suchte, die auch ihrer-
bei mir, der ich mir einer ungewöhnlichen Humanität der epi- seits nur ein rhetorischer Plural sind. »Man müßte sie sich an-
schen Linie bewußt bin, auch nicht eine Spur zu finden ist, sehen«, sagt er — die Unterstreichung ist von mir, ich lege
noch je zu finden sein wird, während eine — nicht immer der Wert auf diese Wendung, es zischt so bemerkenswert daraus
Generation nach — jüngere, ›zukünftigere‹ oder heute aktuelle hervor — »man müßte sie sich ansehen, ob es nicht auch sonst
Art von Produktion sogar zum Erstaunen viel davon aufweist. schon die waren, die das Profitieren verstanden.« Was das be-
Nur ehrenvoll für sie! Ich wiederhole, daß nicht ich es bin, deuten soll, bedeuten kann, weiß niemand. Es ist die Verdäch-
dem es ums Denunzieren zu tun ist. Unterdessen liegt es ja tigung an sich und im allgemeinen, die zischende Verdächti-
auf der Hand, daß, was sich in Deutschland ›Aktivismus‹ gung ohne Inhalt und Gegenstand, verzerrten Angesichts leise
nennt, nichts ist als die Übertragung eines bestimmten Kunst- hervorgestoßen. Klar ist, daß nach der Meinung des Philan-
geschmacks und -temperaments ins Politische. Eine Kunst- thropen meine »Gesinnung« mir das Leben überaus leicht
schule (›Expressionismus‹) von heftig aktivischen Bedürfnis- macht, — leicht habe ich es, seiner Erkenntnis nach, und leicht
sen, der Ruhe, der Betrachtung, dem epischen Behagen, der habe ich es immer gehabt, — mit Sing und Sang die Welt ent-
Sachlichkeit und Heiterkeit verächtlich abgeneigt, ganz auf das lang, wie es in der Oper heißt, so ging's, so lebte ich alle Tage.
Rapide, Vehement-Bewegte, Graß-Ausdrucksvolle gestellt, — Ist Haß ein stärkeres Erkenntnismittel als Liebe? Nein, doch
verlangt eines Tages, daß »der Geistige handle«. Das könnte wohl nicht. Zum mindesten nicht skrupelloser Rhetorenhaß.
gut werden. Was mich betrifft, so denke ich mit Interesse und Ich will nicht von der Vergangenheit reden, nicht von der
Dankbarkeit an wertvolle, im Goethe'schen Sinn ›bedeutende‹ trällernden Leichtigkeit meines Seins und Wesens in ihr. »Ich
Eindrücke der knallenden Wut, Grausamkeit, Wildbuntheit, stehe zwischen zwei Welten«, äußerte Tonio Kröger, »bin in
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keiner daheim und habe es infolgedessen ein wenig schwer.« leicht ein deutlicheres Bild als die Mehrzahl meiner Lands-
Er bemerkte auch, einige gingen mit Notwendigkeit in die leute, ich erklärte einen »triumphalen Sieg« für undenkbar und
Irre, weil es einen richtigen Weg für sie überhaupt nicht gäbe. rechnete allenfalls mit einem Ausgang gleich dem von 1763.
Genug. — Ich will nur für den Augenblick fragen, ob nicht Aber wenn die verführerische national-historische Parallele mich
schmissiger Fortschrittsoptimismus und rhetorische Philan- entzückte, so band und blendete sich mich doch nicht ganz. Ich
thropie es sein mögen, die eine vergleichsweise ›leichte‹ Le- sah wohl, daß, was sich zutrug, mehr sei, Größeres und Schreck-
bensform ergeben. Ich begnüge mich, festzustellen, daß er, der licheres bedeute als ein Stück preußischen Schicksals. Ich darf
mir Leichtlebigkeit zum Vorwurf macht, mit den Ereignissen sagen, daß ich zu den ersten gehörte, die in dem, was herein-
dergestalt fertig wurde, daß er zunächst der deutschen Welt brach, heranwuchs und worin nur Kindsköpfe einen ›Krieg‹
einige Pariser Kammer-Tiraden über den Säbel und die Ge- wie einen anderen erblicken konnten, ein grundstürzendes Er-
rechtigkeit ins Gesicht schleuderte und dann den Typus des eignis erkannten, vergleichbar nur den gewaltigsten Umwälzun-
humanitären Geschäftsmannes für das Wunschbild des Euro- gen, Durch- und Zusammenbrüchen der Erdgeschichte, größte
päers erklärte, — worauf er stolz, heiter, moralisch geborgen Historie also, welcher im pazifistisch-humanitären oder litera-
und umknattert vom Beifall einer politisierenden Jugend sich risch-kulturellen Sinne zu ›opponieren‹ mir höchst albern und
der bestandfrohen Dichtkunst wieder zuwenden konnte. Und armselig erscheinen mußte, — eine Weltwende, die blutig-ge-
ich? Ich für mein leichtes Teil? Ich bin irgendwie gehalten, schichtliche Markierung der Jahrhundertwende zum mindesten.
dies Buch zu schreiben . . . Mit anderen Worten: ich laufe ver- Zu solcher Erkenntnisart schien einzig der deutsche Geist ge-
antwortungslos und vor Hochgefühl von Sinnen neben den stimmt zu sein, und was ihn ekelte, war eben der mesquine
Verführern des Volkes her, »unwissend übrigens über die Ka- Instinkt seiner Feinde: ein Erdereignis, das freilich, wie alles
tastrophe, wie der Letzte«. Elementare, in unsere Zivilisation wenig zu passen schien, in
»Unwissend über sie, wie der Letzte«, — auch dieses Wort hat eine sentimental-moralische, ja forensische Affäre mit ›Schuld‹
mir zu denken gegeben. Wußte und weiß ich weniger von den und ›Unschuld‹, ›Säbel‹ und ›Gerechtigkeit‹ kümmerlich um-
Ereignissen als diejenigen, die sich höchst frei und vornehm zufälschen. Ein gut Teil meines Patriotismus ging und geht aus
dünken, indem sie die ›große Zeit‹ verhöhnen — aus klein- dem Vergleich der deutsch-tragischen Auffassung der Dinge
lich-literatenhafter Besorgnis vor den kulturellen Schädigun- mit der forensisch-moralischen der Feinde hervor . . . Aber sah
gen, die Krieg und patriotische Umnebelung im Gefolge zu ich in dieser Jahrhundertwende nicht auch eine Wende meines
haben pflegen, im Jahre 1870 zum Beispiel zur Folge hatten? eigen-persönlichen und unser aller Leben? Begriff ich nicht
Habe ich mir, August 1914, diesen sogenannten ›Krieg‹, des- bald, daß ›nachher‹ alles anders sein werde, daß nichts wie-
sen Wesen und Folgen nur kindliche Torheit mit denen von der werden könne wie vordem, daß niemand werde auf alte
1870 vergleicht, — habe ich ihn mir auch nur im ersten Augen- Art sein Leben fortsetzen können, und daß, wer es tun wollte,
blick als leicht und fröhlich, als einen militärischen Spazier- sich selbst überleben würde? Was mich erschütterte und be-
gang nach Paris und Petersburg gedacht? Nicht mit 1870, mit schämte, war das Mißverhältnis zwischen meinem persönlichen
1756 verglich ich ihn, soweit er eben nur ›Krieg‹ war; ich sagte, Range und dem dröhnenden Aufwand an Weltgeschichte, der
daß er wohl sieben Jahre dauern möge — da er ins dritte dauert, die Krisis meiner vierzig Jahre markiert. Kein Zweifel, es ist
was ist unmöglich? — ich machte mir von der physischen und ein Schicksal, so in die Zeit gestellt zu sein, daß die Wende
flach-moralischen Übermacht, gegen die er zu führen sei, viel- des persönlichen Lebens mit katastrophaler Zeitwende zusam-
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menfällt. Glücklich, dachte ich oft in diesen Jahren, glücklich sein können? Nein, unwissend wie der Letzte über die Be-
derjenige, der sein ganzes Leben lang denselben Kultur- und deutung der Stunde bin ich wohl kaum, da ich ja sogar weiß,
Gedankengrund unter sich fühlen darf! Manche Stunde ver- daß alt und für immer von gestern sein wird, wem es nicht
brachte ich über den Schriften, Aufzeichnungen, Epigrammen, gelingt, mit der neuen Zeit zu einem leidlichen Frieden zu
in denen Goethe sich mit der Französischen Revolution ausein- kommen.
anderzusetzen suchte, und es war mir ein Trost, zu sehen, wie
Was mich angeht, so muß ich begreifen, daß ich wohl auf-
dieser Große, der auch gewähnt haben mochte, bis an sein Le-
nehmen, lernen, Verständigung suchen, mich korrigieren, —
bensende den gleichen Gesellschafts- und Geistesgrund unter
mein Wesen und meine Erziehung aber nicht ändern, meine
den Füßen zu behalten, so schwere Mühe hatte, mit dem Neuen
Wurzeln nicht ausreißen und anderswo einsenken kann. Diese
fertig zu werden, es in seine Welt, sein Werk aufzunehmen.
Zeitwende wäre »meine Stunde«? Sie ist es nur insofern, als
Oder war etwa sein Herz, sein Geist dem Neuen weit und froh
ihr Donner unverhältnismäßig-überwältigend die Wende mei-
geöffnet? War er nicht voller Polemik, voller Widerstand?
nes persönlichen Lebens betont, — das Ende meiner »Stunde«
War sein erster und stärkster Instinkt nicht Selbstbehauptung,
bezeichnet sie, wenn mich nicht alles täuscht, und nicht ihren
Behauptung seiner Welt?
Anfang. Mein günstigster Augenblick! Tor, siehst du denn
nicht, daß es dein günstigster Augenblick ist, der deine viel-
Franztum drängt in diesen verworrenen Tagen,
mehr? ! Die Politisierung, Demokratisierung Deutschlands, die
wie ehmals
das Werk dieses von dir humanitär verneinten Krieges ist,
Luthertum es getan, ruhige Bildung zurück.
schafft sie nicht die Atmosphäre, in der dein Werk und Wille,
Oder, um noch irgend etwas Antidemokratisches herauszu- deine politische Moralität und politische ›Menschlichkeit‹ end-
greifen : lich ruhmreich gedeihen können? Blüht denn dein Werk nicht
auf? Sammeln sich nicht die Deinen und verkündigen deinen
Was euch die heilige Preßfreiheit
Namen, der ihnen ein Symbol der neuen Wahrheit und Ehre ist?
Für Frommen, Vorteil und Früchte beut?
Liegt die Kritik nicht auf ihrem Angesicht vor dem, was noch
Davon habt ihr gewisse Erscheinung:
nicht da war und was du vorstellst: der artistischen Demo-
Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung.
kratie? Was zu sein ich, der ich mit deutscher Kultur, deutschem
Dergleichen hatten Goethe, Schopenhauer, Nietzsche den deut- Kunstbürgertum inniger immerhin als du zusammenhänge,
schen Zögling gelehrt. Und er hätte es über sich gewinnen mir nie einreden wollte: ein deutscher Dichter, — versichern
sollen, in diesem Kriege für die demokratische öffentliche Welt- die Deinen dir nicht so eifrig, du seist es, daß es »nicht mehr
meinung, die alle Merkmale der Oberflächlichkeit, Unwissen- als menschlich« wäre, wenn du es glaubtest? Nun kommt der
heit, Sentimentalität und Gemeinheit trug, gegen Deutschland turbulente Erfolg, der modern-betriebhafte, beinahe im Stil
Partei zu n e h m e n ? . . . Dennoch wiederhole ich: Jeder, der hier- und Geschmack deiner zolaesken Träume; es kommen die Me-
nach zu leben fortfahren wollte, wie er bisher gelebt, würde gaphon-Reklame, die gelbbroschierte Massenverbreitung, die
sich selbst überleben. Was ist denn dieses lange Selbstgespräch Theaterfeste — in einem politisch-demokratischen Sinn und
und Schreibwerk anderes als ein Rückblick auf das, was ich Geiste das alles, der meiner »Stunde« ganz fremd war . . . Wohl
war, was ich eine Weile mit Recht und Ehren war, und was dir! Wohl mir! Je mehr dir von allem Ersehnten die Fülle wird,
ich, ohne mich alt zu fühlen, offenbar nicht länger werde desto eher darf ich hoffen, daß auch mir Gerechtigkeit wider-
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fährt; denn jede »Stunde« vergeht, und ich glaube nicht, daß für künstlerischer und anständiger halte als die eines Vorsän-
reine Werturteile aus ihrer verschiedenen Lagerung im Leben gers der Geistestugend? Ich greife vor, ich will der Tugend ein
des einzelnen abzuleiten sind. Unterdessen aber: besonderes Kapitel weihen . . . Aber ist ein Augenblick, der so
wenig der meine ist, so sichtbarlich dir und deinem glänzen-
Well, if I don't succeed, I have succeeded,
den Aufstieg gehört, — ist, frage ich, dies der richtige Augen-
And that's enough; succeeded in my youth,
blick, mir ins Gesicht zu schlagen, wie du es da tust? Verlohnte
The only time when much success is needed:
es, fünfzehn Jahre in edler Neidlosigkeit an dich zu halten, um
ausgerechnet in dem Augenblick, wo alles sich wendet, dich so
Whate'er it was, 't was mine; I've paid, in truth,
hemmungslos gehenzulassen? Sollte es nicht ein Mißbrauch
Of late, the penalty of such success,
deiner Ehrenstunde sein, mir vor versammelter Jugend ins Ge-
But have not learned to wish it any less.
sicht zu sagen, ich sei mein Leben lang nichts als ein unter-
Es sind Jahre her, mehr Jahre, als der Krieg dauert, daß ich haltsamer Schmarotzer gewesen?
mir die Don Juan-Verse im Buch mit dem Bleistift anmerkte. Ein Schmarotzer. Denn: »Waren sie etwa Kämpfer?« O nein,
So früh wußte ich Bescheid . . . und zwar ohne Jammer. Ich nie war ich ein Kämpfer, nie etwas Ähnliches! Ich stand nicht
bin fähig, mein Leben und Schicksal mit Ruhe, ja mit Heiter- da, eine Hand auf dem Herzen, die andere in der Luft, und
keit anzusehen, mit einer Unabhängigkeit, für die ›amor fati‹ rezitierte den Contrat social. Ich sang nicht, daß man irgend-
ein zu pathetisches, moralisches Wort ist. Verbitterung ist meine welche ›Herren‹ an die Laterne hängen müsse, und plädierte
letzte Gefahr. I have succeeded, and that's enough . . . Auch nicht auf Abschaffung der großen Männer, weil sie das Niveau
kommt Liebe, selbst Liebe der Jugend immer noch zu mir, und drücken. Ich behauptete nicht, daß die Republik das Ideal der
sie möge glauben, daß sie zu keinem Undankbaren kommt. Wahrheit sei, verhöhnte auch nicht die auf ewig mit Leid be-
Wenn ich aber nun zurücktrete; wenn ich das Lied vom ladene Menschheit, indem ich tremolierend versicherte, ihr Weg
›Geiste‹, das ich früh, versuchsweise und ironisch gedämpft, führe »zu etwas sehr Schönem, durchaus Heiterem«, nannte
vor mich hinsummte, in politisch organisiertem Chorus nicht ferner nicht jeden einen Idioten oder Schurken, der das nicht
mitsingen mag und kann; wenn ich, dessen ethische Symbolik glauben konnte, und schrie nicht: »Man achte auf mich, der
augenblicklich zu einer gewissen nationalen Aktualität gelangt liebt!« Ich erinnere mich, ich nahm Abstand von all dem. Und
ist, bald sehr allein stehen werde, ohne Anhang und ›An- folglich war ich kein Kämpfer. Folglich war ich ein Schma-
schluß‹, ein Unorganisierter, Außenseiter und ›Taugenichts‹: rotzer. — Ich will besonnen sein. Ich will nicht liederlichen
nun, so ist mir, als könnte mit solcher untugendsamen Ein- Redner-Leichtsinn, schnöde, empörende Kränkung nennen, was
samkeit und Vergessenheit ein ganz neues Behagen verbunden die Maße meines Falles wohl nur als kleine Ungerechtigkeit
sein, eine neue Freiheit, Unverantwortlichkeit und Boheme, zu bezeichnen erlauben. Ein Großer ging, die Hände auf dem
etwas wie ein neuer Galgenhumor und Übermut, ein Zustand, Rücken, in seinem Zimmerchen umher und sprach zu dem lau-
ganz ähnlich jenem dunklen, freien, frühen, wo der Name noch schenden Famulus, während vielleicht immerhin seine Stimme
nicht der Welt zur Beute geworden, und wo man, überzeugt, bebte: »Ich weiß recht gut, daß, so sauer ich es mir auch mein
ein unmöglicher Bursche zu sein, seine besten Sachen machte. lebelang habe werden lassen, all mein Wirken in den Augen
Wer sagt dir, daß es nicht eben dies ist, was ich will und suche? gewisser Leute für nichts geachtet wird, eben weil ich ver-
Daß ich nicht vielleicht die Rolle des unmöglichen Burschen schmäht habe, mich in politische Parteiungen zu mengen. Um
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diesen Leuten recht zu sein, hätte ich müssen Mitglied eines daß sie ihnen helfen, zu leben. Sie lehrten mich glauben, daß
Jakobiner-Klubs werden.« Darf ich mich dieser Worte erin- kein ephemerer Gefälligkeitszauber, daß Menschenwert wirke
nern, mich ihrer nur erinnern und nichts weiter, in dem Augen- aus dem, was ich geben konnte. Angreifende, immer nur selbst-
blick, wo man mir sagt, ich hätte ein Schmarotzerleben ge- gerecht angreifende politische Schmähsucht aber tritt auf und
führt? . . . Der Begriff des Reifens war mir lieb und teuer, seit erklärt, statt ein »Kämpfer« zu sein, hätte ich schmarotzend,
ich hatte verstehen dürfen, daß er Raum habe in meinem Le- was die Macht herbeiführte, zum Besten gewandt.
ben. Ich hatte das nicht geglaubt, ich gestehe, daß ich von die- »Den Namen seiner Tat«? Was der Philanthrop, der Zivi-
sem sozialen Begriff nicht ausgegangen war. Nein, ich hatte lisationsliterat, Neu-Pathetiker und Politikus sich da geleistet
mir nicht träumen lassen, daß ich anderen zu helfen vermöchte, hat, was er in seiner großen sittlichen Geborgenheit sich glaubte
da meine eigene Fragwürdigkeit mir so schwer zu schaffen leisten zu dürfen, ist leichtfertigste, gewissenloseste, mensch-
machte. Heute weiß ich es hundertfach, daß ich, indem »ich's lich unverantwortlichste Verleumdung. Er behaupte immerhin
mir sauer werden ließ«, anderen leben geholfen habe. Men- die moralische Überlegenheit dieser Art von ›Innerer Politik‹
schen leben helfen . . . Das ist freilich etwas anderes, als sie über den nach außen gerichteten Zorn patriotischer Heißsporne:
mit Schmiß und Tremolo in den einzig europäischen, einzig schwereren Schiffbruch hat keines Mitlebenden Vernunft, Ge-
menschenwürdigen Zustand politischer Revolte zu versetzen, rechtigkeit, Menschlichkeit gelitten im Sturme der Zeit als die
aber daß es etwas Schlechteres, weniger Sittliches, auch nur seine. —
Unsozialeres sei, ist nicht ausgemacht. Meine Art zu reden,
das Leben reden zu lassen war eher herb als süß, wenn auch
freilich Humor und Musik mir Korrelate des Pessimismus be-
deuteten. Ein großer bürgerlicher Künstler, Adalbert Stifter,
sagte in einem Brief: »Meine Bücher sind nicht Dichtungen
allein, sondern als sittliche Offenbarungen, als mit strengem
Ernste bewahrte menschliche Würde haben sie einen Wert, der
länger bleiben wird als der poetische.« Ich habe ein Recht,
ihm das nachzusprechen, und Tausende, denen ich ›leben half‹,
sehen es, dieses Recht. Die Generation, die um die Jahrhun-
dertwende über den Erfolg oder Nicht-Erfolg eines Schriftstel-
lers entschied, hieß mich willkommen, — nun, sie hieß auch
andere, oftmals Schlechtere willkommen, über den Wert mei-
ner Wirkung war damit nicht viel gesagt, es konnte sein, daß
sie auf einschmeichelnden Eigenschaften, auf Annehmlichkei-
ten des Tonfalls beruhte. Aber damals, als ich zu schreiben
begann, lagen Menschen in den Wiegen, die heut soviel Jahre
zählen wie der Verfallsroman, die Bürger-Dichter-Novelle. Sie
wuchsen auf, gleichzeitig mit diesen Gebilden wuchsen sie ins
Leben, ins schwere Leben hinein, und sie ließen mich wissen,
220
221
Bei der Beantwortung dieser Frage ist es gang und gäbe,
POLITIK Unwesentlich-Beiläufiges allzusehr ins Licht zu rücken, da-
gegen das eigentlich-wesentlich Kennzeichnende zu vernachläs-
Welcher Künstler hat sich sonst um die sigen und den Begriff vor allem viel zu eng zu umschreiben.
politischen Ereignisse des Tages bekümmert Ästhetizismus, zum Beispiel, ist nicht etwa Schöngeistigkeit,
— er lebte nur in seiner Kunst, und nur in Schönseligkeit, Schönbärtigkeit; es ist schlechterdings kein Kri-
ihr schritt er durch das Leben; aber eine terium des Ästhetentums, daß jemand darauf bestehe, ›in
verhängnisvolle schwere Zeit hat den Men- Schönheit zu sterben«, oder beständig Redensarten wie ›Wein-
schen mit eiserner Faust ergriffen, und der laub im Haar‹ im Munde führe. Vielmehr ist es vollkommen
Schmerz preßt ihm Laute aus, die ihm sonst möglich, jenen Wunsch als unerträglich affektiert und diese
fremd waren. Redensart als ziemlich abgeschmackt zu empfinden und dabei
E. T. A. Hoffmann,
dennoch ein Ästhet reinsten Wassers zu sein. Auch jener Man-
›Höchst zerstreute Gedanken‹
gel an Herzenswärme und Menschlichkeit, jene kluge und in-
Sachlichkeit ist Freiheit, ist Heiterkeit. Wir atmen auf, wir tellektuelle Mischung aus Trivialität und Raffinement oder
dürfen wieder ›wissenschaftlich‹ sein, wie zu Anfang unserer aus Brutalität und Raffinement, die das Wesen mancher mo-
Betrachtung. Wir fragen: Was ist Politik? derner oder nicht mehr moderner Kunstwerke ausmacht, ge-
Man wird antworten: »Politik ist die Lehre vom Staat.« nügt nicht, den Begriff des Ästhetizismus zu erschöpfen und
Oder etwa, wie ein Gelehrter mit scheinbar letzter Genauigkeit zu erfüllen. Ästhetizismus als Gegensatz des Politikerrums —
formuliert: »Politik ist ein praktisches Verhalten einschließlich denn nur innerhalb dieser Antithese erwacht der Begriff heute
der aus ihm abgeleiteten Regeln, das sich, sei es von Seiten zu aktuellem Leben! — Ästhetizismus ist vielmehr . . . Aber
der Regierung oder bestimmter Volksgruppen oder auch ein- lassen wir Beispiele reden!
zelner, die Aufrechterhaltung oder die Umgestaltung des be- Ein Ästhet, um den erstbesten Fall herauszugreifen, ist
stehenden Staates zum Ziele setzt.« Das sind jedoch heute ver- Schiller, an jener Stelle der ›Braut von Messina‹, wo er durch
altete Bestimmungen. Die wahrhafte Definition des Begriffes den Mund eines Chorführers in den einschmeichelndsten Wor-
›Politik‹ ist nur mit Hilfe seines Gegenbegriffes möglich; sie ten den Frieden preist, ihn mit einem lieblichen, am ruhigen
lautet: »Politik ist das Gegenteil von Ästhetizismus.« Oder: Bache gelagerten, von Lämmern umhüpften, seiner Flöte süßes
»Politik ist die Rettung vor dem Ästhetizismus.« Oder, ganz Tönen entlockenden Knaben vergleicht, — schon den nächsten
streng gesprochen: »Politiker zu sein, ist die einzige Möglich- Atemzug aber dazu benutzt — oder mißbraucht —, mit dersel-
keit, kein Ästhet zu sein.« Wir behaupten und bestehen dar- ben dichterischen Hingebung vom Kriege zu reden, zu erklä-
auf, daß nur dies die heute lebendige und der Sachlage genug- ren, daß auch er seine Ehre habe, ihn »den Beweger des Men-
tuende Begriffsbestimmung der Politik darstellt, obgleich uns schengeschicks« zu nennen und hierauf in jenen Preisgesang
nicht entgeht, daß wir da ein Unbekanntes mit einem Unbe- auf die Menschenschlächterei auszubrechen, — eben jene falsch-
kannten bestimmen, — was so lange keine Bestimmung ist, moralischen Verse, deren Anführung durch mich Romain Rol-
als wir nicht dies zweite X, den Begriff des Ästhetizismus, land so schwer erzürnte. Schiller, wiederholen wir, ist an die-
gleichfalls bestimmt haben . . . Wir sind bereit dazu! Was ist ser Stelle Ästhet: denn er ist hier kein Politiker, — überhaupt
Ästhetizismus? Was ist ein Ästhet? keiner, weder ein guter noch ein schlechter. Er hätte den Krieg
222 223
falls wirkt seine Figur sehr ernst und respektabel, jedesmal,
verherrlichen und die Pazifisten Memmen und Flenner nennen
mögen: so wäre er ein schlechter und falscher, bekämpfens- wenn er eintritt. »Sobald Karl das Zimmer verlassen hatte,
werter und menschenfeindlicher Politiker gewesen. Er hätte begannen die beiden ihre Erörterungen von neuem. ›Lesen Sie
mögen den ewigen Frieden besingen und den Krieg als Rück- Voltaire!‹ sagte der eine. ›Lesen Sie Holbach! Die Enzyklopä-
fall in untermenschliche Zustände brandmarken: so hätte er disten!‹ — ›Lesen Sie die ‹Briefe einiger portugiesischen Juden›‹,
als ein guter, aufgeklärter und beifallswürdiger Politiker ge- sagte der andere, ›lesen Sie die‹ Grundlagen des Christentums»
handelt. Aber sich in das Wesen des Friedens und das des von Nicolas !‹ — Sie regten sich auf, bekamen rote Köpfe und
Krieges mit der gleichen dilettierenden Einfühlsamkeit, Liebe redeten gleichzeitig ineinander hinein. Bournisien war ent-
und freien Anschauung zu vertiefen, das eben war Ästhetizis- rüstet über die Vermessenheit des Apothekers, Homais er-
mus, es war die Gesinnungslosigkeit des — ich spreche es aus: staunt über die Beschränktheit des Priesters. Sie waren beide
des Schmarotzers. nahe daran, sich Beleidigungen zu sagen . . .« Endlich schlafen
sie ein. »So saßen sie einander gegenüber, mit vorgestreckten
Flaubert ist, anders als Schiller, dessen Ästhetizismus zu-
Bäuchen, mit ihren aufgedunsenen Gesichtern voller Stirnrun-
weilen durch seinen Moralismus in Frage gestellt zu werden
zeln. Nach all ihrem Zwist vereinte sie die gleiche menschliche
scheint, als ausgeprägter Ästhet allgemein bekannt; es wäre
jedoch oberflächlich, zu glauben, er sei es seiner gehämmerten Schwäche. Sie regten sich ebensowenig wie der Leichnam neben
und mit schrullenhafter Sorgfalt abgewogenen Kunstprosa ihnen, der zu schlummern schien. Karl kam. Er weckte die
wegen. Sie ist nicht mehr als ein Symptom, und sie ist kaum beiden nicht. Er kam zum letzten Male. Um Abschied von ihr
das; denn ein guter Stil ist ebensowohl das Merkmal des wah- zu nehmen.« — Ich füge dem nichts hinzu. Es ist Ästheti-
ren, beifallswürdigen und menschenfreundlichen Politikertums. zismus; denn die Politik kommt dabei auf die skandalöseste
Nein, es ist anderes, was Flaubert zum Ästheten stempelt, es Weise zu kurz.
ist zum Beispiel seine Art, sich zu den beiden Figuren des Apo- Als Ästhet verrät Schopenhauer sich auf Schritt und Tritt;
thekers und des Priesters in ›Madame Bovary‹ zu verhalten, er tut es an den beiden folgenden Stellen durchaus nicht mit
dort, wo sie an Emma's Leiche beisammen sitzen und ihre Welt- besonderer Zügellosigkeit, aber vielleicht doch mit paradig-
anschauungen aufeinanderprallen, — die berühmte Weltan- matischer Prägnanz. Er spricht vom Ruhm, von Leistungen,
schauung des Herrn Homais und die des Landgeistlichen. Der durch welche man Ruhm erlangt: sie zerfallen, sagt er, in Ta-
Tod der armen Sünderin Emma ist unmittelbar vorhergegan- ten und Werke, und jeder dieser beiden Wege zum Ruhm habe
gen, — es waren strenge, furchtbare, feierliche Seiten. Nun, seine eigenen Vorteile und Nachteile. »Der Hauptunterschied
wie gesagt, prallen Weltanschauungen aufeinander. »›Da Gott ist, daß die Taten vorübergehen, die Werke bleiben. Die edel-
stets weiß, was uns not tut, wozu das Gebet?‹—›Sind Sie denn ste Tat hat doch nur einen zeitweiligen Einfluß; das geniale
kein Christ?‹ — ›Ich bewundere das Christentum, es hat zuerst Werk hingegen lebt und wirkt, wohltätig und erhebend, durch
die Sklaverei abgeschafft . . .‹ — ›Davon reden wir nicht. Die alle Zeiten. Von den Taten bleibt nur das Andenken, welches
Bibel . . .‹ — ›Gehen Sie mir mit der Bibel! Die Jesuiten .. .‹« immer schwächer, entstellter und gleichgültiger wird, allmäh-
Zuweilen werden sie durch den Eintritt Karl Bovary's unter- lich sogar erlöschen muß, wenn nicht die Geschichte es auf-
brochen, den es zu der Leiche zieht. Er ist es, dessen Frau ge- nimmt und es nun im petrifizierten Zustande der Nachwelt
storben ist, und es scheint, als erhöhe ihn dies auf irgendeine überliefert. Die Werke hingegen sind selbst unsterblich, und
Weise über die Streitigkeiten der beiden Biedermänner. Jeden- können, zumal die schriftlichen, alle Zeiten durchleben.«

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Schopenhauer bemerkt am Fuße, es sei also ein schlechtes Kom- wird. Die Menschen haben sich in diesem ewig wogenden,
pliment, wenn man, wie heutzutage Mode sei, Werke dadurch uferlosen, unendlich durcheinander gemischten Chaos von Gut
zu ehren meine, daß man sie Taten tituliere. Denn Werke seien und Böse Fächer geschaffen, haben in diesem Meer imaginäre
wesentlich höherer Art, darum, weil sie der Intelligenz ent- Grenzlinien gezogen, und sie erwarten, daß das Meer sich nach
sprossen seien, der schuldlosen, reinen, dieser Willenswelt wie diesen Grenzlinien teile. Als ob es nicht Millionen anderer
ein Duft entsteigenden. — Dies zum ersten. Er sagt an an- Einteilungen von ganz anderen Gesichtspunkten aus und in
derem Orte: »Die Natur macht es nicht, wie die schlechten anderen Ebenen gäbe! . . . Die Zivilisation ist das Gute, die
Poeten, welche, wann sie Schurken oder Narren darstellen, so Barbarei das Böse; die Freiheit ist das Gute, die Unfreiheit das
plump und absichtsvoll dabei zu Werke gehn, daß man gleich- Böse. Dieses imaginäre Wissen vernichtet in der menschlichen
sam hinter jeder solcher Person den Dichter stehn sieht, der Natur das instinktive, selige, ursprüngliche Streben nach dem
ihre Gesinnung und Rede fortwährend desavouiert und mit Guten. Wer kann definieren, was Freiheit, was Despotismus,
warnender Stimme ruft: ›Dies ist ein Schurke, dies ist ein Narr; was Zivilisation und was Barbarei ist? Wo sind die Grenzen
gebt nichts auf das, was er sagt.‹ Die Natur hingegen macht es zwischen diesen Begriffen? Wer hat in seiner Seele einen so
wie Shakespeare und Goethe, in deren Werken jede Person, unfehlbaren Maßstab für Gut und Böse, daß er mit ihm alle
und wäre sie der Teufel selbst, während sie dasteht und redet, die flüchtigen und verworrenen Tatsachen zu messen ver-
recht behält; weil sie so objektiv aufgefaßt ist, daß wir in ihr möchte? Wer hat schon je einen Zustand gesehen, wo Gut und
Interesse gezogen und zur Teilnahme an ihr gezwungen wer- Böse nicht miteinander vermengt wären? . . . Unendlich ist die
den: denn sie ist, eben wie die Werke der Natur, aus einem Güte und die Weisheit dessen, der alle diese Widersprüche ge-
innern Prinzip entwickelt, vermöge dessen ihr Sagen und Tun stattet und befohlen hat. Nur dir, elender Wurm, der du frech
als natürlich, mithin als notwendig auftritt.« — Man kann, und verwegen seine Gesetze und seine Ratschläge zu durch-
scheint mir, im politikfeindlichen Ästhetizismus nicht weiter dringen suchst, nur dir erscheinen sie als Widersprüche. Er
gehen, als indem man die Natur selbst für ästhetizistisch erklärt. schaut mild von seiner strahlenden unermeßlichen Höhe herab
Ein Ästhet und kein Politiker ist sogar Tolstoi, wenn er am und freut sich der unendlichen Harmonie, in der ihr euch alle
Ende seiner Erzählung ›Luzern‹ in die Worte ausbricht: »Welch in ewigem Widerspruch bewegt.« — Welche Schlaffheit! Welcher
ein unglückliches, elendes Geschöpf ist doch der Mensch, der Zweifel! Zuletzt, welche falsche Verklärung! Und die hungern-
in seinem Bedürfnis nach positiven Lösungen in diesen ewig den Bauern? Werden die satt von deiner »unendlichen Harmo-
wogenden, uferlosen Ozean von Gut und Böse, von Tatsachen, nie«? Nicht solche wehleidig-versöhnlichen Gedankengänge
Erwägungen und Widersprüchen hineingeworfen i s t ! . . . Wenn sind es, die zur politischen Tat führen!
der Mensch nur endlich gelernt hätte, nicht so scharf und ent- Strindberg erzählt: »Der Postmeister und der Quarantäne-
scheidend zu urteilen und zu denken und nicht immer Ant- meister sahen allerdings das Leben und die Menschen nicht
worten auf Fragen zu geben, die ihm nur darum gegeben wer- vom selben Gesichtspunkt an, denn der Postmeister war ein
den, damit sie ewig Fragen bleiben! Wollte er doch begreifen, entschiedener Mann der Linken, und der Quarantänemeister
daß jeder Gedanke zugleich falsch und richtig ist! Er ist falsch, war ein Zweifler, aber sie konnten so gut miteinander plau-
weil der Mensch einseitig ist und unmöglich die ganze Wahr- dern . . . Der weitere Blick des Quarantänemeisters fand zu-
heit in ihrer Gesamtheit erfassen kann; er ist richtig, weil durch weilen seinen Ausdruck in einer Mißbilligung, etwa so: ›Ihr
ihn immer eine Seite des menschlichen Strebens ausgedrückt Parteimänner seid wie einäugige Katzen. Einige sehen nur mit
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dem linken Auge, andere nur mit dem rechten, und darum tiefen Unverbindlichkeit, ihrer geistigen Freiheit besteht, —
könnt ihr niemals stereoskopisch sehen, sondern ihr seht im- jener Freiheit, die Turgenjew immer meinte, wenn er von Frei-
mer platt und einseitig.‹« — Ist das genug? Am Schlusse von heit sprach . . . Man muß durchaus verstehen, daß jemand, der
›Schwarze Fahnen‹ sagt derselbe Verfasser: »Als Dichter hast nicht gewohnt ist, direkt und auf eigene Verantwortung zu
du ein Recht, mit Gedanken zu spielen, mit Standpunkten Ver- reden, sondern gewohnt, die Menschen, die Dinge reden zu
suche anzustellen, aber ohne dich an etwas zu binden, denn lassen, — daß jemand, der Kunst zu machen gewohnt ist, das
Freiheit ist die Lebensluft des Dichters.« —Ist das genug? Nein, Geistige, das Intellektuelle niemals ganz ernst nimmt, da seine
laßt euch nicht verwirren, es genügt keineswegs zum Beweise, Sache vielmehr von jeher war, es als Material und Spielzeug
daß Strindberg als Geist und Persönlichkeit wirklich dem euro- zu behandeln, Standpunkte zu vertreten, Dialektik zu treiben,
päischen Ästhetizismus angehört hätte, den Ibsen in Hedda den, der gerade spricht, immer recht haben zu lassen . . . Der
Gabler personifizierte, — sowenig wie die vorher angeführ- intellektuelle Gedanke im Kunstwerk wird nicht verstanden,
ten Äußerungen ernstlich genügten, um Schiller, Flaubert, Scho- wenn man ihn als Zweck seiner selbst versteht; er ist nicht
penhauer und Tolstoi zu Ästheten zu stempeln; denn selbst literarisch zu werten, — was selbst raffinierte Kritiker zuwei-
Flaubert — ich glaube, wir deuteten es an — verdient diesen len vergessen oder nicht wissen; er ist zweckhaft in Hinsicht
Namen im engen, schlechten und geckenhaften Sinne nicht. auf die Komposition, er will und bejaht sich selbst nur in Hin-
Was aber Ästhetizismus als Gegensatz von Politikertum be- sicht auf diese, er kann banal sein, absolut und literarisch ge-
deutet — und dies ist, ich wiederhole es, seine lebendige, heu- nommen, aber geistreich innerhalb der Komposition. Gesetzt,
tige und aktuelle Bedeutung —, dies anschaulich zu machen, ein Kopf von solcher Struktur und Gewöhnung würde dazu
reichen, denke ich, meine Beispiele hin. gebracht, direkt zu reden, außerhalb einer Komposition zu
In der Strindberg'schen Äußerung tut sich das Wort »stereo- denken, im engeren Sinne zu Schriftstellern: so wird er einer-
skopisch« besonders kräftig hervor. Es könnte dazu verleiten, seits die entgegenstehenden Hemmungen als fast unüberwind-
die ästhetizistische Sehart einfach als körperhafte Sehart zu be- lich empfinden, — erstens weil er in solchem Falle kaum weiß,
stimmen. Das wäre ungenügend. Es gibt unkörperhafte, flä- wie er schreiben soll, da er nichts und niemanden sprechen zu
chige, einäugig-einseitige Geistesprodukte, die dennoch — und lassen hat, jedes künstlerischen Haltes entbehrt; im ganzen
zwar wohl gar schon in ihrem Titel — das Gepräge des ›Ästhe- aber, weil er, sobald er es nicht mit Gestalten zu tun hat, über-
tizismus‹ tragen. ›Gedanken im Kriege‹ zum Beispiel, — das haupt nicht wo aus und ein wissen wird. »Es kommt mir dann
wäre ein solcher Titel. Es wäre eine Einschränkung, der Aus- immer so vor«, gesteht Turgenjew, »als ob man jedesmal mit
druck einer Bedingtheit dieser Gedanken, einer reservatio men- gleichem Recht das Entgegengesetzte behaupten könnte von
talis, um mich jesuitisch auszudrücken, der Vorbehalt jemandes, alledem, was ich sage. Spreche ich aber von einer roten Nase
der weiß, daß Kriegsgedanken notwendig anders aussehen und blonden Haaren, so sind die Haare blond und die Nase
als Gedanken im Frieden, der überdies weiß, daß durchaus rot—das läßt sich nicht hinwegreflektieren.« Andererseits aber
alles bloß Gesagte bedingt und angreifbar ist, so absolut wird gerade sein sonderbar lockeres Verhältnis zum Intellek-
und apodiktisch es auch im Augenblick empfunden werden tuellen ihm leicht einen Anflug des scheinbar Gewissenlosen,
und sich gebärden möge, und unangreifbar einzig und allein Leichtfertigen, Dialektischen-, Advokatenhaften verleihen; nicht
die Gestalt; daß die köstliche Überlegenheit der Kunst über das gewohnt, für Intellektuelles persönlich einzustehen, wird er
bloß Intellektuelle in ihrer lebendigen Vieldeutigkeit, ihrer auch jetzt noch kaum zum Gefühle ernsthafter Verantwortlich-
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keit gelangen, wird sich sprechen lassen auf dieselbe Art, wie Not gelöst? So haben wir mittelbar denn auch über den Poli-
er sonst Dinge und Menschen sprechen ließ, und sich auch mit tiker das Wesentliche erfahren, — wodurch wir uns einer ge-
dieser Rolle im tiefsten sowenig identifizieren wie mit den naueren Beschäftigung mit diesem ungleich wichtigeren und
früheren. Das Wort, es habe niemand Gewissen als der Be- zeitgemäßeren Typus aber keineswegs überhoben glauben.
trachtende; der Handelnde sei immer gewissenlos, trifft zu Daß wir nicht vom Politiker in des Wortes praktisch-gemeiner
auch hier, wenn auch auf eine unklassisch-verzwickte Weise: Bedeutung, vom Fach- und Berufspolitiker also, reden, liegt
Der ›Ästhet‹ ist gewissenhaft als Tuender (Machender, Ge- auf der Hand. Das ist ein niedriges und korruptes Wesen, das
staltender), denn seine Art des Tuns ist so frei und heiter, daß in geistiger Sphäre eine Rolle zu spielen keineswegs geschaf-
sie die Würde und Kühle der Kontemplation gewinnt; aber fen ist. Nein, der Politiker, den wir meinen, ist der Mann des
die Betrachtung wird ihm leicht zur Aktion — er kennt und Geistes, und zwar des reinen und schönen, des radikalen und
will sie vielleicht nur als Aktion — und eben als Betrachtender literarischen Geistes; er ist darum der Mann des Wortes, und
also neigt er zur Gewissenlosigkeit. zwar des reinen und schönen, des radikalen und literarischen
Aber das alles, höre ich erwidern, ist Skepsis, Relativismus, Wortes: Wir sehen vor uns den belles-lettres-Politiker, den
Frivolität und Schwäche! Schwäche vor allem! Denn Skepsis Politiker als Literaten und den Literaten als Politiker, den ›In-
und Relativismus sind das Gegenteil alles Genies, aller Ur- tellektuellen‹, den ›Voluntaristen‹, den ›Aktivisten‹ — und
kraft und Natur, sie sind auch das Gegenteil alles Schöpfer- was der Ehrennamen noch mehr sein mögen, die er sich zu-
tums und aller Religiosität. — Ist das gewiß? Sollte nicht mög- erteilt. Aber da er denn ein Voluntarist ist, — was will er?
licherweise in jenem Zweifel Tolstois an der Gültigkeit der Das Höchste! Er ist von der schönen Art jener Jünglinge bei
»Fächer«, die der Mensch sich im »Chaos« schafft, mehr Re- Adalbert Stifter, zu Anfang des ›Hagestolz‹: »Dann kommt
ligiosität enthalten sein als in irgendeiner politischen Fest- der Staat. Es wird in ihm die unendlichste Freiheit vorgeschla-
legung dessen, was gut und böse, was Zivilisation und was gen, die größte Gerechtigkeit und unbeschränkteste Duldsam-
Barbarei, was Freiheit und was Unfreiheit sei? Sollte nicht keit. Wer gegen dieses ist, wird niedergeworfen und besiegt...«
Skepsis ein zu leichtes, zu intellektuelles Wort sein, um die Was also will er? Er will zum Beispiel: Wahrheit, Freiheit,
Tolstoi'sche Denkungsart damit zu bezeichnen, — da doch seine Gerechtigkeit, Gleichheit, Vernunft, Tugend, G l ü c k . . . Das
Worte gerade eine vernichtende Kritik alles Intellektualismus, Glück alles in allem! Das unbedingte Glück aller, jenen Zustand,
alles Linien-im-Wasser-Ziehens bedeuten? Skepsis ist eine zu dem die Menschheit auf glänzendem Wege sich fortschrei-
selbst intellektuelle Einstellung gegenüber Intellektuellem, tend hinbewegt, der erst der Zustand wahrer Menschlichkeit
sie ist nicht Anti-Intellektualismus, denn dieser bedeutet sein wird, und den der Politiker als »sehr schön und durch-
Ehrfurcht, und der Begriff der Skepsis ist nie ohne einen aus heiter« beschreibt. Der Führer zu diesem Ziel ist der Geist:
Einschlag von Frivolität. Ehrfurcht und Zweifel, letzte Ge- der des Politikers, versteht sich, der Geist der Politik, der poli-
wissenhaftigkeit und letzte Ungebundenheit — gibt es diese tisierte Geist, eine innige und untrennbare generöse Verbin-
Verbindung? Doch, es gibt sie, denn sie macht das Wesen der dung von Politik und Schöner Literatur, von Aufwieglertum
ästhetizistischen Weltanschauung aus. und Wohlredenheit. Damit aber die Herrschaft des Geistes,
dieses Geistes möglich sei, bedarf es einer gewissen Gesell-
Haben wir die Aufgabe, den Begriff des Ästhetizismus an sei- schaftsverfassung, die noch nicht überall, am wenigsten in
nem aktuellen Gegensatz zum Politikertum zu bestimmen, zur Deutschland, sich zur Vollkommenheit herstellen wollte, auf
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deren Herstellung das Augenmerk des Politikers daher vor al-
tionsliteraten getauften. Bevor wir jedoch im Studium dieses
lem gerichtet sein muß und die recht eigentlich Vorstufe und
bedeutenden Typus fortfahren, ist es nötig, einer Verwechs-
Vorschmack jenes »sehr schönen und durchaus heiteren« End-
lung vorzubeugen, Stimmen zu unterscheiden und mit dem
und Zielzustandes der Menschheit bedeutet. Diese Staats- und
geistigen Gehör auseinanderzuhalten, die sich im Zeitlärm
Gesellschaftsverfassung ist die radikale Republik, die Advo-
vermengen . . . Es ist das Wort ›Demokratie‹, das zu solcher
katen- und Literatenrepublik mit Philanthropie und Schreib-
Unterscheidung und solchem polyphonen Hören zwingt, denn
kunst . .. Aber sagen wir es richtiger: Philanthropie und Schreib-
in diesem Wort vereinigen sich viele Stimmen der Zeit, — ver-
kunst, das ist die Republik, denn die Republik, das meint nichts
einigen sich zum Lärm und nicht zur Musik, denn sie wissen
anderes als die Herrschaft der Politik, die unbedingte und rest-
nichts voneinander.
lose Politisiertheit der Köpfe und Herzen,—während wiederum
Wir dachten nach über Schopenhauers höhnische Ablehnung
Politik nichts anderes heißt als Philanthropie und Schreib-
jedes patriotischen Pathos (eine Ablehnung, die einzig im
kunst . . . Wir können es nicht eindringlicher machen: Philan-
Punkte der deutschen Sprache sich in leidenschaftliche Teilnahme
thropie und Schreibkunst, das ist die Bestimmung der Politik,
verkehrte), und wir fanden, daß er Patriotismus und Demo-
es ist die Bestimmung der Republik, es ist auch die Bestim-
kratie, wie jedermann damals, gleichsetzte und daß er nicht
mung der Literatur, der Zivilisation, des Fortschritts, der Hu-
Patriot und »deutscher Bruder« sein konnte und wollte, weil
manität. Dies alles ist eins; ja, nicht nur Literatur und Zivili-
er nicht politischer Demokrat sein konnte und wollte, weil
sation sind eins, wie wir früher auf eigene Hand erkannten,
sein individualistischer Aristokratismus ihn die Demokratie
auch Literatur und Politik, auch Literatur und Republik sind
verabscheuen ließ. Wir erinnerten uns, daß Wagner nicht müde
eins. Und diese ganze glänzende und philanthropisch schwung-
wurde, die Demokratie in irgendeinem westlichen Sinn und
hafte Einheit von Ideen und Willensbestrebungen mit allem,
Verstand für fremdartig, übersetzt, undeutsch zu erklären,
was dazu gehört und was wir noch des näheren zu zergliedern
daß er sie haßte, und zwar mit demselben Haß, den ihm die
haben werden, faßt der Politiker in einen Namen, ein Wort,
Politik selbst, alles politische Wesen überhaupt einflößte; denn
sein Leib- und Lieblingswort, seinen Kriegs- und Jubelruf,
dies Wesen selbst schien ihm undeutsch, widerdeutsch, und
seine unermüdlich und fakirhaft bis zur eigentlichen Bewußt-
nichts war widriger den Wünschen und Träumen dieses Man-
losigkeit wiederholte Glücks- und Zauberformel zusammen:
nes von 48 als die demokratische Politisierung seines Volkes,
er nennt sie die Demokratie.
dessen Anlagen es, wie er meinte, zu Höherem als zur Politik
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß beriefen . .. Wir sahen andererseits, daß die feinsten Typen
wir hier eine alte Bekanntschaft erneuern, daß der Held gegen- aus Deutschlands bürgerlich-vorbourgeoiser Epoche, daß Gei-
wärtiger Zeilen, dieser Willensmensch und Retter aus dem ster wie Uhland und Storm politischer Leidenschaft nicht ent-
Ästhetizismus, niemand anders ist als unser Ententefreund behrten, daß aber ihr Politikertum, das heißt ihr Demokratismus
und Parteigänger der Gerechtigkeit, der deutsche Westler, der selbstverständlich eines, durchaus eines Inhalts war mit ihrem
Gegner der »Besonderheit« Deutschlands, der Anhänger der nationalen Gefühl, ihrer Vaterlandsliebe; daß sie Politiker und
herzerhebend und menschenwürdig rhetorischen Demokratie, Demokraten waren, insofern sie Patrioten waren, und daß diese
mit einem Worte: der Zivilisationsliterat! Wirklich ist dieses drei Wörter: Politik, Demokratie, Vaterland ihnen wie allem
Kapitel nichts anderes als, nach so weitläufiger Digression, politischen Bürgertum ein und dasselbe Pathos, eine und die-
eine Fortsetzung jenes frühen, auf den Namen des Zivilisa- selbe Sehnsucht und Forderung bezeichneten. Nichts ist ein-
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facher, und doch bedarf es in diesem Augenblick der Betonung. Willen, — wenn mir auch freilich scheint, daß ihnen der innige
Politische Freiheit, im Gegensatz zur metaphysischen, bedeutet Zusammenhang oder vielmehr die Bedeutungseinheit von ›Po-
nichts anderes als die Freiheit des Patrioten zur Politik, seine litisierung‹ und ›Demokratisierung‹ nicht immer so klar, wie
Freiheit, am Staate, im Staate zu wirken. Wenn es also, wie es wünschenswert wäre, bewußt ist. Im zweiten Kriegsjahr
der Fall Wagners, wie mancher andere Fall, wie im Grunde das konnte ich in München einer Versammlung beiwohnen, die
ganze bürgerliche Zeitalter unserer Geschichte beweist, das der Konstituierung einer ›Weltpolitischen Studiengesellschaft‹
ein Kulturzeitalter, aber kein politisches Zeitalter war: wenn galt, einer jener Gesellschaften, die es sich zur Aufgabe machen,
es in Deutschland zwar durchaus möglich ist, national, aber politisches Wissen, politischen Sinn und Eifer im deutschen
unpolitisch, ja antipolitisch gesinnt zu sein, so ist doch das Um- Volk zu verbreiten. Ein erster Grundsatz, den man in die Sta-
gekehrte logischerweise nicht möglich: es ist nicht möglich, tuten aufzunehmen beschloß, war derjenige völliger Partei-
oder sollte nicht möglich sein, nach Politik, nach Demokratie losigkeit, absoluter parteipolitischer Duldsamkeit und Indif-
zu verlangen und dabei antinationaler, antipatriotischer Ge- ferenz: konservativ, liberal, sozialistisch, man mochte sein,
sinnung zu huldigen. Der Demokrat und Republikaner Maz- was man wollte, der Anschluß an diese Vereinigung zur Pro-
zini, um 1830 Vorkämpfer des heutigen italienischen Krieges pagation politischen Denkens sollte jedermann freistehen. Ich
gegen Österreich, verlangte schäumend, daß man Österreich hatte zum Tischnachbarn den Korrespondenten einer links-
»ins Herz treffe, indem man es der Blüte seiner Besitzungen liberalen Zeitung. Ich sagte zu ihm:
beraube«, er verlangte als italienische Nordgrenze »den obe- »Erlauben Sie mir: Politisierung und Demokratisierung, das
ren Kreis der Alpen«, er forderte Triest. Das nenne ich einen ist doch ein und dasselbe.«
Patrioten und Demokraten. Börne war liberal, war es im Geiste »Das ist es ja, was ich immer sage!« rief er erfreut.
der politischen Aufklärung, war es radikal; aber er war Patriot, »Ja, aber die Deutsch-Konservativen wissen es so gut wie
und zwar so sehr, daß Heine höhnisch von ihm sagen konnte: Sie«, fuhr ich fort, »und darum sagen sie: Politik verdirbt den
»Das Vaterland ist seine ganze Liebe.« Herwegh war nicht nur Charakter, das ist eine echt konservative Redensart, irgendein
national, nicht nur Patriot, er war Imperialist, er sang dem Junker hat sie noch neulich unter großem Hallo im Reichstag
jungen Deutschland das ›Flottenlied‹. Will man heute ihres- gebraucht. Wenn Sie denn also die Demokratie wollen, indem
gleichen sein, will man demokratischer Politiker sein, so hat Sie die Politisierung wollen, dann dürften Sie sich nicht für
man sich vor allem als Patrioten zu bekennen. Aber nach De- parteilos halten und Konservative zum Beitritt einladen.«
mokratie zu rufen und gegen allen Patriotismus, alles Natio- Im Augenblick wenigstens wußte er nichts zu e r w i d e r n . . .
nalgefühl vornehm zu tun, das hat keine Folgerichtigkeit. Und es scheint mir denn auch, daß es etwas auf sich hat mit
Demokratie ist nichts als das Recht, sich als Patriot zu be- meinem sophistischen Einwand von damals: ›Politische Stu-
tätigen. Freiheit und Vaterland, das gehört zusammen. Oder diengesellschaften‹ seien wesentlich demokratische Veranstal-
ist es nicht so? tungen, deren politische Toleranz und Allumfassung bewußte
Die große Mehrzahl derer, die heute die Politisierung des oder unbewußte Täuschung sei. Genaugenommen ist ja der
deutschen Volkes, das heißt: die Demokratisierung des deut- deutsche Wille, sich zu politisieren, die Einsicht in die Notwen-
schen Staatswesens verlangen, tun dies in der Tat als eifrige digkeit, sich zu politisieren, nichts Neues, nichts Gestriges, es
Patrioten, ja im Interesse der deutschen Macht: die äußere wäre falsch, diesen Willen und diese Einsicht auch nur erst von
Politik wirkt durchaus bestimmend auf ihren innerpolitischen der Reichsgründung zu datieren und den Gründer, Bismarck,

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für diesen neuen Willen zur Politik und ›Wirklichkeit‹ ein- keit zu Liebe seine alten und sicheren Tugenden zu opfern«, es
seitig haftbar zu machen, wie dies bei Nietzsche beständig ge- brauchte zur Politik kaum »verurteilt«, zur Begehrlichkeit kaum
schieht: zumal an jener glänzenden Stelle, wo er einen Staats- »gestachelt« zu werden. Damals war es, daß das, was man die
mann ironisch hypostasiert, der »sein Volk in die Lage brächte, Verwirklichung, Verhärtung oder auch die Politisierung Deutsch-
fürderhin große Politik treiben zu müssen, für welche es von lands nennen kann, mit Hochdruck einsetzte, daß Poesie und
Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist: so daß es nötig Philosophie abdankten, Naturwissenschaften und Geschichte
hätte, einer neuen zweifelhaften Mittelmäßigkeit zu Liebe emporstiegen, alle Köpfe sich der Begründung des deutschen
seine alten und sicheren Tugenden zu opfern«, und fortfährt: Staates zuwandten, — und daß die Freiheitsidee, welche die
»Gesetzt, ein Staatsmann verurteilte sein Volk zum Politisie- liberale Aufklärung über die der Einheit zu stellen immer
ren überhaupt, während dasselbe bisher Besseres zu tun und bereit gewesen war, im ›Nationalverein‹ mit dem preußischen
zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen vorsichti- Machtprinzip ihren Frieden machte. Es ist wohl wahr, daß
gen Ekel« — oh, glänzend! — »vor der Unruhe, Leere und lär- Bismarck Deutschland »in den Sattel gesetzt« hat, aber mit
menden Zankteufelei der eigentlich politisierenden Völker einem Fuß war es schon im Steigbügel, und es sieht aus, als
nicht los würde: — gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die hätte Nietzsche, in seinen musikalisch-dionysischen Kultur-
eingeschlafenen Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines träumen, davon überhaupt nichts gemerkt.
Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen Schüchternheit Seine Polemik gegen Bismarck und das Machtreich hat für
und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner Auslän- uns Heutige etwas Gemischtes, ja Verworrenes, etwas sowohl
derei und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, ent- Veraltetes wie auch wieder Vorwegnehmendes; sie trifft Zu-
werte ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, stände, wie mir scheint, die teils so, wie er sie sah, nicht mehr
mache seinen Geist eng, seinen Geschmack ›national‹, — wie! bestehen, und teils erst bevorstehen — möglicherweise. Man
ein Staatsmann, der dies alles täte, den sein Volk in alle Zu- hat gefunden, daß er mit seinem Haß auf Bismarck, dem philo-
kunft hinein, falls es Zukunft hat, abbüßen müßte, ein solcher sophische Unbildung vorzuwerfen er — Philosoph genug ist,
Staatsmann wäre groß?« — Nun, so herrlich die Satzkonstruk- seinem eigenen Übermenschen-Ideal untreu geworden sei;
tion ist, die Schuld, die Gewalttat, die hier konstruiert wird, und das ist in hohem Maße richtig. Man hat sein Verhalten
ist falsch; denn es ist falsch, so zu tun, als sei der deutsche zur nationalen Frage überhaupt als abstrakt und unfolgerich-
Wille im Jahre 1870 von Bismarck vergewaltigt und auf ihm tig getadelt: denn die militärischen Tugenden, die er ehrte,
bis dahin fremde und widerwärtige Bahnen gedrängt worden; seien an die nationale Idee gebunden, und sein Internationa-
als sei nicht Bismarck vielmehr in hohem Grade sein Beauf- lismus sei ein Rückfall in die Aufklärung gewesen. Auch das
tragter und Vollstrecker gewesen. Wir wissen genau, daß die ist wahr. Aber was Nietzsche gegen Bismarck und das ›Reich‹
Wandlung dieses Willens sehr weit, mindestens aber um zehn auf dem Herzen hatte, war nicht Erbitterung gegen Militaris-
Jahre hinter 1870 zurückdatiert, daß ums Jahr 1860 die Bis- mus, Herrentum und Macht. Was konnte gerade er gegen die
marck'sche Machtpolitik und der ›Deutsche Gedanke‹ einander Macht haben? Er hatte auch nichts gegen deutsche Macht; denn
in bemerkenswertem Maße entgegenkamen. Das Deutschland, irgendwo, zum Beispiel, äußert er den Wunsch, Deutschland
das damals aus seiner idealistischen in seine realistische Pe- möge sich Mexikos bemächtigen, um auf der Erde durch eine
riode trat und dies auch ohne Bismarck getan hätte, war durch- neue musterhafte Forstkultur im konservativen Interesse der
aus willens und reif, »einer neuen zweifelhaften Mittelmäßig- zukünftigen Menschheit den Ton anzugeben. Was er bekämpfte,

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war zweierlei. Wenn er sagt: »Die Ära Bismarcks (die Ära kulturrevolutionären Epoche, deren Wesen Widersetzlichkeit
der deutschen Verdummung). Das ausschließliche Interesse, gegen eben das Deutschland hieß, das der einsame Nietzsche
das jetzt in Deutschland den Fragen der Macht, dem Handel geschmäht hatte. Es ist wahr, meinesgleichen hat Bismarck nie-
und Wandel und — zuguterletzt — dem ›Gut leben‹ geschenkt mals gehaßt und verneint, ich war von jeher wenig geneigt,
wird —«, so protestiert aus ihm die deutsche Geistigkeit selbst, nach Art des leidtragenden Auslands und des deutschen Zivi-
der deutsche Kulturidealismus oder, so sonderbar das Wort lisationsliteraten Goethe gegen Bismarck auszuspielen, ich fand
sich hier ausnehmen mag, der deutsche Bildungsliberalismus, der es einfältig, den einen im andern nicht wiederzuerkennen, ich
tatsächlich sein Verhältnis zum Reiche Bismarcks bestimmte, sah in Bismarck einen gewaltigen Ausdruck deutschen Wesens,
und mit dem er keineswegs so einsam stand, wie er sich ein- einen zweiten Luther, ein ganz großes Ereignis in der Ge-
reden mochte, denn Leute wie Mommsen und Virchow traten schichte des deutschen Selbsterlebnisses, eine riesenhafte
damals zur Opposition; — sein deutsches Philosophentum, deutsche Tatsache, dem europäischen Widerwillen trotzig ent-
seines Wesens fundamentalstes und bestes Teil, protestierte gegengestellt. Diese Bejahung aber betraf die Persönlichkeit;
gegen die deutschen Zustände der siebziger und achtziger Jahre, gegen das Werk oder den Geist des Werkes oder doch gegen
das Mit- und Ineinander von nationaler Selbstgerechtigkeit und das Walten dieses Geistes auf Gebieten, wohin er nach meiner
materialistischer Reaktion, von korruptem Wirtschaftsflor, Meinung nicht gehörte, opponierte auch ich, — wofür ich meine
französischem Possentheater und David Straußischer Content- Kritik an der Verpreußung und Enthumanisierung des neu-
heit, welches das Signum nicht nur der Gründerjahre blieb: deutschen Gymnasiums (›Buddenbrooks‹ S. 722) als Beispiel
— gegen die Verkehrung, Verhärtung, Verfälschung einer anführen darf.
staatlosen Kultur zu kulturloser Staatlichkeit, mit einem Worte, Leitete nicht schon mit dem ›Jüngsten Deutschland‹, zu dem
richtete sich dieser Protest, der der Protest eines ›Bürgers‹ in ich schließlich gehörte, eine Bewegung sich ein, die seitdem
des Wortes allerdeutschester Bedeutung war. nicht zum Stillstande gekommen ist, und war es nicht die
War es Philister-Zufriedenheit, wenn man diesen Teil von eines neuen Idealismus? Ich rechne die soziale Gesetzgebung
Nietzsche's Kritik am ›Reiche‹ zehn Jahre vor dem Kriege als kaum hierher. Ich halte es für deutsch, soziale Sauberkeit mit
überholt empfand? Ich habe in einer Gegenrede, die ich mir tiefer Abneigung gegen jede Überschätzung des sozialen Le-
selber hielt, der Lehre von der Verhärtung und Entseelung bens zu vereinigen. Immerhin ist es nicht schlecht zu lesen,
Deutschlands alle Zugeständnisse gemacht, — ein wenig aka- daß zu Anfang dieses Jahrhunderts ein Deutschamerikaner
demisch; denn persönlich war es ja so, daß mein Erwachen zu soziale Gerechtigkeit als das Ideal des heutigen Deutschland,
bewußtem geistigem Leben schon in immerhin neue, immer- soziale Betätigung als die Grundforderung der neuen deut-
hin andere Zeiten fiel. Es fiel in die achtziger Jahre, die Zeit schen Erziehung bezeichnen konnte. Aber das Sozial-Politische,
der Literatur-Revolution und des Naturalisteneinbruchs; mit das Wohlfahrtsideal ist zweiten Ranges. Es handelte sich um
achtzehn war ich Mitarbeiter von Conrads ›Gesellschaft‹, Erzäh- Geistigeres. Es handelte sich um ein Sichwiederfinden des
lungen des Zwanzigjährigen standen in der eben zur »Neuen deutschen Geistes, um etwas wie Neubeseelung, ein Ein- und
Deutschen Rundschau‹ gewandelten Berliner Trutzzeitschrift Umlenken, ein Absinken der Naturwissenschaften in aller
›Die freie Bühne‹ an ihrem Platz, und der literarische — wenn höheren Geltung, so glorreich der Siegeszug der monistischen
auch nicht seelische — Kosmopolitismus von ›Buddenbrooks‹ Aufklärung sich auch eben jetzt erst vollenden mochte; ein
kennzeichnete mich als rechten Sprößling dieser Epoche. Einer Wiedererstarken der Philosophie, ein Anschlußsuchen und
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-finden an die idealistischen Überlieferungen deutschen Den- nicht, daß die Welt heute demokratisiert ist bis in den letzten
kens, ein drängendes Sichversuchen im Religiösen, neue Mög- Winkel; daß die Demokratie kaum noch streitet, sondern trium-
lichkeiten der Mystik selbst. War es so oder nicht? Schelers phiert; daß auch im zaristischen Rußland mit Recht von »un-
Schriften hatten mit ›Bierbankevangelium‹ nicht viel Ähnlich- serer demokratisch-bürgerlichen Gesellschaft« gesprochen wird,
keit mehr. Und ganz dicht am Kriege, beinahe schon im Kriege, — mit Recht: insofern wir nämlich in einer gewerblichen, dem
1914 erschienen, steht ein Buch, das mir das letzte Deutsch- Nützlichkeitsprinzip anhängenden Epoche leben, deren haupt-
land, das Deutschland, das in diesen Krieg gehen mußte und sächliche Triebfeder der Drang nach Wohlstand und deren
das nicht mehr das Deutschland von 1875 war, zu resümieren, rangverleihender Herrscher das Geld ist. Plutokratie und Wohl-
in erstaunlicher Synthese geistig darzustellen scheint: Die standsbegeisterung: ist das die genaue Bestimmung der
›Hauptfragen der modernen Kultur‹ von Emil Hammacher, Demokratie, so möge man immerhin geltend machen, das
dem jungen in Frankreich gefallenen Bonner Philosophen, den renitente Deutschland sei auch hierin hinter der allgemeinen
ich wohl meinen postumen Freund möchte nennen d ü r f e n . . . Entwicklung ein wenig zurückgestanden, — ein rechtes Kind
Aber Nietzsche fährt fort: »— das Heraufkommen des par- seiner Zeit war es doch, dieses Deutschland, und erweist sich als
lamentarischen Blödsinns, des Zeitungslesens und der litera- solches auch heute in Treuen. Die Spekulation, der Lebensmit-
tenhaften Mitsprecherei von Jedermann über Jegliches . . . Das telwucher im Kriege, — welches Geistes ist er denn als der
wachsende Heraufkommen des demokratischen Mannes und Demokratie, die Geld, Verdienst, Geschäft als oberste Werte
die dadurch bedingte Verdummung Europas und Verkleine- eingeprägt hat: auch den Regierenden, deren grenzenlose Ehr-
rung des europäischen Menschen —«, und mit dieser Fortsetzung furcht vor dem Geschäft sie aufs äußerste zögern läßt, gegen
und Wendung seiner Reichskritik, so sehr es auch hier wieder die spekulative Frechheit einzuschreiten. — Was aber die poli-
die deutsche Geistigkeit ist, was opponiert, und zwar »im kon- tische Freiheit betrifft, so herrscht sie, schon aus geringer
servativen Interesse« opponiert: mit dieser Fortsetzung unse- Höhe gesehen, heute ja überall so ziemlich in gleichem Maße,
res Zitats sind wir auf einmal in einer ganz anderen Sphäre; und Gustaf Steffen, der schwedische Soziolog, wird wohl recht
hier scheint Nietzsche nicht nur nicht überholt, wenn er es an- haben, wenn er sagt, daß Deutschland »durch sein Heer sowohl
fangs schien, hier antizipiert seine Polemik, nimmt eine Ent- wie durch das weite Maß von Selbstverwaltung in Gemein-
wicklung vorweg, die er an das Lebenswerk Bismarcks mit fast den, Städten und Bundesstaaten auf seine Weise ein nicht
vollkommener Notwendigkeit sich knüpfen sah, die aber da- weniger großes Quantum von Demokratie verwirklicht« als
mals in unscheinbaren Anfängen stand und erst nach Ablauf die Weststaaten.
des Bismarck'schen Zeitalters, in einer neuen Epoche der deut- Aber nicht hiervon ist die Rede, wenn die Politisierung, die
schen Zivilisation und des Imperialismus, ihrem Sinne und Demokratisierung Deutschlands gelehrt und gefordert wird,
Ziel nach deutlich werden konnte: die Entwicklung Deutsch- — da sie ja nicht so dringlich gefordert zu werden brauchte,
lands zur Demokratie. wenn sie vollendet oder nur weit fortgeschritten wäre. Es han-
Abermals gilt es, dies Wort nicht falsch und auch nicht nur delt sich vielmehr um eine wirkliche Veränderung in der Struk-
obenhin zu verstehen: man könnte sonst mit der Frage kom- tur des deutschen Geistes, um die Tendenz, Deutschland nicht
men, was es denn in Hinsicht auf die Demokratisierung der sowohl innerlich, als äußerlich, als im internationalen Ver-
Welt noch irgend zu fürchten oder zu fordern gäbe. In der Tat hältnis ›frei und gleich‹ zu machen, um einen Prozeß euro-
hindern geringfügige Unterschiede in den Staatsformen ja päischer Ausgleichung, der weniger wirtschaftlich und politisch
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als geistig ist, um eine alle Nationalkultur nivellierende Ent- inkarniert. Nach einem Dutzend Franzosen, Russen, Polen und
wicklung im Sinn einer homogenen Zivilisation, ja, um nichts Italienern kann man leichter diese vier Nationen konstruieren,
anderes, als um die restlose Verwirklichung und endgültige als man das deutsche Volk begreift, wenn man tausend Deutsche
Aufrichtung des Weltimperiums der Zivilisation, von dem wir studiert hat. Der deutsche Mensch bedeutet in jedem Indivi-
zu Beginn unserer Betrachtungen sprachen: — und Nietzsche, duum eine aparte Welt, er ist am meisten eine Person; er ist im
unbeschadet seines Internationalismus, der zwischen Indivi- tiefsten Sinne des Wortes ein Charaktermensch schon um des-
duum und Menschheit das Mittel des Nationalen nicht kennt willen, weil er, verglichen mit den Individuen anderer Na-
oder anerkennt; unbeschadet auch des Vorschubes, den er selbst tionen, eine Person, ein Genie, ein Original, ein Gemüts-
durch die Art seines Schriftstellertums, als europäisierender mensch, weil er kein Figurant, kein soziales oder politisches
Prosaist, dieser Entwicklung geleistet, — Nietzsche war deutsch Tier im Sinne der Franzosen ist, die sich in dem Augenblick
genug, er nahm an der Besonderheit und Renitenz Deutsch- als die charakter- und gemütlosesten Personnagen decouvrie-
lands ein hinlänglich starkes »konservatives Interesse«, um ren, wo man sie nicht mehr als Nation, sondern als Personen
dem Nivellierungsprozeß, den er an Bismarcks politische Grün- ins Auge fassen will. Die deutsche Nation kann keinen Cha-
dung sich knüpfen sah, aufs heftigste zu widerstreben. rakter im Sinne der anderen Nationen haben, da sie sich durch
Dies geht aus allen seinen Äußerungen über Deutschlands die Literatur, durch Vernunftbildung zu einem Weltvolke ge-
politisches und geistiges Schicksal mit vollkommener Deut- neralisiert und geläutert hat, in welchem die ganze Mensch-
lichkeit hervor; der Protest gegen die Nationalisierung Deutsch- heit ihren Lehrer und Erzieher anzuerkennen beginnt. Ja, wir
lands, in der er zugleich eine Entnationalisierung, Internatio- sind, wir waren, wir bleiben die Schulmeister, die Philosophen,
nalisierung und Demokratisierung erblickt, zieht sich von früh die Theosophen, die Religionslehrer für Europa und für die
bis ans Ende durch sein ganzes Werk, und es ist ein Protest ganze Welt. Dies ist unser Genius, unsere ideale Nationalein-
im Namen der Philosophie gegen die Politik, — ein überaus heit, Ehre und Mission, die wir nicht gegen das Ding oder
deutscher Protest also, mit welchem Nietzsche allenfalls »un- Phantom austauschen dürfen, was von den Franzosen oder
zeitgemäß«, aber durchaus nicht irgendwie landfremd, son- Engländern Nation genannt wird. Wir sind und bleiben ein
dern geradezu als nationales Mundstück wirkte, ja, worin er weltbürgerliches, welthistorisches Volk im bevorzugten Sinne
mit allem exemplarisch deutschen Denken und Wollen genau und können eben um deswillen kein dummstolzes, tierisch zu-
übereinstimmt. Im Jahre 1870 starb zu Thorn in Preußen ein sammengeschartes und verklettetes Volk sein, das ähnlich den
wunderlicher Mann, Bogumil Goltz mit Namen, Humorist, wilden Gänsen im römischen großen A fliegt, das sich, den
Philosoph und Zeitkritiker, ein Schriftsteller, der viel über Franzosen und Polen gleich, in jeder Versammlung zu einer
Deutschland und deutsches Wesen gegrübelt und geschrieben Proberevolution oder Eintagsrepublik kristallisiert.«
hat: ›Die Deutschen‹, ›Zur Charakteristik und Naturgeschichte
Das ward in den sechziger Jahren geschrieben, um die Zeit
des deutschen Genius‹ und dergleichen mehr. Irgendwo sagt er:
also, als der deutsche Geist in Nationalvereinen sehr selbst-
»Während bei den romanischen und slawischen Nationen nur
tätig Vorbereitungen traf, sich von Bismarck zur Politik ver-
die Masse ein Gepräge darlegt und nur die ›Masse‹ sich als ein
urteilen zu lassen; und ich habe die mir liebe Passage beizeiten
Volk fühlt, so zeigt der Deutsche als Individuum eine eigen-
hierhergesetzt, weil sie demjenigen Resonanz verleihen soll,
tümliche Geistesphysiognomie, ein Gottesgewissen und ein Ge-
was ich etwa noch über den politischen Gegenstand werde zu
müt, in dem sich die Geschichte der Menschheit bewegt und
sagen haben. — Auf Nietzsche zurückzukommen, so wäre es
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ihm zweifellos gegen den kritischen Geschmack gegangen, den äußeren Politik: denn alle streng innere Politik ist lehrhaft,
einzelnen Deutschen ein Genie, ein Original und einen Ge- moralisch, um nicht zu sagen tugendhaft; sie unterhält zum
mütsmenschen, den einzelnen Franzosen aber eine charakter- Machtgedanken gar keine, zu dem des Lebens sehr lockere Be-
und gemütlose Personnage zu nennen; aber außer Zweifel ziehungen; sie lebt von einer radikalen Idee und ist auf nichts
steht, daß seine eigene Willensmeinung über Deutschland mit als auf die hochherzige Verwirklichung dieser Idee bedacht.
der des guten Bogumil Goltz in allem Wesentlichen überein- Nicht davon ist in Deutschland die Rede. Die demokratische
stimmte. Was Nietzsche, der sich den »letzten unpolitischen These nimmt höchstens insofern theoretischen, innerpolitischen
Deutschen« nannte, an Bismarck haßte, es war gewiß nicht Charakter an, als sie sich etwa, wie folgt, formuliert: »Der
dies, daß er ein den Durchschnitt beleidigender großer Mann, Krieg hat das deutsche Volk als ein Staatsvolk erwiesen. Die
ein Herr, ein Machtmensch war. Er haßte ihn und bezweifelte logische Folge davon ist die Forderung des dem sittlichen, po-
seine Größe, wenn auch nicht seine Stärke, weil er ihn an jener litischen Hochstande, der Staatsbürgertugend eines solchen Vol-
Änderung der geistigen Struktur Deutschlands, an Deutsch- kes gerecht werdenden Volksstaates.« Das ist die ernste und
lands Nationalisierung und Politisierung arbeiten sah, — und biedere Stimme des nationaldemokratischen Mannes, die weit
damit an seiner Demokratisierung und Versimpelung im Sinne entfernt ist, mir widrig ins Ohr zu lauten, — denn keineswegs,
der homogenen Zivilisation. Das ist deutlich. Aber deutlich ist um es gleich zu sagen, entgeht diesem Ohr, wie sehr das gute
auch, daß die große Mehrzahl derer, die aus patriotischen und biedere Wort ›Volksstaat‹ sich nach Klang und Sinn von
Gründen nach Politisierung und staatsbürgerlicher Erziehung dem Worte ›Demokratie‹ mit seinen humbughaften Neben-
rufen, sich dieser Zusammenhänge durchaus nicht, wie es geräuschen unterscheidet. Hier also wird die Forderung eines
wünschenswert wäre, bewußt sind, — während doch das, wor- demokratischen Reiches moralischerweise damit begründet,
auf es ankommt, eben nur Klarheit ist, welche zwischen dem daß man die Demokratisierung, das heißt die Politisierung der
Notwendigen und dem Wünschbaren unterscheidet und das Nation als eine innerlich vollendete Tatsache statuiert, welcher
Notwendige nicht ohne weiteres, mit fatalistisch-unkritischer durch Institutionen gerecht zu werden Sache der Wahrhaftig-
Begeisterung, als das Wünschbare akklamiert. keit sei. Die Demokratisierung der Staatsverfassung also wird
Ein Riese setzte Deutschland in den Sattel: nun muß es hier als logische und sittliche Konsequenz der Politisierung des
reiten, denn herunterfallen darf es nicht. Dieser Satz scheint Volkes betrachtet, welche durch den Krieg bewirkt worden
mir die gelassene, präzise und alle Wünschbarkeit oder Nicht- sei . . . Steht die Prämisse ganz fest? Man könnte zweifeln.
Wünschbarkeit außen lassende Umschreibung dessen zu sein, Man könnte es bezweifeln, daß das deutsche Volk im Laufe von
was ich das Notwendige der Entwicklung nenne. Diejenigen, dreißig Monaten wirklich ein »eigentlich politisches Volk« ge-
die heute ein demokratisches Deutschland fordern, erheben worden sei, dessen Geistesverfassung nach Institutionen ver-
diese Forderung, deren Erfüllung der Reichskanzler verspricht, lange, wie sie solchen Völkern gemäß und eigentümlich sind.
nicht aus doktrinären, theoretischen, sondern aus durchaus Übrigens aber sind die Argumente dieser patriotischen Demo-
praktischen Gründen: damit Deutschland erstens leben und kraten ›äußerer‹ Art, auch dann noch, wenn sie sich auf die
damit es zweitens stark und herrenhaft leben könne — worauf innere Politik zu beziehen scheinen; es sind solche der Praxis,
es ihrem innigen Glauben zufolge das höchste Anrecht besitzt. solche der Notwendigkeit. Man sagt etwa: »Wir müssen Volks-
Diese Gründe aber, Gründe, die auf das Lebens- und Macht- politik treiben, das heißt eine Politik, deren Subjekt — und
interesse verweisen, sind nicht solche der inneren, sondern der nicht deren Objekt — das Volk ist; Volkspolitik um des

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Reiches willen, um Reich und Staat stark und lebensfähig zu vor dem Kriege bestand und wie ich es mir in dieser Zeit durch
erhalten!« Wobei bezeichnender-, wenn auch nicht eben lo- ein wenig Lektüre und Nachdenken bewußt machte, mit kur-
gischerweise die Stärke vor die Lebensfähigkeit gestellt wird, zen Worten bezeichne.
der Machtgedanke demjenigen des Lebens nicht etwa nur auf
dem Fuße folgt, sondern ihm der Deutlichkeit halber als sein Als Knabe personifizierte ich mir den Staat gern in meiner
Sinn und Zweck vor- und übergeordnet erscheint. Man fährt Einbildung, stellte ihn mir als eine strenge, hölzerne Frack-
etwa fort: »Das Reich hat die ungeheuere Belastungsprobe des figur mit schwarzem Vollbart vor, einen Stern auf der Brust
Krieges nur dadurch bestehen können, daß Volk und Staat und ausgestattet mit einem militärisch-akademischen Titelge-
eins geworden sind im Sturm der Zeit. Aber die Aufgaben des misch, das seine Macht und Regelmäßigkeit auszudrücken ge-
Friedens werden nicht weniger gewaltig sein als die des Krie- eignet war: als General Dr. von Staat. Unter diesem Bilde
ges, und sie werden nur dann erfüllt werden können, wenn es mag der Staat (welcher dabei mit seiner Verweserin, der Re-
gelingt, die Errungenschaften des Krieges in die Friedenszeit gierung, gleichgesetzt wird) jungen Künstlern und Musen-
hinüberzuretten, wenn die Einheit von Volk und Staat erhal- söhnen, deren Libertinage er mit Maßregelung und strenger
ten bleibt. Innere Stärke ist die Vorbedingung einer starken Einordnung bedroht, wohl gewöhnlich sich darstellen. Und
äußeren Politik, wie sie nach dem Friedensschluß notwendig ihrer Ironie, die aus schlechtem und dennoch heiterem Gewis-
sein wird. Notwendig ist also ein ausschließlich durch die Idee sen kommt, fehlt es nicht an Recht und Würde. Die Wahrheit
höchster nationaler Leistungsfähigkeit bestimmtes Staatsleben, ihres Lebens, die Wahrheit, von der sie leben, ist ja recht eigent-
das heißt: ein Staatsleben, welches das Volk als seine eigenste lich die, daß es eine dem Staate und dem politischen Leben
Veranstaltung betrachten kann und woran ihm kraft politi- unzweifelhaft überlegene Sphäre gibt, jene Sphäre, zu der
scher Rechte Teilnahme und Mitwirkung gesichert ist. Nicht Kunst, Religion, die Geisteswissenschaften, alle tiefere Sittlich-
um irgendwelcher Theorie und Doktrin willen fordern wir eine keit gehören, eine Sphäre persönlich-eigentümlichster Werte
solche Staatsgestaltung, sondern um des Lebens und um der und Leistungen. Die Befähigung und Befugnis zu formaler
Weltaufgaben willen, in denen, wie wir innig glauben, der Förderung wird der in dieser Sphäre Beheimatete dem Staate
Ausgang des Krieges unser Volk bestätigen wird. So sei denn hier allenfalls zugestehen, obwohl er finden mag, daß Seine
die Erziehung zum Staatsbürger die Erziehung überhaupt: wir Exzellenz sich schon dabei ziemlich tölpelhaft ausnimmt. Je-
lehren, daß sie alle Zwecke und Ziele der Menschenbildung den Versuch inhaltlicher Regelung aber wird er, je nach seiner
ohne Rest in sich einschließt! Die Politisierung, die Demokra- Gemütsart, sich leidenschaftlich verbitten oder mit Gering-
tisierung aller Köpfe und Herzen ist nötig, weil —«. Weil, so schätzung übersehen: das eine, weil er sieht, daß dem Staate
darf man ergänzen, Deutschland reiten muß und nicht abfal- zu solcher Regelung das Recht fehlt, das andere, weil er weiß,
len darf. daß ihm vor allem und letzten Endes die Macht dazu fehlt.
Dieser nach dem Lebens- und zugleich dem Machtgedanken Das sei gut und recht. Und doch, bei aller Fremdheit, bei
orientierte, ›innere‹ und ›äußere‹ Argumente vermischende allem strengen Mißtrauen auf der einen, aller Ironie auf der
und gleichsetzende patriotische Opportunitäts-Demokratismus anderen Seite, gibt es ein Gemeinsames und Verwandtes, eine
scheint mir heute in Deutschland die vorherrschende politische höchste Solidarität zwischen dem Vertreter der überpolitischen,
Willensmeinung zu sein. Ich wage den Versuch einer Kritik, der Persönlichkeitssphäre und dem Staat, sofern er die recht-
indem ich mein Verhältnis zum Staate, wie es unbeachtet schon liche Macht einer nationalen Gemeinschaft ist,—und die Stunde
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erleben, im Sinn und Geist des Volkes getrieben werden, auch
mag kommen, wo beiden, dem Libertiner sowohl wie sogar
wenn sie sich damit dem Verständnis der Masse als solcher
auch dem Staate, diese Solidarität aufs klarste bewußt wird.
entzöge. Diese Forderung ist jedoch heute verurteilt, Theorie
Es ist wahr: nicht das ist eigentlich schätzenswert am Men-
schen, was ihn als gesellschaftliches Wesen kennzeichnet. Der zu bleiben. Der Vormarsch der Demokratie ist sieghaft und
Mensch ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein metaphy- unaufhaltsam. Nur Massenpolitik, demokratische Politik, eine
sisches Wesen; mit anderen Worten, er ist nicht nur Indivi- Politik also, die mit dem höhern geistigen Leben der Nation
duum, sondern auch Persönlichkeit. Es ist darum falsch, das wenig oder nichts zu tun hat, ist heute noch möglich, — das
Überindividuelle mit dem Sozialen zu verwechseln, es ganz ist die Erkenntnis, zu der die Regierung des Deutschen Rei-
ins Soziale zu verlegen: man läßt dabei das metaphysisch Über- ches im Lauf des Krieges gelangt ist.
individuelle außer acht; denn die Persönlichkeit, nicht die Das Interesse des Künstlers und Geistigen am Staate also,
Masse, ist die eigentliche Trägerin des Allgemeinen. Aber steht seine Verwandtschaft und Solidarität mit ihm reicht so weit,
es nicht genau so auch um die Nation—und also um den Staat, wie der metaphysische Charakter des Staates reicht. Die Ent-
soweit eben dieser die Kristallisation des nationalen Lebens wicklung geht nun freilich dahin, daß der Staat seinen meta-
ist? Auch die Nation ist nicht nur ein soziales, sondern auch physischen Charakter mehr und mehr einbüßt und einen nichts
ein metaphysisches Wesen; Trägerin des Allgemeinen, des als sozialen annehmen zu sollen scheint. In Wahrheit steht es
Menschheitlichen ist nicht ›die Menschheit‹ als Addition der um den modernen Staat nicht besonders verehrungswürdig.
Individuen, sondern die Nation; und der Wert jenes durch Paritätisch, tolerant wie er ist, vertritt er keine bestimmte
wissenschaftliche Methoden nicht zu begreifenden, aus der Weltanschauung mehr, sondern stellt sich schlecht und recht
organischen Tiefe des nationalen Lebens sich entwickelnden als eine Vermittlungsstelle zum Ausgleich der Standesinter-
geistig-künstlerisch-religiösen Produkts, das man National- essen dar. Eine Übereinstimmung des politischen und des —
kultur nennt, — Wert, Würde und Reiz aller Nationalkultur um das weiteste Wort zu gebrauchen — religiösen Lebens ist
also liegt ausgemacht in dem, was sie von anderen unterschei- nicht festzuhalten, — und welchen Sinn hätte also das voll-
det, denn nur dies eben ist daran Kultur, zum Unterschiede kommene Aufgehen der Persönlichkeit im Staate? Hundert
von dem, was allen Nationen gemeinsam und nur Zivilisation Kräfte arbeiten an der Zersetzung der Nationalkultur und an
ist. Wir haben da den Unterschied von Masse und Volk, — der Internationalisierung des Lebens; und wenn man es ehe-
welcher dem Unterschied entspricht von Individuum und Per- mals das Verdienst des Militarismus nannte, die Aufrichtung
sönlichkeit, Zivilisation und Kultur, sozialem und metaphysi- einer reinen Nützlichkeitskultur, das Versinken des Volks in
schem Leben. Die individualistische Masse ist demokratisch, die bloße Zivilisation hintanzuhalten, so findet heut dies Ver-
das Volk aristokratisch. Jene ist international, dieses eine my- dienst nicht viel Anerkennung mehr: der Sinn, die teleologi-
thische Persönlichkeit von eigentümlichstem Gepräge. Es ist sche Funktion des Krieges, der Erhaltung der nationalen Eigen-
falsch, das Überindividuelle in die Summe der Individuen, das tümlichkeit zu dienen, scheint hinfällig. Aufdringlich tritt sein
Nationale und Menschheitliche in die soziale Masse zu-ver- Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Interessen hervor, —
legen. Träger des Allgemeinen ist das metaphysische Volk. Es ein Zusammenhang, der freilich zu allen Zeiten bestanden
ist darum geistig falsch, Politik im Geiste und Sinn der Masse und niemals gehindert hat, daß die Ehre eines Volkes mehr
zu treiben. Sie sollte, damit überhaupt die Möglichkeit be- war als die ideologische Verklärung und Beschönigung wirt-
stehe, das politische und das nationale Leben als Einheit zu schaftlicher Interessen. Wenn sie aber heute wirklich nichts
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anderes mehr zu sein scheint; wenn es den Anschein gewon- enthalten, und man weiß, daß nicht das Volk es ist, daß es
nen hat, als sei das frühere ökonomische Mittel zum Selbst- Personen sind, die auch im demokratischen Staate ›herrschen‹.
zweck geworden, was zur Folge hat, daß der Krieg allgemein Was aber den Idealismus betrifft, so ist die konservativ-natio-
als unsittlich und barbarisch empfunden werden kann und so- nale Idee immerhin eine Idee, wenn auch vielleicht eine ab-
mit das Letzte fällt, was in einer Kultur der Zweckmäßigkeit gelebte; der Export aber ist keine. Mit ihrer Beteuerung: wenn
die Masse zur Aufopferung für überindividuelle Ziele, zum das gleiche Wahlrecht in Preußen eingeführt werde, so habe
Idealismus hinleitet, — so wäre es unehrlich zu verschweigen, Deutschland den Krieg verloren, ist es den Konservativen
daß es die Demokratie ist, die diesen Anschein und diese Ent- zweifellos Ernst. Daß sie damit übertreiben, ist eine andere
würdigung und Entgeistigung des Krieges bewirkt hat: die in- Sache, auf die wir zurückkommen.
ternationalistische Demokratie, die ihn nicht geistig, nicht etwa Vorderhand wiederholen wir, daß der metaphysische Cha-
zu Schutz und Ehre der selbständigen nationalen Kultur, nicht rakter des Staates mehr und mehr zugunsten des sozialen zu-
um der deutschen Idee willen führt, die ihn ideenlos, tatsäch- rücktritt, daß die Trennung des geistigen und nationalen vom
lich nur für den Export und darum denn auch mit schlechtem politischen Leben nicht abzuweisen ist. Das kann natürlich der
Gewissen, unter pazifistischen Tränen führt, — wobei sie be- politischen Teilnahme des Geistigen und Künstlers nicht zu-
teuert, sie sei in den Krieg überhaupt nur geraten, weil sie träglich sein. Doch bleibt immer noch genug übrig, um ihn dem
›schlecht regiert‹ worden sei. Wer, aus Sympathie mit dem Staate nicht nur vernunftmäßig, sondern auch gefühlsmäßig zu
mythischen Individuum ›deutsches Volk‹ und seinem Heroen- verbinden. Schopenhauer erklärt in seiner »nichtgekrönten
kampf, sich in diesem Kriege irgend positiv verhält, der muß Preisschrift« über die Grundlage der Moral den Staat für un-
anständigerweise konservativen, das heißt: nationalen Ideen entbehrlich, weil nur dank ihm der grenzenlose Egoismus fast
huldigen und in ihrem Namen am Kriege teilnehmen. Die aller, die Bosheit vieler, die Grausamkeit mancher sich nicht
Demokratie, die mit der Zivilisations-Entente im Grunde ganz hervortun könne: man müsse Kriminalgeschichten und Be-
eines Sinnes ist und nur »krämern will, wo schon ein anderer schreibungen anarchischer Zustände lesen, um zu erkennen,
krämert«, wie George sagt, führt einen ideenlosen und darum, was in moralischer Hinsicht der Mensch eigentlich sei; und
wie sie selbst fühlt, unsittlichen Börsenkrieg. Nicht einmal als diese Tausende, die da, vor unseren Augen, im friedlichen Ver-
Demokratie ist sie Idee, sondern bloßer Opportunismus. »In kehr sich durcheinanderdrängen, seien anzusehen als ebenso
demokratischer Verfassung wird es sich besser krämern las- viele Tiger und Wölfe, deren Gebiß durch einen starken Maul-
sen« — das ist ihre Art zu argumentieren. Es ist gar nicht zu korb, das heißt durch den Zwang der Gesetze und die Not-
leugnen, daß die Idee und also der Idealismus in diesem Kriege wendigkeit der bürgerlichen Ehre gesichert sei. Das ist eine
bei den Konservativen ist, und der Vorwurf, es sei ihnen nur Rechtfertigung der Staatsmacht, deren grimmiger Pessimismus
um ihre persönliche Macht zu tun, ist wenig stichhaltig im und Skeptizismus sie freilich wenig geeignet macht, von Aka-
Munde der Demokratie, — welcher es selbstverständlich auch demien preisgekrönt zu werden. Aber stichhaltig ist sie, und
um Macht zu tun ist, und zwar so angelegentlich, daß sie, um individuelle Menschenfreundlichkeit ist kein Hinderungsgrund,
diese zu befestigen, das Ende des Krieges nicht abwarten will, ihr wörtlich zuzustimmen. Heute zeitigt die ungeheuere und
weil dann die Volks- oder Massenstimmung der Verwirkli- lebensgefährliche äußere Bedrängnis des Staates im Innern
chung ihres Machtwillens weniger günstig sein könnte. Auch Zustände, die sich zum Teile und in gewisser Weise dem An-
in dem Worte ›Demokratie‹ ist der Begriff des Herrschens archischen nähern, und sofort offenbart es sich, was in mo-
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ralischer Hinsicht die Menschen ihrer großen Mehrzahl nach ses Hortes. Aber auch was die Gegenwart anlangt, steht es,
— denn es gibt tröstliche, den Glauben aufrechterhaltende Aus- allem Internationalismus zum Trotz, um die Erlebnisse der
nahmen — »eigentlich sind«. Nie trat der Unterschied zwischen Philosophie, der Kunst, der Religion durchaus anders als um
dem Volk als mythischer Persönlichkeit und der individuali- den Fortschritt der homogen-internationalen Wissenschaften.
stischen Masse sichtbarlicher hervor; und keine Ehrfurcht vor Auch heute noch sind diese Erlebnisse in irgendeinem theore-
jenem, keine Herzensteilnahme an seinem Heroenkampf schützt tisch freilich nicht feststellbaren Grade von der Nationalität
vor der Einsicht in die gründlich miserable Natur der letzteren, abhängig, und ihre Verteidigung bleibt metaphysische Auf-
ihre Feigheit, Frechheit, Schlechtigkeit, Charakterlosigkeit und gabe des Staates, — wobei es ganz gleichgültig ist, ob seine
Gemeinheit. Vielmehr war nie eine bessere Gelegenheit, sich Leiter diese Erlebnisse billigen oder auch nur von ihnen
zu überzeugen, welch ein Druck von Macht, Zwang, Furcht, wissen. Von der Kunst besonders zu reden, so weiß meines-
Autorität nötig ist, um die große Überzahl der Menschen zu gleichen recht wohl, wie sehr sie dem allgemeinen Prozeß
moralischer Gesittung anzuhalten. Die. demokratische Addition demokratischer Internationalisierung unterliegt. Handgreiflich
des Menschlichen ist nicht sowohl eine Addition des Guten als nationale Kunst, patriotische Kunst, sogenannte Heimatkunst
des Schlechten im Menschen, und je größer die Summe ist, desto will als höhere Kunst nicht recht in Betracht kommen. Aber die
mehr nähert sie sich dem Bestialischen. Das Soziale ist ein sitt- höchste Kunst — besitzt sie nicht auch heute noch tiefen, wenn
lich sehr fragwürdiges Gebiet; es herrscht Menagerieluft darin. auch schwer bestimmbaren Zusammenhang mit dem nationalen
Aber der Vernunftgründe für die Bejahung des Staates gibt Leben? Jeder Künstler-Patriotismus in Kriegszeiten hat seinen
es ja mehr und immerhin höhere. Er ist es, der der Wirksam- Ursprung und seine Rechtfertigung in dieser Erkenntnis, die,
keit des Menschen, allem Menschenleben und -streben jene ehedem nichts als ein unbeachtetes Gefühl, zur Erkenntnis erst
bestimmten Grenzen setzt, in denen allein der Mensch seine eigentlich durch den Krieg erhoben wurde. Wir sahen wohl,
Kräfte bewähren kann. Er ist es, der die sozialen Kämpfe aus- daß man das nationale vom politischen Leben mehr und mehr
zugleichen, sie einer Versöhnung zu nähern sucht, womit er zu trennen gezwungen sei; und doch wurde dem Gemüt des
sich als notwendige Bedingung der Kultur erweist. Auch der einzelnen in dieser Zeit eine tiefe und unzweifelhafte Verbun-
Künstler, einer gesicherten Basis zur Entfaltung seiner beson- denheit von Staat und Geistesleben fühlbar: wie denn hun-
deren Fähigkeiten wie irgend jemand bedürftig, wird dem Staate dertmal erkannt und gesagt worden ist, daß der deutsche Staats-
eine rationale Anerkennung dafür nicht vorenthalten. Über- und Freiheitsbegriff das Merkmal seines wesentlich geistigen
dies aber sieht er, wenigstens wenn die Zeit ihm den Blick und kulturellen Ursprunges ebenso deutlich an sich trägt, wie
dafür so gewaltsam, wie heute, schärft, daß dem Staate bei der englische das des puritanischen und der französische das
aller Sozialisierung ein beträchtlicher Rest von metaphysischer des revolutionären. Als dieser Krieg ausbrach, konnte emp-
Würde und Bedeutung nicht abhanden gekommen ist und nie- funden werden, daß der deutsche Staat, wie er ist, von deut-
mals abhanden kommen kann. scher Geistesart vieles aufgenommen habe, und soweit der
Geist überhaupt nationalen Zusammenhang und nationale
Die historische Tradition eines Volkes, jener Erlebnishort Bestimmtheit spürte, das heißt: sich noch nicht entschieden
aus früheren Epochen seiner geistigen Entwicklung, der an demokratisch internationalisiert fand, konnte er sich gefühls-
und für sich ein Kulturwert ist, kann von keinem anderen mäßig an diesen so furchtbar bedrohten Staat anschließen, —
Volke vollständig gewürdigt und gepflegt werden. Der Staat, ich sage: Er konnte es. Daß er es mit Sicherheit tun mußte,
die überindividuelle Gemeinschaft, ist unzweifelhaft Hüter die-
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sage ich nicht; denn selbst in diesem Falle ist es in Deutsch- So viel vom Staat überhaupt. Wie steht es nun um unsere
land sehr möglich, daß nicht nur Gleichgültigkeit gegen das Politik? Das heißt um unsere Meinung, wie der Staat zu ge-
Schicksal des Staates bestehe, sondern daß seine Demütigung stalten sei? Ich sage: um »unsere«, denn in politischen Din-
sogar zu den geistigen Wünschbarkeiten zähle. gen ist es ja anmaßend und falsch, in der ersten Person singu-
Das hat seinen Grund in der spezifisch deutschen Antithese laris zu sprechen. Man steht hier niemals allein, es gibt keine
von Macht und Geist, darin nämlich, daß, historisch gesehen, politische Originalität, man ist Partei, und die Rede darf im-
diese beiden, Geist und Macht, einander in Deutschland mit mer nur lauten: »Wir glauben« oder »auch ich glaube«. Die
einem Schein von Gesetzmäßigkeit verfehlen, Staatsblüte und politische Sphäre kennzeichnet sich dadurch als untergeordnet,
Kulturblüte einander auszuschließen scheinen, — wodurch sich daß sie eine unpersönliche Sphäre ist; es herrscht darin die
bei Künstlern und Gläubigen der Kultur die Überzeugung be- Meinung, und diese ist nicht rangverleihend. Politische Mei-
festigen konnte und mußte, ein staatlich mächtiges Deutsch- nungen liegen auf der Straße: Lies eine auf, hefte sie dir an,
land sei notwendig geist- und kulturwidrig, deutsche Geistes- und du wirst manchem, wohl auch dir selbst, respektabler als
blüte mit deutschem Staatsflor nimmermehr zu vereinen. Wenn vordem erscheinen, was aber auf Täuschung beruht. Über Rang
Goethe Kultur als »die Vergeistigung des Politischen und Mi- und Wert eines Menschen ist durch die Tatsache, daß er kon-
litärischen« bestimmte, so rechnete er dabei ins Große, hielt servativ ist, nichts ausgesagt; jeder Dummkopf kann es sein.
sich an eine allgemeinere Norm und blickte über deutsche Ver- Es bedeutet auch nichts für jemandes Wert und Rang, daß er
hältnisse und Wirklichkeiten souverän hinweg. Dennoch be- Demokrat ist; jeder Dummkopf ist es heute. Andererseits wäre
rechtigt die höhere Gültigkeit seiner Bestimmung des Kultur- es fehlerhaft, von den hohen außerpolitischen Leistungen eines
begriffs zu der Vermutung oder Hoffnung, daß der deutsche Mannes auf seine politische Einsicht, Tüchtigkeit und Berufen-
Unglaube an die Möglichkeit einer Synthese von Macht und heit zum Mitreden zu schließen, — so fehlerhaft, wie es um-
Geist ein vorurteilsvoller Unglaube ist. Vielleicht steht nir- gekehrt wäre, die bewiesene Berufenheit zur Politik für das
gends geschrieben, daß es immer so sein müsse, wie es mei- Zeichen eines bedeutenden Mannes überhaupt zu nehmen. Es
stens war; daß Deutschland die Macht nicht wollen dürfe, wenn gibt kein außerpolitisches Kriterium der politischen Berufen-
es den Geist wolle. Die Epoche Bismarcks war keine Kultur- heit. Das Politische ist die Sphäre des (demokratischen) In-
epoche. Aber das eigentliche und allgemeine Pathos der Deut- dividuums, nicht die der (aristokratischen) Persönlichkeit. Und
schen bei Ausbruch dieses Krieges war ja, daß man nun aus zum Beweise, daß ein Meinen über die Politik auch schon po-
dieser Epoche in eine neue trete, — in was für eine? In eine litisches Meinen ist, so meine ich denn, daß hier die einzige
solche, die das alte, durch eine unglückliche Geschichte einver- wahre und wirkliche Rechtfertigung des politischen Demokra-
leibte und einverseelte antithetische Vorurteil möglicherweise tismus liegt, welche sich nämlich in den Grundsatz zusammen-
Lügen strafen werde. War es nicht so? Heute freilich scheint fassen läßt: »Wo es unmöglich ist, jedem das Seine zu geben,
vielmehr der Glaube verbreitet, nach diesem Kriege werde es da soll man allen das Gleiche geben.«
mit dem Machtgedanken in der Welt überhaupt zu Ende sein Damit wären wir eigentlich schon am Ende. Aber zu leicht
und nur noch der Geist, in Gestalt der Gerechtigkeit, sein zum Ziele gelangen heißt nicht recht zum Ziele gelangen. Wir
Szepter über einer durchaus versittlichten Erde schwingen, — wollen noch einmal anlaufen.
ein deutscher Glaube wiederum, der anderwärts, soviel ich Jeder unrednerische Mensch von Wahrheitsliebe und an-
sehe, wenig geteilt wird. — ständigem Pessimismus wird die ewige Unaufhebbarkeit des
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Widerstreites zwischen Individuum und Gesellschaft gelassen das Mittel zu ihrer Lösung. Der gegenteilige Glaube ist der
anerkennen. Er wird anerkennen, daß das soziale Leben die Glaube des europäischen Westens, der rhetorischen Demokra-
Sphäre der Notdurft, des Kompromisses, der unlösbaren Anti- tie, und Deutschland, das ihm bisher widerstand, weil es wußte,
nomien ist und bleibt, wird es für salbungsvollen Völker- daß man die politische Frage nicht von der Frage des Menschen
betrug erklären, wenn die positivistische Aufklärung die überhaupt trennen darf, daß diese vielmehr auch als politische
Verwirklichung einer Harmonie von Individual- und Sozial-
ihre Lösung nur durch Innerlichkeit, nur in der Seele des Men-
interesse vermittelst jener unmöglichen Abgrenzung der
schen finden kann, — Deutschland ist im Begriffe, zu diesem
›Rechte‹ des einzelnen gegen die gleichen ›Rechte‹ der anderen,
Glauben überzutreten, in der Meinung, sich damit zu ›politi-
die ›Freiheit‹ also, die ›individuelle Wohlfahrt‹, das ›Glück‹
sieren‹, — als ob eine Politik ihren Namen verdiente, mit der
verheißt. Das ist kein Grund, praktisch die Hände in den
auf die Dauer kein Staatswesen vereinbar ist. Denn mit den
Schoß zu legen; aber es ist ein Grund, der politischen Aufklä-
Prinzipien der utilitaristischen Aufklärung ist kein Staatswe-
rung geistig die Gefolgschaft zu verweigern. Ihr öliger Edel-
sen vereinbar. Was sie zeitigen, ist jener vitiose Kreislauf, in
mut, ihre selbstgefällige Gläubigkeit werden einen solchen
dem Anarchie und Diktatur sich berühren und den ein natio-
Menschen anwidern, nicht nur, weil er das ›Glück‹, das diese
naler, das heißt antidemokratischer deutscher Staatsmann, der
Aufklärung verheißt, als unmöglich erkennt, sondern weil es
heute freilich sehr aus der Mode gekommen, nämlich Bismarck,
ihm als gar nicht wünschbar, als menschenunwürdig, geist-
für Deutschland nicht wünschte. Weder Anarchie noch Despo-
und kulturwidrig, kuhfriedlich-wiederkäuerhaft und seelenlos
erscheint. Er weiß, daß die Politik, nämlich Aufklärung, Ge- tie sind überhaupt Staat, und im Falle der letzteren sollte es
sellschaftsvertrag, Republik, Fortschritt zum »größtmöglichen gleichgültig sein, ob sich die ›Macht‹ auf die Bajonette oder,
Glück der größtmöglichen Anzahl« überhaupt kein Mittel ist, wie im Rußland Kerenski's, auf ›die Freiheit‹ stützt, vielmehr
das Leben der Gesellschaft zu versöhnen; daß diese Versöh- diese ›mit Blut und Eisen‹ aufrechterhält. Hier zu unterschei-
nung nur in der Sphäre der Persönlichkeit, nie in der des In- den ist eine der merkwürdigsten Bekundungen menschlicher
dividuums,' nur auf seelischem Wege also, nie auf politischem Narrheit.
sich vollziehen kann, und daß es Aberwitz ist, das soziale Le- Da, wie gesagt, die Politik, das soziale Leben die Sphäre
ben im entferntesten zu religiöser Weihe erheben zu wollen. der Notdurft und der Kompromisse ist, so wird das eigentlich
Eben diese Neigung aber besteht bei allem Positivismus von vernünftige Verhalten hier immer ein mäßig-mittleres, um
jeher, und nie war sie deutlicher als heute, wo er unter dem nicht zu sagen: mittelmäßiges, eine Politik der mittleren Linie
Namen der Kultur-Religion, der Religion des ›Geistes‹ ein sein. Radikalismus sei statthaft oder notwendig wo man will,
triumphierendes Risorgimento feiert, — während er doch ge- in der Moral, in der Kunst; in der Politik ist er ein Unfug.
blieben ist, was er war, nämlich Nützlichkeitsmoral und nichts »Partei! Partei! Wer sollte sie nicht nehmen!« sang Herwegh,
Besseres. — wenn man so etwas Gesang nennen kann. Partei genommen
hat, wenigstens einmal, auch der apolitische Goethe: als er
Die Frage des Menschen stellt sich, von außen gesehen, dop- nämlich zu Eckermann sagte, jeder vernünftige Mensch sei ein
pelt dar: als eine metaphysische und eine soziale, eine mora- gemäßigter Liberaler. Was in seinem Munde ungefähr soviel
lische und eine politische, eine persönliche und eine gesell- heißt wie »ein gemäßigter Konservativer«. Denn wie man ihn
schaftliche. In Wahrheit ist sie nur eine, und Politik, nämlich kennt, meinte er mit ›Liberalismus‹ nicht Aufklärung, Gleich-
utilitaristische Aufklärung und Glücksphilanthropie, ist nicht heitsindividualismus, Republik und ›Fortschritt‹, nicht irgend-
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eine abstrakte Ethik der Menschenrechte und -pflichten und die andere, die der Demokratisierung der Bildungsmittel gilt.
jenes Ideal der ›freien Konkurrenz‹, dem man die Weltherr- Daß niemanden mehr, der von besonderer Begabung ist, die
schaft des ökonomischen Interesses verdankt. Nein, Goethe Geburt an einer höheren Laufbahn hindere, ist sie das eigent-
glaubte nicht an Freiheit ›und‹ Gleichheit. Er erklärte sich liche Mittel, und jeder gute soziale Wille wird dies Mittel emp-
nicht als Demokraten, indem er sich als liberal erklärte. Wir fehlen, auch wenn er nicht vergißt, daß es Kulturwerte gibt,
hoffen, wir bilden uns ein, seinen »gemäßigten Liberalismus« die das Ergebnis der Vererbung und Aufzucht bleiben. Freieste
zu bestimmen, indem wir den unsrigen, wie folgt, bestimmen. Bildungsmöglichkeit! — sie ist sehr wichtig. Demokratie als
Seine Sache ist die der geistigen und der sozialen Freiheit. Tatsache ist weiter nichts als die immer noch wachsende Öf-
Er ist Feind der Demokratie, sofern diese sich als doktrinärer fentlichkeit des modernen Lebens, und den seelisch-menschli-
Selbstzweck und nicht als Mittel gebärdet. Als Mittel aber, chen Gefahren dieser fortschreitenden Demokratisierung, der
nämlich zur aristokratischen Auslese im Staatsinteresse, ist sie Gefahr nämlich einer völligen Nivellierung, journalistisch-
eben das, was man soziale Freiheit oder besser soziale Frei- rhetorischen Verdummung und Verpöbelung, läßt sich einzig
zügigkeit nennt: die Möglichkeit des Austausches zwischen mit einer Erziehung begegnen, deren herrschender Begriff, wie
den beiden Kasten, von denen Nietzsche in einem Aphorismus Goethe es in der Pädagogischen Provinz verlangt, die Ehrfurcht
von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ spricht, der Kaste der sein müßte: Goethe, dieser Pädagog von Geblüt, dieser leiden-
Zwangsarbeiter und der Freiarbeiter: eines Austausches der schaftliche Erzieher, der wohl wußte, daß Bildung, Erziehung,
Art, »daß die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzel- und zwar im Geiste der Ehrfurcht, das einzige und bitter not-
nen aus der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden wendige Korrektiv der heraufkommenden Demokratie sein
und wiederum die freieren Menschen aus dieser den Zutritt werde. Und warum zuletzt ist sie es? Weil mit dem Erziehungs-
zur höheren erlangen«. An dieser Möglichkeit, meint Nietzsche, gedanken die soziale, die politische Frage dorthin zurückver-
müsse der Kultur alles gelegen sein. Aber auch dem Staat ist legt wird, wohin auch sie gehört, nämlich in das Innere der
daran gelegen. Staatswichtig ist ohne Zweifel die möglichst Persönlichkeit; weil sie durch ihn wieder in jene Sphäre ge-
vollkommene Übereinstimmung der persönlichen und der so- rückt wird, die sie nie hätte verlassen dürfen, in die seelisch-
zialen Rangordnung. Darum muß man auf Mittel sinnen, das moralische, die menschliche Sphäre. Seine Sozial-Religiosität
Bildungsprivileg des Besitzes zu vereiteln. Eine soziale Steuer- kann dem Leben der Gesellschaft Versöhnung bringen. Das
gesetzgebung ist hierzu das nächste Mittel, wenn auch das kann nur wirkliche, das heißt metaphysische Religion, indem
beste nicht. Besonders bleibt bei jeder Beeinträchtigung des sie das Soziale als letzten Endes untergeordnet erkennen lehrt.
Erbrechtes der kleine und mittlere Besitz zu schonen, denn Oder, wenn man von Religion nicht sprechen will, so sage
hundertmal hat die Kultur Nutzen davon gehabt, daß jeman- man Bildung dafür (womit natürlich nicht naturwissenschaft-
dem mit zwanzig Jahren kraft seiner ererbten Rente, die eine liche Halbbildung gemeint sein kann), oder Güte, oder Mensch-
Hungerrente sein mochte, soziale Freiheit gesichert war; und lichkeit, oder Freiheit. Die Politik macht roh, pöbelhaft und
auch was den eigentlichen Reichtum betrifft, so hat das Beden- stupid. Neid, Frechheit, Begehrlichkeit ist alles, was sie lehrt.
ken sein Recht, daß gewisse Werte nicht nur kultureller, son- Nur seelische Bildung befreit. An Institutionen ist wenig, an
dern auch politischer Art an ihn gebunden sind. Glücklicher den Gesinnungen alles gelegen. Werde besser du selbst! und
also und auch im guten, seelischen Sinn radikaler als die For- alles wird besser sein.
derung einer sozial-demokratischen Steuergesetzgebung ist So viel vom sozialen Freiheitsbegriff unseres Liberalismus.
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Was seinen Begriff der geistigen Freiheit angeht, so leitet er tisch will — und namentlich, was ich nicht will. Ich will die
sich her aus der Einsicht, daß die Trennung des geistigen Le- Monarchie, ich will eine leidlich unabhängige Regierung, weil
bens vom Staate nicht abzuweisen ist. Denn dieser, wie er ist, nur sie die Gewähr politischer Freiheit, im Geistigen wie im
kann nicht Träger des persönlichen Lebens sein. Das Fehlen Ökonomischen, bietet. Ich will sie, weil es die Losgelöstheit
einer staatlich geleiteten Einheitskultur bedeutet, daß es volle der monarchischen Staatsregierung von den Geldinteressen war,
menschliche Befriedigung im Politischen nicht gibt, — woraus, die den Deutschen die Führung in der Sozialpolitik erwirkte.
unter anderem, folgt, daß die Lehre, staatsbürgerliche Erziehung Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die
sei die Erziehung, recht schlechte Romantik ist. Es ist liberal, Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik be-
die Übereinstimmung des Geistigen und des politischen Lebens wirkt. Ich will nicht, daß Dreyfus aus Politik verurteilt und
zu leugnen, oder vielmehr: ihre Nichtübereinstimmung anzu- aus Politik freigesprochen werde, — denn die Freisprechung
erkennen. Menschliche Gefahren liegen auch hier; aber sind eines Unschuldigen aus Politik ist nicht weniger widerwärtig
sie in Deutschland, vielleicht, am größten, so ist auch der Deut- als seine Verurteilung aus diesem Grunde. Ich will nicht, daß
sche am fähigsten, ihnen standzuhalten, und zwar dank der der Lungenbefund des petit sucrier zum Kammergezänk, daß
Reformation, die ihn metaphysische Freiheit allgemeiner zu der Schwindsüchtige aus umgekehrter Klassenjustiz zum Mi-
tragen gelehrt hat. Hegel hat gesagt, Frankreich werde, weil litär verurteilt werde und krepieren muß, weil der schäumende
ihm die Reformation gefehlt habe, nie zur Ruhe gelangen. ›Gerechtigkeits‹-Rachen der öffentlichen Bestie ein Opfer
Und Carlyle macht in seiner heroisch-humoristischen Art an- heischt. Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung
schaulich, wie die Französische Revolution nur die rächende und Anstand. Wenn das philisterhaft ist, so will ich ein Phili-
Wiederkehr des zweihundert Jahre früher abgewiesenen Pro- ster sein. Wenn es deutsch ist, so will ich denn in Gottes Na-
testantismus gewesen sei. — men ein Deutscher heißen, obgleich das in Deutschland nicht
Ehre bringt. Und da denn von Deutschtum und Politik die
Jene Demokratie, die unser Liberalismus bejaht, ist keine
Rede ist, so will ich auch über die Wahlrechtsfrage, die wie-
Doktrin und keine rhetorische Tugendphilosophie aus dem
der einmal brennende Frage des deutschen oder des preußi-
achtzehnten Jahrhundert. Sie ist zweierlei. Sie ist, als immer
schen Wahlrechts zwei oder auch drei Worte sagen, — unter
noch um sich greifende Veröffentlichung des Lebens, eine see-
dem Gesichtspunkt des Deutschtums und unter dem der Poli-
lisch und geistig nicht ungefährliche Tatsache des modernen
tik: welches nach meinem Dafürhalten zwei wohl zu unter-
Lebens; und sie ist, als soziale Freizügigkeit und Mittel zur
scheidende Gesichtspunkte sind.
aristokratischen Auslese, eine staatstechnische Wünschbarkeit.
Sie ist also kein Gegenstand des Enthusiasmus, sondern der Die Demokraten erklären, der Widerstand der Konservati-
einer gelassenen Vernunftanerkennung. Mit ›Geist‹ hat sie gar ven gegen die Einführung des gleichen Wahlrechts in dem
nichts zu tun; mit Tugend auch nichts. Als Tatsache wie als führenden und räumlich drei Fünftel des Reiches umfassenden
Wünschbarkeit aber ist sie mit einer starken monarchischen deutschen Bundesstaat entspringe persönlichem Machtinteresse.
Regierung nicht nur vereinbar, sondern diese bildet geradezu Ich stellte dagegen, daß es den Konservativen mit ihrer Ver-
ihr notwendiges Korrektiv. Politische Meinungen sind Wil- sicherung, wenn Deutschland zum westlichen Demokratismus
lensmeinungen, das liegt in ihrer Natur; und da es sich hier, kondeszendiere, so habe es geistig den Krieg verloren, zwei-
wenn die Wortverbindung ernstlich erlaubt ist, um ein › p o - fellos ernst ist. Um dieser Meinung zu sein, dafür sind sie.
litisches Bekenntnis‹ handelt, so sage ich denn, was ich poli- Konservative. Konservativ sein heißt nicht, alles Bestehende
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erhalten wollen: die Konservativen beteuern ihre Bereitwillig- Deutschlands gedient sei, — national ist sie nicht und kann sie
keit zu Reformen. Konservativ sein heißt: Deutschland deutsch nicht sein: Ihr abstrakter Begriff des Menschentums, ihre ge-
erhalten wollen, — und das ist nicht eben der Wille der Demo- samte geistige Überlieferung straft diesen Anspruch Lügen.
kratie. Der Selbstwiderspruch der sogenannten ›Vaterlandspar- »Heute«, hat schon Rousseau gesagt, »gibt es keine Franzo-
tei‹ besteht darin, daß sie sich angeblich von innerer Politik sen, Deutschen, Spanier, Engländer mehr, was man darüber
›fernhalten‹ und nur, das Wort ›Partei‹ im parteifeindlichen, denke; es gibt nur noch Europäer, die alle denselben Geschmack,
politikfeindlichen Sinn gebrauchend, All-Deutschand nacht dieselben Leidenschaften, dieselben Sitten haben, weil keiner
außen zusammenfassen will. Ich nenne das einen Selbstwider- durch besondere Institutionen ein nationales Gepräge erhielt.«
spruch: denn indem man ›Alldeutschland‹, das heißt alle gei- Hier ist die Überlieferung aller geistig in Betracht kommenden
stig und nicht nur wirtschaftlich national Gesinnten und Ge- und nicht nur opportunistisch-staatspraktischen Demokratie.
willten zusammenfaßt, faßt man eben die Demokratie nicht Die Vermengung der demokratischen mit der nationalen Idee
mit, sondern läßt sie, als das Feindliche, draußen; man ist ist heute eine unstatthafte Liberalität, eine intellektuelle Un-
Partei ebendamit, innerpolitische Partei, konservative Partei; reinlichkeit: Ich sage »heute«; denn vor siebzig Jahren war
denn konservativ und national, das ist ein und dasselbe — so jene patriotische Demokratie, jener Politizismus der »deutschen
wahr, wie demokratisch und international ein und dasselbe Brüder‹, den Schopenhauer verabscheute, ja offenbar etwas
ist —, was die Demokratie auch dagegen sagen möge. geistig Mögliches. Nicht heute. Auch geistige Möglichkeiten
Die Demokratie nimmt, in gewissen Fällen, die besten deut- haben ihre Lebensdauer, sie sind der Zerstörung ausgesetzt.
schen Überlieferungen für sich in Anspruch, sie leitet sich her Ist die Zeit strenger, scheidender, unerbittlicher, radikaler
aus dem deutschen Humanismus, der Weltbürgerlichkeit un- geworden in geistigen Dingen? Es muß wohl so sein; denn
serer großen Literaturepoche. Aber deutscher Humanismus ist unmöglich ist es um 1915, die Geistesform des nationaldemo-
etwas anderes als demokratisches ›Menschenrecht‹; Weltbür- kratischen Mannes anders denn als eine obsolete und ausge-
gerlichkeit etwas anderes als Internationalismus; der deutsche blichene Geistesform zu empfinden. Mag sein, daß meines-
Weltbürger ist kein politischer Bürger, er ist nicht politisch, — gleichen von 1880 ist. Aber die Nationaldemokratie ist von
während die Demokratie nicht nur politisch, sondern die Po- 1848, und nur darum scheint sie möglich, weil jedes Heute
litik selber ist. Politik aber, Demokratie, ist an und für sich das Vorgestern geschmackvoller findet als das Gestern.
etwas Undeutsches, Widerdeutsches; und der Selbstwiderspruch Ich habe hingewiesen auf den Selbstwiderspruch der ›Vater-
der Demokratie, oder doch einer gewissen Demokratie, besteht laridspartei‹ und auf den des national-demokratischen Man-
darin, daß sie zugleich demokratisch und national sein will, nes. Man soll nicht sagen, daß ich meinen eigenen Selbstwider-
den Namen ›Vaterlandspartei‹ für einen Affront erklärt und spruch und den von meinesgleichen mir unterschlage. Es ist
es tödlich übelnimmt, wenn jemand Miene macht, sie im Na- ein deutscher Selbstwiderspruch: er erwächst aus dem Gegen-
tionalen für weniger zuverlässig zu halten als die Konserva- satz von Deutschtum und politischem Wesen, diesem natio-
tiven. In Wahrheit mag sie patriotisch sein, indem sie um die nalen Gegensatz, der 1813 von Goethe, 1848 von Schopen-
wirtschaftliche Wohlfahrt Deutschlands, um sein Glück und hauer, nach 1871 von Nietzsche gegen die Leidenschaft der
sogar seine Macht (denn Wirtschaft ist ja Mittel und Ausdruck politisierenden Massen vertreten wurde und der auch heute in
der Macht) redlich besorgt ist und eben nur meint, daß ein- Kraft bleibt, wie er auch von den Anwälten der Politisierung,
zig mit demokratischer ›Verständigung‹ dem Wirtschaftsflor das heißt: der Demokratisierung Deutschlands verleugnet

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werden möge. Es ist so und nicht anders, daß in Deutsch- der preußischen Ostmarken an die beiden Häuser des preußi-
land die Bejahung des Nationalen die Verneinung der Politik schen Landtags gerichtet worden ist und mehr als sechzigtausend
und der Demokratie in sich schließt — und umgekehrt. Man Unterschriften gefunden hat. Die Eingabe, so heißt es, gibt der
empfindet antipolitisch, indem man konservativ-national emp- »bangen Sorge« Ausdruck, mit der das ostmärkische Deutsch-
findet. Man ist andererseits nicht Politiker und Demokrat, ohne tum die Politik der Reichsregierung verfolgt: denn »die be-
antinational, ohne kosmopolitischer Radikalist zu sein. Der vorstehende Änderung des preußischen Wahlrechts und deren
Ruf nach Deutschlands ›Politisierung‹ bedeutet in intellek- logische Folge, die Änderung des Kommunal-Wahlrechts, müs-
tueller Sphäre durchaus nicht den Ruf nach Deutschlands Macht, sen zu einer Verstärkung des polnischen Einflusses im preu-
— wir erfahren das alle Tage. Er bedeutet vielmehr den Wil- ßischen Landtag und zur völligen Polonisierung der bisher
len zur Revolutionierung und politischen Zersetzung Deutsch- deutschen Verwaltung der großen Mehrzahl unserer Städte
lands. Auf der anderen Seite ist es möglich, daß jene selbe führen«. Das las man in einem süddeutschen Blättchen, das
nationale Sympathie und Gebundenheit, die jemanden Deutsch- die Nachricht, vielleicht aus Einfalt, einem Berliner konser-
lands Sieg, Macht und historische Größe wünschen läßt, ihm vativen Organ nachdruckte; man las es in keinem der großen
zugleich eine antipolitische Haltung seelisch-unweigerlich vor- links-liberalen Blätter, — die Mitteilung wäre taktisch inoppor-
schreibt und ihn Worte durchaus sich zu eigen machen läßt, tun gewesen, und handelt es sich um die Verwirklichung der
die Overbeck 1873 an Treitschke schrieb: »Steht es wirklich so ›Gerechtigkeit‹, so ist die Nationalität der ostmärkischen
schlecht mit unserer deutschen Vergangenheit, hat sie wirklich Stadtverwaltungen, die »bange Sorge« des bedrängten Deutsch-
in so kläglicher Weise immer wieder unsere politische Un- tums in jenen Gegenden der Demokratie grund-einerlei.
fähigkeit bewiesen, wie nicht am wenigsten Du es uns vor- Ich wollte die kleine Tatsache anmerken und festhalten, und
geführt hast, so darf man wohl zweifeln, ob gerade in der ich bin mit ihr wieder bei dem engeren Thema dieser Ab-
Politik uns die Palme winkt, und ob wir nicht auch wieder mit schnitte: der Wahlrechtsfrage, zu der es nun wohl oder übel
unserem gegenwärtigen politischen Fieber übel hereingefallen Stellung nehmen heißt. So bekenne ich denn, daß die sittlichen
sind.« Dieses Ja-und-doch-Nein ist mein Fall. Dieses Selbst- und geistigen Argumente zugunsten des gleichen Wahlrechts
widerspruchs, der nicht im logischen, sondern nur im natio- mir sehr schwach, sehr wenig stichhaltig erscheinen. Man sagt
nalen Gefühl seine Versöhnung findet, wie der der Gegner im etwa, daß demokratische Gesinnung, der Wille zur Teilnahme
anti-nationalen, habe ich mich zu zeihen: Er ist der Selbst- am Staat im demokratischen Geist und in demokratischen For-
widerspruch dieses Buches, und höchstens ihn darzustellen, men durch den Krieg mächtig gefördert worden sei, und zwar
nicht zu lösen maßt es sich an. auf Grund der Opfer, welche das Volk gebracht habe. Aber
So viel von mir. Was aber jene Demokratie betrifft, die einen jede Gesinnung und jede Tendenz ist durch diesen Krieg ge-
roten Kopf bekommt, sobald man sie für national weniger fördert und verstärkt worden: die konservativ-nationale nicht
interessiert erklärt als die Konservativen, so ist ihre Emp- weniger als die demokratische; und sagen »nicht weniger«
findlichkeit in diesem Punkte bestenfalls Unwissenheit über heißt zu wenig sagen. Ich kenne Leute, kenne deutsche Frauen
ihren eigenen tieferen Willen, — sofern sie nicht Heuchelei und zumal, die im Kriege ihr Liebstes geopfert, das heißt: verloren
Taktik ist. Im rechten Augenblick werde ich aufmerksam auf haben und die während dieser Jahre, statt nach ›links‹, ein
eine Zeitungsnotiz, die sehr merkwürdig zur Sache spricht. Sie großes Stück weiter nach ›rechts‹ gerückt sind. Wer behaup-
betrifft eine Eingabe, die aus der deutschen Bewohnerschaft tete, daß dies nicht Ausnahme, sondern sogar die Regel sei —

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zu gewähren, eben damit begründet, daß wir uns als ›reif‹
und zwar gerade in den Schichten, auf die es geistig am Ende
für sie erwiesen hätten. Reif für die Demokratie? Reif für die
ankommt, den gesellschaftlich höheren, um nicht zu sagen: den
Republik? Welch ein Unsinn! Einem Volke ist die oder jene
gebildeten —, der behauptete kaum zuviel; und der Zulauf,
Staats- und Gesellschaftsform gemäß, oder sie ist ihm nicht
dessen die ›Vaterlandspartei‹ sich erfreut, ist mit ihrem Auf-
gemäß. Es ist geschaffen dafür, oder es ist nicht dafür geschaf-
wand an Propaganda-Mitteln nur unzulänglich erklärt. Wer
fen. ›Reif‹ wird es niemals dafür; und gewisse südamerika-
heute in Deutschland reist und zu hören versteht, wird nicht
nische Völkerschaften haben die Republik und die ›Freiheit‹
mit der Überzeugung heimkehren, daß die politische Willens-
nicht deshalb, weil sie früher ›reif‹ dafür waren . . .
meinung des deutschen Volkes sich ›demokratisiert‹ habe, —
ich spreche aus persönlicher Erfahrung, und sie lehrte mich Das Prinzip des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ist
eher das Gegenteil. Man klopfe beim Kaufmann, Gelehrten, das Prinzip der Volksabstimmung, und diese wird auch von
beim Künstler an (ich meine freilich nicht den literarischen In- sattelfesten Demokraten doch lieber abgelehnt, gesetzt, es handle
tellektuellen) — beim repräsentativen deutschen Künstler von sich zum Beispiel um strittige Gebietsfragen. Die Volksab-
Weltruhm zumal, dem Musiker; man hole die Pfitzner und stimmung gilt dann als doktrinäre Forderung, man meint
Strauß über ihr Wohlverhalten zur Demokratie und zum ›glei- zögernd, es werde große Schwierigkeiten haben, sie durchzu-
chen Stimmrecht‹ aus, und man wird sein blaues — durchaus führen, man zweifelt, ob sie das wirkliche Bild des Volkswil-
nicht sein ›rotes‹ Wunder erleben, man wird erfahren, daß lens gäbe. Große Parteien, meint man, würden sich immer
Radikalismus im Künstlerischen und eine politisch recht kon- finden, die das Ergebnis der Abstimmung falsch und ungerecht
servative Gesinnung sich vortrefflich vertragen .. . Einen be- nennen würden, eine starke Minorität vielleicht, und wer
rühmten Kapellmeister hörte ich ausrufen: »Es wird dahin wisse, ob sie nicht die eigentlich maßgebenden Elemente um-
kommen, daß das Orchester darüber abstimmt, ob eine Stelle fasse? Mit einem Worte, man ist nicht folgerecht, man ver-
piano zu spielen sei oder mezzoforte!« Wer das unernst fin- gißt, daß die gleichen Bedenken gegen das allgemeine und
det, möge nachlesen, was Nietzsche in ›Menschliches, Allzu- gleiche Wahlrecht sprechen, auch, wenn es sich bei jenen Ge-
menschliches‹ über die Vorbildlichkeit des Verhältnisses von bietsfragen um eine Bevölkerung mit 75 Prozent Analphabe-
Volk und Regierung für den Verkehr zwischen Lehrer und ten und bei der Wahlrechtsfrage um eine wohlgeschulte Masse
Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heer- handelt. Ist ein Volk »mehr als die Summe seiner Teile«, so
führer und Soldat, Meister und Lehrling sagt. hat das Volk nicht gesprochen, wenn man die Teile einzeln
abgefragt hat. Es ist keine Gedankenspielerei, zu sagen, daß
Die große Presse erklärt nun zwar, es seien die politisch der Wille des Volkes ein anderer sein kann als der der
Ahnungslosen, die Laien, Dilettanten und Gimpel in politicis, »Summe«, der Masse. Eine mechanisch-demokratische Abstim-
die der ›Vaterlandspartei‹ ins Garn liefen und der Demokratie mung im Deutschland des dritten Kriegsjahres würde mit
Widerstand leisten. Aber ist es nicht eben die Demokratie, kläglicher Wahrscheinlichkeit eine erdrückende Majorität zu-
welche lehrt, daß Politik »keine Geheimwissenschaft« sei und gunsten eines sofortigen und bedingungslosen, das heißt rui-
daß es einen politischen Dilettantismus, ein politisches Laien- nösen Friedens ergeben. Aber damit ist das Prinzip der Ab-
tum nicht gäbe? Existiert politische Reife nur in der Presse? stimmung ad absurdum geführt, denn das wäre mitnichten
Oder sollte es nicht vielmehr bei Wagners Wahrheit bleiben, der Wille des Volkes. Der Wille eines historisch aufsteigenden
daß es die Demokratie ist, die bei uns »nur in der Presse exi- Volkes ist eins mit seinem Schicksal.
stiert« ? Übrigens wird die Notwendigkeit, uns die Demokratie
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266
Ich wiederhole, daß alle positiven Argumente zugunsten des wurde, — all dies, sage ich, mutet an wie ein schönes, luxuriö-
gleichen Wahlrechts, soweit sie geistigen und sittlichen An- ses und fruchtloses Spiel angesichts des tatsächlichen, unbe-
spruch erheben, mir hinfällig scheinen. Was ich für mein Teil einflußbaren und unaufhaltsamen Ganges der politischen Ent-
an ihre Stelle setze, ist jene Entscheidung, daß in einer Sphäre, wicklung, die geradlinig ins immer Massengerecht-Primitivere,
in der es unmöglich ist, jedem das Seine zu geben, nichts übrig- ins Radikal-Demokratische führt. Das ist festzustellen und mit
bleibt, als allen das Gleiche zu geben. Das ist nicht gerecht, jener Achtung, die man dem Verhängnis schuldet, anzuerken-
aber es hat populäre Einfachheit, und wir leben in einer Zeit, nen. Eben aus der Tatsache aber, daß Geist, Philosophie, kost-
der nicht das bestdurchdachte Recht, sondern das am leichte- bareres Denken in der Politik ganz offenbar nichts mehr zu
sten zu verstehende angemessen ist. Für mich besteht kein suchen und zu sagen haben, folgt die Notwendigkeit, das gei-
Zweifel, daß gerade in einem differenzierten Volk mit großen stige Leben vom politischen zu trennen, dieses seine eigenen
geistigen Abständen, wie dem deutschen, ein mit Weisheit fatalen Wege gehen zu lassen und jenes über solche Fatalität
geregeltes Mehrstimmenrecht, welches nach Verdienst, Alter, zu heiterer Unabhängigkeit zu erheben. Keine Forderung ist,
Bildungsgrad, geistigem Range fragte, auch Bedacht darauf wie die Dinge liegen, unsinniger und unverschämter, als die
nähme, ob einer Söhne hat und also an der Gestaltung des der ›Politisierung des Geistes‹, — wie als ob der Geist sich
Staates einen nicht nur egoistisch-persönlichen, sondern wei- politisieren müsse, weil die Politik nicht fähig des Geistes ist
terschauenden Anteil nimmt, — daß ein solches Stimmrecht und mehr und mehr einer Art von rhetorischer Verpöbelung
relativ gerechter sein könnte als das gleiche: denn um rela- anheimfällt. Das geistige Leben aber, das ist das nationale
tive Gerechtigkeit kann es sich bei aller menschlichen Rechts- Leben, und dieses ist es, was man vom politischen Leben tren-
ordnung ja immer nur handeln. Je durchdachter, aristo- nen muß, — ein Entschluß, der dem konservativen Politiker
kratischer, geistreicher abgestuft und erfinderischer in der freilich schwer oder unmöglich dünken mag und muß. Mögen
Annäherung an die Gerechtigkeit aber ein solches Wahlrecht sie doch bedenken, daß die Nationalkultur nicht nur extensiv
wäre, desto weniger wäre es geeignet, der Masse als gerecht weiter reichen kann als der Staat, als das öffentliche, rechtlich
einzuleuchten, welcher nämlich immer nur die schlichteste, geregelte Leben (sie tut es im Falle des deutschen Reiches, das
plumpste und primitivste Art von Gerechtigkeit, jene, die ohne ja durchaus nicht das deutsche Kulturgebiet umfaßt), sondern
Federlesen allen das Gleiche gibt, als gerecht erscheinen wird. daß sie auch — und dies in jedem Falle — intensiver, persön-
Daß sie ihr sogar als absolut gerecht erscheint, setzt sie in die licher ist als die Rechtsordnung, weshalb man unrecht täte,
sittliche Lage, jedem aristokratischen Recht mit einem Pathos dieser eine übertriebene Wichtigkeit für das höhere und eigent-
zu widerstehen, das dem Bewußtsein der Unvollkommenheit liche Leben der Nation zuzusprechen. So wenig heute ein voll-
jeder Rechtsordnung einfach nicht erschwinglich ist und wo- kommenes Aufgehen der Persönlichkeit im Staate eine geistige
mit sie den Sieg davontragen muß. Und nur mit der Masse und Möglichkeit ist (weil eben der Staat seinen metaphysischen
ihrem primitiv-antiaristokratischen Rechtspathos ist heute noch Charakter mehr und mehr aufgibt und eine Übereinstimmung
Politik zu machen. Alle Bemühungen des Geistes, der Weis- des politischen mit dem religiösen Leben immer weniger fest-
heit, des hohen Scharfsinns um die Politik, wie wir dergleichen zuhalten ist) — so wenig ist die Rechtsordnung fähig, das Per-
bei politischen Denkern, zum Beispiel bei Adam Müller finden, sönliche höherer Ordnung, die Nationalkultur aufzunehmen
dessen staatswissenschaftliche Betrachtungen vielleicht das und wiederzugeben. Daß der Staat, die Rechtsordnung zum
Geistreichste und Wahrste sind, was je über diese Materie gesagt guten oder großen Teil eine Angelegenheit der internationalen

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Zivilisation und nicht der nationalen Kultur ist, das ist die prinzipiellen Gründen wäre wahrscheinlich in ganz ähnlichem
Wahrheit, mit welcher sich abzufinden dem konservativen Po- Sinne ein Zeichen der politischen Unmöglichkeit und Zukunfts-
litiker so schwer wird, und mit der er sich dennoch wird ab- losigkeit Deutschlands, wie ein ideologisch bestimmter Ver-
finden müssen. Vielleicht haben diejenigen recht, die gegen die zichtfriede nach außen. Jener patriotische Opportunitäts-De-
Statuierung einer besonderen ›deutschen‹ Freiheit Einspruch mokratismus, so unerlaubt er, geistig beurteilt, immer sei, hat
erheben? »Die Freiheit«, sagt Büchners Danton — und ich zuletzt sein gutes praktisch-politisches Recht; und den Geisti-
zitiere das Wort gewiß nicht zum letztenmal —, »die Freiheit gen und Künstler, der aus nationaler Sympathie und Gebun-
und eine Hure sind die kosmopolitischsten Dinge unter der denheit Deutschlands politische Größe wünscht, möge eben
Sonne.« Es heißt also wahrscheinlich zuviel verlangen, wenn diese Gebundenheit nicht hindern, sondern bestimmen, heute
man von der Freiheit Nation verlangt. Andererseits gibt es eine demokratische Staatstechnik in Deutschland zu befür-
Aussprüche über die Freiheit, welche beweisen, daß die Ein- worten: in der Einsicht, daß man die Bedeutung der Rechts-
sicht in die Unpolitisierbarkeit des Absoluten kein deutsches ordnung für das nationale Leben nicht überschätzen soll, unter
Vorrecht ist. »Freiheit ist das trügerischste aller Trugbilder«, allem geistigen Vorbehalt übrigens und in der stillen Zuver-
schrieb Ruskin 1849 in dem Buche ›The Seven Lamps of Ar- sicht, daß der deutsche ›Volksstaat‹ gegen die Demokratie des
chitecture‹. »Es gibt kein solches Ding im Weltall und kann rhetorischen Bourgeois beträchtliche und gut nationale Unter-
es niemals geben. Die Sterne haben sie nicht. Die Erde hat sie schiede aufweisen wird.
nicht. Und wir Menschen haben ihr Blendwerk und ihren Schein
nur zu unserer schwersten Strafe.« Das Wort könnte von Goethe Ich brauche nicht mehr. Es ist das Quantum ›Politik‹, mit dem
oder Schopenhauer oder selbst Adalbert Stifter stammen; und ich für den Hausgebrauch auskomme. Man bemerkt einige
stammt doch von einem im Ursprungsland politischer Freiheit Auflehnung darin gegen den Satz, staatsbürgerliche Erziehung
Beheimateten. Man sollte die Politik vielleicht nicht allzu na- sei die Erziehung überhaupt. Dieser Satz ist nicht deutsch, so
tional traktieren wollen. Sie ist der Stoff nicht dazu, sie ist es bieder die Stimmen derer lauten mögen, die ihn aussprechen.
nicht w e r t . . . Erziehung ist Menschenbildung, und nie wird der deutsche
Das geistige, nationale Leben vom politischen zu trennen Geist unter ›dem Menschen‹ ausschließlich oder auch nur vor-
und wohl zu unterscheiden ist aber eine durchaus deutsche, wiegend den sozialen Menschen verstehen. Er wird auch nie
eine kantische Art, zu trennen und zu unterscheiden. Der Unter- glauben, daß Kultur ein Mittel sei, daß sie etwa auf die
schied von Geist und Politik ist der von reiner und praktischer Bezwingung der Natur und auf möglichst gleichmäßige Vertei-
Vernunft; und, weit entfernt, je ein Gegenstand geistigen lung der auf diese Weise erworbenen Güter hinauslaufe; son-
Enthusiasmus sein zu können, erscheint die Gewährung des dern er wird festhalten an der Meinung, daß Kultur ›Selbst-
allgemeinen und gleichen Stimmrechts an Preußen auch mir zweck‹ sei; wird nicht aufhören, ihr Ziele zuzusprechen, die in
heute als ein Postulat der praktischen Vernunft. Vor die Ent- sich selbst, ohne Rücksicht auf die Nützlichkeit, ohne Rück-
scheidung gestellt, stimme auch ich ihr zu. Sie wäre zu vermei- sicht auf den Staat zum Beispiel, Bedeutung haben. Im übrigen
den gewesen, wenn die Regierung beizeiten zu reformatorischen widerstreitet nichts in jenen Grundsätzen der durch den Krieg
Zugeständnissen sich bereit gefunden hätte; wie heute die hervorgerufenen Forderung des Volksstaates. Ist sie wahrhaf-
Dinge liegen, ist sie kaum hintanzuhalten, ohne den Staat tig eine Forderung des Volkes, so hat sie bloße Forderung zu
selbst zu gefährden, und ihre Hintertreibung aus geistigen, sein schon aufgehört. Der Volksstaat ist nichts zu Gewähren-
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des; er ist da, wenn das staatlich denkende und empfindende tionalisierung in diesem Sinne, das wäre Entnationalisierung,
Volk da ist. Und mit einer Jugend, die, aus dem Kriege zurück- es wäre die Verdummung des Deutschen zum sozialen und
kehrend, die Anerkennung einer politischen Tatsache durch- politischen Tier, es wäre die Entdeutschung, — und welchen
zusetzen, ja zu erzwingen hätte, mit dieser Jugend würde mein Sinn in aller Welt könnten danach noch deutsche Herrschafts-
Herz und meine Vernunft sein, — ich will weder mir selbst aufgaben haben?
noch sonst jemandem darüber einen Zweifel lassen. Unmöglich? Ein solcher Prozeß ist nicht unmöglich! Er ist
Der Volksstaat, die Politisierung des Volkes, um es noch im Gange, er knüpft an das Lebenswerk Bismarcks, welcher
einmal zu sagen, ist notwendig, weil Deutschland »in den freilich dieses sein Werk mit aristokratisch-konservativen und
Sattel gesetzt« ist und nicht abfallen darf; sie ist notwendig nicht mit demokratisch-liberalen Mitteln vollbrachte. Staat
um der Herrschaftsaufgaben willen, zu denen es sich berufen und Nation galten ihm durchaus nicht als identische Begriffe,
fühlt. Ganz unerträglich aber ist mir der Gedanke, daß es auch und für die großdeutsche Idee, die demokratisch war, hatte er
nur den Anschein gewinnen könnte, als sei der demokratische nichts übrig. Es gibt also freilich kein staatliches Großdeutsch-
Fortschritt uns, im Sinne englischer Ministerreden etwa, von land, und das logisch notwendige Zubehör des kleindeutschen
außen aufgezwungen worden, als habe Deutschland sich geistig Staates ist die Demokratie nicht ohne weiteres. Dennoch hat
fügen und schicken müssen. Und doch scheint mir die natio- auch Bismarck, trotz seinem Antiliberalismus, die Demokratie
nale Gefahr eben darin zu liegen, daß der ›Volksstaat‹ bei in dem Grade als Zubehör seines Nationalstaates betrachtet,
seiner inneren und äußeren Verwirklichung mit der Demo- daß er der allgemeinen Wehrpflicht das allgemeine Wahlrecht
kratie im westlichen Sinn und Verstande verwechselt werde, zur Seite stellte; es folgte die Entwicklung seines kontinen-
— vielmehr, daß es sich als unmöglich erweisen könnte, ihn talen Machtreiches in zentralistischer, imperialistischer Rich-
anders als in den geistigen und politischen Formen des Westens tung; und die Phase deutscher Politisierung und Demokrati-
zu verwirklichen; ja, daß es nach den Köpfen derer ginge, die sierung, auf der man heute hält oder die zu erklimmen man
unter der Politisierung Deutschlands nicht sowohl eine volks- sich propagandistisch bemüht, ist nichts anderes als eben eine
tümlichere Gestaltung unserer öffentlichen Einrichtungen, ein neue Phase jenes von Bismarck in die Wege geleiteten Pro-
Inniger-, Echter- und Vertraulicherwerden des. Verhältnisses zesses, gegen den Nietzsche »im konservativen Interesse«, aus
zwischen Nation und Staat verstehen — wer wollte nicht dies deutsch-erhaltenden Gründen sich auflehnte. Daß aber dieser
so wünschbar wie notwendig finden! — als vielmehr die kom- Fortschritt in anderen als den vorgebildeten, hergebrachten,
plette Verstaatlichung und Republikanisierung der Nation; wenn auch keineswegs bewährten politischen Formen sich voll-
und das würde wirklich jene Veränderung in der Struktur des ziehen sollte, daß er anderes und mehr wird sein können als
deutschen Geistes bedeuten, wovon mancher lieber noch die ein Nachmachen und Nachhinken ins nicht bloß Zweifelhafte,
Notwendigkeit als die Wünschbarkeit wird anerkennen wol- sondern notorisch Unbewährte, — ist unwahrscheinlich; denn
len: seine Nivellierung, Verengung, Verarmung nämlich, die
alle über das Allgemeinste hinausgehenden Forderungen, die
Umwandlung eines Weltvolkes in ein politisches, »im römi-
heute laut werden, betreffen die fortschreitende mechanische
schen großen A fliegendes«, das in »jeder Versammlung zu
Demokratisierung, die Reform des Wahlrechts, die Ausgestal-
einer Proberevolution oder Eintagsrepublik sich kristallisiert«.
tung des Parlamentarismus.
In diesem Falle wäre Demokratisierung Angleichung nach
»Im ganzen aber wünsche ich«, schreibt Nietzsche, »daß der
außen, Angleichung an das Weltniveau der Zivilisation; Na-
Zahlenblödsinn und der Aberglaube an Majoritäten sich noch
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nicht in Deutschland wie bei den lateinischen Rassen festsetzte; Stimmrecht der Weisheit höchster Schluß ist, wägt man die
und daß man endlich auch noch Etwas in politicis erfände! Es Stimmen nicht, sondern man zählt sie. Meine Schüler sollen
hat wenig Sinn und viel Gefahr, die noch so kurze und leicht diese unsittliche Art, zu einem Ziele zu kommen, als unsitt-
wieder auszurottende Gewohnheit des allgemeinen Stimm- lich erkennen.«
rechts tiefer Wurzel schlagen zu lassen: während seine Ein- So Lagarde. Und unzweideutig geht er bei all dem von der,
führung doch nur eine Not- und Augenblicksmaßregel war.« — wenn man will, demokratischen Idee aus, daß das Volk selbst
Die »Gewohnheit« ist nicht mehr kurz und nicht mehr »leicht über die es angehenden Angelegenheiten mitzureden habe.
wieder auszurotten«, glaube ich. Aber Paul de Lagarde, der die Trotzdem darf man ihn einen Konservativen nennen; denn
Dinge aus minder steiler Höhe als Nietzsche betrachtete, we- deutsch-konservativ gesinnt sein bedeutet nicht: alles Be-
stehende erhalten wollen, sondern es bedeutet: Deutschland
niger beiläufig und von oben herab darüber urteilte, vielmehr
deutsch erhalten wollen, weiter nichts. Und deutsch ist es vor
als schlichter, wenn auch leidenschaftlich-geistreicher Patriot
allen Dingen, das Volk nicht mit der aus Individual-Atomen
unter den Seinen stand, hat sich über Wahlrecht und Volks-
zusammengesetzten Masse zu verwechseln. »Die Prinzipien
willen sehr ähnlich vernehmen lassen.
von 1789«, sagt Lagarde, »sind nach Deutschland verpflanzt
»Man wird sich darüber klar zu werden haben«, sagt er,
worden, und ihre Vertreter nennt man Liberale . . . Diese Prin-
»daß ein Volk nicht aus Urwählern besteht. Es tut dies so
zipien leiden auf Deutschland natürlich noch weniger Anwen-
wenig, wie ein Bild Raffaels als Bild Raffaels aus Leinwand
dung als auf Frankreich. Denn wenn sie überhaupt aus der
und Farbenmolekülen zusammengesetzt i s t . . . Die Individuen
Theorie, nicht aus dem Bedürfnisse und der Wahrheit stam-
stehn als solche, das heißt als Egoismen, sogar im Gegensatze men, wenn sie die rücksichtslose Ehrlichkeit ihrer aus Über-
zum Volke . . . Das Volk spricht gar nicht, wann die einzelnen zeugung schwärmenden, mordenden und sterbenden Väter
Individuen sprechen, aus denen das Volk besteht. Das Volk schon unter Louis-Philippe eingebüßt haben, so haben sie
spricht nur dann, wann die Volkheit (es freut mich, diesen nirgends auf der Welt mehr ein Recht Prinzipien zu sein:
sehr passenden, aber vergessenen Ausdruck Goethes zu be- durch den spezifisch und sehr originell keltischen Beigeschmack,
nutzen) in den Individuen zu Worte kommt: das heißt, —« welchen sie aus dem Paris von 1789 mitgebracht, wurden sie
dies schöne Wort sei zum zweitenmal angeführt; ich liebe es für Deutschland weder genießbarer noch berechtigter, das, von
sehr, weil es mir vollkommen auszudrücken scheint, wieweit Hause aus aristokratisch veranlagt, durch die keltische Gleich-
dem Volke und dem Künstler, dem Geistigen, Politik über- macherei nur undeutscher und eben darum unglücklicher wer-
haupt an- und zusteht — »das heißt, wann das Bewußtsein der den konnte.« — Das lautet freilich nicht demokratisch. Aber
allen Einzelnen gemeinsamen Grund- und Stammnatur wach der Aristokratismus und Konservatismus dieses praeceptor
und sich über ihr Verhältnis zu großen Tatsachen der Geschichte Germaniae verbindet sich völlig zwanglos mit der entschieden-
klar wird. In betreff von Kriegen, wie die von x866 und 1870 sten Volksfreundlichkeit, und nichts kann nationaler sein als
waren, redet das Volk, auch wenn man nur die Summe seiner diese Synthese. Wenn er verlangt, »daß man offen eingestehe,
einzelnen Mitglieder befragt . . . In betreff einzelner Gesetze es gebe in Deutschland zur Zeit die Möglichkeit der Freiheit
und einzelner Verwaltungsmaßregeln bleibt das Volk völlig und der Selbstverwaltung noch nicht, es gebe zur Zeit nur
stumm, wenn man es auch Mann für Mann um seine Meinung Regierung; daß man aber, indem man mit wirklicher Bildung
angeht, und von Mann für Mann Antwort erhält. Das Volk für wenige, nicht nach der Geburt, sondern nach der ethischen
denkt als Ganzes nur über Ganze . . . Wo das allgemeine
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und intellektuellen Befähigung ausgewählte Menschen Ernst »Deutschland muß sich politisieren!« Aber hätte es sich denn
macht, sich eine Klasse schaffe, welche als beamtet von diesem politisiert, nachdem es die politischen Einrichtungen anderer
Volke und für dieses Volk arbeitend und um dieser freiwilli- nachgemacht, den Parlamentarismus eingeführt hätte und so
gen Arbeit willen angesehen, sich frei aus der Tiefe ergänzend, ohne Glauben und Hoffnung den Westvölkern ins anerkannt
dereinst die Selbstverwaltung in die Hand nehmen könne«; Unbewährte nachgehinkt wäre? Besitzen die Deutschen nicht
wenn er ferner verlangt, »daß man das Vermögen des Landes so viel politische Fähigkeit, sich ihre eigenen originalen, das
so vermehre, daß eine solche Klasse auch die äußeren, sie un- heißt nationalen Einrichtungen, ihre eigene, nationale Art von
abhängigenden Mittel besitze, ohne welche die Selbstverwal- Freiheit zu schaffen, oder, soweit dergleichen vorhanden ist,
tung ein lächerliches Possenspiel oder ein Martyrium ist«; daß es sich zu erhalten, sondern finden sie sich darauf angewiesen,
man dem Reden und Stimmen machtloser und das Volk nicht die ›eigentlich politischen Völker‹ zu kopieren, dann sollen sie
vertretender Parlamente »ein Ende mache«; so scheinen solche sich nicht einbilden, überhaupt zur Politik berufen zu sein . . .
Forderungen nicht von 1878, sondern von 1917 zu sein: sie Was heißt denn Freiheit? Jedermann antwortet mir: Es heißt,
sind heute von der stärksten Aktualität, und sie haben im nach dem eigenen Lebensgesetze leben zu dürfen. Nenne man
stillen nie aufgehört, aktuell zu sein; sie sind eins mit der For- es aber gelehrtenhaft, bürgerlich, rückständig und abgeschmackt,
derung sozialer Freiheit, ungehemmten Aufstiegs, aristokra- — es bleibt dennoch dabei und wird nie anders sein, daß, den
tischer Auslese, die heute den Vorrang vor allen bloß politi- deutschen Freiheitsbegriff politisieren, bereits ihn verfäl-
schen Freiheitsforderungen besitzen; sie sind volkstümlich; schen heißt. Unsere religiöse und philosophische Geschichte
aber nicht demokratisch; und wenn Lagarde urteilt, daß andere selbst wirkt noch in dem Ungelehrtesten dahin, daß er, durch
Wege als die des Stimmenzählens eingeschlagen werden diesen Krieg zu nationaler Selbstbesinnung gezwungen, nicht
müssen, um der Idee, daß das Volk selbst über die es angehen- anders denken und fühlen kann. Für die deutsche Trennung
den Dinge mitzureden habe, zu ihrem Rechte zu verhelfen, so von Geist und Politik, von radikaler Theorie und Leben, von
ist das nur eine andere Formulierung von Nietzsche's Wunsch, »reinem« und »praktischem« Denken gibt es ein Symbol: die
»daß man endlich auch noch etwas in politicis erfände«. beiden getrennt nebeneinander stehenden Bände von Kants
kritischem Doppelwerk. Ich weiß wohl, es widersteht dem
Der europäische Philosoph sagt nicht, worin dies Neue be-
Heiklen, einen hundertmal gedachten Gedanken, sei er auch
stehen könnte; und es ist wenig, was der nationale Politiker
wahr, noch einmal zu denken. Aber nicht um den Neuheits-
beibringt, um jene Institutionen zu bestimmen, welche die
und Seltenheitswert der Gedanken handelt es sich hier, son-
eigene Natur der Deutschen entfalten würden. Wie sollte ein
dern um das schlechthin und bleibend Wahre. Und wenn auch
Künstler, der, durch die Erschütterung der Zeit von seinen
Wahrheiten altern und sterben; wenn es schimpflich ist, mit
eigentlichen, wunderlich-persönlichen Aufgaben abgelenkt,
abgelebten Wahrheiten das Neue zu bekämpfen, so gibt es
über dem Schicksal seines Volkes sinniert, sich vermessen,
doch solche, die nicht hinfällig, nicht banal und verächtlich
mehr zu geben als sie! Er kann es den Großen dieses Volks,
werden — oder es nur für Snobs und politische Ästheten wer-
den Nietzsche, Lagarde und Wagner, nur aus tiefster eigener
den können: Tatsachen des Volksgeistes, gebunden an die
Überzeugung nachsprechen, daß die Demokratie im westlichen
Struktur dieses Geistes und unfähig, zu veralten. Eine solche
Sinn und Geschmack bei uns landfremd ist, ein Übersetztes,
Tatsache und anspruchslos-unerschütterliche Wahrheit ist es
das »nur in der Presse vorhanden« und niemals deutsches
nach meiner Überzeugung, daß der deutsche Freiheitsbegriff
Leben und deutsche Wahrheit werden kann.

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immer geistiger Art sein wird: ein Individualismus, der, um wäre der Schrecken! Und namentlich: es wäre nicht Deutsch-
sich politisch auszuprägen, notwendig andere Institutionen land mehr. Entfaltung, Entwicklung, Besonderheit, Mannig-
hervorbringen müßte, als der kahl-abstrakte des politischen faltigkeit, Reichtum an Individualität war immer das Grund-
Westens und der ›Menschenrechte‹. Auf den echt deutschen gesetz deutschen Lebens. Dies Leben widerstrebte immer der
Individualismus unserer Väter, ruft Lagarde, müsse man zu- Zentralisierung, bezog niemals Konvenienzen von einem ka-
rückgreifen, da es gelte, die innere Einheit Deutschlands zu pitalen Mittelpunkt. Der Deutsche war frei und ungleich, das
erarbeiten, denn, in festem Rahmen beschlossen, werde er jetzt heißt aristokratisch. Die Reformation war freilich ein demo-
keinen Schaden mehr tun. »Alles kommt darauf an«, ruft er, kratisches Ereignis: denn die Emanzipation des Laien, das ist
»den einzelnen Menschen in seine Rechte einzusetzen, und da- die Demokratie, und auf politischem Gebiet ist sie eben das,
mit er in diese Rechte eingesetzt werden dürfe, müssen einer- was Nietzsche »ein literatenhaftes Mitgerede von Jedermann
seits Institutionen da sein, welche ihn über sich hinausheben, über Jegliches« nennt. Aber auch Luthers eigentliche und tief-
sind andererseits alle Institutionen zu vernichten, welche ihn ste Wirkung war aristokratischer Art: er vollendete die Frei-
an der Entwicklung seiner wahrhaften Eigentümlichkeit hin- heit und Selbstherrlichkeit des deutschen Menschen, indem er
dern: an erster Stelle ist das preußische Unterrichtswesen zu sie verinnerlichte und sie so der Sphäre politischen Zankes auf
beseitigen.« — Ich tue mir etwas zugute darauf, daß die ein- immer entrückte. Der Protestantismus hat der Politik den gei-
zige politische Kritik, die ich innerhalb meiner schriftstelleri- stigen Stachel genommen, er machte sie zu einer Angelegen-
schen Produktion geübt habe, der prussifizierten Mittelschule heit der Praxis. Wir haben von Kant den Glauben an die Vor-
galt! - herrschaft der »praktischen Vernunft«, der Ethik, wir haben
Fort also mit dem landfremden und abstoßenden Schlag- von ihm den sozialen Befehl. Aber das Ereignis Goethe's war
wort ›demokratisch‹! Nie wird der mechanisch-demokratische eine neue Bestätigung der Legitimität des Einzelwesens, das
Staat des Westens Heimatrecht bei uns erlangen. Man ver- große künstlerische Erlebnis Deutschlands, nach dem meta-
deutsche das Wort, man sage ›volkstümlich‹ statt ›demokra- physisch-religiösen, das Luther gebracht hatte: ein Erlebnis
tisch‹ — und man nennt und erfaßt das genaue Gegenteil: der Bildung und der Sinnlichkeit, menschlich durchaus, fremd
denn deutsch-volkstümlich, das bedeutet ›frei‹ — nach innen aller Abstraktion, feind aller Ideologie, der patriotischen zu-
und außen, aber es bedeutet nicht ›gleich‹ — weder nach in- erst und aller politischen überhaupt. Eine Nation erlebt nicht
nen noch außen. Wer wollte einer volkstümlicheren Gestal- einen Geist wie diesen, sie bringt ihn gar nicht hervor, ohne
tung des Reichs- und Staatswesens widerstreben? Niemand von sich zur Politik, zu »modernen Ideen«, zu den generösen Zau-
denen, dafür verbürge ich mich, die sich gegen die Demokra- ber- und Schwindelworten Menschheit, Freiheit, Gleichheit,
tisierung, die Politisierung Deutschlands in einem gewissen Revolution, Fortschritt von je und auf immer anders zu ver-
Sinne mit heftigstem Widerwillen auflehnen. Deutschland als halten als die anderen.
res publica — es gibt keinen Widerspruch. Aber Deutschland Freiheit, Pflicht und abermals Freiheit, das ist Deutschland.
als Republik, als Tugend-Staat mit Gesellschaftsvertrag, demo- Man sagt wohl, daß Epochen individualistischen und solche
kratischer Volksregierung und »vollständigem Aufgehen des sozialen Denkens einander ablösen in der Geschichte; aber für
Individuums in der Gesamtheit«; Deutschland als Staat und die deutsche Geistesverfassung besteht hier kein Gegensatz und
als nichts weiter und der deutsche Mensch als Jakobiner und keine Notwendigkeit des Wechseins und Schwankens zwischen
citoyen vertueux mit dem Zivismusschein in der Tasche — das zwei feindlichen Prinzipien. Es bleibt die Eigenart des deut-
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schen Individualismus, daß er sich mit ethischem Sozialismus, gleichen sieht sich natürlich auf Schritt und Tritt nach Hilfe
den man Staatssozialismus nennt und der etwas anderes ist um bei einem Werke der Not und Pein wie diesem, nach auto-
als der menschenrechtlerisch-marxistische, sehr wohl verträgt. ritären Stützen für sein Gefühl; er tut sich schwerlich genug
Denn dem sozialen Prinzip ist nur der Individualismus der damit, er ist voller Dankbarkeit für jede, die sich ihm bietet,
Aufklärung, der liberale Individualismus des Westens feind- und kümmert sich nicht viel um die Lesbarkeit seiner Kompo-
lich entgegengesetzt. Es gibt einen Anti-Individualismus, der sition. Lagarde seinerseits zitiert Madame de Staël, beruft sich
die Freiheit des Individuums einschließt, und die individuali- mit Bitterkeit auf ihr Wort, drei Eigenschaften seien es, worin
stische Aufklärung verneinen, das heißt nicht die Sozialisie- die Überlegenheit deutschen Wesens über das französische
rung und Verstaatlichung des Individuums fordern, — wie beruhe: die Unabhängigkeit des Geistes, die Liebe zur Einsam-
man im Westen wohl glaubte und bei uns hoffentlich zu glau- keit, die Eigenartigkeit des einzelnen Menschen. Ja, das tut
ben nie anfangen wird. ›Organisation‹ — ein geistreiches Wort! wohl! Dieser Mann verabscheute die Politik und die ›Politi-
›Organismus‹ — wahrhaftig ein Wort des Lebens! Denn ein sierung‹ wie nur irgendein großer Deutscher vor ihm; er
Organismus ist mehr als die Summe seiner Teile, und dieses wollte im Staat keine Politik, sondern das, was er »selbstlosen
Mehr eben ist Geist, ist Leben. Wenn aber ›Organisation‹, Dienst des Ethos« nannte, »das heißt, die volle Durchführung
dieser andere politische Ruf von heute, Knechtung des Indi- des Grundsatzes, daß der Staat zur Nation in demselben Ver-
viduums durch den Staat, Staatsabsolutismus also, bedeuten hältnisse steht, in welchem die Hausfrau sich zum Hausherrn
soll, und sei es auch der Absolutismus des Volksstaates, ja, befindet, daß er alle Äußerlichkeiten zu besorgen hat, damit
sei es gerade dieser, — dann nieder auch mit ihm! Denn nichts die Nation das wirklich Wesentliche des Lebens mit ungeteil-
wäre widerdeutscher und widermenschlicher als solch ein Ab- ter Aufmerksamkeit ins Auge fassen und in die Hand neh-
solutismus der Organisation: fürstlicher Absolutismus, unter men könne«. Er forderte, »daß man Religion, Wissenschaft,
welchem das Individuelle selten zu kurz kam, wäre der un- Kunst auf eigene Füße stelle, weil alle diese nur, wenn sie auf
umschränkten Herrschaft des Staates, auch der des Volksstaa- eigenen Füßen stehen, überhaupt existieren«. Er forderte »ein
tes, wenn man eine Tugend- und Jakobiner-Republik darunter Reich, das nur soweit Staat ist, als die Nation den Staat nicht
verstehen sollte, mit ebensoviel Gelassenheit als Entschieden- entbehren kann«, und »die Anerkennung, Erziehung, Verklä-
heit vorzuziehen! rung unserer eigenen Natur«. Er empörte sich gegen Hegel
Wahrhaftig, die Stimmen jener Exzedenten der Staatsfröm- mit einem Hohn und Haß, wie vor ihm nur Schopenhauer es
migkeit im Ohr, welche kategorisch dafür halten, daß das getan; er protestierte gegen den Götzendienst vor dem Staate,
Menschliche dazu da sei, ›organisiert‹, restlos organisiert und gegen die Lehre, der Staat sei die höchste Form des Menschen-
sozialisiert zu werden und im Staatlich-Gesellschaftlichen un- lebens, — protestierte gegen diese römische und heidnische An-
bedingt aufzugehen, widerstehe ich schwer der Versuchung, schauung im Namen der evangelischen und germanischen Frei-
einige von Lagarde's geharnischten Worten über Staat und heit. Er wollte den Staat angesehen wissen »als eine dienende
Nation, Staat und Freiheit, Staat und Menschentum auszu- Maschine, der gegenüber es sich um konservativ, liberal, frei-
lesen; und widerstände ich ihr nicht, so sollten meine etwaigen sinnig, katholisch gar nicht, sondern nur darum handelt, ob
Leser mir keinen Vorwurf daraus machen, daß ich dies ›Buch‹, sie zu unserer Zufriedenheit und mit tunlichst geringen Kosten
welches auf Form und Turnüre, ja auf den Namen eines ›Bu- arbeitet«. Er wollte keine Berufsparlamentarier. Er wollte die
ches‹ keinerlei Anspruch erhebt, mit Zitaten überlaste: meines- Regierung nur durch diejenigen kontrolliert wissen, »welche
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öffentliches Leben zu beurteilen und zu leiten in kleineren trennen, muß sie gesondert hören, um klug aus ihnen zu wer-
Kreisen bereits gelernt haben, ehe sie öffentliches Leben gro- den. Wenn zwei ›Demokratie‹ sagen, so ist es von vornherein
ßen Stiles zu beurteilen und zu leiten anfangen«. Er wollte wahrscheinlich, daß sie etwas sehr Verschiedenes meinen; man
also kein »literatenhaftes Mitgerede von Jedermann über Jeg- muß einzeln mit ihnen diskutieren. Wenn unser Held und
liches«. Nach seiner Meinung »handelt es sich überall um Kennt- Freund, der Zivilisationsliterat, nach ›Politisierung‹, nach ›Or-
nis der Technik, und soweit diese in dem nicht beamteten Volke ganisation‹ verlangt — und er tut es —, so hat er etwas völlig
vorhanden ist, soll auch das Volk eine Kontrolle der Regie- anderes im Sinne als der demokratische Patriot und patrioti-
rung ausüben, aber weder soll, wer diese Technik nicht kennt, sche Demokrat, den wir soeben dieselben Wörter gebrauchen
so dreist sein mitzusprechen, noch sollen die der Natur der hörten. Der Unterschied etwa zwischen dem südwestdeutschen,
Dinge nach gänzlich in das Geheimnis und das persönliche französierenden Liberalismus der dreißiger und vierziger Jahre
Ermessen der sie Beherrschenden gelegten Gebiete des Staats- des vorigen Jahrhunderts und dem Liberalismus der Befreiungs-
lebens dem Urteile der Uneingeweihten unterworfen werden«. kriege, demjenigen der Stein und Arndt, ist geringfügig, ver-
Es wäre nicht weit her mit dem ›Volksstaat‹, vielmehr, er glichen mit dem Unterschied zwischen dem Demokratismus
wäre ein ›Weither‹, ein unnationaler Allerweltspopanz, wenn des Zivilisationsliteraten und dem des patriotischen Volks-
man nichts darunter verstehen sollte als die parlamentarische staatsmannes. Zwar fanden wir, daß Demokratie nichts an-
Demokratie. Es wäre ein Greuel um Politisierung und Organi- deres sei als das Recht des einzelnen, sich als Patriot zu be-
sation, wenn man darunter die Verstaatlichung der Nation tätigen, und daß es logischerweise nicht möglich sein sollte,
und das »Aufgehen des Individuums in der Gesamtheit« zu nach allgemeiner Politisierung, nach Demokratie zu verlan-
verstehen hätte. Der Mensch ist nicht nur ein soziales, sondern gen und dabei antipatriotischer, antinationaler Gesinnung zu
auch ein metaphysisches Wesen; der Deutsche zuerst. huldigen. Dies logische Postulat wird jedoch von der Wirk-
Die Wirtschaftslage, die der Krieg gezeitigt, wird es mit sich lichkeit nicht erfüllt. Der Demokraten-Typus, dessen Betrach-
bringen, daß nach dem Kriege jedermann jahrzehntelang so tung wir jetzt wieder aufnehmen, nämlich der Zivilisations-
gut wie ausschließlich für den Staat wird arbeiten und erwer- literat, hat nichts zu schaffen mit dem Typus des patriotischen
ben müssen. Sollte da der Mensch nicht wenigstens geistig, Vernunft- und Opportunitätsdemokraten von heute, welcher
seelisch sich selbst gehören dürfen? Sollte bei einer unerhör- die Demokratie, die Identität von Volk und Staat, die Politi-
ten sozialen Gebundenheit und Fronhörigkeit, wie sie bevor- sierung der Köpfe und Herzen fordert, damit Deutschland le-
steht, das geistige Unabhängigkeitsbedürfnis nicht ungeheuer ben und damit es stark und herrenhaft leben könne. Nicht weil
wachsen? Liebevollste Kultur und Pflege des Aristokratisch- Deutschland »reiten muß und nicht abfallen darf« und weil,
Individuellen, höchste Neugier und Sympathie gegenüber der wer den Zweck will, auch die Mittel wollen muß, fordert die-
einmaligen Einzelseele, dem sonderlichen Geisteswert — sind ser Typus die Demokratie, sondern um ihrer selbst willen.
unerläßlich als Gegengewicht gegen den organisierten Sozia- Weniger das Notwendige ist ihm die Politisierung Deutsch-
lismus im Staate der Zukunft: oder das Leben wird keinen lands, als das an und für sich Wünschenswerte, der Fortschritt
Schilling mehr wert sein. selbst, — der Fortschritt nämlich auf dem Wege europäischer
Ausgleichung, jener einebnenden Entwicklung im Sinn einer
Stimmen der Z e i t . . . sie vereinigen sich zum Lärm und nicht homogenen Zivilisation, von der wir sprachen, — dieser Fort-
zur Musik, denn sie wissen nichts voneinander. Man muß sie schritt, den der größte Schicksalsgeist des neuen Deutschlands,
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den Nietzsche selbst, wenn nicht gewollt, so doch zweifellos Poesie bei ihnen von Anfang an der Politik gedient hätten, so
gefördert hat, obgleich er ihm andererseits im »konservati- daß der Kunstwert eines Werkes wohl gar neben dem Zweck
ven« Interesse Opposition bereitete: ein doppelzüngiges, dop- von nachgeordneter Bedeutung gewesen sei: während es sich
pelherziges Verhalten, wodurch es erklärt und ermöglicht wird, anderwärts annähernd so verhalten habe, seien in Deutschland
daß auch heute in ein und derselben geistigen Person ebenso- Wissenschaft, Literatur und Kunst einzig und allein um ihrer
viel Neigung vorhanden sein kann, diesem Fortschritt tatweise selbst willen — l'art pour l'art heißt es auf französisch — vor-
Vorschub zu leisten, wie ihn meinungsweise zu bekämpfen . . . handen gewesen; alle Kräfte, alle Teilnahme der Gebildeten
Nein, nicht irgendwelche deutsche Herrschaftsaufgaben sind hätten ihr gegolten; sie sei zwar immer national, aber nie po-
es, die unserem literarischen Zivilisationspolitiker am Herzen litisch gewesen, und keinen anderen Zweck habe sie verfolgt,
liegen! Es ist sogar zu wenig gesagt, daß er sich nur eben als der Wahrheit und Schönheit zu dienen. Das vollkommen
nicht dafür erwärmt: er verneint sie geradezu und wäre mit Merkwürdige nun aber sei gewesen, daß die Kunst der Deut-
der Rheingrenze ganz einverstanden: einverstanden schon des- schen, gerade weil sie nichts anderes ›gewollt‹ habe als ehr-
halb, weil die Wiederherstellung der Rheingrenze auch die liche Leistung innerhalb ihres Gebietes, daß gerade darum, wie
Wiederherstellung der kontinentalen geistig-politischen Vor- der Bürger Freytag sagt, ihre lautere Flamme das weiche Ge-
herrschaft Frankreichs, der Heimat seiner Seele, bedeuten würde. müt der Deutschen durchglüht habe, bis es für einen großen
Wahrhaftig, wäre er nicht ein so exemplarischer Franzose, politischen Kampf gehärtet gewesen sei. . . Wie ist mir denn?
so müßte man ihn als einen deutschen Idealisten bezeichnen, Unsere klassische Literatur, politisch willenlos, Kunst um
und wirklich ist man nicht nur versucht, sondern geradezu ge- der Kunst willen, egoistisch, unbürgerlich im staatlichen Sinn
zwungen, einen deutschen Idealisten und nichts anderes in und ›bürgerlich‹ nur in einem ganz anderen, schmarotzerhaf-
ihm zu erkennen, wenn man die Antwort, die edel auswei- ten Sinn, — sie wäre dennoch ein politisches Werkzeug ge-
chende Antwort vernimmt, die er unweigerlich erteilen wird, wesen und hätte der Vorbereitung deutscher Einigung gedient?
falls man ihn wegen der Rheingrenze ernstlich zur Rede stellt, Man könnte also ›Ästhet‹ sein und dennoch national-politisch
ihn anhält, klar heraus zu sagen, ob er denn ihre endgültige wirken, — man könnte dies wohl gar besser, wenn man sich
Wiederherstellung nun eigentlich ernsthaft wünschen könne. nicht zum aktivistischen Demokraten verdummt, sondern ein-
Er wird antworten: »Damals hatte Deutschland eine große fach in Freiheit bildend wirkt, bildend im Sinne des Formens
Literatur.« und der individuellen Vervollkommnung? Das wäre der Um-
sturz aller moralischen Ordnung! Unterdessen könnten die-
Die hatte es. Aber erstens ist sie ja nicht verlorengegangen. jenigen, die ich so reden höre, sich in der Tat auf den Groß-
Ich höre sogar sagen, daß sie mit der Einigung Deutschlands, herrn jener literarischen Bildungsepoche berufen, auf Goethe,
mit der Errichtung des Reiches also —. denn das kleindeutsche, welcher, in dem Gespräch mit dem Historiker Luden, zwar
militaristische Reich ist ja nun einmal die Form, in der die zunächst erklärte, daß er in Kunst und Wissenschaft, vor de-
Einigung Deutschlands sich vollzog — irgend etwas zu tun nen die Schranken der Nationalität verschwänden, die Schwin-
hatte. Ich höre sagen, daß nie in aller Völkergeschichte eine gen gefunden habe, durch die er sich über die politische Misere
Literatur eine derartige Rolle gespielt habe, wie die deutsche Deutschlands hinwegzuheben vermöchte; dann aber hinzu-
von 1750 an ein Jahrhundert lang. Während nämlich andere fügte, der Trost, den sie gewährten, sei doch nur ein leidiger
Völker aus Patriotismus, dem staatlichen Fortschritt zuliebe Trost und ersetze das stolze Bewußtsein nicht, einem großen,
sich eine tendenziöse Literatur erschaffen, während Kunst und
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starken, geachteten und gefürchteten (er sagte brutalerweise eine tiefe seelische Verlockung, die wir nicht verkennen, nicht
»gefürchteten«) Volke anzugehören; und, nachdem er seinem unterschätzen. Welche Vorteile für den Geist würde die Wie-
Glauben ah die machtpolitische Zukunft Deutschlands Ausdruck derherstellung dieses alten Zustandes mit sich bringen! Welche
verliehen, mit den Worten endigte: »Uns Einzelnen bleibt in- Überlegenheit liegt im Danebenstehn, im Zuschauertum, in
zwischen nur übrig, einem jeden nach seinen Talenten, seiner der Unbeteiligtheit, im Nicht-Wollen, im zynischen Philoso-
Neigung und seiner Stellung, die Bildung des Volkes zu meh- phentum, das den Alexander nur aus der Sonne gehen heißt,
ren, zu stärken und durch dasselbe zu verbreiten nach allen — welche Freiheit, Ironie, Heiterkeit, Reinheit, Menschlichkeit
Seiten und wie nach unten, so auch, und vorzugsweise, nach wäre damit gewonnen, wenn auch die nationale Wirklichkeit
oben, damit es nicht zurückbleibe hinter den andern Völkern, wieder gedrückt, armselig und irdisch-würdelos wäre wie zu-
sondern wenigstens hierin voraufstehe, damit der Geist nicht vor! Aber kann man umhin, den Welt-, Wirklichkeits-, Wir-
verkümmere, sondern frisch und heiter bleibe, damit er nicht kungswillen dieses Volkes, gerechtfertigt und bewiesen wie er
verzage, nicht kleinmütig werde, sondern fähig bleibe zu jeder ist durch die ernsteste Tüchtigkeit, durch gewaltige Taten und
großen Tat, wenn der Tag des Ruhmes anbricht.« Die letzte Leistungen, — kann man umhin, ihn zu achten und zu ver-
Wendung hat ein peinlich französisches Gepräge. Aber sieht teidigen? Es ist kein Zivilisationsliterat nötig, um uns zu leh-
das alles nicht aus, als habe Goethe die große Bildungsepoche, ren, daß der ›Machtmensch‹ Bismarck nicht nur für die Ruhe
die er beherrschte, nicht anders denn als eine vorbereitende der lieben alten Kulturimperien Europas, sondern in sehr be-
Epoche aufgefaßt, — als habe er mit seiner ästhetizistischen, stimmtem Sinn auch für Deutschland ein Unglück, oder, um es
politisch quietistischen Kunstübung beinahe bewußt, nein: ganz etwas ehrfürchtig-positiver auszudrücken, ein Verhängnis be-
bewußt dem »Tag des Ruhmes«, dem Tage deutscher Einigung deutete und daß die Wirklichkeit seines Reichs nicht gerade
und Herrschaft vorgearbeitet? die staatliche Daseinsform war, der nationalen Neigung zu
reiner Menschlichkeit, Verinnerlichung und Geistigkeit entge-
»Damals hatte Deutschland eine große Literatur.« O doch,
genzukommen, wie der abstrakte Zustand Deutschlands vor
die hatte es. Aber nachdem man erwogen hat, ob die Wieder-
hundert Jahren. Aber da der Zivilisationsliterat doch ein
errichtung der Rheingrenze sichere Gewähr für das Wieder-
Politikus ist und kein windiger Ästhet, — kann er wünschen
erstehen einer klassischen Dichtung bieten würde, mag man
und fordern, daß sein Volk zur unpolitischen Menschlichkeit,
endlich die Frage nicht länger zurückhalten, wer denn nun
zum egoistischen Atomismus, zur Ich-Kultur der Goethe'schen
eigentlich hier der ›Ästhet‹ ist: Der, welcher im Grunde sei-
Epoche zurückkehre? Wer, wiederhole ich, ist denn hier der
nes fortschrittlichen Herzens wünscht, daß Deutschland, da-
Ästhet? — Der Zivilisationsliterat steht im ganzen nicht gut
mit es sich wieder gänzlich der Schönen Literatur in die Arme
mit Goethe, dem Anti-Revolutionär, dem Quietisten, dem Für-
werfe, entmachtet, zerstückelt und auf den Zustand von vor
stenknecht. Hundertmal hat er Voltaire gegen ihn ausgespielt,
hundert Jahren zurückgeführt werde, — oder der, welcher nicht
den Mann der Calas-Affaire gegen den, der zu sagen wagte,
nur Goethe, sondern auch Bismarck bejaht, weil er findet, daß
daß er lieber eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung dulden
Bismarck von Goethe am Ende doch mehr als der Zivilisa-
wolle. Gegen das ›Reich‹ aber spielt er Goethe aus und pflich-
tionsdemokrat verstand und wiederverkörperte? — Wir wol-
tet recht unwählerisch der demokratischen Allerweltsmeinung
len aufrichtig sein! In dem Gedanken einer Zurückführung
bei, daß das Machtreich ein Affront gegen den Geist von Wei-
Deutschlands auf den ehemaligen un- und überpolitischen Zu-
mar sei. Sollte er nicht vielmehr aus der gleichmäßigen Ab-
stand liegt für jeden geistigen Deutschen eine Versuchung,
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neigung, die er gegen beide, gegen Goethe und Bismarck hegt, Antithese, die wir, wenn ich nicht irre, schon früher als die
ihre Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit folgern? Sollte oberste und General-Antithese dieses zugespitzten und leiden-
er aus dieser gleichmäßigen Abneigung nicht schließen, daß schaftlich geistreichen Geistes kennzeichneten: die Antithese
sie beide gewaltige Ausprägungen — Ausbrüche vielmehr — von Macht und Geist.
des verfluchten, renitenten, literaturfeindlichen Deutschtums Daß die Notwendigkeit und Unverbrüchlichkeit dieser Anti-
sind, ja, — daß auch Goethe dies war, trotz seiner Renitenz these am Ende auch für Deutschland bestritten werden könnte,
gegen die Freiheitskriege und seiner Napoleon-Freundschaft, — damit muß man rechnen. Ein Briefsatz Adalbert Stifters aus
Ausbrüche des Deutschtums, sage ich, das den Zivilisations- dem Jahre 1859 klingt mir im Ohr, der sie nicht kennt, der
literaten ekelt und in dessen Mitte den politischen Präzeptor offenbar überhaupt noch nichts von ihr weiß. »Und Deutsch-
zu machen er sich also nicht überwinden noch — unterfangen land«, so heißt es da, »— soll es denn, das an der Spitze der
sollte? . . . Politik! Die Reichsschöpfung war eine in einem Welt mit Geist und Macht stehen könnte, dem Götterbilde
äußerst deutschen, das heißt antiradikalen Sinn ›politische‹ Hellas gleichend, dem es wirklich gleicht an Tiefsinn, Jugend-
Schöpfung, ein Werk der praktischen Vernunft, ein Zugeständ- wärme, Hochherzigkeit und Schwärmerei, soll es ihm auch
nis des Gedankens an die Materie, damit Wirklichkeit, damit darin gleichen, daß das Bild zerschellt an der Uneinigkeit sei-
›Leben‹ werde, und Leben ist freilich nicht Schöne Literatur. ner Glieder?« Nie, nirgends haben Geist und Macht einen Ge-
Das Reich ist nicht weniger eine deutsche Verwirklichung, als gensatz gebildet im Leben der Völker, denn das, was diesem
etwa das Frankreich von heute die Verwirklichung der fran- Leben zugrunde lag, was überhaupt staatschaffend wirkte, war
zösischen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts ist, — ein immer etwas Geistiges, etwas wie eine religiöse Idee, und im-
Lebendiges mit allen Schlacken, Fehlern, Erbärmlichkeiten des mer war der Staat eine Veranstaltung, dem Geistigen, dem
Lebendigen, jawohl. Aber wenn der Zivilisationsliterat durch- nationalen Ideenschatz Macht zu sichern im Innern, ihm Ruhe,
aus die Frage beantwortet haben will, ob Goethe mit dem Ausbreitung, Triumph zu sichern nach außen. — Gleichviel.
›Reich‹ einverstanden wäre, so mag man zurückfragen, ob Das ›Und‹ ist keine Kopula mehr, es setzt entgegen heute, es
etwa Rousseau oder jener magistrale Mordsphilister, der sich trennt das Gute vom schlechthin Bösen, es stellt vor die Wahl,
seinen Schüler nannte, mit der Wirklichkeit der république an den sittlichen Scheideweg, wenn der demokratische Zivili-
française einverstanden wären, wie sie heute den entzückten sationspolitiker es ausspricht: Denn seine Antithese von Geist
Blicken des Zivilisationsliteraten sich darbietet. . . und Macht, — sehen wir sie genauer an! Ist sie nicht eine po-
Wir sind abgekommen. Dies Buch ist ein beständiges Ab- litische Antithese? Und sollte man ihr nicht also auch einen
kommen, das liegt in seiner Natur. — Herwegh'sche Flotten- politischen Namen geben? ›Geist und Macht‹, das ist nichts
lieder, wollte ich sagen, brächte der Demokratentyp, der uns anderes als ›lnnere und äußere Politik‹. Während aber dem
jetzt beschäftigt, nicht über die Lippen. Demokratie und Impe- Biedersinn des patriotischen Demokraten, des Volksstaatsman-
rialismus, — diese Verbindung mag anderswo statthaft, mag nes, innere und äußere Politik untrennbar ineinanderfließen,
in Frankreich und England eine geistig mögliche Verbindung ja, während ihm die Demokratisierung des Staates, eine volks-
sein — und zwar so, daß die Demokratie den Imperialismus tümliche innere Politik hauptsächlich als das praktische und
heiligt —: in Deutschland ist sie nicht statthaft und schlechter- zeitgemäße Mittel zu einer starken äußeren Politik erscheint,
dings nicht möglich. Denn zu Häupten Deutschlands, zu Häup- meint der Zivilisationsliterat, wenn er ›Politik‹ sagt, einzig
ten des deutschen Zivilisationsliteraten wenigstens, steht die und ganz allein die innere Politik: sie ist ihm die Politik -
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nicht nur ›par excellence‹, sondern die Politik selbst und zu den Ehrenmännern zählen dürften. Irgendein Naseweis
überhaupt. Was man »äußere Politik‹ nennt, um es nicht ge- könnte freilich fragen, ob etwa die innere Politik moralischer,
radezu Macht-Politik zu nennen, das verdient nach seinem Da- ob sie nicht gegenteils noch fünfmal schmutziger sei als die
fürhalten den Namen der Politik nicht im geringsten, sondern äußere, und ob etwa aus ihr schon einmal jemand »die Seele
nur den des Unrechts, der Brutalität und des Verbrechens; und hätte rein zurückgezogen«. Das wäre jedoch nur dialektische
nichts anderes als dies, nichts anderes als Unrecht, Brutalität Neckerei und könnte in diesem Zusammenhang nicht in Be-
und Verbrechen wäre es, der sogenannten äußeren Politik, tracht kommen. Ernsthaftere Zweifel an der Einheit von in-
dem Gedanken der Macht, den geringsten Einfluß auf die nerer Politik und Moral —dieser Einheit, die der Zivilisations-
eigentliche, innere Politik zuzubilligen: Diese ist vielmehr aus- literat vertritt und verkörpert — könnte es erwecken, wenn
schließlich im Sinne des radikalen Geistes zu regeln, sie hat — man in der Literatur auf Unterscheidungen stößt wie etwa:
Wendungen im dix-huitième-Geschmack sind hier die einzig ›Individuell-moralisch — allgemein-politisch‹. Dergleichen
stilgerechten — unverbrüchlich »die Prinzipien der Vernunft kommt vor. Es kommt vor im Geistesleben, daß man die Be-
und der Gerechtigkeit zur Richtschnur zu nehmen«. griffe ›moralisch‹ und ›politisch‹ als Gegensätze behandelt
Der Zivilisationspolitiker, wir sagten es schon, ist der Mann findet, wie zum Beispiel an jener wichtigen Stelle, wo Taine
des Geistes, des reinen, schönen, radikalen und literarischen den Revolutionsfranzosen mit seinem englischen Gegenstück,
Geistes; er ist der Mann der Inneren Politik, und zwar in dem dem Puritaner, in Vergleich bringt, von dem er sagt, daß seine
Grade, daß die aktuelle Forderung der ›Politisierung‹ in sei- Tätigkeit vor allem nach innen gerichtet sei, zunächst die
nem Munde nichts anderes, als die völligste Konzentration al- Selbstverleugnung bezwecke: sie sei moralisch, bevor sie po-
ler Köpfe und Herzen auf die Innere Politik — und auf was für litisch werde. Der französische Typ zeige das entgegengesetzte
eine! — besagen will: ›Weltpolitische Studiengesellschaften‹ Bild. Dieser bekümmere sich in erster Linie um die politische,
und dergleichen Veranstaltungen zur politischen Erziehung nicht um die moralische Seite der Dinge; er lege auf seine
des deutschen Volkes können durchaus nicht nach seinem Rechte viel mehr Gewicht als auf seine Pflichten; und statt
Sinne sein, sie müssen ihm von vornherein im Geruche — ein Sporn für das Gewissen zu sein, schmeichele seine Lehre
nicht sowohl der Demokratie, als des Imperialismus stehen. dem Stolz. — Das ist, wie gesagt, äußerst wichtig und inter-
Aber Politik, innere Politik, demokratische Politik, das ist essant. Es ist ein psychologischer Gegensatz, den, unabhängig
nicht Imperialismus und Unfug der Macht, das ist Moral, — voneinander, große Schriftsteller mehrfach behandelt haben:
und der Zivilisationspolitiker ist vor allem Moralist, nichts als am tiefsten und großartigsten hat Dostojewski es getan, in
Moralist, — das heißt: ein politischer. seiner unsterblichen und unglaublich zeitgemäßen — für Ruß-
Nun ist unbedingt zuzugeben, daß in der äußeren Politik land und Deutschland zeitgemäßen — Polemik gegen den libe-
die Moral fast immer zu kurz kommt. Wenn Macaulay sagt: ralen Professor Gradowski, — einer beglückend genialen Ab-
»Die Grundsätze der Politik sind so beschaffen, daß der ge- handlung über das soziale Ideal und persönliche Ethik, über
meinste Räuber sich scheuen würde, sie seinem vertrautesten Politik und Christentum. Man findet sie, nebst anderen heute
Spießgesellen auch nur anzudeuten«, — so meint er mit dieser brennend aktuellen Dingen, in dem Bande ›Literarische Schrif-
erheiternd rhetorischen Floskel ohne Zweifel die äußere Poli- t e n ‹ der deutschen Gesamtausgabe, und wahrscheinlich wer-
tik; und man weiß von Staatengründern, die nach vollbrach- den wir noch darauf zurückzugreifen haben.
tem Werke erklärt haben, sie wüßten nicht, ob sie sich noch Es trifft sich nun aber gut, daß wir, bei vorläufiger Auf-
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rechterhaltung des Gegensatzes von ›moralisch‹ und ›poli- scheidung und Bestimmung: es ist die Bestimmung des Gegen-
tisch‹, um die Dinge von der anderen Seite, vom anderen satzes von persönlicher Ethik und Sozial-Philanthropie, von
Parteistandpunkte aus zu sehen, in Rußland bleiben dürfen. Puritanertum und Jakobinertum, von Pflicht und Recht, von
Ich verspreche, daß wir dabei auf eine bis zum Symbolischen Christentum und Sozialismus, von innerer und äußerer Poli-
knappe, lebendige und schlagende Formel für unseren Gegen- tik .. . und unser Held, der Zivilisationsliterat, der aktivistische
satz stoßen werden, die wir uns dankbar zu jeweiliger Be- Politiker, der Philanthrop, der Macht-und-Geist-Antithetiker
nutzung werden aneignen können. und Erlöser vom Ästhetizismus, er, der durchaus nicht sich
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit, als Tur- selbst schelten, sondern andere schelten und brechen will, — er
genjews ›Väter und Söhne‹ erschienen, war in Rußland eine wäre also im moralischen Sinne nicht, wie er vorgibt, der
politisierende, radikale, »ins Volk gehende« Jugend erstanden, Mann der inneren Politik, sondern vielmehr der äußeren? Ja,
eine Jugend, der »alles, was nicht zur Politik gehörte, unge- so ist es! Der komplizierte und fesselnde Unterschied zwischen
reimt und sogar absurd« erschien, — lauter »Belletristen der dem kämpferischen Politikus und seinem Gegensatz, den wir
Tat«, wie der Ästhet Turgenjew sie nannte, lauter Propagan- nicht anders als mit dem Namen des Ästheten zu bezeichnen
disten und Manifestanten, die es dem genannten Ästheten wissen, ist dieser: der Philanthrop ist in politischer Hinsicht
nicht verziehen, daß er in seinem Meisterwerk zwar politisiert, ein entschiedener Anhänger der inneren Politik (des ›Gei-
aber auf dichterische, das heißt menschliche Art politisiert hatte; stes‹); in moralischer Hinsicht aber durchaus ein Mann der
daß er gerecht gewesen war gegen die Konservativen, das »re- äußeren Politik (»will andere schelten und brechen«). Der
aktionäre Gesindel«, den Hoch-Tory Paul Petrowitsch Kirsa- Ästhet hingegen wird höchstens um der äußeren Politik (der
now sowohl wie gegen den Revolutionär und Radikalen Basa- ›Macht‹) willen politisch, das heißt in Augenblicken, »wann
row, — gerecht und kritisch; daß er beiden von seiner Seele die Volkheit in den Individuen zu Worte kommt«; aber mo-
gegeben hatte, seiner problematischen, zugleich konservativen, ralisch betrachtet, gehört seine Neigung gänzlich der inneren
ja reaktionären und radikalen, zugleich aristokratischen und Politik — (»will sich selber schelten und brechen«) — und die
demokratischen, zweifei- und zuchtvollen, melancholischen und äußere, das heißt das soziale Leben, die Frage der »Institutio-
wahrheitsliebenden Seele; — ja, sie legten ihm geradezu Ob- nen« gilt ihm entschieden als zweiten Ranges: Er meint, daß
skurantismus und Beschimpfung des Fortschritts zur Last, sie an diesen wenig, alles aber an der Gesinnung, der Bildung,
empfanden den Basarow als Attentat, als Pasquill, als Insult, Güte, Menschlichkeit, Moral des einzelnen gelegen sei, und er
und was sie über Basarows Freund, den jungen Kirsanow, mißbilligt den Pessimismus, die Misanthropie, welche alles
sagten, das galt ihnen auch von dem ästhetizistisch unzuver- menschliche Zusammenleben mechanisieren und im Geiste ab-
lässigen Dichter, von Turgenjew selbst: »Kirsanow Sohn hat strakter Ideologie durch Institutionen regeln und sicherstellen
ja weder Frechheit noch Bosheit, seinesgleichen wird nicht her- zu müssen glaubt. —
auskommen über wohlgeborene Demut oder wohlgeborene Ent- Ich habe Verwirrung gestiftet. Ich fürchte, der freundwillige
rüstung, beides sind Possen; wir wollen kämpfen,ihr euch selbst Leser weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht und was er nun
schelten, wir andere schelten und brechen, du bleibst doch nur eigentlich unter ›innerer‹, was unter ›äußerer‹ Politik zu ver-
das weiche, liberale Herrensöhnchen.« — Das ist die Formel! stehen hat. Der einfache Sachverhalt ist der, daß man den
»Ihr wollt euch selbst schelten, wir andere schelten und bre- Gegensatz von innerer und äußerer Politik moralisch oder poli-
chen,« das ist eine gute, deutliche und allzeit gültige Unter- tisch verstehen kann. Der Typus, von dem wir sprechen, ver-
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steht ihn politisch — nun, dafür ist er ein Politiker! Er versteht borgenheit: der Kritik bedürftig sind nur die anderen, ist nur
unter ›innerer‹ Politik, ja unter ›Politik‹ überhaupt, ja so- die Gemeinschaft, die Nation, und die Kritik des literarischen
gar unter ›Moral‹ genau das, was der Ästhet unter äußerer Politikers ist die pädagogische Verhöhnung und Satirisierung
Politik versteht: die Moralität des Politikers ist nach außen des eigenen Volks.
gerichtet, aggressiv, agaèant, revolutionär, eine Verbindung Man sei nur ja nicht voreilig und wende nicht ein, eine sol-
von Aufwieglertum und Wohlredenheit, wie wir sagten. Die che nach außen gerichtete Kritik sei nicht das Wahre, alle Kritik
Revolte ist ihm der eigentlich und einzig menschenwürdige habe mit Selbstkritik zu beginnen, nur diese sei sittlich, der
Zustand, als Ausbruch der ›Würde des Menschengeistes‹; und bloße selbstgerechte Sittenrichter sei keine sehr moralische,
wir haben da einen beachtenswerten Wink zum Verständnis sondern eher eine anmaßliche Figur, und die Frage: »Woher
dessen, was eigentlich der Zivilisationsliterat mit dem Ruf nach nimmt er das Recht?« bleibe unbeantwortet. Das hätte zwar
Politisierung meint: Politisierung, das ist die Erziehung zur einiges für sich, aber nicht alles. Es träfe nur eine Seite der
Revolte. Die Revolte aber, sagt er, ist vor allem etwas außer- Sache. Denn eben weil die Kritik und Satire des literarischen
ordentlich Europäisches, und jedesmal etwa, wenn es dahin Politikers nationale Kritik und Satire ist, eben weil sie sich
kommt, daß die Indier gegen ihre englischen Herren revoltie- politisch nach innen richtet, ist sie ja Selbstkritik;—politische
ren, mögen sie sich zu Gemüte führen, daß nicht ihr eigener Satire, das ist Selbstkritik der Nation durch ihre Schriftsteller.—
Sinn, sondern der Sinn Europas aus ihnen handelt und daß Ich versage mir nicht, hier wiederum auf die Verschränkung
die Engländer es waren, die ihnen »die Seele weckten« — man und Kreuzung der Willensrichtungen, auf die unlösbare Ver-
kann auch sagen: sie politisierten. Wer das anstößig findet, flochtenheit und Relativität alles geistig-sittlichen Lebens auf-
wird immerhin finden müssen, daß viel literarischer Witz merksam zu machen. Der Zivilisationsliterat und -demokrat,
darin steckt, — was kein Wunder ist, da wir es mit einem Mann wie wir ihn kennen, ist ja im ganzen durchaus kein Anhänger
und Meister nicht nur der literarischen Busen-Rhetorik, des des Nationalen, er will es nicht, er verneint es, er anerkennt
Schmisses und Schmalzes, sondern auch vornehmlich des lite- es als Mittel zwischen Individuum und Menschheit mitnich-
rarischen Witzes hier unbedingt zu tun haben. Denn was zu ten, er ist ein begeistert-unmittelbarer Liebhaber der Mensch-
dem idealen Ziel, der politischen Revolte nämlich, hinlenkt, heit selbst und ihrer homogenen Zivilisation, ein Menschheits-
was Geist und Gemüt der Nation, des Volkes, der Staatsbür- politiker, mit einem Wort, — während sein Gegentyp, den wir
ger darauf vorbereitet, dafür zubereitet, das ist ja der Witz, ein wenig uneigentlich aber notgedrungen den ›Ästheten‹
die Satire, das Prinzip und Element der Dekomposition, die nennen, sich zur Zivilisation und, seien wir nur unumwun-
Kritik, und die Erziehung zur Politik, das ist — wir wissen es den, sogar zu dem Abstraktum ›Menschheit‹ bedeutend küh-
von früher her — vor allem eine kritizistische Erziehung. ler verhält und gerade dann politisch wird, »wann die Volk-
Was ist denn Kritik? Nichts anderes als Moral. Nichts heit (das ist das Nationale) in den Individuen zu Worte
anderes als ›innere Politik‹. Es ist aber nochmals daran zu er- kommt«. Allein unter dem Gesichtspunkt von Kritik und
innern, daß der Politiker unter ›innerer‹ Politik gerade das Selbstkritik, von Kritik als Moral, gesehen, liegen die Dinge
versteht, was dem Ästheten als ›äußere‹ gilt: Auch sein Kriti- vollkommen umgekehrt. Der Zivilisationsliterat als Kritiker
zismus, wie seine Moralität überhaupt, ist moralisch nach außen und Satiriker bedarf des nationalen Mittels durchaus, seine
gerichtet, aggressiv, denn er selbst hat recht, er selbst ist un- Kritik dringt nicht eigentlich ins allgemein Menschliche vor
angreifbar, der Mann des Fortschritts und der sittlichen Ge- oder sie trifft es doch nur in seiner speziellen politischen

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Erscheinung, — eben dem Nationalen, und seine ›Selbstkritik‹ anderen aber glücklich und edel seien, — eine Vorstellung, die
besteht in der literarischen Züchtigung seines Volkes: als der politische Kritiker fast immer wenigstens zu hegen scheint
welchem er grundsätzlich, in allen vorkommenden Fällen und und zu erwecken beständig größte Gefahr läuft.
Fragen im Frieden wie namentlich auch im Kriege gegen die Kein Wunder am Ende, daß ihm aus solchem Mißverständ-
anderen unrecht gibt, — wobei zu bedenken ist, daß man, um nis — wenn es ein Mißverständnis ist — gelegentlich Vorwürfe
unrecht geben zu dürfen, recht haben muß; und der Politiker erwachsen. Man wirft ihm vor, durch seine pädagogische Ver-
hat recht. Vor allem im Kriege, sagen wir, verhält er sich so; höhnung und Verneinung des eigenen Volkes stelle er dieses
denn ist er auch keineswegs unkriegerisch gesinnt, so fällt sein vor den anderen bloß; er rede ihnen nach dem Munde, spiele
Begriff der Politik doch viel zu genau mit dem der inneren ihnen in die Hand damit, liefere ihnen Waffen und Argu-
Politik, der Moral, der nationalen Selbstkritik zusammen, als mente gegen sein Volk, bestärke sie in ihren Vorurteilen, in
daß er nicht im Bürgerkriege die einzig sittliche Form des Krie- ihrem Wahn, an Glück und Tugend, in Dingen der Wahrheit,
ges erkennen — und seine Erscheinung in dieser Form freilich Freiheit und Gerechtigkeit demselben weit voran, weit über-
als höchst erwünscht, höchst fördernswert betrachten müßte. — legen zu sein, und habe so nicht wenig dazu beigetragen,
Grundanders der ›Ästhet‹. Der Ästhet als Kritiker — und ihnen zum Vernichtungskriege gegen sein Volk moralischen
warum sollte nicht Kritik auch ihm Bedürfnis und beinahe Mut zu machen. — Ich liebe solche Beschuldigungen nicht. Ich
Sinn der Sprache sein? — ist wenig geneigt, das Nationale, das liebe überhaupt nicht das Beschuldigen: was freilich eine Ab-
Politisch-Soziale als Mittel zwischen Ich und Menschheit ins neigung ist, die der Politiker wenig teilt. Ich weise den be-
Auge zu fassen. Seine Kritik ist ebenfalls Selbstkritik, aber zeichneten Vorwurf zurück, weil ich begreife, daß der Poli-
nicht im politischen, sondern im moralischen Sinn; sie ist nach tiker als kritischer Moralist sich national gebunden fühlt, daß
innen gerichtet, doch nicht ins politische Innere der Nation, politische Satire eine Form des Patriotismus ist, eine nationale
sondern ins eigene individuelle, und indem sie das Ich trifft, Funktion, nichts anderes, wie gesagt, als die Selbstkritik der
trifft sie ganz unmittelbar das Menschliche überhaupt. Könnte Nation durch ihren Literaten, den sie selbst zu diesem Zwecke
also der Politiker anmaßend erscheinen, weil er als Recht- hervorgebracht hat, — und daß jeder Mißbrauch, jede inter-
habender und »durch Vergeistigung über die Volksgenossen nationale Ausbeutung dieser Selbstkritik eine Illoyalität be-.
Erhobener« züchtigt und Recht spricht, und zwar im Namen deutet, die man verachten darf.
der Menschheit, deren Sache er führt; so beruht die Anmaßung Das wäre nun gut und schön, aber der Fall Deutschlands —
des Ästheten darin, daß er das eigene Ich als Träger des All- und er ist es, um den wir uns kümmern — ist ein besonderer
gemein-Menschlichen insinuiert und das Menschentum nur Fall, nicht ebenso gelagert wie andere, und die deutsche Selbst-
auf dem Wege über sein Ich sowohl liebt als hechelt, sowohl kritik eine besondere, von der anderer Völker, wie es im-
bejaht als verneint. Seine Kritik, soweit sie sich des Mittels mer wieder scheinen will, wesentlich verschiedene. Mag es
der Komik bedient, ist somit nicht eigentlich Satire, — gesetzt nun daran liegen, daß das literarisch-moralische Organ dieses
nämlich, daß man unter Satire die Verspottung politischer, Volkes besonders reizbar ist, oder daran, daß es wirklich an
sozialer Zustände zu verstehen hat. Der Ästhet ist vielmehr innerer Roheit, Dummheit, Häßlichkeit, Gemeinheit und Lä-
Humorist, Menschlichkeits-Tragikomiker; und indem sein Kri- cherlichkeit alle übrigen übertrifft; mögen noch andere Gründe
tizismus das Nationale übergeht und ausschaltet, suggeriert vorhanden sein, die wir vielleicht sogar schon andeuteten: die
er nicht, daß nur das eigene Volk elend und lächerlich, die Tatsache besteht, daß die deutsche Selbstkritik schnöder,
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bösartiger, radikaler, gehässiger ist als die jedes anderen Vol- hässigkeit, ausländerhafter Schadenfreude sich auch nur an-
kes, eine schneidend ungerechte Art von Gerechtigkeit, eine deutete, wäre literarisch nicht haltbar, soviel ist sicher.
zügellose, sympathielose, lieblose Herabsetzung des eigenen Aber lassen wir Rußland als Staat, Gesellschaft, Politik.
Landes nebst inbrünstiger, kritikloser Verehrung anderer, sa- Nehmen wir eine in gewissem Sinne vernichtende Kritik des
gen wir zum Beispiel des edlen — nein, das ist nicht ironische russischen Menschen durch die russische Literatur, nehmen
Abwehr! — des zweifellos sehr edlen Frankreich: ein Ausdruck wir Gontscharows ›Oblomow‹! Wahrhaftig, welche schmerz-
des Ekels — des Selbstekels, nicht zu vergessen! — welcher liche, hoffnungslose Gestalt! Welche Mürbheit, Plumpheit,
Generosität, Freiheit, Kühnheit, Tiefe, jeden erdenklichen sitt- Trägheit, Schlaffheit, welche Ohnmacht zum Leben, welche
lichen Vorzug bedeuten mag, aber den man als klug, als päd- liederliche Melancholie! Unglückliches Rußland, dies ist dein
agogisch in bezug auf die anderen, als politisch also, unmög- Mensch! Und doch . . . ist es möglich, Ilja Oblomow, diese
lich ansprechen kann. Eher vielleicht als — ästhetizistisch. Aber gedunsene Unmöglichkeit von einem Menschen, nicht zu lie-
das ist an dieser Stelle ein Wort zuviel. ben? Er hat eine nationale Gegenfigur, den Deutschen Stolz,
Man beweist, so scheint mir, daß man mit Kritik und Satire an Klugheit, Umsicht, Pflichttreue, Würde und Tüchtigkeit ein
auf keinem schlechten Fuße steht, wenn man seine Neigung Muster. Aber welches Maß von pharisäischer Pedanterie würde
zur russischen Literatur bekennt. Nun, bis zum Jahre 1917, dazu gehören, dies Buch zu lesen und nicht — wie insgeheim,
da es sich zur demokratischen Republik erhob, galt Rußland aber ganz ohne allen Zweifel, auch der Dichter es tut — dem
allgemein als ein Land, das politisch-sozialer Selbstkritik in dicken Ilja vor seinem energischen Kameraden den Vorzug zu
besonderem Maße bedürftig sei; und wer ermißt denn auch geben, nicht ganz zuletzt die tiefere Schönheit, Reinheit und
die Abgründe von Bitterkeit und Gram, aus denen die Komik Liebenswürdigkeit seines Menschentums zu erfühlen und ein-
der ›Toten Seelen‹ erwuchs! Merkwürdig aber . . . die natio- zugestehn? Unglückliches Rußland? Glückliches, glückliches
nale Verbundenheit des großen kritischen Schriftstellers äußert Rußland, — welches bei allem Elend und aller Hoffnungslosig-
sich in diesem Buche nicht ganz allein als verzweifelte Komik keit in seinem Innersten so schön und liebenswert sich wissen
und Satire; bei zwei, drei Gelegenheiten wenigstens bekundet muß, daß es, durch sein literarisches Gewissen zu satirischer
sie sich als etwas Positives, Inniges, als Liebe;—ja die religiöse Selbstpersonifikation genötigt, einen Oblomow auf die Beine
Liebe zum großen Mütterchen Rußland schlägt mehr als ein- stellt — oder vielmehr aufs Faulbett legt! Was Deutschland
mal hymnisch daraus vor, sie ist der Urgrund von Bitterkeit betrifft, so läßt die satirische Selbstkritik, die es durch seinen
und Gram, und wir fühlen wohl in solchen Augenblicken, daß Literaten an sich übt, keinen Zweifel darüber, daß es sich als
sie es ist, welche die blutigste und grausamste Satire recht- das eigentlich häßliche Land, das Land der Häßlichen fühlt:
fertigt, ja heiligt. Man stelle sich solche Gefühlslizenzen in Dies ist die Manifestation seines ›Geistes‹, — welcher denn
Deutschland vor! Man denke sich Hymnen aufsteigen aus der freilich die ›Macht‹ mit gutem Gewissen wohl niemals wird
satirischen Romandichtung eines deutschen Schriftstellers, — wollen können; dies seine Moralität, seine ›innere Politik«.
Hymnen auf Deutschland! Man kann es nicht. Der Widerwille
erstickt solche Phantasie. Das bloße Wort ›Liebe‹ wirkt in Wir sahen schon früher ein, daß ein »Vortreten des Gesell-
diesem Zusammenhang bereits peinlich genug, — als die un- schaftsromans im öffentlichen Interesse der genaue Gradmes-
möglichste Geschmacklosigkeit unter der Sonne. Eine deutsche ser wäre« für den Fortschritt jenes Prozesses der Literarisie-
Satire, worin ein anderer Affekt als derjenige fremder Ge- rung, Demokratisierung und Vermenschlichung Deutschlands,

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in dessen Anfeuerung die Sendung des Zivilisationsliteraten chen wird, — es ist der Fortschritt selbst, und einen anderen
besteht. Wir fügen an dieser Stelle das Umgekehrte hinzu: gibt es nicht.
Die Demokratie, das heißt der vermenschlichte, literaturfähige, Ich habe der Überzeugung, daß Deutschland sich auf dem
zur Gesellschaft — und zwar zur amüsanten Gesellschaft — ge- Wege dieses Fortschritts befindet, im Laufe dieser Betrachtun-
wordene Staat, — die Demokratie also ist der Nähr- und gen mehrfach Ausdruck verliehen. Ja, wir werden sie haben,
Fruchtboden, auf welchem die politische Satire erst so recht die Demokratie, den Staat für Romanschriftsteller, und wir
gedeiht; der sozialkritische Roman ist geradezu ein integrie- werden glücklich, zum mindesten aber unterhalten sein! In
render Bestandteil, ein wichtigstes Inventarstück der Demo- wesenlosem Scheine wird jenes böse, abstrakte, unmenschliche
kratie, das heißt: des amüsanten Staates; mehr noch als das: und namentlich also langweilige Staatswesen hinter uns lie-
er ist eine Macht darin, eine politische Macht, ganz praktisch gen, welches uns einstmals dumm zu machen suchte, indem es
gesprochen sogar ein Weg zur politischen Macht, — wie denn vorgab, das Interesse des Ganzen zu wahren und die Verwaltung
im amüsanten Staat der Romanschriftsteller jeden Tag Mi- den Wirren der Parteikämpfe zu entziehen; jenes Staats-
nister werden kann, was er vielleicht nicht werden will, aber wesen, worin für die Bekleidung eines Amtes besondere
doch werden zu können wünscht; und es geschieht darum, daß Kenntnisse und Begabung, eine berufsmäßige Vorbereitung als
der politische Moralist, der zivilisationsliterarische Innenpoli- unerläßlich erachtet wurde. Nichts mehr davon! Das Berufsbe-
tiker die Demokratie, die Advokaten- und Literatenrepublik amtentum ward zur Sage. Selbstregiment! Rotation in office!
nach westlichem Muster fordert: sie bietet seiner Art jenes Dem Sieger die Beute! Wer Lust hat und zwei gute Ellbogen,
Optimum von Lebensbedingungen, nach welchem jedes Erden- soll irgendwann einmal an die Staatskrippe herankommen, —
wesen triebmäßig strebt. Zugegeben, daß dies eine skeptische Vorkenntnisse unnötig. Jedes Amt, so weit sind wir nun, steht
Deutung seines Willens und Wesens ist, statt einer moralisch- jedem Bürger offen, und daß es nicht längst so war, erklärt
pathetischen, wie sie einzig angemessen erscheinen mag, — sich aus dem obsoleten Dogma vom ›Fachmann‹, diesem Ba-
soweit wird man mir beipflichten, daß hier eine förderliche starde der Demut und des Dünkels. Oh, das war freilich ein
Wechselwirkung, eine gegenseitige Vorschubleistung und Stei- kriechend kleinmütiger Unsinn von einem Dogma! War es
gerung statthat: Der Zivilisationsliterat erzieht vermittelst etwa nicht schuld an der politischen Passivität der Besten, —
Aufwieglertum und Wohlredenheit zur Demokratie, und die an der des Künstlers zum Beispiel? Dieser Spielart des Tätigen
Demokratie wiederum, der amüsante Staat, die geistig restlos ist der Sinn für Können und Meisterschaft, der Abscheu vor
durchpolitisierte Gesellschaft nährt und reizt das Organ der der Stümperei am tiefsten eingeboren: souveräne Beherr-
sozialen Kritik, des gesellschaftspsychologischen Schriftsteller- schung der Materie scheint ihm Voraussetzung aller Kunst,
tums bis zur Hypertrophie, so daß endlich durch solche Wech- denn diese bedeutet ihm Vertilgung des Stoffs durch die Form.
selförderung, auf dem Wege glänzenden Amüsements, etwas Was Wunder, daß er nur zu bereit war, der Betörung durch
Äußerstes, ein Zustand von höhnischer Anarchie, Weltver- das deutsche Dogma vom ›Fachmann‹ zu erliegen und poli-
zweiflung und sozialkritischer Zerfressenheit erreicht wird, den tischem Quietismus zu verfallen? Dennoch ist gerade er der
der Zivilisationsliterat als das Ziel, als den Zustand wahrer Demokratie unentbehrlich, — unentbehrlich im Kampf gegen
Menschlichkeit, als einen »sehr schönen, durchaus heiteren« jenes fortschritthemmende Dogma, kraft einiger Eigenschaf-
Zustand im voraus feiert. Der Fortschritt aber zu diesem Zu- ten, die seinem Abscheu vor der Stümperei die Waage halten.
stande, dem bodenlose Heiterkeit wirklich niemand abspre- Ist er nicht fast immer ein Arrangeur von Instinkt? Versteht
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er sich nicht auf das Blenden? Weiß er nicht aus wenigem viel Ämter des Ackerbau- und des Kultusministers anders zu be-
zu machen, — gleich seinem Milchbruder, dem Journalisten, setzen als mit Rechtsanwälten und schriftstellernden Börsen-
diesem gewiegten Saucen-Koch, der aus einer ganz kleinen männern. Und was die Heeresangelegenheiten betrifft, so wäre
Information einen Leitartikel von fünf Spalten anrichtet? Sach- es ein Schlag ins Gesicht der Demokratie, wollte man ihret-
kenntnis zu schauspielern: gehört das nicht am Ende zu sei- wegen eine Ausnahme machen. In militärischen Dingen Mili-
nen Grundtrieben? Als Romanschreiber zum Beispiel, — legt tärs befragen! Aber das wäre die Säbelherrschaft! Das wäre
er dir nicht, wenn's ihm die Komposition zu stärken scheint, die Korruption, die äußerste Gefährdung der radikalen Repu-
ein ganzes Kapitel über Nationalökonomie hin, das aussieht, blik! Denn die Autorität ist nicht etwa nur hassenswert, wenn
als habe er nie etwas andres getrieben? Ein wenig Lust nur an sie unvernünftiger Natur ist, auf Überlieferung, Geburt, Pri-
rednerischer Rippenatmung, ein wenig Begabung für Schmiß vilegien beruht; nein, sie ist es von radikalen Prinzips wegen,
und Schmalz hinzugenommen, — was fehlt zum demokrati- überhaupt, jedenfalls, auch dann, wenn sie aus Wissen, Tüch-
schen Politiker, zum Überwinder des ›Fachmannes‹? tigkeit, faktisch-praktischer Überlegenheit, Fachkunde sich
Demokratie, das bedeutet Herrschaft der Politik; Politik, das ableitet.
bedeutet ein Minimum von Sachlichkeit. Der Fachmann aber Noch einmal: Demokratie, das bedeutet Herrschaft der Poli-
ist sachlich, das heißt unpolitisch, das heißt undemokratisch. tik. Es darf, es wird nichts geben, kein Denken, Schaffen und
Fort mit ihm! Seine Nachfolger sind der Advokat als Wochen- Leben, woran die Politik nicht Anteil hätte, wobei nicht Füh-
schriftbesitzer, der Journalist, der rhetorisch begabte Künstler. lung mit ihr, Beziehung zu ihr unterhalten würde. Die Politik
Sie machen die Sache mit ein wenig Geist, — und so will es die als Atmosphäre, durchsäuernd alle Lebensluft, so daß sie, mit
Überlieferung der Demokratie. »Jeder Franzose«, heißt es in jedem Atemzug eingesogen, das Hauptelement alles seeli-
den Aufzeichnungen eines Zeitgenossen der Großen Revolu- schen Aufbaus bildet; die Politik als Verdrängerin der Musik,
tion, »hält sich für befähigt, mit ein wenig Geist alle Schwie- welche bis dahin den höchsten Rang im gesellschaftlich-künst-
rigkeiten zu überwinden. Niemals haben sich so zahlreiche lerischen Interesse der Nation usurpierte, — als ihre Verdrän-
Menschen eingebildet, lauter Gesetzgeber zu sein und die Auf- gerin, sage ich, im Bunde mit der Literatur, welche nicht an-
gabe zu haben, alle Fehler der Vergangenheit zu verbessern, ders, denn als Zwillingsschwester der Politik, wenn nicht als
alle Irrtümer des menschlichen Geistes zu beseitigen, das identisch mit ihr, zu begreifen und im Kampf gegen die Vor-
Glück der kommenden Geschlechter zu sichern. Für den Zwei- herrschaft der Musik ihre natürliche Verbündete ist; die Politik
fel war kein Raum in den Gehirnen ...« Gibt es einen Zu- also zusammen mit der Literatur, sofern diese gesellig, das
stand, gräßlicher als den, der im Hirn keinen Raum für Zwei- heißt Rhetorik, Psychologie und Erotik ist, — ein Gemisch von
fel läßt? So fragt ein Obskurant! Wir werden ihn haben, den beidem, literarisch parfümierte Politik, politisch durchwürzte
zweifellosen und schönliterarischen Politizismus. Wir werden Literatur als nationaler Dunstkreis und Lebensodem: Das ist
sie haben, die Demokratie, — als welche Gleichheit ist und also die Demokratie, der amüsante Staat, der Staat für Roman-
Haß, unauslöschlicher und eifersüchtiger Republikanerhaß auf schriftsteller, und wir werden ihn haben! Ja, der Zivilisations-
jede Überlegenheit, jede sachverständige Autorität. Wer wird literat hat erkannt, daß Deutschlands literarische Gesittung,
zum Handelsminister einen Industriellen machen? Man macht die Literarisierung, Psychologisierung Deutschlands, welche
einen Lustspieldichter oder Kabarettisten dazu, und das Prin- von Genien wie Heine und Nietzsche mächtig stoßweise ge-
zip ist gerettet. Es wird als fehlerhaft betrachtet werden, die fördert wurde und deren Förderung wir alle, auch ich, wissent-
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lich-geflissentlich oder nicht, uns angelegen sein ließen, — daß Ich bitte um Verzeihung, daß ich, statt den glänzenden und
diese literarische Gesittung bis zu dem Punkte fortgeschritten heiteren Zustand, der unserer wartet, großzügig zu kennzeich-
ist, wo sie ins Politische umschlagen muß, wo der Zusammen- nen, mich in Einzelheiten verlor. Sie sind nicht untauglich, um
hang von psychologischer Denkart und formaler Eleganz mit einen Hauch der generösen, politisch-literarischen Atmosphäre
politischer Freiheit offen zutage tritt. Dies ist seine Stunde, zu vermitteln, aus welcher unser nationales Leben sich neu
die Stunde des Zivilisationsliteraten; sie ist da; sie setzt ihn gebären, von der es dann immerdar umspielt sein wird. Zwei
in jene nationalen Rechte ein, deren er bei anderen Völkern Phasen sind zu unterscheiden, wo immer und wann es sich
längst genießt. Als erste Forderung dieser Stunde ist diejenige um die Verwirklichung von Volkssouveränität und Demo-
der Gründung einer Deutschen Akademie zu erheben — unter- kratie handelt. Die erste ist die revolutionäre: wir werden sie
derhand habe ich sie längst erhoben. Die Deutsche Akademie zu passieren haben, ich kann hinzufügen: wir sind im Be-
oder doch etwas wie ein Gegenstück zu dem römischen ›Sprach- griffe, sie zu beschreiten. Wer könnte heute (ich schreibe im
verein Dante Alighieri‹, dessen Vorsitzender der Premier- April 1917) die revolutionäre Stimmung der deutschen Gei-
minister Boselli ist; die Stiftung und alljährliche Ausschreibung stigkeit verkennen? Der Volksstaat, für den jung und alt
eines ›Großen Preises der Redekunst‹, — dergleichen ist not- sich ereifert — und mit unleugbarem zeitlichen Recht sich er-
wendiges Zubehör der literarisch-politischen, der parlamenta- eifert —, was ist er denn, als der Rousseau'sche Gesamtwille
rischen Epoche, in welche wir eintreten. Die Literatur werde der im Staate vertretenen Gemeinschaft, welcher das eigentlich
offiziell, der Literat werde offiziell, — das ist die Forderung Staatsbildende sei! Publizisten sprechen von nichts als Vol-
der politischen Stunde. Wir werden jene Humbug-Herrschaft taire, Figaro, der ›Menschheit‹; Marquis Posa ist große Mode;
des Geistes haben, welche etwa in Wirtshaus-Schildern ›A und Theaterstücke, deren akademisches Revolutionspathos von
l'Idee du Monde‹ sich veranschaulicht. Das ›Café Schopen- Psychologie, Ästhetizismus und Hystero-Erotik nur halb ver-
hauer als Mittelpunkt des Viehhandels in einem deutschen deckt ist, finden den frenetischen Beifall der Intelligenz. —
Marktstädtchen wird nicht übel sein, und wenn französische Die erste Phase, sagen wir, ist die revolutionäre, wo der
Fischdampfer ›Pensee‹ oder auch ›Honneur et dévouement Glaube, daß nun das Reich des Rechtes und Glückes angebro-
moderne‹ getauft werden, so wird das ins Deutsche zu über- chen sei, verblendend aufflammt und die Leidenschaft der Po-
tragen sein, sollte es auch schwerfallen, — der Geist wird
litik von jedem einzelnen Hirn, und sei es das törichteste und
die Mesquinerie nicht länger dulden, daß die unsrigen Namen
unbelehrteste, Besitz nimmt. Taine schildert den Zustand, in-
wie ›Klaas‹ oder ›Schlutup‹ am Buge führen, unter seiner
dem er einen Chronisten von 1790 zitiert: »Jeder Handels-
erklärten Herrschaft werden unsere Panzerkreuzer nicht ›Blü-
gehilfe, der die ›Neue Heloise‹ gelesen, jeder Schulmeister, der
cher‹ und ›Gneisenau‹, sondern ›Goethe‹, ›Lichtenberg‹, viel-
einige Seiten Livius übersetzt hat, jeder Künstler, der in
leicht auch ›E. T. A. Hoffmann‹ oder ›Wackenroder‹ heißen, —
Rollins Werken geblättert, jeder Schöngeist, der durch das
und möge es manchen verstimmender dünken, wenn ›Goethe‹,
Auswendiglernen der unklaren Sprache des Rousseau'schen
als wenn irgendein Vater Blücher in den Grund torpediert
Gesellschaftsvertrages Publizist geworden, macht eine Verfas-
wird, so wird das eben nur eine Regung jener rückständigen
sung .. .« Und Taine selbst ergänzt: »Mit Hilfe von acht oder
Empfindlichkeit sein, die etwa auch Anstoß daran nimmt,
zehn Phrasen, die den Leuten von den in den Vorstädten und
wenn im Gasthof ›Zur Philosophie‹ oder ›Zur Gerechtigkeit‹
auf dem Lande zu Tausenden verbreiteten Sechs-Sous-Kate-
Hoteldiebe sich bemerkbar machen.
chismen mundgerecht gemacht werden, wird der Dorfadvokat,

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der Zollbeamte, der Billettenkontrolleur, der Wachtstuben- aber sicher eine literarische Fundgrube, ein überaus mensch-
sergeant zum Gesetzgeber und Philosophen . . . Die Folge ist, lich-lebensvolles Studiengebiet für die Verfasser satirischer
daß er über lauter Personen und Dinge, die ihm früher auf Lustspiele und skeptischer Romane ist . . . Den vermensch-
immer entrückt zu sein schienen, Vorträge hält. Er spricht lichten Staat, die literarisierte, erotisch animierte Politik mit
darüber zum Volk, stellt Anträge, wird beklatscht und be- ›psychologischer Denkweise‹ und formaler Eleganz, die Poli-
wundert sich selbst ob der Kunst, so gut und hochtrabend zu tik mit Damenbedienung, — wir werden sie haben! Man ver-
räsonnieren . . . Die Vorliebe für den Streit, die Krittelei und steht sich kaum auf die Demokratie, wenn man sich auf ihren
das Sophisma hat jede vernünftige Konversation aus dem femininen Einschlag nicht versteht. »Die Freiheit und eine
Felde geschlagen. Die Gauner reden von Sittlichkeit, die He- Hure sind die kosmopolitischsten Dinge unter der Sonne.«
tären von Bürgertugend und die verworfensten Subjekte von Welche Internationale war es, die selbst im Weltkriege hielt?
der Würde des Menschengeschlechts ...« Die waagerechte. Nicht sowohl in Paris fanden bisher die poli-
tisch-gesellschaftlichen Ideale unseres Zivilisationsliteraten sich
Das, wie gesagt, ist die erste Phase. Sie ist nicht schön, nicht
verwirklicht als in Bukarest. Wir werden nachkommen. Wir
wohltuend, nicht besonders menschlich. Denn die allgemeine
werden auch die gerichtlichen Freisprüche interessanter Mord-
politische Erhitzung der Dummheit wirkt peinlich und mensch-
weiber haben — aus Galanterie oder aus Parteipolitik oder
lich betrübend, — wenigstens bei uns, wo in der Tat (und ich
aus beiden Gründen. Denn welche Sache und Frage überhaupt
gedenke noch einmal meines Freundes, des Mannes im Dienst-
wird nicht sofort zur Machtprobe der Parteien entarten? Welche
mantel) am meisten instinktmäßige Abneigung gegen die-
nicht sofort im fälschenden, verzerrenden Lichte der Politik,
sen Zustand vorhanden ist. Auf jeden Fall geht er vorüber;
das heißt der Parteipolitik stehen? Die Politik als Erkenntnis-
und was ihm folgt, ist eine Ordnung verzichtreicher Art, ein
mittel, durch welches alle Dinge gesehen werden; die Verwal-
amüsant-melancholisches Kompromiß, die ›Verwirklichung‹
tung — geübt im Geiste der gerade herrschenden Kammer-
des Prinzips, die selbstverständlich nichts anderes sein kann
majorität; das Offizierskorps — politisch zersetzt; die Justiz
als ein solches Kompromiß, ein Zustand, dem die große Mehr-
— politisch verseucht; die Dichtung — Thesentheater und See-
zahl der Bürger, die sich nun hütet, dem allgemeinen politi-
lenkunde auf Grund sozialer Vergleichung bis zumTout-est-dit;
schen Aufgebot Folge zu leisten, und dies denen überläßt, die
und Affären, Skandale, prächtige, den Bürger erhebende und
sich einen fragwürdigen und zweideutigen Beruf daraus machen,
entzündende politisch-symbolische Zeitkonflikte in wechseln-
mit Hohn und unverhohlener Skepsis zuschaut, — eine will-
dem Reigen, jedes Jahr ein neuer, — so werden wir's haben, so
kommene Gemütsverfassung jedoch gerade dies, denn sie
werden wir alle Tage leben.
trägt die Revolte in sich, sie macht aus dem leblosen, geist-
Man sagt mir, daß das unmöglich sei; daß allgemein aus-
feindlichen Bürger ein bewegliches und entzündbares Element,
brechender Ekel die Verwirklichung solcher Zukunftsbilder in
sie macht einen Europäer, macht einen Menschen aus ihm . . .
Deutschland verhindern würde. Denn unausrodbar sei hier der
Das Schauspiel aber, das er in dieser fortgeschrittenen Ge-
Glaube, daß das organisch Gewachsene, das aus Tradition und
mütsverfassung betrachtet, ist eben der nun erreichte amü-
Geschichte Gewordene bei aller Mangelhaftigkeit dem Pro-
sante Staat, die Kameraden- und Arrivisten-Republik, das
dukt der Reflexion und des Vernunftprinzips vorzuziehen
glitzernd rotierende Jahrmarktswunder und Luftschaukelwerk
sei. Menschlichkeit walte dort wie hier; aber die Mensch-
der Zeitungen, der Frauen, der Kammern, der Glücksritter, die
lichkeit des Gewachsenen habe etwas Ehrwürdiges, die des ver-
Oligarchie einer ›Gesellschaft‹, die nicht gerade die ›gute‹,
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nünftig Gemachten reize zu Spott und Verachtung. Gut, gut, literaten, betrifft, so denkt er hinlänglich hoch von seiner Ver-
ich will es glauben, ich weiß es, daß dies deutsches Gefühls- nunft, versteht sich auch auf Geschichte trefflich genug, um mit
urteil ist. Trotzdem ist es unmöglich, sich zu verhehlen, daß all der »Entschlossenheit«, die seiner Menschenliebe eignet, die
die Entwicklung der deutschen Dinge sich in diesem Augen- Hand an den Pflug zu legen: Mißachtung, Verfall und Tod
blick und vorderhand unter den scharfen Peitschenschlägen des Staates ehemöglichst herbeizuführen, erscheint ihm als
des Zivilisationsliteraten in der bezeichneten Richtung be- die Aufgabe ›des Geistes«, und in diesem Sinne, das müssen
wegt. Zweitens aber deutete ich schon an, daß ›Spott und wir einräumen, ist ihm ›die Demokratie‹ nur ein Mittel und
Verachtung‹ als allgemein herrschende Stimmung gegen Staat Übergang, — wie er denn auch den amüsant vermenschlichten
und Regierung dem Zivilisationsliteraten durchaus erwünscht Staat mehr in seiner Eigenschaft als Künstler und Romancier,
ist, durchaus planvoll von ihm gewollt wird — und zwar in denn in seiner zweiten, als Prophet nämlich, herbeisehnt und
dem Grade, daß er diese Stimmung mit dem ›Geiste‹ selbst fordert . . . Würdigen wir ihn endlich in dieser Eigenschaft!
zu verwechseln geneigt ist, daß giftiger Haß und Hohn auf Stellen wir kurz seine Lehre hin! — sie ist einfach, von axio-
alles Regierende ihm schlechthin das Kriterium der Geistig- matischer Einfachheit, und wenn sie uns zum Teil schon be-
keit bedeutet. Er ist ein Politiker, ja; aber er ist ein Politiker kannt ist, so wird es doch nützlich sein, sie an dieser Stelle
gegen den Staat, und er weiß es so gut wie der junge Nietzsche, auf ihre kernigste und gedrungenste Formel zu bringen.
wenn er es nicht sogar von ihm weiß, daß die Demokratie die
Verfallsform des Staates ist. »Die Mißachtung, der Verfall Literatur und Politik, lehrt er, haben beide den Menschen zum
und der Tod des Staates«, sagte Nietzsche dort, wo er in Gegenstande; darum sind sie, wenn nicht identisch, so doch
›Menschliches, Allzumenschliches‹ einen Blick auf die Politik untrennbar zusammengehörig: man kann (man darf) die eine
wirft, »die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu nicht ohne die andere treiben. Und wie es nur eine Politik
sagen: des Individuums) ist die Konsequenz des demokrati- gibt—geben kann—geben darf: die humanitär-demokratische,
schen Staatsbegriffs; hier liegt seine Mission . . . An der Ver- die des Fortschritts; so gibt es auch nur eine Literatur und
breitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu arbeiten, darf es nur eine geben: die humanitär-demokratisch gerich-
ist freilich ein ander Ding: man muß sehr anmaßend von sei- tete, — jene, die unablässig, in jeder ihrer Konzeptionen, den
ner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, humanitär-demokratischen Fortschritt betreibt, den Begriff der
um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, — während Demokratie insinuiert, unter jeder Erfindung, jeder Schönheit,
noch niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf unter aller Kunst diese didaktisch-voluntaristisch-politische
das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Ver- Absicht halb verbirgt und halb durchstechen läßt. Eine andere
trauen wir also der Klugheit und dem Eigennutz der Men- Literatur gibt es nicht, oder es kommt doch keine andere in
schen, daß jetzt noch der Staat eine gute Weile bestehen Betracht. Was sonst noch als Literatur zuweilen angesprochen
bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und voreiliger wird, ist liederlicher Ästhetizismus, Schmuckwerk bestenfalls,
Halbwisser abgewiesen werden!« Soweit der noch jugend- nicht das, was not tut. Was not tut, ist im Grunde überhaupt
liche Nietzsche, den der Zivilisationsliterat zu achten vorgibt, nicht Kunst, sondern das Manifest, das absolute Manifest zu-
während er in Wahrheit von dem späten, grotesk und fanatisch gunsten des Fortschritts, der Aufruf der Geistigen durch den
gewordenen Nietzsche geistig, wenn auch nicht sachlich, weit Geist. Kunst an und für sich und um ihrer selbst willen, l'art
mehr sich zu eigen gemacht hat. Was ihn, den Zivilisations- pour l'art, einst ein Ruf gegen die Philister, ist heute ein
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bürgerlicher Begriff geworden. Kunst als Leben, als durch die wenn das, was not tut, etwa Freiheit sein sollte, so möchte
Form bezwungene, befreite und befreiende Erkenntnis des Le- das Manifest ein äußerst zweifelhaftes Mittel zu diesem Zwecke
bens, — sie ist das Verworfene, ist zu verwerfen. Was nützt sein. Denn ein Manifest, wenn es stark ist, vermag allenfalls
uns Erkenntnis und was die Form? Auf die Tat kommt es an, zu fanatisieren, aber zu befreien vermag einzig das Werk
— auf die des Geistes. Das Manifest, das zur Tat ruft, das der Kunst. Der politische Prophet ist zweifellos ein großer
schon Tat ist, es wiegt hundert ›gestaltende‹ Werke auf. Freigeist, ein libre-penseur und esprit fort vom ersten Range,
Kunst, sofern sie bestehen, sofern sie in Betracht kommen sein verachtungsvolles Verhältnis zum Nationalen beweist es.
will, hat ein Werkzeug des Fortschritts, humanitär-demokra- Aber ein freier Geist von der Art dessen, der dem Europa vom
tischer Politik zu sein, sie hat ihre prinzipielle Verpflichtung Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts das tragischste und
entdeckt, bewußt, zielstrebig und getragen von politischer Ver- heldenhafteste Schauspiel der Erdgeschichte, ein Schauspiel
antwortlichkeit auf Weltverbesserung auszugehen. Tut sie das kritischer Selbstkreuzigung bereitete, — 0 nein, das ist er nicht.
nicht, dient sie also höchstens einer Schmuck-Kultur, aber nicht Er hat ihm einige Grotesk-Akzente und steile Gesten abge-
der Zivilisation, so ist es nur eine Temperamentsfrage, ob lauscht, abgeguckt, wie ehemals der Feuilletonist Heine'n die
man sie als eine Art von frivolem Spießertum oder als Schur- ›Leichtigkeit‹ abguckte, aber erlebt hat er das strenge Hel-
kerei bezeichnen will; und da der politische Prophet nicht nur dengedicht dieses Lebens nicht, und wenn er es je erlebte, so
Vernunft und Humanität, sondern auch die Leidenschaft zu hat er es ›überwunden‹. Wodurch? Durch die Politik! Nein,
seinen Prärogativen zählt, so wird er sich meistens für dieses nicht Freiheit ist es, die er im Sinne hegt. Was nützt, fragt er,
letzte Urteil entscheiden. Aus seinem Dogma aber, daß es nur Freiheit? So wenig wie Erkenntnis und Form! Seine Sache
eine Vernunft, nur eine Politik, nur einen Geist gäbe, geben vielmehr ist Entschlossenheit; seine Sache ist — daß ich die
könne und dürfe, nämlich den seinen, ergibt sich für ihn als grauenhafteste Wortkoppelung vorführe, die je erfunden wurde,
Folgerung und Forderung das, was er die »Solidarität aller und deren übermäßige Geschmacklosigkeit ihrem Erfinder, dem
Geistigen« nennt, die »Organisierung aller Geistigen« zur Er- Zivilisationsliteraten und politischen Propheten, Unsterblich-
oberung der Macht, zur Verbreitung der Wahrheit, der Ge- keit sichert — seine Sache ist »entschlossene Menschenliebe«.
rechtigkeit, der Freiheit, des Glückes, — mit einem Worte der Entschlossenheit aber, und nichts anderes, ist es, das heißt
demokratischen Republik. absichtliche Selbstverdummung und logische Spiegelfechterei
Die Eroberung der Macht? Und zwar durch den Geist? Und im Dienste des Fortschritts, wenn er etwa die Identität oder
die oberste aller Antithesen, die von Macht und Geist, — wo untrennbare Zusammengehörigkeit von Literatur und Politik
bleibt sie? Aber verstricken wir uns hier nicht in diesen Wider- behauptet, weil nämlich ›der Mensch‹ beider Gegenstand sei,
spruch! Machen wir uns für diesmal los, indem wir uns sagen, — ein Sophisma, so handgreiflich und dreist, daß Widerwille
daß jene Antithese offenbar erlischt und zunichte wird, wenn unsere kritische Reizbarkeit ertötet. Denn wir wollen uns und
eben der Geist es ist, der die Macht — die politische Macht — andere nicht langweilen, indem wir polemisch auseinander-
ergreift. Wir müssen weiter. Es gibt dies und jenes zu kriti- setzen, daß der ›Mensch‹, den die Politik zum Gegenstande
sieren an der Lehre, die wir vertretungsweise vortrugen; sogar hat, nichts als der Gesellschaftsmensch im Sinn und Geschmack
gibt sie Anlaß zum Erstaunen: nämlich über ein selten beob- der westlichen civilisation und civilization — und die Art von
achtetes Maß von Beschränktheit und Fanatismus. Von dem, ›Literatur‹ und Dichtung, welche allerdings diesen Gegen-
›was not tut‹, ist die Rede darin und vom Manifest. Aber stand mit der Politik gemeinsam hat, nichts als der Gesell-
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schaftsroman nach dem Muster dieser selben civilisation oder zuchtlos? Aber das Merkwürdige ist, daß in künstlerischer
civilization ist —, der Gesellschaftsroman, den der deutsche Sphäre Freiheit und Zucht ganz ein und dasselbe bedeuten.
Zivilisationsliterat als die Literatur, dessen Geist und Wesen Man weiß, daß Turgenjew für seine Person ein ›Sapadnik‹
er als Geist und Wesen der Kunst, der Dichtung überhaupt war, ein Westler und Antislawophile, ein gläubiger Anhänger
verkündigt, und dies in dem Augenblick, da Frankreich, den europäischer Kultur; er war Franzosenfreund als Artist, er
üblen Geschmack des Tout est dit im Munde, auf Besseres, kam als Geist von Goethe und Schopenhauer. Was tat er?
Älteres, Stärkeres sich besinnen will — und zwar durchaus Er schuf sich einen Affen, den Westler Panschin im ›Adligen
nicht allein in der Person Romain Rollands. »Le roman m'a Nest‹, eine wandelnde Parodie seines eigenen Wesens, einen
toujours semblé une Sorte de confession«, schrieb Charles- Laffen von solcher Abgeschmacktheit, daß er Aufklärungs-
Louis Philippe im Jahre 1905. »Il faut d'ailleurs qu'une tiraden von sich gibt, wie etwa: »Alle Völker sind im Grunde
œuvre soit l'expression de la vie de l'écrivain . . . Pour moi, je einerlei; man führe nur gute Einrichtungen ein, und die Sache
conçois le roman, non comme le développement d'une idée, ist fertig!« — kurz, einen Schwätzer, den »auf allen Punkten
zu schlagen« dem Slawophilen Lawretzki ein leichtes ist. Das
mais comme quelque chose d'animé, de vivant, de réel, comme
ist fast unverständlich. Turgenjews ausgesprochene Grund-
une main qui bouge, des yeux qui regardent, comme le d--
sätze, Sätze wie: »Meine persönlichen Neigungen haben nichts
veloppement de tout un corps. Aussi le roman à thèse me
zu bedeuten«, »Vom Künstler ist mit aller Strenge Gewissen-
paraît extraordinaire. Je trouve vraiment extraordinaire qu'on
haftigkeit zu fordern«, »Es bedarf der Wahrheitsliebe, der
ose faire du roman un prétexte d'études sociales ou psycho-
unerbittlichen Wahrheitsliebe in bezug auf die eigenen Empfin-
logiques . . .« Es ist so, wir Deutschen sollen anfangen, im
dungen; es bedarf der Freiheit der Anschauungen und Mei-
›Menschen‹ das Gesellschaftstier und im Roman einen Vor-
nungen; nirgends ist die Freiheit so notwendig wie in Sachen
wand zur Sozialkritik zu sehen, in dem Augenblick, da Frank-
der Kunst, der Poesie: nicht umsonst ist sogar in der offi-
reich es gründlich satt ist, dies zu tun!
ziellen Regierungssprache von ›freien‹ Künsten die Rede«,
Kunst und Politik! Die Kunst und das Manifest! Geht es
— solche Sätze sind keine hinreichende Erklärung für diesen
nicht ganz und gar zu bei uns wie in dem Rußland jener fünf-
Exzeß an Selbstzucht, in dem die Wahrheitsliebe sich über-
ziger und sechziger Jahre, dem »alles, was nicht zur Politik schlägt und zur Persiflage des eigenen Ideales wird. Das ist
gehörte, ungereimt und sogar absurd erschien«, und das, weil nicht mehr bloße ›impassibilité‹, es ist Kasteiung, Askese, es
›Väter und Söhne‹ kein Manifest war, »mit kaltem Lächeln« ist die Kunst als Wille, »sich selbst zu schelten und zu bre-
Turgenjews Photographie verbrannte? Am feinsten war damals chen«, es ist ein Beispiel kleineren Formats und humoristischen
eine Dame. Sie sagte: »Weder Väter noch Söhne — das wäre der Gepräges — für jene Ethik des Selbsthenkertums, deren wir
wahre Titel Ihrer Erzählung, und Sie sind selber ein Nihilist.« Deutschen erst gegen das Ende des Jahrhunderts an einem
— »Ich werde mich hüten, hierauf zu antworten«, murmelt weit größeren, weit tragisch-furchtbareren Beispiel, einem
Turgenjew; »vielleicht hatte jene Dame recht.« Aber sie hatte philosophischen, ansichtig wurden, — und irgendwelche › E n t -
nicht recht, denn der ist kein Nihilist, der das Leben achtet schlossenheit‹ jeder politische Voluntarismus im Kunstwerk
wie er. Ein Ästhet, das mag sein, ein Ästhet war er wohl, — ist im Vergleiche damit nichts weiter als geistige Voluptuosität.
das heißt jemand, der eher geneigt war, »sich selber zu schel- »Was die Jugend auch sagen möge«, schrieb damals Tur-
ten« als »andere zu schelten und zu brechen«; und dann war genjew an einen Freund, »die Kunst kann nicht sterben, und
er ein großer Liebhaber der Freiheit! Klingt das locker und
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die ihr nach Kräften geleisteten Dienste werden die Menschen nend, sie nur zu einer tändelnden Verzierung und Verschöne-
immer eng zusammenhalten.« War das ein Bekenntnis zum rung des Lebens machen oder unmittelbar moralisches Wir-
Ästhetizismus? Politisierung der Kunst! Als ob nicht die Kunst, ken und Belehrung von ihr verlangen, ist, wie man sich nicht
wie sehr sie immer eine Sache der einsamen Seele, des Ge- genug wiederholen kann, tief in deutscher Sinnes- und Emp-
wissens, des Protestantismus und der Gottesunmittelbarkeit findungsart gegründet.« Und Schiller selbst hat gesagt: »Der
sei, — als ob sie nicht an und für sich und allewege eine soziale Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt« ...
Macht wäre, welche immer »die Menschen eng zusammen- Deutsche Bildung! Deutsche Sinnesart! Goethe zeigte sich
hielt« ! Da geschichtliche Beispiele lehren, daß politisch willen- entzückt, als er bei Guizot den Satz gelesen hatte: »Die Ger-
lose Kunst, welche nur um ihrer selbst willen da zu sein schien manen brachten uns die Idee der persönlichen Freiheit, welche
und jedenfalls nur um ihrer selbst willen da sein wollte, diesem Volke vor allem eigen war.« »Ist das nicht sehr artig«,
gleichwohl zum politischen Werkzeug größten Stiles werden rief er, »und hat er nicht vollkommen recht, und ist nicht diese
und eines Volkes seelische Einigung bewirken kann; da per- Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns wirksam? Die
sönliche Beispiele lehren, daß eine Kunst, die sich nie in so- Reformation kam aus dieser Quelle . . . Auch das Buntschek-
zialer Attitüde gefiel, eine schmarotzerhaft unpolitische Kunst kige unserer Literatur . . .« O ja, auch dies. Und eben diese
der persönlichen Ethik dennoch den Menschen leben helfen protestantisch-individualistische Buntscheckigkeit ist ein Greuel
kann: was fange ich an mit dem Geschrei nach Politisierung in den Augen des politischen Propheten, — welchem in natio-
der Kunst und was mit der unverschämten und blödsinnigen nalen Dingen freilich die ›Freiheit‹ weit über die ›Einheit‹
Unterscheidung zwischen dem ›Privatdichter‹ und dem »Ver- geht, der aber im Geistigen der Freiheit wenig hold und einzig
antwortlichen Dichten, die vorzunehmen man heute beliebt? auf Einheit, militaristische Organisation, politische Stoßkraft
Wo ist der abgeschmackte Tor, der glaubt, ein produktiver des Geistes bedacht ist. Wen aber wundert es, daß er unter der
Trieb könne je unsozialen, antisozialen Wesens sein? Der ›Politisierung der Kunst‹ ganz selbstverständlich und als
Neid des produktiven Menschen auf den rezeptiv-müßigen, müsse es so sein ihre Politisierung im demokratistischen Geiste
sein Verachtungsgefühl gegen ihn, seine Unfähigkeit, auch versteht? Die Politisierung des deutschen Kunstbegriffs selbst
nur zu verstehen, wie man rezeptiv-müßig leben mag und würde ja seine Demokratisierung bedeuten, ein wichtigstes
kann: beweist denn das nicht den sozial-moralischen Sinn des Merkmal der demokratischen Einebnung und Angleichung
produktiven Triebes? Wüßten unsere Manifestanten und Deutschlands! Nicht weniger bequem ist zu begreifen, daß aller
›Belletristen der Tat‹, wie sehr sie sich mit ihrer Antithese politisierte Kunstsinn auf das undemokratisch Große schlecht
von ›Ästhetizismus‹ und ›Aktivismus‹, ihrer Verwechslung zu sprechen ist. Der sozial-religiös vergreiste Tolstoi (selbst
des Nutzlosen mit dem Nichtsnutzigen von aller deutschen riesengroß übrigens auch damals noch — aber er leitete keine
Bildung entfernen, — vielleicht, durchaus nicht gewiß natür- kollegialen Empfindungen daraus ab) nannte Shakespeare
lich, daß Stimme und Mut ihnen ein wenig sinken würden. einen unsittlichen Wilden; Herr Bernard Shaw schließt sich
»Der Poesie unter den menschlichen Bestrebungen die hohe ihm mit dem Gutachten an, der Autor des ›Coriolan‹ sei kei-
und ernste Stellung, von der ich oben gesprochen, anzuweisen«, neswegs zeitgemäß, er habe uns Heutigen wenig zu sagen, da
sagt Wilhelm von Humboldt in seinem Versuch über Schiller, seine volksfeindliche, undemokratische Gesinnung allzusehr
»von ihr die kleinliche und die trockene Ansicht abzuwehren, auf der Hand liege. Man kann nicht aufrechter urteilen. In
welche, jene ihre Würde, diese ihre Eigentümlichkeit verken- Deutschland, wo Ehrfurcht immer noch allzusehr im Schwange
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ist, gilt es, mehr mit Seitenblicken zu arbeiten, und da Goethe Berg an Berg und Brand an Brand
mehrfach Dinge geäußert hat wie etwa: »— denn ein gutes Lodern hier zusammen;
Kunstwerk kann und wird zwar moralische Folgen haben, aber Welch ein Glühen! — ha! so stand
moralische Zwecke vom Künstler fordern, heißt ihm sein Hand- Ilion einst in Flammen.
werk verderben«, — so geschieht es zweifellos mit einem Ein versinkend Königshaus
Seitenblick auf ihn, wenn der Zivilisationsliterat erklärt, der Raucht vor meinem Blicke,
Ästhet sei im Alter nicht einmal ehrwürdig, er habe kein Und ich ruf ins Land hinaus:
Alter, Autorität, Ehrwürdigkeit, jede hoch menschliche Wir- Vive la république!
kung sei bei dem Moralisten, dem politischen nämlich. Goethe
— im Alter nicht ehrwürdig, auch ohne Autorität, vielmehr ein Der Reim ist unbefriedigend; und ich glaube gern, daß unsere
recht windiger Ästhetengreis. Dagegen Zola — Zola in seinem Aktivisten von heute das brenzlige Pathos dieser wunderlichen
Gärtchen, Zola, die Haare im Nacken halb lang, ein verklärter Naturstimmung zu verleugnen geneigt sind. Aber welche Un-
Lehrer der Demokratie . . . Deutsche Kunstgesinnung! Gereizt, terschiede des Geschmacks und der artistischen Verschlagen-
ließ ich mir eines Tages den Satz entschlüpfen, die Kunst sei heit sie auch von ihren Vorläufern trennen und wie sorgsam
eine Form der Moral, aber kein moralisches Mittel. Man re- sie immer bedacht sein mögen, die Politik bis zur Unkennt-
spondierte, der Spruch sei dunkel. Dennoch hatte Fichte gesagt, lichkeit und Mißverständlichkeit unter psychologischer Skep-
daß der Deutsche — und nur er — die Kunst als eine Tugend sis und Sexual-Pathologie zu verbergen, — die w a r m e Ethik‹,
und eine Religion treibe, — was dasselbe besagt und eine in der ihre Überlegenheit über alle ästhetizistische Unmensch-
immer geltende Übertragung der l'art pour l'art-Formel ins lichkeit beruht, läßt sich doch ohne Rest in den Ruf zusam-
Deutsche ist. menfassen, zu dem jener Kraftgesang eines Petroleurs sich
Politisierung der Kunst! Nun, man sah dergleichen. Man endlich erhebt, in den Ruf: »Es lebe die Republik!« — und
hatte vor einigen siebzig Jahren den Literatur gewordenen Li- zwar auf französisch.
beralismus, das aktivistische Junge Deutschland, welches den
Ästhetizismus von damals, die Romantik, über den Haufen Politisierung der Kunst! Zuletzt: was finge mit dieser Litera-
rannte . . . Ewigkeitswerte waren es wohl eigentlich nicht, die tenparole derjenige an, dem etwa die Musik das reinste Para-
es zutage förderte. Ausschweifende Eroberungen auf dem Ge- digma, den heiligen Grundtypus aller Kunst bedeutete? Und
biete der Seele und der Schönheit rühmen die Experten ihm ist sie nicht wirklich die eigentlich moralische Kunst, welche
nicht nach. Die deutsche Romantik, national aber unpolitisch Kunst ist eben dadurch, daß die Moral in ihr zur Form wird,
wie sie war, wird immer als ein zaubervollstes Begebnis der und die vorzugsweise der Deutsche von jeher »als eine Tu-
europäischen Geistes- und Kunstgeschichte gefeiert werden. gend und eine Religion« getrieben hat, — das deutsche l'art
Das jungliberale Schrifttum von 1840 angehend, so hat es pour l'art? Ich will einen Musiker Fürbitte einlegen lassen,
gewiß unsere politische Aufklärung kräftig gefördert. Was Grillparzers Armen Spielmann. »Die ewige Wohltat«, sagt er,
aber geschieht, wenn die zehnte Muse, die der Freiheit näm- »und Gnade des Tons und Klangs, seine wundertätige Über-
lich, zu singen beginnt, das lehren jene Verse, die Georg Her- einstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr, — daß der
wegh beim Alpenglühen dichtete: dritte Ton zusammenstimmt mit dem ersten, und der fünfte
desgleichen und die nota sensibilis hinaufsteigt wie eine
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so sehr in einer, daß Musikalität und Religiosität hei ihm was es ist — von der »Solidarität aller Geistigen«, der »Orga-
kaum auseinanderzuhalten sind, daß in seiner Seele eines fürs nisation aller Geistigen« scheitern läßt . . . ›Organisation‹!
andere steht, — wie es deutsches Wesen seitdem geblieben ist. Da ist es wieder, das zweite Stich- und Schlagwort des Augen-
»Musicam habe ich allzeit lieb gehabt«, sagte er. »Sie ist eine blicks, als Wort gemeinsam allen Rittern der Zeit, wenn auch
schöne herzliche Gabe Gottes und nahe der Theologie.« Er als Sinn und Meinung durchaus nicht. Wir kennen die litera-
sagte auch, diese Kunst sei »eine halbe Disziplin und Zucht- rische Verliebtheit in die Vokabel ›politisch‹, wir wissen, daß
meisterin, so die Leute gelinder und sanftmütiger, sittsamer sie in literarischer Sphäre zum dritten Wort, zum höchsten
und vernünftiger mache«, und: »Ein Schulmeister muß singen Lobe geworden; es ist mit dem Schrei nach ›Organisation‹
können, sonst sehe ich ihn nicht an.« Er gab der künstlerischen nicht anders. Auch in ihm vereinigt sich die rhetorisch ge-
Kultur seiner Deutschen die natürliche Richtung auf die Mu- schulte Stimme des Zivilisationsliteraten mit der weniger ge-
sik, und in seinem Geiste geschah es, daß nach Melanchthons schulten eines demokratischen Patriotismus, — wenn der Li-
Schulordnung in Sachsen dem Musikunterricht vier Stunden terat es auch nicht just patriotisch meint. »Die Organisation
täglich eingeräumt wurden. Die sächsischen Kinder müssen des Geistes«, ruft er, »vollziehe sich! Und zwar auf Grund der
damals recht gern zur Schule gegangen sein. — Von Luther Solidarität aller Geistigen!«
kam ja auch der Gemeindegesang, das deutsche geistliche Lied, Auf Grund eines handgreiflichen Widersinns also, um un-
welches den gregorianischen Singsang verdrängte, so daß dem sere kritische Meinung zu sagen, — eines Widersinns, durch-
Katholiken ein Spott und Anstoß war, mit was für Lands- schaubar für den bürgerlichsten Menschenverstand. Man findet
knechtsbrummern, buhlerischen Leibstücklein und Kunkelstu- sich, hört man den Politiker von ›Geist‹, nein, vom Geiste
bentrillern die Evangelischen Gott lobten . . . Seit Luthers reden, unbedingt an den wütenden Ausfall Schopenhauers
religiös-musikalischem Wirken aber ist die Musik, die deut- gegen die »plumpe Unverschämtheit« der Hegelianer erinnert,
sche, von Bach bis auf Reger, — ist das punctum contra punctum, welche »in allen ihren Schriften, ohne Umstände und Einfüh-
die große fuga, nicht nur tönender Ausdruck protestantischer rung, ein Langes und Breites über den sogenannten ›Geist‹
Ethik, sondern, mit ihrem gewaltig-vieltönigen Ineinander von reden, sich darauf verlassend, daß man durch ihren Galli-
Eigenwille und Ordnung, Abbild und künstlerisch-spirituelle mathias viel zu sehr verblüfft sei, als daß, wie es Recht wäre,
Spiegelung des deutschen Lebens selbst gewesen. Wie sollte Einer dem Herrn Professor zu Leibe ginge mit der Frage:
der Zivilisationsliterat, der Mann der westlichen ›Rechte‹, ›Geist? Wer ist denn der Bursche? und woher kennt ihr ihn?
dies Wesen nicht hassen? Und was, noch einmal, finge mit ist er nicht etwan bloß eine beliebige und bequeme Hypostase,
seiner ›Lehre‹ ein Musiker an? die ihr nicht ein Mal definiert, geschweige deduziert, oder be-
weist? Glaubt ihr ein Publikum von alten Weibern vor euch
Nein, man darf nicht musikalisch sein, um zu ihrem Adepten zu haben?‹« »Das wäre«, meint Schopenhauer, »die geeignete
zu taugen. Wem Mißklänge wie »entschlossene Menschen- Sprache gegen einen solchen Philosophaster.« Wir sind weit
liebe« oder »Fortschritt des Menschenherzens« das Ohr nicht entfernt, sie uns zu eigen zu machen. Wir können aber un-
zerreißen, der fasse Mut, er kann es in dieser Schule zu etwas möglich umhin, uns zu verwundern und einen gewissen An-
stoß daran zu nehmen, daß die Verkündiger der »Solidarität
bringen, —vorausgesetzt, daß nicht im letzten Augenblick noch
aller Geistigen« so tun, als gäbe es nur eine Art Geistigkeit,
seine Logik ihm einen Strich durch die Rechnung macht und
einen Geist an sich, und es sei der ihre, nämlich der Geist der
ihn an dem Dogma — oder dem Postulat, ich weiß nicht recht,
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Aufklärung und des Fortschritts. Gerade das aber kann nicht sehr er gerade auf ›Menschlichkeit‹ auch immer pochen möge?
ganz richtig sein. War Aristophanes nicht Geist? Aber er war »Ceux qui souffrent«, hat ein französischer Dichter gesagt,
ein Konservativer, ein Obskurantist, wenn man will, ein An- »ont besoin d'avoir raison.« Das ist schön und zart, es legt
hänger der ›alten Götter‹, der Todfeind jenes ›Verführers eine linde Hand auf allen krankhaften Eigensinn. Aber sollte
der Jugend‹, Aufklärers und präexistenten Zivilisationslitera- es nicht weniger kränklich, sollte es nicht sogar anständiger
ten, den man Sokrates nannte. War Dostojewski nicht Geist? sein, zu leiden und dennoch nicht recht haben zu müssen? Ein
Aber obgleich er das »Menschenherz« nicht vernachlässigt hat, Geist, in dem der Wille, der politisch-rechthaberische Wille
war auch er nicht eben genau das, was man einen Fortschritts- das absolute Übergewicht über die Anschauung — die ästhe-
mann nennt. Sind Geist und Fortschritt identisch? Zugegeben, tenhaft ungebundene Anschauung — besäße: wäre ein solcher
daß die Demokratie im Verhältnis zur Monarchie den politi- Geist überhaupt noch ›Geist‹? Ist es geistig, jeden Wider-
schen, wenn auch nicht immer den historischen Fortschritt be- spruch, jeden Zweifel auch nur, als Merkmal der Verworfen-
deutet: ist sie von geistigerer Art als diese? Ist unser Monis- heit zu empfinden, ihn kalt, stolz und reinlich von der eigenen
mus eine geistigere Weltanschauung als die der christlichen Tugendsphäre auszuschließen? Oh, der Politiker ist streng, er
Kirche? Man bestreitet es. Solidarität aller Geistigen! Aber das ist charaktervoll! Er ist weit entfernt von jener laxen Gesit-
gibt es nicht! Sie behaupten oder verlangen, das hieße, die So- tung des Geistes, die auch in dem feindlichen oder zweifelnd
lidarität von Geistern wie Dostojewski und Turgenjew be- widerstrebenden Bruder und Kameraden noch den Kameraden
haupten oder verlangen. Sie haben einander gehaßt. Wo ist und Bruder erblickt. Zwischen sich und jede der ›Lehre‹ wider-
die Solidarität von Geistern wie France und Claudel? Sie müß- strebende Geistigkeit legt er den ganzen Abgrund, der die Tu-
ten einander hassen, wenn sie auch nur Notiz voneinander gend von der Verderbnis trennt. Drüben befinden sich die
nähmen. Geist ist vielleicht nichts als Haß und keineswegs Ästheten, die Selbstsüchtigen, die Egozentriker, die schlechten
Humanität, Solidarität, Fraternität... Bürger; hier aber die Aktivisten, die Manifestanten, die De-
Dennoch, es gibt eine »Solidarität aller Geistigen«, aber sie mokraten, die Prinzipiellen, die Politiker. Reinliche Scheidung
ist nicht geistiger Art, geschweige denn gar, daß sie demokra- ist unerläßlich um der ›Sache‹ willen. Duldsamkeit, Herzens-
tischer Art wäre. Diese Solidarität ist organisch, sie ist konsti- höflichkeit, individuelle Menschenfreundlichkeit wäre Verrat
tutionell. Sie beruht auf der Gleichartigkeit der Daseinsform, an ihr, würde seine Existenz verunreinigen. Seine Achtung vor
einer höheren, zarteren, leidensfähigeren, leidenswilligeren, der Freiheit des Geistes ist politisch bedingt. Seine Solidarität
dem Behagen fremderen Daseinsform als der gemeinen, sie und Brüderlichkeit aller Geistigen ist eine sehr exklusive Soli-
ist Kameradschaft im Adel, Brüderlichkeit im Schmerz. Hier darität und Brüderlichkeit; sie schließt aus, schließt strenge
ist die Quelle aller Duldsamkeit, Gewissenhaftigkeit, aller Her- aus, was nicht er ist, was zweifelnd widerspricht. Nicht auf
zenshöflichkeit und Ritterlichkeit, kurz aller Gesittung des Rang- und Adelsgleichheit, nicht auf das Menschliche kommt
Geistes. Hier ist auch die Quelle jenes Ekels, welcher der tief- es ihm an, sondern auf Meinungsgleichheit, Gesinnungstüch-
ste und unüberwindlichste jedes geistigen Wesens sein sollte, tigkeit. So umgibt er sich mit Subalternen, mit solchen, die
des Ekels vor der Rechthaberei. Daß der Politiker, eben inso- zwar nicht seinesgleichen sind, aber der gleichen Gesinnung
fern er Politiker ist, diesen Ekel nicht kennt, oder ihn sich um huldigen, und von denen er daher keinen Widerspruch, keine
der ›guten Sache‹ willen gewaltsam abgewöhnt hat, — sollte Störung und Beleidigung zu besorgen hat. Il a besoin d'avoir
das nicht ein Einwand gegen seine Menschlichkeit sein, so raison. Auf diese Weise aber wird vollends das Gewissen ein-

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geschläfert, der Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit verküm- dort welches gab. Gibt es im Deportationssibirien kein Glück?
mert, und rasch ist jener Grad von Entsittigung und Bigotterie Ich habe das ›Totenhaus‹ immer als eine Lebensform emp-
erreicht, wo allem, was nicht zur ›Lehre‹ schwört, die Wahl funden, in Gottes Namen, als eine Lebensform in dem Sinne,
gelassen wird, schurkisch oder idiotisch zu heißen. Dies ist wie europäische Zuchthäuser oder auch Kasernen es nicht sind,
die Geistesfreiheit des Politikers. Dies die »Solidarität aller — Dostojewski selbst hat es zweifellos so empfunden, denn
Geistigen«, die er meint. Dies steife und kalte Pharisäertum weder als er diese Lebensform erduldete, noch später, ist je
predigt Menschlichkeit... ein Wort der Anklage oder der Revolte über seine Lippen ge-
Aber geben wir seine Prämisse zu. Sprechen wir das Credo kommen: Es machte ihn ungeduldig, wenn man ihm später
quia absurdum und anerkennen wir das Dogma von der gei- von den »Leiden« sprach, die er zu ertragen gehabt habe.
stigen Solidarität aller Geistigen: Wie steht es dann um die »Was denn für Leiden . . . « , sagte er schroff abbrechend und
Schlußfolgerung, Schlußforderung, welche der politische Pro- begann über Gleichgültigkeiten zu scherzen, — Strachow er-
phet daraus ableitet? Um die Folgerung und Forderung näm- zählt es. — Eine Lebensform, sage ich, und jede überhaupt
lich von der Organisation des Geistes zum Zwecke der Macht- menschenmögliche Lebensform ist zuletzt etwas Akzeptables,
ergreifung? Schlecht, schlecht! Es hat etwas auf sich mit der das Leben füllt sie aus, wie es ist, in seiner Mischung, seiner
Antithese von Macht und Geist: wenn wir ihretwegen den Relativität von Pein und Behagen, Lust und Qual . . . Es ist
Politiker beim Worte nehmen, so geschieht es nicht, um ihn einwandfrei zutreffend, daß schon ein Gedanke wie dieser
auf einen äußerlich logischen Widerspruch, einen Scheinwider- ein nur durch soziale Gunst ermöglichter Luxus ist, und daß
spruch festzunageln. Weiß er denn nicht, daß ›der Geist‹ her- man, um Lust und Kräfte für ihn zu haben, ein warmes Früh-
unterkommt, sobald er zur Macht gelangt? Daß er es desto stück im Leibe haben müsse. Aber verunglimpft man die
schneller und gründlicher tut, je mehr Macht er erlangt? Nicht Menschheit, indem man feststellt, daß durchaus nicht nur ihr
nötig, tief in die Geschichte zu tauchen! Völlig genügend, das hungernder Teil, daß die gewaltig überwiegende Mehrzahl al-
Schicksal des Geistes ins Auge zu fassen, den der Politiker ganz ler Menschen unter dem ›Glücke‹ Fressen und Saufen ver-
offenbar, ganz zweifellos meint, wenn er vom ›Geiste‹ spricht: steht, — oder, um es höflicher und wissenschaftlicher zu sagen:
das Schicksal der Aufklärung. Was will alle Aufklärung? Die »den größten Genuß der wirtschaftlichen Güter«? So ist es
ältere, die neue und die allerneueste? Nun, das Glück! Das ganz ohne allen Zweifel. Dies aber hat zur Folge, daß alle
berühmte »größtmögliche Glück der größtmöglichen Masse«. Aufklärungsmoral, jede Lehre vom ›wahren Nutzen‹ des Men-
Sie ist sozialer Eudämonismus, Nützlichkeitsmoral, die Lehre schen, und sei sie ursprünglich auch noch so geistiger Art, be-
vom ›wahren Vorteil‹ des Menschen. Etwas anderes doch stimme sie des Menschen wahren Vorteil anfänglich sogar als
nicht. Was aber ist das Glück? Das weiß niemand, und nie- ›Leben in Gott‹, unbedingt in demselben Maße herunter-
mand kann das Glück gemeingültig bestimmen. Das Glück ist kommt, das heißt sich materialisiert, verwirtschaftlicht und ent-
etwas ganz und gar Relatives und Persönliches; es ist ›in euch‹ geistigt, als sie zur Macht gelangt, vom Sinn der Menge Be-
oder es ist nicht in euch, aber daß es von außen kommen könne, sitz ergreift; und daß andererseits die Menschenmassen, die
wird bezweifelt. Ja, es wird bezweifelt, daß soziale Umstände ihr huldigen, unbedingt immer begehrlicher, malkontenter,
das Glück zu fördern oder hintanzuhalten vermögen, daß der dümmer und irreligiöser werden. Irreligiöser, ja. Der Libera-
soziale Fortschritt die Summe des Glücks auf Erden vergrößert lismus irrt, wenn er die Religion von der Politik trennen zu
hat. Gab es im Ghetto kein Glück? Ich bin überzeugt, daß es können glaubt: Ohne Religion ist Politik, innere, das heißt

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Sozialpolitik auf die Dauer unmöglich. Denn der Mensch ist nicht, daß seiner Herrschaft Schranken gesetzt werden; es müßte
so geartet, daß er, metaphysischer Religion verlustig gegan- sich selbst aufgeben, wollte es irgendeine Schlußfolgerung
gen, das Religiöse ins Soziale verlegt, das soziale Leben zu scheuen. Laßt es das Reich eines individualistischen Massen-
religiöser Weihe erhebt, was entweder zu einer kulturwidri- sozialismus verwirklicht haben, — es wird revoltieren gegen
gen sozialen Wehleidigkeit, oder, da der soziale Antagonismus den Druck und Zwang, den auch dann noch — und gerade
unaufhebbar ist und das verheißene Glück sich nicht einstellt, dann — das Einzelwesen zu erleiden haben wird, und es wird
zur Verewigung des Nützlichkeitshaders und zur Verzweiflung zum Anarchismus fortschreiten, zum »autonomen, aus aller
führt. Religiosität ist mit sozialem Gewissen, sozialem Rein- Überlieferung gelösten Individuum«: mit dem Prinzip der
lichkeitsbedürfnis sehr wohl vereinbar. Aber sie beginnt erst Aufklärung ist auf die Dauer kein Staatswesen vereinbar, und
in dem Augenblick, wo die Überschätzung des sozialen Lebens indem es sich logisch erfüllt, führt es zur Zerstörung der Be-
aufhört, das heißt: mit der Einsicht, daß die Versöhnung an- dingungen alles Kulturlebens.
derswo zu suchen ist als in der sozialen Sphäre; und es ist aus Ein Glück nur, daß der Geist geschwinder ist als die Wirk-
mit ihr, sie flieht und läßt nichts als verzweifelten Hader zu- lichkeit; daß er nicht erst zu verwirklichen braucht, um zu er-
rück, wo jene Überschätzung sich der Geister bemächtigt, wo kennen. Ein Franzose, Sorel, begriff beizeiten, was anderen
die unbedingte Apotheose des sozialen Lebens beginnt. erst bei Ausbruch des Krieges sich offenbarte: daß nämlich die
So also steht es um alle antimetaphysische Aufklärung: Sie parlamentarische Arbeiterbewegung den Gegenwartsstaat nur
möge noch so sehr ›Geist‹ sein im Anfang, sie kommt herun- festigen kann, ihn tatsächlich nur gefestigt hat. Er begriff die
ter, kommt bis zum Monismus und noch viel tiefer herunter, Gefahr der Versöhnung, der Verderbnis des ›Geistes‹ durch
indem sie zur ›Macht‹ gelangt, den Durchschnitt erobert. Denn die politische Machteroberung, er nahm gleichzeitig die Er-
»quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu«. kenntnis vom tyrannischen Einschlag des Sozialismus vorweg
Voltaire, meine Herren Demokraten! Solange man mir aber und begründete, indem er unpolitisch-anarchistischen Klassen-
den wesentlichen Unterschied zwischen dem Geist der »ent- kampf zu lehren begann, den sogenannten revolutionären
schlossenen Menschenliebe« und dem der utilitaristischen Auf- Syndikalismus‹. Ich bitte um Aufmerksamkeit! Diese letzte
klärungsmoral nicht zeigt, welcher nach Macht eigentlich nicht Konsequenz des Aufklärungsprinzips, dieser Schritt über den
mehr zu schreien brauchte, da er es nur allzu weit in ihr und radikalen Sozialismus hinaus, bedeutete zugleich den ersten
in der ›Demokratisierung‹ bereits gebracht hat, — solange Schritt zur Reaktion. Denn wie lautet der Titel von Sorels
finde ich den Anschluß nicht, Gott helfe mir; und es läßt mich Programmwerk? Er lautet: ›Les illusions du progrès‹. Nun,
erstaunen, wie man es wagen mag, diesen Geist als ›den‹ das könnte genügen. Aber was steht darin? Es steht darin, daß
Geist neuerdings auszurufen und ausgerechnet in seinem Na- die Demokratie zur Vernichtung der Größe und zur Herrschaft
men die Solidarität aller Geistigen zu proklamieren. der Mittelmäßigkeit führt; daß sie sich außerdem durch die
Das ›Glück‹ ist Chimäre. Nie wird die Harmonie des In- Aufrichtung einer unvermeidlichen zentralistischen Autorität
dividualinteresses mit dem der Gemeinschaft sich hernieder- selbst illusorisch mache. Es steht mehr darin! Es steht darin,
senken, die ungleiche Verteilung des Nutzens niemals enden, daß man jedes Band zwischen dem Volke und der Literatur des
und warum die einen immer Herren, die anderen Knechte sein achtzehnten Jahrhunderts zerreißen müsse, um die Gefahr sei-
müssen, das erklärst du den Menschen nicht. Das Prinzip de- ner Verbürgerlichung abzuwenden. Der Mann war reif. Es
mokratischer Aufklärung aber, einmal inthronisiert, duldet kam der Tag, der kommen mußte und an dem er die Unmög-
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lichkeit auch seines ›Syndikalismus‹ (welcher der Führer noch fall ist von Entwicklung sehr schwer zu unterscheiden. Auch
weniger als die bisherige Demokratie entbehren könnte) be- Begriffe entwickeln sich: der Begriff der Revolution zum Bei-
griff, sie mit der ganzen ihm innewohnenden vehementen Ehr- spiel. Für alle Zeiten steht in die Erztafel der Geschichte ge-
lichkeit anerkannte und — zur monarchistischen Partei über- graben, was ›Le Temps‹ eines Tages über die Einkommen-
trat. Auch zur Religion? Zu einer gelasseneren Einschätzung steuer schrieb. »Gegen sie«, schrieb er, »haben unsere Väter
des sozialen Lebens und zu der Erkenntnis, daß Politik ohne jene Revolution gemacht, deren unsterbliche Ehre es ist, der
metaphysische Religiosität unmöglich ist? Ich weiß es nicht, Welt den Geist der Freiheit gebracht zu haben.« — Da wußten
doch ist es wahrscheinlich. Aber seht ihr den Kreis? Vom äußer- wir es, was ›der Geist‹ unter Freiheit versteht, wenn die
sten Radikalismus zum äußersten Konservatismus ist nur ein Macht sein geworden.
Schritt. Der Menschengeist aber will nicht umkehren. Wer syn-
dikalistischer Anarchist gewesen ist, kann nicht mehr Sozialist ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹? Man wird das Wort nur
werden. Er wird den Schritt ›vorwärts‹ tun, dorthin, wo — in im uneigentlichen Sinne zutreffend finden. So sehr aber der
Frankreich — die katholische Kirche steht. Augenschein dagegen spreche, — ich bin nicht Partei, wahrhaf-
Im reinen Reiche der Theorie ist freilich diese Gefahr be- tig, ich bekämpfe nicht die Demokratie. Ich war zwanzig Jahre
deutender als in dem der Tat. Der homme d'action mag der alt, als ich zum ersten Male die Sätze las: »Wenn es sich nun
Korruption des Geistes durch die Macht, seiner eigenen Kor- einmal bei aller Politik darum handelt, möglichst Vielen das
ruption wohl nicht einmal gewahr werden. Man kennt die Leben erträglich zu machen, so mögen immerhin diese Mög-
Geschichte des Herrn Briand? »Tut nichts, könnt's nochmals lichst-Vielen auch bestimmen, was sie unter einem erträgli-
hören«, sagt Pedro in der ›Preciosa‹. Der Advokat war neun- chen Leben verstehen; trauen sie sich den Intellekt zu, auch
unddreißig Jahre alt, als er den wegen antimilitaristischer Auf- die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden, was hülfe es
reizung angeklagten Herrn Hervé forensisch verteidigte. Da- daran zu zweifeln? Sie wollen nun einmal ihres Glücks und
mals sagte er: »Wie Hervé bin ich der Meinung, daß wir uns Unglücks eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der
nicht mit einer eitlen Kritik der stehenden Heere begnügen Selbstbestimmung, der Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, wel-
dürfen, sondern, um die Plage des Militarismus auszurotten, che ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der Tat das
das Übel an der Wurzel angreifen müssen, ich will sagen: an Leben so angenehm macht, daß sie die fatalen Folgen ihrer Be-
dem, was der Bourgeois das Vaterland nennt.« Das war ›der schränktheit gern ertragen: so ist wenig einzuwenden.« Das
Geist‹! Da aber Herr Briand ein begabter Mann war, so wurde steht in ›Menschliches, Allzumenschliches‹, und damals waren
er vier Jahre später Minister des Unterrichts, bald darauf Ju- es eben nur gute und kluge Sätze, ohne starke Aktualität, de-
stizminister, und als er nun gar Ministerpräsident gewor- nen man ihrer anmutig-vornehmen Resignation halber schü-
den .. . aber jedermann, der die französischen Parlamentsbe- lerhaft zustimmte. Sie haben in mir fortgelebt, ohne Zweifel,
richte als unterhaltende Lektüre schätzt, weiß gut genug, mit während ich mich um andere Dinge kümmerte, und da der
welcher eisernen Faust er da, »was der Bourgeois das Vater- Vierzigjährige sie, unter bedrängenden Umständen, wieder auf-
land nennt«, gegen den inneren Feind verteidigte, — gegen sucht, findet er, daß sie sein Verhältnis zum politischen Pro-
den inneren vorderhand! Kam ihm auch nur die Ahnung sei- blem auch heute aufs kürzeste und vollkommenste beschrei-
nes Verfalls? Nein, wahrscheinlich. Denn man verrät nicht die ben. Oder doch nicht so ganz? Kann unser Verhalten zu dem,
Revolution, indem man sich als Bourgeois gebärdet, und Ver- was unserer Einsicht nach mit Notwendigkeit kommt, wirklich
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nur negativer, rein resignierter Natur sein? Ist es nicht posi- kratischen Gedankens systematisiert hat und nun als Recht-
tiv, gewinnt es nicht einen Anflug von Farbe und Wärme we- haber, Rechthabender lebt. Was mir Galle macht und wogegen
nigstens insofern, als wir die Unvernunft mißbilligen, die ich mich zur Wehr setze, ist die gefestigte Tugend, die selbst-
daran denkt, das Notwendige zu verhindern? Ereignisse wie gerechte und tyrannische Hartstirnigkeit des Zivilisationslite-
die heutigen verstärken freilich jede Tendenz, und es kann raten, welcher den Grund gefunden hat, der ewig seinen An-
nicht fehlen, es soll gar nicht fehlen, daß der Krieg auch den ker hält, und verkündigt, daß jedes Talent verdorren müsse,
konservativ-aufhaltenden Mächten, allem Irrationalismus, al- das sich nicht eilends demokratisch politisiert, — sein Unter-
ler ›Reaktion‹ neuen Geist, neues Blut reichlich zuführen wird. fangen also, Geist und Kunst auf eine demokratische Heils-
Daß er aber für Deutschland einen mächtigen Schritt vorwärts lehre zu verpflichten. Was aber nicht nur mein geistiges Frei-
auf dem Wege zur Demokratie vor allen Dingen bedeuten heits- und Anstandsbedürfnis verletzt, sondern namentlich
werde, das wußte ich am Tage seines Ausbruchs, und ich sprach mein natürliches Gerechtigkeitsgefühl bis auf den Grund er-
es aus, unter dem bitteren Widerspruch des politischen Litera- bittert, das ist die ›Objektivität‹, das heißt: die verliebte Al-
ten, der keine anderen als die finstersten Erwartungen daran bernheit, womit dieser Allzudeutsche den feindlichen Zivilisa-
knüpfen wollte. tionen gegen sein Land und Volk moralisch recht gibt; es ist
Wie die politische Ordnung Deutschlands seit dem patriar- seine wahrhaft schamlose Lehre vom »höheren moralischen
chalischen Polizei- und Untertanenstaat des siebzehnten Jahr- Niveau der Demokratie«, diese Lehre, aus der die versteckte
hunderts viele und große Wandlungen durchlaufen hat, so ist oder offene Folgerung zu ziehen er nicht zögert, daß Deutsch-
es sicher, daß sie nach den Geboten der Zeit und der Entwick- land, eben weil es nicht demokratisch gewesen, die Schuld am
lung weiterhin fortschreiten muß. Wie irgend jemand bin ich Kriege trage, daß durch den Krieg, durch die Niederlage sein
durchdrungen davon, daß vieles in unserer staatlichen Ord- Herrenwahn, sein roher Aristokratismus Lügen gestraft, ge-
nung mit der Zeit zur Unordnung geworden, nicht mehr zu züchtigt, gebrochen, zur Vernunft und Tugend— der anderen —
halten, sondern richtigzustellen ist; daß aus so vielen einge- gebracht werden müsse und werde. Wenn er den Krieg für
tretenen Veränderungen sozialer, wirtschaftlicher, weltpoliti- eine Züchtigung, ja eine Selbstzüchtigung aller blutenden Völ-
ker erklärte; wenn er einen unbewußten und religiösen Ver-
scher Natur unabweisliche Folgerungen zu ziehen sind, aus den
such ihrer aller darin erblicken wollte, für die Sünden und
demokratischen Erziehungsinstitutionen der allgemeinen Schul-
Laster des fetten Friedens Buße zu tun und sich zu reinigen, —
und Wehrpflicht Rechte sich ergeben, Selbst- und Mitbestim-
ich wollte schweigen, ich wollte ihm sogar zustimmen. Wer
mungsrechte des Volkes, die einer politisch-ordnungsmäßigen
hätte nicht Stunden, wo es ihm überhaupt unmöglich ist, die
Ausprägung bedürfen, und daß der Staat zu Falle kommen
einander zerfleischenden Nationen als Feinde zu sehen? Wo
müßte, der sich sperrte, die Wirklichkeit anzuerkennen. Ich
er zu begreifen glaubt, daß es sich bei alldem um eine im
wiederhole mir: Nicht die kommende Demokratie, die hoffent-
Grunde gemeinsame Aktion Europas handelt, — um einen ge-
lich in leidlich deutscher, in nicht allzu humbughafter Gestalt
meinsamen, obwohl vielleicht mit höchst untauglichen Mitteln
erscheinen wird, nicht die Verwirklichung irgendeines deut-
unternommenen Versuch zur Erneuerung der Welt und der
schen Volksstaates, der ja, ruhig überlegt, weder ein Pöbel-
Seele? Was Dostojewski von seinem geliebten Volke sagte:
staat noch ein Literatenstaat wird sein müssen, ist es, wo-
»Und noch vor kurzem hat es sich, als es vor Sünde, Trunk-
gegen ich mich auflehne. Was mich empört, ist die Erscheinung sucht und Sittenlosigkeit fast schon zu verfaulen schien, in
des geistigen Satisfait, der sich die Welt im Zeichen des demo-
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neuer geistiger Freude und Frische erhoben und den letzten Nun, Herren haben wohl auch die anderen, wie es scheint.
Krieg für den Glauben Christi, den die Muselmänner mit Füßen »Ihr ahnt die Feigheit euerer Herren nicht«, läßt Rolland sei-
traten, ausgefochten. Es nahm den Krieg an, es griff gleichsam nen Christophe den Franzosen sagen. »Ihr laßt euch unter-
nach ihm, wie nach einer Möglichkeit, sich durch Opfer von drücken, beschimpfen, von einer Handvoll Schelmen mit Füßen
den Sünden und Sittenlosigkeiten zu reinigen; und es sandte treten.« Aber diese Schelme und Herren sind demokratische
seine Söhne hin, zu kämpfen und, wenn es sein mußte, zu fal- Schelme und Herren, und darum mögen sie immerhin Schelme
len für die heilige Sache, und es schrie nicht, daß der Rubel sein, — so rechte »Herren« sind sie wohl eigentlich nicht; wäh-
sinke und der Preis für Lebensmittel steige . . .«: gilt das nicht rend umgekehrt die Deutschen möglicherweise mehr Herren
ein wenig, gilt es nicht neben anderem gar sehr für jede krie- als Schelme sind . . . Genaugenommen aber hat es mit ihnen
gerische Erhebung eines jeden Volkes und auch für diese von eine noch andere Bewandtnis: nämlich die, daß der Zivilisa-
Philanthropen durchaus als schimpflichen ›Rückfall‹ bejam- tionsliterat nicht nur Prophet, sondern auch Künstler und als
merte Gesamterhebung? solcher ein ausgemacht verspielter Kopf ist, der sich an Miche-
Wie aber meint der deutsche Zivilisationsliterat das Wort lets Revolutionsgeschichte überlesen hat, wie Don Quijote an
von der »Züchtigung«? — »Wenn die deutschen Arbeiter die seinen Ritterbüchern, und nun gegen Schafherden und Wind-
Militär- und Junkerpartei gestürzt, wenn sie den Kaiser, die mühlen ficht, die er für Ritter und Riesen — wohl letzten Ern-
von Bernhardi, von Tirpitz und die übrigen dieser Kaste in stes nicht hält, aber des Hochgefühls halber zu halten sich ein-
einer langen Reihe Unter den Linden aufgehängt, wenn sie redet. Wir wissen längst, daß er geistig in einer hundertdreißig
tatsächlich den Anfang zur Errichtung einer demokratischen Jahre zurückliegenden Epoche, der Französischen Revolution,
Republik gemacht haben werden, dann werden wir annehmen, lebt und webt; die Folge ist, daß er auf eine vollkommen ver-
daß sie den Beweis ihres Wunsches und ihrer Absicht geliefert spielte Weise die Verhältnisse von damals in das gegenwärtige
haben, die verbrecherischen Urheber des Krieges zu züchtigen.« Deutschland hineinträgt, hineinphantasiert. Da er die vorrevo-
— Genau zu sein: nicht unser Zivilisationsliterat, der franzö- lutionären Seigneurs von ganzem Herzen haßt, sie wie ein
sische Sozialdemokrat Herr Hervé war es, der das schrieb. Sansculotte von 1790 haßt und sie nicht nur historisch, son-
Aber es läuft auf eins hinaus. Der Zivilisationsliterat sagt es dern wie etwas Wirklich-Gegenwärtiges rednerisch bekämpfen
genau ebenso: nicht nur dem Sinne nach, auch mit denselben möchte, so übersetzt er sie ins Deutsche, wie er es mit allen
Worten, in demselben wüsten und abgeschmackten Sansculotten- Dingen zu machen gewöhnt ist, und nennt sie ›die Herren‹.
jargon. Der Dünkel, mit dem die kelto-romanische Demo- Wir haben Herren, es sind die Militärs, die Säbel-Junker,
kratie, einschließlich der angelsächsischen, über deutsche Ver- denen in Deutschland ›die Macht‹ geblieben, die die Macht
hältnisse ›urteilt‹, mit der sie darauf besteht, Deutschland als solche und im Gegensatz zum ›Geist‹ repräsentieren; und
›innerlich zu bessern‹, ist infantil, haarsträubend, einfältig von der Verworfenheit dieser Herren- und Kriegerkaste macht
bis zum Grotesken. Nie hat er dem Zivilisationsliteraten auch man sich, ohne in die Schule des Zivilisationsliteraten gegan-
nur ein Lächeln abgewonnen, geschweige daß er ihm je das gen zu sein, überhaupt keine Vorstellung. Sie haben in vierzig
Blut in die Schläfen getrieben hätte. Er ermutigt ihn, er Friedensjahren zwar nichts ›gewagt‹ — das heißt: keinen Krieg
stimmt ihm zu, in seinem eigenen herzerhebenden Rotwelsch angefangen — und nichts geleistet, aber sie haben dafür den
redet er ihm nach dem frechen Maul. Denn die Demokratie hat Klassenkampf, den chronischen Bürgerkrieg unterhalten, haben
»das höhere moralische Niveau«. Und wir, wir haben »Herren«. internationale Krisen bewirkt, man wußte selten, ob aus Raf-

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finement oder Talentlosigkeit, und aus der Uneinigkeit der Na- gestoßen worden und sehne sich danach, durch die Zivilisations-
tion wie aus ihren Ängsten Vorteil für sich gezogen. Die Nation heere von diesen ›Herren‹ befreit zu werden, haben sich durch
ist ihnen nichts, sie ist der Rohstoff ihrer Herrschaft, und kah- ein paar Kriegsmonate eines Besseren belehren lassen. Sie
ler Eigennutz nur hat sie gehindert, uns, den Rohstoff, völlig wissen längst, jedes einzelne, daß sie es in diesem Kriege mit
zugrunde zu richten. Ja, das sind Herren — ähnliche sah man Deutschland selbst, dem Volke als Inbegriff, mit der Nation zu
selten. Wenn aber das deutsche Volk sie ertrug, wenn es tun haben und nicht mit irgendwelchen spukhaften ›Herren‹
(wörtlich) »menschenalterlange Demütigungen von ihnen des Landes. Ein gegen den herrschenden Geist seiner Heimat
hingenommen hat«, so liegt das daran, daß (und hier wird die aufsässig gestimmter Franzose sagte seinen bourgeoisen Lands-
Literatenpsychologie ›tief‹, — sie findet sich immer ›tief‹, leuten, sie verstünden nichts von »diesem heroischen Volk«.
wenn sie bis zum Geschlechte vorgedrungen ist und ein Ge- Ein anderer, der Exminister Herr Hanotaux, sprach in der Zei-
mengsei aus Nietzsche und Krafft-Ebing zutage fördert) — daß tung von »diesem furchtbaren Volk«, das »von Weltherrschaft
also die Menschenfeindlichkeit der Tyrannen »sich an alle geträumt« habe, — und sollte er darin geirrt haben, so irrte er
perversen Instinkte wendet«. Man sieht, es handelt sich so ein- doch auf eine richtigere Weise als der deutsche Zivilisations-
fach als scheußlich um ein Wechselspiel von Sadismus einer- literat, welcher mit der ganzen Glut seines Talentes an eine
seits und Masochismus andererseits. Aus Perversität ist dem Fremdherrschaft von Herren in Deutschland glaubt, unter der
Volke unter seinen ›Herren‹ sogar wohl geworden, und die das Volk wollüstig knirsche und ächze; und da er seinen lite-
›Anstrengung‹ (l'effort) gegen die ›Herren‹ wäre nachgerade rarischen Hohn und Haß in so leidenschaftlichem Rhythmus
eine ›Anstrengung‹ der Nation gegen sich selbst. Immerhin, zu sagen weiß, so sollen wir ihm glauben, daß ein Volk von
die gewaltigen Affären von Köpenick und Zabern haben trotz masochistischen Knechten die Taten dieses Krieges verrichtet
allem Masochismus einen Sturm gegen die Herren im deut- hat. Ein wirklicher Politiker, das heißt ein Politiker, der sich
schen Volke erregt, jenen Sturm, »der das Tiefste aufrührt«, um die Wirklichkeit ein bißchen kümmert und die Politik nicht
— und wie nennt man denn also, fragt der Zivilisationsliterat, als Rauschmittel und wohlfeile Gelegenheit zur Leidenschaft
eine Herrschaft, die den Willen der gesamten Nation gegen betrachtet, der demokratische Abgeordnete Konrad Haußmann,
sich hat? Fremdherrschaft nennt man sie, antwortet er schlag- erklärte in einer demokratischen Zeitschrift: »Keine Spur«,
fertig; und die Nation hätte sich selbst aufgegeben und den sagte er, »keine Spur eines Gegensatzes besteht zwischen Heer
Zusammenbruch verdient, wenn sie endgültig vor der Gewalt und Volk in dem angeblich militärischen Deutschland. Das
verstummte... Feldgrau hat das ›zweierlei Tuch‹ v e r d r ä n g t . . . Die Leistungen
Dieser dionysische Galimathias — warum ich ihn diony- der Reserve, der Landwehr, des Landsturms stellen sich bei
sisch nenne, werde ich bestimmt noch erklären — ward vor Mannschaft und Offizierkorps der Linie würdig zur Seite.«
dem Kriege zum besten gegeben, doch wäre es überflüssige Das ist ohne Zweifel Philisterei, aber es ist die Wahrheit;
Billigkeit, dies zu betonen: Man würde irren, indem man an- während die Gesänge des Zivilisationsliteraten zwar Talent
nähme, der Literat habe sich in seiner Anschauung Deutsch- und Leidenschaft für sich haben, der Wahrheit aber, die in
lands durch den Krieg im geringsten korrigieren lassen. Wie politischen Dingen, wenn auch nicht in expressionistischer
er im Mai 1914 sprach, so würde er heute sprechen, so spricht Kunst, am Ende dies und das mit der Wirklichkeit zu tun
er heute. Fremde Völker, die ernstlich geglaubt hatten, das haben muß, sehr wenig Ehre erweisen. Wie immer die Nation
deutsche sei durch die Faust seiner Herren in den Krieg sich zu ihren Herren verhalten haben möge: den ›Zusammen-

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bruch‹, den zu prophezeien der Zivilisationsliterat nicht weit und vielleicht also täte man besser, sogleich sich selbst zu
entfernt war, scheint sie in der Tat nicht verdient zu haben, schelten. Nachdem man es getan, mag man sich die bösartige
da sie heute eine Widerstandskraft an den Tag legt, für die Vertracktheit der außenpolitischen Aufgabe entschuldigend zu-
mechanistische Erklärungen nicht ausreichen und über die ge- gute halten, vor die man sich, all in seinem Ungeschick, seit
bührend zu staunen die Welt noch nicht gelernt hat. Eines man ein Reich ist, zum Überflusse gestellt sieht — und mag
Tages wird sie sehend werden; und wie der Krieg nun enden sich eben dadurch angetrieben fühlen, seinen eingeborenen
möge, — eine deutsche Niederlage in irgendwelchem morali- Sinn für Tüchtigkeit und Leistung vor allen Dingen in Fragen
schen Sinn kann er längst nicht mehr bringen. Welche Markt- der Führung walten zu lassen und auf bessere, sicherere Metho-
schreierei hätte für das Recht dieses Volkes, teilzuhaben an der den der Auslese für alle Staatsämter zu sinnen. Das wäre gut
Verwaltung der Erde, mächtiger werben können, als seine und recht. Aber ich verabscheue das Beschuldigen, das In-die-
Leistung von heute? Wenn aber das Gelächter über den Possen- Wüste-Schicken, das kannegießerische Hadern mit den ›Ver-
streich von Köpenick, wenn unser bürgerlicher Unwille über antwortlichen‹, den romanisch-gassenpolitischen Kritizismus
die Händel von Saverne »das Tiefste« gewesen wäre, was es des ›Piove? Abbasso il governo!‹ Die Führer Deutschlands
im deutschen Volke »aufzurühren« gibt, dann wäre es weniger mögen das Reichsgeschäft sehr mangelhaft besorgt haben; sie
tief, als man bisher geglaubt hat. Das Tiefste im Menschen, mögen es an allem Takt in der Behandlung der Fremden haben
meine ich, vermag Politisches überhaupt nicht aufzurühren. fehlen lassen, schädliche Worte gebraucht, schädliche Gesten
Das Tiefste eines Volks aber wird aufgerührt durch einen vollführt und vor allen Dingen die verhängnisvolle Vorstellung
geistigen und physischen Entscheidungskampf wie den heuti- erweckt haben, Deutschland sei fett und feig geworden und
gen — und durch keine Affäre Zabern. werde, wenn es sich nur einem starken Gegnerbund gegen-
Eine Apologie der politischen Führer Deutschlands zu lie- übersähe, den Krieg unter keinen Umständen annehmen: man
fern lockt mich so wenig, als dergleichen meines Amtes ist. sagt das alles, und es wird wohl wahr sein. Im wesentlichen
Mit der Gerechtigkeit immerhin glaube ich auch in diesem aber, in der Hauptsache, was Richtung und Ziel betrifft, haben
Punkte auf besserem Fuße zu stehen als die, deren politisches sie Deutschland so geführt, wie es geführt sein wollte, nämlich
Feldgeschrei sie bildet. Daß unsere Führer und Herren denen auf dem imperialen Wege, — welcher, wenn nicht ein neuer
der feindlichen Völker menschlich unterlegen gewesen sein und gesteigerter Bismarck ihn wies, und selbst dann vielleicht,
sollen, glaube ich nicht, und zwar eben darum nicht, weil sie zum Zusammenstoß mit den Inhabern ›älterer Rechte‹ führen
sich ihnen, wie die furchtbare Lage Deutschlands vom Sommer mußte. Es wäre albern, sich über das Maß von Aggressivität
1914 erwies, politisch so sehr unterlegen gezeigt haben. Daß zu täuschen, das in dem Willen der Nation zu solchem Ge-
diese Unterlegenheit in der Tat bestand, ist mir überdies führtwerden lag. Man soll diese Aggressivität nicht leugnen,
a priori wahrscheinlich: denn zuletzt hat ein Volk die Führer, nicht tun, als habe das deutsche Volk sich nichts Besseres ge-
die es ›verdient‹, die es normalerweise hervorzubringen ver- wünscht, als in zufriedener Enge seinen Kohl zu bauen, und
mag; und wie sehr auch immer diese Kriegsjahre das deutsche nicht schreiben, was ich wörtlich gelesen habe: die vorherr-
Volk ›politisiert‹ haben mögen, — bis 1914 galt es für ein schende Empfindung dieses deutschen Volkes bei Ausbruch des
politisch schlecht veranlagtes Volk und wandte nicht viel da- Krieges sei »Entsetzen über die bevorstehenden Greuel« ge-
gegen ein. Führer, meine ich, sind als Exponenten zu betrach- wesen. Wir wissen es anders. Was nach dem Unfall von Echter-
ten; man schilt im Grunde sich selbst, indem man sie schilt, dingen geschah, war ein starkes Zeichen. Und der unsägliche
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Aufstand vom Sommer 1914, er war ein Aufstand des Glau- lehnung mit den Führern gehadert, die zögerten, ihn walten
bens, der grenzenlosen Bereitschaft... Not? O ja, sie war das zu lassen. Der demokratischen Rechtgläubigkeit der Feinde,
Pathos des Augenblicks. Aber Not ist, wie wir schon Herrn für die ›das Volk‹ natürlich immer ›gut‹ sein muß, wie auch
Rolland zu verstehen gaben, weder dürre ›nécessité‹ noch ihrer politischen Schlauheit steht es an, zwischen dem braven
Desperado-Verwegenheit; Not ist der feierliche Name eines deutschen Volk und seinen verabscheuenswürdigen ›Herren‹
schöpferischen Affektes, in welchem Elemente der Verteidi- zu unterscheiden; nicht uns. Und wie der Krieg nun ausgehen
gung sich gar sehr mit solchen des Angriffs mischen. So steht möge: den deutschen Anteil der ›Schuld‹ daran wollen wir
ein Volk nicht auf, so reißt nicht millionenweis seine Jugend, auf uns nehmen, jeder einzelne, eine Handvoll Pazifisten und
bevor man sie ruft, die Waffen an sich, das nichts, auf keinen Literaturheilige etwa ausgenommen, — und nicht irgendwelche
Fall etwas anderes als den Frieden wollte, und das von arg- Zufallsfunktionäre zu Sündenböcken machen.
listigen ›Herren‹ zu Rechtsbruch und Untat verführt wird.
Unbeschadet seiner ästhetischen Anziehungskraft weist das
Das Weltvolk des Geistes, zu überschwenglicher Leibeskraft
grasse Gemälde, das der Zivilisationsliterat vom Seelenleben
erstarkt, hatte einen langen Trunk am Quell des Ehrgeizes
der deutschen ›Herren‹ entwirft, unleugbare Dunkelheiten
getan; es wollte ein Weltvolk, so Gott es dazu berief, das
und Widersprüche auf. Vierzig Jahre lang haben sie nichts
Weltvolk der Wirklichkeit werden, — wenn es sein mußte (und
gewagt, das heißt mit dem Kriege nicht ernst gemacht, son-
offenbar mußte es sein) vermittelst gewaltsamen Durchbruchs.
dern, indem sie internationale Krisen brauten, nur mit ihm
Hatten nicht Spanien, Frankreich, England ihre Welt- und
gedroht und das Volk geängstigt, um es bequemer nieder-
Ehrenstunde gehabt? Als der Krieg entfesselt war, glaubte
halten zu können, die Ausgepichten. So lasen wir's vor dem
Deutschland inbrünstig die seine gekommen, die Stunde der
Kriege. Kaum aber war er entbrannt, so hieß es, sie hätten ihn
Heimsuchung und der Größe. Der lügt, der es heute nicht
angezettelt, und zwar zu demselben Behufe. Denn das stehe
wahrhaben will und von »Entsetzen über die bevorstehenden
fest, daß niemals Herren ihrer Art, Henker der Demokratie
Greuel« schwatzt. Das deutsche Volk, als Volk durchaus heroisch
nämlich, in einen Krieg gezogen seien, den sie nicht zuerst zur
gestimmt, bereit, Schuld auf sich zu nehmen und ungeneigt zu
Unterdrückung des eigenen Volkes angezettelt hätten. Wie,
moralischer Duckmäuserei, hat nicht geflennt über das, was
angezettelt? Und im allerungünstigsten Augenblick, unter den
die ihrerseits radikal erbarmungslosen Feinde seines Lebens
allererschwerendsten Umständen? Nachdem sie jahrzehnte-
ihm antaten, aber es hat auch an seinem Notrecht auf revolu-
lang eine Gelegenheit nach der anderen abgewiesen hatten,
tionäre Mittel nicht gezweifelt, hat die Verwendung solcher
ihn unter viel leichteren Umständen, als wirklichen ›Präven-
Mittel gebilligt und mehr als gebilligt. Gebilligt hat es den
tivkrieg‹ zu führen? Sie stürzten sich in das Wagnis erst, als
Einmarsch in Belgien und nichts daran auszusetzen gehabt
es riesengroß geworden war, — während sie es gescheut hatten
als das Wort des Kanzlers vom Unrecht, das man begehe. Ge-
in Fällen, da sein Gelingen so gut wie sicher schien? Wenn es
billigt hat es die Vernichtung jenes frechen Symbols der eng-
nun fehlschlug, was wurde dann aus ihnen und ihrer Zwing-
lischen Seeherrschaft und einer immer noch komfortablen
herrschaft? Und was würde daraus werden, falls Deutschland
Zivilisation, des Riesenlustschiffes ›Lusitania‹, und dem welt-
siegte? Mit Hilfe eines siegreichen Krieges glaubten sie sicherer
erfüllenden Zetermordio humanitärer Hypokrisie die Stirn ge-
das Volk unterdrücken zu können? Welche Schicht der Nation
boten. Den uneingeschränkten Unterseebootskrieg aber hat es
würde es denn sein, die aus dem Siege Deutschlands den
nicht nur gebilligt, es hat danach geschrieen und bis zur Auf-
Hauptvorteil ziehen würde, — welche denn sonst als die, die
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man im engeren Sinne als ›Volk‹ bezeichnet, die deutschen Rhein megaphoniert ward? Was mit dem kriegerischen Jubel
Arbeiter? Unterdrückt man die Leute, indem man sie hebt, über Frankreichs Vorsprung im Fliegerwesen, »der den fran-
bereichert, am Staate interessiert? Was sogar meinesgleicher zösischen Zeitungen bekannt war«, mit dem neu erstarkten
mit politisch vollständig ungeübtem Auge sah: daß ein Volks- Offensivgeist überhaupt? Sah sich Österreich zu Anfang des
krieg wie dieser unweigerlich, unbedingt und sogar unabhän- Krieges einer furchtbaren russischen Übermacht gegenüber
gig von seinem Ausgange die Demokratie bringen müsse, — oder nicht? Mußte Deutschland die Invasion in Ostpreußen
die ›Herren‹ hätten es nicht gesehen? Aber dann waren sie dulden oder nicht? Wenn es sich gut vorbereitet hatte, — die
nicht nur Schurken, dann waren sie ja so dumm, so dumm, Aufgaben, die ihm im Kriegsfalle erwachsen würden, hatten
daß es sich nicht sagen läßt! ihm Grund dazu gegeben. Ende 1916 hatten seine Heere auf
Aber dumm oder verschmitzt oder beides, — wie sollten sie den Kriegsschauplätzen eine Front von eintausendachthundert
den Krieg nicht angezettelt haben, da sie ja, und nur sie, auf Kilometern inne; die Franzosen sechshundert, die Engländer
das Mordwerk so widerlich vorbereitet waren? Den französi- zweihundertfünfzig. Vorbereitung! Wenn es französisch ist,
schen Feind wenigstens, um den es ihm eigentlich zu tun ist, zu sagen: »On n'est pas prêt et on se bat tout de même« —
hat der Zivilisationsliterat uns gezeigt, — in jener schlechten können wir dafür? So war es auch 1870; nur daß euch dies-
Verfassung, »die zu Beginn des Krieges den Feinden Deutsch- mal Zeit, viel Zeit gegeben wurde, euch auf die Höhe der
lands eigen und den deutschen Zeitungen bekannt« gewesen Anforderungen zu bringen, — von welcher jedermann sehr
sei: die zerschlissene Friedensuniform, die Packschnur, an der rückständige Vorstellungen gehegt hatte. War etwa die deutsche
das Seitengewehr hing, die geplatzten Lackschuhe. Und indem Vorbereitung ihr gewachsen? Hatte sie sich auf die Kolonien
er, der Politiker, plötzlich das Individuell-Menschliche vor das erstreckt? Hat sie nicht in Europa selbst mehr als einmal schwer
Politische schiebt, läßt er das Blut des friedlichen Jean Bon- versagt? Auf einen Krieg waren alle vorbereitet, und zwar aus-
homme aus dem ländlichen Café Voltaire seinem Mörder melo- giebig. Aber auf diesen Krieg war niemand vorbereitet, das ist
dramatisch zuraunen: »Dich und deine Landsleute habe ich die Sache, und daß er kommen konnte liegt daran, daß gleich-
weit weniger gehaßt als den Kerl, der mir meine Freundin wohl alle glaubten, auf ihn vorbereitet zu sein.
wegnehmen wollte.« Ebensogut hätte er das Blut eines in den Im Jahre 1875 hielt Theodor Mommsen, ein hochliberaler
Schmutz gestreckten deutschen Bauern so zum ›Feinde‹ spre- Gelehrter, ein nobler Repräsentant deutscher Geistigkeit, als
chen lassen können. Er zieht das Umgekehrte vor, dem Café Rektor der Berliner Universität zur Gedächtnisfeier ihrer Grün-
Voltaire zu Ehren. Ist es anständig, die individuelle Unschuld, dung eine Rede, die folgende Sätze enthielt: »Wir wissen ja
und zwar gerade die des ›Feindes‹, so tränenselig zu miß- auch, daß der Kaiser vor allem, überhaupt aber jeder deutsche
brauchen, wo es sich um das Leben der Völker handelt? »Es Staatsmann diesen Wunsch teilt, vor weiteren Siegen bewahrt
steht fest«, sagte der holländische Generalstaatsanwalt in sei- zu bleiben. Ja, ohne Zweifel, je größer sein Einfluß, je höher
nem Plaidoyer gegen den Redakteur des ›Telegraaf‹, »daß die seine Einsicht ist, desto mehr ihn teilt, desto ernsthafter bestrebt
Rüstungsausgaben der Entente vor dem Kriege die der Zentral- ist, jede, wenn auch sonst berechtigte Regung der Empfind-
mächte übertrafen.« Wenn dem so war, wo sind diese Aus- lichkeit niederzukämpfen, jeden auch nur scheinbaren Miß-
gaben geblieben, daß Jean Bonhomme so rührend geplatzte brauch der neugewonnenen Machtstellung zu vermeiden, über-
Lackschuhe trug? Was war es mit dem ›Archiprêt‹, das bei haupt an die Herstellung eines dauerhaften Friedenszustandes
jeder Gelegenheit aus dem großen Cafe Voltaire über den geradezu alles zu setzen, außer dem Recht und der Ehre der
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Nation . . . Wenn eine Nation wie die unsrige den hoch- mit ganzer Seele habe ich gehofft, daß es sich wert erweisen
gebildeten Teil ihrer Jugend der Kriegsgefahr in dem gleichen, möge der hohen Aufgabe, die ihm die Weltenlenkung gestellt
ja, wenn man das Offiziersverhältnis berücksichtigt, sogar in hat. Hier handelt es sich um geistige Waffen, nur mit ihnen
höherem Maße aussetzt als den minder gebildeten, wenn sie kann die Zukunft bezwungen werden. Es liegt so unendlich
in jedem Kriege von ihrer besten Blüte einen Teil notwendig viel Ideales, nach oben Strebendes in der Seele unseres Volkes.
zu Grabe trägt, so liegt allerdings in der ungeheueren Höhe Lange war es unterdrückt durch die dicke Schicht materiellen
dieses Einsatzes eine Warnung vor dem Kriegsspiel selbst, Lebens; es durchbrach sie, als der Krieg die Äußerlichkeiten
die kein deutscher Staatsmann und vor allem kein deutscher des Daseins verschwinden ließ vor dem idealen Sturm der
Herrscher je überhören wird und kann. Kriege, wie der letzte Vaterlandsliebe, der alle Herzen durchbrauste . . . In Klassen
französische Kaiser sie an fernen Gestaden und dann gegen geschieden, in Parteien zerspalten, haben wir uns vor dem
uns mutwillig begonnen und oft ebenso mutwillig abgebro- Kriege kaum gekannt. Die Schranken, die der Egoismus der
chen hat, sind nach unserer staatlichen Ordnung wohl formell Einzelexistenz zwischen uns aufgerichtet hatte, wollen wir
statthaft, aber tatsächlich unmöglich . . . Es ist unter der Dy- niederlegen und Mensch dem Menschen nahebringen. Es wird
nastie der Hohenzollern vorgekommen, vorgekommen zum darauf ankommen, dem Seelenadel zum Sieg über den Ge-
schwersten Schaden der Nation, daß notwendige Kriege, nicht schäftsgeist zu verhelfen . . . Wir gehen bald dahin, aber unser
geführt worden sind; einen unnötigen Krieg hat kein Hohen- Volk soll in die kommenden Jahrhunderte hinein leben, es soll
zoller geführt und kann ihn nicht führen.« nach oben leben . . .«
Ach ja, die deutschen Herren; was für Bluthunde. Hat man Gianettino Doria's bäurische Stimme. Ein Blick in das ata-
Sinn für Stimmklang? Will man hier auf der Stelle ein paar vistische Gemüt eines jener Machtrüpel und Schreckenssyste-
Bluthunde heulen hören? »Unserem Volke«, schrieb der Ge- matiker, von denen der Bürger »menschenalterlange Demüti-
neral-Quartiermeister und spätere Kriegsminister von Stein gungen hingenommen«. Aber fällt es nicht auf, daß er seine
zu Neujahr 1915, »unserem Volke würden schnelle und leichte Sprache spricht, dieser Säbelmann, — die Sprache deutsch-bür-
Siege nicht zum Glücke gedient haben. Die nach den Erfolgen gerlicher Bildung und Humanität? »Nach oben leben . . . Dem
der Feldzüge 1870/71 hervorgetretenen Auswüchse würden Seelenadel zum Sieg über den Geschäftsgeist verhelfen . . .«
sich noch stärker geltend gemacht haben. Seit jener Zeit hat Aus welchem anderen Lande vernahm man die Erklärung
der gewaltige Aufschwung einen größeren Ausschlag zur ma- solcher Kriegsziele? Aus England etwa, wo Herrenmoral, Her-
teriellen Richtung verursacht. Der Ausgleich zwischen geisti- renrecht, Herrenstolz zusammen mit der Demokratie eigent-
gen und materiellen Kräften war noch nicht vermittelt.« — O lich zu Hause sind? Seine Kriegsziele sind nicht unmittelbar
schnöde, hündische Stimme! Wie tönt daraus die Begierde, uns konkurrenzpolitischer Art; dem Bourgeois-Imperialisten dürf-
menschenalterlange Demütigungen zuzufügen. Still, es heult ten sie fremd ins Ohr lauten. Der Ritter ist altmodisch, — nun,
nun der zweite. Durch die Zeitungen ging im vorigen Jahre dafür ist er ein Ritter. Aber wenn er sich Sinn und Ziel dieses
ein Brief, den der jüngere Moltke, ein Herr ohne Zweifel, an Krieges, der ja in hohem Grade ein bourgeoiser Konkurrenz-
den Herausgeber einer Zeitschrift gerichtet hatte. »Daß uns krieg ist, altmodisch idealisiert, — es fehlt nicht an Gründen,
eine Erneuerung des geistigen Lebens bitter not tut«, hieß es zu glauben, daß seinesgleichen mit dem äußeren Gepräge
darin, »war mir Gewißheit schon lange bevor dieser Krieg des neuzeitlichen Waffengangs wenig einverstanden ist. Ein
unser Volk auf die Goldwaage der Weltentwicklung legte, und chemischer Industrieller vermittelt einer Korona von hohen Mi-
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litärs die Bekanntschaft mit einem neu erfundenen Vernich- Krieges der Greuelhetze gegen Deutschland sich widersetzte,
tungsgas. Er experimentiert ein bißchen, schildert und emp- nicht nur keinen Paß nach Amerika erhielt, sondern auch sei-
fiehlt in geläufigem Vortrage die ekrasierenden Wirkungen ner Professur in Cambridge verlustig ging, während der Pa-
seines Ozons . . . Einer der Offiziere hat mit leicht verzogener zifist und christliche Professor Foerster sich voller Lehr- und
Miene zugehört. Schließlich dreht er sich auf dem Absatz um, Reisefreiheit erfreute.
geht in einen Winkel des Zimmers, kommt zurück und sagt: Beiläufig so stand es mit dem deutschen Faustregiment, dem
»Eigentlich doch scheußlich. Eigentlich doch nicht mehr schön Junker- und Militär-Despotismus während des Krieges. Wie
. . . als Kampfmittel . . . ich kann mir nicht helfen . . .« Der war es vordem? Ich will nicht vom Sozialen reden, — wovon
Chemiker hebt die Achseln. »Tja, wünschen Exzellenz, daß ich hörte, daß Volksbildung, Volkswohlsein vergleichsweise
wir ein unschädliches Gas herstellen? Können wir auch . . .« anständig gefördert worden seien. Aber lagen. Künste und
Er hatte die Lacher auf seiner Seite . . . Wissenschaften in Deutschland geknebelt am Boden? Pfiff die
Es ist also wahr, sie sind zuweilen altmodisch, die Herren. Knute über den Wagnissen des Geistes? Furchtbares Erwachen!
Sie verhalten sich andererseits zur Modernität gutwillig bis Ich, der ich mir einbildete, von leidlich dünner Haut, leidlich
zur Schwäche. Als Herr Delbrück mit dem erblichen Adel den reizbar und freiheitsbedürftig zu sein, ich bin vierzig Jahre alt
Staatsdienst verließ, rief die konservative Presse ihm nach, er geworden in Deutschland, ohne zu wissen, ohne es zu merken,
habe nicht nur kein Herz gehabt für die Landwirtschaft, son- daß ich ein Knecht war unter der Faust von ›Herren‹. Freilich,
dern habe auch immer radikalere Neigungen in der Sozial- ich lebte in einem Lande, wo unverfolgt, unbeanstandet ein
politik bekundet; in seinem Widerwillen gegen jede Sonder- Buch erscheinen konnte, das mit dem Worte schließt: »Ich
gesetzgebung zum Schutze Arbeitswilliger sei er so weit heiße das Christentum den Einen unsterblichen Schandfleck
gegangen, das Verbot des Streikpostenstehens abzulehnen. der Menschheit.« Ein solches Land schien mir frei . . .
Herren- und Säbelregiment! Während des Krieges schien es,
als wünsche das deutsche Volk sich mehr davon, als ihm zu- »Den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit.« Kennt
teil wurde. Denn daß Dr. von Bethmann Hollweg den Tirpitz man den Laut, den Stil, die Geste, den grassen Akzent? Er-
samt jener ganzen eisernen Partei aus dem Felde schlug, war kennt man ihn wieder? Wahrhaftig, er ist uns nachgerade so
nicht nach dem Herzen der großen Mehrzahl; und auffallend sehr zur täglichen literarischen Kost geworden, unser Ohr ist
bleibt es, daß, während in Frankreich, unter Briand, dem nachgerade so abgestumpft gegen ihn, daß es uns kaum noch
Mann der Rechten, eine Presse vom Schlage der ›Action fran- wundernimmt, wie er doch in einem unfreien und geistfeind-
çaise‹ aus der Höhe gehätschelt wurde, man bei uns Klagen lichen Lande ursprünglich gewagt werden konnte. Freilich, da-
vernahm, die links-liberale, westlich und internationalistisch mals und originaliter wurde der schweflichte Fluch geschleu-
gesinnte Presse sei es, die der Zensor zum Nachteil der kon- dert von höchster, geistigster, abstraktester Leidenschaft, im
servativ-nationalen begünstige. Andere mögen die Berechti- Titanenkampf gegen ein sittliches Wertgesetz, das als leben-
gung solcher Klagen prüfen. Jedenfalls wehrte sich das Haupt- verkleinernd, lebenverleumdend der Verachtung des Geistes
organ bürgerlicher Bildung in Deutschland, die ›Frankfurter überliefert werden sollte. Der Erhabenheit der Sphäre und des
Zeitung‹, vergebens dagegen, der öffentlichen Meinung für Gegenstandes entsprach die furchtbare und ekstatische Höhe
offiziös zu gelten; und englische Loyalität hielt die Tatsache des polemischen Pathos, die gräßliche Heftigkeit des nicht
fest, daß Bertrand Russell, ein Gelehrter, der zu Beginn des mehr kritischen, sondern religiös-vermaledeienden Akzents.
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Sie entsprach überdies einem persönlichen Seelenzustande von Sinn; und es ist wahr: eine gewaltige Verstärkung, ja eigent-
letzter, furchtbarster Überspannung und Aufgeregtheit, dem lich erst die Legitimisierung des prosaistisch-rhetorischen Ele-
Endstadium einer unsäglich ehrwürdigen, wahrhaft »Furcht mentes in Deutschland stammt von Nietzsche, — wir erkann-
und Mitleid erweckenden« Lebenstragödie, in welches das Ge- ten ein Hauptelement der Demokratie darin, und wir sehen
kicher klinischen Größenwahns schon vernehmbar hineinklang wohl, daß Nietzsche's Rhetortum der Punkt ist, an dem der
und dem der psychische Kollaps, der Einbruch der Geistes- westlich-politisierende Literat mit deutschem Geistesleben sich
nacht unmittelbar folgte. Seitdem haben wir die demokratische allenfalls berührt. Politisch ausmünzbar war ferner Nietzsche's
Ausmünzung dieses späten Stiles für den literarischen — was genialer Hang zur Satire (ist nicht das Beste im ›Zarathustra‹
sage ich, für den politischen Tagesgebrauch erlebt. Dionysische Satire?) — vor allem aber, was damit zusammenhängt, sein
Kritik . . . sprachen wir nicht schon davon? Und merkten wir karikaturistischer Spätstil in psychologicis: Nietzsche als Kri-
nicht schon an, daß unser Zivilisationsliterat von dem späten, tiker war zuletzt durchaus Karikaturist und Groteskkünstler,
grotesk und fanatisch gewordenen Nietzsche formal, wenn seine Psychologie des Christentums, Wagners, des Deutsch-
auch nicht sachlich, weit mehr sich zu eigen gemacht habe als tums etwa war grotesk-fratzenhafte Fanatiker-Psychologie,
von dem jüngeren, welcher fand, »daß Jeder, der gewalttätig und von ihr hat unsere literarisch-politische Kritik die Gebärde,
in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer den gräßlich skurrilen Akzent geborgt. Das Christentum war
jetzigen Kultur, mindestens als ein Zurückgebliebener emp- schließlich »der Eine unsterbliche Schandfleck der Mensch-
funden werde«? heit«, — und wieviel fehlt denn, daß der Zivilisationsliterat
Es ist eine Eigentümlichkeit geistig-technischer Entwicklung, gegen Deutschland oder doch gegen das deutsche Herren-Re-
daß das nachahmende, ausmünzende Talent sich vorzugsweise giment dasselbe Urteil schleudert? Er würde uns kaum er-
an die Spät- und Greisenwerke der Meister hält, — als dürften öffnet haben, wir hätten »menschenalterlange Demütigungen«
die äußersten Ergebnisse persönlicher Entwicklung eigentlich von den Herren »hingenommen«, wenn der Kritiker des Neuen
maßgebend für die Entwicklung im Großen sein und als sei Testaments sich nicht zuvor einen »Attentäter auf zwei Jahr-
es nicht kindischer Mummenschanz, wenn ein am Beginne tausende Widernatur und Menschenschändung« genannt hätte.
seines individuellen Schicksals stehendes Künstlertum die Gibt es etwas Unleidlicheres als das versetzte und demo-
Sprache einer hohen Altersstufe spricht, nur weil sie ihm eben kratisch verzettelte Titanen-Pathos? Die überspannte, ge-
die letzte Errungenschaft zu bedeuten scheint. So haben Zwan- quälte Sprache eines zur Vernichtung und Neusetzung höch-
zigjährige Beethovens letzte Kammermusik nachgeahmt, so ster Werte sich aufreckenden Geistes, — angewandt auf
wirkte Ibsens und Wagners Altersstil am meisten auf die Zeit, politische Kritik, mißbraucht in geübter Leidenschaft, doch in
und so hat nicht etwa der Nietzsche der Früh- und Reifezeit durchaus gesichertem Gemütszustande zum Zweck demokrati-
am meisten Schule gemacht, sondern der späteste, dessen scher Agitation! Wahrhaftig, der Fanatismus, das Grotesk-
Mittel und Akzente freilich nicht die hoher Betagtheit, sondern Karikaturistische in der Kritik des politischen Propheten braucht
einer dämonischen Verfalls-Phosphoreszenz waren und einer niemanden um die seelische Gesundheit dieses Kritikers be-
seelischen Phase entsprachen, die dem Wahnsinn voranging. sorgt zu machen; es ist kein Zeichen wirklicher, martervoller,
Es ist allerlei, was unser politischer Literat von Nietzsche den Kollaps vorbereitender Exzentrizität und Überspannung.
gelernt hat. Overbeck nannte seinen großen Freund im Ver- Der Wahnsinn steht nicht dahinter, — offengestanden, es
gleich mit Pascal und Schopenhauer einen Rhetor im üblen steht gar nichts dahinter, außer etwa einem völlig unverant-
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wortlichen Künstlerpläsier an der Geste. Nüchternheit ver- keit der Mißregierung entspricht, die sie endlich hervorrief.
trägt sich recht wohl mit dieser Hitze, mit einem kritischen Alle Greuel und Narreteien der Großen Revolution, die kin-
Groteskstil, der nicht zerstörerische Leidenschaft, sondern — dische Hilflosigkeit der ›konstituierenden‹ Versammlung, die
literarische Schule ist und mit dem sich vergnügt und erfolg- theoretischen Albernheiten und praktischen Verbrechen, von
reich leben läßt. Der Zarismus und das russische Polizei-Re- denen die Regierung der Literaten und Philanthropen erfüllt
gime waren auf jeden Fall ein ander Ding als unsere ›Her- war, — sie waren die notwendigen Folgen der grenzenlosen
ren‹-Wirtschaft, und Dostojewski hatte gelitten. Aber nie ist politischen Unmündigkeit der Nation, sie entsprachen dem
ein Wort gegen die Regierung über seine Lippen oder aus Geisteszustand eines Volkes, das durch Bedrückung unwissend
seiner Feder gekommen, geschweige daß er je an Rußland irre und grausam gemacht worden war. Gesetzt, im Deutschland
geworden wäre. Was in aller Welt hat der deutsche Literat von heute oder morgen würde eine Verfassungsänderung von
politisch zu leiden gehabt und worin haben die deutschen dem Umfange und selbst von den äußeren Formen einer Revo-
›Zustände‹ ihn beeinträchtigt? Wenn er uns zu Orgien der lution Ereignis: ich glaube nicht, daß die entsetzlichen Drohun-
Cerebral-Erotik lud, — der Büttel hielt sich in scheuer Entfer- gen des Zivilisationsliteraten sich erfüllen würden, glaube
nung. Unbehelligt, ohne etwas zu wagen, ohne an irgendein vielmehr, daß seinem in Gesichte von Noyaden, Fusilladen,
Sibirien auch nur denken zu müssen, hat der Politiker seine Guillotinaden, aufgespießten Köpfen und ähnlichen Vernunft-
radikalen Manifeste zugunsten der Republik, des Ideals der orgien verlorenen Blick sich das Bild eines Volkes darbieten
Wahrheit, erlassen — und dabei spricht er gegen das Reich, die würde, das auf neue Freiheiten durch die, die es schon besaß,
Macht und die ›Herren‹ die Sprache Nietzsche's gegen das
gut vorbereitet ist und wenig Gefahr liefe, in die Hände von
Christentum.
Theoretikern, radikalen Allgemeinheitskrämern, Rechthabern,
Das ist lächerlich. Und es wird nicht weniger lächerlich da- Revolutionsschulmeistern, Freiheitspfaffen, Inquisitionsdemo-
durch/daß die große Mehrzahl der Deutschen sich um diese kraten und Veranstaltern von philanthropischen Maskeraden
Manifeste nicht sonderlich kümmerte. Wenn man sie sachlich zu fallen.
nicht ernst — wenn man sie als Künstlerpläsier und -eskapade Es ist also wahr, man ließ sich von jener Redekunst nicht
nahm, — ist es unverzeihlich? Hätten wir fünfundvierzig Jahre sonderlich bewegen, man nahm sie als ›Selbstzweck‹, als
lang Verhaftsbriefe, lits de justice, Bastille, Hirschpark, einen Temperamentsäußerung, als politisches l'art pour l'art; man
schmarotzenden Hof, ein physisch und geistig verelendetes fand keine rechte Beziehung zwischen ihr und der Wirklich-
Volk, kurz alle Mißbräuche des Bourbonen-Regimes gehabt, keit, denn man fand zum Beispiel, daß es ein ›Säbelregiment‹
die Verzweiflung des Zivilisationsliteraten über das, was die zuweilen in Frankreich, aber in Deutschland niemals gegeben
Nation von ihren Herren ›hinnahm‹, hätte nicht gräßlicher habe. Man wußte nicht, daß der deutsche Zivilisationsliterat,
wüten können. Wenn aber einmal, versicherte er damals, das wenn er von Säbelregiment, deutscher Sklaverei, elendem Un-
Maß überlaufen wird; wenn selbst dieses dumpfen Volkes tertanentum,menschenalterlangenDemütigungensprach,nichts
Geduld einmal zur Neige geht, und wenn es zur Abrechnung als die demokratische Weltmeinung über Deutschland ausge-
mit den ›Herren‹ schreitet, — dann wird dies Gericht höchst drückt hatte, die seine eigene war und ist: Das kam erst bei
ungemein und furchtbar sein! — Ich glaube das nicht. Die Ge- Ausbruch des Krieges zutage, als die liberale Presse aller Erd-
schichte und ihre Erläuterer lehren uns, daß die Wildheit und teile so gut wie wörtlich wiederholte, was er immer schon ge-
Furchtbarkeit einer Revolution immer genau der Furchtbar- sagt hatte, — und nun allerdings fühlte man sich zur Abwehr
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gedrängt. Ich stelle fest, daß jede deutsche Selbstbesinnung, fel darüber, daß Deutschland den Weltliberalismus, welcher
daß das subjektive Bewußtsein der Nation, die inneren Tatsa- sich ohne Besinnen mit dem Weltfortschritt verwechselte,
chen jenen Deklamationen strikt widersprachen. Ich habe mich gegen sich habe, und daß nur konservative Mächte ihm morali-
damals nicht auf mich verlassen, — es konnte sein, daß ich sche Unterstützung zuwandten. Aber das war ja eine in hohem
dickfellig und unaufmerksam gewesen war. Aber ich habe gut Grade irreführende und mißverständliche Erscheinung, welche
nachgeforscht, mich gut umgetan, bei Leuten, denen ein Urteil im Grunde nichts bewies als die Hohlheit der politischen Ter-
zustand, denen zu vertrauen ich berechtigt war, von denen zu minologie. Georg Brandes, der gewiß immer ein liberaler, na-
lernen niemandem schaden kann, — es waren recht radikale mentlich aber ein freier Mann gewesen war, veröffentlichte
Köpfe darunter —, und ihr Spruch, ihr dem Wüten des Zivili- während des Krieges in Deutschland einen Aufsatz, betitelt
sationsliteraten widersprechender Spruch, erfolgte mit einer ›Berliner Erinnerungen‹, worin er erzählte: »Als Bismarcks
Einstimmigkeit, die irgend etwas zu bedeuten haben mußte. entscheidender Bruch mit den Manchesterprinzipien erfolgt war,
»Wir wollen uns unser gemütliches, sicheres, sauberes, ordent- kam mir die Art, wie die Freisinnigen ihren Kampf gegen ihn
liches Heimathaus, in dem wir freier sind als fast alle soge- führten, so widersinnig vor, daß ich vier Jahre nach meiner
nannten demokratischen Völker, nicht beschimpfen lassen...« Ansiedlung in Deutschland einen Artikel: ›Die Gegner des
Das war Oppenheimer, ein ungemütlicher Gelehrter sonst, der Staatssozialismus‹ veröffentlichte, in dem ich trotz sehr starker
mit dem Großgrundbesitz gründlich aufräumen will; und die Vorbehalte ihm gegen sie recht geben mußte. Ich schrieb darin:
Sperrung stammt nicht erst von mir, sondern von ihm. So aber ›Es wäre starrer Doktrinarismus, wollte man im wirtschaftlich-
klang es von allen Seiten. »Die persönliche Freiheit und die politischen Streit nur auf Grund der Haltung der Regierung
Menschenwürde leidet nirgends bei uns.« — »Die bürgerliche gegenüber der religiösen Reaktion und ihrer Benutzung alter
Freiheit gegen Willkür der Staatsbehörden ist ebenso oder bes- Stammes- und Standesvorurteile sie als unbedingt reaktionär
ser geschützt als irgendwo.« — »Alles Gerede von einem kul- bezeichnen und glauben, daß Fortschrittlertum in diesem Falle
turfeindlichen, unsozialen, despotischen deutschen Militaris- Fortschritt bedeute. Im Gegenteil! Es ist diesmal Bismarck, der
mus ist ein Gerede von Leuten, die keine Kenntnis von unseren den modernen Standpunkt oder, richtiger gesagt, die Umwäl-
inneren Zuständen haben oder haben wollen.« — »Ein freies zung darstellt, vor allem die Initiative, das geniale Wagnis,
und stolzes Volk, das sich von großen Zukunftskräften empor- während die Fortschrittsparteiler den gedankenarmen und un-
getragen fühlt . . .« Die ungeheuerste Selbsttäuschung? Aber fruchtbaren Konservatismus vertreten.‹« — Diese anzügliche
nein, dies Freiheits-, Kraft- und Zukunftsgefühl objektivierte Anekdote gab der kluge alte Herr damals gewiß nicht von un-
sich ja in riesenhaften Taten, es bestätigte sich durch den Sieg, gefähr in einer deutschen Zeitschrift zum besten. Er wollte sa-
der, wir wiederholen es, zur Niederlage in irgendeinem höhe- gen, daß Fortschrittlertum auch in diesem Kriege nicht Fort-
ren Sinn nicht mehr werden kann; und wo immer, unter Kämp- schritt bedeute; er wollte darauf hindeuten, wo in Wahrheit
fern und Nichtkämpfern, unbetörte Klugheit die Dinge ins der »modernere Standpunkt«, die »Umwälzung«, die »Initia-
Auge faßte, geschichtlicher Instinkt sich regte, da ist das Pio- tive«, das »geniale Wagnis« — und wo der »unfruchtbare Kon-
nierhafte, Führende, durchaus Unknechtische und irgendwie servatismus« sei: und wirklich, wenn der Weltliberalismus
Zukunftsvolle des deutschen Wesens, sei es mit Freude oder (›die Zivilisation‹) noch den Fortschritt darstellte, die Zukunft
Sorge und schlechtem Gewissen, geahnt oder erkannt worden. für sich hätte, dann hätte er nicht die ganze Welt für sich und
Seit Ausbruch der Feindseligkeiten bestand freilich kein Zwei- wäre nicht bis zu den Wilden, die bereits für ›Freiheit‹ schwär-
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wie von dem verworfensten Teufelswerk und einem Verbrechen welches noch nichtswürdiger ist als das der schlimmsten so-
an der Menschheit zu sprechen, mir immer ziemlich lächer- genannten Kabinettskriege, und sind wohl geeignet, den letz-
lich vorkam. Als ob nicht, sagte ich mir, die kapitalistische ten Republikaner von seinen Träumen zu befreien.« Wahrhaf-
Expansion eine notwendige Entwicklungsstufe des Wirtschafts- tig, es tut wohl, die Sprache schmerzlicher Ehrlichkeit zu hören,
lebens wäre. Als ob ferner irgendwelche Aussicht darauf be- nachdem man sechs Jahre lang oder länger die Sprache eines
stände, daß es nach diesem Kriege weniger ›Imperialismus‹ hysterischen Doktrinarismus und demokratischer Schönselig-
geben werde als vorher: die Zukunft wird, wenn nicht alles keit hart am Ohre vernommen! Wo blieb der Protest des Lite-
täuscht, ein paar Riesenweltreiche sehen, welche — gehöre raturheiligen, als Italien mit wahrhaft bübischem Leichtsinn
Deutschland nun dazu oder nicht — die Verwaltung des Erd- die Eroberung Libyens improvisierte, ohne daß sich, wie Gu-
balls unter sich verteilt haben werden; und das Wort vom glielmo Ferrero zu Anfang des Weltkrieges schrieb, dort »ir-
›Rechte der kleinen Nationen‹ wird dann allgemein als die gend jemand einen Gedanken über die Rückwirkungen gemacht
lügnerische Sentimentalitätsphrase behandelt werden, die sie hätte, die eine so schwere Verletzung des Völkerrechts und
heute schon ist. Und namentlich: als ob Demokratie zum Im- eine so plötzliche Störung des europäischen Gleichgewichts
perialismus oder Kapitalismus irgendwie in Widerspruch stünde hätte haben können«? Da es sich um den Willen der Demo-
— als ob sie nicht vielmehr beinahe solidarisch und identisch kratie handelte, — wo war damals der antiimperialistische Zorn
mit ihm wäre. Doch wo sie ist oder wo in rhetorisch annehm- unseres Zivilisationsliteraten? Er fand Worte zarten psycholo-
barer Weise vorgegeben wird, daß sie sei, da deckt sie in den gischen Verständnisses für die koloniale Torschlußangst Italiens,
Augen des Zivilisationsliteraten alle imperialistischen Sünden das war alles. Wo war sein antiimperialistischer Moralismus,
mit dem Schleier der ›Schönheit‹ zu. als Frankreich, gedeckt durch England, mit einer Laune, die an
Das ist, kurz gesagt, doktrinäre Verlogenheit. Es ist nicht Frechheit der von vor 1870 nicht mehr nachstand, Marokko
freie, gerechte und wahrhaftige Mannesart, deren der liberale ›durchdrang‹, Verträge ungescheut verletzend? Er bewunderte
Glaube bis vor kurzem sehr wohl fähig war. Eben jetzt ging Frankreich, er bewunderte mit hohen Augenbrauen Frankreichs
durch die Zeitungen ein Brief des alten Theodor Mommsen mächtiges Kolonialreich, er bewunderte die imperialistische De-
aus dem Jahre 1898, dem Jahre des spanisch-amerikanischen mokratie. Im Abscheu gegen das brutale Unrecht des Burenkrie-
Krieges. »In meinen jungen Jahren«, lautete er, »war der ges war Deutschlands populäres Gefühl mit dem Frankreichs ei-
Glaube ziemlich allgemein verbreitet, daß die Weltordnung nig; doch damals hielt unser Literat wohl noch auf der ästheti-
stetig zum Bessern fortschreite und daß dieser Fortschritt durch zistischen Stufe und zeigte sich moralisch unbeteiligt. Hat er
die mehr und mehr allgemeine Einführung der Republik zum überhaupt je Anstoß daran genommen, daß England, ohne der
Ausdruck kommen werde. Dieser Jugendeselei hat man sich Landesverteidigung zu bedürfen, sich einzig und allein zu An-
allmählich entwöhnt, nachdem man Gelegenheit gehabt hatte, griffs- und Eroberungszwecken ein Söldnerheer hielt? Niemals.
dergleichen Umgestaltungen tatsächlich mitzuerleben. Aber auf Pas war in der Ordnung. Man kann nicht genug darauf hin-
die arge Enttäuschung, die dieser Krieg den Republikfreunden weisen, daß das Gewissen, die moralische Reizbarkeit dieses
bereitet, war man doch nicht gefaßt. Die heuchlerische Huma- angemeldeten Kosmopoliten und Menschheitsfreundes sich
nität, die Vergewaltigung des Schwächeren, die Kriegführung immer als intim national erwiesen hat. Für die Sünden der an-
zum Zweck der Spekulation und der gehofften Agiotage drük- deren hat es nichts als Entschuldigungen; denn was entschul-
ken diesem amerikanischen Unternehmen ein Gepräge auf, digte, verschönte, verklärte nicht der Name der Demokratie!
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Aber indem wir diese rhetorische Frage ausstoßen, finden vierundzwanzig auf vierunddreißig Prozent gestiegen,—ich hab's
wir uns im Begriffe, bis zu der Einsicht vorzudringen, daß gelesen. Und zwar geschah das dank Pest und Hungersnöten, in
›Demokratie‹ ganz eigentlich die Synthese und Versöhnung welchen englische Herrenkaltblütigkeit die Mittel der Vorsehung
von Macht und Geist bedeutet. Wir sind auf dem Punkt, zu er- gegen die Übervölkerung erblickt. »Man denke!« rief eines Ta-
kennen, daß der Zivilisationsliterat, dieser vermeintliche Macht- ges der frühere amerikanische Staatssekretär W.J. Bryan aus. »Die
und-Geist-Antithetiker, als politischer Erzieher in Wahrheit englische Verwaltung wird damit gerechtfertigt, daß sie die Inder
auf die Synthese von Macht und Geist im Zeichen der Demo- daran verhindere, einander zu töten, und die Pest gepriesen, weil
kratie eigentlich aus ist. Blicken wir gut hin: Die ältesten Re- sie die hinwegrafft, welche die Regierung vor dem Umgebracht-
präsentanten der Demokratie sind England und Frankreich, werden geschützt hat.« Soviel über das ›relative Menschen-
das klassische Land der Nationalökonomie und das klassische glück‹, die »größere Sicherheit des nackten Lebens«, diese hu-
Land der Revolution. Aber Volkswirtschaft und Revolution, manitäre Begleiterscheinung der geschäftlichen Tatsache, daß
das sind der Nutzen und die Tugend, und der Name eben, der beiläufig hundert Millionen Dollars jährlich von Indien nach
diese beiden zusammenfaßt, lautet ›Demokratie‹. Er lautet England fließen. Schließlich aber handelt es sich da um Asien,
auch ›Politik‹. Er lautet auch ›Zivilisation‹. Ja, dieses alles um ›dunkle Massen‹, um niggers. Man ist ›Europäer‹ und
sind wiederum nur Namen für etwas noch Höheres und All- nach außen hin Aristokrat, wenn auch Demokrat nach innen.
gemeineres, für Europäertum. »Der Europäer«, so lautet ein Unterdessen liegt Irland in Europa, ein schönes fruchtbares
Satz der ›Lehre‹, »will erstens Geschäfte machen; aber indem Land, das, von einem verwandten Nachbarvolk erobert, ver-
er seine Geschäfte besorgt, will er zweitens immer noch ein gewaltigt, einverleibt, in unseren Tagen, in der zweiten Hälfte
sittliches, das heißt: fortschrittlich-humanitäres Mehr bewir- des neunzehnten Jahrhunderts, auf die Hälfte seiner einstigen
ken.« Das ist die Definition des Europäertums; es ist zugleich Bevölkerungszahl heruntergewirtschaftet worden ist. Wie un-
die der Politik und der Zivilisation. Was der Zivilisationslite- tergeordnet, es zu erwähnen! Selbstkritik! Selbstkritik! Kehre
rat uns Deutschen anerziehen will, ist die unbezahlbare psy- vor deines Landes Tür, Patriot! — Aber ich finde nichts! Ich
chologische Fähigkeit, Moral und Geschäft, Humanität und finde bei meiner Seele Seligkeit in deutscher Geschichte nichts,
Ausbeutung, Tugend und Nutzen in eins zu sehen, in eins zu was sich dem Traktament Irlands durch England an die Seite
setzen, — eben hierin besteht die Politisierung. Während des stellen ließe; aus Gründen, die stichhaltig sind, darf ich mich
Krieges feierte er den englischen Geist als den Inbegriff dieses weigern, Schleswig-Holstein und Elsaß-Lothringen damit in
Europäertums. »Die Ostindische Kompagnie«, sagte er, »be- Vergleich zu bringen, und antinationalen Auslandsnationali-
stand aus Geldleuten, aber es waren humanitäre Geldleute, sten, die zugleich Schüler der rhetorischen Klasse sind, muß
gesonnen, zu verdienen, indem sie glücklich machten. Und ich es überlassen, das sittliche Plus und das relative Menschen-
wären sie, samt ihren Nachfolgern bis heute, die härtesten al- glück nachzuweisen im irischen Falle, es nachzuweisen in den
ler Ausbeuter gewesen — ist denn ein Zweifel, daß sie recht be- übrigen hochherzigen Unternehmungen des demokratischen
halten haben und daß ein relatives Menschenglück, wenn auch Bereicherungstriebes: im Burenkriege, im Opiumkriege, im
einzig die größere Sicherheit des nackten Lebens, den dunklen amerikanisch-spanischen Kriege, wo Mommsens Teutonenver-
Massen Indiens nie bekannt geworden wäre ohne England?« stand es nicht entdecken konnte . . . Geschäft und Tugend! Das
Verhüt' es Gott, daß wir daran zweifelten! Im Lande Indien Volk der humanitären Geldleute hat sich zu diesem Kriege
ist die Sterblichkeitsziffer in den letzten dreißig Jahren von erhoben, um einen Drachen zu töten, der auf den Namen des
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deutschen Militarismus hört, zum Schutze der kleinen Natio- sche war klug genug, in aller Ruhe zu antworten, daß er nicht
nen, zum Schutze der Freiheit und Gerechtigkeit. Es hat jedoch wisse, daß man zusammengekommen sei, ein allgemeines Welt-
die Gelegenheit benutzt, um nicht nur mit der größten Umsicht gericht abzugeben oder die Grundsätze der Moral festzusetzen.
und Präzision und angefangen mit Calais alle für die Erhal- Er kannte das englische Objekt recht gut, und so hatte er auch
tung und Ausdehnung seiner Weltherrschaft wichtigen euro- das seinige, wofür er zu reden und welches er zu erlangen
päischen und außereuropäischen Punkte zu besetzen, sondern wußte.« — Das ist jener Goethe, von dem ich meinte, daß er
auch um sich, vermittelst einer umfassenden Postspionage, in mehr bismärekische Züge aufweise, als die Weimar-und-Pots-
den Besitz der Geschäftsgeheimnisse der ganzen Welt zu brin- dam-Antithetiker wahrhaben wollen. Daß aber auf dem Welt-
gen, den deutschen Außenhandel zu vernichten, die deutschen friedenskongreß ein deutscher Delegierter sich finden wird,
Unternehmungen über See aufzulösen, durch die Verstrickung der den Engländern im Sinne des portugiesischen Gesandten
aller möglicher Staaten, auch solcher ohne militärische Bedeu- von damals antwortet, das ist sehr unwahrscheinlich.
tung, in den Krieg die wirtschaftliche Isolierung Deutschlands Ist der Geist Englands, der glückliche Instinkt nämlich, die
zu vollenden und nachhaltig zu machen und durch die Be- »humaneMaxime« mit dem »realen Objekt« zu vereinen, ohne
schlüsse der Pariser Konferenz vom Juni 1916 die dauernde welches man »es nicht tut«, — ist dieser Geist der Inbegriff
Wirtschaftsblockade zu organisieren. So verdient man, indem des Europäertums, dann steht Amerika an europäischem Geist
man glücklich macht. nicht hinter England zurück. In diesem Augenblick bietet es ein
»Während die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer glänzendes Beispiel für die demokratische Kunst des guten
Probleme quälen«, sprach Goethe zu Eckermann, »lachen uns Gewissens, für die politische Synthese von Geist und Macht,
die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und Moral und Geschäft, indem es sich gelegentlich der ›Gerechtig-
gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre Deklamationen ge-. keit‹ und unter den Lobsprüchen der demokratischen Welt durch
gen den Sklavenhandel, und während sie uns weismachen wol- Militarisierung und Flottenbau zur Großmacht stärkt. Sich ver-
len, was für humane Maximen solchem Verfahren zugrunde stehen lernen auf den komisch-miserablen Erzschwindel der in-
liegen, entdeckt sich jetzt, daß das wahre Motiv ein reales Ob- stinktiven, naiven und längst nicht mehr heuchlerischen Ver-
jekt sei, ohne welches es die Engländer bekanntlich nie tun söhnung von Tugend und Nutzen: nochmals, das ist die Demo-
und welches man hätte wissen sollen. An der westlichen Küste kratie, darin besteht die Politisierung, und das ist es, wozu der
von Afrika gebrauchen sie die Neger selbst in ihren großen Zivilisationsliterat sein Volk zu erziehen gesandt ist.
Besitzungen, und es ist gegen ihr Interesse, daß man sie dort
ausführe. In Amerika haben sie selbst große Negerkolonien Die Welt, sagen wir, lag im argen vor dem Kriege und
angelegt, die sehr produktiv sind und jährlich einen großen Deutschland mit ihr. Deutschland, seitdem es sich zur Wirk-
Ertrag an Schwarzen liefern. Mit diesen versehen sie die nord- lichkeit und zur Macht entschlossen, hatte teil an einem geisti-
amerikanischen Bedürfnisse, und indem sie auf solche Weise gen Gesamtzustand, den man am allgemeinsten mit dem Na-
einen höchst einträglichen Handel treiben, wäre die Einfuhr men ›Materialismus‹ bezeichnet. Wir waren Materialisten.
von außen ihrem merkantilischen Interesse sehr im Wege, und Waren wir es mehr als andere? Ich frage so, weil von dem
sie predigen daher, nicht ohne Objekt, gegen den inhumanen »höheren moralischen Niveau« der Demokratie die Rede ist.
Handel. Noch auf dem Wiener Kongreß argumentierte der Wenn es wahr ist, was uns schien, daß nämlich vorzugsweise in
englische Gesandte sehr lebhaft dagegen; aber der portugiesi- Deutschland der Krieg, als er da war, mit einem gewissen Ge-
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fühle sittlicher Befreiung als Zuchtmittel gegen den Materialis-
wort ›Reaktion!‹ reagieren muß. Jener Monarchenwunsch von
mus aufgefaßt wurde — (es mag sein, es ist sogar wahrscheinlich,
souveräner Einfalt, daß dem Volke die Religion ›erhalten‹
daß er' von einzelnen überall so empfunden wurde, aber vor-
bleiben möge, wirkt unzeitgemäß nur eben darum, weil man
zugsweise, wie gesagt, schien es uns in Deutschland der Fall
dem Volke die Religion ja längst genommen hat — und sich
zu sein): wenn dies also wahr sein sollte, — wäre es nicht ein
Unendliches darauf zugute tut, während die Wahrheit uner-
Zeichen dafür, daß im deutschen Bezirk mehr Widerstand als
schütterlich aufrecht bleibt, daß ohne metaphysische Religio-
anderswo gegen die allgemeine Geistesverfassung lebendig
sität, diese Sphäre wahrer Menschlichkeit, soziale Versöhnung
geblieben war? War nicht das Geld in Frankreich, in England,
auf immer unmöglich ist. Man frage aber den Literaten — nein,
in Amerika, in den trois pays libres, eine größere, entscheiden-
man frage ihn lieber nicht —, ob er irgendwelche Bemühungen
dere, absolutere Macht als je bei uns? ›Freiheit‹ und Geld-
billigen würde, dem Volke — wenn nicht die Religion, so doch
herrschaft hingen von jeher eng zusammen . .. Diese war
etwas wie Religiosität zurückzugeben! Er ist Monist, gewiß
weniger vollkommen bei uns, weil einiges noch, ein paar wan-
nicht im Schulsinn, aber Monist immerhin. Denn alle anti-
kende Mächte, der Vollendung der Demokratie entgegenstan-
metaphysische Aufklärung, alle demokratische Adoration des
den. Oder nicht? Wenn Materialismus, und zwar Materialis-
Glücks, des Nutzens, der Wissenschaft und der Arbeit unter-
mus der Sitten sowohl wie Materialismus als philosophische
scheidet sich vom angemeldeten und eingetragenen Monismus
Anschauung, die Epoche kennzeichnete,—verhielt es sich nicht
nur dem Grade nach, nur unwesentlich, nur nach der Gebärde
eben darum so, weil das eine gewerbliche, dem Nützlichkeits-
und dem literarischen Tonfall. Nun fehlt es in moderner Phi-
prinzip anhängende, kurz demokratische Epoche war, deren
losophie ja nicht an Versuchen, eine Zweiheit von Leib und
weitaus stärkste Triebfeder der Drang nach Wohlstand bildete?
Seele wieder ins Auge zu fassen, im Gehirn-Organ etwa nur
Der Krieg, von einer Seite gesehen, ist ja eine Folge dieser
ein Instrument zu erblicken, — aber ich kann versichern, es
Geistesverfassung, geplant als Konkurrenzkampf der Demo-
hätte beinahe ein Unglück gegeben, als der Zivilisationsliterat
kratie um Wohlstand. Und dennoch kann man sagen, daß er
davon hörte. Er sah rot, er wurde ungewählt in seinen Aus-
wahrscheinlich nicht gekommen, wahrscheinlich seelisch den-
drücken. »Nur zu! Nur zu!« rief er. »Führt nur auf Schleich-
noch nicht möglich gewesen wäre, hätte nicht schon längst und
wegen die ›Seele‹ wieder ein! Das genügt! Die ganze Schwei-
überall der theoretische Materialismus, der Materialismus als
nerei werden wir wieder haben!« Man versteht hoffentlich.
Philosophie und Erkenntnisform in den letzten Zügen gelegen.
Um aber auf den Materialismus zurückzukommen: kann der
Wie ist es denn aber nun? Haben wir nicht gute Gründe, zu
Zivilisationsliterat logischerweise sein Gegner sein? Nein,
zweifeln, daß dies eigentlich nach dem Sinne des Zivilisations-
das kann er nicht. Praktischer Materialismus, Plutokratie,
literaten war und ist? Der Künder einer sozialen Glückselig-
Wohlstandsbegeisterung bildet den Grundcharakter demokra-
keitslehre, muß er nicht, so ›geistig‹ er sich gebärde, stärkste
tischer Epochen; und ohne theoretischen Materialismus kehrte
Besorgnis empfinden angesichts einer zunehmenden und fast
»die ganze Schweinerei« zurück. —
schon vollendeten Abkehr von materialistischer Welterklärung?
Wenn sein politisches Aktivistentum schon in jedweder Meta-
Es wird gelingen, es ist schon gelungen, uns Deutsche von der
physik ein Mittel zur Volksverdummung erblickt, so ist es
Lebensnotwendigkeit jener psychologischen Versöhnung von
klar, daß es vollends auf jede Wendung zu einer religiösen
Tugend und Nutzen, Moral und Geschäft, kurz von der Not-
Wiedergeburt mit seinem äußersten Fluch, mit dem Schreckens-
wendigkeit der Demokratie zu überzeugen. Wir haben ein-
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gesehen, daß ohne Demokratie in der Welt keine Geschäfte holen‹ sei; er war ein Konservativer, ein frommer Katholik;
mehr zu machen sind, daß man sich anglisieren muß, um Ge- alles Althergebrachte, die Monarchie, die Armee, die Kirche
schäfte zu machen, — aus dieser Einsicht stammt der opportu- galt ihm als unantastbar. War er ein Elender deshalb? Ver-
nistische Wille zur deutschen Demokratie. Was aber schwer- dorrte sein Talent in dieser Lebens- und Geistesstimmung?
lich gelingen wird und wogegen, wenn ich nach mir urteilen Ich verstehe nichts von Malerei, aber ich denke, ich kann die
darf, noch einiger freiheitlicher Trotz und Widerstand leben- Antwort getrost den Experten überlassen.
dig ist, das ist der weitergehende Versuch des demokratischen Es ist der ungeheuere und stocksteife Irrwahn des Zivilisa-
Rechthabers und Systematikers, Geist und Kunst, wie wir sag- tionsliteraten, zu glauben, Konservativismus und Talent — das
ten, auf eine alleinseligmachende demokratische Heilslehre zu schlösse einander aus. Aber die Beziehungen von Kunst und
verpflichten. Es liegt diesem —man muß es sagen: diesem über- Politik, wenn welche bestehen, sind ganz und gar andere, als
aus bigotten, dreisten und freiheitsfeindlichen Versuch, soweit der Zivilisationsliterat uns einreden möchte! In Gogols herr-
die Kunst in Frage kommt, eine namenlose Überschätzung der licher Novelle ›Das Porträt‹ stehen die Worte: »Es sind gar
Politik überhaupt zum Grunde: wie als ob Fortschritt und nicht die monarchischen Regierungen, die die hohen und vor-
kühne Neuerung auf dem Gebiete der Kunst nur im Zusam- nehmen Seelenregungen unterdrücken: unter solcher Herrschaft
menhange mit politischer Fortschrittlichkeit möglich sei, als sind die Werke des Geistes, der Dichtung und der Kunst keines-
ob das revolutionäre Prinzip in der Politik das Revolutionäre wegs verachtet und verfolgt, vielmehr sind die Monarchen ihre
in der Kunst auch nur begünstigte. Wer hat den ›Tannhäuser‹ natürlichen Protektoren, erst unter ihrem hochherzigen Schutz
zuerst in Paris aufführen lassen? Ein Despot. Derselbe Despot, ersteht ein Shakespeare, ein Molière, — während andererseits
dessen Staatsstreich den Herren Bouvard und Pécuchet den ein Dante in seinem republikanischen Vaterlande keine Ruhe-
unsterblichen Stoßseufzer auspreßte: »Hein, le progrès, quelle stätte finden konnte. Wahre Genies entfalten sich nur in den
blague! — Et la politique, une belle saleté!« — diesen Aus- glänzenden Zeitaltern mächtiger Könige und Königreiche und
druck einer Seelenstimmung, die zu zeitigen die allgemeine nicht unter dem Einflusse häßlicher politischer Vorgänge und
Politisierung das unfehlbare Mittel ist. Andererseits entfaltete terroristischer Republiken, die der Welt bis jetzt noch keinen
sich die französische Romantik, die das Neue, der Fortschritt einzigen Dichter geschenkt haben.« Es ist eine Kaiserin, die
war, im Schutze der Monarchie, während die Liberalen und Gogol das sagen läßt, und er läßt sie hinzufügen: »Man muß
Republikaner hartnäckig-konservativ den Klassizismus vertei- die Dichter und Künstler reichlich belohnen und auszeichnen,
digten, — es ist klar, warum: von wegen der Tugend nämlich. denn sie schenken der Seele Ruhe und Frieden und bewahren
Und Cézanne? Ein kühner Neuerer ohne Zweifel! Aber er ver- sie vor häßlichen Leidenschaften und Empörung; die Gelehrten,
achtete Emile Zola, den Anbeter der Massen, den Propheten die Dichter und alle schaffenden Künstler sind die Perlen und
und Diener der Demokratie, der das Publikum »unseren ober- Diamanten in den Kaiserkronen: sie sind der höchste Schmuck,
sten Gebieter« nannte, in Grund und Boden; er war fern allem der das Zeitalter eines großen Herrschers krönt und ihm einen
Futurismus und aller ›Fortschrittlichkeit‹, er pfiff auf neue herrlichen Glanz verleiht.« Während die Kaiserin diese Worte
Prinzipien, Theorien und Richtungen in der Kunst, gleich un- sprach, war sie unendlich schön und göttlich — schließt Gogol,
serem Hans Pfitzner überzeugt, daß es nur eine Kunst gebe, und ich will es glauben, denn noble Naivität wirkt immer schön
die eben, die in allen Meisterwerken der Vergangenheit lebt, und göttlich, und die ein wenig damenhaften Worte der
und daß ein Werk dieser einen Kunst durch nichts zu ›über- Kaiserin sind im Grunde vollkommen wahr: selbst jenes, daß

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die Kunst der Seele Ruhe und Frieden schenke und sie vor häß- Niveaudrücker der Menschheit. Der große Mann ist abzu-
lichen Leidenschaften bewahre. Das hat auch Schopenhauer ge- schaffen, ist auszurotten, ist auf das gemeine Maß zurückzu-
sagt, wenn auch auf weniger kaiserliche Weise; und daß poli- bringen, Bruder unter Brüdern: dazu helfe uns die demo-
tischer Terrorismus, der Terrorismus der Politik, den Künsten kratische Republik! — Es ist unmöglich, die Umsicht, die
hold sei, wird niemand zu vertreten wagen. radikale Folgerichtigkeit nicht zu bewundern, womit dieser
Ist er es dem Geiste? Ein Nein auf diese Frage genügt nicht. wahrhaft systematische Geist sein Prinzip verfolgt und zu Ende
Man muß hinzufügen, daß irgendwelcher Terrorismus der denkt: wie sollte unsere Einsicht, unsere freilich vollkommen
Politik längst geistig unmöglich ist. Die Politik hat abgewirt- klare Einsicht in die wesentliche Deutschfeindlichkeit seines
schaftet. Nie mehr wird das politische Leben das geistige be- ganzen Systems von Willensmeinungen an dieser Bewunde-
herrschen können, nie mehr wird es eine politische Macht geben, rung irgend etwas ändern? Der Literat weiß nur zu gut, daß
die den Geist knebelt und auf den Scheiterhaufen bringt, das Deutschland ganz eigentlich das Land des großen Mannes ist,
ist unmöglich, und am allerwenigsten wird die demokratische — weiß es so gut wie der Dichter, der im ›Stern des Bundes‹
Heilslehre das vermögen. Welche Verstocktheit, etwas anderes an die Deutschen die Worte richtet:
zu glauben, — aus Liebe zur ›Freiheit‹ etwa die demokratische
. . . Das mittlere Gewächs erblüht und schwillt
Doktrin zur Herrschaft über die Geister bringen zu wollen!
Dort drüben voller, duftiger als bei euch . . . :
Vor dem Kriege war es als Unsinn erkannt, daß die Demo-
Des Edlen Edelstes gedeiht nur hier.
kratie mehr Freiheit gewährleiste. Man hatte begriffen, daß
die Herrschaft des Volkes die Öffentlichkeit des Lebens voll- Der Wunsch aber, den großen Mann loszuwerden, ist so alt
ende, nur durch Gesetze und Regeln aller Art vertreten wer- wie das Wunschbild der Zivilisation selbst, konzipiert zuerst
den könne; daß sie folglich Einschränkung der Freiheit, von den Chinesen, unter denen das Sprichwort lebt: »Der
Steigerung des Bureaukratismus, ständige Kontrolliertheit, große Mensch ist ein öffentliches Unglück.« Nur könnte es
Gewalt der Majorität über die Minorität, der wahrscheinlich sein, daß das zivilisatorische Mittel zur Erfüllung dieses Wun-
Dummen über die wahrscheinlich Klugen also, bedeute. Heute, sches unzuverlässig—, der Glaube, daß Gleichheit,Nivellierung
um politische Ratsamkeiten geistig zu rechtfertigen, oder um das Erstehen des Herrn verhindere, ein Irrtum wäre. »Ich fand
mit seiner Glaubenskraft großzutun, sucht man sich aus sei- noch keinen Grund zur Entmutigung«, heißt es in Nietzsche's
nem besseren Wissen herauszufinden und den demokratischen ›Wille zur Macht‹. »Wer sich einen starken Willen bewahrt
Gedanken zum Dogma zu erheben. Wahrhaftig, Demokratie und anerzogen hat, zugleich mit einem weiten Geiste, hat
als Dogma des Geistes! Und dabei steht fest, daß Gleichheit günstigere Chancen als je. Denn die Dressierbarkeit der Men-
nicht nur nicht Freiheit bedeutet, sondern daß sie sich sogar schen ist in diesem demokratischen Europa sehr groß gewor-
vorzüglich, ja, sie ganz allein, zum Piedestal der Größe, des den; Menschen, welche leicht lernen, leicht sich fügen, sind die
Herrn, des Tyrannen eignet, — auf welchen der Zivilisations- Regel: das Herdentier, sogar höchst intelligent, ist präpariert.
Wer befehlen kann, findet die, welche gehorchen müssen: ich
literat doch so schlecht zu sprechen ist!
denke zum Beispiel an Napoleon und Bismarck. Die Konkur-
Die demokratische Republik, sagt er, — endlich wird sie er-
renz mit starken und ««intelligenten Willen, welche am mei-
lauben, den Prozeß einzuleiten, der über die Zukunft der gro-
sten hindert, ist gering .. .« Das intelligente Nivellement nicht
ßen Männer entscheidet, — dieser Ungeheuer, des Entsetzens
etwa als Mittel gegen den »großen Mann«, sondern geradezu
der Kleinen, deren Anteil sie fressen, dieser Beleidiger und
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als Mutterboden des Cäsarismus, — darf man den Zivilisa- menheit, wenn man bei der seltsam organischen, ungezwun-
tionsliteraten im Namen seiner geistigen Freiheit ersuchen, genen und poetischen Wortverbindung ›Deutsches Volk‹
von diesem Gesichtspunkt Kenntnis zu nehmen? Zieht er den etwas nicht nur national, sondern wesentlich anderes, Besse-
Cäsarismus der Monarchie vor? Das spräche für seinen Ge- res, Höheres, Reineres, ja Heiligeres imaginiert und empfin-
schmack, ohne folgestreng zu sein. Die deutsche Wirklichkeit det als bei dem Worte ›Englisches‹ oder ›Französisches Volk‹.
aber kannte einmal — ach, es ist wie ein Traum! — eine Ver- Volk ist wahrhaftig ein heiliger Laut; aber hat er nicht
bindung von beidem, von Monarchie und Cäsarismus, sie allein mit dem deutschen Namen verbunden allenfalls noch
kannte das Genie als »treuen deutschen Diener seines Herrn«, lebendigen Sinn? Die Auflösung unseres Volksbegriffs durch
— und das war die politisch glückseligste Zeit Deutschlands, den Geist des Auslandes, durch den Marxismus, diese Ver-
ja, es ist leicht vorauszusagen, daß Deutschland nicht wieder schmelzung von französischem Revolutionarismus und eng-
glücklich sein wird, bevor nicht diese glückselige Konstellation lischer Nationalökonomie, ist weit genug vorgeschritten. Den-
sich wieder hergestellt. Wollte man aber, in ihrer Ermanglung noch ist das Volk Deutschlands am meisten Volk geblieben,
und Erwartung, eine Eckart-Gestalt an monumentaler Treue am wenigsten zur Klasse und Masse entartet; und es geschieht
und Sachlichkeit, den Marschall Hindenburg zum Reichskanz- aus diesem Gefühlsgrunde, daß bei dem Worte ›Volksstaat‹
ler machen, so möge niemand erwarten, daß ich aus Devotion sympathisch aufhorchen mag, wem beim Schrei nach Demo-
vor dem ›Geiste‹ mich solchem Säbelregiment widersetzen kratie sich der Instinkt empört.
werde. Im Gegenteil: nur unter einem Führer, der Züge des Rechte des Volkes . . . Wahrhaftig, es stünde einem Deut-
Großen Mannes von deutschem Schlage trägt, wird der ›Volks- schen heut wenig an, dem deutschen Volk, dem Helden dieses
staat‹ einen erträglichen Anblick bieten und etwas anderes Krieges, das Recht bestreiten zu wollen, am Leben der Nation
sein als die Humbug-Demokratie, die wir nicht ›meinen‹. mitzuwirken, mitzubestimmen. Mir ist freilich, als sei dies
Recht und diese schöne Möglichkeit nicht sowohl zu ›erwei-
Demokratie, wie man den Begriff nun sonst auch facettieren tern‹ — denn sie war kaum vorhanden —, sondern erst zu
und drehen möge, heißt Volksherrschaft; und der Glaube an schaffen, und als sei mit der mechanischen ›Erweiterung‹ be-
sie, der Glaube also, sie sei die edelste, gerechteste und glück- stehender Rechte nichts oder nur Falsches getan. Auf jeden
bringendste Art der Herrschaft, ist so alt wie der Staat selbst Fall habe ich ein offenes Ohr für Warnungen, wie sie mir von
— und so alt wie der Glaube an das Gegenteil. Neue Argu- der Front her zugehen und etwa besagen: bei jeder Abwehr
mente für oder wider sie zu erdenken, ist unmöglich. Wäre der demokratischer Unreinlichkeit und Demagogie, jedem Ein-
Streit auszutragen, so müßte er längst ausgetragen sein; und schreiten gegen solche, die sich der Demokratie gern bedienten,
erstaunlich ist, wie politische Prinzipien, trotz aller Abnutzung um zur Macht zu kommen, gegen ohnmächtige Literaten und
durch die Geschichte, durch das Denken und die Praxis, ihre unsauberes Pack, würde ich unfehlbar die Besten auf meiner
Jugendfrische und Energie bewahren, plötzlich vermöge eines Be- Seite haben: aber hüten solle ich mich, wenn ich nicht ganz
leuchtungswechsels neu und glänzend der Menschheit vor Au- allein sein wolle, das Volk, den gemeinen Mann anzutasten
gen stehen und als die ›Wahrheit‹ jauchzend ergriffen werden. und herabzusetzen, »den deutschen Industriearbeiter, der den
Volksherrschaft... Das Wort hat seine Schrecken. Beachten Krieg gewinne und ein herrlicher Kerl sei, ohne Haß, voller
wir immerhin, daß es auf deutsch bei weitem am wenigsten Menschlichkeit, mit tiefem Gefühl für Recht und Entrechtung
schrecklich klingt. Es ist nicht bloße patriotische Voreingenom- und einer eingeborenen Kernigkeit und Tüchtigkeit, die un-
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sagbar bewährt und jeder Lage gewachsen sei« . . . Ich bin War das etwa bloße ›indirekte Charakteristik‹? War es nicht
dankbar für solche Worte, die mir das Leben, die Wirklich- geharnischte Lyrik und steht es nicht da für die Ewigkeit? —
keit nahe bringen, und deren Empfindung ich stolz und freu- Annähernd zweihundert Jahre später schrieb ein Mensch mit
dig teile. Aber bin ich nun darum gehalten, alles zu vergessen, der Feder auf Papier: »Das Volk ist gerecht, weise und gut.
was menschliche Vornehmheit je gegen das Volk als politi- Alles, was es tut, ist tugendhaft und wahr, nichts übertrieben,
sches Getüm, gegen das »Tier mit den vielen Köpfen«, die irrig oder verbrecherisch.« Es war Robespierre. Sind wir wie-
»wankelmüt'ge, schmutz'ge Meng'« auf dem Herzen hatte und der soweit? Ist unsere von der Zeit tyrannisierte Erkenntnis
sich für alle Zeiten vom Herzen sprach? Ist coriolanisches Emp- wieder auf dem Punkte, diese ekelhafte Frömmelei für Wahr-
finden zum widernatürlichen, gesundem Sinn unzugänglichen heit zu nehmen?
Greuel geworden? Sie war jedoch der Fortschritt. Denn der sozial-politische
Er liebt das Volk, Fortschritt ist nur eine Folge davon, daß das Volk seine Stärke
Doch zwingt ihn nicht, sein Schlafkam'rad zu sein. kennenlernte. — Disraeli antwortet darauf: »Das Volk ist nie
stark, das Volk kann nie stark sein. Die Versuche des Volks,
Eu'r Volk — lieb' ich nach seinem Wert. selbst seine Rechte zu behaupten, werden nur mit Leiden und
Verwirrung endigen. Die Gesittung ist es, die jene Verände-
Volksführer, rung bewirkt hat und immerfort bewirkt; sie ist es, die den
Wie kann er schmeicheln Eurem wimmelnden Schwarm — Gebildeten seine sozialen Pflichten lehrt.« Ich müßte ein Lüg-
(Wo Einer gut von tausend) — ner und Heuchler sein, wenn ich meine überzeugte Zustim-
mung zu diesen Worten, den unmittelbaren Beifall, den sie
Heiß' sie die Gesichter waschen, mir wecken, dem Literaten zu Gefallen unterdrücken und ver-
Die Zähne putzen. — Ach — da kommt ein Paar. leugnen wollte.
Mein Gott, das Volk! Hat es denn Ehre, Stolz — von Ver-
Ei sieh! Die Volkstribunen nah'n, die Zungen stand nicht zu reden? Das Volk ist es, das auf den Plätzen
Im Maul des Pöbels: ich verachte sie — singt und schreit, wenn es Krieg gibt, aber zu murren, zu
greinen beginnt und den Krieg für Schwindel erklärt, wenn er
Man will des Adels Willen beugen; duldet's lange dauert und Entbehrungen auferlegt. Womöglich macht
Und lebt mit Volk, das weder herrschen kann es dann Revolution; aber nicht aus sich; denn zu Revolutionen
Noch sich beherrschen läßt. gehört Geist, und das Volk ist absolut geistlos. Es hat nichts
als die Gewalt, verbunden mit Unwissenheit, Dummheit und
Noch einmal denn sag' ich, wenn wir sie hätscheln, Unrechtlichkeit. Es kann revoltieren; aber eine Revolution
Erziehn wir gegen uns und den Senat brächte es von sich aus nie zustande, wenn Geistiges von oben
Das Unkraut Rebellion, Frechheit, Empörung, ihm nicht zu Hilfe kommt, wie 1789, wo es von einem Geiste,
Das selbst wir eingepflügt, gesät, verbreitet, der nicht sein war, zu allem ermutigt wurde und dank diesem
Da wir mit uns, des Adels Zahl, sie mengten, Geiste, der die oberen Klassen durchsetzte, überhaupt keinen
Dem nichts an Kraft noch Macht fehlt, als was er Widerstand fand.
An Bettler hat verschenkt — Ist das Volk etwa edler und besser als die Herrschenden?
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Ist es gerechter, weil es Gerechtigkeit fordert? Gerechtigkeit lange nach ihr? Das ist ein Irrtum. Sowenig wie das Volk
wird überhaupt nicht gefordert, sie wird geübt (von einer eigentlich demokratisch empfindet — es besitzt vielmehr das
herrschenden Klasse etwa, die sich aus Anstand entschlösse, natürlichste Gefühl für Abstand und Rangordnung —, sowenig
der unterworfenen gleiche Rechte zuzugestehen) — im anderen ist es von Natur der Aufklärung und dem Fortschritt geneigt:
Falle heißt sie Neid und Begehrlichkeit und ist keine Tugend. wie denn umgekehrt die größten Volksmänner Konservative,
Ist das Volk hochherziger, glaubt es leichter und lieber als der ja, vom Standpunkt der Aufklärung gesehen, Obskurantisten
Bourgeois an Freiwilligkeit, Uneigennützigkeit, höhere Mensch- waren. Wahre Volksmänner waren die vorgenannten Aristo-
lichkeit? Frönte es weniger dem Kultus des Sachgutes, der phanes und Dostojewski (ich tue mir auf die Zusammenstel-
Ökonomie, der Nützlichkeit und war ihm die Überzeugung, lung etwas zugute), diese Verteidiger der Religion, diese Erz-
daß alles in der Welt nur aus Berechnung und des Geldes feinde des Fortschritts, des ›Nihilismus‹; und der ›Seigneur
wegen geschehe, nicht auffallend rasch zum Axiom, zur Grund- de Ferney‹, das war kein Volksmann. — Ist denn das Volk der
tatsache des Lebens geworden, die anzufechten es wenig Nei- Aufklärung geistig-moralisch auch nur gewachsen? M. Barrès
gung zeigte? schrieb eines Tages: »Es gäbe manche Überraschung, wenn
Ihr meint, das Volk sei fortschrittlich gesinnt? »Die Ten- die alte Kirche inmitten der Häuser verschwände, die sie be-
denz der Herde«, sagt Nietzsche, »ist auf Stillstand und Er- herrscht. Hört doch, was euch der katholische und der prote-
haltung gerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr.« Das ist eine stantische Geistliche, der Landarzt sagen. Übereinstimmend
Lehre, mit der die oft beobachtete Tatsache übereinstimmt, daß versichern und konstatieren sie, daß der vom Christentum
es nirgends mehr Neigung zur Trägheit gibt als im niederen verlorene Boden nicht etwa von der rationalistischen Kultur
Volk, daß das Ideal absoluter Untätigkeit ganz eigentlich das erobert wird, sondern vom Heidentum in seinen niedrigsten
Ideal der ›arbeitenden Klasse‹ ist, die diesen Titel sehr un- Formen: als Zauberei, Hexerei, theosophische Verirrungen,
freiwillig verdient. Ich erinnere mich, daß ich einen Mann aus spiritistischer Schwindel.« Und wenn nicht davon, dann vom
dem Volk beim Anblick eines vorüberrennenden Hundes sagen niedrigsten Utilitarismus und Materialismus, vom unbeding-
hörte: »Wenn ich so laufen könnt', tät' ich auch nichts mehr ten Glauben an das Interesse und von unstillbarer Begehr-
arbeiten!« Gerade seiner logischen Sinnlosigkeit wegen prägte lichkeit.
der Ausruf sich mir so erheiternd ein. Welche Lust an dem Volksherrschaft verbürgte Frieden und Rechtlichkeit? Die
Gedanken des Nichtstuns mußte der Mann haben, wie oben- sicherste Gewähr für den Frieden wäre die ›demokratische
auf und stets lebendig in seinem Kopf mußte dieser Gedanke Kontrolle‹? Das möchte ich wissen! Ich möchte wissen, ob in
sein, daß er eine logisch so unzureichende Gelegenheit ergriff, den Händen der Masse die Entscheidung über Krieg und Frie-
um davon zu sprechen! Trägheit aber und Fortschritt, Ver- den besser aufgehoben wäre als in denen eines Ministers vom
änderung, umwälzende Neuerung haben nichts miteinander Schlage des Herrn von Bethmann Hollweg. Existiert das ita-
zu tun; die Arbeit muß geliebt werden, erfinderische Rührig- lienische Beispiel nicht für die, welche das ›Volk‹ für einen
keit in Ehren stehen, damit die Welt ›vorwärts‹ komme; gewissenhaften, besonnenen, beherrschten Hüter des Friedens
und die ›Würde der Arbeit‹ eben ist durchaus kein populärer halten? Wer hat den italienischen Krieg gemacht, wenn nicht
Begriff, sondern ein bürgerlicher: es gehörte Geist dazu, ihn die ›Straße‹, die ›piazza‹, die Demokratie, das Volk oder die-
zu fassen. jenigen, denen das Volk nicht wehrte, sich dafür auszugeben?
Ihr meint ferner, das Volk liebe die Aufklärung, es ver- Saht ihr, August 1914, den Pöbel von London um die Nelson-
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Säule tanzen? Selbst ein überzeugter Sozialist wie der Schwede ökonomische Überzeugung, je tiefer hinab, desto fester sitzt.
Steffen wirft achselzuckend die Doktrin beiseite, daß die Ge- Kaum daß die ›emanzipierte‹, die ›aufgeklärte‹, die ›den-
gensätze, der Unfrieden der Völker und also die Kriegs- kende‹ Masse sich noch die Führerschaft ihrer Gewählten ge-
ursachen von selber wegfallen würden, wenn nur erst das fallen läßt; sie beabsichtigt, auch diese zur Rechenschaft zu
Proletariat die politische Macht verwalte.. .Verantwortlichkeit! ziehen. Aber müssen die sogenannten herrschenden Klassen
Und seit wann gewänne eine Verantwortlichkeit an Ernst und es sich zum Vorwurf machen, das Unkraut Rebellion, Frech-
Schwere, die man aufteilt, — die man auf viele, auf alle Schul- heit, Empörung selbst eingepflügt, gesät, verbreitet und sich
tern verteilt? Jede Erfahrung lehrt, daß auf diese Weise Ver- unmögliche Halbherren erzogen zu haben, während sie etwas
antwortlichkeit überhaupt abhanden kommt. . . Freilich, jetzt ganz anderes gebraucht hätten? Das Volk als ein Wesen, das
will das Volk schon lange den Frieden, und zwar unbedingt; weder herrschen kann noch sich beherrschen läßt, ist kein
es will ihn vermutlich überall, am fahrlässig-unbedingtesten, modernes Erzeugnis. Es war immer und wird immer sein.
wie man glauben muß, in Deutschland: nicht nur, weil es dort Diese Not ist zeitlos und international. Und international sind
vom Worte, der Phrase, am wenigsten gestützt wird, sondern die Palliative, deren man sich dagegen bedient: sie heißen
namentlich, weil das Nationale hier eine Kraft und Errungen- Innere Politik, Parlament, ›Demokratie‹. Was aber meines-
schaft des unpolitischen Bürgertums ist, während das politi- gleichen gegen die heute wieder beliebte blödsinnige geistige
sierte Volk national schwach blieb und die Internationale ernst Überschätzung dieser kümmerlichen Notwendigkeiten auf dem
nahm und nimmt, wie sonst nirgendwo. Ich zweifle gar nicht Herzen hat, das ist — was mühe ich mich! — längst aufs beste
daran, daß heute die Abtretung Elsaß-Lothringens durch die gesagt; es ist auf immer zusammengefaßt in Schopenhauers
riesige Majorität des Frontheeres sofort und ohne Debatte Aufsatz ›Zur Rechtslehre und Politik‹ (VI. Band der Brockhaus-
bewilligt würde. »Denn«, so fügt der Beobachter, der mir dies schen Ausgabe), und zwar in jenem unsterblichen Paragra-
zu bedenken gibt, hinzu, »soll das Volk und seine Erwählten phen 128, mit dessen Anführung ich diesen Abschnitt be-
die politischen Ziele setzen, so werden stets nur die Nöte des schließen will, und welcher kurz und kräftig lautet:
Augenblicks und der gegenwärtigen Generation bestimmend »Überall und zu allen Zeiten hat es viel Unzufriedenheit
sein, und daß ›Volk‹ auch eine zeitliche Ausdehnung hat, wird mit den Regierungen, Gesetzen und öffentlichen Einrichtungen
vom Volke stets übersehen, weil es weiß, daß seine Genera- gegeben; großenteils aber nur, weil man stets bereit ist, diesen
tionen sich dumpf und gern ins Gegebene schicken.« Kein das Elend zur Last zu legen, welches dem menschlichen Da-
Zweifel also: die Verwirklichung des Volksstaates als Staat sein selbst unzertrennlich anhängt, indem es, mythisch zu
des Volkes jetzt im Kriege würde den sofortigen Frieden und reden, der Fluch ist, den Adam empfing, und mit ihm sein
den Triumph Frankreich-Englands bedeuten, — man versuche ganzes Geschlecht. Jedoch nie ist jene falsche Vorspiegelung
es doch, dem ›gemeinen Manne‹ klarzumachen, daß das ein auf lügenhaftere und frechere Weise gemacht worden, als von
volksfeindlicher Friede wäre! Man versuche es aber auch, uns den Demagogen der ›Jetztzeit‹. Diese nämlich sind, als Feinde
einzureden, ein solcher Friede wäre ein Beweis für die Fähig- des Christentums, Optimisten: die Welt ist ihnen ›Selbst-
keit des Volkes, sich selbst zu regieren! — Auf der andern zweck‹ und daher an sich selbst, d. h. ihrer natürlichen
Seite will es nicht mehr regiert werden, das ist klar; um an Beschaffenheit nach, ganz vortrefflich eingerichtet, ein rechter
einen ›Staat für das Volk‹ und an seinen reinen Willen zu Wohnplatz der Glücksäligkeit. Die nun hiegegen schreienden,
glauben, ist es zu mißtrauisch: eben weil die materialistisch- kolossalen Übel der Welt schreiben sie gänzlich den Regie-
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rungen zu: täten nämlich nur diese ihre Schuldigkeit, so würde
der Himmel auf Erden existieren, d. h. Alle würden ohne
VON DER T U G E N D
Mühe und Not vollauf fressen, saufen, sich propagieren und
krepieren können: denn dies ist die Paraphrase ihres ›Selbst-
zweck‹ und das Ziel des ›unendlichen Fortschritts der Mensch- Die Jakobiner haben erklärt, daß die Tu-
heit‹, den sie in pomphaften Phrasen unermüdlich verkün- gend an der Tagesordnung sei.
digen.« Danton bei Büchner
Pécuchet, gallig und mit Hang zur Recht-
haberei, erklärte sich als Sansculotten und
selbst Anhänger des Robespierre.
Flaubert, ›Bouvard und Pécuchet‹
Vom Gegenteil einer Sache zu sprechen ist auch eine Art, von
der Sache selbst zu sprechen, — sogar eine Art, mit welcher der
sachlichen Verständigung vortrefflich gedient ist. So eröffne
ich dieses Kapitel mit der Betrachtung eines alten, deutschen
— der Augenblick zwingt mich hinzuzufügen: auch noch deut-
schen Buches, das der Tugend, wie ich sie verstehe und wie sie
heute durchaus verstanden werden muß, der politischen Tu-
gend also, in einem wahrhaft liederlichen Grade enträt: näm-
lich so, daß es nicht nur nichts davon wissen will (das wäre
noch keine Willenlosigkeit), sondern tatsächlich rein gar nichts
davon weiß und sich also auf eine heute schlechthin verblüf-
fende Weise im Stande politischer Unschuld und Ruchlosigkeit
befindet: ich meine den ›Taugenichts‹, Joseph von Eichen-
dorffs wundersam hoch und frei und lieblich erträumte No-
velle, die wir alle in unserer Jugend gelesen haben, und von
der uns allen all die Zeit her ein feiner Saitenschlag und
Glockenklang im Herzen nachgeschwungen hat.
›Aus dem Leben eines Taugenichts‹ . . . Weiß man noch?
Und möchte man die holde Erinnerung nicht einmal auffri-
schen, gerade und trotzigerweise jetzt die schwebende, klin-
gende Geschichte wieder lesen, die, als wir sie vordem lasen,
vielleicht ein zerschlissenes Fetzchen mit Eselsohren war und
unterdessen zum vornehmsten Buchwerk geworden ist: solen-
nen Formats, gedruckt in klaren und großen deutschen Lettern
auf schönes, starkes Papier und obendrein geschmückt mit
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Zeichnungen von einem wunderlich anachronistisch wirken- aber stehen sie an ihrem eigentlichen Platze, noch ganz ohne
den, genialen kleinen Herrn mit dem romantisch-vorpolitischen Ruhmespatina, noch nicht eingegangen in den Liederschatz
Namen Preetorius? So nämlich ist sie kürzlich, mitten in die- der Jugend und des Volkes, frisch, erstmalig und nagelneu:
sem Kriege, wieder erschienen, und auch dies, auch diese biblio- Dinge wie »Wohin ich geh und schaue«, oder jenes »Wer in
phile Ehrung, die dem alten ›Taugenichts‹ ausgemacht jetzt die Fremde will wandern« mit dem Endruf »Grüß dich, Deutsch-
zuteil geworden, ist vielleicht ein Zeichen der Zeit, von dem land, aus Herzensgrund!«, oder »Die treuen Berg' stehn auf
eine Schrift wie die vorliegende Grund hat, mit einiger Um- der Wacht«, und dann die Zauberstrophe, die eine als wan-
ständlichkeit Kenntnis zu nehmen. dernder Maler verkleidete Frau zur Zither auf dem Balkon in
Es hat doch wohl keinen Sinn, daß ich die Fabel rekapitu- die warme Sommernacht singt; die, wie jedes der Lieder, auf
liere? Sie anspruchslos zu nennen, wäre schon zuviel gesagt. noch prosaischem Wege musikalisch vorbereitet wird — »Weit
Sie ist die reine ironische Spielerei, und der Verfasser selbst von den Weinbergen herüber hörte man noch zuweilen einen
macht sich darüber lustig, indem er gegen den Schluß je- Winzer singen, dazwischen blitzte es manchmal von ferne, und
manden sagen läßt: »Also zum Schluß, wie sich's von selbst die ganze Gegend zitterte und säuselte im Mondschein« —,
versteht und einem wohlerzogenen Romane gebührt: Entdek- und die nun freilich nicht mehr volkstümlich ist, sondern ein
kung, Reue, Versöhnung, wir sind alle wieder lustig beisam- non plus ultra, eine betörende Essenz der Romantik, —
men, und übermorgen ist Hochzeit!« Aber der Roman ist Schweigt der Menschen laute Lust:
nichts weniger als wohlerzogen, er entbehrt jedes soliden Rauscht die Erde wie in Träumen
Schwergewichts, jedes psychologischen Ehrgeizes, jedes sozial- Wunderbar mit allen Bäumen,
kritischen Willens und jeder intellektuellen Zucht; er ist nichts Was dem Herzen kaum bewußt,
als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Alte Zeiten, linde Trauer,
Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, Und es schweifen leise Schauer
törichte Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Wetterleuchtend durch die Brust.
Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung.
Aber er ist auch Volkstanz im Sonntagsputz und wandernde Der Taugenichts nun also, um persönlich auf ihn zu kom-
Leierkasten, ein deutsch-romantisch gesehenes Künstler-Ita- men, ist ein Müllersjunge, der seinen Schimpfnamen daher
lien, fröhliche Schiffahrt einen schönen Fluß hinab, während hat, daß er daheim zu nichts taugt, als sich in der Sonne zu
die Abendsonne Wälder und Täler vergoldet und die Ufer von rekeln und die Geige zu spielen, und den sein Vater darum
Waldhornklängen widerhallen, Sang vazierender Studenten, ärgerlich auf die Wanderschaft schickt, damit er sich draußen
welche »die Hüt' im Morgenstrahl schwenken«, Gesundheit, sein Brot erwerbe. »Nun«, sagt der Junge, »wenn ich ein Tauge-
Frische, Einfalt, Frauendienst, Humor, Drolligkeit, innige Le- nichts bin, so ist's gut, so will ich in die Welt gehen und mein
benslust und eine stete Bereitschaft zum Liede, zum reinsten, Glück machen.« Und während rechts und links seine Bekann-
erquickendsten, wunderschönsten Gesange . . . Ja, die Weisen, ten und Kameraden, »wie gestern und vorgestern und immer-
die da erklingen, die überall eingestreut sind, als sei es nicht dar«, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen, streicht er,
weiter viel damit, — es sind nicht solche, die man nur eben in »ewigen Sonntag« im Gemüte, mit seiner Geige durchs Dorf
Kauf nimmt, es sind Kleinode der deutschen Lyrik, hochbe- in die freie Welt hinaus und lenkt mit dem nagelneuen Liede
rühmt, unserm Ohr und Herzen alt und lieb vertraut; hier »Wem Gott will rechte Gunst erweisen« begreiflicherweise die

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Aufmerksamkeit zweier Damen auf sich, die ihn in einem Kornfelder hin, die schweifenden Lerchen zwischen den Mor-
»köstlichen Reisewagen« auf der Landstraße überholen. Sie genstreifen hoch am Himmel, den ernsten Mittag, die flü-
nehmen ihn auf dem Trittbrette mit nach Wien, das er ins sternde Nacht aus dankbarer Seele liebt und innig belauscht,
Blaue hinein als sein Wanderziel genannt hat; und damit be- ist er in der Welt doch nicht zu Hause, hat in der Regel nicht
ginnt der verträumte Reigen seiner deutsch-italienischen Aben- teil an dem Glücke derer, die sich in ihr zu Hause fühlen.
teuer, die Geschichte seiner Liebe zur viel schönen gnäd'gen »Alles ist so fröhlich«, denkt er, während er wie öfters über
Frau, diese willenlose Geschichte, die sich in einer Opernintrige der Welt in einer Baumkrone sitzt; »um dich kümmert sich
verwirrt, um sich in kindliches Wohlgefallen aufzulösen, und kein Mensch. Und so geht es mir überall und immer. Jeder
in welcher der Charakter dessen, der sie erlebt und erzählt, hat sein Plätzchen auf der Erde ausgesteckt, hat seinen war-
sich so treuherzig-unverantwortlich offenbart. men Ofen, seine Tasse Kaffee, seine Frau, sein Glas Wein zu
Der Charakter des Taugenichts ist folgender. Seine Bedürf- Abend und ist so recht zufrieden . . . Mir ist's nirgends recht.
nisse schwanken zwischen völligstem Müßiggang, so daß ihm Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte
vor Faulheit die Knochen knacken, und einem vag-erwartungs- die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet.« Er vergleicht
vollen Vagabundentriebe ins Weite, der ihm die Landstraßen sich mit einem zusammengerollten Igel, mit einer Nachteule,
als Brücken — über das schimmernde Land sich fern über die in Ruinen hockt, mit einer Rohrdommel im Schilfe eines
Berge und Täler hinausschwingende Brücken zeigt. Er ist nicht einsamen Weihers. Und er nimmt dann seine Geige von der
allein selber nutzlos, sondern er wünscht auch die Welt nutz- Wand und spricht zu ihr: »Komm nur her, du getreues In-
los zu sehen, und als er ein Gärtchen zu bewirtschaften hat, strument! Unser Reich ist nicht von dieser Welt!« Er ist ein
wirft er Kartoffeln und anderes Gemüse, das er darin findet, Künstler und ein Genie, — was nicht seine eigene Behauptung
hinaus und bebaut es zum Befremden der Leute ganz mit er- noch die des Dichters ist, aber durch seine Lieder zur schön-
lesenen Blumen, mit denen er allerdings seine hohe Frau be- sten Evidenz erwiesen wird. Gleichwohl hat sein Wesen nicht
schenken will und die also wohl einen Zweck haben, aber nur den geringsten Einschlag von Exzentrizität, Problematik, Dä-
einen unpraktisch-empfindsamen. Er ist von der Familie der monie, Krankhaftigkeit. Nichts ist bezeichnender für ihn, als
jüngsten Söhne und dummen Hänse des Märchens, von denen sein »Grausen« vor den wildschönen und überspannten Re-
niemand etwas erwartet und die dann doch die Aufgabe lösen den des Malers in dem römischen Garten, eines Bohemiens
und die Prinzessin zur Frau bekommen. Das heißt, er ist ein von dekorativem Gebaren, der mit grotesker Lustigkeit von
Gotteskind, dem es der Herr im Schlafe gibt, und er weiß das Genie und Ewigkeit, von »Zucken, Weintrinken und Hunger-
auch; denn als er in die Welt zieht, wiederholt er nicht seines leiden« rodomontiert und dabei mit seinen verwirrten Haaren
Vaters Wort vom Broterwerb, sondern erklärt leichthin, er vom Tanzen und Trinken im Mondschein ganz leichenblaß
gehe, sein Glück zu machen. Auch ist er so hübsch von Ge- anzusehen ist. Der Taugenichts schleicht sich davon. Obgleich
sicht, daß in Italien, wo er, ohne es zu wissen, infolge der In- Landstreicher, Musikant und Verliebter, versteht er sich nur
trige eine Zeitlang für ein verkleidetes Mädchen gilt, ein schlecht auf die Boheme, — denn die Boheme ist eine äußerst
schwärmerischer Student sich recht hoffnungslos in ihn ver- literarische und naturferne Form der Romantik, und er ist
liebt, und daß überhaupt alle Herzen sich freundlich zu ihm vollkommen unliterarisch. Er ist Volk, seine Melancholie ist
neigen. Trotzdem aber und obgleich er die schöne Wander- die des Volksliedes und seine Lebensfreude desselben Geistes.
erde, das frische Krähen der Hähne über die leise wogenden Er ist gesund, wenn auch keineswegs derb, und kann die Ver-
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rücktheiten nicht ausstehen. Er »befiehlt sich Gottes Führung, er hat weder Siegfrieds Muskelhypertrophie, noch Parsifals
zieht seine Violine hervor und spielt alle seine liebsten Stücke Heiligkeit, noch Mowgli's Halbtierheit, noch Hausers seelische
durch, daß es recht fröhlich in dem einsamen Walde erklang«. Kellerfarbe. Das alles wären Exzentrizitäten; der Taugenichts
Sein Romantizismus also ist weder hysterisch, noch phthisisch, aber ist human-gemäßigt. Er ist Mensch, und er ist es so sehr,
noch wollüstig, noch katholisch, noch phantastisch, noch in- daß er überhaupt nichts außerdem sein will und kann: eben
tellektuell. Dieser Romantizismus ist ganz unentartet und deshalb ist er der Taugenichts. Denn man ist selbstverständ-
unentgleist, er ist human, und sein Grundton ist melancho- lich ein Taugenichts, wenn man nichts weiter prästiert, als
lisch-humoristisch. Wo dieser Ton drollig wird, erinnert er eben ein Mensch zu sein. Auch ist sein Menschentum wenig
auffallend an den eines sehr hohen germanischen Humoristen differenziert, es hat etwas Abstraktes, es ist bestimmt eigent-
der Gegenwart, der ebenfalls Volk und inniger Landstreicher lich nur im nationalen Sinne, — dies allerdings sehr stark; es
ist: an den Knut Hamsuns. »Parlez-vous français? sagte ich ist überzeugend und exemplarisch deutsch, und obgleich sein
endlich in meiner Angst zu ihm. Er schüttelte mit dem Kopfe, Format so bescheiden ist, möchte man ausrufen: wahrhaftig,
und das war mir sehr lieb, denn ich konnte ja auch nicht fran- der deutsche Mensch!
zösisch.« — Der Taugenichts verleugnet den Humoristen auch Preetorius hat diese Figur wundervoll verstanden und wie-
nicht in der Liebe. Auch seine Liebe ist nicht »leichenblaß«, dergegeben. Sie ist nur zwei Zoll hoch auf seinen Zeichnun-
auch sie ist human, das heißt melancholisch, innig und humo- gen, aber voll von poetischem und symbolischem Leben. Der
ristisch. Er würde sich niemals, wie der welsche Student tut, Taugenichts vor dem Amtmann, auf der verwitterten Garten-
der ihn für ein Mädchen hält, jemandem mit Iddio und cuore mauer, im Schlafrock vor seinem Zollhäuschen; der Tauge-
und amore und furore zu Füßen stürzen. Als »alles, alles gut« nichts im Frührot wandernd und geigend oder im Baum über
ist und er seine hohe Frau haben kann, da sie gottlob nur eine das weite Land hin meditierend; der Taugenichts, sein Instru-
Portiersnichte ist, da ist er »so recht seelenvergnügt« und ment schwenkend, vor der Silhouette von Rom, oder am Schluß
langt eine Handvoll Knackmandeln aus der Tasche, die er noch mit der Geliebten auf dem Söller über dem tiefen Tal: das sind
aus Italien mitgebracht hat. »Sie nahm auch davon, und wir Fixierungen von zarter und eindringlicher Bildkraft. Der Illu-
knackten nun und sahen zufrieden in die stille Gegend hin- strator macht seinen Helden nicht ›schön‹, obwohl es im Buche
ein.« Das ist so freiwillig humoristisch, daß keine unfreiwil- über ihn heißt: »Come è bello!« Aber die Schönheit des Tauge-
lige Komik aufkommen kann, und man erinnert sich, daß auch nichts ist auch sicher nichts weiter als ein Durchschimmern
die Märchenhänse sich nicht exaltierter aufführen, wenn sie seiner Gotteskindlichkeit, und der Illustrator tat recht, dem Zug
die Prinzessin bekommen. Der Taugenichts ist in geschlechtli- seines humoristischen Talentes zu folgen und keinen Ideal-
chen Dingen unschuldig bis zur Tölpelhaftigkeit und geht aus jüngling, sondern einen linkischen Märchenhans zu zeigen.
recht heiklen Lebenslagen, in die er dank der Intrige gerät, Sein Taugenichts — und man wird ihn nun wohl immer so
unberührt und ahnungslos hervor. Daß seine Reinheit nicht sehn müssen — ist ein Bursche in einem braunen Schoßrock
albern wirkt, ist eine starke poetische Leistung. Es ist die Rein- und ungeschickten Hosen, mit Vatermördern, einem komisch
heit des Volksliedes und des Märchens und also gesund und widerspenstigen Haarwuchs und einem spitznäsigen, unend-
nicht exzentrisch. Er hat die Naivität und Freimenschlichkeit lich naiven, unklugen und guten Gesicht. Der Zeichner gab
gemeinsam mit Gestalten wie dem Wagner'schen Waldknaben, viel, mit ganz sparsamen, aber genau und sinnig verwandten
dem Helden der Dschungelbücher und Kaspar Hauser. Aber Mitteln: er gab nach der Vorschrift des Dichters ein in seiner
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Anspruchslosigkeit rührendes und erheiterndes Symbol reiner Sie ist eine Tatsache — und nicht wahr, wir sind die Letzten,
Menschlichkeit, human-romantischer Menschlichkeit, noch ein- vor einer so merkwürdigen, wenn auch abscheulichen Tatsache
mal denn: des deutschen Menschen. die Augen zu verschließen! Schon früher, an jener Stelle des
vorigen Kapitels, wo von dem rechthabenden Geiste, vom
»Versteht mich wohl! Ich lobe diejenigen sehr, die sich der Pharisäertum des Geistes die Rede war, dämmerte uns, daß
Schönheit annahmen, solange sie die Sache einiger weniger es sich dabei um ein historisch längst bekanntes, psychologisch
war und die Moral dumm und unangefochten auf ihrem Stuhle längst studiertes Pharisäertum handle: nicht zufällig, wenn
saß. Aber seitdem die Schönheit ein Geschrei der öffentlichen auch unwillkürlich, ergaben sich Anklänge an Taine's Jakobi-
Gassen geworden, beginnt die Tugend im Preise zu steigen.« ner-Psychologie. Überall, wo Literatur und Politik einander
Die Sätze sind zwölf Jahre alt. Ich ließ meinen kleinen Medi- durchdringen, der Geist sich politisiert, indem alle großen Ab-
ceer-Kardinal den Hof-Humanisten damit ärgern, und daß sie strakta: Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit auf-
durchaus nicht ›historisch‹ gemeint waren, wurde aufgefaßt, hören, moral-philosophische Probleme letzter und höchster Art
glaube ich, von dem wachsameren Teil meiner Leser. ›Fio- zu sein, und rein politische Bedeutung annehmen, durchaus aufs
renza‹ war ja nicht zuletzt eine Satire auf die Demokratisie- Staatlich-Gesellschaftliche bezogen werden und, vorbehaltlich
rung des Künstlerischen, auf den kindlichen Eifer, mit welchem ihrer Einzel-Definition in solchem Sinne, alles in allem ganz
die Zeit, unsere Zeit und Welt sich der Kunst und Schönheit einfach die radikale Republik bedeuten; wo andererseits die
bemächtigt hatte, dergestalt, daß sie das Geistige tatsächlich Politik sich literarisiert, den Charakter der herzerhebenden und
nur noch im Zeichen und Sinn des Ästhetischen begriff; und menschenwürdigen Phrase, der Rhetorik zu Ehren des ›Men-
zu dieser Satire gehörte es, daß ich eine ganz andere Art von schengeschlechtes‹ annimmt: überall dort muß (es scheint un-
Geist, den Geist als Moral, als eine neue und faszinierende, umgänglich) ein geistiger Typus entstehen, der alle Merkmale
weil in freien Zeitläuften längst nicht mehr für möglich ge- des Jakobinertums vollkommen reproduziert.
haltene Möglichkeit innerhalb meiner Dichtung hervortreten Unser politischer Intellektueller, der Zivilisationsliterat, ist
und über die Gemüter Herr werden ließ . . . Gebt zu, der Ver- ein solcher Typus. Er ist nicht Sozialdemokrat, natürlich nicht.
fasser dieser Gespräche war von Natur nicht ungeschickt, sich Wie hätte schon vor dem Kriege die nüchtern-sachliche Tätig-
von anti-ästhetizistischen Rückschlägen, von einer notwendigen keit der Gewerkschaften seinen Feuergeist nicht langweilen
Reaktion gegen die allgemeine Kunst-Kinderei, ja von der Re- und anwidern sollen? Welche Philister, diese Kriegskreditbe-
habilitierung der Tugend manches träumen zu lassen. Aber williger, diese Scheidemann, Heine, David, Frank und die an-
daß ich die Unzulänglichkeit meiner Intuition gestehe: was ich dern, die im Augenblick allerdringendster Lebensnot zu Deutsch-
mir nicht träumen ließ, nie hätte träumen lassen, und zwar ge- land standen, — wie Bebel und andere es übrigens vorausge-
wiß deshalb nicht, weil meine Erkenntnis an mein Persönli- sagt hatten. Sie mußten, — das sei ihnen zugute gehalten.
ches, mein eigenes Sein gebunden war und nicht schlüpfrige Schon um der Partei, um ihrer Lämmerherde, der Arbeiter-
Literatenorgane nach außen streckte, — was ich mir nicht träu- schaft willen, »die den Kelch der Leiden bis zum bittersten Rest
men ließ, das war die Auferstehung der Tugend in politischer hätte auskosten müssen«, konnten, durften sie nicht zulassen,
Gestalt, das Wieder-möglich-Werden eines Moralbonzentums daß das Reich überwältigt, zerschmettert, seine politische und
sentimental-terroristisch-republikanischer Prägung, mit einem wirtschaftliche Zukunft ruiniert werde, — sie haben es geltend
Worte: die Renaissance des Jakobiners. gemacht. Aber der begründete Verdacht besteht, daß sie nicht
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ganz allein mit dem Kopf, daß sie ein wenig auch mit dem bloß logische Anfechtung gegen den namenlosen Ekel etwas
Herzen ›mußten‹: und das war die Philisterei, die Todsünde vermögen, den notwendig Sätze ihm erregen wie folgende, die,
am Geiste, die nicht verziehen wird. Unnötig zu sagen, daß November 1915, nicht einmal im ersten Rausch also, ein Ge-
und warum die sozialistische ›Politik des 4. August‹ in Deutsch- nosse namens Alwin Saenger vom westlichen Kriegsschau-
land etwas ohne Vergleich Verächtlicheres war als in den platz datierte: »Heute kann es keinen deutschen Sozialdemo-
freien Ländern! Was, als die Spaltung der deutschen Partei kraten mehr geben, dem Fehler seines eigenen Landes den
sich vollzogen hatte, der Genosse Renaudel in Jaurès' Zeitung Wunsch je erstehen lassen könnten, lieber Engländer oder
der deutschen Minderheit bedeutete: sie möge sich nämlich Franzose zu sein. Heute gibt es keinen deutschen Sozialdemo-
nicht einbilden, daß nun auch der französische Sozialismus für kraten mehr, der nicht mit schärfster Rede gegen jeden Vor-
die Abkürzung des Krieges und für einen anderen Frieden ein- wurf des Auslandes gegen uns, gegen Volk, Staatsmann und
treten werde als den, der die Niederlage Deutschlands in sich Fürst auftreten würde. Heute kann es keinen deutschen Sozial-
begreife; es stehe außer Zweifel, daß die Lage der deutschen demokraten geben, der nicht an einen überragenden Einfluß
Sozialisten nicht die der französischen sei, und diese würden seines großen Vaterlandes in der Menschheitsgeschichte der
dem Werk der nationalen Verteidigung nun erst recht ergeben Zukunft glauben würde. Wem heute bei dem Namen deutsch
bleiben, — gewiß, diese stolze Botschaft begegnete im Busen das Herz nicht höher schlägt, der ist ein armer, kranker Mann!«
unseres Zivilisationsliteraten einem Verständnis, das dem Ein- Beim Himmel, nein, der Geistespolitiker ist nicht Sozialde-
verständnis gleichkam. Auch er hat ein Herz; aber, wie es im mokrat. Er wäre es allenfalls, wenn man unsere Anarcho-So-
Liede heißt, es ist »nicht hier«. Wilhelm Liebknecht hat das zialisten und internationalen Revolutionäre äußerster Obser-
Wort von der Vaterlandsverteidigung von der Tribüne herab vanz, denen er geistig, wenn auch nicht in formaler Hinsicht,
eine »Verwirrungsphrase« genannt: das gilt für Deutschland, nahesteht, zum linken Flügel der Partei rechnen wollte,—was,
es gilt für edlere Völker nicht. Man hüte sich, den trivialen Ein- meine ich, fehlerhaft wäre, da diese Herren als reine Genies,
wand zu erheben: wenn die Entstehung einer starken ›Lin- kaum auch als Parteipolitiker zu bewerten sind. Auch ist es
ken‹ für Deutschland zu wünschen sei, so sei die positive Teil- nicht eigentlich ihre Sprache, die er spricht. Die seine, ich
nahme der Sozialdemokratie am Staate zuerst zu wünschen brauchte es kaum zu sagen, wird überhaupt nicht in Deutsch-
oder, soweit sie vorhanden sei, zu begrüßen! Es wäre ein Miß- land, sie wird in Frankreich gesprochen. Es ist der Jargon einer
verständnis, zu glauben, daß es unserem Politiker auf Politik, französischen Partei: der Radikalen, jener ›fils de la Révolu-
das heißt: auf Reform, Kompromiß, Anpassung, Verständi- tion‹, welche ihren politischen Wortschatz, eine chauvinistisch-
gung zwischen der Wirklichkeit und dem Geist, oder, mit dem menschheitliche Phraseologie, von den Jakobinern ererbten;
alten Adam Müller zu reden, zwischen dem ›Recht‹ und der mit ihnen, den Radikalen des Pariser Parlaments, ist der Zivi-
›Klugheit‹ überhaupt ankomme — und nicht vielmehr auf das lisationsliterat Träger und Bewahrer der unsterblichen Prinzi-
generöse Drunter und Drüber, die Demolierung des Staates, pien, die das amtliche Frankreich, das Frankreich des Rhetor-
den permanenten Pöbelaufstand, die Revolution. Man suche Bourgeois, im Munde führt. Das Wörterbuch der bürgerlichen
auch nicht, ihn durch die Finte zu verwirren: die russische Re- Revolution ist das seine. Weit entfernt zu glauben, daß es po-
volution wäre jedoch nicht möglich gewesen, wenn man durch litischen Dilettantismus, politische Stümperei überhaupt geben
Verweigerung der Mittel zur Landesverteidigung dem Zaren könne (das wäre eine Annahme, die gegen die Demokratie
den Einzug in Berlin ermöglicht hätte! Wie sollte eine solche verstieße), ersetzt er, wie der Jakobiner, Studium und ernst-
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hafte Kenntnis der lebendigen Wirklichkeit durch ›Vernunft‹, kobiners Operngeste, die generöse Dauerattitüde — eine Hand
schönen Geist und literarischen Schmiß. Der Mensch, die Men- auf dem Herzen, die andere in der Luft. Er hat vor allem seinen
schenrechte, die Freiheit, die Gleichheit, die Vernunft, das Volk, Instinkt, sich ausschließlich um die politische Seite der Dinge
die Tyrannen: er handhabt diese Begriffe mit derselben ver- zu kümmern, nicht um ihre moralische, auf Rechte unvergleich-
blüffenden Sicherheit wie der Jakobiner und fertigt, wie dieser, lich mehr als auf Pflichten bedacht zu sein, das Gewissen zu
ein radikales Dogma daraus, dessen Radikalismus dem ge- vernachlässigen, aber dem ›Menschenstolz‹ eine arge Über-
wissenhafteren Geiste freilich als schreckenerregende Oberfläch- ernährung zuzuwenden. Die Ächtung und Ausstoßung anders
lichkeit erscheint. Proudhon hat den J. J. Rousseau einen Men- gesinnter Geister verträgt sich, wie beim Jakobiner, durchaus
schen genannt, »en qui la'conscience n'était pas endominante«; mit seinem Freiheitsbegriff. Er hat des Jakobiners Selbst-
und der neue Jakobiner ist, wie es sich gehört, ein Rousseauit gerechtigkeit, seine Sicherheit und seelische Wohlgeborgen-
reinsten Wassers. So hegt er zum Beispiel nicht die geringste heit, die geistige Verhärtung ist. Da er die Wahrheit, ›die
Achtung vor der tiefen Differenziertheit unseres schwierigen blen-den-de Wahrheit‹ zu besitzen glaubt, so steht es um
Erdteils. »Heute gibt es keine Franzosen, Deutschen, Spanier, seine Wahrheitsliebe nicht gut; denn wer mit der Wahrheit, so-
Engländer mehr, was man auch darüber denke; es gibt nur zusagen, verheiratet ist, der hat den Stand des Liebhabers und
noch Europäer, die alle denselben Geschmack, dieselben Lei- Werbenden natürlich weit hinter sich. Seine Wahrheit aber, dies
denschaften, dieselben Sitten haben, weil keiner durch beson- Ideen-System, das er sich gezimmert, auf das er unendlich stolz
dere Institutionen ein nationales Gepräge erhielt.« So steht es ist, und das er niemals, auf keinen Augenblick, verläßt, um
bei Rousseau, und so glaubt es auch der Neu-Jakobiner. Er sich keinen geistigen Schnupfen zu holen, — man glaube nicht,
geht weiter, wie auch sein Vorfahr weiter ging; er findet, daß daß es weiter etwas Besonderes damit sei; es ist zusammen-
es nur Menschen gibt, Menschen im allgemeinen, das heißt, gesetzt aus Radikalismen, Sentimentalismen und Humanitäts-
um es in seiner Sprache, der Sprache des achtzehnten Jahrhun- betulichkeiten recht abgeschmackter Art, aber es ist so zusam-
derts zu sagen: »empfindende, vernünftige Wesen, die als sol- mengesetzt, daß es stimmt, daß sich recht damit behalten läßt:
che den Schmerz vermeiden, das Vergnügen suchen und daher und Rechthaberei, egoistische Selbstbewahrung, ist der Grund-
dem Glück, nämlich einem Zustand zustreben, in dem man trieb dieses Geistes. Auf eigene Hand hat er sich eine geistig-
mehr Vergnügen als Schmerz empfindet.« Sehr einfach. Zu politische Weltanschauung erarbeitet, die längst bekannt, längst
einfach eigentlich, um schmeichelhaft für ›den Menschen‹ zu benannt ist: man nennt sie die kosmopolitisch-radikale, den
sein. Trotzdem meint unser Demokrat es schmeichelhaft. Er demokratischen Internationalismus. Da er sich aber einsam,
hat des Jakobiners Optimismus, seine vorgefaßten Schäfer- selbständig und selbst fast ohne Lektüre zu diesem bekannten
ideen von der Vernunft und dem schönen Herzen des Men- kosmopolitischen Radikalismus durchgedacht hat, erscheint er
schen, seine Neigung zur Demagogie größten Stils, zur Mensch- ihm so einzig und überwältigend wahr, so sehr als die Wahr-
heitsschmeichelei, — die Neigung, der Menschheit Fadaisen zu heit und das Licht, daß er jeden für einen Idioten oder Schur-
sagen. Er hat des Jakobiners Hang zur Anarchie und zum Despo- ken hält, der sich weigert oder auch nur zögert, sich ebenfalls
tismus, zur Sentimentalität und zum Doktrinarismus, Terroris- dazu zu bekennen. Er hat diese Partei und Weltanschauung
mus, Fanatismus, zum radikalen Dogma, zur Guillotine. Er hat nicht als etwas Feststehendes, Bekanntes, in ihrer Art Legiti-
seine schreckliche Naivität. Er ist, wie jener, ein Humanitätsprin- mes vorgefunden und sich ihr angeschlossen, sondern er hat
zipienreiter mit Vorliebe fürs Blutgerüst. Er hat auch des Ja- sie persönlich neu erfühlt und erdacht, sie ist als eine all-
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mähliche Erleuchtung über ihn gekommen und hat bis zur Ver- aufzubringen oder im geringsten zu Worte kommen zu lassen,
blendung, bis zum Fanatismus Besitz von ihm ergriffen. Hätte dazu sind wir bei weitem zu würdevoll, dazu glänzt uns die
er sie als Weltanschauung unter Weltanschauungen, als eine Tugend als Überwinderin des Ästhetizismus und des bürger-
Partei wie eine andere kennengelernt, er wäre duldsamer. So lichen Zweifels in einem allzu neuen und jugendlichen Licht...
sieht der kindische Mann in dem bedingungslosen Anschluß Die »Rehabilitierung der Tugend‹ gegen den Zweifel und
an diese Idee das Kriterium aller Anständigkeit, aller geistigen die Kritik ist ja unser eigenstes Werk, eine Form, die wahre
Redlichkeit, Sauberkeit und Tugend; er wähnt sich berechtigt, Form dieser Rehabilitierung wenigstens: wir stellten die Tu-
ja moralisch gehalten, jede Geistigkeit in den tiefsten Pfuhl gend nicht wieder her, indem wir etwa, wie manche wollen,
zu verweisen, die in dem, was ihm so einzig glänzt, nicht das die Haltung der Demut und der Ehrfurcht, die einem rationa-
Licht und die Wahrheit anerkennen will und kann. Es gibt nur listischen Zeitalter fremd geworden, mit neuem Rechte und
ein Ja oder Nein, Schafe und Böcke, man hat ›hinzutreten‹. neuer Schönheit umkleideten; im Gegenteil, unsere Tugend ist
Duldung und Hinfristung wäre Verbrechen. Er glaubt seine die Vernunft, die zweifelsfreie und durchaus undemütige Würde
Seele salvieren zu müssen, indem er mit widerspenstigen To- der Vernunft, wir fanden sie wieder durch das Mittel und auf
ren, die nicht sehen, was er sieht, keine Stunde länger eine dem Wege, durch welches und auf welchem sie immer gefun-
auch nur scheinbare Gemeinschaft hält. Mit Schmerz und Zorn den wird und einzig zu finden ist: es ist der Begriff.
trennt er sich von einem solchen, in dem festen Glauben, daß »Allgemeine Begriffe und großer Dünkel«, sagt Goethe,
er es der Wahrheit und dem Lichte schuldig sei, über Mensch-
»sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unglück anzurich-
liches entschlossen hinwegzugehen. — In alldem liegt viel Acht-
ten.« Ein offenbar von der Revolution eingegebenes Wort. Aber
barkeit, aber auch ebensoviel Komik, ja wirkliche Albernheit,
welche Zusammenstellung, die des »Begriffs« mit »großem
die französische Bösartigkeit des Doktrinärs und die ganze
Dünkel«, — ganz abgesehen davon, was für Wirkungen dieser
Verderbnis, die durch den schändlichen Irrwahn des Recht-
sprengstoffhaften Verbindung da zugeschrieben werden! Ist
habens erzeugt wird.
der Begriff notwendig mit Dünkel verbunden? Ja, das scheint
unumgänglich. Alles Jakobinertum, altes und neues, beweist
Es liegt, sage ich, viel Achtbarkeit darin: ach, nur zu viel, es. Und wie sollte es anders sein, wie sollte der Begriff nicht
zu viel davon liegt darin, die Rechtschaffenheit unseres Typus, zur Tugend und das heißt: zum Dünkel führen, da er ja die
des politischen Literaten und neuen Jakobiners hat etwas Him- Tugend selber ist, da in ihm eben jene hochidealistische und
melschreiendes, wie die seines Ahnen es hatte, und auf ihn politische Rechtschaffenheit beruht, aus der das Vergnügen
scheinen die Worte gemünzt, die Danton bei Büchner an entspringt, andere schlechter zu finden als sich selbst?
Robespierre richtet: »Robespierre, du bist empörend rechtschaf- In einem Aufsatz mit dem bedeutenden Titel ›Zarathustra-
fen. Ich würde mich schämen, dreißig Jahre lang mit der näm- Glossen‹ hat neulich ein deutscher Gelehrter und liberaler
lichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde her- Philosoph, Leopold Ziegler, vom Begriff und—ein Wort Adal-
umzulaufen, bloß um des elenden Vergnügens willen, andere bert Stifters aufnehmend — von jener »Humanität der Ver-
schlechter zu finden als mich. Ist denn nichts in dir, was dir nunftwürde« gesprochen, die man dem Begriff verdanke und
nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte: Du lügst, du lügst! ?« die allerdings die edelste Errungenschaft der heraufgekomme-
— Nein, nichts. Einen solchen Kritizismus und Zweifel, mit nen Mittelschicht gewesen sei.. .Vernunftwürde — ein schönes
welchem die Moral erst eigentlich beginnen würde, in sich Wort! ein humanes, ein Humanistenwort. Und dennoch—wenn
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Würde, die gefestigte Würde geistiger Tugend ein hoch- und tisch-demokratische Tugendphrase ekel stimmten. Ihn ekelte
edelbürgerlicher Zustand ist: ein eigentlich moralischer, ein viele Monate lang, was ihm schamloser Humbug schien: wie
religiöser oder künstlerischer, kurz, ein sehr menschlicher Zu- nämlich der Menschheit Hochbegriffe, wie ›Wahrheit‹, ›Ge-
stand ist sie nicht, und—man muß es aussprechen—sie schließt rechtigkeit‹, ›Freiheit‹ durch die politische Gosse gezogen,
in sich die Gefahr der Verhärtung. Soll der Mensch ›würdig‹ mißbraucht, besudelt, verhunzt, verheuchelt und entwürdigt
sein — oder soll er frei, weich, bildsam, zugänglich, demütig wurden; ihn ekelte ehrlich der Geifer, den diese Wörter im
und dem Gefährlich-Schädlichen offen sein? Welches ist die Maule der demokratischen öffentlichen Weltmeinung erregten
bessere, die humanere und — warum dies Wort scheuen! — die und der sie dick überschleimte. Aber die öffentliche Meinung
gottgefälligere Humanität? Das ist die Frage; und der Ästhet ist zermalmend stark; in politischen Dingen gibt es keine In-
— ich meine jenen Typ, den der Politiker so nennt—will nichts stanz außer ihr. Und wäre der Druck von außen auch minder
wissen von der Rhetorisierung und politischen Verwürdigung furchtbar gewesen: Deutschland trug in sich selbst die geisti-
des Begriffs, wie dieser ihn mit so unvergleichlicher Vernunft- gen Stoffe, die helfen konnten, seine Widerstandskraft zu zer-
würde handhabt. »Die edelste Errungenschaft der heraufge- setzen, — nicht lange, nur ein paar Wochen, und der Zivilisa-
kommenen Mittelschicht« . . . Da stellt sich uns wieder die Frage tionsliterat, er, der die demokratische Politisierung des Geistes
in den Weg, wer denn hier eigentlich der ›Bürger‹ ist, — der betreibt und den tugendhaften Begriff mit höchster rhetori-
Ästhet oder sein Überwinder und Gegenspieler? Der Kultus scher Vernunftwürde handhabt, nahm seine glanzvolle Agita-
des generösen Begriffs ist bürgerlicher Demokratismus von tion mit aktuell befeuerter Leidenschaft wieder auf und arbei-
1789 und 1848. Der Begriff, das tugendhafte Wort war das tete mit immer wachsendem Erfolg auf die geistige Kapitula-
unwiderstehliche Sprengmittel der bürgerlichen Revolution, tion Deutschlands hin, die, wie auch die verbündeten Gegner
die eine und furchtbare Waffe des dritten Standes und seines wohl wissen, der physischen Waffenstreckung vorhergehen
Führers, des Literaten, — ihn, den tugendhaften Begriff, meinte muß. Wenn aber sein demokratischer Eifer hauptsächlich der
der arme Louis XVI., als er sagte, daß die Sache des dritten Desavouierung, ja Abschaffung des ›Großen Mannes‹ galt, so
Standes »an die edlen Gefühle appelliere und darum stets die wußte er wohl, warum: Der große Mann deutscher Nation ist
öffentliche Meinung für sich haben werde«; und die Tugend- es, dessen seelische Nachwirkungen er unbedingt lahmlegen
phrase, das heißt der politisierte Hochbegriff ist es, der auch muß, wenn anders er sein Ziel, die demokratische Einebnung
jetzt wieder die demokratische öffentliche Weltmeinung für und Einordnung Deutschlands, erreichen will, — heiße dieser
sich hat — gegen Deutschland, und den man uns nun schon so große Mann nun Luther, Goethe, Bismarck oder Nietzsche.
lange um die Ohren schlägt und schmettert, daß es wirklich Nietzsche und Bismarck! Ist es erlaubt, ist es möglich, die
nicht zu verwundern wäre, wenn eine gewisse Betäubung und beiden zusammen zustellen, zusammen zu nennen? Aber wenn
Verstörung sich endlich unserer bemächtigt hätte, wenn wir, Bismarcks Kampf gegen die ›Ideologen‹, gegen den humani-
erschüttert, angefangen hätten, an unserer psychischen B e - tären Liberalismus, kurz: gegen den Begriff — nicht im Poli-
sonderheit irre, in unserem geistigen Widerstand wankend tischen genau dasselbe war, was im Philosophisch-Ethischen
zu werden. Nietzsche's Kritik der Moral und des ›gehobenen Busens‹:
Wir wollen feststellen, daß es sich so verhält. Der Deutsche, dann verstehe ich nichts, dann will ich nie wieder glauben, von
wie er in diesen Krieg eintrat, hatte ein paar religiöse und den inneren Dingen irgend etwas zu verstehen! Ich sehe und
philosophische Erlebnisse hinter sich, die ihn gegen die poli- bekenne, daß, was jetzt in Deutschland sich abspielt, daß
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dieser vom Zivilisationsliteraten geleitete Prozeß, der die daß das einmal hatte erlebt werden müssen, daß es einmal in
geistige Kapitulation Deutschlands und seine Einordnung in Europas Geschichte möglich gewesen war, und zwar dank einem
die Weltdemokratie vorbereitet, Reaktion ist — man verzeihe katastrophalen Zusammenwirken der flachsten Philosophie,
das Wort, aber es trifft die Sache — Reaktion gegen Nietzsche die je herrschte, mit sozialen Übelständen, denen ein Ende mit
und Bismarck auf einmal: woraus sich ergibt, wie sehr die Schrecken auf eine oder die andere Weise sicher gewesen wäre.
beiden, trotz aller Oberflächenfeindschaft, die der eine gegen Daß die politische Raserei des Begriffs, die radikale politische
den anderen hegte, eines und desselben Geistes Söhne sind. Dienstbarkeit des Geistes jemals wieder mit gutem intellek-
Liberale Reaktion: dieser scheinbare Selbstwiderspruch ist das tuellen Gewissen möglich sein werde, — war das zu erträu-
Erlebnis unserer Tage, und er bedeutet wesentlich die ›Reha- men? »Die Moral ist wieder möglich« — ich weiß, ich weiß.
bilitierung der Tugend‹, die Wiederherstellung und Neu-In- Aber daß sie, ein einziges Menschenalter nach dem Entwurf
thronisierung der humanitär-demokratischen Ideologie, des von Nietzsche's Hauptwerk (1887!), in dieser Gestalt, als Re-
Begriffs, — mit einer Art begeisterten Staunens stelle ich es volutionssentimentalismus und Jakobinertugend wieder mög-
fest. Nietzsche, der dafürhielt, daß der Gute Europäer im lich sein — aber was sage ich: möglich sein! — sich als ›der
Grunde einen Krieg gegen das achtzehnte Jahrhundert führe, Geist‹ selbst etablieren würde, — nein! das habe ich nicht ge-
bezeichnete es als den Tortschritt des neunzehnten, daß es die glaubt, und wer wundert sich, daß ich darüber erst einmal ein
›Rückkehr zur Natur‹ immer entschiedener im umgekehrten paar Jahre lang staune, bevor ich mich wieder über irgendeine
Sinne verstanden habe, als sie Rousseau verstand. »Weg vom Arbeit beuge?
Idyll und der Oper!« Daß es immer entschiedener antiideali-
stisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer, maßvoller, Die Kunst politisiert, der Geist politisiert, die Moral politisiert,
mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen, antirevolutio- der Begriff, alles Denken, Fühlen, Wollen politisiert — wer
när gewesen sei. Wir haben alles wieder: das Idyll, die Oper, möchte leben in solcher Welt? In einer Welt, wo Freiheit —
den ›Idealismus‹, die Rhetorik, die Verketzerung des ›Zwei- das allgemeine und gleiche Wahlrecht bedeutete und damit
fels‹, den Glauben an die Politik, das heißt: an die Revolu- Punktum? »Auch in manchen geistlichen Orden«, sagte
tion; wir haben ihn wieder, den Jakobiner. Begeistertes Stau- Treitschke, »werden die Obern durch das allgemeine Stimm-
nen! Dem ›Ästheten‹ war ›Vernunftwürde‹, sofern sie den recht gewählt, und wer hätte je die Freiheit in einem Nonnen-
Verzicht auf Zweifel und Freiheit, die Tyrannei des Begriffs, kloster gesucht?« So spricht ein, wie man glauben sollte, völlig
seine Erhebung, nein, seine Erniedrigung zum politischen politisch eingestellter Kopf; ein Deutscher jedoch, dessen
Götzen und Fetisch bedeutete, — dem ›Ästheten‹ war die Poli- Deutschtum eben es ihm unmöglich macht, den Freiheitsgedan-
tisierung des Geistes als die Verderbnis des Geistes und als ken auch nur auf einen Augenblick im Politischen aufgehen
nichts anderes erschienen. Die großen Abstrakta in der Phry- zu lassen. Es ist das Sache etwa des italienischen Carbonaro,
giermütze: dem Ästheten erschien das als ein geistiger Unfug, Giuseppe Mazzini's. »Das Wahlgesetz«, ruft er, »— das Prinzip
als eine humanitäre Maskerade, derjenigen ähnlich, die einst jeder Freiheit . . .« Das ist eindeutig. Wenn ich etwas lesen
der selige Anacharsis Klootz veranstaltete. Die großen Ab- will, wobei sich mir das Eingeweide umkehrt, wobei alles in
strakta, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit, von mir sich in Widerspruch verwandelt (und das kann zuweilen
Scham und Gewissen entblößt, mit schlotterndem Busen, als nützlich sein), so schlage ich den Band Mazzini auf, der eines
Revolutionsmänaden durch die Gassen rasend: wir wußten, Tages, ganz ohne mein Verdienst und Zutun, wie vom Him-
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mel gesandt in meine Hände gelangte und dem ich nicht nur Wenn heutige Denker aufs neue dem Gottesbegriff sich zu
mein bißchen Einsicht in das Wesen politischer Tugend ur- nähern wagen, so findet der Mann des Prinzips und seiner
sprünglich verdanke, sondern der mich auch lehrte, woher der Folgen das peinlich. Es sei verlogen, findet er, von ›Gott‹ zu
deutsche Zivilisationsliterat Stil, Geste, Atemführung und sprechen, hundertdreißig Jahre nach der Kritik der reinen Ver-
Leidenschaft seiner politischen Manifeste eigentlich hat. Hier nunft. Aber die reaktionäre, die obskurantistische Schamlosig-
habe ich den lateinischen Freimaurer, Demokraten, Revolu- keit, mit der heute, im Lande der Moralkritik, die höchsten
tionsliteraten und Fortschrittsrhetor in Reinkultur und in sei- und geistig zweifelhaftesten Wörter: Wahrheit, Freiheit,
ner Blüte; hier lerne ich ›den Geist‹ als ein Ding zwischen Gerechtigkeit politisch geschwungen werden, sie eben bedeutet
Groß-Orient und Jakobinerklub begreifen, wie er heute, nach jene kraftvolle Vereinfachung, die eine Erscheinungsform der
Rehabilitierung der Tugend, wieder begriffen werden will und Tugend ist.
muß. Hier kann ich den Anblick eines durch nichts gehemm- Wir kennen die Parole und Velleität des ›Sich-Vereinfachens‹
ten, von keines Zweifels Blässe angekränkelten Aktivismus aus russischen Büchern, wo sie mit dem persönlichen ›Ins-Volk-
bestaunen, der bald, mit weitester Gebärde, die Augen im Gehen‹ junger Idealisten gleichbedeutend ist: Neshdanows
Himmel, deklamierend vor seinem Volke steht, bald mit ein- zum Beispiel, des feinhäutigen Revolutionärs in Turgenjews
gestemmten Fäusten und zischenden Atems umherspringt, ›Neuland‹, eines politisierten Ästheten, dem die ›Verein-
hetzend, aufwiegelnd, agacierend. Hier werden die Barrikaden fachung‹ so überaus schlecht bekam, da Fuseltrinken damit
»der Volksthron« genannt, hier höre ich einen Menschen sagen: verbunden war. »Wenn man Branntwein trinken muß, um sich
»Sittlichkeit und Technik!« »Christus und die Presse!« Hier ›zu vereinfachen‹ — dann danke ich ergebenst!« rief er aus.
wird mit höchster Passion die Unmöglichkeit beteuert, die Nun, unsere Betätiger des ›Geistes‹ und einer politisch ent-
Freiheit, die wahre Freiheit mit der monarchischen Staatsform schlossenen Menschenliebe sind weit entfernt, es mit dem per-
zu versöhnen, hier wird das »Dogma« der Gleichheit »zur Re- sönlichen Ins-Volk-Gehen wirklich zu versuchen. Ihr Verhält-
ligion der Seelen erhoben« und das »revolutionäre Symbol« nis zum ›Volk‹ ist durchaus platonischer, prinzipieller und
in die gräßlichen zwei Worte zusammengefaßt: »Ein Prinzip unpraktischer Natur, — eine menschliche Unmöglichkeit, da es
— und seine Folgen«. Und seine Folgen! Diese Formel, die ihnen an allem Humor, aller Weichheit, Sympathie, unmittel-
Mazzini zum Überfluß noch ausdrücklich als das revolutionäre barer Menschenfreundlichkeit, kurz an der Liebe völlig ge-
Symbol bezeichnet, sie ist die Formel alles Intellektualismus. bricht, die nötig ist, um sich wirklich mit dem Volk zu ver-
Nicht umsonst nennt der politische Literat sich den wahren ständigen; und ihre ›Menschenliebe‹ ist im Grunde ein
Intellektuellen. Und wir wissen es nun, wir greifen es auf schönrednerischer, spottwohlfeiler Schreibtisch-Hochsinn, der
einen Augenblick mit Händen, daß, was er unter Intellektua- keinerlei persönliche Opfer erheischt. Die ›Vereinfachung‹ be-
lismus versteht, und was wir mit ihm darunter verstehen, der schränkt sich also in ihrem Falle durchaus aufs Geistige: Nicht
ödeste, härteste, unmenschlichste Doktrinarismus und nichts einmal ihr Künstlertum hat teil daran, da es weit entfernt ist,
anderes ist. aristokratischem Raffinement zu entsagen. Aber sollte es ihnen
Gleichzeitig ist es aber die Tugend, und zwar die Tugend in nicht trotzdem ergehen wie dem armen Neshdanow, der an der
mancherlei Sinn, zum Beispiel gleich als Rousseau'sche Rück- Vereinfachung rasch verzweifelte, da er keinen Branntwein
kehr zur Natur, als Vereinfachung, — wenn auch nur als eine vertrug? Wenn ›Vernunftwürde‹ die Politisierung und Rheto-
tendenziöse Vereinfachung, eine Vereinfachung mit Auswahl. risierung des Begriffs, seine Entartung zur demokratischen
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Tugendphrase bedeutet, dann — danke ich ergebenst! Sollten Welt von einer argen Gefahr befreit, aber man hätte sie fast
sie nicht eines Tages so sprechen lernen? zuverlässig zugleich von der Kunst befreit, — und das wollen
Alexei Neshdanow war nicht nur vornehmer Herkunft, son- nur wenige. Eine irrationale Macht, aber eine große Macht;
dern obendrein eine Künstlernatur, und Turgenjew macht aufs und die Anhänglichkeit der Menschen an sie beweist, daß die
schönste deutlich, daß dies der Grund war, weshalb er schei- Menschen mit dem Rationalen, das heißt: mit der berühmten
tern mußte. Man soll sich nichts vorlügen um eines Systems dreiteiligen Gleichungsformel demokratischer Weisheit ›Ver-
willen: die Kunst steht mit der Tugend auf keinem guten Fuß, nunft = Tugend = Glück‹, weder auskommen können noch
sie tat es selten oder nie, sofern nämlich Tugend den demokra- wollen. Man lese doch, in diesem Zusammenhang, die sünd-
tischen Fortschritt bedeutet, — und nicht wahr, das soll sie haft enthusiastische Beschreibung nach, die Baudelaire vom
doch? Dennoch ist es eben diese Lüge, der man heute, ›um des Tannhäuser-Marsch gibt! »Wer vermöchte«, ruft er aus, »beim
Lebens willen‹, zur Geltung verhelfen will. Die Kunst in den Anhören dieser so reichen und stolzen Akkorde, dieses ele-
Dienst des Fortschritts zu stellen, sie zur Kronzeugin des Fort- gant kadenzierten, prachtvollen Rhythmus, dieser königlichen
schritts zu machen, das Maß, in dem sie den Fortschritt för- Fanfaren etwas anderes sich vorzustellen als einen feenhaften
dert, zum Kriterium ihres Ranges und Wertes zu erheben: Prunk, einen Aufzug von heroischen Männern in glänzenden
dies wird ernstlich heute versucht; und die Kritik etwa, die Kostümen, alle hohen Wuchses, alle starken Willens und nai-
jüngst ein deutscher Zivilisationsliterat dem Roman Werner ven Glaubens, ebenso herrlich in ihren Wonnen wie furcht-
von Heidenstams ›Karl XII. und seine Krieger‹ widmete und bar in ihren Fehden?« Und wer, fügen wir hinzu, könnte ver-
worin er erklärte, das Soldatisch-Heldische interessiere uns kennen, daß es, im Sinne politischer Tugend, bedenklichste
nicht, sondern das unterdrückte Menschliche, das in jenen (das Vorstellungen sind, die die Kunst da erweckt? Ich hörte gestern
ist sehr hübsch) in jenen wirren Zeiten nicht zum Recht ge- Tschaikowski's Pathetische Symphonie, dieses in seiner Süßig-
kommen; die Selbstbesinnung und Auflehnung derer, über keit und Wildheit durchaus gefährliche Werk, das man nicht
die verfügt wurde, sei mehr wert als die Selbstsucht der Kö- hört, nicht versteht, ohne des unversöhnlichen Gegensatzes
nige, und ›Karl XII.‹ sei doch nur »ein rückwärts gerichteter von Kunst und literarischem Tugendgeist innezuwerden. Ich
Roman«, — diese Kritik war ein solcher Versuch. Aber »rück-
denke an den dritten Satz mit seiner bösartigen Marschmusik,
wärts gerichtet«, reaktionär, wird die Kunst immer sein. Nicht
welche, wenn wir eine Zensur im Dienste demokratischer Auf-
umsonst zählt man sie, wie die Religion, zu den anti-intellek-
klärung besäßen, schlechthin verboten werden müßte. Solange
tuellen Mächten; und den Künstler mit dem ›Intellektuellen‹
es erlaubt ist, dergleichen nicht nur zu setzen, sondern auch
gleichzusetzen ist demokratischer Humbug. Nie wird die
aufzuführen; solange dieses Drommetentosen und Beckenge-
Kunst im politischen Sinn moralisch, nie tugendhaft sein; nie
schmetter unter gesitteten Menschen statthaft bleibt, solange,
wird der Fortschritt sich auf sie verlassen können. Sie hat einen
mit Verlaub gesagt, wird es auf Erden auch Krieg geben. Die
unzuverlässigen, verräterischen Grundhang; ihr Entzücken an
Kunst ist eine konservative Macht, die stärkste unter allen;
skandalöser Anti-Vernunft, ihre Neigung zu Schönheit schaf-
sie bewahrt seelische Möglichkeiten, die ohne sie — vielleicht
fender ›Barbarei‹ ist unaustilgbar, ja, möge man diese Nei-
— aussterben würden. Solange Dichter möglich sind — und sie
gung hysterisch, widergeistig, unmoralisch bis zur Weltge-
werden es immer sein —, deren Wunsch und Klage dahin geht,
fährlichkeit nennen: sie ist eine unsterbliche Tatsache, und
wollte, könnte man sie ihr exstirpieren, so hätte man wohl die sich weit in den tiefsten Wald niederzulegen, um »diese
dumme Zeit« zu vergessen,
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rung jener Partei an sich reißen, welche den Umsturz der Tu-
Von fürstlichen Taten und Werken,
gendherrschaft betreibt, — und sie ist eine hinreißende Füh-
Von alter Ehre und Pracht,
rerin. Kurz also: der Krieg, das Heldentum reaktionärer Art,
Und was die Seele mag stärken,
aller Unfug der Unvernunft wird auf Erden denkbar und also
Verträumend die lange Nacht —
möglich sein, solange die Kunst existiert, und ihr Leben dauert
solange ihre vorwärts gerichtete Sehnsucht die Zeit herbei- und endigt mit dem der ›Menschheit‹.
rufen wird, da der Herr ein Ende macht und den Falschen ihr Aber reden wir doch persönlicher. Lassen wir alle Mut-
unrechtes Regiment entreißt: maßungen über die zukünftige Rolle der Kunst aus dem Spiel
und halten wir uns an ihren Träger, die seelische Spezies
Da wird Aurora tagen ›Künstler‹ und an sein Verhältnis zur Tugend, — es wird sich
Hoch über den Wald hinauf, uns als ein Unverhältnis oder doch als ein recht lockeres und
Da gibt's was zu singen und schlagen, unsicheres Verhältnis alsbald enthüllt haben. Nicht, daß wir
Da wacht, ihr Getreuen, auf — geckenhaft genug wären, die Lebensform des Künstlers als
(Joseph von Eichendorff hat das gedichtet und Hans Pfitzner es eine unmoralische, ›amoralische‹ Lebensform, wie es zuzeiten
anno 1915 in herrliche Musik gekleidet) —: «solange, sage ich, Mode war, der Neugier des Bürgers zu empfehlen: das Maß
wird die Herrschaft jener dreiteiligen Gleichung, wird die Demo- von persönlicher Ethik und sogar von sozialer Liebe, das einem
kratie auf Erden nicht gesichert sein. Laßt jede Utopie des Fort- produktiv künstlerischen Leben innewohnt, ist unter allen Um-
schritts, laßt die Vernunftheiligung der Erde sich—jeden Traum ständen ein anständiges Maß, — wir wollen das stehen lassen.
des sozialen Eudämonismus sich erfüllen, die pazifizierte Espe- Aber wie Künstlertum etwas recht anderes ist als billige Liber-
ranto-Erde Wirklichkeit werden: Luftomnibusse brausen über tinage, so ist Moral etwas anderes, und zwar etwas ganz an-
einer weißgekleideten, vernunftfrommen, staatlos-geeinigten, deres als Tugendhaftigkeit, und die Umstände zwingen uns,
einsprachigen, technisch zur letzten Souveränität gelangten, darauf zu bestehen, daß diese Distinktion nicht vernachlässigt
elektrisch fernsehenden ›Menschheit‹: die Kunst wird noch werde.
leben, und sie wird ein Element der Unsicherheit bilden, die Der Moralist unterscheidet sich von dem Tugendhaften da-
Möglichkeit, Denkbarkeit des Rückfalls bewahren. Sie wird durch, daß er dem Gefährlich-Schädlichen offen ist; daß er, wie
von Leidenschaft und Unvernunft sprechen, Leidenschaft und es im Evangelium heißt, »dem Bösen nicht widersteht«, — was
Unvernunft darstellen, kultivieren und feiern, Urgedanken, der Tugendbold allewege mit dem achtbarsten Erfolge tut. Was
Urtriebe in Ehren halten, wachhalten oder mit großer Kraft ist das Gefährlich-Schädliche? Seelenhirten nennen es die
wieder wecken, den Gedanken und Trieb des Krieges zum Bei- Sünde. Aber auch dies schwere, schaudervolle Wort ist eben
spiel . . . Man wird sie nicht verbieten können, weil das gegen nur ein Wort und verschiedentlich zu gebrauchen. Es gibt
die Freiheit ginge. Oder wird die ›Menschheit‹ unter dem Sünde im Sinne der Kirche und Sünde im Sinne des Humanis-
Absolutismus, der Tyrannei der Vernunft, der Tugend und des mus, der Humanität, der Wissenschaft, der Emanzipation des
Glückes leben? Dann ist es desto wahrscheinlicher, daß die ›Menschen‹. Auf jeden Fall ist ›Sünde‹: Zweifel; der Zug zum
Kunst ganz und gar in die Opposition geraten — und daß alles, Verbotenen, der Trieb zum Abenteuer, zum Sichverlieren,
was sich in Opposition gegen diese letzte Tyrannei befindet, Sichhingeben, Erleben, Erforschen, Erkennen, sie ist das Ver-
ihr leidenschaftlich anhangen wird. Die Kunst wird die Füh- führende und Versucherische . . . Diesen Trieb unsittlich zu

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nennen werden nur Spießbürger sich beeilen; daß er sündig beseitigt, uns neue Übel beschert. Jeder Versuch, den Plan einer
ist, leugnet niemand. Wir wollen sogar noch etwas ausholen technisch oder moralisch vollkommenen Gesellschaftsordnung
und Umschweifen, um deutlich zu machen, welche Bewandtnis zu entwerfen, führt ins Lächerliche und Absurde; bei der mora-
es mit der Sünde im Sinne des Humanismus hat. lischen schon deswegen, weil die Menschen in Beziehung auf
Bei allen Völkern gibt es auch heute Individuen, die weder das, was das moralisch Erwünschte und Vollkommene sei, so
dumm noch eigentlich schlecht zu sein brauchen, weil sie dem verschiedener Meinung untereinander sind, daß sie im Streit
kecken und generösen Gedanken des ›Fortschritts‹ weniger darüber in roheren Zeiten einander die Köpfe einschlagen, in
gläubig und freudig anhangen, als —nun, als der Zivilisations- gesitteteren die Parteien einander mit Spott und Beschimpfun-
literat. Sie anerkennen und bewundern den Fortschritt auf gen überschütten und nicht selten einander um solcher Mei-
technischem Gebiet und in den Wissenschaften, von denen die nungsverschiedenheiten willen tödlich hassen. Zudem könnte
Philosophie aber bereits auszunehmen ist, und sie finden, daß ein zukünftiger vollkommener Gesellschaftszustand den Mil-
auf dem Felde der Künste von Fortschritt noch weniger die liarden Menschen, die unter den früheren unvollkommenen
Rede sein kann. Fortschritt erscheint ihnen also als zur Zivili- Zuständen gelitten haben, nichts nützen.«—Das alles ist wahr,
sation gehörig, nicht zur Kultur; als eine Angelegenheit der ist die schlichte menschliche Wahrheit, und wer es anders sagt,
Erfahrung, der Klugheit, der Politik, der praktischen Weltver- treibt nur Redekunst. Maßlosigkeit in der Einschätzung des
annehmlichung und -veranständigung, kurz der Gesittung, sozialen Lebens, seine Umkleidung mit unbedingter und reli-
nicht als eine solche der Sittlichkeit und der Seele. Sie stellen giöser Weihe scheint jener Menschenart, von der ich sprach,
fest (mit dem alten Karl Jentsch, der es in seinem weisheits- töricht und falsch, und den Glauben an eine ›bessere und
vollen Buch über ›Christentum und Kirche‹ tut), daß »alle freiere Menschheit hört sie aus guten Gründen allzu prah-
Fortschritte der Wissenschaft und Technik und sogar die der lerisch nicht gern verlautbaren. Was das geistige Mittel des
Humanität den Menschen niemals glücklicher, niemals zufrie- Fortschritts, nämlich die Aufklärung, betrifft, so ist sie willig,
dener, immer nur unzufriedener gemacht haben. Jede Verbesse- auch sie zu schätzen; aber ihre Liebe gehört vielmehr dem nie-
rung der äußeren Lebenslage wird, sobald man daran gewöhnt mals Aufzuklärenden, dem ewigen Geheimnis, und sie ist ge-
ist, als etwas Selbstverständliches hingenommen, das nieman- neigt, den Menschen in verehrender Haltung schöner zu fin-
dem Freude macht, und das Begehren richtet sich auf neue Ver- den als in emanzipierter. Das ist ein Geschmack oder, wenn
besserungen, die man vorläufig nicht haben kann. Dabei hat das Wort zu frivol klingt, eine Stimmung. Konservativismus
aller Kulturfortschritt die furchtbaren körperlichen Leiden nicht überhaupt, darf man sagen, ist eine Stimmung, während Fort-
aus der Welt zu schaffen vermocht, die jederzeit Tausende treffen schrittlichkeit ein Prinzip ist; und hierin beruht, wie mir scheint,
und alle bedrohen. Soweit aber die Gesellschaft für die vorhan- die menschliche Überlegenheit des ersteren über die andere.
denen Übel verantwortlich gemacht werden kann, erweist sich Krankhaft möge man diese Stimmung immerhin nennen, ohne
die Hoffnung, ihnen durch eine vollkommene Gesellschaftsord- auf viel Widerspruch zu stoßen; denn in einem gewissen Sinn,
nung abzuhelfen, als utopisch. Gewisse ganz abscheuliche For- nennen wir ihn aushilfsweise den individualistisch-kulturellen,
men der Peinigung hat der Kulturfortschritt beseitigt. Im ist Krankheit ja kein Gegenargument. Sie hat kostbarste Werte
allgemeinen aber verlaufen die Änderungen des Gesellschafts- gezeitigt. Und im übrigen ist der Begriff der Krankheit und De-
zustandes in der Weise, daß jede technische, wirtschaftliche, pression viel zu unsicher, als daß nicht Vorsicht in seiner Hand-
soziale, politische Verbesserung statt der alten Übel, die sie habung geboten wäre. Es scheint durchaus auf den Standpunkt
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anzukommen, welche Perioden im geistig-politischen Leben langt von ihm das Zuhausesein in vielen und auch in schlim-
man nun als depressiv ansprechen und deuten wird: wie wir men Welten, sie duldet keine Seßhaftigkeit in irgendwelcher
uns denn erinnern, daß Nietzsche die »tiefe Durchschnittlich- Wahrheit und keine Tugendwürde. Der Künstler ist und bleibt
keit« der Engländer beschuldigte, eine Gesamt-Depression des Zigeuner, gesetzt auch, es handelte sich um einen deutschen
europäischen Geistes verursacht zu haben, und zwar damals, Künstler von bürgerlicher Kultur. Da es seine Sache ist, aus
als sie die »modernen Ideen«, die »Ideen des achtzehnten Jahr- mancherlei Seelen zu reden, so ist er notwendig Dialektiker.
hunderts« in die Welt gesetzt hätten, als deren Affen, Schau- Dialektik aber, spricht Goethe, »ist die Ausbildung des Wider-
spieler und erste, gründlichste Opfer er die Franzosen be- spruchsgeistes, welcher dem Menschen gegeben, damit er den
zeichnet. Und ob man die französische Bewegung des letzten Unterschied der Dinge erkennen lerne«. Daß Dialektik im
Jahrzehnts vor dem Kriege, — eine Bewegung von zweifellos Sinne des Glaubens und der Tugend die Sünde, das Böse ist,
reaktionärer Art, da sie vornehmlich im Protest eines jungen wissen wir wohl; eben darum ist jenes sittliche Befehlswort
Frankreichs gegen den radikalen Bruch mit seiner Vergangen- »Widerstehe nicht dem Bösen!« ein Künstler- und Moralisten-
heit, mit seinem Mittelalter, mit allen vorrevolutionären und wort, — kein politisches Wort, wie sich versteht. Denn der Po-
vorklassizistischen Kulturwerten bestand: ob man diese na- litiker widersteht dem Bösen — und ob er ihm widersteht!
tionale Bewegung als Depressions-Erscheinung abwerten darf Müssen wir versichern, daß er schlechterdings kein Zigeuner
oder muß, darüber läßt sich streiten, möge auch der Zivilisa- und Abenteurer ist, vielmehr das Gegenteil davon, ein Pedant,
tionsliterat den Streit darüber für unzulässig erklären. — ein Prinzipieller, ein Gefestigter, ein Tugendhafter, ein Mann
Etwas anderes ist es, wenn der Humanist (und der Zivilisa- der geborgenen Seele, der jeder geistigen Vagabondage Valet
tionsliterat ist ein Humanist) jene abwegige Neigung und gesagt hat, der nicht nach rechts noch links blickt, sondern
Stimmung als Sünde — und zwar am ›Menschen‹ — brand- unverwandt den Weg, den schmalen Weg der Tugend und des
markt: wir fühlen mit ihm, daß es Sünde im Sinne des Huma- Fortschritts im Auge behält, den man nur an der Hand der
nismus gibt. Das eine aber wenigstens bleibt darauf zu er- Doktrin zu wandeln vermag? Was die Dialektik betrifft, so
widern, daß Zweifel und Sünde fruchtbarer und menschlich hat er selbstverständlich eine Höllenangst vor ihr, und hastig
befreiender sind als Tugend, Vernunftwürde, der Besitzer- nennt er jeden Einwand gegen die ›Lehre‹ ein Sophisma, —
stolz des Wahrheitsphilisters und die verklärte Männlichkeit ungeachtet man mit demselben Recht jeden seiner eigenen
eines Lehrers der Demokratie. Vérité, Fécondité, Travail, Ju- Heilssätze sophistisch nennen könnte. Seine ›Politisierung des
stice, — ja, der demokratische Humanist ist ein Tugendbold, Geistes‹, sein Wiedererringen des ›Begriffs‹, seine ›Rehabili-
seine Rechtschaffenheit geht bis zum Empörenden, sein An- tierung der Tugend‹, sein Fortschreiten zu moralisierend
spruch, andere schlechter zu finden als sich, ist so gerecht, daß kämpferischer Zielstrebigkeit bedeutet — es ist unmöglich, das
es ein Graus ist, — und wieder einmal ist hier die verdammte zu verkennen, es sollte auch für ihn selbst unmöglich sein —
Zweifelsfrage nicht zu umgehen, wer denn nun eigentlich der bedeutet das Ende aller Boheme, aller Ironie und Melancholie,
›Bürger‹ ist: der Ästhet oder sein Überwinder, der Politiker. aller Losbändigkeit, Unzugehörigkeit, alles Galgenhumors,
Ein Künstler, meine ich, bleibt bis zum letzten Hauch ein Aben- aller Unschuld und Kindlichkeit, kurz, alles dessen, was einem
teurer des Gefühls und des Geistes, zur Abwegigkeit und zum ehemals als ›anständig‹, als künstlerisch erschien; es bedeutet
Abgrunde geneigt, dem Gefährlich-Schädlichen offen. Seine ›Reife des Mannes‹, gefestigte und verklärte Männlichkeit,
Aufgabe selbst bedingt seelisch-geistige Freizügigkeit, sie ver- die mit Künstlertum nicht eben viel noch zu schaffen hat: als
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praeceptor patriae steht man nunmehr, die Haare im Nacken vor allem eine Bewegung der Freude darüber, ein Frankreich
halblang, vor dem jungen Geschlecht, harangiert es im klas- zu gewahren, das viel zu liebenswert ist, als daß man es nicht
sischen Tugendstil, unterweist es in der Demokratie und das wahre Frankreich sollte nennen dürfen: die douce France
schämt sich n i c h t . . . unseres Traumes, deren Anblick Erlösung ist von der giftigen
Man schämt sich sogar nicht mehr, Opportunist zu sein, — Emphase, der stumpfnasigen Gemeinheit jenes Frankreichs,
ich meine: mit kalter Strenge alles als ›nicht in Betracht kom- dem Herr Poincaré präsidiert? Auch Claudels Frankreich haßt
mend‹ abzuweisen und auszuschließen, dessen Zulassung im uns, ich weiß. Aber das ist ein besserer, noblerer Haß als der
Interesse der Doktrin, des Fortschritts, der Zielstrebigkeit nicht des Rhetor-Bourgeois, ich lasse es mir nicht nehmen. Was ver-
opportun erscheint. Es ist erlaubt, Politik zu treiben gegen die schlägt es, daß der Dichter der ›Verkündigung‹, der als Konsul
Polis, den Staat. Es ist nicht erlaubt, Geist zu haben gegen ›den in Deutschland lebte, während des Krieges aus heißem Pa-
Geist‹. Das ist verboten. Es ist unmoralisch, weil inopportun. triotenherzen Deutschland schmähte? Im Grunde seiner Seele
Auch das Schöne kann dies in hohem Grade sein und als durch- muß er empfinden wie jener nordfranzösische Landedelmann,
aus unzulässig befunden werden, wie das folgende Beispiel zeigt. dessen Schloß Wilhelm II. besuchte und der zu ihm sagte:
Fünf Jahre sind vergangen, seit ich mehrmals mit größter »Sire, Sie sind unser Feind; aber Sie sind ein Kaiser immerhin
Rührung und Freude ›L'Annonce faite à Marie‹ von Claudel und kein Advokat« . . . Frankreich und Deutschland, sie waren
las: Ich bezeugte damals, daß ich den stärksten dichterischen einmal eins im Mutterschoße der Zeiten, bevor ihre Lebens-
— den überhaupt stärksten künstlerischen Eindruck davon emp- wege sich schieden und tödlicher Haß zwischen sie kam. Ein
fangen hätte, der mir seit langem beschieden gewesen sei. gemeinsamer künstlerisch-metaphysischer Besitz verbindet sie,
Warum nicht sagen, daß ich gern bewundere, mich gern ver- der keinem von beiden allein zugesprochen werden kann: Aus
liere, daß ich mich im Grunde langweile, wenn es nichts zu deutschem Geist schuf Frankreich die Gotik. Hat man bemerkt,
lieben, zu erobern und zu durchdringen gibt? Dann fühle ich in welchem Grade die ›Verkündigung‹ in Hegners Übersetzung
mich alt, während der Zustand der Begeisterung für irgendein als Originaldichtung wirkt? Wie zwanglos der Anne Vercors
Geschaffenes mich lehrt, daß ich es noch nicht bin, und mich des französischen Textes in den Andreas Gradherz des deut-
wieder so leben läßt wie einst, als der Zwanzigjährige das schen, der Pierre de Craon in einen Peter von Ulm, der Maire
Werk Wagners leidenschaftlich erkannte. Nun, ich war ver- von Chevoche in den Schulzen von Rothenstein sich verwan-
liebt damals in die geistreiche Christlichkeit jenes französi- delt? Ja, die Liebe zu dieser Dichtung ist vor allem Freude am
schen Gedichts, dessen Atem so tief und innig geht; in die Gewahrwerden uralter Brüderlichkeit, die mehr als Brüderlich-
köstliche Mischung von Klarheit und Mystik, die es bietet, keit, die Einheit war.
seine himmlische Menschlichkeit, seine Engelsstimme, seine Ich besaß das Zutrauen, dem Geistespolitiker und Zivilisa-
hohe, zarte und demütige Empfindsamkeit, die Geistigkeit sei- tionsliteraten davon zu sprechen, — taktloserweise, wie ich
nes Krankseins, die ergebene Frömmigkeit seines Künstler- alsbald ersah. Er rückte die Schultern, er wollte nichts wissen.
tums: — »Va au ciel d'un seul trait! Quant à moi pour monter Nein, das tauge nicht. Überaus taktloserweise drang ich in ihn.
un peu il me faut tout l'ouvrage d'une cathédrale et ses pro- Ich bat für das Werk. Ich versuchte, wenigstens den histori-
fondes fondations« — und ich bin vollkommen beruhigt dar- schen Sinn meines Begleiters dafür zu wecken, ihn nur dafür
über, daß diese Neigung mehr und Besseres bedeutet als Ge- zu gewinnen, eine beispiellose Vertiefung in die Seele des Mit-
schmäcklertum und literarischen Dilettantismus. Ist sie nicht telalters, wundervollste, den Geist bereichernde Aufschlüsse
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über diese Seele sachlich zu würdigen. Nein. »Aber dergleichen mit geistiger Schwermut, wenn auch an künstlerischen Ener-
muß doch erlaubt sein!« rief ich, im Begriff zu verzweifeln. gien reich für sein persönliches Teil, dem Triumphierend-
Er schwieg. Vielleicht graute ihm einen Augenblick vor seiner Neuen entgegen). Die ›Verkündigung‹ war ein Notbehelf, das
großen Tugend. Ein wenig milder antwortete er: »Vielleicht. sehe ich nun. Hier ist dergleichen auf deutsch, und eine un-
Aber es gibt Wichtigeres.« — Es gibt Wichtigeres! Ich weiß es vergleichlich intimere, unmittelbarere Art der Bejahung ist
nicht, was es Wichtigeres gibt, geben kann als das, was hoch hier möglich . ..
und gut ist, und sollte es auch dem Fortschritt und dem preu- Ich hörte Hans Pfitzners musikalische Legende ›Palestrina‹
ßischen Wahlrecht nicht unmittelbar zustatten kommen. Ja, dreimal bisher, und merkwürdig rasch und leicht ist mir das
wenn es das nicht nur nicht täte, sondern wenn es dem Fort- spröde und kühne Produkt zum Eigentum, zum vertrauten
schritt und der Verbesserung des preußischen Wahlrechts mit- Besitz geworden. Dies Werk, etwas Letztes und mit Bewußt-
telbar sogar entgegenwirkte, — dürfte ein Künstler sich dem sein Letztes aus der schopenhauerisch-wagnerischen, der ro-
Hohen und Guten darum hartpolitisch verschließen? Auch mantischen Sphäre, mit seinen dürerisch-faustischen Wesens-
Richard Dehmel, den die jungen französischen Lyriker wohl zügen, seiner metaphysischen Stimmung, seinem Ethos von
studiert haben, hatte damals Claudels Drama gelesen. Er »Kreuz, Tod und Gruft«, seiner Mischung aus Musik, Pessi-
schrieb an den Übersetzer: »Da schweigt alles Besserwissen des mismus und Humor, — es gehört durchaus ›zur Sache‹, — zur
Geistes, da schaut die Seele atemlos zu.« Was kümmert einen Sache dieses Buches, sein Erscheinen in diesem Augenblick ge-
Zivilisationsliteraten die Seele? »Es gibt Wichtigeres.« Näm- währte mir Trost und Wohltat vollkommener Sympathie, es
lich ›den Geist‹. Nämlich den demokratischen Fortschritt und entspricht meinem eigensten Begriff der Humanität, es macht
das, was ihn fördert. Was ihn aber nicht fördert, wie zum Bei- mich positiv, erlöst mich von der Polemik, und meinem Gefühl
spiel ein Gedicht, in welchem freilich und allerdings das skan- ist ein großer Gegenstand damit geboten, an den es sich dank-
dalöse Wort fällt: »Jedem was ihm gebührt, — darin besteht bar schließen kann, bis es zu eigener Gestaltung wieder ge-
die Gerechtigkeit« — das ist inopportun und folglich verboten. nesen und beruhigt ist, und von dem aus gesehen das Wider-
Versteht man nun, was es heißt, »dem Bösen widerstehen«? wärtige in wesenlosem Scheine l i e g t . . .
Und sagte ich zuviel, als ich den Geistespolitiker einen Jako- Hatte Pfitzners Musik-Poem mir Neues zu sagen? Kaum.
biner und Schreckensmann nannte? Aber viel tief Vertrautes, das zu hören, dessen wieder innezu-
werden mich wohl bis zum Lechzen verlangt haben muß; ja,
Ich bin glücklich, daß der Zusammenhang der Dinge mir zwang- die außerordentliche Wirkung, die es sofort bei jener ersten
los Gelegenheit bietet, von einem Erlebnis dieser Kriegszeit zu morgendlichen Darstellung vor einem Amphitheater von Fach-
reden, das auszusprechen mich sehr verlangt; und ich täte un- leuten, zu denen ich keineswegs gehöre, auf mich ausübte, die
recht, über diese Fügung zu staunen, da das Werk, um das es Raschheit, mit der ich es absorbierte, ist nur zu erklären durch
sich handelt, mir eben zum Erlebnis so sehr nicht geworden eine ungewöhnliche Spannung der Bereitschaft und Empfäng-
wäre, wenn es den geistigen Zusammenhängen, denen ich lichkeit, welche die Zeit, das Feindliche der Zeit in mir hervor-
nachgehe, weniger tief und innig angehörte. Ein Werk also, gebracht hatte. Ich scheue zurück vor einer Analyse, nicht nur
noch einmal ein fremdes Werk, doch nicht von französisch- weil ich die erledigende Wirkung des kritischen Wortes im
katholischer Empfindsamkeit, sondern deutsch, — noch deutsch Grunde hasse, sondern namentlich, weil Zergliederung — Tei-
(denn es hat etwas Spät- und Verspätetdeutsches und blickt lung, ein Nacheinander des Betrachtens bedeutet, die Sonde-
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rung des Geistigen vom Künstlerischen etwa, wodurch ich das malt, aus denen das Letzte, das schwere Wort sich heraus-
Ganze zu kränken fürchte. Natürlich gibt es da nichts als Ein- kämpft, emporringt: zum Beispiel in den rhythmisch unver-
heit. Die Kunst aber ist stark an und für sich und bezwingt gleichlichen Takten, die Ighino's Einsatz und Ausbruch »Der
auch solche, die den geistigen Willen, welchem sie dient, ver- Gram des alten Vaters —« vorbereiten. Und welche eben noch
pönen würden, wenn sie ihn verständen. Das Produkt einer ruhig atmende Brust würde nicht plötzlich — und unweigerlich
melancholisch abgewandten, ja zeitwidrigen Geistigkeit kann jedesmal wieder — von einem Schluchzen erschüttert, wenn die
stark, glücklich und siegreich sein durch das Talent, das ihm reine Stimme des Kindes von Palestrina's Ruhm singt, seinem
zum Triumph über die Gemüter der Tausende verhilft. Dabei »echten Ruhm, —
geschieht es denn freilich, daß für Talent, Kunst, bloße Stil- der still und mit der Zeit
gebung genommen und wohl gar mit dem Einverständnis des Sich um ihn legte wie ein Feierkleid«?
Künstlers genommen wird, was eigentlich oder doch außer-
Ein selig-lyrischer Augenblick, dessen Schönheit Selbstbewußt-
dem etwas ganz anderes, seelisch weit Unmittelbareres ist.
sein gewinnt, indem die melodische Phrase sich in lichterer In-
Diese archaischen Quinten und Quarten, diese Orgellaute und
strumentierung sofort wiederholt. Ganz spät, im dritten Auf-
Kirchenschlüsse — sind sie nichts als Mimikry und historische
zuge, wird sie noch einmal anspielungsweise gestreift: Dort,
Atmosphäre? Bekunden sie nicht zugleich eine seelische Nei-
wo Ighino dem Vater versichert, in fernsten Zeiten werde man
gung und geistige Gestimmtheit, in der man, fürchte ich, das
ihn noch nennen; und mit Neid empfindet man hier, wie an
Gegenteil einer politisch tugendhaften Neigung und Stimmung
anderen Stellen, aufs neue, welche Möglichkeiten der Verein-
erkennen muß? Stellen wir die Frage zurück! Was siegt, ist
heitlichung und der geistreich- oder innig-sinnigen Vertiefung
das Talent. Bewundern wir dieses!
die wagnerisch-motivische Kunstarbeit gewährt. . .
Welche hohe Artistik in der Vereinigung nervösester Be-
Nochmals, ich stelle alles Ethische und Geistige zurück, um
weglichkeit, durchdringender harmonischer Kühnheit mit einem
vorderhand ausschließlich die ästhetischen Kräfte und Tugen-
frommen Väterstil! Man kennt die Meisterschule, in der das
den des Werks zu bewundern. Ich überblicke die weitläufige,
erlernt wurde. Das seelisch Moderne, alles Raffinement dieses
aber künstlerisch dicht gefüllte Szenenflucht des ersten Aktes
Vorhalt-Geschiebes, wie rein organisch verbindet es sich mit
und finde, daß sie ungewöhnlich schön und leicht, in glückli-
dem, was musikalisches Milieu, was also demütig-primitiv,
cher Notwendigkeit gefügt ist. Dem Gespräch der Knaben folgt
Mittelalter, Kargheit, Grabeshauch, Krypta, Totengerippe ist
der bewegte Auftritt zwischen Palestrina und dem Prälaten,
in dieser romantischen Partitur! Das holde Thema des Ighino,
schon ist die fahle, von Geisterlauten der Vergangenheit er-
das sich im Vorspiel zum dritten Aufzug am schönsten wieder-
füllte Szene der »Vorgänger« da, diese innige Vision, die tiefe
holt, schloß ich gleich in mein Herz, — dies melodische Per-
nächtlich ringende Unterredung eines Lebenden, fromm und
sönlichkeitssymbol eines Kindes voll Wehmut und voll Treue,
vornehm Überlieferungsvollen mit den Meistern... Sie schwin-
das gern das Glänzende und Neue läßt und dem Alten zuge-
den, aus Not und Finsternis schreit der Einsame nach oben,
wandt bleibt. Die Partie ist wundervoll; ich glaube, das musi-
da schwingt die Engelsstimme sich erschütternd im Kyrie em-
kalisch Feinste und Süßeste des Werkes ist mit ihr verbunden.
por, die Gnadenstunde des Müden bricht an, er neigt sein Ohr
Wie sehr gewinnt das Wort an Keuschheit zugleich und Er-
zum Schattenmunde der verstorbenen Geliebten, die Licht-
lösungskraft, wenn es mit Schmerzen aus der Musik geboren
gründe öffnen sich, die unendlichen Chöre brechen aus in das
wird, wenn die Musik jene Nöte und Hemmungen der Seele
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Gloria in excelsis, zu all ihren Harfen singen sie ihm Voll- lerisch nachgeahmt wurde, — ein kolossales Schaukeln von
endung und Frieden . .. Dann löst sich die Überspannung, abenteuerlich harmonisierten Sekunden, worin, wie in dem
alles verbleicht, erschöpft hängt Palestrina in seinem Sessel, vom Gehör nicht zu bewältigenden Tosen eines Wasserfalls,
und nun? Sollte es möglich sein, diesen Akt, der ein wahres sämtliche Tonhöhen und, Schwingungsarten, Donnern, Brum-
Festspiel zu Ehren schmerzhaften Künstlertums und eine Apo- men und Schmettern mit höchstem Streichergefistel sich mi-
theose der Musik ist, nachdem er zu solchen Gesichten empor- schen, ganz so, wie es ist, wenn hundertfaches Glockengedröhn
geführt, ohne Ermatten zu schließen? Noch eine Wirkung her- die Gesamtatmosphäre in Vibration versetzt zu haben und das
vorzubringen, die solche Steigerung wohl gar überböte? Welche Himmelsgewölbe sprengen zu wollen scheint. Es ist ein un-
Lust, zu sehen, wie das möglich wird, wie solche Möglichkeit geheurer Effekt! Der seitlich im Stuhle schlummernde Meister,
mit jener köstlichen, erlaubten, ja gebotenen und begeisterungs- die heilige Stadt im Purpurschein, der durchs Fenster herein-
vollen Klugheit, Umsicht und Politik der Kunst von langer fallend die ärmliche Stätte nächtlicher Schöpferekstase verklärt,
Hand her zubereitet wurde! Gebt acht! Durch das Fenster von und dazu das mächtige Glockengependel, das nur zurücktritt,
Palestrina's Arbeitsstübchen gewahrt man die Kuppeln von während die ausgeschlafenen Knaben die im Zimmer verstreu-
Rom. Ganz früh, am Ende der ersten Szene schon, als Silla, ten Notenblätter sammeln und ihre paar Repliken wechseln,
der hoffnungsvolle Eleve, der's mit den Florentiner Futuristen und das dann seinen gewaltigen Gang wieder anhebt, bis der
hält, hinausblickt, hin über Rom, und sich in gemütlich ironi- Vorhang zusammenfällt.
schen Worten von dem konservativen alten Nest verabschie- Ich bewundere es als eine kompositioneile Schönheit, wie
det, geht im Orchester, nach dem majestätisch ausladenden die kraftvolle Gestalt des Kardinals Borromeo, dieses unge-
Motiv der Stadt, ein mäßig starkes, monotones Leiern in Se- bärdigen Mäzens, die geistlich-geistige Welt Palestrina's mit
kunden an, das nicht enden zu wollen scheint, und dessen Sinn der Welt der Realität, der Welt des zweiten Aktes verbindet.
vorderhand unerfindlich ist. Die Leute tauschten verwunderte Aber dieser zweite Akt selbst ist eine kompositioneile Schön-
und lächelnde Blicke bei dieser sonderbaren Begleitung, und da heit, wie er in seiner turbulenten Farbigkeit zwischen dem er-
war niemand, der einem so schrullenhaft nichtssagenden Ein- sten und dritten steht. Entgegen dem ästhetischen Spruche der
fall irgendwelche dramatische Zukunft prophezeit hätte. Ich meisten habe ich meine Freude an dieser möglich gemachten
sage: gebt acht! Seit damals ist in Wirklichkeit eine reichliche Unmöglichkeit, an einer rein ideellen Dramatik, die, wenn nicht
Stunde, illusionsweise aber eine ganze Nacht vergangen, und ›Handlung‹, so doch geistdurchleuchtetes, buntes Geschehen
eine Welt von Dingen hat sich ereignet. Die schwindende En- ist. Leben im Licht des Gedankens — was kann die Kunst uns
gelsglorie hat irdische Morgendämmerung zurückgelassen, rot- Besseres, was Unterhaltenderes gewähren? Ich habe tatsächlich
glühend und rasch hebt sich der Tag über die Kuppeln draußen, urteilen hören: Meyerbeer, historische Oper. Das ist vollende-
das ist Rom, sein gewaltiges Thema wird breit und prunkend ter Irrtum. Um alles zu sagen, — vielleicht war ich persönlich
verkündet im Orchester, — und da, wahrhaftig, kommt auch besser als andere gegen dies Mißverständnis gewappnet, viel-
das vergessene Leiern von gestern abend wieder in Gang, es leicht stand ich von langer Hand her auf gutem Fuße mit der
gleicht einem Läuten, ja, das sind Glocken, die Morgenglocken hier waltenden Absicht: aus historischem Detail Idee sprechen
von Rom, nicht wirkliche Glocken, nur nachgeahmt vom Or- zu lassen und ihm nur dadurch dramatische Spannkraft zu ge-
chester, doch so, wie hundertfach schwingendes, tönendes, dröh- ben. Auf jeden Fall greift jeder hier einsetzende Tadel das Ganze
nendes Kirchenglockenerzgetöse überhaupt noch niemals künst- an, die Empfängnis. Man darf glauben, daß dieser Komposi-
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tionsgedanke: Kunst, Leben und wieder Kunst der früheste ren über »den Tag« und »dieses Werk« und seine mild ver-
Nebel war, das erste, was der Dichter eigentlich sah. unglückende Parlamentsrede begleiten. Nie überhaupt ist
Pessimismus und Humor . . . ich habe ihre Zusammengehö- die ergreifende Komik tapriger Hochbetagtheit, ehrwürdiger
rigkeit nie stärker und nie sympathischer empfunden als an- Ahnungslosigkeit so durchdringend empfunden und zu so
gesichts des zweiten Palestrina-Aktes. Der Optimist, der Bes- sonderbarer Wirkung erhoben worden.
serer, mit einem Wort: der Politiker ist niemals Humorist, er Der Akt ist kurzweilig, man sage, was man wolle. Der Reich-
ist pathetisch-rhetorisch. Der pessimistische Ethiker dagegen, tum an Akzenten, die Schärfe der Typen, die ideelle Transpa-
er, den man heute recht uneigentlich den ›Ästheten‹ zu nen- renz verleihen ihm die sublime Unterhaltsamkeit siegender
nen beliebt, wird sich zur Welt des Willens, der Realität, der Kunst. Der muntere Bischof von Budoja, der zügellos-an-
Schuld und des harten Geschäftes mit natürlicher Vorliebe hu- maßende Spanier, der süffisante Kardinal Novagerio, in dessen
moristisch verhalten, er wird sie als Künstler pittoresk und Partie das Folter-Motiv sein infames Wesen treibt: das Leben
komisch sehen, im grellen Kontrast zur stillen Würde des in- ist in Bewegung, die Kunst setzt ihm spielende Lichter auf,
tellektuellen Lebens: und nur in diesem Kontrast beruht die sammelt es zu höchster Energie; —und welche Heimkehr dann
Dramatik der Konzil-Szenen, in welchen das Erzeugnis jener zu ihr seihst, in die reinliche Schöpferzelle, in die Welt der
überschwenglichen Nacht, die wir erlebten, Palestrina's Messe, Einsamkeit und Treue. Der Papst singt Hexameter . . . eine
zu einem Gegenstand des politischen Handelsgeschäftes wird. wunderlich große Idee. Der Ausklang ist Resignation und
Wahrhaftig, welche Art von Leben und Realität wäre im Sinn Friede, ist ›musikalischer Gedanke‹ an der Zimmerorgel, nur
jenes Kontrastes grotesker, tumultuöser und komischer als leicht gestört von fernen, raschen Evvivas zum Zirpen der
die Politik? Der zweite Akt ist nichts anderes als eine bunte Mandolinen. Und ruhevoll spricht das Orchester das Schluß-
und liebevoll studierte Satire auf die Politik, und zwar auf wort, das auch das Wort des Anfangs war und ein Geheim-
ihre unmittelbar dramatische Form, das Parlament. Daß es ein nis i s t . . .
Parlament von Geistlichen ist, erhöht die Lächerlichkeit und Ich sagte noch nichts von Pierluigi Palestrina, dem Musiker-
Unwürde aufs äußerste. Freilich, Musik ist Urpathos, und so Helden des Werkes. Ich liebte seine Gestalt von dem Augen-
wirkt denn das Orchestervorspiel, vielleicht das glänzendste blick an, da er mit dem Prälaten durch die schmale Tür seines
Musikstück des Abends, noch durchaus pathetisch: dies Schmet- Stübchens trat, die Gestalt des mittelalterlichen Meisters, des
tern, Stürmen, Stürzen, luftschnappende Hetzen, dessen be- Künstlers, wie populäre Romantik ihn keineswegs sich
wunderungswürdigster Augenblick das viermalige keuchende erträumt, still, sittsam, schlicht, ohne Anspruch auf ›Leiden-
Ansetzen zum Hauptmotiv (Klavierauszug S. 174 oben) ist, schaft‹, gedämpft und gefaßt, im Inneren wund, voll leidend-
versinnlicht tragisch Palestrina's Wort von der »Bewegung, würdiger Haltung. Ich sehe ihn, wie er, den zarten, schon er-
zu der das Leben unaufhörlich peitscht«, es ist eine nur grauenden Kopf zur Seite geneigt, die Hand aus dem Schulter-
allzu erfahrungsvolle Schilderung des schauderhaften Sansara. gelenk ein wenig gegen die jungen Schüler hebt und spricht:
Und doch ist es eben das grundpathetische Wesen der Musik, »Seid fromm und still.« Unendliche Sympathie wallt a u f . . .
was, zusammen mit dem Menschlichen, das überwältigend Ko- »Seid fromm und still!« Wie sollte nicht fromm und still sein,
mische zeitigt. Ich denke an die Figur des Patriarchen Abdisu wem Kunstarbeit obliegt? Oder sollte ein solcher gar auf die
von Assyrien und die Laute von ungeahnter und phantasti- Gasse laufen und politisch gestikulieren? . . . Aber wenn diese
scher Lächerlichkeit, die im Orchester sein hieratisches Jubilie- Künstlergestalt nicht romantisch im wohlfeilen Sinne ist, —

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Romantik ist sie dennoch, und zwar eben indem sie den lyri- hin: Ist das Ästhetik oder ist es Politik? Zuletzt ist es wohl
schen Mittelpunkt des Gedichtes bildet. Romantische Kunst etwas Drittes, nämlich Ethik — und also genau das, was der
pflegt in zweifacher Bedeutung ›rückwärts gewandte‹ Kunst Geistespolitiker als ›Ästhetizismus‹ bezeichnet. Aber Anti-
zu sein: nicht nur insofern sie, wie Nietzsche sagt, »ange- Politik ist auch Politik, denn die Politik ist eine furchtbare
wandte Historie« ist, sondern auch, indem sie, reflexiv-reflek- Macht: Weiß man auch nur von ihr, so ist man ihr schon ver-
tierend, sich auf das Subjekt zurückwendet. Umgekehrt min- fallen. Man hat seine Unschuld verloren.
destens ist alle Kunst, welche die Kunst und den Künstler zum Pfitzner sagt an anderer Stelle — und ich gebe damit ein
Gegenstande hat — sei die Behandlung dieses Gegenstandes Zitat, das in dies Buch eingeht wie kein anderes —: »Nun,
auch noch so skeptisch-ironisch — ist also alle Bekenntnis- wir wollen dem waltenden Weltgeist nicht in den Arm fallen;
kunst romantische Kunst; und namentlich hierin, wenn auch was kommen muß, komme. Ob das, was kommt, schön ist, ist
aus manchem weiteren Grunde, namentlich als Künstlerbe- eine andere Frage; und ob es schöner sein wird als das, was
kenntnis, und zwar als eines von rücksichtslos-radikalster wir schon haben, eine uns bewegende Frage.« Und er fährt
Art, ist ›Palestrina‹ ein romantisches Kunstwerk. Was aber fort: »Busoni erhofft sich von der Zukunft alles für die abend-
die Politik betrifft, so hoffe man nicht, daß es ohne sie ab- ländische Musik und faßt die Gegenwart und Vergangenheit
geht! Ist es nie ohne sie abgegangen, nur, daß wir es nicht auf als einen stammelnden Anfang, als die Vorbereitung. Wie
wußten? aber, wenn es anders wäre? Wenn wir uns auf einem Höhe-
In diesem Augenblick, am Ende des dritten Kriegsjahres, punkt befänden oder gar der Höhepunkt schon überschritten
veröffentlicht Pfitzner eine Schrift, betitelt ›Futuristengefahr‹ wäre? Wenn unser letztes Jahrhundert oder unsere letzten an-
und geschrieben »bei Gelegenheit« von Busoni's ›Entwurf einer derthalb Jahrhunderte die Blütezeit der abendländischen Musik
neuen Ästhetik der Tonkunst‹, — dem Programmbuch des bezeichneten, die Höhe, die eigentliche Glanzperiode, die nie
musikalischen Progreß. Gelegentlich ästhetischer Fragen also wiederkehren wird und der sich ein Verfall, eine Dekadenz
spricht der deutsche Tondichter, er sagt es selbst und bekundet anschlösse, wie die nach der Blütezeit der griechischen Tra-
damit seine Kenntnis der Tatsache, daß die Perspektiven seiner gödie? Mein Gefühl neigt vielmehr zu dieser Ansicht. Schon
fünfundvierzig Seiten überall weit über das bloß Ästhetische Rubinstein hat ernstlich von einem ›Finis musicae‹ gesprochen.
hinausreichen. Wirklich vergriffe man sich kaum im Namen, Ob nicht die Aufgabe unserer Zeit, anstatt die Sechsteltöne zu
würde man seine Broschüre eine politische Streitschrift heißen, suchen, in rasendem Tempo vorwärtsstürmen zu wollen, jedes
— obgleich sie gerade anti-politische, das heißt: konservative Errungene einem Neuen zuliebe vernichten zu wollen — ob
Tendenz besitzt. »Bach und Beethoven«, ruft er, »sollen ›als nicht vielmehr die Aufgabe unserer Zeit eine liebevolle Be-
ein Anfang aufzufassen‹ sein, nicht ›als unzuübertreffende sinnung wünschenswert erscheinen ließe auf das, was entstan-
Abgeschlossenheiten‹. Hier zeigt sich am allerunverhülltesten den ist und was gegenwärtig entsteht, und zwar nicht nur auf
diese gewisse Zielstrebigkeit, die ich von je als allem Wesen das, was an der Oberfläche schwimmt? Der Irrtum herrscht zu
der Kunst feindlich und entgegengesetzt empfunden habe.« jeder Zeit vor, aber er hat immer eine andere Färbung. Die
Und nachdem er eine Seite lang die »Zielstrebigkeit« befehdet, Signatur der vorangegangenen Zeitepoche mag Philisterei ge-
gelangt er zu einem jener präzisen und tiefgegründeten Sätze, wesen sein, die Signatur der heutigen ist sie nicht, viel eher
wie nur der echte Schriftsteller sie findet: »Nicht die Kunst — das Gegenteil. Die vorhergehende Zeit fragte bei allem Neuen:
der Künstler hat ein Ziel.« Vortrefflich! Man sehe aber genau Ist mir das bequem und verständlich? Die gegenwärtige fragt:
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Werde ich mich nicht als rückständig blamieren? Das ist der Und die höchste Stufe erklimmen.
ganze Unterschied.« — Es ist der ganze. Man übertreibt nur Wie in meiner lieben Kunst die Singestimmen,
leicht, wenn man behauptet, daß aller Erfolg seit fünfzehn Abhängig von jeher, erbärmlich polyphon,
Jahren dieser neuen Philisterei entsprang, welche die ehrsame Sich dort befrein zur Einzelexistenz.
alte an Lächerlichkeit und Verderblichkeit weit übertrifft; und
was der deutsche Musiker da sagt, ist genau dasselbe, was ein Mich aber zieht es fort nach all dem Schönen, Neuen,
viriler Rationalist, der Däne Johannes V. Jensen, in seinem Und wie ich Ruhm und Leben leuchtend vor mir seh,
Buch ›Unser Zeitalter‹ ausspricht: »Der Futurismus hat sei- So steigt gewiß in stetigem Befreien
nen Einzug auch in die Newyorker Salons gehalten. Nie hat Die ganze Menschheit noch zu ungeahnter Höh!
ein Moloch Sklavenseelen so in Zucht gehalten wie der mo-
derne Kommandoruf Fortschritt; selbst die Angelsachsen, von Wiederum, ist das Ästhetik oder ist es Politik? Diesmal gibt es
denen der Begriff common sense doch stammt, beugen sich kein Drittes: es ist Politik, — »bei Gelegenheit« der Ästhetik.
willig der Peitsche; denn man will lieber nackt über die Straße Denn Befreiung, individualistische Emanzipation in ideellem
gehen, als dumm sein, gerade wie der alte liebe Kaiser im Zusammenhang mit unendlichem Menschheitsfortschritt, das
Märchen.« ist Politik, das ist die Demokratie; und durch einen, der
›Futuristengefahr‹ ist ein Kind des Krieges, und es kann ›dran‹ ist, einen, der »mit elastisch-hoffnungsfreudigen Be-
also nicht wundernehmen, daß der Aufsatz politische Färbung wegungen das Zimmer durchmißt«, läßt unser Dichter sie
zeigt. ›Palestrina‹ hingegen entstand vor dem Kriege, — zwei verkünden.
Drittel der Partitur mindestens lagen fertig vor im August Palestrina von seiner Seite weiß Bescheid.
1914. Dennoch sind schon einem flüchtigen Blick die Linien Ich weiß, — doch Silla glaubt, nichts wüßt' ich noch.
erkennbar, die das Werk mit der Streitschrift verbinden, und Es ist ein Junge, voll von Gottesgabe,
erstaunlich ist es, zu sehen, wie Probleme, die der Krieg »demo- Zu wehren ihm fühl' ich in mir kein Recht.
kratisiertes die er zu allgemeiner, journalistischer Aktualität
erweckte, jede exponierte Empfindlichkeit längst vorher — und Und als Borromeo, der Mann der starken Kirche, sich ereifert:
zwar keineswegs akademischerweise und in Mußestunden, »Ihr droht ihm nicht einmal? so mild gelaunt?«, antwortet
sondern bis ins Intimste, bis in die Produktion hinein — dring- jener: »Ach, der Bedrohte bin nur ich, nicht er!« — Dann er-
lich beschäftigten. Wir glaubten nicht an den Krieg, — wäh- zählt er:
rend wir ihn in uns trugen. Die Kunst der Meister vieler hundert Jahre,
Der Vorhang ist noch nicht zehn Minuten offen, als Jung- Geheimnisvoll verbündet durch die Zeiten
Silla bereits in die verfänglichen Verse ausbricht: Zum Wunderdom sie stetig aufzubau'n,
Welch herrlich freier Zug geht doch durch unsre Zeit! Der sie ihr Leben schenkten, ihr Vertrau'n,
Ist's nicht bei dem Gedanken schon Und der auch ich mein armes Dasein bot:
Ans heitere Florenz, Ihm dünkt sie abgegriff'ne alte Ware,
Als dürfte sich mein eignes Wesen Er glaubt sie überwunden, glaubt sie tot. —
Vom dummen Joch der Allgemeinheit lösen, Nun haben Dilettanten in Florenz
Aus heidnischen, antiken Schriften
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Sich Theorien künstlich ausgedacht, wirklich findet, daß es in seiner Nähe nach Schwefel riecht.
Nach denen wird fortan Musik gemacht. Wenn Palestrina krank ist in seiner Seele — und das ist er
Und Silla drängt begeistert sich zu jenen, wohl —, so ist seine Melancholie doch mit einem Selbstbe-
Und denkt und lebt nur in den neuen Tönen. wußtsein verbunden, das ihn aus dem Munde der »Vorgän-
Vielleicht wohl hat er recht! Wer kann es wissen, ger« die Worte vernehmen läßt:
Ob jetzt die Welt nicht ungeahnte Wege geht, Der Kreis der Hochgestimmten ist voll Sehnen
Und was uns ewig schien, nicht wie im Wind verweht? — Nach Jenem, der ihn schließt: Erwählter Du!
Zwar trüb ist's zu denken — kaum zu fassen . . .
Denn nicht wahr: weder diese Szene der Vorgänger noch die
Es wäre unmöglich, Psychologie und Lebensstimmung alles darauf folgende der englischen Inspiration sind wir geneigt als
Konservativismus vollkommener auszudrücken als durch diese reines Legendenmirakel und katholischen Theaterzauber zu
Worte, — ich meine: eines freien, wissenden, zarten, geistigen, empfinden; uns bedeuten diese Gesichte ein Anschaulichwer-
mit einem Worte: ironischen Konservativismus, nicht eines den des Ethisch-Innerlichsten, und für uns hat also der Zuruf
robust-autoritätsgläubigen, wie der des Kardinals, dem soviel »Erwählter Du!« dasselbe Ich zur Quelle wie die Antwort:
Müdherzigkeit und Zweifel gesundes Ärgernis gibt, und dem
Nicht ich — nicht ich —; schwach bin ich, voller Fehle,
der Meister »krank in seiner Seele scheint«. Palestrina seiner-
Und um ein Werden ist's in mir getan.
seits nennt bei sich die Seele des Priesters »wohlgeborgen«
Ich bin ein alter, todesmüder Mann
und spricht in Gedanken zu dem schwer Erzürnten:
Am Ende einer großen Zeit.
O wüßtest du, Und vor mir seh' ich nichts als Traurigkeit —
Was hier noch alles flüstert, reden möchte, Ich kann es nicht mehr zwingen aus der Seele.
Welch dunklere Gedanken, unheimliche — Und woher diese Schwermut? Woher dies, daß er »in der
Für mich der Holzstoß wär' dir noch zu mild! Mitte sich des Lebens wie einsam tief im Walde findet, wo in
Ein problematischer Meister! Hätte man geglaubt, daß es so der Finsternis kein Ausweg ist«, und daß er nicht begreift, wie
in einer konservativen Seele aussehen könnte? Er hat Formen er je schaffen, sich freuen und lieben konnte? Aber so ist es
von vollendeter Unterwürfigkeit gegenüber dem Kardinal, wie wohl und nicht anders, wenn die Höhe und Wende des eige-
es gut künstlerisch ist und dem armen kleinen Kapellmeister nen Lebens zusammenfällt mit einer Wende der Zeit, und
nicht anders anstände. Als es aber Ernst wird, verweigert er in wenn man langsam, anhänglich und bereits etwas müde ist.
der ungehörigsten Weise den Gehorsam. Er will die rettende In der Atmosphäre eines Zeitalters reif geworden zu sein und
Messe nicht schreiben, sollte auch die ganze Polyphonie dar- dann plötzlich ein neues anbrechen zu sehen, dem man eben-
über zum Teufel gehen. Und als Borromeo, am Rande seiner falls mit einem Teil seines Wesens angehört; mit einem Fuß
Geduld, die Frage stellt: »Und wenn's der Papst befiehlt?«, etwa im Mittelalter und mit dem andern in der Renaissance zu
antwortet er: »Er kann befehlen, doch niemals meinem Ge- stehen, ist keine Kleinigkeit, — immer vorausgesetzt, daß man
nius—nur mir.« Das ist stark—und nicht sehr mittelalterlich. stimmungsmäßig zum Konservativismus neigt, was Palestrina
Es spricht ein Stolz und eine Freiheit daraus, die eher der entschieden tut. Es gibt nichts Konservativeres als die Worte,
»neuen Zeit« angehören, — wie denn der Priester am Ende die er an die Schatten der Meister richtet:

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Ihr lebtet stark in einer starken Zeit, hinkam, ihn zu fördern: dann ist es unmöglich, pathetisch
Die dunkel noch im Unbewußtsein lag zu sein; der Sinn der Zeit nimmt persönlich-ethischen Charak-
Als wie ein Korn in Mutter-Erde-Schoß. ter an, es gilt »dein Erdenpensum«; es gilt dein' Gestalt voll-
Doch des Bewußtseins Licht, das tödlich grelle, kommen zu machen; es gilt auszuhalten, — ich sage nicht
Das störend aufsteigt wie der freche Tag, durchzuhalten. Was immer er nun auch sei, — Palestrina findet
Ist feind dem süßen Traumgewirk, dem Künste-Schaffen; die Kraft, es zu sein; und indem er das notwendige Werk
Der Stärkste streckt vor solcher Macht die Waffen. schafft, das nur er seiner Natur und zeitlichen Stellung nach
Und von da ist nicht weit mehr bis zu dem Wunsch und Vorsatz: zu schaffen vermögend ist, die Messe, welche neuzeitlich ent-
wickelte Kunst mit »kirchlichem Gefühl« vereinigt, wird ihm
Mit offnen Augen in des Lebens Rachen zugleich das poetische Glück, die Figural-Musik vor der Flamme
Will flieh'n ich aus der Zeit —, zu bewahren, — er wird zum »Retter der Musik« durch eine
erhaltend-schöpferische Tat. Er weiß nun, was er ist, wohin er
der anachronistisch-schopenhauerischen Umschreibung eines
gehört und wohin nicht, oder doch, wie weit er hierhin und
ganz und gar ungehörigen Vorhabens, das denn auch von den
dorthin gehört; er kennt sein Schicksal, seine Ehre und seinen
Meistern nicht ohne kategorische Strenge zurückgewiesen wird.
Platz, und er »will guter Dinge und friedvoll sein«.
»Dein Erdenpensum, Palestrina«, sagen sie, »dein Erdenpen-
Das ist ja ein versöhnlicher Fabel-Schluß, und doch hat man
sum schaff'!«
Pfitzners Werk als »hoffnungslos pessimistisch« empfunden,
Den Schlußstein zum Gebäue was sehr begreiflich und berechtigt ist in einem Augenblick,
Zu fügen sei bereit; dessen Optimismus bis zum Revolutionären geht. Wirklich ist
Das ist der Sinn der Zeit. der ›Palestrina‹ eine Dichtung, die, obwohl ethisch noch höher
Wenn Du Dein ganzes Bild aufweist, stehend als künstlerisch, des fortschrittlichen Optimismus, der
Wenn Dein' Gestalt vollkommen, politischen Tugend also, völlig entbehrt. Sie ist Romantik nicht
So, wie sie war entglommen nur als Künstlerbekenntnis, sie ist es viel tiefer hinab, ihrer
Von Anbeginn im Schöpfergeist: seelischen Neigung, ihrer geistigen Stimmung nach; ihre Sym-
Dann strahlst Du hell, dann klingst Du rein, pathie gilt nicht dem Neuen, sondern dem Alten, nicht der
Pierluigi Du, Zukunft, sondern der Vergangenheit, nicht dem Leben, son-
An seiner schönen Ketten dern —. Ich weiß nicht, welche Scheu mich abhält, das Wort zu
Der letzte Stein. Ende zu sagen, das Formel und Grundbestimmung aller Ro-
mantik ist. Aber hat man bemerkt, daß die Frauengestalt des
Was wollen die Verse anderes besagen als das prosaische Werkes, Lukrezia, nicht dem Leben gehört, daß sie nur ein
Wort der Streitschrift: »Nicht die Kunst, der Künstler hat ein Bild ist und ein Schatten? Sie war Palestrina's Weib, sie starb,
Ziel«? Die gegenteilige Meinung wäre optimistisches Pathos. und als sie starb, »da ward es trüb in ihm und leer«, singt
Palestrina ist der Mann des pessimistischen Ethos. Wenn die Ighino. Aber das ist eine besondere Art von Trübheit und
Welt in einer Richtung ›fortschreitet‹, an die man durchaus Leere, fruchtbarer augenscheinlich als manche Helligkeit und
nicht glaubt, obgleich man solchen Fortschritt als notwendig Fülle, denn Palestrina's höchstes Werk geht daraus hervor, und
und unabwendbar anerkennt und selbst von Natur nicht um- die Geschiedene ist es, die es ihm einflüstert. Hätte die Lebende
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es vermocht? Die Musik, wenn er vor ihrem Bilde steht, findet sprochen wird: dort nämlich, wo vom Abscheiden der Lukre-
Laute von überschwenglicher Schwärmerei, um seine Liebe zu zia die Rede ist, — wahrhaftig und unverkennbar! es bildet die
ihrem Schatten auszudrücken; würde sie soviel Schönheit her- symphonische Unterströmung zu jenem Worte Ighino's: »Da
vorzubringen Lust haben anläßlich der Liebe zu einer leben- ward es trüb in ihm und leer«; es ist also zugleich das Sym-
den Frau? Geradeheraus gefragt: wäre Palestrina der Mann, bol des seelischen Zustandes, in den Palestrina durch den Tod
und war er es, eine Lebende so zu lieben, wie er die Tote seines Weibes versetzt wurde, das Symbol seiner rückwärts
liebt? Und allgemein gefragt: Ist der inspirierende Genius oder vielmehr hinab, zum Schattenreich, gewandten Liebe, die
dieses Künstlers überhaupt das Leben und nicht vielmehr — sich in jener schöpferischen Wundernacht als inspirierende
Es gibt in der Palestrina-Partitur ein Thema — es ist wohl Kraft erweist; es ist, alles in allem, die zauberhaft wohlklin-
eigentlich das wichtigste von allen, und wir wären schon ein- gende Formel für seine besondere Art der Produktivität, eine
mal beinahe darauf zu sprechen gekommen —, dessen Bedeu- Produktivität des Pessimismus, der Resignation und der Sehn-
tung nicht ohne weiteres klar und das nicht so geradhin bei sucht, eine romantische Produktivität.
einem Namen zu nennen ist, wie etwa das Kaiser-Ferdinand- An einem Sommerabend zwischen der zweiten und dritten
und das Konzil-Motiv oder die Motive der Städte Rom, Bo- Palestrina-Aufführung unterhielt man sich, auf einer Garten-
logna, Trident. Es ist eine melodische Figur von außerordent- terrasse sitzend, über das Werk, indem man es, was nahe-
licher Schönheit, bestehend aus zwei gleichsam mit wehmütig liegt, als Künstlerdrama und als Kunstwerk überhaupt mit
wissender Bestimmtheit hingestellten Takten, an die eine edel den ›Meistersingern‹ verglich; man stellte Ighino gegen Da-
empfundene, hoch aufsteigende und im Schmuck einer Sech- vid, Palestrina gegen Stolzing und Sachs, die Messe gegen
zehntel-Schlußfloskel ergeben zur Dominante kehrende Ka- das Preislied; man sprach von Bach und der italienischen Kir-
denz sich fügt. Es erscheint schon im Vorspiel, im Anschluß chenmusik als stilisierenden Kräften. Pfitzner sagte: »Der
an Palestrina's eigentliches archaisches Thema, und sein Wie- Unterschied drückt sich am sinnfälligsten in den szenischen
derauftreten begleitet oder schafft stets Augenblicke von gei- Schlußbildern aus. Am Ende der ›Meistersinger‹ eine lichtstrah-
stiger und dichterischer Bedeutsamkeit. Es beherrscht die musi- lende Bühne, Volksjubel, Verlöbnis, Glanz und Gloria; bei
kalische Szene, als der Kardinal den müden Meister auffordert, mir der freilich auch gefeierte Palestrina allein im Halbdunkel
das erhaltende und krönende Werk zu schaffen; es erklingt seines Zimmers unter dem Bild der Verstorbenen an seiner
auch, als die Vorgänger ihm »den Sinn der Zeit« und den Orgel träumend. Die ›Meistersinger‹ sind die Apotheose des
seines eigenen Lebens verkünden; und es bildet, unwagne- Neuen, ein Preis der Zukunft und des Lebens; im ›Palestrina‹
risch-untheatralisch, den ruhevoll-resignierten Abschluß des neigt alles zum Vergangenen, es herrscht darin Sympathie mit
ganzen Gedichtes. Was also besagt es? Unzweifelhaft gehört dem Tode.« Man schwieg; und nach seiner Art, einer Musi-
es zu Palestrina's Persönlichkeit. Es ist das Symbol für einen kantenart, ließ er seine Augen auf eine Sekunde schräg auf-
Teil seines Wesens oder für sein Wesen in einer bestimmten wärts ins Vage entgleiten.
Beziehung: das Symbol seines künstlerischen Schicksals und Es ist nicht ohne weiteres verständlich, warum das letzte
seiner zeitlichen Stellung, das metaphysische Wort dafür, daß seiner Worte mich so sehr erschütterte und erstaunte. Nicht,
er kein Anfang, sondern ein Ende ist, das Motiv des »Schluß- daß es mir sachlich überraschend gekommen wäre, es war ja
steins«, der Blick der Schwermut, der Blick zurück . . . Aber ich vollkommen an seinem Platz. Was mich so betroffen machte,
sagte noch nicht, an welcher Stelle dies Thema noch ausge- war die Formulierung. »Sympathie mit dem Tode« . . . ich

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traute meinen Ohren nicht. Das Wort war von mir. Vor dem Bei Nacht an seinem Tische sah er ergreifenderweise dem
Kriege hatte ich einen kleinen Roman zu schreiben begonnen, Autor ähnlich: das bekenntnishafte Gepräge der ganzen Dar-
eine Art von pädagogischer Geschichte, in der ein junger bietung wurde dadurch vollkommen. Nicht sowohl um die
Mensch, verschlagen an einen sittlich gefährlichen Aufenthalts- Krönung der italienischen Kirchenmusik handelte es sich, son-
ort, zwischen zwei gleichermaßen schnurrige Erzieher gestellt dern um den »letzten Stein« zum Gebäude der romantischen
wurde, zwischen einen italienischen Literaten, Humanisten, Oper, um den wehmutsvollen Ausklang einer national-künst-
Rhetor und Fortschrittsmann und einen etwas anrüchigen My- lerischen Bewegung, die mit Hans Pfitzner, seiner eigenen
stiker, Reaktionär und Advokaten der Anti-Vernunft, — er Einsicht nach, sich ruhmvoll endigt.
bekam zu wählen, der gute Junge, zwischen den Mächten der Ich will alles sagen, — das ist der Sinn dieses Buches. Der
Tugend und der Verführung, zwischen der Pflicht und dem Komponist des ›Armen Heinrich‹, der ›Rose vom Liebesgar-
Dienst des Lebens und der Faszination der Verwesung, für die ten‹ und des ›Palestrina‹, der bis zum Hochsommer 1914 sich
er nicht unempfänglich war; und die Redewendung von der um Politik den Teufel mochte gekümmert haben, der ein ro-
»Sympathie mit dem Tode« war ein thematischer Bestandteil mantischer Künstler, das heißt: national, aber unpolitisch
der Komposition. Nun hörte ich sie wörtlich aus dem Munde gewesen war, erfuhr durch den Krieg die unausbleibliche Po-
des Palestrina-Dichters. Und ohne jede Pointierung, durchaus litisierung seines nationalen Empfindens. Nach innen wie nach
improvisatiorisweise, wie es schien, und nur eben, um die außen nahm er Stellung mit einer Entschiedenheit, die bei
Dinge beim rechten Namen zu nennen, hatte er sie hingespro- aller »Literatur«, bei allem kosmopolitischen Radikalismus
chen. War das nicht überaus merkwürdig! Um sein pathetisch- nicht wenig anstoßen, nicht wenig Verachtung erregen mußte.
musikalisches Werk recht gründlich zu kennzeichnen, war die- Wahrhaftig, dieser Zarte, Inbrünstige und Vergeistigte nahm
ser bedeutende Zeitgenosse mit genauer Notwendigkeit auf Stellung gegen den ›Geist‹, erwies sich als ›Machtmensch‹,
eine Formel meines ironischen Literaturwerkes verfallen. Wie- ersehnte den kriegerischen Triumph Deutschlands, widmete
viel Brüderlichkeit bedeutet Zeitgenossenschaft ohne weiteres! demonstrativ, als die Wogen des U-Boot-Streites am höchsten
Und wieviel Ähnlichkeit in der Richtung der geistigen Arbeit gingen, ein Kammermusikwerk dem Großadmiral von Tirpitz;
ist nötig, damit zwei fern voneinander, in ganz verschiedener mit einem Worte: der nationale Künstler hatte sich zum anti-
Kunstsphäre lebende Arbeiter im Geist sich, äußerlich zusam- demokratischen Nationalisten politisiert. Wen wunderte es?
menhanglos, auf das gleiche Wortsymbol für ganze seelische Er war musikalisch-deutsch gewesen wie keiner; sein Instinkt,
Komplexe einigen! sein erhaltender Grundwille hatte aller künstlerischen »De-
»Sympathie mit dem Tode« — ein Wort der Tugend und mokratie‹, allem europäischen Intellektualismus tief feindlich
des Fortschritts ist das nicht. Ist es nicht vielmehr, wie ich entgegengestanden; und wenn er gerade darum im Politischen
sagte, Formel und Grundbestimmung aller Romantik? Und ein fremdes Wesen hatte erblicken müssen, — es kam der Tag,
jenes schöne, wehmütig-schicksalsvolle Palestrina-Motiv, das wo sich erwies, daß einer bestimmten seelisch-geistigen Ver-
wir nicht gleich zu benennen wußten, es wäre also das Motiv fassung eben doch eine bestimmte politische Haltung latent
der schöpferischen Sympathie mit dem Tode, das Motiv der innewohnt oder von weitem entspricht, die einzunehmen un-
Romantik, das Schlußwort der Romantik? Der Sänger des Pa- ier Weltumständen wie den gegenwärtigen niemand umhin-
lestrina war derselbe, der in Basel als Evangelist in der Mat- kann. Kein christlicher Kosmopolitismus aber kann mich hin-
thäus-Passion auf Romain Rolland so starken Eindruck machte. dern, im Romantischen und im Nationalen eine und dieselbe
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ideelle Macht zu erblicken: die herrschende des neunzehnten, Vernunft ist man tugendhaft, schwört zur Fahne des Fort-
des ›vorigen‹ Jahrhunderts. Alle Zeitkritik verkündete vor schritts, fördert als strammer Ritter der Zeit »die natürliche
dem Kriege das Ende der Romantik; der ›Palestrina‹ ist der Entwicklung der Tatsachen«, verleugnet gründlich die Sym-
Grabgesang der romantischen Oper. Und die nationale Idee? pathie mit dem Tode, die einem von Hause aus vielleicht nicht
Wer wollte mit ganz fester Stimme der Behauptung wider- fremd ist, und gewinnt so, sollte man sie ursprünglich nicht
sprechen, daß sie in diesem Kriege verbrennt,—in einem Feuer besessen haben, die Gabe des Lebens, das heißt: man kommt
freilich, so riesenhaft, daß noch in Jahrzehnten der ganze so schnell und so weit voran .. .
Himmel davon in Gluten stehen wird? Das neunzehnte Jahr- Unzweifelhaft handelt es sich da um die Kunst, gesund zu
hundert war national. Wird auch das zwanzigste es sein? werden. Aber das Problem der Gesundheit ist kein einfaches
Oder ist Pfitzners Nationalismus, auch er, — »Sympathie mit Problem, das Verhältnis von Gesundheit, und Krankheit geht
dem Tode«? nicht auf in dem von Optimismus und Pessimismus, von Fort-
schrittstugend und Sympathie mit dem Tode. Schopenhauers
Ich hoffe, daß dieser theatralische Exkurs zur Verdeutlichung Pessimismus war, persönlich genommen, sicher etwas Gesun-
dessen beigetragen hat, was ich unter ›Tugend‹ oder richti- deres als Nietzsche's dionysischer Optimismus, denn Schopen-
ger: unter ›Tugendhaftigkeit‹ verstehe. Es ist die unbedingte hauer, das Leben verneinend, erreichte ein Patriarchenalter, in-
und optimistische Parteinahme für die Entwicklung, den Fort- des er die Flöte blies, und Nietzsche's Lebensbejahung ist als
schritt, die Zeit, das ›Leben‹; es ist die Absage an alle Sym- paralytische Euphorie aufs heilloseste kompromittiert. So, wie
pathie mit dem Tode, welche als letztes Laster, als äußerste gesagt, können die Dinge persönlich liegen, — wenn auch über
Verrottung der Seele verneint und verdammt wird. »Ich habe den philosophischen Gesundheitswert von Optimismus und
die Gabe des Lebens«, erklärt der Verfasser jenes lyrisch-po- Pessimismus nichts damit gesagt sein mag. Ich komme aber,
litischen Prosa-Gedichtes, das Emile Zola zum Helden hat, bei allem guten Willen zur Sachlichkeit, um das Persönliche
»denn ich habe die tiefste Leidenschaft für das Leben! — Was nicht ganz herum. Nicht jedem ziemt von Natur das segens-
ist die Gabe des Lebens? Es ist die Gabe der Wahrheit . . . reiche Bündnis mit der Zeit und dem Fortschritt, nicht jedem
Alle Mächte der Wahrheit lieben, Wissenschaft, Arbeit, De- steht demokratische Gesundheit recht wahrscheinlich zu Ge-
mokratie . . . Seine Zeit lieben! . . . Wer heute nicht mit der sicht. Hat man breite Schultern und starke Zähne, heißt man
Wissenschaft ist, lähmt sich selbst. Man ahnt gar nicht, was Zola, Björnstjerne Björnson oder Roosevelt, so mag sich eine
für eine unbezwingliche Kraft es einem Manne gibt, wenn er harmonische Wirkung ergeben. Kam man aber ein wenig alt
das Werkzeug der Zeit in Händen hat und mithilft zu der na- und nobel zur Welt, mit einem natürlichen Beruf zum Zweifel,
türlichen Entwicklung der Tatsachen. Dann trägt es ihn. Er zur Ironie und zur Schwermut; ist die Lebensröte, die man zur
kommt so schnell und so weit voran, weil er die Leidenschaf- Schau trägt, hektisch oder angeschminkt, ist sie im Grunde —
ten seiner Zeit hat . . . « Hier ist nicht allein das Wesen aller Ästhetizismus, dann hat die Sache ihr ethisch Anstößiges, ich
Geistestugend unübertrefflich gekennzeichnet, hier wird auch kann das nicht übersehen. Es gibt etwas, was ich von jeher in
ihr persönlicher Lohn, ihr dulce utile aufgewiesen, — mit wie- meinem Herzen den »Verrat am Kreuze« nannte. Und auch die
viel stolzer Dankbarkeit aufgewiesen! Gab es je eine begeister- Tugend, auch die ›Demokratie‹, auch die Voluptuosität politi-
tere Umschreibung jener dreiteiligen Gleichung des klassischen scher Schwunghaftigkeit bedeutet zuweilen nur dies: den Ver-
Demokratismus: Vernunft gleich Tugend gleich Glück? Aus rat am Kreuz.

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Sie sprachen die Wahrheit, und man muß die Wahrheit sagen,
E I N I G E S ÜBER M E N S C H L I C H K E I T auch wenn sie verwirrend, ernüchternd, lähmend und auf die
Leidenschaften entmutigend wirken sollte, ja gerade dann. Es
fragt sich freilich, ob das Besserwissen der Informierten wirk-
An dieser Stelle will ich fünf, sechs Gedanken einschalten und lich ein besseres Wissen oder nur ein richtigeres Wissen war. Ich
irgendwie aneinanderreihen, anläßlich des größten Schlag- und will nicht geradezu behaupten, die populäre Phantasie Deutsch-
Tugendwortes, das die Demokratie im Munde führt, der Pa- lands habe auf ihr Grey-Bildnis ein gutes Anrecht gehabt; aber
role ›Menschlichkeit‹. so viel ist sicher, daß sie bürgerliche Porträt-Ähnlichkeit gar
Vor allem schien mir niemals eine Meinungsverschiedenheit nicht dafür in Anspruch genommen hatte. Dies Bild war poli-
darüber möglich, daß ›Menschlichkeit‹, eine menschliche Denk- tischer Mythos gewesen, dasjenige der Informierten war
und Betrachtungsweise, selbstverständlich den Gegensatz aller menschliche Aufklärung.
Politik bedeutet. Menschlich denken und betrachten heißt un- Der Fürst Lichnowsky ist unter die Aufklärer zu zählen. In
politisch denken und betrachten, ein Satz, mit dem man frei- seiner Denkschrift erzählt er: Als Sir Edward eines Tages in
lich sofort in schärfsten Widerspruch zur Demokratie gerät. seiner Familie zu Tische gewesen, habe er, nachdem er eine
Diese nämlich dringt im Namen der entschlossenen Menschen- Weile dem Geplauder der Kinder zugehört, die Äußerung ge-
liebe darauf, daß alles Menschliche politisch betrachtet werde, tan: »I can't help thinking, how clever these children are to
— was sie aber nicht hindert, in gewissen, in ganz bestimmten talk German so well!« Und dann habe er recht herzlich über
Fällen, wo es ihr nützlich und rätlich scheint, das Politische seinen kleinen Scherz gelacht. Mit dieser Anekdote nun möchte
menschlich zu betrachten. In diesen Fällen erscheint der Gegen- der Fürst den deutschen Glauben an die ›Schuld‹ Englands
satz von Politik und Menschlichkeit als derjenige von Mythos widerlegen, und das ist schwach, — aufklärerisch und schwach.
und Aufklärung. Ich meine es so: Denn nicht wahr: Um die ›Schuld‹ Englands am Kriege möge
Die populäre Phantasie Deutschlands schuf sich von der es, wie immer, stehen, — die menschliche Freundlichkeit derer,
Person des Mannes, der bei Kriegsausbruch die auswärtigen die es im Juli 1914 zu regieren glaubten, ist ein sehr schwacher
Geschäfte Großbritanniens leitete, ein sehr abstoßendes Bild. Beweis gegen sie. »Das«, ruft Lichnowsky aus, »dieser kindlich
Es war das ein Bild, viel zu verteufelt und kolportagehaft bös- heitere alte Herr ist der Lügen-Grey, der infernalische Ränke-
artig, als daß es aus einem Verbrecheralbum hätte geschnitten schmied, den man sich bei uns zu Hause erträumt!« Nein doch,
sein können: der hohläugige Dämon der Lüge, der Ränke und er ist es nicht. Er ist nur eine Unterschiebung, die Unterschie-
Untat trägt solche Züge, es war eine wahrhaft-apokalyptische bung des Menschlichen statt des Politischen, wie nur ein
Geier- und Galgenvogel-Physiognomie. Das ärgerte die Infor- Deutscher sie üben kann, um das eigene Volk zu verwirren,
mierten, die Besserwisser, und sie verbreiteten bald, daß so ein zu entmutigen und zu lähmen. Die moralische Identität und
Phantom, wie es dem Durchschnittsdeutschen bei Nennung wieder Nicht-Identität des freundlichen alten Individuums mit
des Namens Sir Edward Grey vorschwebte, nicht existiere. Es dem Exponenten eines politisch-historischen Machtwesens vom
handle sich vielmehr um einen feinsinnigen, gemütvollen, zur Schlage Englands, das durch ein Individuum handelt, während
Einsamkeit und zum Idyll geneigten, zwar stockenglischen und dieses persönlich zu handeln glaubt, — diese tief verschlun-
kontinentaler Sprachen nicht kundigen, in seiner Art aber gene Doppelpsychologie eines ›regierenden‹ Staatsmannes zu
hochkultivierten und überaus human gesinnten Gentleman. erfühlen, zu erschauen und darzustellen wäre Sache eines
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großen Dichters; es kann selbstverständlich nicht Sache sein verginge, auf dem Kontinent wieder Fuß zu fassen, nicht nur
eines Gesellschafts-Diplomaten, welcher glaubt, daß er den Welt- ein deutscher, sondern ein Welt-Festtag erster Ordnung wäre.
krieg verhindert hätte, wenn man ihn, der mit den englischen Denn politisch-historisch genommen ist jener Satz von der
Herren auf so gutem Fuße stand, nur hätte gewähren lassen. außereuropäischen, ja anti-europäischen Macht die pure, buch-
Nicht nur im Persönlichen, sondern auch im Großen, auch stäbliche und unerbittliche Wahrheit. Alle großen Kontinental-
was zum Beispiel das große England betrifft, ist der politische Europäer haben sie als Wahrheit erkannt, voran Napoleon
Literat, der Aufklärer, darauf bedacht, das Menschliche statt Bonaparte, an dessen schließliches Unterliegen im Kampf gegen
des Politischen vorzuschieben und das zu zerstören, was wir diese Macht die Engländer sich heute beständig zu ihrer Stär-
den Mythos nannten, und was nach unserer unpolitischen kung erinnern; und zuletzt hat noch der Europäer Nietzsche die
Meinung in gewissen Augenblicken der Geschichte mit einer »Verständigung« mitEngland,dieer in bedeutungsvoll undemo-
kratische Anführungsstriche setzte, als eine unumgänglich be-
entschiedenen Einseitigkeit in Betracht gezogen werden darf
vorstehende Notwendigkeit bezeichnet. Es ist eine tragische
und muß. Menschlich genommen, klingt es wie eine wilde
Merkwürdigkeit, daß jedes der großen europäischen Völker
Absurdität, wenn man England als eine außereuropäische und
auf seine Art ein Verhängnis für Gesamt-Europa bildet —
geradezu antieuropäische Macht bezeichnet, die des europäi-
(Deutschland nicht weniger als andere). England aber tut es
schen Gewissens und des europäischen Solidaritätsgefühls voll-
auf eine besonders egoistische, unbewußte, kalte, unerschüt-
kommen entbehre. Ich sage, es klingt absurd, denn die Eng-
terliche und kluge Art. Von jeher war es seine Sache, die Völ-
länder sind ja ein europäisches Kulturvolk trotz einem, es ist
ker des Festlandes gegeneinander auszuspielen, aus ihren
unmöglich, sie als solches nicht zu bewundern. Zwar ist ihre
Zwistigkeiten Nutzen zu ziehen, sie für seine Zwecke bluten
Philosophie wohl nicht sonderlich hoch, und sie waren nicht
zu lassen. Seine Regenten mögen die denkbar freundlichsten
schöpferisch in der Musik. Aber ihre Malerei, für die ich von
Personen sein, — sie sind nur die Exekutivorgane eines poli-
jung auf eine Schwäche hatte, besitzt zum mindesten den Vor-
tisch-historischen Machtwesens, das leben und handeln muß
zug inselhafter Eigenart, der Unabhängigkeit von Paris; der nach dem Gesetz, wonach es angetreten, und dessen Lebens-
Roman hat gewaltigen europäischen Einfluß gehabt, die Lyrik interesse der Wohlfahrt Europas feindlich entgegensteht. Es
ist exquisit, und der ›Hamlet‹, der ›Manfred‹ kamen von ist keine europäische, sondern eine Welt-Macht, namentlich
dort. Es kamen außerdem von dort eine Menge nützlicher, das eine asiatische Macht, und darum mußte es zu Anfang dieses
Leben verannehmlichender Dinge, wie das Fahrrad, das Was- Jahrhunderts den russischen Ausdehnungsdrang vom Osten
serklosett, der gestutzte Schnurrbart, der Rasierapparat, das ablenken und nach Westen leiten, — gegen Europa, von dem
Lawn-Tennis und so fort und so fort. Zum Überfluß aber lebt, es doch seelisch sozusagen ein Teil ist. Nicht aus Bosheit tat es
wenn ich urteilen darf, auf jenen Inseln noch immer der das, sondern unter der Fatalität seines politisch-historischen
schönste und stolzeste jugendliche Menschentyp aller Zonen, Lebens. Denn in der Politik herrschen mechanische, außer-
Hermesse und blonde Aphroditen und dann jener dunkle, menschliche, außermoralische und also weder gut noch böse
ästhetizistische Jungfrauen-Schlag, den man von Botticelli so- zu nennende Gesetze, welche mit humanen Ausdeutungen und
wohl wie von den Engelsbildern der britischen Präraffaeliten Beschönigungen zu umkleiden England freilich von jeher am
her kennt. — Nun, und? Das alles hindert nicht, daß der Tag, allerbesten verstanden hat. Aber nicht nur der Engländer, der
an dem Feldmarschall Hindenburg die englischen Landungs- Mensch überhaupt braucht die Moral, sie ist mit seinem Wesen
heere ins Meer würfe, so daß diesem Volke auf immer die Lust
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verwachsen, er will und kann auf eine moralische Betrach- menschliche Betrachtung des Politischen? Im Falle der äußeren
tungsweise der Dinge nicht verzichten, und eben aus diesem Politik. Denn in der inneren verbietet er eine menschliche
Grunde entstand in Deutschland das abstoßende Bild des guten Betrachtung des Politischen aus Opportunitätsgründen völlig
alten Grey sowohl wie des großen England selbst. und besteht vielmehr auf einer politischen Betrachtung alles
Es war der Mythos. Der politische Literat, wie gesagt, sorgt Menschlichen. Genau umgekehrt verhält es sich bei seinem
für Aufklärung durch Menschlichkeit, indem er, in gewissen Gegentyp, dem Nicht-Politiker, den wir noch immer nicht bes-
Fällen, das Menschlich-Kulturelle, welches mit dem Politisch- ser als mit dem Namen des Ästheten zu nennen wissen. Die-
Historischen doch gar nichts zu tun hat und eine ganz andere ser hält dafür, daß in der äußeren Politik, wenigstens zu-
Seite der Sache ist (so daß auch in einem Kriege wie diesem zeiten, der Mythos ein unverbrüchliches Lebensrecht, — ein
unsere kosmopolitische Kulturgesinnung und Menschlichkeit Vorrecht vor dem Individuell-Menschlichen besitze, und daß
durch unsere politische Parteinahme nicht im geringsten be- in solchen Zeitläuften die außermenschliche, politisch-histo-
einträchtigt zu werden braucht) — indem er also das Mensch- rische Seite der Dinge entschieden ins Auge zu fassen sei,
lich-Kulturelle statt des Historisch-Politischen unterschiebt während die menschlich-kulturelle zwar nicht aus der Welt
und dieses durch jenes seinem Volke zum Ekel zu machen geleugnet werden, aber doch für den Augenblick zurücktreten
sucht. Wie er uns den armen französischen Infanteristen mit müsse. In der inneren Politik dagegen ist ihm der Mythos, die
den gesprungenen Lackstiefelchen zeigte, dessen Blut zu seinem Politisierung alles Menschlichen, von Grund aus verhaßt, und
militärischen Mörder sprach: »Den Kerl, der mir meine kleine hier, wahrhaftig, liebt er die menschliche Aufklärung, wie
Freundin abspenstig machen wollte, habe ich viel mehr gehaßt etwa die Kunst oder die Religion sie betreiben.
als dich!« — so zeigt er uns den jungen Engländer, der in Ist es menschlich, den Landadel als eine Gattung sektsaufen-
Karlsbad Goethe sah und entgeistert stand, weil er es nicht der Rüsseltiere darzustellen? Nein, es ist mythisch, es ist poli-
für möglich gehalten hatte, daß der Verfasser des ›Werther‹ tisch, es ist eine Forderung und ein demagogisches Mittel der
wirklich im Fleische wandle . . . Edler, prächtiger junger Mann! ›Politik der Menschlichkeit‹. Wobei freilich die Frage noch
Ist es erlaubt, gegen dein Land und Volk Krieg zu führen, — übrigbleibt, ob es in irgendwelchem höheren Sinne denn eigent-
angenommen selbst, dieses Land und Volk habe einem den lich politisch ist, ob denn der demokratisch-sozialistische Haß
Krieg erklärt und nicht umgekehrt? — Ist es, fragen wir da- auf den Großgrundbesitz, auf das Ostelbiertum, außer der
gegen, erlaubt, ist es nicht vielmehr eine nichtswürdige Finte ›Leidenschaft‹ auch an gesunder Vernunft noch einiges für
und Niedertracht, den Sinn des eigenen Volkes, das mit einer sich hat. Oft ist auseinandergesetzt worden — am besten von
politisch-historischen Macht vom Schlage Englands in schick- dem klugen und wahrhaft freien alten Karl Jentsch (dessen
salsmäßigem Kampf auf Leben und Tod begriffen ist, mit kul- Tod zu meinem Bedauern soeben gemeldet wird) —, daß nicht
turellen Empfindsamkeiten zu verwirren? jede Gegend Deutschlands sich für die Bodenparzellierung
Fragen wir nicht. Halten wir uns an die Tatsachen, — sie und das Kleinbauerntum eignet; daß der landwirtschaftliche
zeigen uns dieselbe wunderliche Verschränktheit der sittlichen Großbetrieb gerade im Interesse des Fortschritts unentbehrlich
Willensmeinungen, die uns im Lauf unserer Betrachtungen ist, weil er es ist, der technisch führt; daß der Großgrundbesitz
schon mehrmals auffällig wurde. Wann nämlich, in welchen das notwendige Gegenstück zur Großstadt ist, die ohne ihn
Fällen, oder richtiger: in welchem Falle dringt die Demokra- nicht versorgt werden könnte, daß ›Ostelbien‹ nicht dichter
tie oder, persönlich gesprochen, der politische Literat, auf eine bevölkert sein darf, als es ist, wenn es fortfahren soll, viel
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Korn an das Reich abzugeben und so fort. Indessen, die Dinge Menschlich, aufklärend und den Mythos wohltätig zer-
so betrachten, hieße, sie allzu sachlich, hieße, sie ohne Geist störend erscheint mir jene Szene bei Fontane, wie der alte
betrachten. Das ›feudale Prinzip‹, jede Art Konservativismus, Herr von Stechlin, der bei der Reichstagswahl vom Sozial-
der religiöse, monarchische, nationale, sittliche, wirtschaft- demokraten geschlagen worden, auf der Heimfahrt den Süffel
liche, jede Widersetzlichkeit gegen fortschrittliche Entartung Tuxen findet, der für Torgelow'n aus Berlin gestimmt hat und
und Zersetzung, wurzelt im Grund und Boden, und es ist der nun bei Nachtfrost betrunken quer überm Weg vor den Rädern
natürliche Gegner jenes anderen, des demokratischen Prin- liegt; wie er mit seiner kopfschüttelnden Junkermelancholie
zips, des Prinzips der Menschenrechte, welches nirgendwo zu ihm spricht, ihn auf den Wagen nimmt und bis Dietrichs-
wurzelt außer in der ›Vernunft‹. Man sollte freilich denken, Ofen bringt: »Nu steigt ab und seht Euch vor, daß Ihr nicht
daß gerade die Vernunft, sofern sie irgend zur Freiheit und fallt, wenn die Pferde anrucken. Und hier habt Ihr was. Aber
Menschlichkeit willig ist, aus der Heiligkeit und Unentbehr- nich mehr für heut. Für heut habt Ihr genug . . . « Was macht
lichkeit von ›Grund und Boden‹ auf eine gewisse Recht- die Szene so liebenswürdig? Kaum das bißchen Satire, kaum
mäßigkeit der dort beheimateten Prinzipien schließen und der Kontrast zwischen der Idee des allgemeinen und gleichen
einige Skepsis gegen die unbedingte Überlegenheit der gegen- Wahlrechts, dieses Zugeständnisses an das ›Naturrecht‹, die
teiligen Prinzipien sich daraus gewinnen müßte. Aber, wie Volks Souveränität, — und der Menschlichkeit des alten Tuxen,
gesagt, es handelt sich um Politik, um Entschlossenheit, um der es ausgeübt hat und nun betrunken vor den Rädern liegt.
den Kampf geistig-materieller Interessen-Komplexe, — einen Was wirkt, was beglückt, das ist die Außerkraftsetzung, Ent-
Kampf übrigens, bei dem längst nicht mehr zweifelhaft sein waffnung, Vernichtung der Politik durch Freiheit, Resignation
kann, welcher Teil sich in siegreicher Offensive und welcher und Güte. »Du weißt ja, ich reiß' keinem den Kopp ab. Is auch
sich in der Abwehr befindet. Auch macht die Tatsache, daß die alles egal«, sagt Dubslav, als er wissen will, wen »der alte
links-liberale, das heißt die demokratische und der sozialdemo- Süffel« gewählt hat. »Is auch alles egal« — so weit hat Torge-
kratischen am nächsten stehende Presse besser geschrieben ist low aus Berlin es noch nicht gebracht. Aber um so zu denken,
und von den schönen Künsten meist mehr versteht als die kon- darf man wohl nicht der Sieger sein.
servative, mich nicht blind gegen die andere Tatsache, daß solche Kunst, wie Religion, ist menschliche Sphäre; die Politik ver-
Verfeinerung diese Presse nicht hindert, ihren Interessenkampf geht vor ihr wie Nebel vor der Sonne. Sie kann sie aufneh-
gegen das Agrariertum mit der plumpsten Perfidie, mit nach- men, kann sie selbst zum Gegenstande haben, kann Staats-
weislich illoyalen Mitteln zu führen. Nun, das ist Politik, — in aktionen aufführen, doch dann wird die Kunst das Politische
welcher gehässige Einseitigkeit, Ungerechtigkeit, Lüge, Fäl- vermenschlichen, seelisch durchleuchten, und ihre Objektivität
schung, Verdrehung und Verhetzung gang und gäbe sind; wes- wird bis ins Tragische hinein heiter und ungeheuer sein. Übri-
halb man mir denn auch nicht weismachen wird, daß Mensch- gens aber ist kein Erlebnis vermögender, das Politische außer
lichkeit und Politik je in einem attributiven Verhältnis zueinander Betracht zu setzen, es gründlicher unerheblich zu machen und
stehen können. Und wenn es denn wahr ist, daß die anständigste in Vergessenheit zu bringen, als das Erlebnis des Ewig-Mensch-
und menschenwürdigste aller Lebensformen, die des Gutsherrn, lichen durch die Kunst. In einem Augenblick, wo weltpolitische
zugleich die politisch rückständigste und verächtlichste ist, so Ereignisse von freilich furchtbarer Wucht das Individuell-
spricht auch das gegen die Möglichkeit, Politik und Mensch- Menschliche überall in schwerste Mitleidenschaft ziehen, es
lichkeit je in ein solches Verhältnis zueinander zu bringen. überschwemmen und fortreißen, — gerade in diesem Augen-
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blick ziemt es sich, gegen den Größenwahn der Politik die heit und Freiheit — aber das ist wohl allzu oft gesagt worden —
Wahrheit zu verteidigen, daß das Wesentliche des Lebens, daß schließen einander selbstverständlich aus; und was die Brüder-
das Menschliche vom Politischen nie auch nur berührt werden lichkeit betrifft, so ist sie ohne moralischen Wert, wenn sie auf
kann. »Inzwischen«, sagt Tolstoi in ›Krieg und Friedens nach- Gleichheit beruht.
dem er von den politischen Kombinationen der Jahre 1808 und Es hieß das russisch-französische Bündnis mit untauglichen
1809 gesprochen und die inneren Umgestaltungen erwähnt Waffen angreifen, wenn man es für unnatürlich und schänd-
hat, die damals in allen Teilen der russischen Verwaltung statt- lich erklärte, daß eine Demokratie sich mit einem absolutisti-
fanden und von denen das Interesse der russischen Gesellschaft schen Staat verbinde. Nur der Politiker, nämlich jemand, der
besonders in Anspruch genommen worden sei, — »inzwischen die Bedeutung staatlicher Verfassungsformen bis zur Absur-
ging das Leben — das eigentliche Leben der Menschen mit dität überschätzt und verkennt, kann Demokratie und Auto-
seinen wesentlichen Interessen: Gesundheit, Krankheit, Arbeit kratie für menschliche Gegensätze halten, nur er weiß nicht,
und Ruhe, seinen Interessen des Denkens, des Wissens, der daß wahre, das heißt menschliche Demokratie eine Sache des
Poesie und Musik, der Liebe und Freundschaft, des Hasses und Herzens und nicht der Politik, daß sie Brüderlichkeit und nicht
der Leidenschaften — seinen gewöhnlichen Gang, außerhalb Freiheit ›und‹ Gleichheit ist. Ist nicht der Russe der mensch-
der politischen Sphäre, unabhängig von der Feindschaft oder lichste Mensch? Ist seine Literatur nicht die menschlichste von
Freundschaft mit Napoleon Bonaparte und unberührt von al- allen, — heilig vor Menschlichkeit? Rußland war in tiefster
len Reformen.« — Unberührt von der Politik bleibt auch das, Seele immer demokratisch, ja christlich-kommunistisch, das
was man Menschenwürde nennt: — es ist eine Albernheit, zu heißt brüderlich gesonnen, und Dostojewski schien zu finden,
glauben, daß unter einer Republik »menschenwürdigen ge- daß für diesen Demokratismus das patriarchalisch-theokratische
lebt werde als unter einer Monarchie. Dennoch ist man Poli- Selbstherrschertum eine angemessenere Staatsform darstelle
tiker nur um den Preis, daß man dies glaubt. als die soziale und atheistische Republik.
Eine Mesalliance, scheint mir, ist jenes Bündnis nicht so-
Der Begriff des Menschlichen, die Vorstellungen von dem, wohl im französischen als im russischen Sinne, denn die De-
was in sozialer Hinsicht menschenwürdig sei, sind auch inner- mokratie des Herzens ist der Demokratie des Prinzips und der
halb der zivilisierten Welt sehr schwankend. Der Russe, an humanitären Rhetorik menschlich tief überlegen, und die macht-
willkürliche Verhältnisse gewöhnt, aus einem Lande kommend, politische Verbindung Rußlands mit Frankreich menschlich
wo despotische und demokratische Korruption sich vermischen, rechtfertigen, sie als menschlich wohl fundamentiert erweisen
klagt in Deutschland über Mangel an persönlicher Freiheit, zu wollen, ist durchaus nicht meine Sache, sondern ganz und
weil es ihm an einem Schalter nicht gelingt, durch Hinreichung gar die unseres Zivilisationsliteraten, der zu diesem Behufe
eines Geldscheines früher als die vor ihm Gekommenen ab- mit Worten spielt: mit dem Worte ›demokratisch‹ zum Bei-
gefertigt zu werden. Ordnung, antikorruptionistische Gerech- spiel, das er nach Bedürfnis und Gefallen in religiös-mensch-
tigkeit verletzen also seine Menschenwürde, seine Art von licher oder in rational-politischer Bedeutung gebraucht; oder
Freiheit; und das kann man ihm nachfühlen. Gleichheit ist ein mit dem Worte ›psychologisch‹, indem er pfiffig darauf hin-
fingierter und künstlicher Zustand, den man aufrechterhält, weist, daß dem russischen und dem französischen Geiste die
indem man die wirkliche und natürliche Kräfteverteilung mög- ›demokratische‹ Ausdrucksform des psychologischen Romans
lichst verleugnet und oberflächlich außer Kraft setzt. Gleich- gemeinsam sei, — als ob die elegante Verständigkeit französi-
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scher Gesellschaftskritik mit russischer Natur und Seele irgend Franzosen in der russischen Literatur an — ihre Rolle ist wo-
etwas zu tun hätte. Es gehört unbedingt zu den gewissenlos möglich noch unsympathischer als die der Deutschen in der
rechthaberischsten Behauptungen des Zivilisationsliteraten, daß französischen.
das Menschentum der russischen Schriftsteller, daß die große Poleshajew sagt:
russische Literatur in Frankreich am besten verstanden und
mitgefühlt worden sei, — eine Behauptung, dreist, blindlings Der Franzos ist ein Kind,
und verantwortungslos hingestellt, auf daß alles stimme, und Er stürzt geschwind
damit es recht plausibel und tief gerechtfertigt erscheine, daß Einen Thron über Nacht,
Herr Poincaré sich von der zarischen Regierung Elsaß-Lothrin- Schafft Gesetz und Macht,
gen und das Saarbecken garantieren ließ. Ein Däne, Herman Ist schnell — wie der Blitz
Bang, war es, der die russische Literatur zuerst »die heilige« Und leer wie der Witz.
genannt hat, — was ich nicht wußte, als ich sie im ›Tonio Krö- Er reizt und macht,
ger‹ ebenfalls so nannte. Den Franzosen soll man mir zeigen, Daß man staunt und lacht.
der sich einer solchen Beeinflussung durch Dostojewski rüh- Und die großen Erzähler? Ich denke nicht, daß mein Gedächt-
men dürfte wie Hamsun und Hauptmann; und was der Dich- nis mich täuscht: Bei den russischen Erzählern tritt kein Fran-
ter des ›Idioten‹ und der ›Brüder Karamasow‹ für Nietzsche zose auf, der nicht ein Windbeutel, sei es ein boshafter oder
bedeutete, das ermißt kein Landsmann des Herrn Anatole nur lächerlicher wäre. Tolstoi macht sich überall über sie lustig,
France, — von England freilich nicht erst zu reden. Die russi- besonders in ›Krieg und Frieden‹. Der deutsche und der fran-
sche Dichtung hat in Skandinavien und Deutschland am stärk- zösische Hauslehrer in ›Knabenalter‹: das sind Typen. Wo
sten gewirkt, und daß sie es in Frankreich getan hätte, ist hat Turgenjew, der Freund Flauberts, eine französische Figur,
nichts als ein politischer Tendenzschwindel. die an schöner Einfalt und Größe dem deutschen Musiker
Es ist für mich keine Frage, daß deutsche und russische Lemm im ›Adligen Nest‹ gleichkäme? Ich erinnere noch an
Menschlichkeit einander näher sind als die russische und die den Ekel, der ausbricht, als der Visionär mit dem Dämon Ellis
französische, und unvergleichlich näher als die deutsche und über Paris schwebt (›Visionen‹). Auch Leo Tolstoi war ein-
die lateinische; daß hier größere Möglichkeiten der Verständi- mal in Paris, 1857, mit neunundzwanzig Jahren, bevor er sich
gung bestehen als zwischen dem, was wir Humanität nennen, in die Schweiz begab. »Die Stadt«, erklärte er, »hat mich an-
und der Gassenmenschlichkeit der Romanen. Denn es ist klar, gewidert, daß ich fast den Verstand verloren hätte. Was habe
daß eine Humanität mit religiösem Vorzeichen, die auf christ- ich nicht alles gesehen .. . Zunächst waren in dem hôtel garni,
licher Weichheit und Demut, auf Leid und Mitleid beruht, in dem ich wohnte, sechsunddreißig Haushaltungen und da-
einer anderen näher ist, die von je im Zeichen menschlich welt- von neunzehn wilde Ehen! Dann wollte ich mich einmal auf
bürgerlicher Bildung stand, als einer dritten, die vielmehr ein die Probe stellen und ging zu einer Hinrichtung, bei der ein
politisches Geschrei ist. Man findet in der russischen Literatur Verbrecher guillotiniert wurde. Danach konnte ich nicht mehr
viel Spott über die Pedanterie des Deutschen, viel Ranküne schlafen und wußte nicht wohin .. .« Ich finde, hier wird eine
gegen den Eindringling, den fremden Lehrer, viel Widerwillen Antipathie schlecht begründet; aber die Hauptsache scheint mir,
gegen seine Tüchtigkeit, die als menschlich untergeordnet und daß sie vorhanden ist. Man nehme Tolstois Schilderung des
dabei als Vorwurf empfunden wird. Aber man sehe sich die Besuches hinzu, den Déroulède auf Jasnaja Poljana abstattete.

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Nichts ist lächerlicher als der Kontrast des rhetorisch geleck- sie dieselbe, — eine Leidensgeschichte nämlich? Welche Ver-
ten Pariser Politikers mit dem russischen Menschen. Gar die wandtschaft in dem Verhältnis der beiden nationalen Seelen
Französin, ich meine die Pariserin oder auch die französierte zu ›Europa‹, zum ›Westen‹, zur ›Zivilisation‹, zur Politik,
Russin, — sie erscheint als geschminkte, unglückbringende zur Demokratie! Haben nicht auch wir unsere Slawophilen
Dirne, kaum anders, und Welten liegen zwischen ihr und der und unsere Sapadniki? Kein Zufall, daß es ein Russe war,
reinen, ernsten Menschlichkeit des russischen Mädchens. Man Dostojewski wiederum, der für den Gegensatz Deutschlands,
denke doch auch an die Wirkung der französischen Sprache in dieses »großen und besonderen Volkes«, zu Westeuropa schon
russischen Büchern, — an die Art, in der sie verwandt wird. vor anderthalb Menschenaltern den Ausdruck fand, von dem
Niemand spricht sie oder untermischt sein ehrliches Russisch all unser Nachdenken ausging! »Dostojewski ist in Rußland
mit ihr, den nicht der Autor verachtete; sie ist das Geplapper vergessen«, sagte ein Russe mir vor dem Kriege. Nun, die Re-
eleganter Oberflächlichkeit; sie ist allenfalls die Mundart des volution beweist es, — diese desperate Katzbalgerei zwischen
maniakalisch-politischen Radikalismus, welcher nie tiefer ver- demokratisch-bourgeoisem Franzosentum und anarchischem
höhnt worden ist als in den ›Dämonen‹, dort, wo der Selbst- Tolstoiismus. Aber wir wissen, daß »vergessen« ein sehr ober-
mörder aus Idee, Kirillow, die falsche Selbstbezichtigung auf flächlicher psychologischer Vorgang ist, und niemand wird uns
französisch, als »citoyen du monde civilisé« unterschreibt und, weismachen, daß die bevorstehende Erklärung Rußlands zur
»um auszuschimpfen«, hinzusetzt: »Vive la république démo- république démocratique et sociale mit russischer Nation ir-
cratique, sociale et universelle ou la mort!« gend etwas Ernstliches zu schaffen habe. — Nein! wenn Seeli-
»Ein echter, ein ganzer Russe werden«, sagt Dostojewski in sches, Geistiges überhaupt als Grundlage und Rechtfertigung
einem Aufsatz, »heißt vielleicht nur (das heißt letzten Endes, machtpolitischer Bündnisse dienen soll und kann, so gehören
vergessen Sie das nicht) — ein Bruder aller Menschen werden, Rußland und Deutschland zusammen: ihre Verständigung für
ein Allmensch, wenn Sie wollen.« Ist das Nationale und das jetzt, ihre Verbindung für die Zukunft ist seit den Anfängen
Menschliche, ist der menschheitliche Sinn des Nationalen je des Krieges der Wunsch und Traum meines Herzens, und mehr
auf deutschere Art verstanden und ausgesprochen worden, als als eine Wünschbarkeit: eine weltpolitisch-geistige Notwen-
es hier durch den größten russischen Moralisten geschieht? Der digkeit wird diese Verständigung und Verbindung sein, falls,
Satz ist die positive Ergänzung zu jenem mystifikatorischen was wahrscheinlich ist, der Zusammenschluß des Angelsach-
Hohn auf die république démocratique, sociale et universelle, sentums sich als dauerhaft erweisen sollte. Wer könnte gleich-
und er besagt, daß man, um ein Mensch zu sein oder zu wer- gültig bleiben gegen eine Bedrohung, die vor dem Kriege
den, vor allem Nation haben müsse, und daß es ein falscher bereits die Form einer unverschämt gelassenen Feststellung an-
und alberner Weg sei, als citoyen du monde civilisé zu begin- genommen hatte: »The world is rapidly becoming English!«
nen .. . Dostojewski sagt ein wenig weiterhin: »Aber die
Hauptschule des Christentums, die das Volk durchgemacht hat, Menschlichkeit . . . Als Revolutionsschrei bedeutete das den
das sind die Jahrhunderte der zahllosen Leiden und Heimsu- Zusammensturz einer vergreist aristokratischen Gesellschafts-
chungen, von denen seine Geschichte berichtet, die Jahrhun- kultur, die Emanzipation von Vernunft und Natur aus den Fes-
derte, in denen es von allen verlassen und niedergetreten war, seln der von Rousseau geschmähten Zivilisation, — während
und dabei für alle und alles arbeitete .. .« Die Entstehungsge- doch wiederum Vernunft und Natur im Sinn der voltairisch-
schichte deutscher und russischer Humanität, — ist nicht auch prometheischen Gebärde einen Gegensatz bildeten. Es be-

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deutete unter anderem die kriminalistische Philanthropie mung gegeben. Im Gegenteil: die wissenschaftliche Akribie
Beccaria's, die dahin fortwirkte, daß der Begriff der Schuld vor und ärztlich pflegsame Gewissenhaftigkeit, mit der da der
lauter Humanität fast abhanden kam, ja, daß man zuzeiten, menschlich abstoßende Fall irgendeiner unmöglichen Willens-
unter dem Druck wissenschaftlicher Gutachten, den Verbrecher individuation traktiert wurde, hat mir jedesmal Achtung, ja
kaum noch anzurühren wagte und in der Todesstrafe einen Bewunderung eingeflößt und Genugtuung darüber, mit wel-
Gipfel der Inhumanität erblickte, — während in den Augen chem Maß von Scharfsinn und Anständigkeitsbedürfnis der
jedes ernsteren Menschen der Begriff der Schuld zwar nicht Mensch als gesellschaftliches Wesen auch dieses Gebiet kulti-
humanitäres, aber hoch-humanes Gepräge trägt und durch ir- viert hat.
gendwelche deterministische Einsicht keineswegs zunichte wird, Aber von Staat und Kultur zu schweigen, so meine ich durch-
sondern im Gegenteil dadurch nur an Schwere und Schaudern aus nicht, daß jenes »Richtet nicht!« — ein Verbot, das nichts
gewinnt... als die Feststellung eines letzten und höheren Unvermögens
In gewisser Hinsicht war ja das neunzehnte Jahrhundert, ist — dahin zu verstehen sei, daß man Verbrecher freisprechen
trotz charakteristischer Gegensätze zum achtzehnten, dieses müsse, meine vielmehr, daß es weichlicher Egoismus und in kei-
achtzehnte noch einmal: wie denn die Romantik in vielem auf nem ernsteren Sinne human wäre, aus Mitleid oder aus der
Rousseau zurückgeht und wie etwa Tolstoi, der sozialreligiöse Erwägung ›Ich bin auch nicht besser‹ einem Schuldigen den
Prophet der Spätzeit, ein echtbürtiger Rousseauit und, als Schuldspruch, und bedeute dieser auch Tod, zu versagen. Will
Philanthrop, durchaus achtzehntes Jahrhundert war. Dies zeigt man des Unterschieds innewerden zwischen dem Geist des
sich am deutlichsten an seiner satirischen Auflehnung gegen achtzehnten und dem des neunzehnten Jahrhunderts, zwischen
die Justiz in dem dichterisch immer noch riesenstarken Alters- einem Philanthropen und einem Moralisten, so lese man, nach
roman ›Auferstehung‹, — ich meine natürlich die gewaltige einigen Seiten Tolstoi, Dostojewski's Aufsatz ›Das Milieu‹,
Kapitelreihe, worin der forensische Fall der Prostituierten welcher ein Teil ist der Abhandlung über den russischen Ni-
Masiowa, ein recht tendenziös konstruierter Fall, im Zeichen hilismus. »Indem das Christentum«, sagt Dostojewski, »den
des christlichen »Richtet nicht!« gestaltet ist. Richtet nicht? Menschen verantwortlich macht, erkennt es seine Freiheit an.
Nein, Gott bewahre uns! Welcher Mensch, Jurist oder Laie, Wenn man den Menschen von jedem Fehler der gesellschaftli-
wollte sich lächerlich machen und den Fluch der Satire unfehl- chen Einrichtung für abhängig erklärt, wie es die Lehre vom
bar auf sich ziehen, indem er sich die Fähigkeit anmaßte, einen Milieu tut, so führt man den Menschen zur vollständigen Un-
Mitmenschen zu richten? Aber Recht sprechen — wenn anders persönlichkeit und entbindet ihn von jeder persönlichen-sittli-
es ein gesellschaftliches Kulturleben, irgend etwas wie Staat chen Pflicht, von jeder Selbständigkeit, und bringt ihn somit
also, geben soll, — Recht sprechen müssen wir ja wohl, diese in die größte Knechtschaft, die man sich nur denken kann.«
soziale Last will am Ende getragen sein. Ich besuche sehr gern Auch das ist Humanität, aber sie ist nicht humanitär. Sie läßt
Gerichtssäle und bin Schriftsteller genug, für die menschliche übrigens das Pathos des ›Ich bin auch nicht besser‹ nicht zu
Kritisierbarkeit aller Justiz ein Auge zu haben. Ich bekenne kurz kommen. »Wir müssen den Gerichtssaal mit dem Gedan-
aber, daß ich mich gerade angesichts der ernstesten Fälle, der ken betreten«, heißt es an anderer Stelle, »daß auch uns Schuld
Behandlung von Kapitalverbrechen vorm Schwurgericht also, trifft, und eben dieser Schmerz des Mitleids, den jetzt alle so
kaum jemals zur Justizsatire aufgelegt gefühlt habe, - es sei fürchten und mit dem wir den Saal nach einer Verurteilung
denn, das Schwurgericht als solches hätte Anlaß zu dieser Stim- verlassen, wird unsere Strafe sein. Wenn dieser Schmerz echt
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und tief ist, so wird er uns besser machen, und nur, wenn wir stem, schwerstem historischen Kampfe liegendes Volk tyran-
selbst besser werden, machen wir das Milieu besser. Das ist nisieren, entehren, besudeln zu können glaubt. Was war es
es ja, daß man überhaupt nur auf diese Weise das Milieu ver- anderes als süßlicher Unernst und erbärmlicher Mangel an
bessern kann.« Das ist es ja. Denn das ist der Unterschied tragischem Sinn, wenn die Ententewelt die standrechtliche
zwischen Politik und persönlicher Ethik. Bekanntlich erklärte Erschießung einer englischen Frau beplärrte, die in Belgien
der liberale Professor Gradowski, daß man in Dostojewski's ihr Pflegerinnenkleid mißbrauchte, um belgischen Soldaten über
Lebenswerk jede Andeutung sozialer Ideale vermisse . . . die Grenze zu helfen? Sie zu heroisieren war erlaubt; aber nur
Um aber zu sagen, was zu sagen ist: Der Politiker, der phil- unter der Annahme, daß die Cavell kein leichtfertiges Gäns-
anthropische Revolutionär und Zivilisationsliterat, der ein Dem- chen war, sondern wußte, was sie tat, die möglichen Folgen
ag°8 großen Stils, nämlich ein Menschheitsschmeichler ist ihrer nicht einmal rein patriotischen (denn sie war keine Bel-
und, wenn er von Menschlichkeit spricht, ausschließlich des gierin), sondern politischen Handlung kannte und bereit war,
Menschen Hoheit und Würde im Sinne hat, während sein sie gegebenen Falles zu tragen. Man entehrte sie nicht, man
Widerspiel, der von ihm so genannte Ästhet, beim Worte ehrte sie, indem man sie vor die Flinten stellte, und — ›Mensch-
›Menschlichkeit‹ mehr des Menschen Schwäche, Ratlosigkeit lichkeit ist selbstverständlich‹, dachte wohl der Offizier, der
und Erbärmlichkeit zu meinen geneigt ist, — der philanthropi- die Exekutionsabteilung kommandierte und die Vorschriften
sche Politiker also, angeblich so sehr um Menschenwürde be- durchbrach, indem er die ohnmächtig Gewordene mit einem
sorgt, gerade er ist es (und nicht etwa irgendein ›Ästhet‹), Revolverschuß tötete, so daß sie ihre nicht entehrende, aber
der mit Hilfe des Ehrenbegriffes ›Menschlichkeit‹ das Leben ernste und freie Schuld mit einem unmerklichen Tode bezahlte.
um allen Ernst, alle Würde, alle Schwere und Verantwortlich- Eine politische Handlung zu begehen, die vor die Flintenläufe
keit zu bringen sucht, wie schon sein Verhältnis zur Justiz, zur führen kann, sollte nur der sich befugt und berufen glauben,
Schuldfrage, zur Todesstrafe zeigt. Es handelt sich da im gan- der einigermaßen sicher ist, angesichts der Flintenläufe nicht
zen um eine moralische Verkitschung der Welt und des Lebens, ohnmächtig zu werden. Turgenjew erzählt mit grotesken Ak-
der Geschmack abzugewinnen nicht jedermanns Sache ist und zenten die militärische Exekution eines als Spion entlarvten,
vor allem, finde ich, nicht Sache des Künstlers sein sollte: aber sehr unheldischen jüdischen ›Faktors‹, er schildert seine
welcher nämlich das stärkste Interesse daran hat, daß dem Le- tragikomische Todesangst, verzieht jedoch über die ›Unmensch-
ben die schweren, todernsten Akzente nicht völlig abhanden lichkeit‹ des Vorgangs keine Miene, sondern salutiert die
kommen, und mit einer moralisch verschnittenen Welt nichts Handlung wie ein Mann und ein Künstler. Es ist nicht wahr,
anzufangen wüßte. Was als selbstverständlich in die Zivilisa- ich leugne es, daß ein geistiger oder musischer Mensch ver-
tion eingegangen ist, wie der philanthropische Menschlichkeits- pflichtet wäre, sich von allem, was über das Alltagsmaß selbst-
begriff des achtzehnten Jahrhunderts, sollte nicht länger als verständlicher Menschlichkeit ernsthaft hinausgeht, humanitär
Kampfgeschrei herhalten müssen gegen alles, was ernst, streng verhüllten Hauptes wegzukehren.
und lebensvoll über das Selbstverständliche hinausgeht, — wie
es eben mit dem Begriffe und Wortschall ›Menschlichkeit‹ jetzt Hier wäre denn nun wohl der Ort, über Krieg und Mensch-
sich zutrug und zuträgt, diesem mit allen Ölen französischer lichkeit einiges Weitere zu sagen und zu bekennen. Ich werde
Schönrednerei und angelsächsischen Cants gesalbten Lieblings- aber gut tun, für den Fall, daß dabei etwas wie ein sachliches
wort der rhetorischen Demokratie, womit sie ein in ernste- Bekenntnis gegen die Menschlichkeit zutage kommen sollte,

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ein persönliches Bekenntnis zur Menschlichkeit vorauszu- Herzens, welche der Liebe nicht nur verwandt ist. Demokratie
schicken. Das ist ratsam; denn ich weiß wohl, was ich wage, als stehende Einrichtung würde jedes individuellen Verdien-
welchen Mißverständnissen ich mich aussetze, indem ich die stes ermangeln, und soziale Versöhnung ist nicht eine Frucht
Sache der Antihumanität zu führen scheine. Aber auch sehr der Politik, sondern der Sympathie und der Besserung des
leicht wird es mir fallen, denn wahrhaftig, wie sollte wohl ich einzelnen. Was mich betrifft, so empfinde ich die Forderung, ›im
in einem anderen Sinn, als allenfalls dem des Protestes gegen letzten Bettler den Menschen zu achten‹, als unter aller Selbst-
eine widrige Verflachung und Entmännlichung des Mensch- verständlichkeit, als überheblich, obsolet-humanitär, schön-
lichkeitsbegriffs, antihuman gesinnt sein! Ich bin kein Mon- rednerisch und albern. Ich kenne nicht den Aristokratismus
okel-Junker, wie er in der Phantasie der Entente-Völker lebt, des Menschentums, ich ›achte‹ auch meinen Hund, und wenn
kein Gewaltmensch und Schlagetot; ich sehe nicht aus wie der Gute mich grüßt, indem er mir die Vorderpfoten auf die
Zola's Bismarck, das heißt wie ein vor Brutalität laut lachen- Brust setzt und den getigerten Kopf dazulegt, während ich
der weißer Riese. Ich fühle mich als Angehöriger eines Volkes, ihm das magere Schulterblatt klopfe, fühle ich mich ihm
dessen nationale Einigung durch eine Epoche großer Literatur, näher als manchem Mitgliede des ›Menschengeschlechtes‹.
höchster humaner Bildung vorbereitet und ermöglicht wurde, Nicht aus der Vernunfterwägung, daß er ein Mensch ist (»da
ich bin der bewußte Abkömmling eines Bürgertums, das seine ist er was Rechtes«, könnte irgendein Swift bemerken), ›achte‹
Überlieferungen aus eben dieser Epoche empfing, ja, wie das ich den Bettler; diesem Argument aus der ›Zauberflöte‹ bin
keines anderen Landes das Produkt humaner Bildung ist. ich nicht sonderlich zugänglich; sondern aus einer unmittel-
Ohne Überhebung darf ich sagen, daß Menschlichkeit mir bareren und wärmeren Empfindung, die ich nicht nenne. Übri-
selbstverständlich ist, — und zwar nicht nur im Geistigen, gens und überhaupt weiß ich mich außerstande, mein Ver-
sondern sogleich im Individuell-Alltäglichen. Gesittung ist die halten gegen Menschen nach ihrer Klassenzugehörigkeit, ihrem
Sphäre, in der ich atme; ich liebe, ja ich achte im Grunde nur, sozialen Range auch nur abzustufen, und erinnere mich manch
was gütig ist, das Rohe befremdet mich, den persönlichen Haß einer Situation, wie ich soziale Klassengenossen in Verlegen-
fürchte ich und leide unter dem, den ich zufüge, nicht weniger heit brachte, indem ich sie durch mein Gehaben gegen Unter-
als unter dem, den ich trage, obgleich ich wohl weiß, daß, um geordnete nötigte, entweder dünkelhaft-undemokratisch zu
das Menschliche zu leben, man auch den Haß tätig und leidend erscheinen oder ihre Reserveleutnantsreserve mühsam zu über-
erfahren muß. Neigt man, bei aller Lust an künstlerischer winden. Diese meine Natur aber hinderte mich nicht an der
Hingabe, in direkter Rede zur Schamhaftigkeit, so schätzt man Einsicht, sie hat sie mir vielmehr wohl gar verschafft, daß der
das Zitat als beruhigendes Medium. Es gibt eine Briefstelle Mehrzahl der Menschen wenig damit gedient ist, daß es ihnen
von Adalbert Stifter, die lautet: »Mein Lebenselement ist Zu- wenig gemäß und bequem, vielmehr, wenn nicht beschämend,
trauen und Freundlichkeit, wo das fehlt, bin ich gelähmt.« Es so doch entschieden lästig ist, wenn man sie allzu sehr ›achtet‹.
geht mir wie ihm. Und keineswegs Vernunftdemokrat, kei- In der Erzählung ›Königliche Hoheit‹ wird einmal bemerkt,
neswegs ein Anhänger des Satzes von der ›Gleichheit der Klaus Heinrich habe im Verkehr mit Menschen jedermann
Menschen‹, sehe ich im Demokratismus des Herzens eine Cha- derart für voll, derart ernst, wichtig, gut genommen, daß das
raktereigenschaft, deren Fehlen mich in Erstaunen setzt. Gleich- arme, überschätzte, überanstrengte Menschenkind nur so ge-
heit ist weder eine Tatsache noch eine Wünschbarkeit, aber schwitzt habe. Es ist dies, was ich hier meine.
Zuletzt aber bin ich Künstler, ein Arbeiter im feinsten
sie sei eine menschliche Gebärde; sie sei jene Höflichkeit des
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Material, und wenn Verfeinerung gewiß nicht Güte zu bedeuten Jahrhunderte lateinischer Kultur enthüllten sich in diesen
braucht, so bleibt es doch wahr, daß »artes molliunt mores«, — Worten.« Es gibt kein besseres Beispiel für das, was ich meine
ein Satz, der, wie ich glauben möchte, auch rückwirkende, auch und nicht ›meine‹. Wir befinden uns da in einer Sphäre, in
auf den artifex bezügliche Geltung hat, so daß es schwer sein der Menschlichkeit in der Tat nicht selbstverständlich ist, der
dürfte, ein Künstler und zugleich ein Rohling zu sein. Unmög- Sphäre des Renommierdemokraten, dem sie als intellektuelles
lich aber, etwas wie ein Dichter, ein Menschenbildner und da- und moralisches Verdienst, als ein Anlaß zu larmoyanter
bei gleichgültig gegen den Menschen zu sein, gesetzt selbst, Selbstgefälligkeit erscheint. Ein sozialethischer Romandichter,
daß Menschenhaß, Menschenverachtung das bildende Prinzip Menschlichkeitsanhänger und Vorkämpfer der Demokratie,
ausmachte. ›Die Menschheit — ich gebe zu, daß mein Ver- entdeckte in seinem jüngsten Werk, daß »auch die Reichen
hältnis zu dieser Abgezogenheit zweifelhaft ist; der Mensch weinen«. Ah! Ah! machte er, sie sind Menschen, trotzdem,
aber hat von jeher mein ganzes Interesse in Anspruch genom- diese Reichen, sie auch, ich weiß es. Sie leiden bisweilen, und
men, der Mensch und wohl noch das Tier, aber nicht etwa die dann weinen sie. — Hätte man diesen Grad von Menschlich-
Kunst oder die Landschaft, — zum Beispiel auf Reisen. Meine keit, ein so umfassendes Erbarmen für möglich gehalten?
Bücher haben fast keine Landschaft, fast keine Szenerie bis »Auch die Reichen weinen!« Das nenne ich Dichtertum! — Um
auf die Zimmer. Aber Menschen leben eine Menge darin, und aber auf den ›Figaro‹ und seinen aufgeklärten Landmann zu-
man sagt, daß sie ›liebevoll‹ beobachtet und dargestellt seien. rückzukommen, so hat man wirklich den Eindruck, daß bös-
War das ›Menschenliebe‹? Ich weiß es nicht. Vielleicht handelt artige Wildheit und törichte Roheit hier durch die als überaus
es sich um Egoismus? Vielleicht interessiert mich der Mensch hoch, edel und philosophisch-freigeistig empfundene Idee der
nur deshalb so sehr, weil ich selbst einer bin? Ein letzter Satz Menschlichkeit gerade eben im Zäum gehalten werden.
der Künstlernovelle, die ich als Jüngling schrieb, (und die Man muß dem Aristokratismus der alten Herrenvölker vieles
man heute noch schön findet,) lautet freilich: »Denn wenn zugute halten: eine gewisse noble Beschränktheit und törichte
irgend etwas imstande ist, aus einem Literaten einen Dichter Unmenschlichkeit entspringt, obgleich sie die politische Mensch-
zu machen, so ist es diese meine Bürgerliebe zum Menschlichen, lichkeit verfechten, ohne weiteres daraus, und für den Eng-
Lebendigen und Gewöhnlichen . . . « War das ›Menschenliebe‹? länder beginnt der Begriff des ›niggers‹ sehr früh, noch früher
Zum mindesten erschien sie nicht als doktrinäre Prahlerei, als für den Franzosen der Begriff des ›Barbaren‹. Man muß ins-
gewohnheitsmäßige Zivilisationsrenommage, — Formen, in besondere dem unseligen Frankreich dieses Krieges vieles zu-
denen sie, meine ich, um des guten Geschmackes willen, nie- gute halten, seinem Leiden, seiner ›Unschuld‹, seiner halb
mals, am wenigsten unter Künstlern erscheinen sollte. bewußten Hoffnungslosigkeit, seinem natürlichen Charakter,
der ganz andere, viel bösere, steilere und giftigere Möglich-
Ich habe mir eine Anekdote gemerkt, die zu Anfang des Krie- keiten des nationalen Hasses umschließt als der deutsche;
ges durch unsere Zeitungen ging. Sie war dem ›Figaro‹ ent- auch seiner Kindlichkeit, die eigentlich in unschuldig-dünkel-
nommen, und nach ihr hatte ein französischer Bauer über die haften Vorstellungen von der kindlichen Barbarei der an-
auf seinem Felde arbeitenden deutschen Gefangenen geäußert: deren, zumal der Deutschen besteht und sich vollkommen in
»Das Ungeziefer! Man möchte sie erschlagen, und doch kann dem verständigen Eifer zeigte, mit dem, während des deut-
man nicht, da sie schließlich doch auch Menschen sind.« Der schen Vormarsches gegen Paris, die Dörfler Nordfrankreichs
Mitarbeiter des ›Figaro‹ aber hatte hinzugefügt: »Vierzehn ihre pendules als Opfer und Abfindung vor ihre Haustüren
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Togo durch die Franzosen. Die Daumenschraube, bekannt aus
stellten, in dem Glauben offenbar, die germanische Invasion
den mittelalterlichen Abteilungen kulturhistorischer Museen,
gelte, wie frühere, hauptsächlich der Gewinnung dieser die
spielte eine Rolle dabei, von der man nicht geglaubt hätte,
Rotbärte entzückenden Mechanismen. Man muß, sage ich, dem
daß sie diesem ingeniösen Instrument noch einmal zufallen
Frankreich dieser Jahre vieles nachsehen, — was nicht an der
werde. Der Name des Adjutanten Venère, der die Marterung
Einsicht zu hindern braucht, daß dort, wo Menschlichkeit
der Gefangenen mit Ochsenziemer und Peitsche persönlich über-
einen Lieblingsgegenstand rhetorischer Stilübungen bildet, die
nahm, verdient eingeprägt zu werden. Den Taten entsprachen
Gefahr der Abirrung von ihr offenbar am größten ist. Wer
die Worte. Es war ein französischer General — er zeichnet sich
Maupassants Kriegsnovellen gelesen hat, versteht, warum sei-
obendrein Lévy —, der erklärte, er würde, wenn er einen boche
nen Landsleuten die Führung in dem sogenannten Greuelfeld-
berührt habe, es als Reinigung empfinden, seine Hände in einen
zug gegen Deutschland zufiel. Übrigens ist der Geschmack an
Topf mit Kot zu stecken. Welche wilde Rhetorik! Welche —
schlimmen Vergnügungen der Einbildungskraft den westlich-
man muß es sagen — gesittungswidrige Übertreibung na-
sten Völkern, den Trägern der ›Zivilisation‹ par excellence,
tionaler Antipathie! Ich weiß davon nur aus der Zeitung.
gemeinsam: es gibt in England, Frankreich, Amerika eine Ar-
Persönlich aber erzählte mir ein deutscher Offizier, der, als
tistik der Grausamkeit, einen kalten, nervösen und intellek-
Parlamentär nach Reims entsandt, dort als Spion gefangenge-
tuellen Kultus des Scheußlichen, der in Deutschland erst in der
nommen, verrückterweise zum Tode verurteilt und nur durch
jüngsten Zeit und in Rußland wohl überhaupt noch nicht Ver-
englische Intervention gerettet worden war: wie er nach ge-
treter gefunden hat. Denkt man an die dramatische Schreckens-
fallenem Spruche abgeführt worden sei, habe der Gerichts-
kammer des Grand guignol oder an die blutrünstigen Pro-
herr ihm nachgerufen: »Beaucoup de plaisir!« — Nochmals,
dukte einer gewissen Romanschriftstellerei, mit denen die
welche befremdende Wildheit! Ist es denn wirklich Pharisäer-
gelesensten Pariser Tagesblätter ihre Feuilletonspalten füllen, so
tum, wenn man den Versuch macht, sich dergleichen in Deutsch-
scheint es freilich, daß den Franzosen, einfach auf Grund einer
land vorzustellen — und wenn einem der Versuch nicht ge-
allgemein lebhafteren Begabung, auch in diesem Punkte der
lingen will? Und was soll man denken von den Beziehungen
Preis gebührt. Das ist aber ein Vorzug, der, zusammen mit
zwischen politischer Freiheit, Volkssouveränität, Demokratie
Haß, Leid, ›Unschuld‹, Verzweiflung und kindlichem Dünkel,
— und Menschlichkeit, und menschlicher Bildung und Herzens-
es erklären hilft, daß Frankreichs Menschlichkeit in diesem
anstand, wenn man hört, wie das Volk, das »von Natur gute
Kriege so jammervoll Schiffbruch gelitten hat.
und gerechte Volk«, oder sagen wir vorsichtigerweise: die
Denn es blieb ja durchaus nicht bei Ausschweifungen der
Menge, der unterschiedliche Ortspöbel sich in Frankreich gegen
Phantasie. Die Regierung des Herrn von Bethmann Hollweg
deutsche Zivil- und Kriegsgefangene betrug und beträgt? Man
hat, ihrem im Grunde unkriegerischen System getreu, von dem
ehrt seine Ansprüche, man meldet dem Souverän im Mutter-
Material, das zur Kennzeichnung des feindlichen, insbeson-
lande sowohl wie in Nordafrika die Ankunft der Transporte
dere des französischen Kriegsgebarens zur Verfügung steht,
beizeiten, und wahrhaftig, er ist zur Stelle, um sich wie ein
einen äußerst zurückhaltenden Gebrauch gemacht. Immerhin
Schwein zu betragen. — Die Erschütterung durch den Krieg hat
weiß man genug, und ich werde mich bei dem, was man weiß,
überall schweren geistigen Schaden angerichtet, niemand leug-
nicht aufhalten. Das Wort Folter ist ja eigentlich und im eng-
net das; aber wer wollte leugnen, daß der französische Geist
sten Sinne zu verstehen, wenn man es anwendet auf die Be-
die geringste Widerstandsfähigkeit, die kläglichste Verstörung
handlung der deutschen Kriegsgefangenen in Kamerun und
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und Zerrüttung an den Tag gelegt hat? Im Pariser ›Temps‹ schneidung jene moralisch erstickende Isolierung Deutschlands
ward kürzlich ohne Einschränkung ein Buch gelobt, dessen bewirkt, an die man sich hierzulande immer wie an einen
Verfasser, ein angesehener Gelehrter, Bérillon, Professor der Alptraum erinnern wird. Es ist über den Begriff des Privat-
Psychiatrie, den Nachweis erbringt, daß die Deutschen über- eigentums mit unbewegter Stirn hinweggeschritten, worin
haupt keine Menschen sind, vielmehr irgendeiner untergeord- seine Verbündeten ihm freudig Folge leisteten. Nicht gegen
neten Spezies angehören, was aus der Form ihrer Sinnes- die feindlichen Regierungen und Armeen, gegen die Völker,
organe, ihres Unterleibes, ihres Geruchs sowie aus der Be- gegen das deutsche Volk führt es, unbarmherzig, den Krieg,
schaffenheit ihrer animalischen Absonderungen unzweideutig und um die Einsicht eben in den unbarmherzigen, gründlichen,
hervorgehe. Nein, es ist nicht Pharisäertum, festzustellen, daß grenzen- und rücksichtslosen Ernst der Auseinandersetzung
solche schauerliche Narretei des Hasses, so tragikomische Bock- war es uns überlegen. Aber welche weibische Inkonsequenz,
sprünge patriotischen Kummers in deutscher Sphäre unmög- welch ein Heucheltribut an die ›Menschlichkeit‹ ist es dann,
lich wären, — sie sind ja auch bei Slawen, Angelsachsen und für die Einfuhr von »Frauen- und Kinderkleidern« nach
Mongolen unmöglich. Deutschland widerlich Sorge zu tragen — und über die Ver-
Menschlichkeit als politische Philosophie und demokrati- senkung eines Lustschiffes, das Munition geladen hatte, ein
sches Prinzip steht auf schwachen Füßen. Aber wie kommt es, humanitäres Geheul zu erheben!
daß gewisse Versuche zu ihrer Rettung, statt uns zu rühren,
noch abstoßender wirken als der Anblick ihrer Niederlage? Es ist wahr, ich hasse solche Beschönigungsversuche, solche
Wenn etwa die Engländer mit einem neutralen Staat einen lügnerischen Bemühungen, das humanitäre Gesicht zu wah-
Handelsvertrag schließen, worin diesem Staat jede Wieder- ren; aber der Widerwille, den sie mir erregen, kommt nicht
ausfuhr von Waren nach Deutschland verboten wird mit Aus- demjenigen gleich, der mich quält beim Anblick des Literaten-
nahme von Frauen- und Kinderkleidern, so empfinde ich den geistes, dem ›Menschlichkeit‹ heute ein Oppositionsprogramm
Zusatz, daß diese Fabrikate weder Wolle noch Baumwolle ent- bedeutet gegen die geschichtlichen Ereignisse, gegen den Krieg.
halten dürfen, als eine Magenstärkung, zu der es höchste Zeit Hier handelt es sich nicht mehr um pfiffig-empfindsame Ver-
war. Der gegenwärtige Krieg ist der radikalste der je geführt suche der Fremden, den Radikalismus ihres Vernichtungs-
worden; und während Deutschland über diesen seinen Cha- kampfes gegen Deutschland zu verhüllen, sondern um Geisti-
rakter zunächst völlig im unklaren war, während es mit der geres und Intimeres: wir sind unter uns, wir stehen dem
Naivität eines Korpsstudenten hineinging und ihn im Geiste Helden dieser Blätter, dem Zivilisationsliteraten wieder Aug in
einer altmodischen Honorigkeit rein soldatisch führen zu kön- Aug gegenüber, — dem Geistespolitiker und Verfechter poli-
nen meinte, verstand England sich auf sein unerhörtes Wesen tischer Menschlichkeit intra muros, welcher als solcher den
von Anfang an genau, — kein Wunder, denn England war es Bürgerkrieg wünscht und betreibt, als antinational-internatio-
ja, das ihm den Stempel aufdrückte. Vom ersten Tage an hat nalistischer Pazifist aber den Krieg überhaupt verneint und
es den Krieg aufs radikalste geführt, indem es seine Seeherr- verfemt; den gegenwärtigen aber besonders; denn es ist ganz
schaft nicht nur zur eigenen Sicherung, sondern dazu benutzte, eigentlich der Krieg Deutschlands, Deutschland ist ›schuld‹
Deutschland von aller Zufuhr abzuschneiden, zu dem Versuch daran, er wird in der Geschichte den Namen des deutschen
also, es im ernstesten und sachlichsten Sinne auszuhungern. Krieges führen, weil er, wenn der Geist des Zivilisationslite-
Es hat durch das einfache und brutale Mittel der Kabeldurch- raten im Innern nicht siegt, den historischen Aufstieg Deutsch-

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lands seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vollenden bis zum Kriege einnahm, nicht mehr seiner gewachsenen
wird. wirtschaftlichen und militärischen Leistungsfähigkeit entspro-
Der deutsche Sozialdemokrat Paul Lensch hat kürzlich in chen habe. Auf der anderen Seite sei die Stellung vieler an-
einem Aufsatz mit größter Eindringlichkeit von diesem Auf- derer Völker ebenfalls nicht mehr ihrer veränderten, aber
stieg als der Ursache des Weltkrieges, den er eine Welt-Revo- nicht gewachsenen, sondern relativ gesunkenen Leistungs-
lution nennt, gehandelt. Er hat gezeigt, wie der große Krieg fähigkeit gemäß gewesen. Der Krieg »macht dem falschen
des siebzehnten Jahrhunderts das Ergebnis des deutschen Zu- Schein ein Ende, er verhilft der Gegenwart zu ihrem Recht
sammenbruches war, dem ein allmählicher politischer Nieder- über die Vergangenheit, er spricht aus, was ist. Das ist die
gang von anderthalb Jahrhunderten vorhergegangen war. Weltrevolution, es ist der Zusammenbruch des seit dem sech-
Denn der Krieg, sagt er, besitzt »die allgemeine Tendenz, nicht
zehnten Jahrhundert allmählich entstandenen Systems politi-
so sehr neue Entwicklungslinien aufzuzeigen als vielmehr den
scher Machtverteilung in Europa und der Welt.«
schon vorhandenen zum Durchbruch zu verhelfen und das
Ist es albern, in diesen rein fatalen, wahrhaftig jenseits von
langsam Begonnene schneller zu beenden«. »Alle Völker
Gut und Böse sich abspielenden Prozeß den Begriff pazifisti-
Europas beeilten sich, Deutschland in eine Wüste zu verwan-
scher Humanität hineinzutragen, um ihn damit zu verun-
deln, und in den Raum, der durch Deutschlands Sturz leer
glimpfen — oder ist es nicht albern? Tatsache ist, daß es ge-
geworden war, drängten gierig die westlichen Völker.« Die
schieht, und zwar durch den Zivilisationsliteraten. Überzeugt
französische wie die englische Weltstellung sei nur bei einem
freilich, wie von meinem Leben, bin ich davon, daß sein hu-
politisch ohnmächtigen und wirtschaftlich schwachen Deutsch-
land aufrechtzuerhalten gewesen, — beide Mächte hätten sich manitärer Protest weniger heftig hervorgebrochen oder über-
keinem Zweifel darüber hingegeben. Englands Weltherrschaft haupt ausgeblieben wäre, wenn es sich nicht gerade um den
im besonderen habe Deutschlands Weltdienstbarkeit zur Vor- »Aufstieg« Deutschlands, sondern um den irgendeines ande-
aussetzung; sobald diese aufhöre, müsse jene zusammen- ren Volkes handelte. Denn diese Tiefe seiner Deutschfeindlich-
brechen. »Der heutige Krieg«, sagt Lensch, »hat nicht wie der keit ist unermeßlich. Über die Schlacht bei Tannenberg habe
Dreißigjährige einen anderthalbhundertjährigen Niedergang, ich Leute tief schmerzlich tadelnd den Kopf schütteln sehen,
sondern einen ebenso langen Aufstieg zur Ursache. Und auch die, wenn nicht 150000 Russen, sondern ebenso viele Deutsche
er wird nur das langsam Begonnene schneller vollenden: den dabei umgekommen wären, dieser Entscheidung ihren sitt-
Aufstieg Mitteleuropas. Diesmal eilten nicht bloß fast alle lichen Beifall nicht versagt haben würden. Denn haben wir
Völker Europas, sondern fast alle Völker der Erde zusammen, es nicht an Demokratie fehlen lassen? Da diese Leute selbst,
um Deutschland in eine Wüste zu verwandeln. Aber nicht eins obgleich Literaten und Psychologen, sich nicht klar darüber
von ihnen konnte deutschen Boden betreten.« »Wir müssen, sind, so können wir anderen uns nicht klar genug darüber
ob wir wollen oder nicht, das bestehende ›Gleichgewicht der sein, daß es weit weniger ihre humanitäre als ihre deutsch-
Mächte‹, das ja nur ein Übergewicht der Westmächte ist, in feindliche Gesinnung ist, die ihre Stellungnahme in diesem
Scherben schlagen und eine neue, den wirklichen Machtver- Kriege, zu diesem Kriege bestimmt. Trotzdem wollen wir uns
hältnissen entsprechende Basis schaffen. Eine echt revolutio- einer Erörterung des Verhältnisses von Krieg und Humanität
näre Aufgabe!« Durch den Krieg selbst habe sich herausge- nicht ganz entschlagen.
stellt, daß die Stellung, die das Deutsche Reich in der Welt Das Humanitäre ist nicht immer und überall dasselbe wie
das Humane, — wir stießen früh auf diese Wahrheit, und
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immer aufs neue bringt sie sich uns in Erinnerung. Ist eine über Wert und Würde ihrer Vertreter das mindeste aus. Mei-
Humanität, eine philosophische Verantwortlichkeit für das nungen sind nicht adlig. Der Vornehmste und der Lumpigste
Schicksal der Menschheit, oder, um dem Begriff etwas mehr können derselben Meinung sein, wie wir es täglich vor Augen
Konkretheit zu geben, der europäischen Menschheit denkbar, haben. Huldigte ein bedeutender Schriftsteller des heutigen
die antihumanitär genug wäre, den Krieg grundsätzlich gut- Deutschlands dem internationalistisch-demokratischen Pazi-
zuheißen und für unentbehrlich zu erklären? Nietzsche — und fismus, so wäre es möglich, daß er diese Lehrmeinung, die er,
zwar wiederum nicht der späte und steil-groteske, sondern der außer mit ehrbaren Männern, auch mit dem unappetitlichsten
aufgeklärte Verfasser von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ Literatenvolk teilen würde, durch den Glanz seines Talentes
— liefert den Beweis dieser Möglichkeit. »Es ist eitel Schwär- zu adeln vermöchte; aber Gott weiß, daß nicht sie es wäre, die
merei und Schönseelentum«, sagt er, »von der Menschheit ihn adelte. Sie täte das wirklich so wenig, wie die gegen-
noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie teilige Entscheidung und Stellungnahme irgendeinen Geist zu
verlernt hat, Kriege zu führen.« Und am Schlusse des Apho- entehren oder herabzusetzen vermag, — was zu betonen nicht
rismus, der so beginnt, heißt es mit derselben Bestimmtheit unnötig ist, da ganz offenbar, unter Literaten wenigstens, die
Auffassung herrscht, wer irgend auf sich halte und etwas vor-
und Gelassenheit: »Man wird immer mehr einsehen, daß eine
stellen wolle, müsse sich in Verwünschungen gegen den › v e r -
solche hoch kultivierte und daher notwendig matte Mensch-
brecherischen Wahnsinn‹ dieses Krieges sowie des Krieges
heit, wie die jetzige Europas, nicht nur der Kriege, sondern
überhaupt erschöpfen, und wer das nicht tue, der streiche sich
der größten und furchtbarsten Kriege—also zeitweiliger Rück-
selbst aus der Gemeinschaft der Geistigen. Es steht damit
fälle in die Barbarei — bedarf, um nicht an den Mitteln der
genau wie mit der deutschfeindlichen Gesinnung, die, wie die
Kultur ihre Kultur und ihr Dasein selber einzubüßen.«
Dinge liegen (denn Deutschland ist ja, wenn man so sagen
Wir haben da das Beispiel einer nicht humanitären Huma-
darf, der Titelheld dieses Krieges), mit der pazifistischen fest
nität, einer pädagogischen Härte und Denker-Unempfindlich-
zusammenhängt. Daß mehrere große Deutsche, daß Hölderlin
keit, die, wir wollen das zugeben, nicht jedermann zu Gesichte
und Nietzsche sich deutschfeindlich gebärdet haben, sollte
steht. Nein, wir maßen uns nicht den souveränen Standpunkt
nicht glauben machen, man füge der eigenen Größe auch nur
des Kultur-Philosophen an, wir wähnen uns nicht zur Gleich- einen Zoll hinzu, indem man ihnen heute in diesem Punkte
gültigkeit verpflichtet gegen die Leiden des Individuums, - nachahme. Und daß die Herren Roesemeier, Grumbach, Stil-
ich wenigstens, für meine Person, ich tue das nicht. Aber er- gebauer, Fernau, Michels und wie die ehrenfesten Landsleute
stens kann man dem individuellen Mitleid höchst zugänglich noch heißen mögen, die in der Schweiz literarische Arbeit
sein und dabei dem höheren Gesichtspunkt des Denkers volle gegen Deutschland leisten, in der Hierarchie der Geister eine
Gerechtigkeit widerfahren lassen, — dem prinzipiellen Pazi- besonders hohe Stufe einnähmen, eine höhere etwa als ich,
fismus also die Gefolgschaft verweigern. Und hauptsächlich, dem ihr Verhalten eingestandenermaßen äußerst ekelhaft ist,
wenn es sich denn um grundsätzliche Meinungen und Ent- — davon wird niemand mich überzeugen.
scheidungen handeln soll: gibt es Meinungen, die nur der
Größe zukommen, so sind es die Meinungen doch nicht, die
die Größe machen. Meinungen sind nicht rangverleihend, das Menschlichkeit ist selbstverständlich. Wenn ich im Felde wäre,
ist der Satz, auf den es mir ankommt, — weder die pazifi- wenn ich die Greuel der Verwüstung mit meinen Augen sähe,
stische, noch die kriegsbejahende Willensmeinung sagt an sich sehen müßte das irrsinnige Zerreißen der Menschenkörper,
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hören die gewürgten Stimmen der Milchbärte, die die Erlaub- war ich ganz verzagt, bis ich in der zweiten Nacht mich ent-
nis erbettelten, Freiwillige zu werden, und im Trommelfeuer, schloß, die immer zu drei Vierteln unbekannte Linie selbst
kindlich versagend, »Mutter! Mutter!« schreien, — glaubt genau festzustellen. Fünf Stunden bin ich trotz Schlamm und
man, ich bliebe hart, bliebe ›patriotisch‹, bliebe ›stimmungs- Feuer bei Mondlicht sämtliche Trichterlinien des Bataillons
voll‹ und wäre der Roheit fähig, ›meinem Blatt‹ einen jour- abgegangen, fortwährend von englischen Nachtfliegern um-
nalistisch-brauchbaren Bericht zu liefern? Und doch, wenn der summt und aus zwanzig Meter Höhe mit Maschinengewehr
Krieg als Wirklichkeit unmittelbar auf meine Nerven wirkte, beschossen. Sie schießen in alle Trichter. Je weiter vor, je
— würde ich gegen die Zerrüttung, die grenzenloses Erbar- weniger Feuer; doch haben es die Leute vorn zwischen stin-
men und eigene Todesangst meinem Herzen zufügen würden, kenden Leichen, zerschossenen Geschützen aus früheren Kämp-
nicht ein wenig mißtrauisch bleiben? Würde ich mich nicht fen etc. auch schwer, zw schwer. Dieser Gang durch den Tod
erinnern, daß die zehntausendfache Multiplizierung des Todes war mir eine ungeheuer selige Qual, eine Befreiung. Ich bin
eine Illusion ist, daß der Tod die individuellen Grenzen in fröhlich wie unsere Leute, die sich mit 39 0 Fieber und schweren
Wirklichkeit nicht verläßt, daß der einzelne immer nur seinen Lungenentzündungen auch noch nicht krank melden. Merk-
Tod stirbt, nicht auch den der anderen? Der Tod wird nicht würdig, gegenüber diesen unermeßlichen Zumutungen an
schrecklicher dadurch, daß er sich für unsere Augen verzehn- Leiden und Strapazen möchte man lachen, so frei von allen
tausendfacht. ›Menschlichkeit‹ hindert nicht, daß wir alle zum Sorgen, aller Verantwortung ist man, so ganz in der Hand
bitteren Tode verurteilt sind; und es gibt Bett-Tode, so gräß- Gottes.«
lich wie nur irgendein Feldtod. Auch ist jedes Herz nur eines Lehrt nicht dieser Brief, daß die Seele des Menschen nicht
begrenzten Maßes von Schrecken fähig, — worüber hinaus an- umzubringen, nicht zu entwürdigen ist, daß ihre wahre Kraft
deres beginnt: Stumpfheit, Ekstase, oder noch etwas anderes, und Hoheit sich erst im Leiden ganz bewährt? Alle Verrük-
der Einbildungskraft des Unerfahrenen nicht Zugängliches, kung und Erweiterung der Grenzen des Menschlichen flößt
nämlich Freiheit, eine religiöse Freiheit und Heiterkeit, eine dem, der nicht teil daran hat, Grauen ein und läßt ihn von
Gelöstheit vom Leben, ein Jenseits von Furcht und Hoffnung, Unmenschlichkeit sprechen. Unzweifelhaft handelt es sich bei
das unzweifelhaft das Gegenteil seelischer Erniedrigung, das jenen Trichterbewohnern, die bei 39 0 Fieber die humanitäre
die Überwindung des Todes selbst bedeutet. Ich öffne wieder Möglichkeit, sich krank zu melden, ablehnen und ihren unge-
den Brief eines jungen Reserve-Leutnants von der flandri- heuerlichen Zustand dem Lazarettleben vorziehen, um einen
schen Front, eines Studenten sonst und Poeten, und lese nach, Rausch, eine über alle Erfahrung des zivilisierten Lebens hin-
was mich bei erster Einsicht so sehr erschütterte. »Angesichts ausgehende Steigerung des Lebensgefühls. Aber wer wäre so
dieser unermeßlichen Übermacht des Todes«, schreibt er, »bei philiströs, den Rausch untermenschlich zu nennen? Und wer
diesem vollkommenen Hilflossein im Trommelfeuer tage- und beneidete nicht den Verfasser des angeführten Briefes um sein
nächtelang, meist bei Regen, in offenen Trichtern, in der Erlebnis der Freiheit?
grauenhaften Öde, dem Höllenlärm der Abwehrzone, wird der Die exzentrische Humanität des Krieges beleidigt den hu-
einzelne leicht fröhlich, nicht verzagt; so ganz frei aller Sor- manitären Sinn und stößt ihn ab, wie der Anblick eines Be-
gen ist man, so los von der Erde, hoffnungslos, doch unbe- rauschten und Verzückten den Nüchtern-Vernünftigen beleidigt
schwert! Wer eine Woche hier vorn überstanden hat, über- und abstößt. Seine furchtbare Männlichkeit schließt übri-
steht viel leichter Monate — wenn er lebt. Ich lebe! . . . Erst gens das weiblich-karitative Prinzip nicht aus, und wer, um
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nicht Pessimist sein zu müssen, das Leiden teleologisch recht- den Krieg an Freiheit und materielle Sorglosigkeit gewöhnt,
fertigt, dürfte nicht an der Tatsache vorübergehen, daß der — welche den Boden ausmachen, auf dem höhere Menschlich-
Krieg Raum bietet, und zwar weitesten Raum, für die Organi- keit, nervöse Kultur gedeihen. Er hat ein außerordentliches
sation der Liebe. Die alles hinwerfende Gebärde des C'est la Leben geführt, — das oft grauenhaft war, oft auch von ab-
guerre ist nicht deutsch. Die Unzulänglichkeit des französi- stumpfender Schwere, aber auch hochgespannt, exzentrisch,
schen Sanitätsdienstes, über die in Frankreich selbst die Klagen tausendfach erschütternd und bildend, luxuriöse Gefühle, hohe
nicht verstummen wollen, beweist noch einmal, daß Mensch- Kameradschaft, innige Frömmigkeit und was wissen wir noch
lichkeit als Pathetik nicht Menschlichkeit als Tatkraft bedeutet. ausbildend. Wie wird ihm das Zuhause gefallen, das eng, nied-
Möge aber ferner der Krieg die physische und seelische Le- rig, kleinlich-sorgenvoll geblieben ist und wo er nun ohne Ge-
bensform des einzelnen sogar tief unter die gewohnte Zivili- fahr und Luxus, mit der Bürgerlichkeit als Ideal, wieder leben
sationsstufe hinabdrücken, — von seiner verrohenden Wirkung soll? Was ich da andeute und manches andere, was zusammen
zu sprechen wäre ganz offenbar dennoch falsch. Es kann, nach damit angedeutet sein soll, ist gewiß bedenklich genug; aber
der Aussage vertrauenswürdiger Beobachter, von individueller mit Verrohung hat es durchaus nichts zu tun, sondern würde
Verrohung durch den Krieg, ins Große gerechnet, durchaus vielmehr eine Erhöhung, Steigerung, Veredelung des Mensch-
nicht die Rede sein. Nach ihnen liegt die Gefahr vielmehr in lichen durch den Krieg bedeuten. —
einer Verfeinerung des einzelnen Mannes durch ein so langes Ich legte die Feder hin, um einen Feldbrief zu öffnen, der,
Kriegsleben, einer Verfeinerung, geeignet, ihn seinem Alltag aus einem lothringischen Lazarett datiert, aufs merkwürdigste
auf immer zu entfremden. Man braucht die äußere Erweiterung zur Sache spricht. Ein junger Kriegsoffizier erzählt darin, offen-
des Horizonts nicht in Anschlag zu bringen, die der Bauer bar in dankbar gehobener Stimmung, wie der Krieg ihm die
oder Arbeiter erfuhr, indem die Zeit ihn in Gegenden und Bekanntschaft mit der Schönen Literatur vermittelt habe, um
unter Menschen trug, die als Wirklichkeit zu begreifen er sich die sich zu kümmern, wie der Absender meint, »das Leben«
nie hätte träumen lassen: In seinem tiefsten Innern als ein an- ihm früher keine Zeit gelassen habe. Erst jetzt, durch eine »nicht
derer wird er nach Hause zurückkehren und es schwer haben, unerhebliche« Verwundung längere Zeit an Bett und Stube ge-
sich in der kleinlichen Enge des Alltags wieder zurechtzufin- fesselt, habe er »Gelegenheit« zur Beschäftigung mit unseren
den. Es ist nicht Dichtereinbildung erforderlich, um ahnungs- neuen deutschen Dichtern und Schriftstellern bekommen. »Daß
weise zu ermessen, welche seelisch-geistige, religiöse Erhö- ich insofern«, sagt er, »dem Krieg im allgemeinen und der
hung, Vertiefung, Veredelung die jahrelang-tägliche Nähe des französischen Artillerie im besonderen Dank schulde, ist eine
Todes im Menschen hervorbringen — welche nervösen Verän- seltsame Begleiterscheinung der Z e i t . . . Die wahre Freude am
derungen sie zeitigen muß oder doch kann. Das kümmerliche Lesen habe ich überhaupt erst im Kriege gefunden; und ebenso
Weib des aus der Welt heimkehrenden Kriegers wird einen wie mir ist es bekanntlich einer endlosen Schar von Soldaten
anderen Mann wiederempfangen als den, der auszog; nur ergangen.« Einer endlosen Schar junger Menschen hat der
auf den ersten Blick wird sie ihn wiedererkennen, wird viel- Krieg das Lesen, das heißt die bewußte Beschäftigung mit der
leicht bald Scheu vor ihm empfinden, ihn sonderbar finden — Menschenseele gelehrt. Ist das eine Tatsache, die in das Ka-
und er wäre ein Sonderling, wenn die Genossen seines Schick- pitel über Krieg und Menschlichkeit gehört — oder nicht? Ich
sals nicht so zahlreich wären. Wird er noch Geschmack an ihr will es meinen! Und ist es nicht gerade die Demokratie, die
finden? Wird sie seinen Nerven noch genügen? Er ist durch mit dieser Tatsache rechnet: mit der geistigen Erziehung und
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die sich eben im Verlieren sieht, und daß man sich die Demo-
Steigerung vieler Tausender durch den Krieg, — indem sie frei- kratie alsbald aus dem Sinne schlägt, wenn eine siegreiche
lich, nach ihrer Art, das Geistige mit dem Politischen identifi- Offensive im Gange ist.
ziert und verwechselt? »Das Leben«, erklärt mein Korrespon- Die schiedlich-friedliche Völkergesellschaft ist Chimäre. Der
dent, habe ihm zur Beschäftigung mit der Literatur nicht Zeit Ewige Friede wäre nur möglich bei völliger Vermengung und
gelassen; der Krieg erst habe ihm die nötige Muße verschafft. Verschmelzung der Rassen und Völker, — womit es, sage man
Dann war der Krieg ja humaner und bildungsfreundlicher als leider oder gottlob dazu, gute Weile hat. Wer aber den Krieg
das »Leben«, das Friedens- und Berufsleben nämlich. Und war für unsterblich hielte, der beschimpfte damit die Menschheit
es nur Muße, was er spendete? Ist es sicher, daß auch irgend- nicht, — er täte eher das Gegenteil. Es ist nur eine Oberflächen-
eine langweilige Zivilkrankheit den jungen Mann zur Entdek- wahrheit, wenn man erklärt, daß die Völker ›in Frieden hät-
kung der Literatur geführt haben würde? Mußte nicht viel- ten leben wollen‹ und daß sie wie Lämmer zur Schlachtbank
leicht das exzentrische Erlebnis des Krieges der Verwundung geführt worden seien. Im mythischen Sinne möge man von
und Krankenstubenstille vorhergehen, um seine Seele zu die- ›Schuld‹ sprechen, die tiefere Wahrheit ist, daß alle den Krieg
ser Entdeckung geschickt zu machen? gewollt und nach ihm verlangt haben, es ohne ihn nicht mehr
aushielten. Sonst wäre er nicht gekommen. Und würde es die
Den Krieg für eine unsterbliche Einrichtung zu halten, für ein Menschheit nicht eher ehren als schänden, wenn sie es im bür-
unentbehrliches revolutionäres Mittel, der Wahrheit auf Erden gerlichen Sicherheits- und Regenschirmstaat auf die Dauer
zu ihrem Recht zu verhelfen, ist auch heute noch möglich, ob- nicht aushielte? Alles in allem ist der Mensch offenbar nicht
gleich er sich durch den Fortschritt seiner Technik selbst ad der edle Fadian und Literaturheilige, als welchen der Zivili-
absurdum geführt zu haben scheint. Das Urteil ›Es kommt sationsliterat ihn entweder jetzt schon sieht oder den er doch
nichts mehr dabei heraus‹ ist nicht stichhaltig; denn wenn baldmöglichst aus ihm machen möchte. Der Mensch empfindet
Einer gegen Alle steht, und es kommt nichts dabei heraus, so Zivilisation, Fortschritt und Sicherheit nicht als unbedingtes
ist dieses Nichts so positiver Art, daß man wohl sagen kann, Ideal; es lebt ohne Zweifel unsterblich in ihm ein primitiv-
es sei etwas dabei herausgekommen. Die Menschheit, Deutsch- heroisches Element, ein tiefes Verlangen nach dem Furchtba-
land einbegriffen, ist heute pazifistisch, weil der Krieg sehr ren, wofür alle gewollten und aufgesuchten Strapazen und
lange schon dauert und sehr große Opfer auferlegt. Zu glau- Abenteuer einzelner im Frieden: Hochgebirgstaten, Polar-
ben, sie habe in ihrem tiefsten Innern endgültig und unbe- expeditionen, Raubtierjagden, Fliegerwagnisse nur Auskunfts-
dingt auf den Krieg Verzicht geleistet, wäre ein Irrtum; zu mittel sind. Auf Menschlichkeit dringt der ›Geist‹; aber was
behaupten, sie sei moralisch über den Krieg hinausgelangt — wäre eine Menschlichkeit, der die männliche Komponente ab-
bloße Schönrednerei. Der Sozialdemokrat Scheidemann redete handen gekommen wäre? Auch steht sie bei allen Völkern
grob, aber ehrlich, als er sagte, die allgemeine Erschöpfung noch immer in gleichmäßigen Ehren. Denn Zivilisation und
werde der pazifistischen Demokratie gewaltigen Vorschub lei- Männlichkeit, Zivilisation und Tapferkeit, das ist ja zuletzt
kein Gegensatz. Zwar rissen bei Adua die Italiener vor den
sten. Das ist sicher. Aber sehr ehrenvoll für die Demokratie
Mohren aus; die Regel aber ist, daß zivilisierte Heere sich
ist es nicht, daß sie nur auf dem Boden der Erschöpfung zu ge-
tapferer zeigten als wilde, und Bismarck bemerkte in einer
deihen scheint — und auf dem des Mißerfolges. Ein Kind kann
Rede: »Die Tapferkeit ist ja bei allen zivilisierten Völkern
beobachten, daß die demokratische Parole ›Keine Annexionen,
keine Entschädigungen‹ regelmäßig bei der Partei hörbar wird,
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gleich.« Auf jeden Fall muß, wer das Menschliche ehrt, liebt, literarischen Heiligung erblickt: es ist das Geschlecht. Hier ist
bejaht, vor allem wünschen, daß es komplett bleibe; er wird seine Ehrerbietung, seine Liberalität und Duldsamkeit durch-
unter seinen Spielarten diejenige des Kriegers nicht missen aus ohne Grenzen, man muß das anerkennen. Geschlechtsliebe
wollen, nicht wollen, daß die Menschen sich einteilen in Händ- und politische Philanthropie, das heißt Demokratie, hängen
ler und Literaten, — was freilich die Demokratie wäre. ihm eng zusammen; diese ist ihm nur die Sublimierung der
anderen; und in striktem Gegensatz zur christlichen Kirche und
Übrigens aber enthält das Menschliche soviel ›Menschenun- zu Schopenhauer, welche im ›Weibe‹ ein instrumentum dia-
würdiges‹ und ›Inhumanes‹, daß der Literaturgeistliche eigent- boli erblickten, adoriert er in ihm die begeisternde Führerin
lich auch in Friedenszeiten aus dem Protest und Abscheu nicht auf dem Weg des politischen Fortschritts, will sagen: der Tu-
herauskommen dürfte. Maupassant, der kein Kostverächter gend. Eine wunderliche Konzeption, von der wir Notiz neh-
war, nennt den Zeugungsakt einmal »unflätig und lächerlich« . men, ohne sie weiter zu kritisieren.
— »ordurier et ridicule«. Man muß eben sehr verliebt sein,
um dem zu widersprechen. Ich habe Menschen sterben und Wie leicht ist es heute, wie leicht wäre es, dem Literaten zu
Menschen geboren werden sehen und weiß, daß der zweite gefallen! Man äußere nur etwas wie: »Nichts gegen Frank-
Vorgang den ersten an mystischer Schrecklichkeit noch weit- reich! Denn es hat die und die großen Künstler hervorge-
aus übertreffen kann. Sind die Greuel des Krieges haarsträu- bracht«— und man ist in seiner Huld geborgen. Nun, wenn irgend
bend, — nun, mir sträubten sich einmal die Haare, als in sechs- jemand in Deutschland je das künstlerische Genie der franzö-
unddreißig Stunden ein Mensch geboren wurde. Das war nicht sischen Rasse geleugnet hat — ich glaube nicht, daß es gesche-
menschlich, es war höllisch, und solange es das gibt, darf es hen ist —, so war er ein Tropf. Nach dem Beifall, der heute
meinetwegen auch Krieg geben. Jedermann fühlt und weiß, daß jedem sicher ist, der höchst freigeistig die überkriegerische
im Kriege ein mystisches Element enthalten ist: es ist dasselbe, Wahrheit verficht, daß Stendhal, Delacroix und Flaubert große
das allen Grundmächten des Lebens, der Zeugung und dem Künstler waren, nach diesem Beifall geize ich nicht; denn daß
Tode, der Religion und der Liebe eignet. Das Verhältnis aber sie es waren, hindert nicht an der Wahrnehmung, daß Frank-
des philanthropischen Literaten zum Elementaren und zur Lei- reich im historischen Niedergang sich entsetzlich schlecht auf-
denschaft ist zwiespältig und unfolgerichtig. Er feiert die Lei- führt, so verelendet durch Haß und weibisch schimpfsüchtig,
denschaft als Rhythmus und generöse Geste, er nimmt sie für daß kein hysterischer Heroismus mit dem Jammer seiner Hal-
sich in Anspruch; und doch ist sein Ziel im ganzen, wie im tung versöhnen kann. — Wer nun aber gar noch einigen Hohn
Falle der nationalen Leidenschaft und also des Kriegs, die An- zustande brächte über ›die große Zeit‹, ›die sogenannte große
ämisierung, ›Veredelung‹, ›Reinigung‹, Heiligung des Men- Zeit‹, der hätte sich ohne weiteres als Mitglied des Bundes der
schengeschlechtes—denn auf Heiligung durch den literarischen Geistigen ausgewiesen. — Warum eigentlich? Denn bei Lichte
besehen ist die Zeit ja wohl am Ende wirklich groß, und der
Geist läuft sein ›Fortschritt des Menschenherzens‹ ohne Zwei-
Zivilisationsliterat, gerade er, hätte alle Ursache, sie so zu fin-
fel hinaus, — wobei er sich zu fragen ganz vergißt, wie denn
den! Freilich, es lebt kein großer Mann; aber euer Demokratis-
Leidenschaft und Heiligkeit sich miteinander vertragen sollen.
mus hat ja mit den großen Männern gebrochen, er fand, sie
Daß er auch die Religion verpönt, versteht sich von selbst.
verhinderten das große Volk. Seid stolz, daß heute die Völker
Und nur eine Erscheinungsform des Elementaren ist es, die er
Geschichte machen, ohne einen großen Mann! Oder vielmehr:
bejaht und in der er merkwürdigerweise kein Hindernis der
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daß Geschichte heut überhaupt nicht gemacht wird, sondern
Goethe liebte nicht Politik noch Geschichte. Zu Eckermann aber
sich selbst macht; daß die Zeit ohne cäsarischen Beistand das
sagte der Alte: »Ich habe den großen Vorteil, daß ich zu einer
Neue gebiert. Ist euch dies Neue nicht recht? Noch weiß nie-
Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die
mand genau, worin es besteht, und jeder Wille fühlt sich be-
kräftigt. Daß aber ihr, gerade ihr, gewaltigen Nutzen davon Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fort-
habt, daß euer Wesen plötzlich im hellsten Lichte steht, euer setzten, so daß ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der
Einfluß und Ansehen mächtig gewachsen ist; daß der Krieg Trennung Amerikas von England, ferner von der französischen
euere Ehrenstunde heraufgeführt hat und, was ihr geistig ver- Revolution und endlich von der ganzen napoleonischen Zeit
fochtet, die Demokratie nämlich, politisch wirklich zu machen bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignis-
im Begriffe ist: seht ihr denn das nicht? Nochmals, ihr zuerst sen lebendiger Zeuge war. Hierdurch bin ich zu ganz anderen
hättet Grund, die Zeit groß zu nennen, denn sie ist revolutio- Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich
när, und ihr seid ja Revolutionäre. Wollt ihr nur Epochen glän- sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen
zender Bildung als groß anerkennen? Aber ich dachte, ihr Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht
wäret Politiker und keine — Ästheten? Zeit und Entwicklung verstehen . . . « Kann man respektvoller von der Geschichte
gehen freilich auch ihren Gang, während der Zeiger auf dem sprechen, williger sich zeigen, Zeiten gewaltiger politischer
Zifferblatt der Menschheitsgeschichte steht und nicht rückt. Umwälzungen groß zu nennen, und dankbarer dafür, daß
Wenn er aber so sichtbarlich ›vorwärts‹ fällt wie eben, ist es da man sie miterleben durfte? Literaten höre ich in den Zeitschrif-
nicht menschlich, von großer Zeit zu reden? Und wäre es hu- ten stöhnen: »Oh,hätten wir die ›große Zeit‹ niemals geschaut,
man, Müttern und Witwen den Trost zu nehmen, daß, die sie könnten wir ihre Greuel restlos vergessen!« Es scheint, Goethe
hingaben, um Großes fielen? hätte nicht so gedacht. Die Geschichte seiner eigenen Tage
nannte er »durchaus groß und bedeutend«. »Die Schlachten
Goethe konnte die Französische Revolution nicht lieben. Dies
von Leipzig und Waterloo«, sagte er, »ragen so gewaltig her-
Erlebnis verstörte ihn tief, und er selbst hat gesagt, daß es
vor, daß jene von Marathon und ähnliche andere nachgerade
seine produktiven Kräfte auf Jahre gelähmt habe. Dennoch
verdunkelt werden.« Den Literaten möchte ich sehen, der sich
läßt er in ›Hermann und Dorothea‹ den Richter sagen:
nicht die Zunge abbisse, ehe er von den Schlachten in Flan-
Wahrlich, unsere Zeit vergleicht sich den seltensten Zeiten, dern oder bei Tannenberg in diesem Tone spräche!
Die die Geschichte bemerkt, die heilige wie die gemeine. Eine aufwühlende Zeit fieberhaft gesteigerten Lebens, welche
Denn wer gestern und heut' in diesen Tagen gelebt hat, alles zehnfach verstärkt, das Edle und das Schlechte, und Ver-
Hat schon Jahre gelebt: so drängen sich alle Geschichten. änderungen zeitigt, die sonst nur das Werk vieler Jahrzehnte
Denk' ich ein wenig zurück, so scheint mir ein graues Alter sind; eine Zeit zehrender Entbehrungen und Erschütterungen,
Auf dem Haupte zu liegen, und doch ist die Kraft noch lebendig. welche dabei den Menschen zum Gedanken, zur Erkenntnis
O, wir anderen dürfen uns wohl mit jenen vergleichen, und zum Bekenntnis zwingt wie keine frühere; die ihm kein
Denen in ernster Stund' erschien im feurigen Busche vegetatives Sein gestattet, sondern ihn anhält, mit Bewußtsein
Gott der Herr: auch uns erschien er in Wolken und Feuer. seinen Platz einzunehmen, scheine dieser nun ehrenvoll oder
nicht; eine Zeit, die wirkt wie der Tod: ordnend trotz aller
Große Zeiten! Ist denn ein Satz in dieser Rede, der sich un-
Wirrnis, klarstellend, bestimmend; die uns lehrt, was wir wa-
serem Erlebnis nicht anschmiegte wie das Kleid dem Leibe?
ren und sind, und uns unter Qualen Festigkeit und Beschei-
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denheit verleiht: — wie sollten wir kein Recht haben, eine Börse geht«. Aber ich sehe Menschheitszähren über den Krieg
solche Zeit groß zu nennen! aus den Augen von Kerlen rinnen, die es im ›Frieden‹ nichts
Etwas anderes ist freilich die Dankbarkeit für das Erlebnis kostete, ihrem Nächsten das Herz aus der Brust zu reißen und
großer Umwälzungen und Weltbegebenheiten — und etwas es ihm vor die Füße zu werfen — in nur leicht übertragenem
anderes der Glaube an ein erreichbares endliches Glücksziel Sinn. Gesittung und Menschlichkeit zu verwechseln: ein Irr-
aller politischen Geschichte. Dieser vielmehr ist Sache des po- tum, des Zivilisationsliteraten würdig. Zu glauben, wenn nicht
litischen Philanthropen, welcher zwar die Geschichte haßt und Krieg sei, dann sei Friede: eine Kinderei, die dem Pazifismus
über ›große Zeiten‹ höhnt, an einen vollkommenen und ›durch- nicht nur eigentümlich ist, sondern aus der er besteht. — Ver-
aus heiteren‹ Zustand der Menschheit am Ende aller Umwäl- dreht doch die Augen nicht so! Sah denn die Welt schöner aus
zungen aber hochherzig glaubt und jeden ›ruchlos‹ nennt, der vor dem Kriege? War etwa diese Friedenswelt, deren Zusam-
diesen politischen Glauben nicht teilt. Was uns betrifft, so fin- menbruch wir nicht ohne Andacht erlebten, menschlicher, mil-
den wir, daß Wort für Wort auf das Heute paßt, was Goethe der, gütiger, liebevoller als die von heute? Der Krieg ist über-
jenen Sätzen über den Vorteil großen geschichtlichen Erlebens lebt und verrottet, das weiß ich; aber als er jung war, als er
hinzufügte: »Was uns die nächsten Jahre bringen werden, ist einbrach und den ›Frieden‹ hinwegfegte, — war nicht im Ge-
durchaus nicht vorherzusagen; doch ich fürchte, wir kommen genteil damals Deutschland auf einen heiligen Augenblick
so bald nicht zur Ruhe. Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu schön?
bescheiden; den Großen nicht, daß kein Mißbrauch der Ge- Das Leben ist streng, grausam und böse zu jeder Zeit und
walt stattfinde, und der Masse nicht, daß sie in Erwartung all- an jedem Ort, am strengsten, am unerbittlichsten und unidyl-
mählicher Verbesserungen mit einem mäßigen Zustande sich lischsten aber war es in Deutschland. Wer hätte nicht, als
begnüge. Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so Friede war, beim Überschreiten der Reichsgrenze das Gefühl
wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird erfahren, als umgäbe ihn plötzlich eine mildere, schlaffere,
es ewig herüber und hinüber schwanken, der eine Teil wird ›menschlichere‹ Atmosphäre, als könnten die Nerven, der
leiden, während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Geist, die Muskeln sich lösen? Wahrhaftig, das hatte wenig
Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und oder nichts mit ›Militarismus‹ und Mangel an ›Demokratie‹
der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.« zu tun; die Härte des deutschen Lebens hatte tiefere Gründe.
Ein Ausländer sprach kürzlich über diese Gründe: der Däne
Ich weiß wohl: die Liebe! Der Verfall der Brüderlichkeit! Vor Johannes V.Jensen, in einem eindringlichen Aufsatz: ›Europa
dem Kriege nämlich waren wir Brüder, o mein Gott! Wo wir vor und nach dem Kriege‹. Deutschlands hohe Entwicklung
es aber etwa nicht waren, da waren die Kampfmittel ›geistig‹ und Leistung, sagt er, hänge näher mit demselben Kulturför-
— ich muß sehr bitten. Und die Inhumanität der Kampfmittel derer, der überhaupt den nordeuropäischen Kulturtyp geschaf-
ist es, was der Zivilisationsliterat verabscheut. Die Inhumani- fen hat, nämlich dem Widerstand, zusammen, als dies für
tät beginnt ihm dort, wo Blut fließt: Das kann er nicht sehen. irgendeinen anderen europäischen Staat zutreffe. Eine der Fol-
Seelenmord scheint ihm fortschrittsgemäßer als Bajonett- oder gen von Deutschlands gefährdeter geographischer Mittellage
Handgranatenkampf — und da hat er recht! Ich finde die Stelle sei die innere soziale Spannung gewesen, die nicht nur wirt-
nicht, wo Karl Moor von den Philanthropen spricht, die sich schaftlicher, sondern namentlich psychologischer Natur gewe-
ins Fäustchen lachen, wenn der Nachbar »bankrott von der sen sei. Jensen erinnert an die Bedeutung der Juden für die
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gesamte Entwicklung des Reichs, — dieser gehärteten Kinder des gelebt vor dem Kriege; das Leben war nicht human gewesen.
Und wenn Jensen seiner Analyse hinzufügt: »Sicher wird
Mißgeschicks, deren Wesen mit dem auf andere Art durch Miß-
der Krieg in dieser Beziehung als eine Befreiung empfunden
geschick erzogenen deutschen Geiste zusammengestoßen sei.
werden, die Egge kehrt sich jetzt nach außen —«, so gestehen
Eben dieser Zusammenstoß aber habe den deutschen Volks-
wir: Ja, so war es, das Gefühl der Befreiung, das uns der Krieg
charakter so geschliffen, daß er momentan der schärfste, voll-
brachte, war teilweise dieser Herkunft, — aber mein Gott, auf
endetste moralische Apparat sei, den die Welt je gesehen. »Der
einen wie flüchtigen Augenblick war es so! Längst hat die
seelische Kampf ums Leben«, sagt Jensen, »hat bei beiden Par-
Egge sich wieder nach innen gekehrt, und ihr Griff wird bluti-
teien die innersten Fähigkeiten aus dem vegetativen Halbdun-
ger sein nach dem Kriege als je. Wir haben nicht geklagt, wir
kel aufgescheucht, hat alle edlen und unedlen Leidenschaften
haben nur ausgedrückt; und wir setzten unsere Ehre darein,
angespornt, hat jede Reserve aufgeboten, mit dem Gesamter-
gute Form und Haltung dabei zu wahren. Das war unsere
gebnis von Arbeit und wieder Arbeit. Eine Erziehung, wie
Humanität und unser Luxus, — denn Luxus, auch der der
Deutschland sie durch die Einverleibung jüdischer Elemente in
›Schönheit‹, ist unsittliche Schlemmerei, wenn er nicht der
seinen Volkskörper erfahren hat, ist ohne jedes Seitenstück, Ausdruck ist der Ehre und Tapferkeit. Wer aber so tut, als sei
auf beiden Seiten ist die psychologische Anspannung in so vor dem Krieg ›Friede‹ gewesen und als werde nach dem
haarfeinen, schneidenden Nuancen hervorgetreten, daß es in Krieg wieder ›Friede‹ sein, dem dürfen wir ins Gesicht lachen.
den letzten zehn Jahren förmlich weh tat, sich mit deutschen
Geisteserzeugnissen bekannt zu machen.« Versuchen wir es nur:
Ich sah zwei Invaliden die Straße dahermarschieren, einen
wir können dem fremden Beobachter den Eindruck wohl nach-
Blinden und einen Einarmigen. Der Blinde stierte mit Kunst-
fühlen. Auf Zitate soll man ein Recht haben, und gewiß, es
augen, puppenhaften Blicks; ließ sich führen in seiner Nacht
fehlt mir nicht an einem solchen in diesem Falle: Von alldem,
von dem Krüppel-Kollegen, an dessen robustem rechten Arme
was der Däne da über die »deutsche Spannung« sagt, weiß ich
er ging, während drüben der linke feldgraue Ärmel unbewohnt,
ein ganz persönliches Lied zu singen, — vielleicht habe ich es
undurchwärmt niederhing. Auch ich bin ein Mensch, und mir
gesungen. War nicht noch die humoristische Romanfigur des
schauderte. Euch haben sie zugerichtet! dachte ich. Nein, es ist
Doktor Überbein, dieses »auf Leistung gestellten« Malheurs
ungeheuerlich, Wahnsinn, Verbrechen und Schande. Nie darf
von Geburt, der Versuch eines Ausdrucks für ebendies? Es stand
und nie wird es wieder sein.
nicht gut um seine Menschlichkeit (er hatte ein verächtliches
Ich kam ihnen näher, ich hielt mich bei ihnen; man soll sich,
Wort dafür, er sprach von der »Bummelei des Glücks«), und
ohne Neugier, mit diskreter Ehrerbietung, vertiefen in das
elendiglich ging er zugrunde, da er es durch seine unnatürliche
Leben, wann immer es einem erscheint. Man soll sich ihm
Strebsamkeit mit allen, die sich zur »Leistung« menschlicher,
nähern und sich bei ihm halten, mit Sympathie, Wahrheits-
das heißt jovialer verhielten, mit allen Freunden des Weekend
liebe und ohne Emphase. Von weitem wirkt das Leben pathe-
verdorben hatte . . . Wer wollte denn leugnen, daß Deutsch-
tisch und reißt zu wilden Worten hin wie ›ungeheuerlich‹,
lands Menschlichkeit gelitten hatte durch die Spannung, unter
›Wahnsinn‹, ›Verbrechen‹ und ›Schande‹. Nahbei ist es
der es stand? Gegen das Ärgernis aber, das die Freunde des
schlichter, bescheidener, unrhetorischer, kaum je ohne humo-
Weekend daran nahmen, bleibt einzuwenden, daß es durchaus
ristischen Einschlag, und kurlzum viel menschlicher ist es dann
nicht idealistischer Herkunft war . . .
gleich.
Wie dem auch sei, wir hatten nicht sanft, nicht friedlich
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Die Verstümmelten waren schweigend marschiert, und das Für den Augenblick hatten sie offenbar keine Sorgen, und
hatte unzweifelhaft die tragische Würde ihrer Erscheinung auch Schmerzen hatten sie schon längst nicht mehr. Sie hatten
verstärkt. Würdig, schön, als ästhetisch beunruhigende Er- wohl welche gehabt, und arge vermutlich. Doch das war fast
scheinung wirken Menschen fast immer nur, solange sie schon vergessen, und dann werden Schmerzen ja ungleich
schweigen. Tun sie den Mund auf, so ist es meist aus mit der stark empfunden von verschiedenen Nervensystemen, sie em-
Achtung vor ihnen. Die Würde und Schönheit der Tiere ist pören die Seele der Menschen in verschiedenem Maß. Das Un-
sehr an die Tatsache gebunden, daß sie nicht sprechen können. glück in der Schlacht, der Kopfschuß für den einen, das glühende
— Eben jetzt fingen sie an zu reden, die beiden. Sie sprachen Eisenstück, das dem andern den Arm zermalmte, war schmet-
miteinander mit ihren kopfigen oberbayerischen Schmalzler- ternd rasch gekommen, in einem Augenblick, als man sich
stimmen, in ihrem dumpf polternden Dialekt voll mittelhoch- vielleicht gerade gar nicht gefürchtet hatte, — auf einmal war
deutscher Diphthonge wie oa und üa. Dem einen war etwas es geschehen. Danach hatte man wohl eine Zeitlang hilflos ge-
eingefallen, was er ebensogut aussprechen wie bei sich be- legen, unter dem unbarmherzigen Himmel, und sich von Gott
halten konnte, und so sprach er es aus, zumal sie schon ziem- und den Menschen verlassen gefühlt. Dann aber hatte man
lich lange geschwiegen hatten. Es war der Einarmige. Der erfahren, daß Menschen eben doch Menschen bleiben und auf
Puppenäugige hörte ihn in seiner Nacht, da er ja nur blind, ihr Menschentum bis zu einem gewissen Grade halten, auch
nicht auch taub war, und ohne sich viel zu besinnen, antwor- wenn sie um ihrer Leidenschaften, um der Macht, des Reich-
tete er etwas, worüber der Einarmige lachte. Ich mußte mich tums und der Ehre willen es fürchterlich treiben. Man war
in acht nehmen vor ihm, da er ja lebendige Augen hatte und gefunden, gelabt, verbunden, auf einer Bahre getragen, in ein
mich sehen konnte, was ich zu vergessen geneigt war. Er Bett geschafft worden. Man hatte sich, nachdem man das Seine
lachte nicht ins Publikum hinein, was ihm wohl unschicklich getan oder vielmehr erlitten, den Schultern und Armen von
erschienen wäre mit einem Blinden am Arm, er lachte etwas Mitmenschen überlassen dürfen, die den verwundeten Helden
versteckt vor sich hin und sagte dabei wieder etwas, während trugen, der man nun war. Man hatte pflegende Menschen-
gleichzeitig auch der Blinde seiner Antwort noch etwas Er- hände auf seinen Wunden gespürt. Man war operiert worden,
gänzendes hinzufügte und auch auf seinem von ungewohnter während man schlief. Ärzte, die manchmal grob waren, manch-
Blindheit noch blöden Gesicht ein hölzernes und nächtiges mal aber auch Witze machten, hatten einen behandelt, so gut
Lachen erschien. — Es war schönes Herbstwetter. sie es gelernt hatten, und das mußte man sagen, sie hatten es
Ich verstand schlecht, was sie sagten. Natürlich war es etwas sehr gut gelernt und waren ausgestattet mit allen Hilfsmit-
ziemlich Gewöhnliches und Unpathetisches, etwas, was an das teln der Neuzeit. Waren die Schmerzen gemein geworden, so
Lazarettleben, den Unterricht für Blinde und Einarmige oder hatte es einen kleinen Stich mit der Spritze gegeben, und
auch an das Mittagessen, die Verdauung anknüpfte. Der Ein- dann war die tiefe Lust und Dankbarkeit der Erleichterung
armige sah sich manchmal die Menschen an, der Blinde konnte gekommen, das himmlische Glück der Schmerzlosigkeit, von
sie nicht sehen, er stierte künstlich geradeaus; aber er wußte dem niemand weiß, der nicht zuvor gemeine Schmerzen ge-
ja, wie sie meistens aussahen, und sehr viel hatte er nicht habt. Und so war man genesen, einarmig und blind, aber ge-
daran verloren. Das Wetter war schön, wie gesagt. Sie gingen nesen war man und brauchte nicht mehr in den Krieg. Man
und atmeten die angenehm herbe, nach welkem Laub duf- ging in der Sonne spazieren und hatte vielleicht eine schmei-
tende Luft, und die Sonne schien ihnen auf die Nase. chelhafte kleine Ahnung davon, daß man, namentlich zu

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zweien, einen erschütternden Anblick bot. Aber man selbst gen eines in mittleren Jahren erblindeten Mannes, — Mittei-
war nicht mehr erschüttert, wenn man es je gewesen war. lungen über sein Befinden, die mir unmittelbar zugetragen
Ich muß noch sagen, daß der Anblick des Blinden mir un- wurden. Nach einer kurzen Periode des Kummers, erklärte der
mittelbar am meisten Grauen eingeflößt hatte. Der Einarmige, Mann, habe seine Stimmung sich sehr gebessert, nicht nur
nun, er hatte ja immerhin noch einen Arm, und zwar den rech- gegen jene erste Zeit nach der Erblindung, sondern gegen
ten. Auf allen möglichen Feldern, in der Landwirtschaft, der früher, gegen die Zeit vorher. Die Dunkelheit tue den Nerven
Industrie und als Handwerker konnte er noch seinen Mann wohl, das fühle er. Er habe an Seelenfrieden gewonnen, an
stehen, und dann, bis zu welcher Vollendung hatte die fort- Harmonie. Alle Leute seien gut, freundlich zu ihm, alle er-
schreitende Technik es nicht auf dem Gebiet der künstlichen wiesen sich dienstbereit, zeigten ihm ihre beste Seite, und sein
Gliedmaßen gebracht! Aber blind. Von Kind auf war mir das Verhältnis zu Welt und Menschen sei herzlicher, sei sym-
als das schrecklichste Los erschienen. Ich hatte zeit meines pathischer und glücklicher geworden. Solle er offen sein, so
Lebens viele Blinde gesehen, die es ganz ohne Krieg geworden müsse er sagen: Wenn es auf ihn ankäme und man stellte ihn
oder gleich so geboren worden waren, Blinde mit Glasaugen vor die Wahl, so würde er zunächst ausweichend antworten
und ohne solche, Blinde mit rechtwinkligen blauen Gläsern und sagen, sein Unglück habe auch starke Lichtseiten, wenn er
vor den Aughöhlen, mit geschlossenen, scheinbar zusammen- sich so ausdrücken dürfe. Dringe man weiter in ihn und ver-
gewachsenen Lidern oder mit offenen Augensternen, die tot lange entschiedene Antwort, so müßte er sagen: Nein, es ver-
waren; ich hatte sie angesehen und kaum begriffen, wie diese lange ihn nicht, und er habe geradeheraus keine Lust, wieder
Menschen ihr Schicksal trugen, wie sie zu leben vermochten. sehend zu werden.
Später hatte ich freilich mein grenzenloses Mitleid als über- Das ist, wie gesagt, die wirklich geschehene Äußerung eines
trieben, ja unstatthaft bezeichnen hören. Blinde, hörte ich, Erblindeten. Jetzt, im Kriege, hörte ich, daß die Blindgeschos-
senen in den Lazaretten unter allen Patienten die muntersten
seien meist milde, gelassene, heitere Menschen; Taubheit sei
sind. Sie balgen sich, sie werfen nacheinander mit ihren Glas-
ein weit verbitternderes Gebrechen und entstelle den Charak-
augen. Und das nicht aus irgendwelcher höllischen Verzweif-
ter, während Blindheit eher das Gegenteil bewirke. Ich machte
lung, sondern aus gewöhnlichem Übermut. Verstehen kann
die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Herrn, der seit Kind-
man es nicht, aber man muß es hinnehmen.
heitstagen stockblind ist. Leicht und anmutig sein Stöckchen
Der Leichtsinn des Menschen auch im sogenannten tiefsten
vor sich bewegend geht er, ungeleitet und allein, in den
Elend ist grenzenlos. Seine Anpassungsfähigkeit auch an Um-
Straßen Berlins seinen Geschäften nach, — durch die Tunnel
stände, die dieser Fähigkeit Hohn zu sprechen scheinen, ist es
der Untergrundbahn, über den Potsdamer Platz. Pfützen um-
ebenfalls, solange er nur lebt. Ferner ist da die Hoffnung,
geht er; wie er es macht, weiß niemand. Er beschäftigt sich mit
welche »toute trompeuse qu'elle soit, sert au moins à nous
sozialer Fürsorge, mit Literatur und auch mit Handelsspekula-
mener à la fin de la vie par un chemin agréable«, wie Laroche-
tionen, — ein ewig angeregter, plauderhafter Mann. Außer-
dem besitzt er eine Repetieruhr mit wohlklingendem Glocken- foucauld sagt.
spiel, um die ich ihn immer beneidet habe. Die Bekanntschaft Nicht das pittoreske und blutig-augenfällige Elend ist das
mit ihm mäßigte meine Vorstellungen von den Schrecken tiefste und eigentlich entsetzlichste auf Erden; es gibt Leiden
des Lebens in ewiger Nacht. und Qualen, Entwürdigungen der Seele, bei denen dem Men-
Den bedeutendsten Eindruck aber machten mir Äußerun- schen die Lust vergeht, mit Glasaugen zu werfen, Wunden, die
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keine Menschenhand betreut und um die keine öffentliche gegrast. Ich kenne nichts Alberneres und Verlogeneres als die
Karitas sich kümmert, innere Verstümmelungen, ohne Ehre, Deklamation des Literaten, den dieser Krieg zum Philanthro-
Eisenkreuz und Heldentum, die nicht zur erbaulichen Erschüt- pen machte und der verkündet, wer ihn nicht als untermensch-
terung der Mitwelt in der Herbstsonne spazierengeführt wer- liche Schmach und Schande empfinde, der sei ein Widergeisti-
den und von denen diese Welt voll sein wird, auch wenn wir ger, ein Verbrecher und ein Feind des Menschengeschlechts.
die Segnungen des ewigen demokratischen Völkerfriedens ge-
nießen. Die Welt war voll von ›menschenunwürdigem‹ Elend, Liebe! Menschlichkeit! Ich kenne sie, diese theoretische Liebe
bevor Krieg wurde. Das Leben der carusi in den sizilianischen und doktrinäre Menschlichkeit, die zwischen den Zähnen her-
Schwefelgruben, das Leben der East-end-Kinder, die in ekel- vorgestoßen wird, um dem eigenen Volke Ekel damit zu er-
hafter Misere verkommen und durch Mißhandlungen ver- weisen. Ich kenne ihn, den Literaturschrei von heute, kenne
krüppeln, das war vor 1914. Schamlose Ungerechtigkeiten, auch die Kunstwerke, in denen er ausgestoßen wird, Werke,
deren Begeher straflos ausgehen, während dem Dulder keine deren Menschlichkeit intellektuelle Forderung, literarische
Entschädigung zuteil wird; Körperqualen wie diejenigen, die Lehrmeinung, etwas Bewußtes, Gewolltes, Doziertes, — dabei
mit dem Bruch des Beckens oder mit Verbrennungen verbun- aber überhaupt nicht vorhanden ist und die einzig davon ihr
den sind; Krankheit, Ausschweifung, Leidenschaft, Gram, Alter Leben fristen, daß Publikum und Kritik Menschlichkeit mit
und bitterer Tod, das war vorher. Nehmt das Leiden teleo- rhetorisch-politischer Forderung der Menschlichkeit verwech-
logisch, erwägt, daß nur Not Kultur schafft, daß es ohne Leiden seln. Diese demonstrative und programmatische Menschlich-
kein Mitleiden gäbe, daß nur Ungerechtigkeit das Gerech- keit des Literaten, welcher mit ihr angreifen und beschämen
tigkeitsgefühl weckt und ohne Schmerz die Sittlichkeit unent- will, wunder wie stolz auf sie ist und beständig zu rufen
faltet, das Leben des Menschen ein Vegetieren bliebe, welches
scheint: »Seht, wie menschlich ich bin, und ihr, was seid ihr,
kaum glücklich zu nennen wäre, da der Schmerz die Folie der
ruchlose Ästheten seid ihr!« —oh, ich bedanke mich für diese
Lust ist. Oder tröstet euch nach Christenart mit der Hoffnung
reklamehafte Art von Menschlichkeit.
auf ein Jenseits. Oder seid Pessimisten und klagt das Leben
Der Krieg ist greulich, ja! Wenn aber inmitten dieses Krieges
an, das Leben selbst, das sündig und eine Verschuldung ist
der politische Literat sich aufstellt und erklärt, durch seine
und besser nicht wäre, — dies Leben, in dem der Mensch dem
Brust gehe der Liebesatem des Alls, so ist das der schrecklichste
Menschen ein Wolf ist und einer nur steigt, indem er den
der Schrecken und nicht anzusehen. »Wahrlich«, spricht die-
anderen zertritt. Seid Kritiker des Lebens, trefft und züchtigt
nende Torheit, »das ist nicht nur ein großer Künstler, es ist
es mit dem vernichtenden Wort! Macht aus der Kunst eine
Fackel, die barmherzig hineinleuchte in alle fürchterlichen vor allem ein herrlicher Mensch!« Schämt er sich nicht? Denn
Tiefen, in alle scham- und gramvollen Abgründe des Daseins; er ist ja kein herrlicher Mensch, und er weiß es. Kümmerliche
macht aus dem Geiste ein Feuer und zündet die Welt damit Verbissenheit nebst sentimentalem Schmiß, doktrinäre Ver-
an allen Ecken an, damit sie aufflamme und zergehe samt all härtung, Überheblichkeit, starr-kalte Unduldsamkeit, das pha-
ihrer Schande und Marter in erlösendem Mitleid! Aber gefallt risäisch hinopfernde Pathos des »Mögt ihr verkommen, ich
euch nicht in einem politisch-humanitären Oppositionslamento wohne im Licht« — all das ergibt kein herrliches Menschen-
gegen den Krieg! Stellt euch nicht an, als habe er das Antlitz tum, und tausendmal schlimmer als ›Weltgerechtigkeit‹,
der Erde entweiht — und vorher habe der Tiger beim Lamme welche aus Sympathie, aus Liebe kommen mag, — tausendmal
schlimmer ist Selbstgerechtigkeit: sie ist die Sünde, die nicht
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vergeben wird. Turgenjew sagte einmal über den Rousseauiten Wer in diesem Bilde des Schweizers, das ich von jeher wert
Leo Tolstoi, sein letztes und schrecklichstes Geheimnis sei, daß und mir nahe halte, eine Beleidigung der Menschenwürde er-
er niemanden lieben könne als sich selbst. Das ist das Ge- blickte, den dürfte man einen Banausen nennen. Trotzdem ist
heimnis aller Rousseau-Nachfahren, welche immer auf irgend- der politische Philanthrop ohne Zweifel verpflichtet, derglei-
eine Weise ihre Kinder ins Findelhaus stecken und Erziehungs- chen darin zu erblicken, — und soviel sei eingeräumt, daß es
romane schreiben. Sich an ihre öffentlichen Wirkungen zu ein nur zu schlagendes Beispiel für die Unzuverlässigkeit der
halten ist arger Erfolgskultus. Denn noch einmal: die einzige Kunst als Mittel des Fortschritts bietet, für ihren verräterischen
Art, die Dinge menschlich zu sehen, ist, sie individuell zu sehen. Hang zur Schönheit schaff enden Widervernunft. Offenbar aber
Kein Literat hat größere Weltwirkung geübt als J. J. Rousseau, ist die Humanität des emanzipatorischen Fortschritts entweder
und der Politiker genuflektiert vor ihm aus diesem Grunde. nicht die wahre oder nicht die ganze Humanität; denn wie
Trotzdem bleibt er dem menschlich-künstlerischen Blick, wel- sollte ein Werk inhuman genannt werden dürfen, das dem
cher von Wirkungen abzusehen vermag, ein verdächtiger Ge- von Frechheit, Schlechtigkeit und Pöbel-Gier gehetzten Blick
selle. Die öffentliche Wirkung jemandes, der sehr schön zu eine Vision und Traumzuflucht würdevoll-demütigen Men-
sagen versteht: »Ich liebe Gott!«, kann bedeutend sein; wenn schenanstandes bietet?
er unterdessen aber »seinen Bruder hasset«, dann ist, nach Daß es noch heute, mitten in einer hinlänglich befreiten
dem Johannes-Evangelium, seine Gottesliebe nichts als Schöne Welt, Stätten gibt, die ihren Besuchern ein gut Teil solchen
Literatur und ein Opferrauch, welcher nicht steigt. Anstandes auferlegen, Orte, an denen auch der ehrfurchts-
loseste Lümmel das Hutfabrikat herunterzunehmen, die Stimme
Anläßlich der ›Tugend‹ sagte ich, es sei Geschmacks- und zu dämpfen, die Visage ruhig, ernst, beinahe nachdenklich
Stimmungssache, ob man den Menschen in emanzipierter oder und jedenfalls ehrerbietig zu machen nicht nur von außen,
in verehrender Haltung schöner zu finden geneigt sei. Wirk- durch Sitte und Ordnung, sondern wahrhaftig immer noch
lich scheint mir, daß, wenn von Humanität die Rede ist, der auch innerlich gehalten ist; daß es heilige Orte gibt, heute
ästhetische Gesichtspunkt einige Berücksichtigung verdient. noch, gefriedete Freistätten der Seele, wo der Mensch, dem
Und es scheint mir ferner, daß es zum mindesten von Ein- üblen Gebrodel irgendeiner Großstadtstraße entronnen, um-
seitigkeit und Beschränktheit zeugt, wenn der politische Phil- geben plötzlich von hallender Stille, farbigem Dämmer, an-
anthrop alle humane Schönheit und Würde in die prometheisch- gehaucht vom Duft der Jahrhunderte, dem Ewigen, Wesent-
emanzipatorische Gebärde verlegt. Ich brauche nur aufzublik- lichen, kurz dem Menschlichen Aug in Aug gegenübersteht,
ken von meinem Tisch, um mein Auge an der Vision eines — das hat etwas Phantastisches, Unglaubwürdiges und ist ein
feuchten Haines zu laben, durch dessen Halbdunkel die lichte großes, herrliches Labsal. Der politische Philanthrop mag über
Architektur eines Tempels schimmert. Vom Opferstein lodert ausreichende Duldsamkeit verfügen, um mittelalterliche Kir-
die Flamme, deren Rauch sich in den Zweigen verliert. Stein- chen einer antiquarisch-ästhetischen Reise-Aufmerksamkeit
platten, in den sumpfig-beblümten Grund gebettet, führen zu zu würdigen. Als Zwingburgen des Aberglaubens und Schlupf-
seinen flachen Stufen, und dort knien, ihr Menschtum feier- winkel einer dermaßen körperlich ausdrucksvollen Seelen-
lich vor dem Heiligen erniedernd, priesterlich verhüllte Ge- knechtschaft, daß dort heute noch, o Jammer, Schande und
stalten, während andere, aufrecht, in zeremonialer Haltung Elend, im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts,
aus der Richtung des Tempels zum Dienste heranschreiten. der kniende Mensch gefunden wird, müssen sie seiner ent-
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schlossenen Menschenliebe ein Greuel und eine Verzweiflung Emanzipation. Die große Mehrzahl der Menschen bedarf der
sein. Was mich betrifft, so habe ich den Aufenthalt in Kirchen Gebundenheit durch Ehrfurcht, um einen erträglichen und so-
von jeher geliebt, und zwar aus einem Ästhetizismus, der mit gar schönen Anblick zu bieten; und daß sie dem Menschen
Kulturwissenschaft und Handbuchbildung durchaus nichts zu eine zugleich gebundene und menschlich-befreite Haltung ver-
tun hatte, sondern auf das Menschliche gerichtet war. Zwei leiht, gilt mir als hohes, ästhetisch-humanes Verdienst der
Schritte seitwärts von der amüsanten Heerstraße des Fort- Kirche.
schritts, und ein Asyl umfängt dich, wo der Ernst, die Stille,
der Todesgedanke im Rechte wohnen und das Kreuz zur An- Aber möge der Philanthrop die religiöse Erniedrigung, den
betung erhöht ist. Welche Wohltat! Welche Genugtuung! Hier Dienst Gottes also, immerhin als menschenwürdig zulassen:
ist weder von Politik noch von Geschäften die Rede, der Mensch Menschendienst muß ihm unbedingt als eine empörende Be-
ist Mensch hier, er hat ein Herz und macht kein Hehl daraus, es leidigung der Humanität, der Menschenwürde erscheinen.
herrscht reine, befreite, unbürgerlich-feierliche Menschlichkeit. Nun, ich halte es für vorurteilsvoll, Menschendienst und Men-
Hier würde man sich voreinander gemeiner Worte, eines fre- schenwürde als unvereinbar gegeneinanderzusetzen. Denn
chen Betragens schämen, aber das Recht des Menschen ist hier sobald etwa die Liebe im Spiel ist, leidet diese durch jene ja
so stark, die Ohnmacht ziviler Konvenienz so vollkommen, keinen Schaden. Stolz, Ehre und Lust des Gehorsams scheint
daß niemand sich vor seinem Mitmenschen des Ausdrucks und heute eine deutsche Besonderheit und internationale Unbe-
der Gebärde tiefer Rührung, Andacht, Hingebung, Bußfertig- greiflichkeit; auf jeden Fall liegt da eine seelische Tatsache
keit schämt, selbst nicht einer Körperhaltung, die unter allen vor, die beweist, daß ›Unfreiheit‹ und Manneswürde sich
bürgerlichen Umständen als theatralisch, phantastisch, exzen- wohl vertragen können. Wer etwa einen deutschen Fähnrich
trisch, romantisch Anstoß und Gelächter erregen würde. Der beobachtet, der vor einem kaum älteren Kameraden von Offi-
kniende Mensch! nein, meine Humanität nimmt kein Ärger- ziersrang dienstlich strammsteht, wird bemerken, daß das
nis an diesem Bilde, im Gegenteil, es sagt ihr zu wie kein mit einem gewissen Enthusiasmus und zugleich einem ge-
anderes, und zwar vermöge seines antizivilen, anachronisti- wissen Humor geschieht, kurz: es ist romantisches Spiel
schen, kühn-menschlichen Gepräges. Diese Haltung kommt sonst darin; der Ausdruck des ritterlich-männlichen Gehorsams
nirgends mehr vor, sie widerspricht in ihrer gelösten Mensch- ist offenbar mit erhöhtem Lebensgefühl verbunden, und
lichkeit aller Sprödigkeit, Skepsis und Gebärdenfeindschaft was im besonderen das Ehrgefühl betrifft, so ist es in dem
der Zivilisation. Kniet noch der Liebende vor der Geliebten, Salutierenden wahrscheinlich stärker belebt als in dem, welcher
wenn er um sie wirbt? Wie nackt und furchtbar müßte in un- den Salut empfängt. Ehre als Lebensreiz gibt es überhaupt nur,
wo es aristokratische Ordnung, Distanz-Kultus, Hierarchie
serer Zeit das Leben die Einförmigkeit der Gesittung durch-
gibt; demokratische Menschenwürde ist im Vergleich damit
brechen, damit man den Menschen erblickte, der, auf seinen
das langweiligste und unlustigste Ding von der Welt. Wer
Knien, das Angesicht in den Händen verbärge oder diese
etwas ist, ehrt sich selbst, indem er vor einem, der noch mehr
gefaltet vor sich erhöbe! Wie außerordentlich ist das Mensch-
ist, ausdrucksvoll zurücktritt; die Ehre des eigenen Standes
liche, — welches doch das Wahre und Wesentliche ist! Die
und Ranges wird dabei immer mitempfunden und mitbetont.
Religion aber, die Kultstätte, diese Sphäre des Außerordent-
Nur wer gar nichts ist, hat ein Interesse an der Betonung der
lichen gibt das Menschliche frei und macht es schön. Das große
Menschengleichheit, — ein irrtümliches Interesse übrigens;
Individuum mag schön sein in der Haltung steil trotzender
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war die Lust am Dienen etwas allgemein Menschliches, zum
denn statt einer abstrakten und zweifelhaften ›Würde‹ könnte
mindesten allgemein Europäisches. Goethe stellt fest: »Es gibt
er einer konkreten und persönlichen Ehre teilhaft werden,
im Menschen auch ein Dienenwollendes; daher die chevalerie
indem er sich zur freiwilligen und stolzen Unterordnung
der Franzosen eine servage.« Nun, die politische Philanthropie
entschlösse.
mit ihrem Begriff der Menschenwürde hat den Instinkt der vor-
In Bismarcks selbstverfaßter Grabschrift »Ein treuer deut-
nehmen Dienstbarkeit, der ritterlichen Knechtschaft (›knight‹
scher Diener seines Herrn« mag ein gut Teil germanisch-
und ›Knecht‹ ist ja dasselbe Wort) überall gründlich rampo-
sentimentaler Hypokrisie enthalten sein, denn um sein Diener-
niert. Sie hat in Deutschland vielleicht die malerischsten Reste
tum war es gewiß nur so-so bestellt, wenn auch sein Herr-
davon übriggelassen, die ebenfalls zu sprengen sie aber im
schertum in germanisch dienstmännischen, nicht in romanisch
Begriffe ist. Während früher der dienende Stand so gut wie
cäsarischen Formen sich auslebte. Fontane nannte ihn »unseren der befehlende seine Ehre, Würde und Schönheit hatte, gilt es
Zivil-Wallenstein« und fügte hinzu, er habe mehr Ähnlich- mehr und mehr in der ganzen Welt für menschenunwürdig,
keit mit dem Schiller'schen als mit dem wirklichen Wallen- zu dienen, auch dann, wenn es sich gar nicht um Menschen-
stein gehabt, womit wiederum der sentimentale Einschlag dienst, sondern um den einer Sache handelt oder doch handeln
seines Wesens betont ist. Auf jeden Fall bedeutet jene Inschrift sollte, um die menschheitlich immerhin wichtige Sache der
die Huldigung vor einem Ideal, und sie drückt aus: »Er hätte Kunst zum Beispiel. Auch dann, sage ich, wiegt die soziale
am Ende auch mehr werden können, wenn er gewollt hätte; Idee, der Rechts- und Freiheitsgedanke bei weitem vor, und die
aber dies Mehr wäre nach deutschen Begriffen ein Weniger Sache möge zum Teufel fahren, wenn nur der demokratischen
gewesen, und es war national, daß er seine Ehre darin fand, Menschenwürde kein Härchen gekrümmt wird. Als Beispiel
nicht mehr sein zu wollen als seines Herren treuer Diener.« diene, was Felix Mottl in New York bei einer Tristan-Probe
National war es wirklich in hohem Grade, und Bismarck hatte erlebte. Punkt zwölf Uhr setzte der Konzertmeister seinen Hut
recht, wenn er gegen lateinische Gäste bemerkte: »Euere auf, und das Orchester beendete die Probe, obwohl sie durch-
Cäsaren wären unter uns Deutschen landfremd und unverständ- aus nicht beendet war; denn nur bis zwölf Uhr lautete der
lich.« Eben jetzt wieder sehen wir, wie ein mächtig volkstüm- Kontrakt der gentlemen, und war man bis dahin nicht fertig:
licher deutscher Diener seines Herrn durch unermüdliche Be- desto schlimmer für den Dirigenten, der mit seinem Inter-
kundung seiner Mannestreue und Botmäßigkeit mögliche esse an der Sache allein stand. Kein Bitten und keine Zornes-
Regungen des Mißtrauens und der Eifersucht hintanzuhalten ausbrüche halfen; dieser letzteren wegen mußte Mottl sich
sucht, — Regungen in der Brust seines Herrn, den er liebt, weil schließlich sogar entschuldigen, da sonst an der Menschen-
er sein Herr ist, und den nicht zu lieben wider seine Ehre würde der Musiker die Aufführung gescheitert wäre. — Was
gehen würde. Der Voltaire'sche Satz »Le premier qui fut roi, das Dienstbotenwesen betrifft, so gibt es ein menschliches
fut un soldat heureux« ist außerordentlich undeutsch gedacht. Verhältnis zwischen Brotherren und Gesinde allenfalls noch
Der Typus des »glücklichen Soldaten«, des soldatischen Aben- auf Bauernhöfen; in den Städten sind die letzten Reste patri-
teurers, des Boulanger existiert nicht in Deutschland; womit archalischer Humanität durch die verhetzende, verdummende
zusammenhängt, daß auch eine eigentliche Säbelherrschaft und verhäßlichende Macht des Rechts- und Würdebegriffes
niemals hier existiert hat. längst restlos zerstört. Treue, Anhänglichkeit an Haus und
Der stolze Gehorsam, sagte ich, scheint heute etwas spezi- Familie kommen nicht mehr vor; diese werden als Ausbeu-
fisch Deutsches. Ursprünglich aber, in vordemokratischer Zeit,
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tungsobjekt betrachtet, und eine sozialistisch verängstigte genommen wird. Ich betone dies letztere, weil es mir persön-
Justiz sanktioniert durch ihr Urteil diese Auffassung, wenn es lich als das Schwerere erscheint. Denn wie es leichter (weil
zum forensischen Zusammenstoß kommt. Die Lösung der bequemer) ist, zu gehorchen, als zu befehlen, so ist es über-
Dienstbotenfrage liegt völlig im Dunkel; nur daß die Situation haupt leichter, zu dienen, als sich bedienen zu lassen, und es
unhaltbar geworden, ist klar. gibt eine Reizbarkeit, die es unmöglich macht. Ich erzählte ein-
Trotz alledem ist jenes ›Dienenwollende‹ im Menschen mal von einem sensitiven Fürsten, dem es große Schwierigkei-
sicher etwas Unsterbliches, und es wäre als Faktum deutlicher ten bereitete, an strammstehenden Lakaien vorbeizukommen,
geblieben, wenn die heutige Welt ihm reichlichere Gelegenheit obgleich er wußte, daß diese sich in ihrer Haltung durch-
böte, sich zu bewähren. Daß es keine Diener mehr gibt, liegt aus wohl und mit sich selbst zufrieden fühlten und sich mit
daran, daß es keine Herren mehr gibt, — will sagen, keine derselben Selbstzufriedenheit auch auf den Bauch geworfen
solchen, denen zu dienen mit gutem aristokratischen Gewis- hätten, wenn es des Landes so der Brauch gewesen wäre. Die
sen möglich ist. Wo die Rangordnung etwas durchaus Will- Demokratie, meinte ich damit, kommt von oben, nicht von un-
kürliches, Momentanes und Unbegründetes ist, kommt der In- ten, oder es sollte doch so sein. Sie sollte nicht Anspruch sein,
stinkt des Dienenwollens nicht mehr auf seine Kosten; und so Anmaßung, freche Forderung, sondern Abdankung, Scham,
steht es ja heute mit der Rangordnung allerdings. Daß der Auf- Verzicht, Menschlichkeit. Demokratie sollte wieder sein, was
wärter, der in einer modernen Hotelhalle dem im Ledersessel sie vor Einbruch der Politik in die Gotteswelt einmal war:
sich lümmelnden swell den Tee serviert, nicht seinerseits in Brüderlichkeit über allen Unterschieden und unter formaler
dem Sessel sitzt und von dem swell bedient wird, ist nichts Wahrung aller Unterschiede. Demokratie — aber ich sage im-
als der reinste Zufall; niemandem würde etwas auffallen, wenn mer dasselbe — sollte Moral sein, nicht Politik; sie sollte Güte
sie binnen einer Viertelstunde die Plätze wechselten. Das Volk sein von Mensch zu Mensch, Güte von beiden Seiten! Denn
aber, ich gab dieser Erfahrung schon einmal Ausdruck, emp- der Herr bedarf der Güte des Dieners ebenso sehr, wie dieser
findet aristokratisch; es hat sich das natürlichste und feinste der Güte jenes bedarf.
Distanzgefühl bewahrt, es weiß zwischen einem Herrn und
einem Glückspilz mit vollkommen undemokratischer Sicher- Als der Krieg einige Monate währte, las man, Nizza und
heit zu unterscheiden, und seine Empfindung ist nicht zu be- Monte Carlo ständen vor dem Bankerott. Ich weiß nicht, ob
stechen. Es dient gern und ohne seine Menschenwürde im min- die Nachricht sich bewahrheitet hat, aber das weiß ich, daß sie
desten beeinträchtigt zu fühlen, wo noch eine Möglichkeit mich mit der gleichen innigen Genugtuung erfüllte wie die
besteht, mit Überzeugung zu dienen. Daß es der Frau andere, die ihr vorangegangen war: daß nämlich le prince
Kommerzienrat Mayer ohne Überzeugung und also schlecht, irgend etwas Humanitäres, Deutschfeindliches, etwas über Zi-
ungetreu, unter Kundgebungen der Aufsässigkeit und nur vilisation und Menschlichkeit an Wilson telegraphiert habe.
um des Nutzens willen dient, ist nicht zu verwundern. Einer Sache, die man haßt, wünscht man anrüchige Partei-
Der Begriff der Menschenwürde ist ein Produkt der Sitte. gänger — soweit ist man Politiker. In der Tat, man fühlt sich
Im Osten Deutschlands beugt die Dienerschaft sich noch zum bekräftigt in seiner Abneigung gegen eine Weltanschauung,
Kusse des herrschaftlichen Rocksaums, — eine Gebärde, die die diejenige der Hurenwirte ist.
mit Gewandtheit, Natürlichkeit und Würde, als Zubehör eines Freilich, nirgends geht es ›menschlicher‹ zu als in dieses
schicklichen Betragens ausgeführt und ohne Verlegenheit hin- Klingsor Zaubergarten. Was Zivilisation, was Menschlichkeit
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im Geist der Entente-Welt eigentlich besagt, dessen wird man fluchtsorten der internationalen Gesittung; zur Zeit der Som-
so recht erst inne, wenn man sich in sein Etablissement ver- me-Schlacht, kalkuliere ich, wurde er eingeführt.
setzt. Soll es nicht vorgekommen sein, daß ein oder der andere
amerikanische Bürger sich im Casino-Park aufgehängt hat? Es war in einem frühen, dem Zivilisationsliteraten besonders
Wo blieb die Note des Präsidenten? Aber diese Opfer fielen gewidmeten Abschnitt dieser Betrachtungen, daß ich mir jenes
nicht dem ›Militarismus‹, sondern seinem heiteren Gegen- Europa auszumalen suchte, dessen wir uns im Falle eines
teil . . . Wie sehr gegen alle Menschlichkeit verstoßend muß raschen und glänzenden Sieges der Entente für Zivilisation
an diesem Wallfahrtsort der internationalen Zivilisation, an und Menschlichkeit zu erfreuen gehabt hätten. Ich erinnere
dieser Amüsierküste mit Palmen und kitschblauem Meer, mit mich daran, während ich von Monte Carlo und Sankt Moritz
Pariser Weibern, russischen Großfürsten und rumänischen spreche. Aber auch das andere mir einzubilden unterlasse ich
Hochstaplern, mit Sekt, Parsifal-Aufführungen und warmen nicht: das Europa eines überwältigenden und vollkommenen
Duschen gegen den Spieler-Schweiß, — wie unmenschlich, sage deutschen Sieges — und will nicht klagen, daß wir es nicht
ich, muß in dieser Sphäre der ›vie facile‹ und der kosmopoli- haben, noch haben werden. Zweifellos hätte es einen anstän-
tischen Gesittung der furchtbare Rechts- und Lebenskampf digeren Anblick geboten, — ernst, staatsfromm, sozial, dienst-
eines ernsten Volkes wirken! lich, organisatorisch, männlich-soldatisch; aber auch hart, un-
Bankerott? Und durch diesen Krieg? Welch ein Symbol! wirtlich, ziemlich düster, ziemlich brutal, ›militaristisch‹ bis
Aber doch eben nur ein Symbol. Denn die Vorstellung, daß zur Unerbittlichkeit, — und während ich freilich nicht glaube,
jene kosmopolitische Zivilisation, welche gegen Ende der Frie- daß das ›Menschliche‹ auf Erden unter irgendwelchen und
denszeit hauptsächlich die Form einer allgemeinen Tanzwut, noch so strengen Umständen je zu kurz kommen könnte: soll
eines maniakalischen Kults exotischer Geschlechtstänze an- ich zugeben, daß die Idee der Menschlichkeit in diesem deutschen
genommen hatte, sei durch den Krieg zum Stillstand, zum Europa möglicherweise wirklich zu kurz gekommen wäre?
Erbleichen und spukhaften Verschwinden gebracht worden, — Wahrscheinlich gibt es keinen Franzosen oder Engländer, der
diese Vorstellung war ja Irrtum und Täuschung. Die inter- nicht den positiven und unbedingten Triumph seines Landes
nationale Zivilisation lebt fort, ja, wie sie vor Anbruch der in diesem Kriege gewünscht hätte und wünschte. Was mich
großen Heimsuchung lebte, so lebt sie auch heute noch alle betrifft, so tut es mir vollkommen Genüge, daß Deutschland
Tage. Sie trägt in Sankt Moritz bei ihren Sportbelustigungen unbesiegt und gebietend aufrecht blieb, was eine geistige Not-
die tollen Kostüme der letzten Friedenszeit zur Schau, die pa- wendigkeit war und in der Tat etwas so viel Positiveres ist als
pageifarbenen Sweater der Damen, die seidenen Zipfelkappen die Unbesiegtheit Frankreichs und Englands, daß es diese Un-
der jungen Männer. Wer einen Auslandspaß zu erlangen weiß, besiegtheit in Frage stellt . . .
mag sich überzeugen und an der Lustbarkeit teilhaben; Die Man glaube es mir oder nicht: ich bin des Gedankens fähig,
neueste jener Tanzunterhaltungen, denen man selbst während daß der Haß und die Feindschaft unter den Völkern Europas
der Mahlzeiten, zwischen zwei Gängen sich hingibt, ist der zuletzt eine Täuschung, ein Irrtum ist, — daß die einander zer-
Foxtrott; man sagt es mir, und ich nehme an dieser Stelle fleischenden Parteien im Grunde gar keine Parteien sind, son-
Notiz davon; nichts weiter. Der Foxtrott war nicht bekannt vor dern gemeinsam, unter Gottes Willen, in brüderlicher Qual an
dem Kriege, soviel ich weiß. Erst während der Kriegszeit kam der Erneuerung der Welt und der Seele arbeiten. Ja, es ist
er zu Gunst und Flor in Sankt Moritz sowie an anderen Zu- erlaubt, von einem begütigten und versöhnten Europa zu
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träumen, — wenn Güte und höhere Eintracht auch nur der Er- von früher, denken wir es uns einfach und anmutig von Sitten
schöpfung werden zu danken sein mögen und jener Sensiti- und einer Kunst hingegeben, die reiner Ausdruck seines Zu-
vität und Verfeinerung/die durch großes Leiden erzeugt wird. standes wäre: zart, schmucklos, gütig, geistig, von höchster
Denn die Verfeinerung durch Leiden ist höher und mensch- humaner Noblesse, formvoll, maßvoll und kraftvoll durch die
licher als die durch Glück und Wohlleben, ich glaube daran, Intensität ihrer Menschlichkeit. ..
und auch an jenes zukünftige Europa glaube ich in guten Stun- Träume, geträumt an einem Spätsommermorgen 1917,
den, welches, einer religiösen Menschlichkeit und duldsamen während die englisch-französische Offensive in Flandern tobt.
Geistigkeit zugetan, seines heutigen verbissenen Weltanschau- Werden sie unstatthaft, unglaubwürdig wirken innerhalb einer
ungszankes sich nur mit Scham und Spott wird erinnern kön- Schrift, die freilich den Stempel ihrer kriegerischen Entstehung
nen: Undoktrinär, unrechthaberisch und ohne Glauben an an der Stirne trägt und die Not und Parteinahme eines Her-
Worte und Antithesen, frei, heiter und sanft möge es sein, zens mit dialektischen Mitteln verficht, die aber im Grunde
dieses Europa, und für ›Aristokratie‹ oder ›Demokratie‹ nur gegen die Politik und für das Menschliche kämpft? Ich fand
noch ein Achselzucken haben. Es war ein dramatisches Tages- mich nationaler, als ich gewußt hatte, daß ich sei, aber ich
produkt, über das Goethe bemerkte, die Idee des Ganzen war niemals Politiker, niemals Nationalist. Ich war nicht stark
drehe sich nur um Aristokratie und Demokratie, und dieses oder nicht überheblich genug, mich den Krieg ›nichts angehen‹
habe kein allgemein menschliches Interesse . . . So sprach ein zu lassen; erschüttert, aufgewühlt, gellend herausgefordert,
antipolitischer Künstler; und wird es nicht antipolitisch und warf ich mich in den Tumult und verteidigte disputierend das
künstlerisch sein, das nachkriegerische Europa? Wird es nicht, Meine. Aber wohler, Gott weiß es, wird mir sein, wenn meine
denen zum Trotz, welche nach Allherrschaft der Politik, nach Seele wieder, von Politik gereinigt, Leben und Menschlichkeit
›politischer Atmosphäre‹ schreien, Menschlichkeit und Bil- wird anschauen dürfen; besser, als durch dieses Buch, wird
dung zu Leitsternen nehmen? Einem Aristokratismus freilich mein Wesen sich bewähren können, wenn die Völker hinter
möge es huldigen: seinem eigenen. Es möge auf sich halten gefriedeten Grenzen in Würden und Ehren beieinander woh-
lernen in Dingen der Kultur und des Geschmacks, wie es das nen und ihre feinsten Güter tauschen: der schöne Engländer,
vordem nicht verstand, möge dem geilen Ästhetizismus und der polierte Franzose, der menschliche Russe und der wissende
Exotismus, dem selbstverräterischen Hang zur Barbarei ent- Deutsche.
sagen, dem es zügellos frönte, Verrücktheiten in seiner Klei-
dermode, närrische Infantilismen in seiner Kunst verpönen
und gegen Anthropophagenplastik und südamerikanische
Hafenkneipentänze eine Gebärde vornehmer Ablehnung sich zu
eigen machen. Wird es nicht vorderhand übrigens arm sein,
unser Europa, werden die Entbehrungen, die es sich bereitete,
es nicht gelehrt haben, das Simple und Natürliche köstlich zu
finden und eine Mahlzeit aus Eiern, Schinken und Milch dank-
barer zu genießen als irgendwelche Vomitoriums-Völlerei von
ehedem? Ja, denken wir es uns von Widerwillen erfüllt gegen
seine negerhafte Genußsucht und zivilisierte Knallprotzerei
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Freiheit und Ironie, schafft Persönlichkeit. Persönlichkeit, das
V O M GLAUBEN einzig Interessante auf Erden, ist immer ein Produkt der Mi-
schung und des Konfliktes: Zeiten, Gegensätze, Widersprüche
prallen aufeinander, werden Geist, Leben, Gestalt. Persönlich-
Ich habe mich lange um eine präzise, erschöpfende und end- keit ist Sein, nicht Meinen, und versucht sie sich einmal im
gültige Bestimmung des Literaten bemüht, — dies Buch gibt Meinen, so wird ihr bemerklich, daß sie aus Gegensätzen be-
Zeugnis davon. Nun endlich bin ich ihrer habhaft geworden, steht und schlecht geeignet ist, das nichts als Neue, das geistig
und, weit entfernt, sie eifersüchtig zu verwahren, eile ich aus streng Zeitgemäße zu propagieren. Epochen vorwiegend in-
sozialem Triebe, sie mitzuteilen, überrascht und erheitert, wie dividualistischen und sozialen Denkens, zum Beispiel, wechseln
der Leser es sein wird, von ihrer Einfachheit. in der Geschichte. Aber nur literarische Wetterhähne verkünden
Ein Literat also ist ein Wesen, das immer genau weiß: ›Man und fordern unbedingt eins oder das andere, je nachdem der
muß jetzt ‹ und immer auch gleich kann. Das Weitere ist Wind weht, und verdammen den Sünder gegen den Zeitgeist
bloß Kommentar. Der Literat nämlich ist nicht, er urteilt nur, zum Pfuhl. Der Künstler und Dichter wenigstens wird seiner
— ein lustiges, neidenswertes Los, wie ich oft empfand. Denn tiefsten Natur nach immer ein unveräußerliches Recht auf indi-
wie leicht hat es der bloß Urteilende, immer in den richtigen vidualistisches Ethos haben; er ist der notwendige und gebo-
Kahn zu springen, den Anschluß nie zu versäumen, immer rene Protestant, der einzelne mit seinem Gott. Es kann und
mit der neuesten Jugend Arm in Arm befunden zu werden. darf um seine Einsamkeit, seine ›evangelische Freiheit‹ auch in
Man kann aber ›rückständig‹ sein und doch eben mehr sein, Zeiten straffster sozialer Gebundenheit nicht geschehen sein.
oder um ein Wörtchen hinzuzufügen und den Ton darauf zu Der Literat also, als welcher nichts ist und folglich leicht-
legen, mehr wert sein, als manch ein urteilend an der tête lebigerweise nur zu meinen und zu urteilen braucht, — die-
Marschierender, — einfach, weil man überhaupt etwas ist und ser geläufige Geist ist immer auf dem laufenden darüber, was
also schwerer, langsamer, weniger behend-mitläufig, voran- man ›jetzt muß‹, um zeitgemäß zu sein, — und dann kann
läufig ist als so ein windiges Nichts von literarischer Orien- er es auch. Was muß man denn jetzt? Man muß glauben.
tiertheit . . . Große Menschen, Menschen, die viel waren, die Und an was? An den Glauben! würde die richtige Antwort
durch Bindungen, solide Gewichte ihres Seins gehindert wur- lauten. Denn es handelt sich da in der Tat um eine Art von
den, in ein neues Meinen der Zeit hemmungslos und frisch- l'art pour l'art, um den Glauben als Geste und Ästhetizismus,
fromm-fröhlich sich zu stürzen, haben es schwer gehabt, sich obgleich es gerade sein mesquines Gegenteil, der Zweifel, ist,
mit solchem Neuen auseinanderzusetzen und zum Frieden da- der als ästhetizistisch, als Quelle alles bürgerlichen Ästheti-
mit zu gelangen: Ich führe noch einmal Goethe an und die zismus, Relativismus, Impressionismus, aller ethischen, das
Verstörung und Lähmung, die er durch den Einbruch der Re- heißt hier: politischen Verantwortungslosigkeit und Ruchlo-
volution und der Politik erfuhr. Ein anderes Beispiel ist Pascal,
sigkeit empfunden wird .. . Aber indem wir dies Wort ›poli-
dessen Größe und Faszinationskraft geradezu auf seiner pro-
tisch‹, das regierende Wort der Zeit, wieder einmal ausspre-
blematischen Stellung zwischen den Zeiten, zwischen Mittel-
chen, sprechen wir zugleich auch Inhalt und Gegenstand des
alter und Modernität, Christentum und Aufklärung beruht,
neuen oder erneuerten, für neu aufgefrischten Glaubens aus:
denen beiden er mit Teilen seines Wesens angehörte, ein Kri-
Es ist der Glaube an die Politik, das will sagen: an den Fort-
tiker und ein Religiöser. Solche Not schafft Geist, schafft Tiefe,
schritt, an die Menschheit und ihr Vollkommenwerden; an
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ein Ziel und zwar ein Glücksziel in ihrer Entwicklung; an je- Wahrhaftig, das ist auch ein Glaube, der an den Pessimismus
nen ›sehr schönen und durchaus heiteren‹ Zustand, zu wel- und seine Fruchtbarkeit, und nicht zu leugnen ist, daß die Ge-
chem ihr Weg glänzend aufwärtsführt; an ein Reich Gottes, schichte des Geistes und der Kunst ihm Nährstoff liefert! Doch
welches, anti-metaphysisch, anti-religiös, aus dem Himmel be- sollte der Glaube an die Fruchtbarkeit eines Prinzips noch
trügerischer Pfaffen in die irdische Zukunft, ins Menschliche nicht zum Glauben an dieses selbst bewegen. Das wäre Nütz-
verlegt ist; kurz, es ist der Glaube an die Moral, jene demo- lichkeitsanbetung. »Als ob die Annehmlichkeit den Glauben
kratische Moral, von der Nietzsche's Verachtung sagte, daß sie bestimmen dürfte!« ruft Pascal aus, —und man glaubt Nietzsche
mit allen Kräften das allgemeine grüne Weideglück auf Erden zu hören. »Als ob die Annehmlichkeit, zu glauben, zum Glau-
erstrebe, nämlich Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leich- ben bestimmen dürfte!« — erlauben wir uns hinzuzufügen und
tigkeit des Lebens, und zu guter Letzt, »wenn alles gut gehe«, deuten an, daß wir nicht nur einem Glauben mißtrauen, der
sich auch noch aller Art Hirten und Leithämmel zu entschla- sehr viel Vergnügen macht, sondern auch der Gläubigkeit
gen hoffe. »Gleichheit der Rechte« und »Mitgefühl für alles selbst, weil sie sehr viel Vergnügen macht; daß wir der vo-
Leidende« seien ihre beiden am reichlichsten gepredigten Leh- luptuösen Schönheitsgeste gewisser Gläubiger von heute miß-
ren, und das Leiden selber werde von ihr als etwas genom- trauen . . . »Laßt«, schrieb Johannes Scherr, ein Führer der
men, was man schlechterdings abschaffen müsse. »Daß solche demokratischen Partei Süddeutschlands, im Jahre 1873, »laßt
›Ideen‹«, fügt Nietzsche hinzu, »immer noch modern sein kön-
doch die Illusionäre um ihre fixe Idee von der Mündigkeit der
nen, gibt einen üblen Begriff von dieser Modernität. . .« Wie,
Massen sich drehen, wie drehende Derwische um die eigene
immer noch modern? Sie sind es wieder! Eine Philosophie, die
Nasenspitze sich schwingen. Laßt sie mit ihrer hohlen Schwin-
an Gleichheit der Rechte nicht glaubte und die Abschaffung
delblase, genannt Selbstbestimmung der Völker, kindisch spie-
des Leidens nicht wünschte, hatte diese »Ideen« aus dem Felde
len. Man weiß ja, wie es mit dieser Mündigkeit und Selbstbe-
geschlagen vor zwanzig Jahren; heute behaupten sie wieder
stimmung bestellt war, ist und sein wird. Die Massen mündig?
das Feld — und mit welcher diktatorischen Siegermiene! Zur
Ein knäbischer Traum! Die Völker sich selbst bestimmend?
terroristischen Ausschließlichkeit wie sehr geneigt! Nicht nur
Eine lächerliche Selbstbelügung! Reibt euch doch endlich die
als die Moral und die Wahrheit, auch als den Geist schlechthin
Rousseau'schen Chimären aus den Augen und seht euch die
bezeichnen sie sich; Geist, welcher ihnen widerstrebt und den
Dinge an, wie sie sind. Wo denn haben die Völker bewiesen,
obligatorischen Glauben an die Politik, die Demokratie nicht
daß sie frei zu sein verständen? Ja, auch nur, daß sie frei sein
teilen will, ist falscher Geist, ist verworfen, ist ruchloser Pessi-
mismus . . . Ruchlos? Dies böse Wort lernten wir als junge wollten? Nirgends! Selbst die scheinbar freiheitlichen, freiheit-
Menschen in einer anderen Verbindung kennen. Und später lichsten Epochen erweisen sich bei näherem Zusehen und un-
lasen wir in einem bedeutenden Briefe Overbecks an Treitschke: befangener Untersuchung überall als Täuschungen . .. Nehmt
»Optimismus und Pessimismus sind so alt wie die Menschen- doch einmal für eine Weile Strafgesetzbuch und Polizei aus
welt, ihr Streit ist nicht jünger — worin ich meinerseits schon unserer hochgelobten modernen Zivilisation hinweg und ihr
ein Argument für den Pessimismus sehe —, beide sind gleicher werdet Menschlichkeiten erleben, deren Viehischkeit euch dartun
Ruchlosigkeit fähig, beide haben sich immer fruchtbar erwie- wird, was es mit dem ewigen selbstgefälligen Fortschrittsge-
sen, und ich wenigstens bekenne mich zur Meinung der grö- leier eigentlich auf sich habe.« Das Glaubensbekenntnis eines
ßeren Fruchtbarkeit des Pessimismus.« der Literatur und der Politik zugewandten Geistes! Aber sollte
es nicht Anständigkeit voraus haben vor dem Fortschritts-
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welche dem Willen, der Entschlossenheit, der geistespoliti-
geleier der Selbstgefälligen? Der politische Menschheitsglaube,
schen Tat im Dienste des Menschheitsfortschrittes feindlich und
der Glaube an den ›sehr schönen und durchaus heiteren‹ Zu-
schädlich sind, — ich führe noch einmal ihre kritisch-gelehrten,
stand ist eine Unanständigkeit heute und nichts anderes. Die
Menschheit war vergleichsweise jung im Jahre 1790, sie konnte aber nachgerade recht populären Namen an: man bezeichnet
hoffen damals, das ›Glück‹ zu verwirklichen, sie konnte glau- sie als Ästhetizismus, Relativismus, Psychologismus, Impres-
ben an die Politik. Dieser Glaube ist heute unmöglich. Die sionismus, und sie alle, wie gesagt, die im Grunde dasselbe
Politik ist durchprobiert in allen ihren Formen, und sie ist kom- bedeuten, nämlich den Zweifel, sind dem Glauben entgegen-
promittiert bis in die Knochen. Der Glaube an sie ist Selbstbe- gesetzt, sind quietistische Hemmungen des Willens, der Ent-
törung. Der Glaube an die Demokratie ist eine geistige Unter- schlossenheit, der politischen Tat, welche ganz eigentlich als
kunft um jeden Preis, ist Obskurantismus; — wenn er nicht, die natürliche Funktion des Geistes anzusehen man sich ge-
wie der Schwabe es meinte, Selbstgefälligkeit ist: und zwar wöhnt hat oder gewöhnen soll, während man vordem Geist
nicht sowohl im unpersönlichen Sinn, im Sinne der Mensch- und Tat, Erkenntnis und Tat als etwas sehr Verschiedenes und
heit, als vielmehr und in erster Linie persönliche Selbstgefäl- schlecht Verträgliches auseinanderhalten wollte und durfte.
ligkeit, — ein Grund, sich tugendhafter und besser zu dünken Der jüngere Nietzsche noch spricht deutlich in diesem Sinne.
als andere. ›Maß‹ überschreibt er den Aphorismus, der lautet: »Die
volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also die
Was aber heißt denn das überhaupt: an etwas glauben?
Freigeisterei zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht
Heißt es, an seine Verwirklichung glauben? Oder heißt es,
im Handeln mäßig: denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht
an die Wünschbarkeit dieser Verwirklichung glauben? Das,
scheint mir, ist ein Unterschied, und ich zweifle, ob mit dem viel von der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung gei-
ersteren dem neuen Gaubensimperativ Genüge geschieht. Was stiger Zwecke, und zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und
zum Beispiel die Demokratie in Deutschland betrifft, so glaube Gefährliche aller plötzlichen Veränderungen.« Das ist der Geist
ich durchaus an ihre Verwirklichung: darin eben besteht mein als Anti-Revolutionär. Heute erklärt er sich mit der Revolu-
Pessimismus. Denn die Demokratie ist es, und nicht ihre Ver- tion, der politischen Revolution nicht nur solidarisch, sondern
wirklichung, an die ich nicht glaube. identisch und geißelt es als bürgerlich und erbärmlich, das
Halbnützliche und Gefährliche plötzlicher Veränderungen zwei-
felnd aufzuzeigen.
Aber lassen wir vorderhand alle Inhalte des Glaubens bei-
seite, sprechen wir vom Glauben selbst und an sich, oder viel- Wir haben dem Zweifel im Laufe dieser Betrachtungen wie-
mehr: sprechen wir vor allen Dingen von seinem Gegenteil, derholt jenes infamierende Beiwort zugeteilt, mit dem es heute
dem Zweifel. Allem Anschein nach hat nämlich der Zweifel in literarisch-kritischer Sphäre organisch verbunden ist: das
im Laufe der Zeit seine geistespolitische Rolle gewechselt. Einst- Beiwort ›bürgerlich‹. Und wirklich ist die Zusammengehörig-
mals, bei Anbruch der ›Neuen Zeit‹, zur Zeit Petrarca's, war keit von Zweifel und Bürgerlichkeit ja eine geistesgeschicht-
er das fortschrittliche Prinzip, welches den Glauben zersetzte, liche Tatsache. Der Zweifel steht am Ausgange des kulturell
die Autorität in Frage stellte, das Individuum emanzipierte, geschlossenen und geborgenen, autoritär christlichen Mittel-
die Grundlagen der mittelalterlich-europäischen Einheitskul- alters; er steht am Eingange der Neuen Zeit, der Zeit der Auf-
tur zerstörte. Wie heute die Dinge liegen, ist der Zweifel zum klärung, die ein humanes Ideal, den anti-fanatischen und
Generalnenner all jener überlebten Geisteszustände geworden, duldsamen, aber auch nicht mehr geistig geborgenen und ge-

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bundenen, sondern gelösten und individualistisch vereinzelten dern irgendein Literatenjüngling und Zeitschriftenmitarbeiter
Menschen konzipierte. Dieser lockere, tolerante, zweiflerische mit Hornbrille und schlechtem Teint. Doch kommt es mir auf
und vereinzelte Mensch ist der Bürger. Hat man niemals von seine Persönlichkeit weniger als darauf an, woher er kommt
der Verbürgerlichung der Kunst‹ gehört? Aber alle Zeit- und woher er ›es hat‹, — denn aus sich selbst hat er zweifel-
schriften reden davon! Die Verbürgerlichung der Kunst, das los gar nichts und den Mut zu gar nichts. Die Gotik und den
heißt ihre Individualisierung und Loslösung aus einem ge- Fanatismus wieder auszurufen, dazu mußte ihm Mut gemacht,
sicherten Kultur- und Glaubensverbande, vollzog sich zur Zeit das mußte ihm »wieder möglich« gemacht werden, sonst hätte
der Renaissance; ja, wenn die Revolution es war, die dem er bestimmt gefürchtet, damit ausgelacht zu werden; und wer
Bürger in wirtschaftlicher Hinsicht zur Macht verhalf, — zur es ihm möglich machte, das glaube ich zu sehen. »Das Reich
künstlerischen und geistigen Herrschaft gelangte er schon der Toleranz ist durch Wertentscheidungen ersten Ranges zu
gleich bei Anbruch der Neuen Zeit, der Modernität, der Re- einer bloßen Feigheit und Charakterschwäche heruntergesetzt.
naissance, der Aufklärung des siebzehnten Jahrhunderts. Da- Christ sein — um nur eine Konsequenz zu nennen — wird von
mals war es, daß Kunst und Geist sich verbürgerlichten, und da an unanständig.« Der steile Satz steht in einem Briefe
zwar vermöge der Kritik, der Skepsis, des Zweifels, dieses Nietzsche's an Deussen aus dem Jahre 1888, — und man ver-
fortschrittlichen Prinzips von einst. Von einst! Denn das ist zeihe mir, daß ich überall Nietzsche sehe und nur ihn; daß ich,
vorbei: Jetzt, eben jetzt hat alles sich gewendet, und die halb- obgleich seine geistig-politische Überwindung durch die Demo-
tausendjährige Epoche der bürgerlichen Lockerkeit ist zu Ende kratie heute an jeder Straßenecke klebt, die Spur seines Lebens
gegangen: die Zeitschriften sagen es, — die Zeitschriften haben überall auch heute noch finde. Nun, jene »Wertentscheidungen
sich, wie der alte Goethe, gewöhnt, »in Jahrtausenden zu le- ersten Ranges«, von denen Nietzsche sprach und deren Tri-
ben«. Wißt ihr, wer angekommen ist? Der gotische Mensch! umph über das Reich der Toleranz er verkündete, sie waren
Habt ihr noch nicht vom gotischen Menschen gehört? Dann freilich weit entfernt, zugunsten des Fortschritts, der demo-
seid ihr schlecht auf dem laufenden. Der gotische Mensch ist kratischen Menschlichkeit und des sozialen Eudämonismus zu
der Mensch der neuen Intoleranz, der neuen Antihumanität
lauten. Aber die Gebärde ist es, also das Ästhetische, was
des Geistes, der neuen Geschlossenheit und Entschlossenheit,
Schule macht, nicht das Moralische, die Meinung, — und das
des Glaubens an den Glauben; er ist der nicht mehr bürger-
sollte den Fanatikern der Meinung zu denken geben. Die Geste
liche, der fanatische Mensch. Man begreift, daß das etwas für
des Fanatismus, welche zweifellos eine Verbindung zwischen
die Zeitschriften ist. Welche Sensation, daß die Lamprecht'sche
dem späten Nietzsche und dem Zeitalter der Kreuzzüge knüpft,
Reizsamkeit, die eben noch für so elegant galt, auf einmal die
wurde übernommen, und Nietzsche erneuerte durch das ex-
verächtlichste, mesquinste und bürgerlichste Sache auf Erden
zentrische Schauspiel seiner Spätzeit eine formale — also eine
ist, daß man wetteifern darf und muß, sie als Seelenlosigkeit,
ästhetische — Möglichkeit: eben die der fanatischen Haltung,
Ästhetizismus, Unethik, verbrecherische Glaubenslosigkeit in
— eine Form, die sich in unsern Tagen gefüllt hat, womit? Aber
den Grund zu verdammen, — während doch eben diese Reiz-
es sollte vom Inhalt des Glaubens noch nicht die Rede sein.
samkeit es ist, die den ›gotischen Menschen‹, wie Fiorenza
den brüllenden Mönch, mit femininem Entzücken willkom-
men heißt! Nietzsche, um noch ein wenig bei ihm zu verweilen, war nicht
immer der Mann der fanatischen Groteskgebärde. Selbst als
Ich fürchte, der gotische Mensch ist kein Savonarola, son- Zarathustra noch forderte er von seinen Freunden (die er nicht
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Jünger nannte) nicht sowohl Glauben als Mißtrauen. Es gab Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Punkte
aber sogar eine Zeit — es war die, welche der Trennung von korrigiert haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung — die
Wagner und Schopenhauer folgte, die Zeit seiner eigentlichen Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire — von
Freigeisterei, die Zeit von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ —, neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaktion einen Fort-
da er eine Tugend von ganzer Seele liebte: die Gerechtigkeit, schritt gemacht.«
diese moralische Gegenmacht des Fanatismus, die er zu jener Petrarca, Erasmus, Voltaire, — die Welt der Humanität tut
Zeit als eine Gattung der Genialität empfand. Er könne sich sich auf, das Reich des Fanatismus schließt sich beim Klang
nicht entschließen, sagte er damals, diese Art der Genialität dieser Namen. Petrarca war ein Melancholiker, ein Künstler,
niedriger zu schätzen als irgendeine philosophische, politische ein Genießer der Gegensätze. Der deutsche Humanist, dessen
oder künstlerische Genialität. »Ihre Art ist es, mit herzlichem edelbürgerliches Bildnis von Holbein ich so liebe, verhielt sich
Unwillen allem aus dem Wege zu gehen, was das Urteil über zur Reformation, wie Goethe sich zur Revolution verhielt:
die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin ruhige Bildung werde durch das Luthertum zurückgedrängt,
der Überzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes das war der Vorwurf, den er ihm machte, wie Goethe dem
oder Totes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben — und Franztum. Und daß Voltaire, der Voltaire, dem Nietzsche sein
dazu muß sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in Buch widmete, das Ecrasez l'infâme nur gegen das Christen-
das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge tum und nicht gegen jede Art von Fanatismus und Scheiter-
herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder haufen-Unduldsamkeit sollte gerichtet haben, kann ich nicht
kurzsichtigen ›Überzeugung‹ (wie Männer sie nennen: — bei glauben. Nicht Voltaire war der Mann der Revolution; Rous-
Weibern heißt sie ›Glaube‹), geben, was der Überzeugung ist— seau war es . ..
um der Wahrheit willen.« Es ist eine herrliche, beglückende, vom Geiste wahrer Auf-
Er hat diese Tugend geübt, er hat diese Genialität bewährt: klärung, Humanität und Freiheit erfüllte Kapitelreihe, die-
in dem wundervollen Aphorismus zum Beispiel, der ›Reak- jenige gegen das Ende des ersten Bandes von ›Menschliches,
tion als Fortschritt‹ überschrieben ist und in dem er dem gro- Allzumenschliches‹, worin Nietzsche die Gerechtigkeit feiert:
ßen Lehrer seiner Jugend, Schopenhauer, gerecht wird. Es sei »jene Tugend der vorsichtigen Enthaltung, jene weise Mäßi-
gewiß einer der größten und ganz unschätzbaren Vorteile, sagt gung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist
er, die wir aus Schopenhauer gewönnen, daß er unsere Emp- als im Gebiet des theoretischen Lebens und welche zum Bei-
findung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der spiel Goethe im Antonio dargestellt hat.« Noch immer ist er
Welt und Menschen zurückzwinge, zu welchen sonst uns so Schopenhauer-Schüler genug, um den Willen als allzu hör-
leicht kein Pfad führen würde. »Der Gewinn für die Historie baren Souffleur des Intellekts zu mißbilligen, und er sagt es
und die Gerechtigkeit ist sehr groß: ich glaube, daß es jetzt mit Worten, die, wie alles bei ihm, die ganze Lebendigkeit des
niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauers Erlebnisses besitzen: daß jeder, der in dem Glauben hängen-
Beihilfe dem Christentum und seinen asiatischen Verwandten bleibe, in dessen Netz er sich zuerst verfing, unter allen Um-
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Bo- ständen, eben wegen dieser Unwandelbarkeit, ein Vertreter
den des noch vorhandenen Christentums aus unmöglich ist. zurückgebliebener Kulturen sei. Ein solcher sei gemäß diesem
Erst nach diesem großen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nach- Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetze)
dem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der hart, unverständlich, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Ver-
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dächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greife, seine schen, der künstlerischen. Auch Nietzsche braucht ihn zu wie-
Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen könne, daß derholten Malen, und besonders sein Gleichnis vom sorgsamen
es andere Meinungen geben müsse; er sei, in solchem Betracht, Herumgehen um die Dinge legt ihn nahe: denn es wird damit
vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewor- an die Plastizität, die Dreidimensionalität der Dinge erinnert.
denen Kulturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig Bildung lautet dieser Name, und das anti-fanatische, anti-mit-
anreize, ihm Widerpart zu halten . . . Solchen Geistern — telalterliche, das Renaissance- und Humanisten-Ideal, das er
Nietzsche nennt sie »unwissenschaftlich« — genüge es, über meint, ist mit der geistigen Heraufkunft des Bürgers eng ver-
eine Sache überhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann knüpft, — was einen neuen oder abermaligen Hinweis auf die
seien sie Feuer und Flamme für dieselbe und meinten, damit Beziehungen von Bürgerlichkeit und Kunst bedeutet. Denn
sei es abgetan. Eine Meinung haben heiße bei ihnen schon: da- ›Bildung‹ meint etwas nicht sowohl Passives als Aktives; ein
für sich fanatisieren und sie als Überzeugung fürderhin sich Mensch der Bildung ist nicht nur ein Mensch, den sein Welt-
ans Herz legen. »Sie erhitzen sich«, sagt er, »bei einer uner- erlebnis bildbar fand und der dadurch gebildet und duldsam
klärten Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer Er- wurde, er ist zugleich ein Mensch des plastischen Sinnes, und
klärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, namentlich auf wenn zur geistigen Bildung die sinnliche Einbildungskraft
dem Gebiete der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen kommt, so ist er ein Künstler. Wollte man die Kunst als › b i l -
ergeben.« Wer aber jetzt noch, in der Art der Reformations- dende Gerechtigkeit‹ bestimmen, so würde sich das vielleicht
menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit Wutausbrü- nicht auf jeden Fall von Kunst als zutreffend erweisen, doch
chen bekämpfe und niederwerfe, verrate deutlich, daß er seine auf die größten Fälle, meine ich, würde es zutreffen, und es
Gegner verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten ge- wäre eine schöne und reine Bestimmung der Kunst, mit der
lebt hätte, und daß er zu allen Mitteln der Inquisition seine man ihr hohe Ehre erwiese.
Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner der Re-
formation gelebt hätte. Um der Kunst im Sinne dieser Bestimmung zu dienen, dazu
So, wie gesagt, dachte Nietzsche einmal von fanatischen gehört freilich auch ein Glaube, — der an die Kunst nämlich;
Überzeugungen, so sprach er von der Gerechtigkeit und ihrem ja, etwas wie Fanatismus gehört dazu, sich äußernd in jener
Todfeinde, dem ›gotischen Menschen‹. Wirklich, er hatte we- Opfersucht, die Turgenjew in der Gestalt des albernen West-
nigstens damals vom Goethe'schen Menschen mehr als vom lers bewährte: Turgenjew, der Goethe-Schüler und humani-
gotischen; denn was er der Gerechtigkeit zärtlich nachsagt: daß stische Künstler, der über Freiheit und Bildung so überzeu-
sie jedem Wirklichen oder Gedachten das Seine gebe und es gungsvolle und überzeugende Dinge gesagt hat. Der größte
rein zu erkennen trachte; daß sie jedes Ding in das beste Licht Schmerz seines Lebens war Tolstois Abfall von der Kunst, —
stelle und mit sorgsamem Auge um dasselbe herumgehe, — ist ein Schmerz, naiv wie sein Glaube an die Göttlichkeit frei bil-
es nicht nur eine andere Ausprägung des Goethe'schen Grund- dender Kraft, fassungslos vor gläubiger Naivität angesichts
satzes, daß man bei der Betrachtung eines Dinges es vor allem der Tatsache, daß der große Schöpfer und Plastiker »die lite-
für sich gelten lassen und sich vor aller Vergewaltigung hüten rarische Tätigkeit aufgegeben habe, pour écrire de pareilles
müsse? Das Gegenteil des gotischen Fanatikerglaubens hat billevesées«. Es waren Tolstois theologische Schriften gemeint.
noch einen anderen Namen, der nicht wie das Wort ›Gerech- Und verzweifelt fordert Turgenjew die Gräfin A. A. Tolstoi,
Leo's Tante, die es in ihren Memoiren erzählt, zu der Beob-
tigkeit‹ der moralischen Welt entstammt, sondern der Goethe-
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achtung auf, »daß auch sein Stil jetzt einem unergründlichen rauch geduftet hatte? Daß er schon über ›Krieg und Frieden‹
Sumpfe gleiche«. geschrieben hatte (im Nachwort zu ›Väter und Söhne‹): »Das
Die Gräfin war eine positiv rechtgläubige Frau und nahm betrübendste Beispiel dieses Mangels an wahrer Freiheit, ent-
schweres Ärgernis an der anti-kirchlichen Gottesforschung springend dem Mangel an wahrer Bildung, bietet uns das
ihres großen Neffen. Sie fand jedoch, daß er suchte, litt und letzte Werk des Grafen Leo Tolstoi, welches trotzdem kraft
sich quälte, während sie den Autor von ›Väter und Söhne‹ seiner schöpferischen poetischen Bedeutung wohl das vorzüg-
auf seinem ›verneinenden‹ — auch sie hätte sagen können: lichste ist, was unsere Literatur seit dem Jahre 1840 geschaf-
nihilistischen — Standpunkt beinahe mit Selbstgefälligkeit ver- fen hat —«? — Ich habe in diesen Wochen das Riesenwerk wie-
harren sah. Sie sagte zu ihm: »Es ist seltsam. Seit vielen Jahren der gelesen, — beglückt und erschüttert von seiner schöpfe-
haben wir uns nicht gesehen, und da finde ich Sie wieder auf rischen Gewalt und voller Abneigung gegen alles, was Idee,
demselben Punkte, — avec ce fond de sohle mouvant qui m'a was Geschichtsphilosophie darin ist: gegen diese christlich-de-
toujours frappé dans vos œuvres, quelque charmantes qu'elles mokratische Hartstirnigkeit, diese radikale und mushikhafte
soient. Ich hoffte, daß die Zeit Sie auf einen festeren Boden Negierung des Helden, des großen Menschen. Hier ist die Kluft
und Fremdheit zwischen deutschem und national russischem
gestellt haben würde ...« Sable mouvant? Auf dem Totenbett
Geist, hier beginnt der Widerstand eines, der in der Heimat
schrieb Turgenjew dem großen entfremdeten Freund, dem so-
Goethe's und Nietzsche's atmet. Was mir aber nicht entgeht,
zial-religiösen Propheten Leo Tolstoi einen Brief, ein letztes,
während es einem Turgenjew scheinbar entging, das ist die
beschwörendes Wort, ergreifend und tiefkomisch auch wieder
Einheit der Kraft, die in ›Krieg und Frieden‹ wie in Tolstois
in seiner unerschütterlichen Naivität und Gläubigkeit. »Mein
ganzem epischen Gigantenwerk waltet: es ist dies, daß die
Freund!« schrieb er. »Großer Schriftsteller des russischen Lan-
»schöpferische poetische Bedeutung« des Werkes, die Turgen-
des! Hören Sie die Bitte eines Sterbenden! Kehren Sie zur Lite-
jew fast widerwillig bewunderte, eines Ursprungs ist mit sei-
ratur zurück!« War das »sable mouvant«? Ein Glaube, der ner geistigen Bäuerlichkeit und Enge; daß diese bornierte
angesichts des ragenden Todes und der Ewigkeit standhält, — Christlichkeit dieselbe moralische Urkraft ist, welche, ohne zu
viel mehr! der letzte geistige und körperliche Kräfte zu dem keuchen, künstlerische Lasten trägt, unter denen Turgenjews
Versuche nutzt, Abtrünnige zu retten: darf man ihm den Na- Kultur zerknickt wäre, — jene plastische Leidenskraft, jene mo-
men des Glaubens, der Religiosität vorenthalten? Ästhetizis- ralistische Kunstgewalt, die Tolstoi zu einem Bruder Michel-
mus als Religiosität! Das ist ein Paradoxon. Aber Turgenjews angelo's und Richard Wagners macht. Sie ist wahrhaftig das
letzter Brief erweist seine Wahrheit und Lebenskraft. Gegenteil alles Ästhetizismus, — aber namentlich jenes letzten
Verwunderlich, ja als psychologische Unzulänglichkeit wirkt sozial geschminkten und philanthropisch vermummten, welcher
bei alldem nur eines: die Fassungslosigkeit Turgenjews über sich mit dem Leben und der Liebe in Verbindung zu setzen
Tolstois spätere Entwicklung, welche doch organisch notwen- hofft, indem er sich auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und
dig und für den Sehenden schon in frühen Werken klar vorge- das Glück der Menschheit wirft. Das Fazit von Pierre Besu-
zeichnet war. Nechljudow in ›Auferstehung‹, das ist Lewin in chows Leben, dem Leben eines Gottsuchers, — ich will es aus-
›Anna Karenina‹, das ist schon Pierre Besuchow in ›Krieg und ziehen und zu Trost und Stärkung hier eintragen:
Frieden‹, und der wahre Name dieser Charaktereinheit lautet
Leo Tolstoi. Hatte Turgenjew vergessen, daß schon die At- »Er hatte erkannt, daß es ebensowenig in der Welt einen
mosphäre von ›Anna Karenina‹ ihm nach Moskauer Weih- Zustand gäbe, in dem der Mensch glücklich und völlig frei sei,
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wie einen Zustand, in dem er unglücklich und unfrei wäre. Er machte, maß er nicht sich an dem großen Landsmann, sondern
hatte erkannt, daß es eine Grenze des Leidens und eine Grenze er sprach als Schüler eines Größeren, der auch größer als der
der Freiheit gäbe und daß diese Grenze sehr nahe sei; daß Dichter von »Krieg und Frieden‹ war, als Schüler Goethe's und
der Mensch, der daran leidet, daß in sein rosa Bett ein Blätt- als Repräsentant der Goethe'schen Bildungswelt, in der er at-
chen hineingeflogen ist, ganz ebenso leide, wie er jetzt leidet, mete und an die er glaubte. Denn Turgenjew, der Freund fran-
wenn er auf dem bloßen feuchten Boden einschlief und die eine zösischer Schriftsteller und als Artist französisierender Slawe,
Seite seines Körpers kalt, die andere warm wurde; daß er war seiner geistigen Erziehung nach ein Deutscher. ›Bildung‹
ebenso gelitten, als er vorzeiten seine engen Ballschuhe auf ist ein spezifisch deutscher Begriff; er stammt von Goethe, von
die Füße zog, wie er jetzt leidet, wo er barfuß ging und seine ihm hat er den plastisch-künstlerischen Charakter, den Sinn
Füße mit Schorf bedeckt waren. Er erkannte, daß er nicht freier
der Freiheit, Kultur und Lebensandacht erhalten, in welchem
gewesen war damals, als er glaubte, nach eigenem Willen
Turgenjew das Wort gebrauchte, durch ihn ist dieser Begriff
seine Frau geheiratet zu haben, als jetzt, wo man ihn über
in Deutschland zum erzieherischen Prinzip erhoben worden
Nacht in den Stall einschloß« . . . »Was ihn früher gequält
wie bei keinem anderen Volk.
hatte, was er beständig gesucht hatte, den Zweck des Lebens,
Nun ist Bildung als plastischer Sinn gewiß etwas anderes
war jetzt für ihn nicht vorhanden. Dieser vermeintliche Zweck
als Skepsis, — als welche nur eine Erscheinungsform des In-
des Lebens war jetzt nicht etwa zufällig nur im Augenblick
tellektualismus bedeutet, und zwar die matteste. Unzweifel-
nicht für ihn vorhanden, er fühlte vielmehr, daß es keinen
haft aber schließt die Idee der Bildung in sich und zeitigt sie
gibt und geben kann, und dieses Fehlen des Zwecks gab ihm
ein gewisses abschätziges und widerwilliges Verhalten zu
das volle freudige Bewußtsein der Freiheit, das jetzt sein Glück
allem flächigen Meinen und Sprechen, ein Ungenügen und Un-
ausmachte. Er konnte keinen Zweck haben, denn er hatte jetzt
den Glauben—nicht den Glauben an irgendwelche Grundsätze, behagen an aller Einseitigkeit, welche als unfrei, unfromm,
Worte oder Ideen, sondern den Glauben an einen lebendigen, unzulänglich und lebenswidrig mit einer gewissen Qual emp-
stets empfundenen Gott. Früher hatte er Ihn in den Zielen ge- funden wird. Diese Hemmung zu paralysieren gibt es nur ein
sucht, die er sich steckte; dieses Suchen der Ziele war nur ein Mittel: die Einseitigkeit des Redens und Meinens für den
Suchen Gottes.« Augenblick frei zu wollen und bewußt, ja trotzig zu kultivie-
ren, wobei sogar der apodiktische Tonfall und die Gebärde des
Nein, der wahre Glaube ist keine Doktrin und keine ver- Fanatismus erreicht werden kann, während es im Grund doch
stockte und rednerische Rechthaberei. Es ist nicht der Glaube immer an dem Ernste eigentlicher Verdummung fehlt, der Ge-
an irgendwelche Grundsätze, Worte und Ideen wie Freiheit, schmack jenes Körnchens Salzes von der Zunge nicht ver-
Gleichheit, Demokratie, Zivilisation und Fortschritt. Es ist der schwindet und alles von einem artistischen Spiel nur zwei
Glaube an Gott. Was aber ist Gott? Ist er nicht die Allseitig- Schritt entfernt bleibt. Von diesem Entschluß, diesem freiwil-
keit, das plastische Prinzip, die allwissende Gerechtigkeit, die ligen Verzicht auf plastische Freiheit ist die Rede, wenn Goethe
umfassende Liebe? Der Glaube an Gott ist der Glaube an die erklärt: »Der Mensch, indem er spricht, muß für den Augen-
Liebe, an das Leben und an die Kunst. blick einseitig werden«, — wobei es freilich höchst zweifelhaft
bleibt, ob das zugunsten der Einseitigkeit oder zuungunsten des
Als Turgenjew Tolstois mächtiges Werk kritisierte und sei- Sprechens gesagt ist. Auf jeden Fall handelt es sich da um ein
nem Schöpfer »Mangel an wahrer Bildung« zum Vorwurf Sprechen, welches den Widerspruch als überflüssig, taktlos und
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spielverderberisch empfindet und sich verbittet, wie es ausge- als sei diese ungeduldige und fast gequälte Forderung, zusam-
drückt ist in den berühmten Zeilen: men mit diesem Bekenntnis, eine höchst deutsche Äußerung
und als würfe sie ein Licht auf die Wechselbeziehungen zwi-
Ihr müßt mich nicht durch Widerspruch verwirren; schen Bildung und Problematik. Sind die Deutschen das eigent-
Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren. lich problematische Volk, weil sie das gebildete sind? Es steht
Ich glaube, daß solche Aussagen Goethe's, Aussagen eines frei, die Frage auch umgekehrt zu stellen. Und man kann in
großen Plastikers und Naturfrommen, tief in das Bewußtsein diesem Kriege mit Leib und Seele auf deutscher Seite sein,
seines Volkes eingedrungen sind und sich darin befestigt ha- kann den deutschen Sieg ersehnen, weil man das eigene Leben,
ben: eines Volkes, das ohnehin zu musikalisch-kontrapunkti- die eigene Ehre mit dem Leben und der Ehre Deutschlands un-
schem Erlebnis der Welt neigte und das durch Goethe ›gebil- trennbar verbunden fühlt, — und dennoch in seiner stillsten
det‹, das heißt: zum plastischen Schauen und also zur Skepsis Stunde der Meinung zuneigen, daß das gebildete, das wissende
gegen das bloße Meinen erzogen wurde. Ich glaube, daß unter und problematische Volk zum europäischen Ferment bestimmt
diesem so erzogenen Volk die Schätzung der Kunst, welche ist und nicht zur Herrschaft.
eigentlich es ist, was dem Sprichwort zufolge ›Gunst bringt«,
im Grunde unendlich höher ist als die Schätzung des Redens Wir haben nicht aufgehört, vom Glauben zu sprechen, vom
und Meinens; ja ich glaube, daß alles Reden und Meinen hier Glauben an den Glauben, vom Glauben an sich, welcher, seit-
unter dem Druck einer überwältigenden Geringschätzung und dem die Moral »wieder möglich« geworden, von jenem frisch
Undankbarkeit geschieht, die es wahrhaft zum Opfer macht, ausgebildeten Virtuosen auf der Moraltrompete, dem Geistes-
sich damit einzulassen. Ich glaube darum, daß alles politische politiker und Anti-Ästheten, als das verkündigt wird, das not
Palaver dieses Volk in tiefster Seele widert, und glaube eben tue, was Vorbedingung aller Größe und Schöpferkraft sei. Mit
darum, daß das zivilisatorische Unternehmen, in diesem Volke der Moral also ist auch die »prinzipielle Fälschung der großen
eine demokratische, das heißt: literarisch-politische Atmosphäre Menschen, der großen Schaffenden, der großen Zeiten« wieder
zu schaffen, zum Scheitern verurteilt ist. Denn auch darüber möglich geworden, die Nietzsche's Wahrheitsethos der Moral
kann kein Zweifel sein, daß Bildung, »ruhige« Bildung, wie zum Vorwurf machte. »Man will«, sagte er, »daß der Glaube
Goethe sie dem Franztum,das heißt: der Politik entgegenstellt, das Auszeichnende der Großen ist: Aber die Unbedenklichkeit,
quietistisch stimmt und daß das tief unpolitische, antiradikale die Skepsis, die ›Unmoralität‹, die Erlaubnis, sich eines Glau-
und antirevolutionäre Wesen der Deutschen zusammenhängt bens entschlagen zu können, gehört zur Größe (Cäsar, Fried-
mit der bei ihnen errichteten Oberherrschaft der Bildungsidee. rich der Große, Napoleon; aber auch Homer, Aristophanes,
Noch einem weiteren Gedanken aber sei nicht ausgewichen. Lionardo, Goethe).« Und er nennt Goethen in diesem Zusam-
Ich sagte mir früher einmal, das Problematische sei eigentlich menhang ein zweites Mal, indem er aufzählt: »Händel, Leib-
die Sphäre der Kunst und des Künstlers, und vielleicht er- niz, Goethe, Bismarck — für die deutsche starke Art charakte-
innerte ich mich dabei der merkwürdig strengen und unwir- ristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener
schen Forderung Goethe's: »Wenn ich die Meinung eines an- geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und
deren anhören soll« (sie auch nur anhören soll, nicht etwa sie Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und
annehmen!), »so muß sie positiv ausgesprochen werden; Pro- sich selber die Freiheit vorbehält... Der große Mensch ist not-
blematisches hob' ich in mir selbst genug.« Mir will scheinen, wendig Skeptiker (womit nicht gesagt ist, daß er es scheinen

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müßte) . . . Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Eine verlorene Seele gewiß, die findet, daß die Erscheinung
Stärke seines Willens . . . Das Bedürfnis nach Glauben, nach Zola's, und sie am besten, von zwei Dingen eines beweist:
irgend etwas Unbedingtem in Ja und Nein ist ein Beweis der entweder, daß die Kunst durch die Glaubenstugend bis zur
Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche. Der Mensch des ohnmächtigen Langweiligkeit und Leblosigkeit herunter-
Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch. kommt — oder daß die Glaubenstugend nur eine Ausdrucks-
Hieraus ergibt sich, daß ›Freiheit des Geistes«, das heißt Un- form und Begleiterscheinung des künstlerischen Marasmus ist.
glaube als Instinkt, Vorbedingung der Größe ist.« Sagt man nicht, daß Sänger, mit deren Stimme es abwärts
So sprach vor dreißig Jahren der Wille zur harten Wahrheit, geht, ihre Wirkung durch ein übertriebenes Charakterspiel zu
ein strenger und männlicher Pessimismus, dessen Ehre es war, retten suchen? Hatte es möglicherweise diese Bewandtnis mit
keinen Schwindel mit großen Worten und Tugenden zu trei- dem demokratischen Predigertum der Zola'schen Spätzeit?
ben. Die Reaktion ist kräftig: — jene obskurantistische Re- Fécondité, Travail, Vérite, Justice, — gewiß doch! Nur, daß so-
aktion, die wir als ›Rehabilitierung der Tugend‹ kennen- zialethische Gestikulation für eine arg ermüdete Stimme recht
gelernt haben. Die Tugend, der Glaube, sie sind nicht allein mangelhaft entschädigt; nur, daß man, aufrichtig gesprochen,
Vorbedingung der aktiven und historischen Größe: auch das das Zeug nicht lesen kann. Es ist wahr, Zola hat niemals,
Talent, die Kunst muß verdorren, wo sie fehlen, das heißt: auch nicht, bevor er sich auf die Politik geworfen, zu den wahr-
wo es an Willen, an tatkräftiger Gesinnungstreue, mit einem haft großen Erzählern gehört. Ihn mit Tolstoi zu vergleichen
Worte an Politik gebricht. So will es die entschlossene Men- ist eine Grausamkeit, wenn auch eine lehrreiche. Der Unter-
schenliebe. Die Kunst, wo sie reinen und majestätisch-naiven schied zwischen epischer Naturkraft und ehrgeizig aufgepump-
Mundes spricht, urteilt anders. Vor neunzig Jahren wunderte ter Übertriebenheit springt in die Augen; und während die
Eckermann sich im Gespräch, wie doch die großen kriegeri- Emma des Ästheten Flaubert, während die moskowitische
schen Ereignisse der jüngsten Zeit eigentlich viel Geist hätten Anna unsterbliche Frauengestalten sind, bleibt Nana ein keu-
aufregen müssen. Goethe antwortete: »Mehr Wollen haben chend ins Politisch-Symbolische erhöhter Fleischklumpen.
sie aufgeregt als Geist, und mehr politischen Geist als künst- Immerhin spricht man von Zola's starken Tagen, wenn man
lerischen, und alle Naivetät und Sinnlichkeit ist dagegen gänz- von Nana spricht, von Tagen, da er Künstler war in dem Grade,
lich verlorengegangen.« So Goethe. Aber obgleich es scheinen daß er außerdem überhaupt nichts sein wollte, konnte und
möchte, als hätten seine Worte im Jahre 1917 eine gewisse durfte, es sei denn eben als Künstler. Als Künstler zum Bei-
aktuelle Kraft, — nicht er, der Ästhet, ist Herr, Held und spiel war er damals demokratisch, war es in demselben Sinn,
Führer der Zeit. War er etwa ein Kämpfer? Hat er nicht auch in dem auch der ›boche‹ Richard Wagner, ja schon Beethoven
über Freiheit, Gleichheit, Fortschritt, Radikalismus die nichts- und im Grunde alle Kunst des neunzehnten Jahrhunderts es
würdigsten Dinge gemeint? Ist er nicht schuld an allen Greueln, war. Aber das Unglück war da, als er seine künstlerisch-demo-
welche die ruchlose Trennung von Literatur und Politik in kratische Massenhaftigkeit zum politischen Selbstbewußtsein
Deutschland gezeitigt hat? Held, Herr und Führer sei uns ein ›erhob‹, sie tugendhaft-agitatorisch auszudeuten begann. Es
anderer, ein Kämpfer, ein Menschenfreund, ein Mann des zeigte sich, was für einen Künstler dabei herauskommt, wenn
Glaubens und der Tugend, ein Lehrer der Demokratie, — es Sein zum Meinen und Lehren wird. Fécondité, Travail, Vérite,
sei Emile Zola, der literarische Held des Dreyfus-Prozesses, Justice kommen dabei heraus. Aber lesen kann man es nicht.
der Künder der quatre Évangiles . . . Es gibt Fälle, die annähernd umgekehrt liegen; Fälle, in

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denen der Weg vom Glauben zum Unglauben, zum Pessimis- Die Vernunft-Revolte gilt ihm als einzig menschenwürdiger
mus oder zur Ironie führt — und in denen das, aller Moral Zustand; die absolute Freiheit als orgiastisch-nihilistisches
entgegen, schlechterdings keinen Abstieg bedeutet. Richard Ziel.
Wagner hatte als Schüler Feuerbachs einer humanen Religion Eine schöne Verwirrung! Der gotische Mensch als Zivilisa-
angehangen, hatte sogar mit politischer Revolution zu tun ge- tionsliterat. Der Glaube an den Glauben als Glaube an den
habt und ›den Menschen‹ geglaubt. Dann, unter Schopen- Unglauben, an die ›Freiheit‹. Der Sinn der europäischen Ge-
hauer, verwandelte sich ihm das Christentum in einen pessi- schichte, spricht dieser Glaube, heißt Befreiung. Renaissance,
mistischen Buddhismus. Wann schuf er sein Größtes? Und Reformation, Revolution heißen die bisherigen großen Be-
warum ist Ibsens durchaus skeptische, durchaus ungläubige, freiungsakte, und nur was auf ihrer Linie liegt, ist gut, ist
ja zynische ›Wildente‹ (mit der »Lebenslüge« als Leitmotiv) europäisch, ist menschlich. Sonderbar! Uns scheint die Refor-
— warum ist sie ein Meisterwerk, während die tugendhaften mation ein wenig anders, etwas problematischer und deutscher
›Stützen der Gesellschaft‹, mit ihrem wahrhaft demokrati- zwischen Renaissance und Revolution zu stehen, als der hoch-
schen Schlußwort, mäßiges französisches Theater mit knar- herzige Vereinfachungstrieb des Befreiungsenthusiasten es
render Technik sind? wahrhaben will. Wir neigen zu der Ansicht, daß es sich da
Es stimmt nicht, es will nicht stimmen. Die Kunst hält mit keineswegs um eine gerade Linie handelt, und keineswegs er-
der Tugend nicht Schritt, — man soll nicht lügen. Man soll scheint Luthers Werk uns als ein reines Werk der Befreiung
nicht Wollen und Geist, nicht politischen und künstlerischen im Sinne der Zivilisation und der Aufklärung. Die Refor-
Geist verwechseln, nur um dem Zeitgeist zu schmeicheln, — mation als Fortsetzung, Folge oder Erscheinungsform der Re-
jenem Zeitgeist, der in den Revuen verkündet, es sei zu Ende naissance zu nehmen, scheint uns nur sehr bedingungsweise
mit der ästhetischen Epoche und der Glaube sei an der Tages- erlaubt: Eine Störung und Unterbrechung, einen Rückfall ins
ordnung. Die Zusammengehörigkeit von Talent und Glaube Mittelalter, eine konservative, ja reaktionäre Bewegung in
ist unbewiesen, — ich sage nicht, daß das Gegenteil bewiesen ihr zu sehen ist mindestens in demselben Grade statthaft;
ist. Ich sage nicht, daß der Unglaube den Künstler mache. und der europäische Standpunkt, den zum Beispiel Nietzsche
Aber wenn man mir sagt, der Glaube mache ihn, so weise ich einnahm, ist wohl eigentlich der, daß eine durch keine Refor-
diese idealistische Unverschämtheit zurück. mation und Gegenreformation gestörte Renaissance dem Erd-
teil eine »harmonischere Geistesfreiheit« gebracht hätte. Was
Der ›gotische Mensch«, der Neu-Fanatiker und Erzfeind aller andererseits die Revolution betrifft, so möge es immerhin
liederlich-bürgerlichen Bildungsduldsamkeit, — aber was glaubt wahr sein, daß diese ohne die Reformation nicht möglich ge-
er nun eigentlich? Die steile und generöse Schönheit seiner wesen wäre: es ist doch eben nur immerhin und beiläufig
Geste zugegeben, — welches Ideal bildet denn also den Inhalt wahr im Vergleich mit der anderen Einsicht, daß die Revolu-
seiner antihumanen Kreuzzug-Glaubensstrenge? — Es ist das tion nicht nötig gewesen, daß sie mutmaßlich ausgeblieben
Ideal der Humanität! Wer hätte es vermutet? Es ist das Re- wäre, wenn überall ihr die Reformation vorangegangen wäre;
naissance-Ideal des auflösenden, autoritäts-feindlichen Zwei- daß sie tatsächlich ausgeblieben ist dort, wo die Reformation
fels, der Emanzipation, der Freiheit, der fortschreitenden Be- stattgefunden, und daß offenbar das Erlebnis der Reformation
freiung des Menschengeschlechtes von allen vernunftwidrigen gegen die Revolution immun macht, — worin ohne Zweifel ein
Bindungen, den religiösen zum Beispiel, den nationalen: Gegensatz zwischen beiden beschlossen liegt. Die Auffassung,
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Aber der Vorladungsbefehl war verabreicht worden, des Him-
die Revolution sei durchaus keine Konsequenz und Weiter-
mels Bote konnte nicht für immer wegbleiben. Nein, er kam
führung der Reformation, sondern nur ein schlechter, unglück-
pünktlich wieder, mit angelaufener Rechnung, zu Zinseszins,
seliger und ewig beunruhigender Ersatz für sie bei denjenigen
bis zur tatsächlichen Stunde im Jahre 1792 — und dann end-
Völkern, welche die Reformation nicht angenommen, stammt
lich mußte ein Protestantismus stattfinden, und wir wissen,
von Thomas Carlyle, oder er ist es doch, der sie am nach-
von was für Art der war!«
drücklichsten vertreten hat. Die Reformation, sagt er in seiner
Carlyle's Auffassung stimmt, wie man sieht, mit Hegels
Geschichte Friedrichs des Großen, sei allerorten angeboten
Prophezeiung merkwürdig überein: Frankreich werde, weil
worden, und wundersam sei es zu sehen, was aus den Na-
ihm die Reformation gefehlt habe, »niemals zur Ruhe gelan-
tionen, die nicht darauf hören wollten, geworden sei. Er führt
gen«. Wenn aber das Versäumnis der Reformation ewige
Beispiele an. Spanien etwa, »das arme Spanien, das zur Zeit
Ruhelosigkeit im Politischen zur Folge hat,—könnte man nicht
umhergeht und seine ›Pronunziamentos‹ macht; all die auf-
sagen, daß die Hingabe an sie politischen Quietismus erzeugt?
geregten Advokaten in seinen kleinen Städtchen sich zusam-
Daß das Erlebnis der metaphysischen Freiheit gegen politische
mentuend, um nachdrücklich zu erklären: ›Das Alte ist also Freiheit einigermaßen gleichgültig stimmt und zur Begeiste-
eine Lüge, — o Himmel, nachdem wir so lange Zeit, härter als rung für Menschenrechte, rote Republik und Fortschritt, zur
irgendeine andere Nation, versucht haben, es für Wahrheit zu politischen Begeisterung mit einem Wort, sehr schlecht dis-
halten! — und wenn es nicht etwa Menschenrechte, rote Re- poniert? Wirklich war Luther, wie beträchtlich auch seine poli-
publik und ‹Fortschritt› ist, so wissen wir nicht, was nun tischen Wirkungen sein mochten, für seine Person ein aus-
glauben und tun, und sind wie ein Volk, das auf jähem gemacht unpolitischer Mensch. Es steht fest, daß er weder
Grunde strauchelt in der Finsternis der Mitternacht«.« Oder politische Begabung, noch politisches Interesse, noch politische
Italien, das ebenfalls seine Protestanten hatte, aber sie um- Absichten und Ziele hatte. Es handelte sich für ihn nicht um
brachte und es bewerkstelligte, den Protestantismus zu er- Dinge dieser Welt, es handelte sich um seiner Seelen Selig-
sticken, um sich statt dessen dem Dilettantismus und den keit,—ja, unmittelbar nicht einmal um die der andern, sondern
schönen Künsten hinzugeben und aus virtus in virtù zu sinken. um seine eigene. Nietzsche hat (im ›Antichrist‹) ganz neben-
Aber am nachdrücklichsten exemplifiziert Carlyle auf Frank- bei den kritisch genialen Satz ausgesprochen: »Ein religiöser
reich: »Frankreich, mit seinem scharfen Verstande, sah die Mensch denkt nur an sich.« Das ist eine Wahrheit: Sie war es,
Wahrheit und sah die Lüge zu jenen protestantischen Zeiten, die jenen politischen Professor bewog, von Dostojewski zu
und mit seinem Feuer hochherzigen Antriebs drängte es sich sagen, es fehle in seinem Werk jede Andeutung sozialer
stark genug zur Annahme der ersteren hin. Frankreich war Ideale . . . Das Land, das die Reformation erzeugte, ist nicht
um ein Haarbreit daran, protestantisch zu werden. Aber Frank- zufällig zugleich das Land jener in Europa viel beredeten poli-
reich befand für gut, den Protestantismus zu massakrieren tischen ›Bewegungslosigkeit‹ . . . Die Reformation im Ver-
und ihm in der Nacht von Sankt Bartholomäus 1572 den hältnis zur Renaissance eine Störung, im Verhältnis zur Re-
Garaus zu machen. Der Genius der Tatsache und Wahrhaftig- volution ein Hindernis und Quietiv: ich erinnere an die
keit hatte seinen Vorladungsbefehl verabreicht, der Befehl Möglichkeit dieser Auffassung, um einer bequemen Simplifi-
ward gelesen — und in besagter Weise beantwortet. Der Ge- zierung, ja Versimpelung der Geschichte durch den Zivilisa-
nius der Tatsache und Wahrhaftigkeit begab sich hierauf hin- tionsliteraten zu wehren und seine Art, Luthers Werk als ein
weg, ward abgewehrt, ferngehalten, zweihundert Jahre lang.
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Werk der Befreiung und des Fortschritts in seinem Sinne zu Anspruch nimmt. Sähe er einen Akt deutscher Renitenz in ihr,
deuten, als sehr ungenau und leichtherzig zu kennzeichnen. so wäre mir's lieber; denn es wäre folgerichtiger im Geist seiner
In Wahrheit hat man in der Reformation ein Ereignis von Deutschfeindlichkeit.
echt deutscher Majestät zu verehren, ein Ereignis und Faktum
der Seele, — undeutbar, unkritisierbar eigentlich, wie das Aber wie denn nun eigentlich! Befreiung, immer noch mehr
Leben. Das kritisch deutende Werk verblaßt davor und sinkt Befreiung wäre das Wort und der Sinn der Stunde — und nicht
ohnmächtig hin. Man kann dieses Ereignis revolutionär oder vielmehr etwas ganz anderes, nämlich Bindung? Ist nicht das
rückschlägig, umstürzlerisch oder erhaltend, demokratisch oder ›Vereinfachungs‹- und Entschlossenheitsbedürfnis unseres Gei-
aristokratisch nennen: es ist das alles auf einmal, es ist tief, stespolitikers, ist nicht die Proklamierung des »gotischen Men-
trotzig, verhängnisvoll, programmwidrig, persönlich und groß. schern der bündigste Beweis dafür, daß dies letztere der Fall
Denn es ist, nach gut deutscher Art, ganz und gar das Werk
ist?
eines großen Mannes, einer zwar gewaltig nationalen, aber
Freiheit, — dieses Negativum enthält seine Würde ja nicht
ebenso gewaltig und reich individuellen Persönlichkeit, — ge-
in sich selbst (denn Negation an sich ist ohne Würde), sondern
boren aus ihren eigensten Kämpfen und Nöten, mit ihrem
empfängt sie erst aus seiner Ergänzung, durch das, was damit
Stempel behaftet für immer. War die Reformation ein ›Glück‹?
negiert wird. In Dostojewski's ›Bobock‹ fassen die nächtlich
Nein, das war sie gar nicht. Was man die ›Ernüchterung‹ un-
konversierenden Leichen auf dem Friedhof den prächtigen
seres Nordens nennt, ferner die Spaltung des Volkes, ferner
Beschluß, sich überhaupt nicht mehr zu schämen. Nun, auch
der Dreißigjährige Krieg waren die Folgen für Deutschland.
das ist Freiheit, eine Freiheit allerdings für konversierende
Goethe's Meinung über Luther, über das Unglück der Zurück-
Leichen. Doch braucht man noch kein entschlossener Misan-
drängung »ruhiger Bildung« durch den Glaubensdrang, führ-
throp zu sein, um den Verdacht nicht ganz ungerechtfertigt zu
ten wir schon an. Und Nietzsche nun gar, — man erinnert sich
finden, daß die Mehrzahl der Menschen im stillen die Freiheit
seiner Wut und Verzweiflung über das Ereignis »Luther in
von Scham und Anstand meint, wenn sie nach Freiheit schreit.
Rom«, über diesen Mönch und Pöbelmann, der sich »gegen
Die Negativität des Freiheitsbegriffes ist durchaus grenzenlos,
die Renaissance empörte« und die Kirche wiederherstellte, der
es ist ein nihilistischer Begriff und also nur in geringsten
das Christentum wiederherstellte, nachdem es an seinem Sitz
Dosen heilsam, ein offizinelles Gift. Ist, nochmals, dies Mittel
überwunden war. »Ah, diese Deutschen!« ruft er auf franzö-
indiziert in einem Augenblick, wo das innerste Verlangen
sisch. »Was sie uns schon gekostet haben!« Und, stark lehrer-
der Welt, der ganzen Welt, durchaus nicht auf weitere Anar-
haft, wirft er ihnen vor, sie hätten in entscheidenden Augen-
chisierung durch den Freiheitsbegriff, sondern auf neue Bin-
blicken immer »etwas anderes im Kopf gehabt« als das,
dungen gerichtet ist und der Glaube an den Glauben, wie wir
worauf es angekommen sei: zur Zeit der Renaissance die Re-
gesehen haben, bis zum psychologischen Obskurantismus geht?
formation, zur Zeit Napoleons die Freiheitskriege, und jetzt,
»Et certes«, läßt Claudel seine aussätzige Violaine sagen,
da er philosophiere, hätten sie das »Reich« im Kopf. Ich er-
»le malheur de ce temps est grand. Ils n'ont point de père.
innere an all dies, weil die Leichtherzigkeit mich ärgert, wo-
Ils regardent et ne savent plus où est le Roi et le Pape. C'est
mit der Zivilisationsliterat, als sei es selbstverständlich, die
pourquoi voici mon corps en travail à la place de la chrétienté
Reformation einfach als einen Befreiungs- und Fortschrittsakt
qui se dissout.« Ist nicht dies die Stimme der Zeit? Es ist die
zwischen Renaissance und Revolution für seine Doktrin in
Stimme eines Gotikers, — Frankreich versteht sich auf die
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Gotik noch immer am besten. Man höre die Sätze, die Auguste ich darauf gelauscht und es darzustellen versucht: nicht als
Rodin zu Anfang des Krieges, ausgemacht in einer amerika- Prophet, nicht als Propagandist, sondern novellistisch, das
nischen Zeitschrift, veröffentlichte. Frankreich, sagte er, sei heißt: experimentell und ohne letzte Verbindlichkeit. In einer,
vor der Heimsuchung mit schnellen Schritten und unaufhalt- Erzählung stellte ich Versuche an mit der Absage an den
sam dem Verfalle zugeeilt, ganz Frankreich und namentlich Psychologismus und Relativismus der ausklingenden Epoche,
seine Kunst. Warum? Vermöge der Freiheit. Der französische ich ließ ein Künstlertum der »Erkenntnis um ihrer selbst wil-
Kunstgenius habe in den gotischen Schöpfungen seine größte len« den Abschied geben, dem »Abgrund« die Sympathie
Höhe erreicht; er sei dann, obgleich auch die folgenden Jahr- aufsagen und zum Willen, zur Wertbeurteilung, zur Intole-
hunderte noch neue, originelle Ausdrucksformen erzeugten, ranz, zur »Entschlossenheit« sich wenden. Ich gab alldem
langsam schwächer geworden. Rodin sieht im Empire-Stil die einen katastrophalen, das heißt: einen skeptisch-pessimisti-
letzte echt französische Kunst, — von da an datiere der Verfall. schen Ausgang. Daß ein Künstler Würde gewinnen könne,
»Das neunzehnte Jahrhundert gab den Künstlern die Freiheit stellte ich in Zweifel, ich ließ meinen Helden, der,es versucht
und — damit hat es sie ruiniert. Als ob Freiheit die Kunst in- hatte, erfahren und gestehen, daß es nicht möglich sei. Ich
spirieren könnte! Sie hat die Kunst getötet! Mit der Freiheit weiß wohl, daß der »neue Wille«, den ich scheitern ließ, mir
sind die herrlichen Stile der älteren Zeit dahingegangen, und überhaupt nicht zum Problem, zum Gegenstand meines Kunst-
wir haben nur noch schlechte Wiederholungen nach ihnen triebes geworden wäre, wenn ich nicht teil an ihm hätte, denn
machen können. Mit der Revolution wurde die Kunst ein Krä- es gibt im Reiche der Kunst keine objektive Erkenntnis, es
mer, und an diesem Wechsel ist sie gestorben.« gibt darin nur eine intuitive und lyrische. Ihn aber scheitern
Alle Wahrheiten sind Zeit-Wahrheiten. Der Intellekt ist zu lassen, diesen »neuen Willen«, und dem Versuch einen
der Höfling des Willens, und die Bedürfnisse, die Notdürfte skeptisch-pessimistischen Ausgang zu geben: eben dies schien
einer Zeit stellen sich ihr als ›Einsichten‹, als ›Wahrheiten‹ mir moralisch, — wie es mir künstlerisch schien. Denn ich bin
dar. Die Freiheit als das Verderben der Kunst: das ist eine so beschaffen, daß der Zweifel, ja die Verzweiflung, mir mo-
solche Einsicht der Zeit, eine Wahrheit, welche für den Zeit- ralischer, anständiger und künstlerischer dünkt als irgendein
willen zeugt — und nicht nur unter Franzosen. »Mit den Führer-Optimismus, geschweige denn als jener politisierende
höheren Künstlern«, sagt Nietzsche, »steht es heutet schlimm: Optimismus, welcher partout durch den Glauben selig werden
gehen sie denn nicht fast alle an innerer Zuchtlosigkeit zu- möchte, — durch den Glauben woran? An die Demokratie!
grunde? Sie werden nicht mehr von außen her, durch die abso-
luten Werttafeln einer Kirche oder eines Hofes tyrannisiert: Die Tatsache ist paradox und merkwürdig genug, daß der
so lernen sie auch nicht mehr ihren ›inneren Tyrannen‹ groß- europäische Krieg den Glauben an ›den Menschen‹, an ein
ziehen, ihren Willen.« Das Sehnen, Trachten und Suchen der Glücksziel in der Entwicklung der Menschheit, an einen Fort-
Zeit, das schlechterdings nicht auf Freiheit gerichtet, sondern schritt zum Ideal, an ein irdisches Reich Gottes und der Liebe,
die Begierde nach einem »inneren Tyrannen«, nach »absoluten ein Reich der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, — kurz, daß
Werttafeln«, nach Gebundenheit, nach dem moralischen Wie- er den revolutionären Optimismus à la française mächtig ver-
der-fest-Werden ist, — es ist ein Trachten nach Kultur, nach stärkte und zu einer wahren Treibhausblüte gebracht hat.
Würde, nach Haltung, nach Form, - und ich darf davon reden, Werden nicht mit höchster Wahrscheinlichkeit seelische Reak-
denn früher als mancher andere habe ich davon gewußt, habe tionserscheinungen wiederkehren müssen, wie das Europa der
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Restauration sie aufwies? Die Psychologie des sogenannten Unglaube an den politischen Revolutionarismus, aller Glaube
Weltschmerzes, des ›Byronismus‹ ist von Dostojewski am an seinen notwendigen »inneren Bankrott«, alle Verzweif-
knappsten und einleuchtendsten gegeben worden. »Der Byro- lung daran ist religiöser Natur, beruht auf dem Gegensatz von
nismus«, sagt er, »entstand in einer Zeit der allgemeinen Ent- Religiosität und Politizismus, — wie denn Dostojewski jene
täuschung, wenn nicht gar Verzweiflung. Mit überschweng- europäische Bewegung, die er auf den Namen Byrons tauft,
licher Begeisterung hatte man die Ideale des neuen Glaubens, deutlich und mit unverkennbarer Sympathie als eine religiöse
der gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts von Frankreich Bewegung im Gegensatz zu der politischen Bewegung, die von
verkündet wurde, aufgenommen, — als plötzlich der Verlauf Frankreich ausging, betrachtet: Dostojewski, einer der tiefsten
der Dinge in der führenden Nation Europas eine Wendung und gewaltigsten Religiösen aller Zeiten, neben dessen Mora-
nahm, die so wenig den großen Erwartungen entsprach und listenwerk die anarchistische Sozial-Utopie des greisen Tolstoi
die Menschen in ihrem hoffnungsvollen Glauben so tief ent- sich ausnimmt wie der erste philosophische Gehversuch eines
täuschte, daß gerade jene Zeit für die suchenden Geister viel- Knaben.
leicht die traurigste war, die die Geschichte Westeuropas kennt. »Christus bekümmert sich nicht um Politik«, sagte Luther.
Und nicht nur aus äußeren Gründen stürzten die für einen Auch Dostojewski bekümmerte sich nicht um sie; das religiöse
Augenblick erhobenen Götzen, sondern ebenso infolge ihres Genie ist wesentlich unpolitisch. Daß Dostojewski sich mit
inneren Bankrotts, was denn auch alle führenden Geister und Politik beschäftigte, daß er Aufsätze darüber schrieb, ist kein
starken Herzen sofort erkannten.« Einwand: er schrieb sie gegen die Politik, seine politischen
Wer die Vermutung, ja die Gewißheit ausspräche, daß wir Schriften sind Betrachtungen eines Unpolitischen, — man
einem neuen Byronismus, einer »allgemeinen Enttäuschung, könnte auch sagen: eines Konservativen. Denn aller Konser-
wenn nicht gar Verzweiflung« entgegengehen, die der »über- vatismus ist antipolitisch, er glaubt nicht an die Politik, das
schwenglichen Begeisterung« durch den »neuen Glauben« not- tut nur der Fortschrittler. Es gibt nur einen echten Politiker-
wendig auf dem Fuße wird folgen müssen, und wer dabei typus, das ist der westliche Revolutionär; und indem Dosto-
sogar noch eine gewisse Genugtuung über diese sichere Wahr- jewski antirevolutionär war, war er antipolitisch. Strachow
scheinlichkeit durchblicken läßt: der müßte sich auf den Vor- sagt in seiner Einleitung zu den literarischen Schriften‹ über
wurf hämischer und niedrig boshafter Menschenfeindlichkeit Dostojewski's Begräbnis folgendes: »Unter den Tausenden,
gefaßt machen — und sich mit dem inneren Bewußtsein trö- die dem Toten das letzte Geleit gaben, werden natürlich Ver-
sten, daß dieser Vorwurf ihn nicht träfe. Denn wenn es sich, treter der verschiedensten Anschauungen gewesen sein, doch
wieder einmal, um ›Menschlichkeit‹ handeln soll, so glaube die Hauptmasse beerdigte in Dostojewski ihren Erzieher, ihren
ich nicht nur, daß der Zweifel menschlicher und gütiger macht Lehrer, den, der zu ihr sagte: ›Demütige dich, stolzer Mensch!
als ›Glaube‹, Fanatismus, Wahrheitsbesitzerdünkel und › e n t - Arbeite (an dir), müßiger Mensch!‹ Alle, die nach einer sitt-
schlossene Menschenliebe‹ sondern ich glaube sogar, daß lichen Stütze suchten, sahen in ihm einen Führer, der ihnen
Verzweiflung ein besserer, menschlicherer, sittlicherer, — ich die Wege zeigte, auf denen man die Rettung suchen kann und
will sagen: religiöserer Zustand ist als die schönrednerische muß. Man achtete und liebte in ihm nicht nur den Patrioten
Gläubigkeit des revolutionären Optimismus, und daß die und Konservativen; für viele war er auch ein Trost und eine
Menschheit im Zustande der Verzweiflung dem Heile näher Hoffnung, und das nicht nur deshalb, weil er die revolutio-
sein wird als in dem des Glaubens — an die Demokratie! Aller nären Umtriebe gegeißelt und bekämpft hatte, sondern weil er

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die höchsten, rein geistigen Interessen der russischen Men-
gleichviel, ob sie groß oder klein ist! Aber daraus folgt noch
schen verstand; nicht nur, weil in seinen Worten sich reli-
nicht, daß Menschen, die im christlichen Sinne persönlich voll-
giöse Stimmung, aufrichtige Liebe zum Volk offenbarte, son-
kommen sind, unbedingt einen vollendeten Staat bilden.«
dern vor allem deshalb, weil ihm unsere staatliche Macht
Gute Menschen habe es immer gegeben, auch zur Zeit der Leib-
teuer war, teuer unsere volkliche Einheit und unsere politische
eigenschaft, aber diese sei dennoch eine Schändlichkeit vor
Aufgabe, für die wir seit jeher soviel geopfert haben und noch
Gott geblieben, und der Zar-Befreier habe nicht nur die For-
jederzeit zu opfern bereit sind . . . « »Sein Tod«, setzt Strachow
derungen der persönlichen, sondern auch der sozialen Sitt-
sogar noch hinzu, »war nicht der Tod eines verdienten Künst-
lichkeit erfüllt, von der man in der alten Zeit keine richtigen
lers, der in Ruhe seine Tage zu Ende gelebt, sondern der Tod
Vorstellungen gehabt habe. Persönliche und soziale Sittlich-
eines politischen Kämpfers.« Und dennoch, obgleich ihm die
keit sei nicht ein und dasselbe, woraus folge, daß eine soziale
staatliche Macht und die politische Aufgabe Rußlands am
Vervollkommnung nicht lediglich durch die Besserung der per-
Herzen lag; obgleich er die revolutionären Umtriebe geißelte,
sönlichen Eigenschaften der Menschen erreicht werden könne:
den Fortschritt, den westlichen Liberalismus, den er Nihilis-
nicht lediglich durch die Arbeit an der eigenen Person und durch
mus nannte, und obgleich man ihn also in diesem Sinn einen
persönliche Demut. »An sich selbst arbeiten und sich zur De-
»politischen Kämpfer« nennen mag, — dennoch habe ich recht,
mut erziehen, das kann man auch in der Wüste oder auf einer
wenn ich sage, daß Dostojewski unpolitischen Wesens, daß er
unbewohnten Insel. Aber als Angehörige einer Gesellschaft,
antipolitisch war und an die Politik nicht glaubte.
eines Staates entwickeln und verbessern sich die Menschen erst
Wem zum Beweise dessen seine Lehre und Forderung: »De-
in der Arbeit nebeneinander, füreinander und miteinander.
mütige dich, stolzer Mensch! Arbeite, müßiger Mensch! (Näm-
Das ist auch der Grund, weshalb die soziale Vollkommenheit
lich an dir!)« nicht genügt, der lese, um den Beweis in Hän-
der Menschen in einem so hohen Grade von der Vollkommen-
den zu halten, in dem Bande ›Literarische Schriften‹ die
heit der sozialen Institutionen abhängt, die im Menschen wenn
herrliche Abhandlung nach, die überschrieben ist: ›Bei ge-
nicht christliche, so doch bürgerliche Werte erziehen.«
botener Gelegenheit einige Vorlesungen über verschiedene
Wohlan, das ist die Stimme des Politikers, lehrhaft erhoben
Themata auf Grund einer Auseinandersetzung, die mir Herr
gegen den, der es nicht ist, gegen den Moralisten. Die Ent-
A. Gradowski gehalten hat.‹ Dieser Herr A. Gradowski war
gegnung, Widerlegung, Abführung, die der große morali-
derselbe Politikus und westlerisch liberale Professor à la Mil-
stische Dichter dem politischen Sozial-Ethiker erteilt, ist in
jukow, der gegen Dostojewski's Forderung: »Demütige dich
einem eigentümlich dramatischen Ton und Stil gehalten, sie
und arbeite an dir selbst!« polemisiert und ihm erklärt hatte,
ist plauderhaft-leidenschaftlich, salopp, lustig, konversationell
mit diesen Worten habe er das ausgesprochen, was zugleich
und dabei glühend in Zorn und Verachtung, leicht und radi-
die Stärke und Schwäche des Autors der ›Brüder Karamasow‹
kal, humoristisch und überwältigend. Sie heute zu lesen ge-
ausmache: In diesen Worten sei ein großes religiöses Ideal ent-
währt unbeschreibliches Glück, unbeschreibliche Genugtuung.
halten, eine mächtige Predigt persönlicher Ethik, aber es fehle
Ich gestehe, daß erst der Krieg und seine Drangsal mir diese
jede Andeutung sozialer Ideale. »Herr Dostojewski«, hatte er
stürmische Dankbarkeit des Lesens gebracht hat, — der Blei-
geschrieben, »ruft uns zur Arbeit auf, zur Arbeit an uns selbst.
stift fährt begeistert an ganzen Seiten hin, schwer fallen Aus-
Die persönliche Vervollkommnung im Geiste der christlichen
rufungszeichen inniger Zustimmung am Rande nieder. So las
Liebe ist natürlich die erste Voraussetzung jeder Tätigkeit,
man vordem nicht. Man tat es mit Leidenschaft oft, auch früher,
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aber sie war abstrakter. Alle Dinge waren abstrakter, geisti- Erhabenheit nährte, die man im Fluge seiner staatsbürgerlichen
ger, ferner, sie waren nur ›interessant‹, sie brannten nicht Ideen entwickelte, und körperlich, — nun körperlich immerhin
auf den Nägeln, es gab im Grunde keine Aktualität vor dieser vom Zins dieser selben Bauern. Was aber den Bauern selbst
Zeit. Heut gibt es sie nicht nur, sie ist umfassend, und alle und das russische Volk betraf, so waren sie nicht nur von sei-
Dinge stehen in ihrem Feuer. Es ist möglich, sich beim Lesen ner hoffnungslosen Gemeinheit tief überzeugt, sondern diese
zu winden vor Haß und Widerstand. Es ist möglich, daß die Überzeugung war schon ins Gefühl übergegangen: »Es ver-
Augen sich vom Buche erheben, feucht vor Dankbarkeit für riet sich da bereits eine physische Empfindung des Ekels — oh,
empfangene Tröstung, Bestätigung, Stärkung, Befreiung, natürlich nur eine unwillkürliche, fast unbewußte Empfin-
Rechtfertigung, für ein Wort der Erlösung. — dung, die sie selbst vielleicht gar nicht bemerkten . . .«
Mit letzter Ironie spricht Dostojewski von den humanitären Mutet uns das alles nicht irgendwie bekannt und vertraut
Politikern der ersten Hälfte seines Jahrhunderts, welche die an? Kennen wir sie nicht von zu Hause, diese nach Paris gra-
Leibeigenschaft so hochherzig haßten und bekämpften, — sie vitierenden Liebhaber des Menschengeschlechts, — abstrakte
»europäisch« haßten und bekämpften, indem sie nämlich nach aber ›entschlossene‹ Liebhaber und Propheten der Liberté,
Paris, auf die Barrikaden liefen, aber nicht etwa auf den Ge- Égalité et Fraternité, mit dem staatsbürgerlichen Wehgeschrei
danken verfielen, zuerst einmal einfach ihre eigenen Bauern und dem großen Kummer? Leben nicht auch sie ganz gut, ja
zu befreien und einen Teil des eigenen Landes unter sie zu sogar sehr gut dabei, ruhmreich und verhätschelt, indem sie
verteilen, um wenigstens das eigene Gewissen von der Ver- sich geistig von der Betrachtung ihrer eigenen staatsbürgerlich-
antwortung zu entlasten. »Das Milieu«, sagten sie, hindere moralischen Schönheit nähren, körperlich aber, etwa mit Hilfe
sie daran, und so fuhren sie ins »Städtchen Paris«, wo sie an eines smarten Impresarios, aus der kapitalistischen Weltord-
den Barrikadenkämpfen teilnahmen, mit dem Zinse, den die nung, die sie verfluchen, den allerkräftigsten Nutzen ziehen?
Bauern schickten, französische radikale Journale und Revuen Vor allem aber: Kennen wir nicht jene tiefe Überzeugung
herausgeben halfen und nebenbei das Liedchen erlernten: von der Gemeinheit des deutschen Volkes, verbunden mit der
blödesten Adoration des Fremden und namentlich des »Städt-
Ma commère, quand je danse, chens Paris«, — eine Überzeugung, die schon ins Gefühl über-
Comment va mon cotillon? gegangen, so daß sich da bereits eine physische Empfindung
des Ekels vor allem deutschen Wesen verrät, ein buchstäb-
Oh, ihr staatsbürgerliches Wehgeschrei war laut, und schneidend
liches Nicht-riechen-Können, das es uns so leicht, gar so leicht
ihr Kummer um den leibeigenen Bauer. Und doch war es weni-
und selbstverständlich machte, in diesem Kriege Partei gegen
ger ein Kummer um die Leibeigenschaft des russischen Bauern,
Deutschland und für die ›Gerechtigkeit‹ zu nehmen?
als vielmehr der ganz abstrakte Kummer wegen der Knecht-
schaft des Menschengeschlechtes im allgemeinen: »Die sollte Aber fahren wir fort! Dostojewski bekämpft mit humori-
es doch überhaupt nicht mehr geben, sie ist rückständig, sie stischem Feuer die Ansicht des Gelehrten, daß »persönliche
verträgt sich nicht mit der Aufklärung! Liberté, Égalité et Fra- Vervollkommnung im Geiste der christlichen Liebe« in staat-
ternité!« — nur daran dachten sie. Mit einem solchen Kummer lichen Dingen wenig tauge und die soziale Vervollkommnung
aber, findet Dostojewski, läßt es sich noch ganz gut, ja sogar der Menschen von der Vollkommenheit der sozialen Institu-
sehr gut leben, namentlich wenn man sich dabei geistig von tionen abhänge. Er spricht von der Leibeigenschaft. Wo im-
der Betrachtung seiner eigenen moralischen Schönheit und der mer, sagt er, auf einem Gute wahre und vollkommene Christ-

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lichkeit herrschen würde, da hätte die Leibeigenschaft auch gedeihen vermöchten, als ›Institutionen‹, wie Sie sich aus-
schon zu existieren aufgehört, weshalb man sich dann um drücken, — daß es solche Ideale, sage ich, überhaupt nicht gibt,
nichts weiter würde zu bemühen brauchen, wenn auch alle noch je gegeben hat und auch gar nicht geben kann! Ja, und
Aktenstücke und Kaufbriefe unberührt blieben. »Was würde was ist denn eigentlich ein soziales Ideal, wie ist dieses Wort
es dann«, ruft er, »die Korobotschka, die wahre Christin, noch überhaupt zu verstehen?«
angehen, ob ihre Bauern Leibeigene sind oder nicht? Sie wäre Dostojewski lehrt die religiöse Herkunft der nationalen
ihnen ›Mutter‹, eine richtige Mutter, und die ›Mutter‹ in ihr Ideen und die daraus folgende nationale Gebundenheit des
hätte sogleich die frühere ›Herrin‹ in ihr einfach ausgeschaltet, sozialen Ideals. Das Bestreben der Menschen, eine Formel für
und das wäre ganz von selbst geschehen. Das frühere Ver- ihre soziale Organisation zu finden, eine möglichst fehlerlose
hältnis — dasjenige der Herrin zum Sklaven — wäre in dem und allen gerecht werdende Formel, sei uralt; die Menschen
Fall wie Nebel vor der Sonne verschwunden, und die alten suchten diese Formel seit Jahrtausenden, seit dem Anfang
Menschen waren von anderen verdrängt worden, die in einem ihrer geschichtlichen Entwicklung und könnten sie nicht fin-
ganz neuen, vordem undenkbar gewesenen Verhältnis zuein- den. »Die Ameise kennt die Formel ihres Baues, die Biene die
ander gestanden hätten . . . Ich versichere Ihnen, Herr Gra- ihres Stockes, aber der Mensch kennt seine Formel nicht.«
dowski, daß die Bauern der Korobotschka dann freiwillig bei Woher sei aber dann das Ideal einer sozialen Organisation in
ihr geblieben wären, und zwar aus dem einfachen Grunde, die menschliche Gesellschaft gekommen? Es sei einzig und
weil ein jeder sieht, wo er es am besten hat. Oder meinen Sie, allein Erzeugnis der sittlichen Vervollkommnung der einzel-
daß die Bauern es mit Ihren Institutionen besser hätten als nen Menschen: damit fange es an, so sei es von jeher gewesen
bei der sie liebenden, wie eine leibliche Mutter für sie sorgen- und so werde es immer bleiben. Die sittliche Idee sei der Ent-
den Gutsbesitzerin . . . Im Christentum, im wirklichen Chri- stehung einer Nationalität immer und überall vorangegangen,
stentum wird es Herren und Diener geben, aber ein Sklave denn gerade sie sei es, was die nationale Besonderheit bilde,
ist undenkbar. Ich rede vom wahren, vollkommenen Christen- sie erst erschaffe die Nationalität. Hervorgegangen aber sei
tum. Diener sind nicht Sklaven. Der Jünger Timotheus diente die sittliche Idee aus transzendenten Überzeugungen, die im-
dem Apostel Paulus, als sie gemeinsam umherzogen, aber mer und überall zum religiösen Bekenntnis geworden seien,
lesen Sie doch die Briefe Pauli an Timotheum: schreibt er an und stets habe sich dann, kaum daß die neue Religion ent-
einen Sklaven, ja überhaupt an seinen Diener? Ich bitte Sie! standen war, sogleich auch staatlich eine neue Nation gebildet.
Das sind doch Briefe an seinen ›Sohn Timotheus‹ — an seinen »Um den empfangenen geistigen Schatz zu erhalten, beginnen
›geliebten Sohn‹!« . . . Und Dostojewski's Stimme erhebt sich die Menschen sogleich, sich einander anzuschließen, und dann
zu dem Spruch, dem unsterblichen und überall gültigen Axiom: erst, in eifriger gemeinsamer Arbeit, fangen die Menschen an,
»So hören Sie denn, Herr Professor, daß es speziell soziale auch danach zu suchen, wie sie sich wohl so einrichten könn-
Ideale, die mit ethischen Idealen in keiner organischen Ver- ten, daß von dem erhaltenen Schatz nichts verloren gehe, dann
bindung stehen, die vielmehr für sich allein bestehen, also suchen sie nach einer sozialen Formel des gemeinschaftlichen
vom Ganzen abgeteilte Ideale, wie Sie sie mit Ihrem gelehrten Lebens, nach einer Staatsform, die ihnen am ehesten helfen
Messerchen abteilen zu können meinen, ferner, daß es solche könnte, suchen jenen sittlichen Schatz, den sie erhalten, wenn
soziale Ideale, die äußerlich übernommen und an jeden belie- möglich über die ganze Welt hin zu seinem vollsten Glanz
bigen neuen Ort verpflanzt werden könnten und daselbst zu zu entfalten und zu seinem größten Ruhme zu erheben.«
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Hier haben wir in den klarsten, schlichtesten und innigsten Aufschrift »Liberté, Égalité, Fraternité« zu versehen? Erreichen
Worten nicht nur die sittliche Vervollkommnung des einzel- werden Sie mit einer solchen Institution entschieden nichts, so
nen, das persönliche Ethos als das Primäre, der sozialen Idee daß man dann wohl — oder vielmehr unfehlbar — zu den drei
Vorangehende, sondern wir haben hier auch die Entstehung Worten noch etwas Viertes hinzufügen müßte, nämlich: ›ou la
der Nationalität aus religiösem Element, die nationale Idee als mort‹. »Fraternité ou la mort‹ — und die Brüder werden den
Religion; wir fassen den nationalen Krieg, bei dem Selbstbe- Brüdern die Köpfe abschlagen, um durch eine »bürgerliche In-
hauptung und Ausbreitung zusammenfallen und nicht zu un- stitution« Bruderschaft einzuführen . . .«
terscheiden sind, als Religionskrieg. »Sie, Herr Gradowski, suchen die Rettung in Äußerlichkei-
»Und wohlgemerkt«, fährt Dostojewski fort, »sobald nach ten. Sie meinen: Mag es bei uns in Rußland auf Schritt und
Ablauf der Zeiten und Jahre in einer Nation das geistige Ideal Tritt nur Dummköpfe und Spitzbuben geben, — man braucht
zu verfallen begann, da begann zugleich auch die Nation zu nur irgendeine europäische »Einrichtung« aus Europa nach Ruß-
verfallen und mit ihr auch ihr ganzer Staatsbau, und es ver- land zu verpflanzen, und es wäre alles gerettet. Die mecha-
blich auch das soziale Ideal, das sich inzwischen in ihr gebildet nische Übernahme europäischer Formen (Formen, die dort viel-
h a t t e . . . Wenn in der Nation das Bedürfnis nach allgemeiner leicht morgen schon zusammenbrechen werden), die unserem
einzelner Vervollkommnung in dem Geiste, der dies Bedürfnis Volk fremd und seiner Art nicht angepaßt sind, ist bekannt-
hervorgerufen, erlischt, dann verschwinden allmählich auch lich der Hauptgedanke der russischen Westler. »Vorläufig«,
alle ›bürgerlichen Einrichtungen‹, da es dann nichts mehr zu sagen diese, »können wir uns nicht einmal in jenen Fragen
erhalten gibt.« Darum könne man der Lehre des Professors, und Widersprüchen zurechtfinden, die Europa schon längst
daß die soziale Vollkommenheit der Menschen abhängig sei beantwortet und überwunden hat.« — Wie, Europa und bereits
von der Vollkommenheit der sozialen Institutionen, die im überwunden? Wer hat Ihnen nur so etwas aufbinden können?«
Menschen »wenn nicht christliche, so doch bürgerliche Werte« — Und hier wird Dostojewski zum Propheten, zum Künder des
heranbilden, — unmöglich zustimmen. »Ein Volk«, so dröhnt Gerichts, das er ganz nahe sieht und über dessen Erscheinung
George's Stimme, — er sich im einzelnen täuscht, im Wesentlichen sich aber als ein
wahrer Seher bewährt.
Ein Volk ist tot, wenn seine Götter tot sind.
»Dieses Europa«, ruft er (1880!), »ist doch schon am Vor-
Der Russe aber fährt fort: »Wenn die sittlich-religiöse Idee abend seines Falles angelangt, eines Falles, der ausnahmslos
in der Nation sich überlebt hatte, so setzte immer nur ein allgemein und furchtbar sein wird. Dieser Ameisenbau mit
panisch ängstliches Vereinigungsbedürfnis ein, nämlich zu dem seinem bis auf den Grund erschütterten sittlichen Prinzip, der
Zweck, um für den Fall, daß etwas geschehen sollte, ›die Bäuch- alles Gemeinsame und alles Absolute eingebüßt hat, er ist,
lein zu retten‹ — andere Ziele kennt die bürgerliche Vereini- behaupte ich, bereits so gut wie untergraben. Der vierte Stand
gung dann nicht mehr . . . Und was könnte dann die ›Insti- fängt an sich zu erheben, schon pocht er an die Tür und be-
tution‹ als solche, als etwas für sich allein Genommenes, wohl gehrt Einlaß, und wenn man ihm den nicht gewährt, wird er
noch retten? Gäbe es Brüder, so gäbe es auch eine Brüderschaft. die Tür zertrümmern. Er will nicht die früheren Ideale, er ver-
Wenn es aber keine Brüder gibt, so ist durch keine einzige wirft jedes Gesetz, das bisher gegolten. Auf Kompromisse und
»Institution« Brüderlichkeit zu erzielen. Was für einen Sinn Nachgeben läßt er sich nicht mehr ein. Nachgiebigkeit im Klei-
hat es, überhaupt eine »Institution« zu schaffen und mit der nen feuert nur an, und der vierte Stand will alles haben. Es
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wird etwas einsetzen, was bisher noch niemand für möglich des politischen Sozialismus, nach der ›Internationale‹, den Kon-
gehalten hat. Alle diese parlamentarischen Regierungssysteme, gressen der Sozialisten und der Pariser Kommune? Nein, jetzt
alle gegenwärtig herrschenden sozialen Theorien, alle zusam- wird es anders sein: die Proletarier werden sich auf Europa
mengescharrten Reichtümer, alle Banken, Wissenschaften und stürzen und alles Alte auf ewig zerstören. Erst an unserem rus-
Juden, alles das wird im Nu zunichte werden — außer den Ju- sischen Ufer werden die Wogen zerschellen, denn dann erst
den natürlich, die auch dann den Kopf nicht verlieren und wie- wird es sich allen sichtbarlich offenbaren, in welchem Maße
der obenauf sein werden, so daß der Krach ihnen sogar zugute unser nationaler Organismus sich von den europäischen Or-
kommen dürfte. Alles das ›steht nahe vor der Tür‹. Sie belie- ganismen unterscheidet... Und diese Leute, sagen Sie, hätten
ben zu lachen? Selig sind die Lachenden! Gebe Gott Ihnen bei sich zu Hause ihre Probleme schon längst gelöst? Etwa nach
langes Leben, damit Sie alles mit eigenen Augen schauen . . . den zwanzig Konstitutionen binnen weniger als einem Jahr-
Die Symptome sind furchtbar. Allein schon die ewig alte un- hundert und nach wenig weniger als zehn Revolutionen? . . . «
natürliche politische Lage der europäischen Staaten könnte den Die europäische Katastrophe, der große, abrechnende poli-
Anfang bilden . . . Diese Unnatürlichkeit und diese ›unlös- tische Krieg, in den alle hineingezogen wurden, ist rund zwei
baren‹ politischen Probleme (die übrigens allen bekannt sind) Jahrzehnte später gekommen, als Dostojewski weissagte. Die
müssen unfehlbar zum großen, endgültigen, abrechnenden, Staatsmänner haben ihn nicht verhindert, und die Parlamente
politischen Kriege führen, in den alle hineingezogen werden, haben die Mittel bewilligt. Die Fabrikanten und Juden indes-
und der noch in diesem Jahrhundert, vielleicht sogar schon in sen haben nicht versagt, und der Krieg hat den Proletarier
diesem Jahrzehnt, ausbrechen wird. Was meinen Sie: Vermag nicht auf die Straße gesetzt, sondern ihm zwanzig bis fünfzig
die Gesellschaft dort einem langen politischen Krieg jetzt noch Mark täglich zu verdienen gegeben. Auf andere Weise, als
standzuhalten? Der Fabrikant ist ängstlich und leicht zu er- Dostojewski dachte, hat sich gezeigt, daß der nationale Orga-
schrecken, der Jude gleichfalls, sie würden, sobald der Krieg
nismus Rußlands von anderer Art ist als die nationalen Orga-
sich etwas in die Länge zieht, oder nur droht, sich in die Länge
nismen Europas, denn in Rußland und noch nicht im Westen
zu ziehen, sogleich alle ihre Fabriken und Banken schließen,
brach die Revolution aus, Professor Gradowski mit den »In-
und die Millionen hungriger entlassener Proletarier werden
stitutionen« kam in der Person des Herrn Miljukow zur Re-
auf die Straße gesetzt sein. Oder hoffen Sie etwa auf die Ver-
gierung, dem Bürger-Präsidenten folgte ein genialischer Dik-
nunft der Staatsmänner und darauf, daß diese es nicht zum
tator, der gegen einen Bauern- und Soldatenrat politisiert,
Kriege kommen lassen werden? Aber wann hätte man denn
welcher seinerseits von Tolstoi mehr weiß als von Dosto-
jemals auf diese Vernunft bauen können? Oder hoffen Sie
jewski . .. »Dostojewski ist in Rußland vergessen. «Seine Frage
vielleicht auf die Parlamente? — daß diese nicht die Mittel
aber, ob die europäische Gesellschaft einem langen politischen
zum Kriege bewilligen werden, weil sie etwa die Folgen vor-
Kriege noch standhalten werde, hat bisher nur eine undeutliche
aussähen? Ja, aber wann haben denn die Parlamente irgend-
Antwort gefunden.
welche Folgen vorausgesehen und einem auch nur ein wenig
energischen oder wenigstens beharrlichen Staatsmann die Mit- Wir halten Ende Oktober 1917. Görz ist zurückgenommen,
tel verweigert? Und so setzt der Krieg den Proletarier auf die österreichisch-deutsche Divisionen erbrachen die Alpenpässe
Straße. Was meinen Sie, wird er auch jetzt wieder nach alter und stiegen in die venezianische Ebene nieder. Was in Ruß-
Art geduldig warten und hungern? — jetzt, nach den Siegen land, in Rumänien geschah, kann sich in Italien wiederholen.
Es wird sich wiederholen, — daß dieses Land diesem Kriege im
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Ernst nicht gewachsen sei: hat irgend jemand das nicht ge- Allüre, Walter Hasenclever, ein lyrisch-dramatisches Frag-
wußt? Welches Labsal, die Nachrichten dieser Tage! Welche ment, das er soeben in einem Flugblatt der Jüngsten veröffent-
Befreiung, Erlösung, Erquickung gewährt die ›Macht‹, die licht. Hier sind ein paar Verse daraus:
klare und majestätische Waffentat nach dem faulig-ersticken-
Paläste wanken. Die Macht ist zu Ende.
den Dust und Wust der Inneren Politik, der seelischen Anarchie
Wer groß war, stürzt in den Abgrund,
Deutschlands, seinem selbstverräterischen Äugeln mit der
Die Tore donnern zu.
Unterwerfung unter die ›Demokratie‹, seinen ›politischen‹
Wer alles besaß, hat alles verloren;
Versuchen, sich anzugleichen, sich zu ›verständigen‹, indem
Der Knecht im Schweiß seiner Hände
es in seinen diplomatischen Noten zur Sprache Wilsons kon-
Ist reicher als er.
deszendiert! . . . Noch einmal darf man freudig atmen. Die
Folgt mir! Ich will euch führen.
Niederlage Italiens, das wäre die Niederlage Mazzini's und
Der Wind steigt aus den Trümmern,
d'Annunzio's, des demokratisch-republikanischen Brandrhetors
Die neue Welt bricht an.
und des ästhetizistisch-politischen Hanswursten, die ich beide
hasse aus Herzensgrund. Die Menschen des Friedensschlusses werden ›glauben‹. Sie
Dennoch glaube ich nicht mehr, wenn ich es jemals glaubte, werden glauben, die Formel für die soziale Organisation des
daß die Probleme, die unlösbaren politischen Probleme Euro- Menschengeschlechts, die Formel des menschlichen Ameisen-
pas durch die Streiche der Macht gelöst werden können. Deutsch- baus, des menschlichen Bienenstocks, die fehlerlose und allen
land hat zu oft gesiegt, um an Siege noch zu glauben. Der gerecht werdende Formel, die sie seit Jahrtausenden suchen,
Krieg ist unabsehbar, der ›Friede‹ ferner als je. Daß die Re- gefunden zu haben oder doch nahe daran zu sein, sie zu fin-
gierungen der Gegenwart, ›demokratische‹ und ›absoluti- den. Liberté, Égalité, Fraternité ou la mort — und die Brüder
stische‹, ihn schließen werden, wird täglich unwahrscheinli- werden den Brüdern die Köpfe abschlagen, um durch »bürger-
cher; die Vertreter der revolutionären Völker werden es tun, liche Institutionen« Bruderschaft einzuführen. Das Reich Got-
wenn die Zeit reif ist. Der Proletarier wird es kaum nötig ha- tes wird auf Erden erscheinen, die Gerechtigkeit, der ewige
ben, »sich auf Europa zu stürzen«, um die Macht an sich zu Friede und das Glück in der Gestalt der république démocra-
reißen; sie fällt ihm von selber zu. Die sozialistische Tyrannei, tique, sociale et universelle. Hierauf wird der Verlauf der
die vor dem Kriege begann und im Kriege erstarkte, wird nach Dinge eine Wendung nehmen, die den großen Erwartungen
dem Kriege grenzenlos und zermalmend sein; alle Opposi- wenig entsprechen wird; und nicht nur aus äußeren Gründen
tionslust, aller satirischer Grimm wird gegen sie sich zu waff- werden die für einen Augenblick erhobenen Götzen stürzen,
nen haben und gegen nichts anderes . . . Auf jeden Fall wird sondern namentlich infolge ihres inneren Bankrotts, den sie
der radikale Revolutionarismus gute Tage sehen. Die Woge immer in sich trugen. Tief enttäuscht in ihrem hoffnungsvollen
der politischen Hoffnungsseligkeit, die, wie wir sagten, durch Glauben, werden die Menschen sich dem Weltschmerz, einem
diesen Krieg aufgeregt wurde, wird ins Ungemessene schwel- neuen ›Byronismus‹ in die Arme werfen. Hohn, Bitterkeit,
len, die überschwengliche Begeisterung vom Ende des acht- Verzweiflung werden die herrschenden Stimmungen auf Erden
zehnten Jahrhunderts wird durch den ›neuen Glauben‹ von sein, — und nochmals: Müßte jemand, der kein hämischer Teu-
heute an Inbrunst wohl gar noch übertroffen werden. ›Dem fel, kein grinsender Menschenfeind ist, jemand, der von sich
Aufgang zu‹ überschreibt ein Dichter von stark literarischer sagen darf, daß er der Begeisterung für das Kühne, aus Ein-

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samkeit Schöne fähig geblieben, der in der Bewunderung, dem Propheten und christlich-anarchistischen Utopisten, dem Pazi-
Glauben, der Hingabe beinahe das Leben sieht und der Liebe fisten, Anti-Militaristen und Staatsfeind: mit Fug und Recht.
zur Kreatur, der Sympathie mit ihr weder auf ästhetizistischem Denn im Gegensatz zu Dostojewski, der es nicht war, ist die-
noch auf politischem Wege nachzujagen braucht, — müßte ein ser Tolstoi in der Tat ein Politiker, — ich bestehe darauf, weil
solcher es verbergen, wenn er dieser wahrscheinlichen und un- mir daran liegt, den Begriff des Politikers und seines Gegen-
ausbleiblichen Wendung der Dinge mit vorwegnehmender Ge- teils recht klar herauszuarbeiten.
nugtuung entgegensähe? Daß ich es gestehe, ich bin ein solcher Ich sage: Dostojewski, obgleich ihm die Macht und poli-
Jemand. Denn ich hasse die Politik und den Glauben an die tische Aufgabe Rußlands teuer war und obgleich — oder viel-
Politik, weil er dünkelhaft, doktrinär, hartstirnig und un- mehr : weil er die revolutionären Umtriebe geißelte, war kein
menschlich macht. Ich glaube nicht an die Formel für den Politiker. Tolstoi, dem die Macht und politische Aufgabe Ruß-
menschlichen Ameisenbau, den menschlichen Bienenstock, lands durchaus nicht am Herzen lag, der ein Anti-Nationalist
glaube nicht an die république démocratique, sociale et univer- und Pazifist war und Dostojewski's Abhandlung zugunsten des
selle, glaube nicht, daß die Menschheit zum ›Glück‹ bestimmt Krieges mit höchstem Abscheu gelesen haben würde oder ge-
ist, noch, daß sie das Glück auch nur will, — glaube nicht an lesen hat, — er seinerseits war einer. Warum? Weil das Chri-
den ›Glauben‹, sondern eher noch an die Verzweiflung, weil stentum sich bei ihm durchaus sozialisiert; weil das soziale
sie es ist, die den Weg zur Erlösung frei macht, glaube an die Leben bei ihm zur Religion erhoben ist. »Tolstois Religion«,
Demut und die Arbeit, — die Arbeit an sich selbst, als deren sagt Emil Hammacher, »fällt zur Hauptsache doch nur in die
höchste, sittlichste, strengste und heiterste Form die Kunst mir soziale Schicht.« Das will heißen: sie diente der Förderung der
erscheint. Und auch dies glaube ich, daß ein politisch entschlos- sozialen Wohlfahrt, ihr ideales Ergebnis war das ›Glück‹.
sener Liebhaber des Menschengeschlechts, welcher will, daß Aber damit ist Tolstoi Demokrat, ist er Politiker. Tolstoi ist
die Kunst politisch sei und, als Mann der Stunde, mich einen Aufklärung, das heißt: Glückseligkeitsmoralist, Wohlfahrts-
Ruchlosen und Schmarotzer nennt, weil ich das nicht will, — philosoph. Tolstoi ist — man verzeihe das Wort, es gibt heute
daß ein solcher ein Verbrechen begeht an einer Menschen- kein bezeichnenderes — er ist Entente, er ist, ohne eben ›West-
seele, welches all sein Liebesgeschwätz entkräftet, Lügen straft ler‹ zu sein, der Repräsentant der russischen Demokratie, das
und auf immer zunichte macht. west-östliche Bündnis von heute rechtfertigt sich geistig in
ihm, — in Dostojewski rechtfertigt es sich nicht.
Dostojewski, hörte ich, sei in Rußland vergessen. Es hat den Fünf Tage vor seinem letzten bekam Dostojewski einige
Anschein. Was Deutschland betrifft, so kann man beobachten, Briefe von Tolstoi zu lesen, worin dieser seine Ideen in der oft
daß junge Dichter dem großen Künder der Seele auch heute wirren, rührenden und ringenden Art, die wir kennen, ent-
anhangen wie nicht leicht einem andern, daß aber alles, was wickelt hatte. Dostojewski griff sich an den Kopf und rief ver-
Literatur, was Radikalismus und Politik im Leibe hat, viel- zweifelt : »Nicht das! Nur nicht das!« Er sympathisierte, so wird
mehr auf Tolstoi schwört, — nicht auf Tolstoi, den Künstler: erzählt, mit keinem der Tolstoi'schen Gedanken, raffte aber
der scheint ihnen recht überholt, und die apokalyptische Gro- trotzdem alles, was auf dem Tische lag, Originale und Kopien
tesk-Psychologie Dostojewski's steht ihrem ›Expressionismus‹ der Briefe, zusammen und nahm sie mit. Er beabsichtigte,
entschieden näher als Tolstois Plastik; wohl aber halten sie es Tolstois Ausführungen zu bekämpfen; allein- er starb, und
mit dem alten, dem Nicht-mehr-Künstler Tolstoi, dem Sozial- Rußland begrub einen Patrioten und Konservativen, — einen
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›politischen Kämpfer‹ aber nur insofern, als er die ›revolu- heit der Glaube an Gott nötiger wäre als der an die Demokra-
tionären Umtriebe‹ gegeißelt hatte, nur insofern, als man tie. Denn ob der einzelne ohne Gott gut sein könne, das bleibe
zum Politiker wird, indem man die Politik bekämpft. dahingestellt; aber daß die Masse der Menschen ohne den
Um dieselbe Zeit korrespondierte Tolstoi mit einem ameri- Glauben an Gott, ohne Religion, niemals den geringsten Grund
kanischen Pastor, der ihn »My dear brother« anredete. Das finden wird, gut zu sein, das ist absolut sicher.
war, wenn mir recht ist, nicht mehr und nicht weniger als ein Religion! Ich habe den Zivilisationsliteraten über Religion
welthistorischer Skandal; und daß es dahin kommen konnte, sprechen hören! Ein Dichter, ein bei aller schillernden Ver-
ist Tolstois Schuld, die Schuld seiner Entartung vom großen schlagenheit seines Geistes doch grenzenlos naives, dämonisch
Slawendichter zum Propheten einer demokratischen Aller- gequältes Menschenkind, war gestorben, und es hieß, seine
weltswohlfahrt. Sein Erfolg in der angelsächsischen Welt war letzten Stunden seien von religiösen Bemühungen erfüllt ge-
außerordentlich, — womit über sein Niveau etwas ausgesagt wesen (die übrigens seinem Leben niemals fremd gewesen wa-
ist. Wer verstünde in Amerika etwas von Dostojewski? Einem ren), er habe mit Gott, um Gott gerungen zu guter Letzt und sei
weltläufigen Dänen, Johannes V. Jensen, war es vorbehalten, — vielleicht — im Glauben an ihn entschlafen. Wie fing es der
eine sensationelle Synthese von Dostojewski und Amerika zu- Zivilisationsliterat an, ihn zu entschuldigen? Wie zog er sich
stande zu bringen. Das Los aber, von einem Reverend »my aus der Affäre? »Die Verpflichtung zum Geiste«, sagte er am
dear brother« angeredet zu werden, ist dem Dichter der ›Ka- Grabe, »die wir Religion nennen«, — diese sei dem Verbliche-
ramasows‹ erspart geblieben.
nen selbstverständlich aufs lebhafteste bewußt gewesen! Nun
aber weiß man ja, was der Zivilisationsliterat unter dem›Geist‹
Einer Mutter schrieb Dostojewski: »Lehren Sie Ihr Kind an versteht. Die Literatur versteht er darunter, die Politik ver-
Gott glauben, und zwar streng nach der Überlieferung. Anders steht er darunter, zusammen mit jener, das heißt: die Demo-
können Sie aus Ihrem Kinde keinen guten Menschen machen, kratie. Und das nennt er Religion! Als ich es gehört hatte, als
sondern im besten Falle einen Dulder und im schlimmsten ich diese salbungsvolle Begriffsfalschmünzerei eines ›freireli-
Falle — einen gleichgültigen fetten Menschen, was noch viel giösen‹ Sonntagspredigers vernommen, diesem Versuch hatte
schlimmer ist.« — Ich darf nicht sagen, daß ich an Gott glaube, beiwohnen müssen, eine in letzter Not nach ihrem Heil lan-
— es würde lange dauern, glaube ich, bis ich es sagen würde, gende Seele für die Politik zu reklamieren, da setzte ich mei-
auch wenn ich es täte. Fett hat der Zweifel mich nicht gemacht; nen Zylinder auf und ging nach Hause.
sogar bin ich geneigt, zu glauben, daß es der Glaube ist (und Nein, Religion ist nicht die Verpflichtung auf den Geist
nicht der Zweifel), welcher fett macht, und tapferer, sittlicher, des Zivilisationsliteraten. Der Glaube an Gott ist ein anderer
wahrhaftiger möchte es sein, in einer götterlosen Welt gefaßt Glaube als der an den Fortschritt. Das sachliche Ergebnis die-
und würdig zu leben, als dem tiefen und leeren Blicke der ses ›freireligiösen‹ Glaubens kennt man; es ist im besten Falle
Sphinx zu entkommen durch einen Köhlerglauben wie den an das ›Glück‹, das positivistische Glück in Gestalt von Fouriers
die Demokratie. Den Verrat am Kreuz nannte ich solchen Ver- Phalanstère. Sein persönliches Ergebnis aber kennt man auch
such, — möge er fett und selig machen den, der ihn begeht! — ich wenigstens kenne es. Es ist der pfäffische Dünkel, durch
Unterdessen weiß ich zwei Dinge. Ich weiß erstens, daß es mir den Glauben was Besseres zu sein, die selbstgerechte Bigot-
vergleichsweise leichter fallen würde, an Gott zu glauben als terie des Missionars und Pharisäers, verbunden mit bestän-
an die ›Menschheit‹; und ich weiß zweitens, daß der Mensch- diger Aggressivität gegen die Elenden, welche nicht ›glauben‹.
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Das versteht unter ›Humanität‹ ein Vernunftprinzip, starr-
Ä S T H E T I Z I S T I S C H E POLITIK
moralisch, moralisch-starr. Das ist niemals sozial im Grunde,
nicht freundlich aus individueller Menschenfreundlichkeit,
welche das Gute hervorlockt und macht, daß jeder ihr seine
beste und edelste Seite zeigt. Das weiß nichts von Toleranz, Merkwürdig! Ich gehe umher unter der kleinen Büchersamm-
sondern ist hart, trennend, doktrinär bis zur Guillotine, hu- lung, die mir mit den Jahren zugewachsen, ich blättere, stoße
morlos, ohne Liebe in Wahrheit trotz alles Liebesgeschreis, da und dort auf Stellen, die ich mir nach guter Gewohnheit
ohne Musik, ohne Weichheit, zelotisch-schönrednerisch, — ab- beim Lesen mit dem Bleistift angemerkt — und finde, daß es
scheulich. lauter moralistische Stellen sind, Stellen also, bei denen es
durchaus nicht um ›Schönheit‹, sondern um sittlich-seelische
Ob er nun ›Glaube‹ sagt oder ›Freiheit‹, — der Politiker ist
Dinge geht. Die Zahl des Jahres ist eingeschrieben, in dem ich
abscheulich. Wenn ich aber sage: Nicht Politik, sondern Reli-
mir ein Buch zuerst zu eigen gemacht; manche Hervorhebung
gion, so brüste ich mich nicht, Religion zu besitzen. Das sei
datiert schon weit zurück. Ich war jung, ich las; ich ergötzte
ferne von mir. Nein, ich besitze keine. Darf man aber unter
mich, bewunderte, liebte und lernte. Das Ästhetische aber, wie
Religiosität jene Freiheit verstehen, welche ein Weg ist, kein
sehr ich es liebte und davon zu lernen suchte, verstand sich
Ziel; welche Offenheit, Weichheit, Lebensbereitwilligkeit, De-
mir von selbst, wie es scheint; nicht dort, wo es sich am kost-
mut bedeutet; ein Suchen, Versuchen, Zweifeln und Irren;
barsten offenbarte, setzte mein Stift sich in Bewegung. Was ich
einen Weg, wie gesagt, zu Gott oder meinetwegen auch zum
suchte, was mich anging, worauf ich Nachdruck legte, war Sitt-
Teufel — aber doch um Gottes willen nicht die verhärtete
liches, war Moral; und die moralistisch getönte, die moralver-
Sicherheit und Philisterei des Glaubehsbesitzes, — nun, viel-
bundene Kunst war es, zu der ich aufblickte, die ich als meine
leicht daß ich von solcher Freiheit und Religiosität etwas mein
Sphäre, als das mir Zukömmliche und Urvertraute empfand.
eigen nenne.
Als meine Roman-Chronik vom Verfall einer Familie er-
Ich will an den Schluß dieses Kapitels zwei deutsche Sprüche schien, verging ein Jahr, bis sie bemerkt wurde. Dann erntete
stellen, die von Religiosität und von Freiheit reden. »Dieses ich viel Lob und Ehre dafür. Unter allen öffentlichen Bespre-
Leben«, sagt Luther, »ist nicht eine Frommheit, sondern ein chungen aber war eine, die mich vor allen befriedigte, nicht
fromm werden, nicht eine Gesundheit, sondern ein gesund weil sie lobte, sondern weil sie charakterisierte, und zwar, in-
werden, nicht ein Wesen, sondern ein Werden.« Und Lessing dem sie das Buch zusammen mit einem italienischen, einem
spricht: »Nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachfor- eben übersetzten Roman des d'Annunzio behandelte und den
schung der Wahrheit erweitern sich des Menschen Kräfte, worin pessimistischen Moralismus meiner Erzählung gegen den üp-
allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht.« pigen Ästhetizismus des Lateiners stellte. Den Ausschnitt trug
ich in meiner Brusttasche und zeigte ihn gern. Das war es. So
war ich und wollte ich sein. So wollte ich auch gesehen sein;
und es lag Opposition in diesem Willen, — Opposition gegen
eine Weltanschauung und Kunstübung, die mir fremd, feind-
selig, gewissenlos oder, um das dekorativere Wort dafür ein-
zusetzen, ruchlos erschien. »Buhlfeste zu Ehren der gleißenden

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Weltoberfläche habt ihr entfacht und nanntet's Kunst« . . . Das träumte . . . Ja, vornehmlich als schön, als die Schönheit selbst
war so eine Äußerung dieser Opposition, eine ins Mönchisch- war hier das ›Leben‹ in seiner amoralischen und überschweng-
Wilde stilisierte und emporgetriebene Äußerung, aber sie war lich-männlichen Brutalität empfunden, gefeiert, umschmei-
persönlich g e m e i n t . . . chelt und umworben; es war ein ästhetizistisch gedeutetes,
Merkwürdig! Die Richtung meiner Opposition scheint sich eine ästhetizistisch geschaute Schönheit, und »ruchlos« wurde
geändert zu haben. Die Moral ist es, der ich auf diesen Blät- das Leib- und Lieblingswort alles von Nietzsche herkommen-
tern zu opponieren scheine; die Kunst ist es, die ich offenbar den Ästhetentums.
gegen sie verfechte; und »ruchlos«: dies schreckliche Wort wird Es ist der Augenblick, bekennend festzustellen, daß ich mit
geschleudert — nicht gegen mich, es wäre wohl Anmaßung, es diesem unzweifelhaft auf Nietzsche's ›Lebens‹-Romantik zu-
auf mich zu beziehen; aber gegen ein Meinen und Verneinen rückgehenden Ästhetizismus, welcher zur Zeit meiner Anfänge
doch, dem ich beipflichte und das ich behaupte. Im Ernst, sind in Blüte stand, niemals, mit zwanzig Jahren sowenig wie mit
die Rollen vertauscht? — Die Namen höchstens! Und nicht nach vierzig, das Geringste zu schaffen gehabt habe, — womit nicht
meinem Willen, sondern nach einer bloßen Laune des Wider- gesagt ist, daß er mir nicht ›zu schaffen gemacht‹ hätte. Das
sachers und Gegentyps. Daß in Wahrheit alles liegt und steht hatte sich damals mit Überzeugung und hinlänglicher Ruch-
wie zuvor; daß wir in unserem Wesen uns selber treu geblie- losigkeit den Sinnen ergeben, das schwärmte für dick vergol-
ben, ich sowohl wie auch namentlich jener; daß die Richtung dete Renaissance-Plafonds und fette Weiber, das lag mir in
meiner Opposition sich nicht geändert hat, sondern nur das, den Ohren mit dem »starken und schönen Leben« und mit Sät-
wogegen sie zielt, sich anders nennt heute, nämlich ›Moral‹, zen etwa des Inhalts: »Nur Menschen mit starken, brutalen
nämlich ›Politik‹, und mich einen ruchlos schmarotzenden Instinkten können große Werke schaffen!« — während ich doch
Ästheten schimpft: das ist die Meinung dieses Kapitels. wußte, daß Werke wie das ›Jüngste Gericht‹, das ich in Rom
»Ruchlos«: das Wort wurde uns zuerst durch Schopenhauer gesehen, und der Roman ›Anna Karenina‹, der mich stärkte,
lebendig, und zwar auf durchaus negative Art, als stärkste mo- während ich an ›Buddenbrooks‹ schrieb, aus höchst moralisti-
ralische Verurteilung, als strafendes Attribut jedes Optimis- schen, leidenswilligen und christlich skrupulösen Konstitutio-
mus, welchen der Verkünder der Willensumkehr als erlösungs- nen hervorgegangen waren. »Du hältst dich zu lange bei der
widrige Unempfindlichkeit gegen das ungeheuere Leiden der Kritik der Wirklichkeit auf«, so hörte ich aus nächster Nähe.
Welt verstand.—Das Wort begegnete uns wieder bei Nietzsche, »Aber du wirst schon auch noch zur Kunst gelangen.« Zur
aber wie sehr in seinem Sinn und Klange gewandelt! »Ruch- Kunst? Aber Kritik des Wirklichen, plastischen Moralismus,
los« oder auch »unbedenklich«, »bedenklich-unbedenklich«: eben dies empfand ich als Kunst, und ich verachtete die pro-
das war nicht länger ein moralisches Urteil, das Wort war »mo- grammatisch ruchlose Schönheitsgeste, zu der die Tugend von
ralinfrei« nunmehr und höchst positiv, höchst zustimmend, ja heute mich damals ermutigen wollte.
geradezu als Verherrlichung gemeint: »Ruchlos« — ein diony- Ja, in Jahren, die zur Verachtung sonst wenig geschickt ma-
sisches Wort, ein Lob und Preis von fast feminin-entzückter chen, hatte ich den ästhetizistischen Renaissance-Nietzsche-
Art auf das Leben, das starke, hohe, mächtige, unschuldig-sieg- anismus rings um mich her zu verachten, der mir als eine kna-
hafte, gewalttätige und namentlich schöne Leben, das Cesare- benhaft mißverständliche Nachfolge Nietzsche's erschien. Sie
Borgia-Leben, wie der Schwache, auf ewig von diesem Leben nahmen Nietzsche beim Wort, nahmen ihn wörtlich. Nicht er
Getrennte es sich in hektisch-sentimentalischer Sehnsucht er- war es, was sie geschaut und erlebt hatten, sondern das Wunsch-
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bild seiner Selbstverneinung, und mechanisch kultivierten sie Selbsterkenntnis und Selbstbezweiflung abhanden kam . . .
dieses. Sie glaubten ihm einfältig den Namen des ›Immorali- Ich wiederhole, daß ich mit dem Renaissance-Ästhetizismus
sten‹, den er sich beigelegt; sie sahen nicht, daß dieser Ab- gewisser ›Nietzscheaner‹ innerlich nie irgend etwas zu schaf-
kömmling protestantischer Geistlicher der reizbarste Moralist, fen gehabt habe. Was mich ihm aber fernhielt, das mochte, es
der je lebte, ein Moralbesessener, der Bruder Pascals gewesen ahnte mir früh, mein Deutschtum sein; die ›Schönheit‹, wie
war. Aber was sahen sie denn überhaupt! Sie versäumten kein jene Dionysier sie meinten und mit steiler Gebärde verherr-
Mißverständnis, zu dem sein Wesen nur immer Gelegenheit bot. lichten, erschien mir von jeher als ein Ding für Romanen und
Das Element romantischer Ironie in seinem Eros, — weit ge- Romanisten, als ein ›Stück Süden‹ ziemlich verdächtiger, ver-
fehlt, daß sie ein Organ dafür gehabt hätten. Und wozu sein ächtlicher Art; und wenn ich Nietzsche als Prosaisten und Psy-
Philosophieren sie denn also begeisterte, das waren recht nüch- chologen auf allen Stufen seines Lebens grenzenlos bewun-
terne Schönheits-Festivitäten, Romane voll aphrodisischer Pen- derte: der Nietzsche, der mir eigentlich galt und meiner Natur
nälerphantasie, Kataloge des Lasters, in denen keine Nummer nach erzieherisch am tiefsten auf mich wirken mußte, war der
vergessen war. Wagnern und Schopenhauern noch ganz Nahe oder immer
So falsch es wäre, Nietzsche als Vater überhaupt des euro- Nahegebliebene, der, welcher in aller bildenden Kunst ein Bild
päischen Ästhetizismus hinzustellen, so gewiß bleibt, daß unter mit dauernder Liebe ausgezeichnet hatte, — das Dürer'sche
den geistigen Strömen, die von ihm ausgehen, ein nichts-als- ›Ritter, Tod und Teufel‹; der, welcher gegen Rohde seinem
ästhetizistischer ist, daß man in der Tat durch Nietzsche zum natürlichen Behagen Ausdruck gegeben hatte an aller Kunst
Ästheten erzogen werden konnte. Es war das jener Ästhetizis- und Philosophie, worin »die ethische Luft, der faustische Duft,
mus, welcher, da er bei aller Gier nach ›Plastik‹ nichts we- Kreuz, Tod und Gruft« zu verspüren sei: ein Wort, das ich so-
niger als naiv, sondern höchst analytisch veranlagt war, sich fort als Symbol für eine ganze Welt, meine Welt, eine nordisch-
selbst den treffendsten Spottnamen zu geben vermochte: Er moralistisch-protestantische, id est deutsche und jenem Ruch-
nannte sich die »hysterische Renaissance«. Diese Bereitwillig- losigkeits-Ästhetizismus strikt entgegengesetzte Welt erfaßte.
keit zur Selbstkritik versöhnte. Das Lebenswidrige, das sich Wir haben neulich ein schönes Buch erhalten: ›Das Werk
selbst erkennt, mag leben und sich so farbig es immer kann Conrad Ferdinand Meyers‹ von Franz Ferdinand Baumgarten.
entfalten; es wird nicht schaden; die Selbsterkenntnis hindert Der Verfasser kennzeichnet Meyer darin mit einem Zitat; er
es im Grunde daran, aggressiv zu sein. Etwas anderes, wenn nennt ihn »einen verirrten Bürger und einen Künstler mit
es sich ernst nähme und unverschämt würde, wenn es sich für schlechtem Gewissen«. »Die im Blut sitzenden Vorurteile des
die Wahrheit, das Leben, die Kunst selber und am Ende gar Bürgers«, fügt er erläuternd hinzu, »verdarben ihm die Künst-
für die Tugend auszugeben und das Widerstrebende zu infa- lerfreiheit, und die Verführungen des Künstlerblutes machten
mieren versuchte! Die »hysterische Renaissance« tat das nicht. dem Bürger das Gewissen schwer.« Meyer habe gewußt, daß
Sie wußte und vergaß nicht, daß sie im Grunde leblos und er der leidgekrönten Menschheit zugehörte, wie sein ›Hei-
lieblos, daß sie gestenreich-hochbegabte Ohnmacht selbst zum liger‹; er habe die Leidenschaft, die Brutalität, die Gewissen-
Leben und zur Liebe war, und ihre geistige Würde bestand in losigkeit abgelehnt, wie der Pescara, wie Angela Borgia. Das
dem Schmerz eben hierüber: es war eine tragische Würde, ist sehr gut. Nie ist der eigentümliche Reiz, der von dem Werke
welche abhanden kommen mußte, sobald infolge irgendeiner des Schweizers ausgeht, feiner empfunden und bestimmt wor-
scheinbaren ›Entwicklung‹ und neuen Namengebung die den: dieser Reiz beruht auf einer besonderen und persönlichen
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Mischung von Bürgerlichkeit und Künstlertum, auf der Durch- achten, — aber ich beneide sie nicht. Denn wenn irgend etwas
dringung einer Welt schöner Ruchlosigkeit mit protestanti- imstande ist, aus einem Literaten einen Dichter zu machen, so
schem Geist. Wenig glich Conrad Ferdinand den durch Nietz- ist es diese meine Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen
sche hindurchgegangenen Renaissance-Ästheten von 1900, und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt
welche Nietzsche's theoretische Antichristlichkeit mechanisch aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst,
von der geschrieben steht, daß einer mit Menschen-und Engels-
übernahmen; den »Verrat am Kreuz«, er konnte ihn nie be-
zungen reden könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz
gehen. »Car malgré tous mes efforts d'échapper au christia-
und eine klingende Schelle sei.« Hier war freilich ein Verhält-
nisme«, sagt er in einem Brief, »au moins à ses dernières con-
nis zum ›Leben‹ ausgedrückt, welches sich von dem diony-
séquences, je m'y sens ramené par plus fort que moi chaque
sischen Lebenskult jener Abenteurer auf den Pfaden ruchloser
année davantage . . .« Er war Christ, indem er sich nicht ver-
Schönheit beträchtlich unterschied. »Stolz und kalt« nannte ich
wechselte mit dem, was darzustellen er sich sehnte: dem ruch-
sie; denn ich wußte — wußte es, wie ich es heute weiß, daß in
los-schönen Leben; er wahrte Treue dem Leiden und dem Ge-
meinem »bürgerlichen« Pessimismus, meiner »noch nicht zur
wissen. Christlichkeit, Bürgerlichkeit, Deutschheit, das sind,
Kunst gelangten« Lebensverneinung mehr Liebe zum Leben
trotz aller romanisierenden Neigung im Artistischen, wenn
und seinen Kindern steckte als in ihrer theoretischen Lebens-
nicht die Bestandteile, so doch Grundeigenschaften seines Künst-
verherrlichung. Ironie als Liebe, — kein Nerv in ihnen wußte
lertums, und das Merkmal von allen dreien ist Gewissenhaftig-
etwas von solchem Erlebnis. Selbstaufgabe, — er, der diese
keit, dies Gegenteil der Leidenschaft. »Eine Gewissenssache.« nicht kannte, war der Egoist. Er glaubt sie gefunden zu haben
»Es handelt sich eigentlich um eine Gewissensangelegenheit.« heute; worin? Grundgütiger Gott, in der Politik glaubt er sie
Er brauchte solche Wendungen gern, wenn er brieflich von sei- gefunden zu haben! Und ›ruchlos‹, — der triumphierend amo-
ner Arbeit erzählte. Menschen wie er lodern überhaupt nicht ralische Sinn dieses Wortes hat sich ihm wieder . . . nicht ins
für ›Rechte‹; aber das ›Recht der Leidenschaft‹ ist das erste, Moralische, ins faustdick Tugendhafte hat er sich ihm gewandt:
das sie verachten. Tonio Kröger fand einen humoristisch-be- ruchlos, so nennt er heute die Trennung von Kunst und Politik!
scheidenen Ausdruck für diese Stimmung und Antipathie, als
er zu seiner Freundin sagte: »Gott, gehen Sie mir doch mit
Italien, Lisaweta! Italien ist mir bis zur Verachtung gleich- Ich habe auf diesen Blättern den Gegensatz von politischer oder
gültig! Das ist lange her, daß ich mir einbildete, dorthin zu politisierter und ästhetizistischer Kunst scheinbar angenommen
gehören. Kunst, nicht wahr? Sammetblauer Himmel, heißer und mir angeeignet. Aber das war ein Spiel; denn im Ernste
Wein und süße Sinnlichkeit . . . Kurzum, ich mag das nicht. weiß ich es besser, wie es mit diesem Gegensatz steht, weiß,
Ich verzichte. Die ganze bellezza macht mich nervös. Ich mag daß er auf einer gewollten, generös gewollten und nachgerade
auch alle diese fürchterlich lebhaften Menschen dort unten mit nur allzu wohl gelungenen Selbsttäuschung dessen beruht, der
dem schwarzen Tierblick nicht leiden. Diese Romanen haben ihn statuiert, daß er falsch ist, nicht vorhanden ist, daß man
kein Gewissen in den Augen . . .« Nein, das war kein Ästhet, kein Ästhet zu sein braucht, wenn man an die Politik nicht
dieser Jüngling-Dichter mit dem gemischten Namen und Wesen. glaubt, daß man aber als ›dienender‹ Sozial-Moralist und
Er war es ja auch, der an Lisaweta schrieb: »Ich bewundere Verkünder entschlossener Menschenliebe ein Erz-Ästhet ge-
die Stolzen und Kalten, die auf den Pfaden der großen, der blieben sein kann. Geblieben ist: es liegt ja auf der Hand, und
dämonischen Schönheit abenteuern und den ›Menschen‹ ver- nur dem kann es entgehen, der es sich entgehen lassen will,
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weil es ihm darum zu tun ist, »andere schlechter zu finden als Bellezza ist vor allem sein Radikalismus. Ästhetizismus, der
sich«. Wir hatten die hysterische Renaissance, — jetzt haben sich politisiert, wird immer radikalistisch sein, und zwar aus
wir die hysterische Demokratie. Nur, daß diese die fidele Ehr- bellezza. Es ist sehr üblich, Radikalismus mit Tiefe zu ver-
lichkeit und Artistenunverfrorenheit nicht mehr hat, sich als wechseln. Nichts ist falscher. Radikalismus ist schöne Ober-
hysterisch zu deklarieren. Nur, daß sie sich ernst, stockernst, flächlichkeit, — ein generöser Gebärdenkult, der geradezu ins
stocksteif moralisch, als die Tugend selber nimmt und ›ver- Choreographische führt, wie ein Wort des Geistespolitikers be-
drängt‹ hat, was längst über sie geschrieben steht: »Ich habe weist. »Freiheit —«, so rief er eines Tages, »Freiheit, das ist der
der Tugend einen neuen Reiz erteilt, — sie wirkt als etwas Ver- Mänadentanz der Vernunft!« Nun, wenn das nicht bellezza
botenes. Sie hat unsere feinste Redlichkeit gegen sich, sie ist ist, so weiß ich nicht, wo man sie suchen soll. Es ist eine dich-
eingesalzen in das ›cum grano salis‹ des wissenschaftlichen Ge- terische Umschreibung des nihilistisch-orgiastischen Freiheits-
wissensbisses; sie ist altmodisch im Geruch und antikisierend, begriffes, Tänzerpolitik, dämonisierter Dalcroze. In der ›Italie-
so daß sie nunmehr endlich die Raffinierten anlockt und neu- nischen Reise‹ findet man eine Äußerung verächtlicher Gelas-
gierig macht; — kurz, sie wirkt als Laster . . .« (Nietzsche). senheit — ich will sagen: gelassener Verachtung über diesen
Aber was ist dieses Angelocktsein und diese Neugier, was ist, politischen Ästheten-Orgiasmus. »Freiheit und Gleichheit«,
mit einem Worte, diese Unzucht mit der Tugend anderes als heißt es da, »können nur in dem Taumel des Wahnsinns ge-
Ästhetizismus? nossen werden.«
Ich habe, als ich so tat, als ob jener erlogene Gegensatz Woran es dem politischen Ästhetizismus, dem bellezza- und
Wirklichkeit besäße, den Ästhetizismus verschiedentlich zu belles-lettres-Politiker auf generöse Art gebricht, das möchte
bestimmen versucht, als Bildung, als Gerechtigkeit, als Frei- Verantwortlichkeitsgefühl, möchte Gewissen sein. Aber woher
heit, als Glaube an die Kunst. In Wahrheit ist seine Bestim- sollte denn dieses auch kommen, da niemand, auch er selbst
mung nur eine, und auch sie gab ich schon. Ästhetizismus, ob nicht, Verantwortlichkeit ernsthaft bei ihm voraussetzt, noch
er nun als Krampf-Kultus des ruchlos-schönen Lebens oder als seine Äußerungen in ihrem Geiste wertet? Jeder vielmehr, und
rhetorisch entschlossene ›Menschenliebe‹ sich äußere, Ästhe- auch er, schätzt sie zuerst und zuletzt unter dem Gesichtspunkt
tizismus ist die gestenreich-hochbegabte Ohnmacht zum Leben der Schönheit, und was Meinung darin ist, bewährt sich, in-
und zur Liebe. Nichts anderes. Man müßte weniger gut Be- dem es sich als schönheitsfähig erweist. Am Ende, du lieber
scheid wissen über das Wesen dieser gepriesenen ›allgemeinen Himmel, ist er ein Künstler, — und was gelten im Kunstreiche
Menschenliebe‹. Sie ist periphere Erotik. Wo sie verkündet Meinungen? Er weiß im Grunde, daß sie nichts gelten. Wer
wird, wo man sich mit ihr brüstet, da pflegt es im Zentrum wollte einen großen Künstler nach seinen Meinungen beurtei-
zu hapern . . . Sie ist das Schlag- und Kampfwort eines Anti- len — oder ein Kunstwerk, selbst ein redendes, nach seinen
Ästhetizismus, der eben durch seine reklamehaft moralische möglichen Folgen? Er weiß, daß man so fragt — und er selber
Kampfstellung sich verrät als das, was er ist: als Auch- und fragt so im stillen. Nicht auf die Folgen, auf die Wirkung
Immer-noch-Ästhetizismus. Ich weiß nicht, ob der Anti-Poli- kommt es an: Der politische Künstler ist der wirkungshung-
tiker auch ein Politiker ist. Aber daß der Anti-Ästhet, der rigste Künstler, den es gibt, aber er verdeckt seinen Wirkungs-
Geistespolitiker und belles-lettres-Demokrat auch ein Ästhet,
hunger mit der Lehre, die Kunst müsse Folgen haben, und
daß sein Politizismus nur eine neue und sensationelle Form
zwar politische.
der bellezza ist, davon habe ich anschaulichste Gewißheit.
Sein moralisches Gerede vom ›verantwortlichen‹ und ›un-
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verantwortlichen‹ Dichter möge noch so hoch gehen, es ist ein
selbstgefällige Hitzigkeit und Gewissenlosigkeit, ein schlech-
Gerede, an das er in heiterer Stille selbst nicht glaubt. Kunst
tes Surrogat? Mit einem Worte: wenn es sich um Ästhetizis-
ist unsachlich, ihr Zauber ist, daß sie »den Stoff durch die Form
mus handelte? Ich mache kein Hehl aus meiner Einsicht, daß
verzehrt«. Kunst ist unverantwortlich: auf Geste, Schönheit,
dem so ist, da mir jeder Grund genommen ist, ein Hehl daraus
Leidenschaft kommt es ihr an, und ein Künstler ist Künstler und
zu machen. Man ist Ästhet, als Künstler sowohl wie als Poli-
will als Künstler gewürdigt sein nicht nur, wenn er bildet,
tiker, wenn man zwar oratorisch verkündet, die Kunst müsse
sondern auch, wenn er redet: Jedermann weiß das, und er
politisch sein und Folgen haben, dabei aber jeden Augenblick
selbst weiß es in der Stille am besten. Künstlertum ist etwas,
bereit ist, sich mit seiner Politik hinter die Kunst zurückzu-
wohinter man sich zurückzieht, wenn es mit dem Sachlichen
ziehen, — persönlich und sachlich. Der politisierte Künstler hat
ein wenig drunter und drüber geht, — wohinter man heiter ge- Geschmack, als simpler Moralpauker möchte er nicht gelten,
borgen ist und von dem Drunter und Drüber noch Ehre hat. er müßte befürchten, daß das seinem Rufe als Künstler abträg-
Der bellezza-Politiker sagt das Kraß-Gewissenloseste, weil er lich wäre. So ist er darauf bedacht, die Moral artistisch-psycho-
genau weiß: es kann ihm gar nichts schaden. Was hielte man logisch zu verschleiern und abzublenden: er nimmt die Tugend
dem ›Temperament‹ des Künstlers nicht zugute? Schlimmsten- ein bißchen pathologisch, — oh, nicht zu sehr, nur eben soweit,
falls hat er genialisch vorbeigehauen. Und wenn er auch tut, daß es erlaubt bleibt, ihre Suade ernst zu nehmen, doch auch er-
als verlange er, ernst genommen zu werden, — ihm selbst ist laubt scheint, sie nicht ernst zu nehmen. Er ist sogar imstande, die
es nur bis zu einem sehr gewissen Grade ernst mit alldem. Er demokratisch-politische Tendenz derart zuzudecken, daß er die
redet um der ›Leidenschaft‹, der schönen ›Leidenschaft‹ wil- sie tragende Figur ins Grotesk-Komische zieht, — nicht aus
len, und findet man ihn leichtsinnig bis zur Verrücktheit, bis Turgenjew'schen Motiven, sondern um das Gesicht zu wahren
zum Abstoßenden, so zieht er sich auf sein Künstlertum zu- und dem Vorwurf der Moralpaukerei vorzubeugen. Daß außer-
rück, das davon unberührt bleibt, dem es sogar sehr wohl zu dem, etwa in der Ausmalung des Lasters, das kraß Ästhetizi-
Gesichte steht. Möglich, daß die Meinungen, die er gestern stische hart neben der Tugend steht, trägt ebenfalls dazu bei,
hervorstieß, heute die seinen gar nicht mehr sind, sowenig sie ›abzublenden‹ und künstlerisch mit ihr zu versöhnen; und
wie der Flaubert-Ästhetizismus, den sie ablösten, noch sein sollte dies alles bei einem oder dem anderen naiven Genießer
Credo ist. Er hat sie freilich mit höchstem Gültigkeitsanspruch, zu völligem Mißverständnis des Ganzen führen, — nun, ge-
äußerster Apodiktizität und Rechthaberei geäußert, hat damit setzt nur, daß Wirkung, recht starke Wirkung überhaupt vor-
beleidigt, verwundet, tyrannisiert, möglicherweise infamiert handen, so ist die Unempfindlichkeit des Kunstpolitikers gegen
und getötet — was weiter! Er ist Künstler, er hat das ›Recht der solches Mißverstandenwerden so gut wie vollkommen. Zu
Leidenschaft, und so drückt alle Welt und er selber ein Auge zu. guter Letzt ist er immer ein Künstler, welcher, zum Teufel, sei-
Wie aber, wenn dieses Recht der Leidenschaft gar nicht vor- nen Erfolg will; und wenn die Sache reüssiert, so schadet
handen wäre, weil nämlich wahres Künstlertum, welches mit es gar nichts, daß man nichts gemerkt und das Produkt also
dem Rechte auf Leidenschaft und der Leidenschaft selbst nie- gar nicht politisch, sondern rein künstlerisch-sensationell ge-
mals so liederlichen Mißbrauch treibt, gar nicht vorhanden ist? wirkt hat.
Wenn es sich um ein falsches, halbes, intellektuelles, gewolltes
Das alles ist Ästhetizismus; aber ein halber und feiger, der
und künstliches Künstlertum handelte und um eine Leidenschaft,
sich hinter die Tugend zurückzieht. Es ist außerdem Tugend-
die gar keine Leidenschaft wäre, sondern nur eine krampfig-
haftigkeit; aber eine halbe und feige, welche die Kunst als
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Brustwehr gebraucht. Größe ist konsequent. Der alte Tolstoi heißt: Gesinnung Trumpf ist, wird nach dem Talent nicht viel
verdammte die Kunst überhaupt und stellte ›Onkel Toms gefragt, und die Stümper haben gute Tage. Die Gefahr etwa,
Hütte‹ hoch über Beethoven und Shakespeare. Das ist wun- daß ›patriotische‹ Gesinnungstüchtigkeit mit Talent könnte
derlich, aber es hat Charakter. Andererseits ist reiner und verwechselt werden, ist gering gegen die neue und andere: Die
frecher Ästhetizismus etwas vollkommen Achtbares. Baude- Gesinnung literarischer Menschenliebe, der Reiz pazifistisch
laire schrieb in sein Tagebuch: »1848 war nur amüsant, weil frondierender Haltung wirkt auf ein Publikum, das sich für
jeder Mensch sich damals Luftschlösser baute, — 1848 war nur anspruchsvoll hält, weit bestechender als ›Patriotismus‹, —
reizvoll durch das Übermaß des Lächerlichen, — Robespierre' wobei man vergißt, daß Gesinnungen auf der Straße liegen
ist nur schätzbar, weil er einige literarisch schöne Sätze ge- und jeder sie aufheben und sich aneignen kann: Der Vertreter
schaffen hat.« Das lasse ich mir gefallen. Der reine Ästhetizis- einer solchen Gesinnung ist sofort ›einer unserer feinsten
mus ist intensivster Wirkungen fähig. Oskar Wilde's ›Salome‹ Köpfe‹. Kulturwächter glauben immer noch, gegen schlechte
etwa ist ein Werk von unsterblicher Prägnanz und Kraft; die Kriegsnovellen und Eiserne Hindenburge eifern zu müssen;
harte Künstlichkeit dieses aufrichtigen und aufrechten Ästheti- sie sollten jedoch nicht so sehr den patriotischen Stümpern auf
zismus hat die Wahrheit des bösen und schönen Lebens. Aber die Finger sehen, die ungefährlich sind und niemanden täu-
der politisierte und moralisierende Ästhetizismus mit »warmem schen, als den Herren, die Talent durch eine umgekehrte Ge-
Ethos‹, der Ästhetizismus, vermischt mit larmoyanter Revolu- sinnungstüchtigkeit ersetzen zu können meinen. Seit ein paar
tionsphilanthropie, — das ist eine Mischung, welche die Demo- Lustren schien es, als solle die deutsche Prosa sich wieder neben
kratie und die demokratische Wirkung freilich für sich, den anderer europäischer Prosa sehen lassen dürfen, was einige
guten Geschmack aber lebhaft gegen sich hat. Jahrzehnte lang nicht der Fall gewesen war. Im Zeichen der
Der kulturelle Standpunkt ist nicht ganz außer acht zu lassen. Gesinnung droht das Erreichte wieder abhanden zu kommen,
Moral hat immer einen Hang zur Bilderstürmerei. Herrschaft und abermals drängt »Franztum« (das heißt Politik) »ruhige
Bildung« zurück.
der Gesinnung führt leicht zur Kultur- und Kunstfeind-
lichkeit. Man kennt die Abneigung der Tugend gegen Schön-
heit, Form, Glanz, Eleganz, — dergleichen gilt ihr als frivol, Ästhetenpolitik — die Bestandteile der Verbindung lehren es
als ästhetizistisch:und zwar um so lebhafter ist dieses ihr Miß- ohne weiteres — ist kein deutsches Gewächs, sondern ein roma-
trauen, um so rauher glaubt sie sich gebärden zu müssen, als nisches. Ihre Verpflanzung nach Deutschland gehört zur ›De-
sie selbst aus dem Ästhetizismus kommt, ein ästhetizistisches mokratisierung‹ Deutschlands, das ist klar. D'Annunzio und
Renegatentum bedeutet. Aus Furcht vorm Artistischen fängt Barrès sind ausgezeichnete Beispiele des politisierten Ästheti-
man an, mit dem Besen zu schreiben, puritanisch-asketisch, in zismus; besonders der letztere, ein ehemaliger Décadent und
gehackten Sätzen, — um die Tugend zu versinnlichen. Der Ästhet, der sich zum Politiker, Nationalisten, Patriotard, Re-
Stil gilt für gerettet, wenn nur die Syntax französisch ist. Geht vancherufer ›entwickelte‹. Der Revanche-Gedanke ist ihm »un
aber Meisterschaft hierin voran, — die Kleinen folgen nur zu excitant«, — was zweifellos die Politik auch unsern belles-
willig, und jeder Gesinnungsstümperei ist Tür und Tor ge- lettres-Politikern ist, nur daß sie hier radikalistische Inhalte,
öffnet. Wieder zeigt sich, daß revolutionäre Zeiten wie diese statt nationalistischer, pflegt. Das ist ein Unterschied, das ist
»mehr Willen als Geist, und mehr politischen Geist als künst- aber auch der ganze Unterschied, und weiter besteht keiner.
lerischen« zutage fördern. Wo aber der politische Geist, das Die nationale Differenzierung, das Deutschtum unseres belles-

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allen Stücken genau wie ein Franzose denkt, fühlt, spricht und
lettres-Politikers erschöpft sich hierin, — in seinem Anti-Na-
schreibt, vielmehr eine Merkwürdigkeit, ein Naturspiel er-
tionalismus. Ich sage nicht: in seinem Kosmopolitismus, —
blicken und sich dazu verhalten würden, wie man sich zu
denn deutscher Kosmopolitismus möchte denn doch etwas
Naturspielen eben verhält: gefesselt, wenn auch leicht abge-
anderes sein. Um sich als deutschen Kosmopoliten zu erweisen,
stoßen. Das, wie gesagt, könnte sein. Ganz ausgeschlossen
genügte es in diesem Kriege kaum, genau wie der französische
aber ist, daß eine solche Erklärung, abgegeben unter Deut-
Kammerpräsident über den ›Säbel‹ und die ›Gerechtigkeit‹
schen, sich als irgendwie gefährlich, als schädlich erweisen
zu reden. Das ist, geradeheraus, nicht das Niveau des deut-
könnte für den, der sie abgibt.
schen Kosmopolitismus. Ein schlicht-deutschenfresserisches,
Ich möchte das festhalten: es wäre ungefährlich und
rhetorisch-revolutionäres Franzosentum, das sich auf den Hu-
unschädlich. Wozu die Volte und Finte: »Indem ich deutsch-
manisten Goethe, den Europäer Nietzsche beruft, weil diese
ebenfalls Anti-Nationalisten gewesen seien, stellt Ansprüche feindlich bin, bin ich deutsch«? Das ist ganz unnötig. Nie-
an unsere Bereitwilligkeit zum Gutheißen und Lebenlassen, mandem schadet in Deutschland die Beschimpfung Deutsch-
denen diese heut einfach nicht mehr gewachsen ist. Seit drei lands: im Gegenteil! Und unser belles-lettres-Politiker weiß
Jahren nicht mehr. Das Spiel war möglich »im Halbdunkel das genau. Wirklich, ich leugne hier jede Kühnheit. Derglei-
der ästhetischen Epoche«. Heute hat man es satt. Man hat es chen ist kühn in Frankreich — viel weniger davon ist dort schon
satt, sich Sätze gefallen zu lassen wie etwa: »Was in deut- kühn. Aber unter uns? Man findet es kühn: damit hört es auf,
scher Sprache geschrieben ist, ist deutsch.« »Jede Kunst- und kühn zu sein. ›Byzantinismus‹ vor der Nation — als ob das
Geistesrichtung, die auf deutschem Boden gedeiht, ist deutsch, Ehre brächte in Deutschland! Als ob nicht das Gegenteil, die
ob sie uns mißfällt oder behagt.« Das ist nicht wahr. Man ungerechteste ›Gerechtigkeit‹ viel mehr Ehre brächte! Man
macht uns nicht länger ein X für ein U, und wir, wir sehen spricht von ›Spekulation in Nationalismus‹. Gibt es derglei-
keinen Grund, aus unserem Herzen eine Mördergrube zu chen, so kommt es doch nicht in Betracht. Was in Betracht
machen, aus lauterer Gutmütigkeit weiß zu nennen, was kommt, ist die Spekulation in Anti-Nationalismus: sie steht
schlechthin und ganz offenbar schwarz ist. Wozu überhaupt nicht weniger in Blüte, weil sie in ›geistigerer‹ Sphäre blüht,
das Spiel mit dem Worte ›deutsch‹? Warum einen Titel für und Mut — nein, Mut gehört nicht im mindesten dazu. Nur
sich in Anspruch nehmen oder ihn sich auch nur gefallen las- ganz grobe Äußerlichkeiten, die biderben Unklugheiten der
sen, den man verachtet? Man sei folgerecht! Man lehne ihn ›Macht‹, welche höchst dankbare Martyrien schafft, vermögen
ab! »Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Ge- darüber zu täuschen. Das ›praktische Leben‹, die ›Wirklich-
müte«, sagt Lagarde. Man berufe sich auf den Spruch! Man keit‹ mit ihren Mundtotmachungen des ›Geistes‹ durch die
erkläre: Nein denn, ich bin nicht deutsch, ich bin, obgleich Macht (was durch die Macht mundtot gemacht wird, muß
deutschen Geblütes, meiner geistigen Grundverfassung, meiner natürlich ›Geist‹ gewesen sein) — diese Wirklichkeit belehrt
gesamten Kultur nach Franzose und verhalte mich demgemäß. nur unzulänglich über die wahre Sachlage, ja, sie führt irre
So wäre es ehrlich. Es wäre die Feststellung einer Tatsache, darüber. Mut gehört heute dazu, sich als deutsch, als bürger-
die als Vorzug oder als etwas anderes zu werten freistünde. lich-deutsch, — sich wenigstens mit einem Teil seines Wesens,
Möglich, daß nicht jedermann sie unbedingt als Vorzug be- dem wahrscheinlich wertvollsten, zum Nationalen zu beken-
trachten würde; daß es Leute gäbe, die in der Erscheinung, nen. Zum Gegenteil gehört heute nur soviel Mut, wie jeder
daß ein nach Geburt und Umgebung immerhin Deutscher in Literaturbengel aufbringt.

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Ich wiederhole: Wozu die Finten und Volten, da der Zivili-
Ernst, das fuchtelnde Revolutionsliteratentum, das er uns vor-
sationsliterat doch genau weiß, daß Deutschfeindlichkeit in
lebt, werde irgendwann einmal deutsch heißen?
Deutschland niemandem schadet, daß es ganz ungefährlich ist,
Er rief ferner: »Ich — ein Abtrünniger? Ob ich das Vater-
ja, sogar Ehre bringt, sie zur Schau zu tragen? Unnötigerweise
land liebe oder nicht: ich bin es selbst!« Aber das ist die offen-
rief er: »Ich — antinational? Lange nach mir werden Züge von
bare, spiegelfechterische und gedrehte Unwahrheit. Er ist nicht
mir national heißen, die es ohne mich nicht geworden wären.
das Vaterland; ist es nicht nur nicht, sondern hat es mit sei-
Euer Volkstum wird mehr als heute es selbst sein durch mich,
nem geistespolitischen Kultus des Fremden dahin gebracht,
ich lebe euch vor, was ihr werden sollt!« Welche Spiegel-
daß er keinen Gedanken, keinen Begriff, kein Gefühl mehr mit
fechterei des Geistes! Welch gedrehte Widerlegung der
dem eigenen Volkstum gemeinsam hat. Und diese Art von
bescheidenen Vernunft! Nicht so, nicht wie der Zivilisations-
Identität mit dem Vaterland zu erreichen wurde ihm leicht.
literat glaubt oder zu glauben sich einredet, verstärkt und be-
Nie hat deutsche Musik sein Herz gerührt, seinen Geist be-
reichert sich jemals ein Volkstum. Es verstärkt und bereichert
fruchtet, — er versteht keinen Ton und will es auch nicht. Nie
sich, es wird sein selber gewahr im Anblick seiner Echtesten,
hat er den hohen Rausch deutscher Metaphysik gekostet, —
Stärksten, Geprägtesten, Paradigmatisch-Vollkommensten, sei-
die fördert den Fortschritt nicht und ist darum nicht opportun.
ner großen Männer. Aber dies stärkende Erkennen ist immer
Sein Verhältnis zum großen Deutschtum ist befremdete Ab-
nur ein Wiedererkennen des Tief- und Urvertrauten. Kein Zug
lehnung, tiefe Feindseligkeit. Wie er sich zu Goethe, dem Anti-
der Luther, Goethe und Bismarck wurde deutsch durch sie, —
Politiker, Quietisten und Ästheten verhält, wissen wir längst.
während er vorher kelto-romanisch gewesen war. Ist Bismarcks
Was Bismarck betrifft, so existiert sogar, von der Hand des
Charakterbild nicht poetisch-prophetisch vorweggenommen in
Literaten, ein Porträt von ihm. Es steht nicht ›Bismarck‹
Kleists Armin? Echt und nicht fremd war Mazzini in seinem
darunter, man vergißt vor ›Leidenschaft‹ nicht alle Vorsicht;
Lande, — der politische Freimaurer mit dem »Dogma der
doch ist ein Zweifel nicht möglich. Ich zeige das Bildnis: »Dies
Gleichheit« und dem »revolutionären Symbol«. Fremd ist sein
ist der Machtmensch, der Herr schlechthin, und ganz unnütz,
Geist in Deutschland; zu Hause, nochmals, war er es nicht. Er
wenn er nicht Herr sein darf. Die zwecklose Wucht der mas-
war echtbürtig, ein vertrauter Ausdruck der Rasse. Er mochte
sigen Schultern! — bei einem gestürzten Machthaber, der auf
Haß erregen, Verfolgung erleiden: eigentlich befremdend, ver-
seine Rückkehr wartet und nur wartet, ohne geistige Inter-
irrt, verdreht, monströs, als Spiritus-Merkwürdigkeit und
essen, ohne eine Tätigkeit außer der Macht, und zu allem be-
zweiköpfiges Kalb konnte er keinen Augenblick wirken, —
reit, damit er sie wieder ausüben darf, bereit zur Verleug-
nicht ganz zu schweigen davon, daß im Falle Mazzini's (wie
nung seiner ganzen Vergangenheit, ja, käme es darauf an,
auch sogar im Falle Zola's) die »Einheit von Gedanke und Tat«
zum Spiel mit dem Leben seines Fürsten, — denn der war
nicht literarische Phrase blieb, sondern daß Mazzini's politische
immer nur der Vorwand für den Machttrieb seines treuesten
Manifeste und Proklamationen nur der literarische Nieder-
Dieners . . .« In jeder Kaserne gibt es einen einjährig dienen-
schlag eines wirklichen Kämpfer- und Märtyrerlebens sind,
den Volksschullehrer, der klagt, die »geistigen Interessen«
dessen Einsatz der Mensch selber war und das darum auch
kämen beim Militär zu kurz . . . Gleichviel. Da haben wir den
bei den Widersachern nicht nur nationales Verständnis, son-
Begründer des irdischen Deutschlands, — vu à travers un tem-
dern auch menschliche Achtung finden mußte. Was aber lebt
pérament. Die großen Deutschen scheiden sich in Ästheten
unser belles-lettres-Aktivist uns eigentlich vor? Glaubt er im
und Machtrüpel. Schädlinge sind sie jedenfalls. Aber ob der
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schmettert. Sie warfen seine Ansichten über Frankreich völlig
Zivilisationsliterat sie liebt oder nicht: er selbst ist ein großer
um. Er hatte nach der üblichen Meinung die Franzosen für ein
Deutscher. ausgeglichenes, geselliges, duldsames, freiheitsliebendes Volk
gehalten. Und er fand Abstraktionsfanatiker, an Logik Er-
Eine Erscheinungsform des politischen Ästhetentums ist jener krankte, die immer bereit waren, die anderen wie sich selbst
Exotismus, bestehend in einem schon physischen Ekel vor dem einem ihrer Syllogismen zu opfern. Beständig redeten sie von
Nahen, Heimatlich-Wirklichen und einem inbrünstigen, ro- Freiheit; dabei war niemand weniger dazu geschaffen, sie zu ver-
mantischen, schwärmerisch verschönernden Glauben an die stehen und sie zu ertragen. Nirgendwo gab es Charaktere, die
Überlegenheit, den Adel, die Schönheit des Fernen und Frem- aus geistiger oder rechthaberischer Leidenschaft kältere und grau-
den. Wer das Leben des eigenen Volkes, die menschliche Wirk- samere Despoten waren . . .«, wenn man, sage ich, dies liest, so
lichkeit, wie sie ihn umgibt, durchaus als das wesentlich Häß- gestaltet jedes Wort sich zu einem Wiedererkennen, und man
liche und Gemeine empfindet, als das, was künstlerisch nur zu begreift es endgültig: Ja, unser Geistespolitiker ist ein Franzose,
wütendster Satirisierung taugt, und wer dagegen das Schöne, seine Liebe zu Frankreich ist die natürlichste Vaterlandsliebe.
das Wahre, das Edel-Menschliche jenseits der Landesgrenzen Vaterlandsliebe sollte aber durch Erkenntnis, durch etwas
sucht und findet oder sich vorspiegelt, er fände es dort, — der Skepsis und Kritik, durch Wirklichkeitssinn und Gerechtigkeit
ist ohne Zweifel ein Ästhet. Das ist eine Feststellung; und einigermaßen in Zaum und Zucht gehalten werden, sonst artet
nur zur Hälfte ist es ein Tadel. Das Abgestoßensein durch die sie aus in blinden, bösartig-schwärmerischen Chauvinismus.
Wirklichkeit, das Unvermögen, anders als wütend-satirisch Großer Gott, was macht der Zivilisationsliterat aus Frank-
darauf zu reagieren, das Verlegen der Schönheit ins Unwirk- reich, dem republikanischen Frankreich, dessen Wirklichkeit
liche oder Überwirkliche steht dem richtenden Geist, dem emp- dem nicht betörten Blick doch in Literatur und Leben offen
findlichen Künstlermenschen wohl an, — und unwirklich ist liegt! Das Reich der Wahrheit, der Freiheit, des Lichtes, der
das Ferne, das nicht Gegenwärtige ja in gewissem Sinn. Ins absoluten Hochherzigkeit, das Reich der Demokratie und des
Absurde und Kindische, zu empörender Ungerechtigkeit aber Geistes tut sich auf, überläßt man sich nur einen Augenblick
führt es, wenn die liebend verklärte Unwirklichkeit, wenn ein der heroischen Prosa, die er zu Ehren der exotischen Heimat
idealisch Erträumtes nun als Wirklichkeit, als ein irgendwo entwickelt: das Land des »leichtesten Drucks« ist ihm dieses
Gegenwärtiges, kurz als Leben behandelt wird, um das nahe sein republikanisches Frankreich, der vie facile im Schutze des
Leben, das Leben des eigenen Volks damit zu tyrannisieren, Geistes. Daß das »Städtchen Paris« laut dem Urteil der eigent-
zu entwürdigen, zu beschimpfen. lich französischen Schriftsteller unter allen Städten diejenige
Dies ist der Exotismus, dessen unser politischer Ästhet sich ist, welche sich gegen die Armut am härtesten, grausamsten
schuldig macht, wenn er von Frankreich spricht. Daß Frank- verhält, könnte man vergessen, wenn man ihn hört. Vergessen
reich sein Land, die Heimat seiner Seele ist, haben wir mehr- dazu, daß der demokratische Fortschritt es dortzulande zwar
fach anerkannt. Wie sollte er es nicht lieben und über alle bis zur Trennung von Staat und Kirche gebracht, aber vor dem
Vaterländer der Erde stellen? Die Herrschaft der Politik! Die zähen Interesse der Rentnerbourgeoisie die Waffen gestreckt
Herrschaft der Frauen! Die Herrschaft der Literatur! Die Herr- (oder sie auch gegen das Volk gekehrt) hat, sobald es die ein-
schaft der Vernunft! Und wenn man bei Rolland liest: »Chri- fachsten Forderungen des sozialen Anstandes zu erfüllen galt.
Das ganze verzweifelte und anarchische Elend dieses Staats-
stophe war von den Unterhaltungen, die er mit einigen von
diesen verrückten Vernünftlern führte, gänzlich niederge-
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lebens, die Zersetzung des Parteiwesens, der schmutzige Wett- Schauspiele: »Verwaltungsbezirke, die sich von Frankreich zu
bewerb der Cliquen, der Verfall der politischen Moral, der trennen gedachten, desertierende Regimenter, niedergebrannte
dicke Brodem von Korruption und Skandalosität, der die Dritte Präfekturgebäude, Steuereinnehmer zu Pferde, die Kompanien
Republik umlagert, — unseren Schwärmer ficht es nicht an. von Gendarmen führten, sensenbewaffnete Bauern, die Kessel
Ich habe erklärt, daß der Mißbrauch jener Kritik, die ein frem- mit siedendem Wasser bereit hielten, um die von den Frei-
des Volk durch seine Schriftsteller an sich selber übt, mir als denkern im Namen der Freiheit berannten Kirchen zu ver-
die eigentliche internationale Illoyalität erscheint. Sich ihrer teidigen, Volkserlöser, die auf Bäume stiegen, um zu den
zu bedienen, sich darauf zu berufen gegen Volksgenossen, Winzern des Südens zu reden, die sich gegen die nördlichen
welche die Schönheit draußen, zu Hause aber nur Hassen- Alkoholprovinzen erhoben hatten . . . Die Republik schmei-
wertes, Gemeines sehen, mag immerhin statthaft sein. Von chelte dem Volk — und ließ es darauf niedersäbeln. Das Volk
Rollands großem Roman haben wir kürzlich den Band auf schlug seinerseits einigen Kindern des Volkes — Offizieren
deutsch erhalten der Jean-Christophe's Pariser Erlebnisse — we- und Soldaten — die Köpfe ein. So bewies einer dem anderen
niger schildert als analysiert. Ich werde nicht wieder, nach mei- die Güte seiner Sache ...« Da sind die Politiker, sozialistische
ner Art, vergessen, daß das Buch aller Welt zugänglich ist, - und radikal-sozialistische Minister, diese Apostel der Elenden
auch unserem Zivilisationsliteraten, der es aber meiden wird. und Hungrigen, und sie spielen sich als Kenner in raffinierten
Ich verspreche, mich nicht in Zitaten zu verlieren, nicht Seiten Genüssen auf. Skeptiker, Sensualisten, Nihilisten, Anarchisten
und Seiten daraus anzuführen zur Kennzeichnung des republi- in ihrer Privatunterhaltung, werden sie Fanatiker, sobald es
kanischen Frankreich und um kindlicherweise Belege dafür ans Handeln geht. »Die größten Dilettanten unter ihnen, kaum
beizubringen, daß dieses Frankreich eine Wirklichkeit ist wie daß sie zur Macht gelangt waren, gebärdeten sich wie kleine
eine andere, und in manchem Stück kummervoller und hoff- orientalische Despoten. Ihr Geist war skeptisch und ihr Tem-
nungsloser als manche andere. perament tyrannisch. Sie hatten die Macht, den großartigen
Mechanismus der Zentralverwaltung, den einst der größte
Das strafende Gemälde — strafend aus leidenschaftlicher
aller Despoten geschaffen hatte, zu gebrauchen, und die Ver-
Liebe, tiefer Verbundenheit, tiefem Kummer, nicht aus Fremd-
suchung, ihn zu mißbrauchen, war zu groß. Daraus ergab sich
heit und Haß — das Gemälde ist großartig und umfassend. Da
eine Art republikanischen Kaisertums ...« Weiter, es kommt
ist die Kunst: »Die Religion der Zahl - der Zahl der Zu-
besser. Es kommt so, wie es, hülfe das Wünschen noch, auch
schauer und der des Ertrags — beherrschte den künstlerischen
in Deutschland kommen müßte. »Die Politik wurde als eine
Sinn dieser verkrämerten Demokratie.« Da ist die Kritik, —
einträgliche, wenn auch nicht viel höherstehende Abart von
welche sich »der Tagesgottheit«, dem allgemeinen Stimmrecht
Handel und Industrie angesehen. Die geistigen Arbeiter ver-
unterwirft. Da ist, im Geistigen, der anarchistische Dilettan-
achteten die Politiker und umgekehrt. Seit kurzem aber war
tismus, das »mechanische Vergnügen an der Zersetzung, der
eine Annäherung und bald darauf ein Bündnis zwischen den
Zersetzung bis zum Äußersten«, verbunden mit »der Sinnlich-
Politikern und der schlimmsten Klasse der Intellektuellen zu-
keit einer schriftstellernden Dirne«, - und auf der anderen
stande gekommen. Eine neue Macht war aufgetreten, die sich
Seite der Fanatismus, das politische Zelotentum, die tägliche
die unbeschränkte Herrschaft über die Gedanken anmaßte: es
Aufforderung zum Bürgerkrieg, rhetorisch meist nur, »doch
waren die Freidenker. Sie hatten mit der anderen Macht ange-
fehlte es nicht an naiven Gemütern, die eine Moral, die an-
bandelt, die in ihnen ein vollkommenes Triebwerk des politi-
dere schrieben, in die Tat umsetzten«. Dann gibt es prächtige
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schen Despotismus sah . . . Ein unglaublicher Witz war es, daß
Aber diese Republik ist die Anarchie, in der die Führer das
sich diese Tausende von armen unwissenden Tieren zu Herden
Beispiel geben; »wo man eine zusammenhanglose Politik trieb,
zusammenschließen mußten, um ›freiheitlich‹ zu denken. Al-
die zehn Hasen auf einmal jagte und sie unterwegs alle nach-
lerdings bestand ihre Gedankenfreiheit darin, die der andern
einander laufen ließ, wo eine kriegerische Diplomatie neben
im Namen der Vernunft zu untersagen: denn sie glaubten an
einem friedliebenden Kriegsministerium bestand, wo Kriegs-
die Vernunft wie die Katholiken an die heilige Jungfrau .. .«
minister das Heer zerstörten, um es zu veredeln, Marine-
Ach, ja, es geht heiter zu, aber nicht mit Schadenfreude, nicht
minister die Arsenalarbeiter aufwiegelten, Kriegsinstrukteure
mit nationaler Selbstgerechtigkeit betrachten wir das Gemälde,
über die Schrecken des Krieges predigten, wo es dilettantische
bestimmt nicht; nur eben mit einer gewissen Genugtuung für
Offiziere, dilettantische Richter, dilettantische Revolutionäre,
unseren Pessimismus und unsern Gerechtigkeitssinn, für un-
dilettantische Patrioten gab . . . Und als ein unheilvolles Echo
seren Widerwillen gegen die exotische Verklärungssucht des
des von oben gegebenen Beispiels kam die Zerstörungsarbeit
deutschen Gallomanen. Spionage und Angeberei stehen in
von unten: Lehrer, die Verachtung der Autorität und Auf-
Blüte; die klerikale wetteifert mit der freimaurerischen, aber
lehnung gegen das Vaterland lehrten; Postbeamte, die Briefe
der republikanische Staat fördert unterderhand diese letztere,
und Depeschen verbrannten; Fabrikarbeiter, die Sand oder
die Schreckensherrschaft dieser Bettelmönche und Jesuiten der
Schmirgel in die Triebwerke der Maschinen warfen; Arsenal-
Vernunft über die Armee, die Universität, über alle Staats-
arbeiter, die die Arsenale zerstörten, die Einäscherung von
körper .. . Ein Major außer Dienst, ein alter Afrikaner, frißt
Schiffen, eine ungeheuerliche Entwertung von Arbeit durch die
seinen Gram in sich über das Elend des Heeres: über »die Auf-
Arbeiter selbst — die Vernichtung nicht nur der Reichen, son-
forderung zur Denunziation und das dadurch unter die Offi-
dern des Reichtums der Welt. Und um das Werk zu krönen,
ziere geworfene Mißtrauen; über die Demütigung, die unver-
gefiel sich eine geistige Elite darin, solchen Selbstmord des
schämten Befehle irgendwelcher ahnungslosen und bösartigen
Volks durch Vernunft und Recht zu begründen, indem sie des
Politiker ausführen zu müssen«; seinen Gram darüber, daß
Menschen heiliges Recht auf Glück verkündete. Eine krank-
die Armee »zu niedrigen Polizeidiensten mißbraucht wird, zur
hafte Humanitätsschwärmerei untergrub die Fähigkeit zum
Aufnahme von Kircheninventaren, zur Unterdrückung von
Unterscheiden von Gut und Böse und bejammerte mit greisen-
Arbeiterstreiks, zu Dienstleistungen im privaten Interesse und
hafter Sentimentalität die verantwortungslose und geheiligte
für die Rachsucht der gerade herrschenden Partei — jener radi-
Person‹ der Verbrecher: — man streckte vor dem Verbrechen
kalen und antiklerikalen Spießbürger, die dem übrigen Land
die Waffen und lieferte ihm die Gesellschaft aus.«
gegenüberstanden ... .« Sie »machten sich an die Läuterung
der Kunst. Sie reinigten die Klassiker des siebzehnten Jahr- Ich versprach zuviel, ich habe nicht widerstehen können. Es
hunderts aufs gründlichste und erlaubten nicht, daß der Name wimmelt allzu sehr auf diesen richtenden Seiten von Anklän-
Gottes die Fabeln von La Fontaine besudele. Ebensowenig gen an die Grundmotive des vorliegenden Buches, von Be-
ließen sie ihn in der Musik stehen, und der Radikalismus ziehungen zu seiner Opposition. Freiheit, Gleichheit, Brüder-
empört sich, weil man es wagt, in einem Volkskonzert die lichkeit! Wie nehmen sie sich aus, nach Rolland, im seligen
geistlichen Lieder Beethovens aufzuführen. Er verlangt, daß Lande ihrer Geburt? »Höfische Sitten herrschten in dieser Re-
man andere Worte an ihre Stelle setze.« »Was?« fragte Chri- publik ohne Republikaner; es gab sozialistische Zeitungen,
stophe außer sich. »Die Republik?« sozialistische Abgeordnete, die vor durchreisenden Königen
auf dem Bauch lagen, Bedientenseelen, die vor Titeln, Tressen,
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Orden stillstanden; um sie an der Leine zu halten, brauchte einsam, verbissen, gegeneinander abgesperrt. Verbrüderung?
man ihnen nur ein paar Knochen zum Fraß oder die Ehren- Warmherziger Zusammenschluß? »Dazu wäre eine gegensei-
legion hinzuwerfen. Hätten die Könige alle Bürger Frank- tige Duldung und eine Kraft der Zuneigung nötig, die nur aus
reichs geadelt, so wären alle Bürger Frankreichs königstreu innerer Freude geboren werden können, aus der Freude eines
gewesen .. .« Ach, ja, die Demokratie! Da haben wir das gesunden, normalen, harmonischen Lebens . . . Dazu wäre
Nationalfest mit seinem Volksgetümmel, seiner Lustbarkeit, nötig, daß eine Nation sich wohl befindet, daß das Vaterland
»die den Nichtfröhlichen, die der Stille bedürfen, so peinvoll in einer Epoche der Größe steht oder, was noch mehr wert, auf
ist«, »Schüsse knallten, Dampfkarussells schnaubten, Dreh- dem Wege zur Größe ist. Und es müßte außerdem — beides
orgeln näselten von Mittag bis Mitternacht. Der alberne Lärm gehört zusammen — eine Gewalt gehen, die alle Triebkräfte
dauerte acht Tage. Darauf bewilligte der Präsident der Re- der Nation in Bewegung zu setzen verstände, eine kluge und
publik, um seine Popularität aufrechtzuerhalten, den Schrei- starke Gewalt, die über den Parteien steht. Nun kann es aber
ern noch eine halbe Woche mehr. Ihn kostete das nichts, er keine andere Gewalt über den Parteien geben als eine, die
hörte den Lärm nicht. . .« Entzückend. Herr Romain Rolland ihre Kraft aus sich selber zieht und nicht aus dem großen
hat mich arg gescholten, aber das ist entzückend. Es ist auch Haufen, eine, die nicht versucht, sich auf die anarchische Ma-
hübsch, wie er von den republikanischen Verkehrsverhält- jorität zu stützen, wie es heute der Fall ist, wo sie sich den
nissen, den Wagenabteilen zweiter Klasse spricht, »wo man Mittelmäßigen zu Füßen legt, sondern die sich allen durch
sich zum Schlafen nicht einmal anlehnen konnte; denn das ge- die geleisteten Dienste aufzwingt: ein siegreicher General, eine
hört zu den Vorrechten, welche die französischen Eisenbahn- Wohlfahrtsdiktatur, eine Oberherrschaft der Intelligenz . . .
gesellschaften, die ja so überaus demokratisch sind, den unbe- Was weiß i c h ? . . . « Was weiß er, Rollands kleiner Olivier, der
güterten Reisenden nach Kräften zu entziehen suchen, um den dies sagt? Nur soviel weiß er, daß Frankreich eine Wirklich-
reichen Reisenden das angenehme Bewußtsein vorzubehalten, keit ist, die sich nicht wohl befindet, nicht wohler als andere
allein den Schlaf zu genießen«. Und dann die Brüderlichkeit. Wirklichkeiten, schlechter wahrscheinlich; und daß man es
Was dem Fremden an der französischen Landschaft besonders
nicht verhöhnen soll, indem man es als das Land des »leich-
auffällt, »das ist die aufs äußerste getriebene Parzellierung
testen Drucks« und seliger Menschlichkeit tendenziös ver-
des Grundbesitzes. Jeder einzelne hatte seinen Garten; und
himmelt.
jeder Garten, jedes Erdfleckchen war von dem der anderen
Das aber tut der deutsche belles-lettres-Politiker. Er hütet
durch Mauern, durch Zäune aller Art abgetrennt. Es war schon
sich, von der französischen Wirklichkeit Kenntnis zu nehmen,
viel, wenn man hier und dort ein paar Gemeindewiesen und
sei es literarisch oder gar durch den Augenschein, auf dem
-wälder fand, oder wenn die Bewohner eines Flußufers ge-
Wege persönlichen Mitleidens, der doch eigentlich der Weg
zwungenerweise untereinander enger verbunden waren als
der Liebe ist. Für ihn ist Frankreich keine Wirklichkeit, son-
mit denen des anderen Ufers. Jeder schloß sich in seinem Haus
dern eine Idee. Sehr gut! Aber an dieser Idee mißt er die
ein; und es schien, als ob diese eifersüchtige Eigenbrötelei,
deutsche Wirklichkeit! Das ist absurd. Alles wäre in Ordnung,
anstatt nach so vielen Jahrhunderten der Nachbarschaft schwä-
cher zu werden, jetzt stärker war, als jemals. Christophe dachte: wenn er die deutsche Wirklichkeit an der deutschen Idee mäße
Wie einsam sie sind!« — und dann außer sich wäre. Aber die heimatliche Wirklich-
keit an einer fremden Idee zu messen, das ist toll. Das ist exo-
Sie sind es in der Hauptstadt wie auf dem Lande: kalt, tistischer Ästhetizismus.
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Noch eines! — und damit sei es genug. Die Behauptung, daß
Es lebt in Deutschland ein Mann, ein Schriftsteller, dessen
politisierte Kunst durchaus das Gegenteil von ästhetizistischer
Haltung in diesem Kriege recht widersprechender Beurteilung
Kunst sei, gelte uns danach endlich als widerlegt.
ausgesetzt war. In England geboren, in Frankreich erzogen,
Wir kennen den politischen Moralisten, den Mann der in-
war Houston Stewart Chamberlain von jung auf ein leiden-
neren Politik und der nationalen Selbstkritik als Satiriker.
schaftlicher Ergründer und Verkünder deutscher Kultur. Er kam
Satire, ›geißelnde‹ Satire ist selbstverständlich das wichtigste
zu uns, nicht zufällig, wie Chamisso, sondern aus überzeugter
Wirkungsmittel seiner politisch-sozialkritischen Pädagogik.
Wahl; er ward ansässig, ward ganz und gar ein Deutscher; er
Satire aber, da sie Kunst ist, ist immer bis zu einem gewissen
feierte Kant, Goethe, Wagner in großen Werken; ja, sein
Grade Zweck ihrer selbst: Sie macht Vergnügen, sie gefällt,
Deutschtum hatte, vielleicht weil er Engländer war, einen
dem, der sie ausübt, sowohl wie dem, der sie rezipiert, — ohne
stark politischen Einschlag, er wirkte als deutscher Nationalist,
Rücksicht auf ihre erzieherische Nützlichkeit. Kraß artistischer-
als Pangermane, und im Kriege nahm er geistig-leidenschaft-
weise könnte man sagen, daß die russischen ›Zustände‹ von
lichen Anteil am Kampfe des Wahl-Vaterlandes — gegen das
Land seiner Väter. Man hat das getadelt. Man fand, daß in ehemals sich rechtfertigten durch zwei, drei Werke genialer
dieser Zeit ein schmerzliches Schweigen ihm besser angestanden Satire, zu denen sie Anlaß gaben, und die schwächer hätten aus-
haben würde. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß mir sein fallen müssen, wären die ›Zustände‹ weniger stark gewesen.
Verhalten vergleichsweise entschuldbar, ja gerechtfertigt er- Das Objekt der Satire, die ›Zustände‹, also gefallen dem
scheint. Ich sehe die Ähnlichkeit dieses merkwürdigen Falles Satiriker in gewissem Sinne, denn sie sind es, die ihm seine
von Einfremdung mit dem Fall unseres literarisch-politischen Wirkungen ermöglichen. Nun aber gefallen die deutschen ›Zu-
Wahlfranzosen, — die Ähnlichkeit und den Unterschied zwi- stände‹ unserem politischen Satiriker eigentlich nicht, — man
schen beiden. Wirklich ist Chamberlain in demselben Maße muß das verstehen. Sie gefallen ihm nicht nur moralisch nicht,
ein Deutscher geworden wie unser Zivilisationsliterat ein sie gefallen ihm auch nicht recht unter dem künstlerischen
Franzose. Der Unterschied ist: er lebt in Deutschland, persön- Gesichtspunkt der politischen Satire. Die gesellschaftlich-poli-
lich, körperlich. Der Unterschied ist: er traut sich die Kraft zu tischen Zustände Deutschlands besitzen, geben wir das doch
und besitzt sie wirklich, seinen Glauben und seine Liebe trotz zu, bei weitem die unmittelbare Literaturfähigkeit, den satiri-
der höchst mangelhaften Wirklichkeit, die er vor Augen hat schen Charme nicht, wie die der eigentlich politischen Völker‹.
und mit-erleidet, aufrechtzuhalten. Der Zivilisationsliterat da- Darum fühlt der Satiriker das Bedürfnis, sie zu stilisieren, sie
gegen scheut Paris. Ja, wie Heinrich Heine dorthin ging, um nach seinem Geschmack zu vervollkommnen, das heißt: sie
Deutschland romantischerweise — aus der Entfernung — lie- zu verwestlichen, sie zu demokratisieren: Das vollkommene
ben zu können, so geht unser Held nicht dorthin, niemals, und künstlerisch wünschenswerte Objekt der Satire ist erst die
nicht auf acht Tage, um seine ideelle, seine exotistische Liebe durchpolitisierte, die demokratisierte Gesellschaft, — und der
zu Frankreich zu schonen. Denn er weiß im Grunde, daß die Satiriker nimmt sie für Deutschland vorweg. Er satirisiert also
französische Wirklichkeit ihn binnen achtundvierzig Stun- nicht ein wirkliches Deutschland, sondern ein ideales, amüsan-
den ernüchtern würde. Was ist das? Wenn das einen milde- tes, sondern eines, das so ist, wie er möchte, daß es schon
ren Namen verdient als den der Feigheit, so lautet er: Ästhe- wäre, ein Deutschland mit ›politischer Atmosphäre‹. Er anti-
tizismus. zipiert die Demokratie, und er ist schöpferisch insofern; seine
Satire »lebt euch vor, was ihr werden sollt«.
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Ein Beispiel, — harmlos und unscheinbar. Ich erinnere mich wechseln, mochte im einen Fall Lust, Treue und Kraft der
noch einer modernen Komödienszene, worin ein Politiker, Ab- Naturempfängnis, im anderen der Trieb zum Grotesken über-
geordneter, oder sagen wir richtiger: Deputierter sich irgend- wiegen und das seelische Grundgesetz eines Künstlertums
welchen Bürgern, seinen Wählern natürlich oder solchen, die bilden. Der Gegensatz von impressionistischer und expressio-
ihn in die Kammer, ich meine den Land- oder Reichstag sen- nistischer Kunst ist der von Realismus und Groteske. Tolstoi
den sollen, rednerisch-patriotisch empfiehlt. »Die Industrie!« und Dostojewski: der realistische Plastiker und der visionäre
ruft er, und jedes Wort ist ein pompös-patriotischer Hand- Groteskkünstler stehen sich da innerhalb einer Nation und
schlag. »Der Handel! Der Ackerbau! Die Armee!« Ich erinnere Epoche in voller Größe gegenüber. Zu fragen, wer der Grö-
mich nur an dies. — Es wäre nun irrig, zu glauben, daß unser ßere sei, bleibt müßig. Zu behaupten, der Wille in dem Ex-
Satiriker für den völlig undeutschen, den durchaus landfrem- pressionisten Dostojewski sei stärker, wäre dreist. Nichts über-
den Akzent dieser Szene kein Ohr hätte. Er hat ein Ohr dafür, trifft den ethischen Willen, die moralistische Kraft, die aus
— aber dieses Ohr ist entzückt davon. Eine Satire jedoch, die, Tolstois ernstem Riesenwerk sprechen. Lassen wir aber gelten,
gelangweilt von der nationalen Wirklichkeit, eine Übersetzung daß der expressionistischen Kunsttendenz ein geistigerer Im-
›geißelt‹, damit sie national werde, — eine solche Satire darf petus zur Vergewaltigung des Lebens innewohne, so wird
man wohl als ästhetizistisch bezeichnen. man doch der ›Freiheit der Kunst‹, die hier in Rede steht, ge-
Das ist die heitere Seite der Sache. Sie hat jedoch eine ernste, wisse Grenzen ziehen müssen, — sie wird sie sich selber ziehen
— und nun wird es nötig sein, ein Wort über den sozialkri- müssen. Das Groteske ist das Überwahre und überaus Wirk-
tischen Expressionismus zu sagen. Expressionismus, ganz liche, nicht das Willkürliche, Falsche, Widerwirkliche und Ab-
allgemein und sehr abgekürzt zu sprechen, ist jene Kunst- surde. Einen Künstler, der jede Verantwortlichkeit vor dem
richtung, welche, in heftigem Gegensatz zu der Passivität, der Leben leugnete; der den Abscheu gegen die Impression so weit
demütig aufnehmenden und wiedergebenden Art des Im- triebe, daß er sich jeder Verpflichtung gegen die Lebens-
pressionismus, die Nachbildung der Wirklichkeit aufs tiefste formen des Wirklichen praktisch entschlüge und nur die her-
verachtet, jede Verpflichtung an die Wirklichkeit entschlossen rischen Emanationen irgendeines absoluten Kunstdämons gel-
kündigt und an ihre Stelle den souveränen, explosiven, rück- ten ließe: einen solchen Künstler dürfte man den größten aller
sichtslos schöpferischen Erlaß des Geistes setzt. Oh, ausgezeich- radikalen Narren nennen.
net, — wenn auch natürlich nicht durch und durch neu. Nie war Hier liegen die Gefahren der Satire. Der innere Konflikt der
Kunst eine Nachbildung der Wirklichkeit; Naturabgüsse haben Satire, so scheint mir, ist der, daß sie notwendig Grotesk-
niemals für Kunst gegolten. Auch war Kunst nie ein bloßes kunst, das heißt: Expressionismus ist, und daß also das liebend
Erdulden, passive Kunst ist nicht denkbar, stets war sie aktiv, und leidend empfangende Element in ihr schwächer ausgebil-
war sie Wille zum Geist, zur Schönheit, stets war ihr Wesen det, ihre Naturverbundenheit der Lockerung ausgesetzt ist, —
Stil, Form und Auswahl, Verstärkung, Erhöhung, Entstoff- während doch gleichzeitig keine Kunstart dem Leben und der
lichung, und jedes Lebenswerk eines Künstlers, ob klein oder Wirklichkeit verantwortlicher und inniger verbunden bleiben
groß, war ein Kosmos, ruhend in sich, geprägt mit dem Stem- muß als die Satire, da sie Leben und Wirklichkeit ja an-
pel seines Schöpfers. Impression und Expression waren allezeit klagen, richten und züchtigen will. Dieser Konflikt und diese
beide notwendige Elemente des Künstlerischen, und eines ohne Gefahr —die Gefahr nämlich der Entartung zum Unfug (denn
das andere war ohnmächtig, — mochte ihr Verhältnis auch ein Zerrbild ohne Wirklichkeitsgrund, das nichts ist als eine
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›Emanation‹, ist weder Verzerrung noch Bild, sondern ein
das Nahe und Wirkliche zu lieben, sein kindischer Kult des
Unfug) — diese Gefahr also tritt merkwürdigerweise weniger
Fremden und die Vorsicht zugleich, womit er das Erlebnis der
hervor und ist auch wohl in geringerem Grade vorhanden, so-
fremden Wirklichkeit meidet, das Übersetzte, Spielerische und
lange es sich um Satire größten Stils, um Welt- und Mensch-
unverantwortlich Falsche seiner Satire endlich, — all das ist
heitssatire handelt. Sie wird aber brennend, wenn die Satire
Ästhetizismus reinsten Wassers, und mit seinem prahlerisch
zum Politischen, zur Sozialkritik hinabsteigt, kurz, wenn der
verkündeten optimistisch-revolutionären Glauben an die
expressionistisch-satirische Gesellschaftsroman auf den Plan
›Menschheit‹, den ›Fortschritt‹, das ›Glück‹ wird auf die-
tritt. Sie wird auf diesem Punkt zu einer politischen, einer
internationalen Gefahr. Denn ein sozialkritischer Expressio- selbe Weise »das Kreuz verraten« und verleugnet, wie mit
nismus ohne Impression, Verantwortlichkeit und Gewissen, irgendeiner schönen Ruchlosigkeit von ehedem. Sein falsches
der Unternehmer schilderte, die es nicht gibt, Arbeiter, die es Renegatentum aber besitzt die Unduldsamkeit des echten,
nicht gibt, soziale ›Zustände‹, die es allenfalls ums Jahr 1850 denn seine Lebenswidrigkeit hat Scham, Selbstbezweiflung
in England gegeben haben mag, und der aus solchen Ingre- und Ironie verlernt, sie nimmt sich stockfeierlich nunmehr, sie
dienzien seine hetzerisch-liebenden Mordgeschichten zusam- ist aggressiv bis zur Tollheit, und ihre Selbstgerechtigkeit
menbraute, — eine solche Sozialsatire wäre ein Unfug, und schreit zum Himmel. Wahrhaftig, es stand moralisch besser
wenn sie einen vornehmeren Namen verdiente, einen vor- um die »hysterische Renaissance«, als es steht um die hyste-
nehmeren als den der internationalen Verleumdung und der rische Demokratie...
nationalen Ehrabschneiderei, so lautete er: Ruchloser Ästheti-
zismus.

Was ich hier sagte — wie alles, was ich sage —, ist der Aus-
druck meiner Empörung gegen die Unverschämtheit, womit
der Geistespolitiker die Identität von Politik und Moral sta-
tuiert; gegen den Dünkel, womit er jede Moralität verneint
und infamiert, die der Frage des Menschen auf anderem, seeli-
scherem Wege nachgeht als dem der Politik, — jenen ungebil-
deten, ich meine: undeutsch gebildeten Dünkel, der Ästhetizis-
mus schimpft, was nicht Politik ist, und sich anmaßt, deutsches
Leben mit feindlichem Auslandsgeist zu schulmeistern. Ich gab
drei, vier Hinweise darauf, wie es mit seinem Anti-Ästheti-
zismus, seiner ›Verantwortlichkeit‹, seiner hochmoralischen
Vereinigung von Literatur und Politik bestellt ist: Seine ge-
wissenlose ›Leidenschaft‹, die Unzucht, die er mit der Tugend
treibt, sein bellezza-Radikalismus, die Künstler-Verantwor-
tungslosigkeit, hinter die er sich zurückzieht, sobald es nötig
scheint, sein Expressionismus, das heißt seine Unfähigkeit,

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wohl Kunst?) »nicht mehr nötig hat«! Ist das auch eine Uto-
pie? Aber dann ist es eine nihilistische Utopie, eine aus dem
IRONIE UND RADIKALISMUS
Haß und der tyrannischen Verneinung, aus Reinheitsfanatis-
mus geborene. Es ist die sterile Utopie des absoluten Geistes,
des ›Geistes für den Geist‹, der steifer und kälter ist als
Das ist ein Gegensatz und ein Entweder-Oder. Der geistige
irgendein l'art pour l'art, und der sich nicht wundern darf,
Mensch hat die Wahl (soweit er die Wahl hat), entweder Iro-
wenn das Leben zu ihm kein Vertrauen faßt. Sehnsucht näm-
niker oder Radikalist zu sein; ein Drittes ist anständigerweise
lich geht zwischen Geist und Leben hin und wider. Auch das
nicht möglich. Als was er sich bewährt, das ist eine Frage der
Leben verlangt nach dem Geiste. Zwei Welten, deren Bezie-
letzten Argumentation. Es entscheidet sich dadurch, welches
hung erotisch ist, ohne daß die Geschlechtspolarität deutlich
Argument ihm als das letzte, ausschlaggebende und absolute
wäre, ohne daß die eine das männliche, die andere das weib-
gilt: das Leben oder der Geist (der Geist als Wahrheit oder
liche Prinzip darstellte: das sind Leben und Geist. Darum gibt
als Gerechtigkeit oder als Reinheit). Für den Radikalisten ist
es zwischen ihnen keine Vereinigung, sondern nur die kurze,
das Leben kein Argument. Fiat justitia oder veritas oder liber-
berauschende Illusion der Vereinigung und Verständigung,
tas, fiat spiritus — pereat mundus et vita! So spricht aller
eine ewige Spannung ohne Lösung . . . Es ist das Problem der
Radikalismus. »Ist denn die Wahrheit ein Argument, — wenn
Schönheit, daß der Geist das Leben, das Leben aber den Geist
es das Leben gilt?« Diese Frage ist die Formel der Ironie.
als ›Schönheit‹ empfindet . . . Der Geist, welcher liebt, ist
Radikalismus ist Nihilismus. Der Ironiker ist konservativ. Ein
nicht fanatisch, er ist geistreich, er ist politisch, er wirbt, und
Konservativismus ist jedoch nur dann ironisch, wenn er nicht die
sein Werben ist erotische Ironie. Man hat dafür einen politi-
Stimme des Lebens bedeutet, welches sich selber will, sondern die
schen Terminus; er lautet ›Konservativismus‹. Was ist Kon-
Stimme des Geistes, welcher nicht sich will, sondern das Leben.
servativismus? Die erotische Ironie des Geistes.
Hier ist Eros im Spiel. Man hat ihn bestimmt als »die Be-
jahung eines Menschen, abgesehen von seinem Wert«.Nun, das Es ist Zeit, von der Kunst zu sprechen. Man findet heute, sie
ist keine sehr geistige, keine sehr moralische Bejahung, und auch müsse zielstrebig sein, müsse auf Weltvervollkommnung aus-
die Bejahung des Lebens durch den Geist ist das nicht. Sie ist gehen, müsse moralische Folgen haben. Nun, die Art des
ironisch. Immer war Eros ein Ironiker. Und Ironie ist Erotik. Künstlers, Leben und Welt zu vervollkommnen, war wenig-
Das Verhältnis von Leben und Geist ist ein äußerst deli- stens ursprünglich eine ganz andere als die politisch-meliori-
kates, schwieriges, erregendes, schmerzliches, mit Ironie und sierende: es war die der Verklärung und Verherrlichung. Die
Erotik geladenes Verhältnis, das nicht abzutun ist mit dem ursprüngliche, natürliche, ›naive‹ Kunst war ein Preisen und
Satze, den ich einmal bei einem Aktivisten las: es gelte, durch Feiern des Lebens, der Schönheit, des Helden, der großen Tat;
den Geist die Welt so zu gestalten, »daß sie Geist nicht mehr sie bot dem Leben einen Spiegel, in dem es sein Ebenbild in
nötig habe«. Die Wendung kannte ich. Es war schon die Rede beglückend verschönter und gereinigter Wahrheit erblickte:
in zeitgenössischer Literatur von denen, die »den Geist nicht durch diesen Anblick faßte es neue Lust zu sich selbst. Die
nötig haben«, — und zwar mit jener verschlagenen Sehnsucht, Kunst war ein Stimulans, eine Verlockung zum Leben, und sie
die vielleicht das eigentlich philosophische und dichterische wird es zu gutem Teile immer sein. Was sie problematisch
Verhältnis des Geistes zum Leben bildet, vielleicht der Geist gemacht, was ihren Charakter so sehr kompliziert hat, war
selber ist. Das Leben, so gestaltet, daß es Geist (und auch
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ihre Verbindung mit dem Geist, dem reinen Geiste, dem kri-
Wir kennen solche Fälle, Tolstois ›Kreutzersonate‹ ist ein
tischen, verneinenden und vernichtenden Prinzip, — eine Ver-
solcher, und die Kunst ›verrät‹ sich selber dabei in einem dop-
bindung von zauberischer Paradoxie, insofern sie die innigste,
pelten Sinn, verrät ihr Wesen, indem sie, um sich gegen das
sinnlich begabteste bildnerische Lebensbejahung mit dem letz- Leben zu wenden, sich gegen sich selber wenden muß. Talent-
ten Endes nihilistischen Pathos radikaler Kritik verband. Die Prophetentum predigt gegen die Kunst und predigt Keusch-
Kunst, die Dichtung hörte auf, naiv zu sein, sie wurde, um heit. Man wendet ihm ein: Auf diese Weise versiegt aber das
den älteren Ausdruck zu gebrauchen, ›sentimentalisch‹ oder, Leben. Der Künstler-Prophet antwortet: Möge es!—Das spricht
wie man heute sagt, ›intellektuell‹; Kunst, Dichtung war und der Geist. »Ist denn das Leben ein Argument?« Da haben wir
ist nun nicht mehr Leben schlechthin, sondern auch Kritik des seine Frage, und die bringt freilich das Verstummen. Aber wie
Lebens, und zwar eine Kritik, um so viel furchtbarer und er- äußerst sonderbar, welch kindlicher Widerspruch, eine solche
schütternder als die des reinen Geistes, wie ihre Mittel rei- Lehre und Frage den Menschen in Form einer künstlerischen
cher, seelischer, vielfältiger — und ergötzlicher sind. Erzählung, das heißt auf dem Wege des Ergötzens darzubieten!
Die Kunst also wurde moralisch,••— und es fehlte nicht an Und doch ist es eben dies, was die Kunst so liebenswert und
Sticheleien von seiten einer skeptischen Psychologie, welche übenswert macht, es ist dieser wundervolle Widerspruch, daß
wissen wollte, sie sei es aus Ehrgeiz, zur Erhöhung und Ver- sie zugleich Erquickung und Strafgericht, Lob und Preis des
tiefung ihrer Wirkungen geworden; denn auf Wirkung vor- Lebens durch seine lustvolle Nachbildung und kritisch-mora-
nehmlich sei sie aus; man dürfe ihren Moralismus nicht allzu lische Vernichtung des Lebens ist oder doch sein kann, daß sie
moralisch nehmen; sie gewinne an Würde durch ihn oder in demselben Maße lustweckend wie gewissenweckend wirkt.
glaube doch, es zu tun; das Talent sei von Natur etwas Niedri- Ihre Sendung beruht darin, daß sie, um es diplomatisch zu sa-
ges, ja Äffisches, aber es ambitioniere Feierlichkeit, und um gen, gleich gute Beziehungen zum Leben und zum reinen Geist
sie zu gewinnen, sei ihm der Geist eben recht. Allein welche unterhält, daß sie zugleich konservativ und radikal ist; sie
Psychologie wollte der Kunst beikommen, diesem Rätselwesen beruht in ihrer Mittel- und Mittlerstellung zwischen Geist und
mit den tief verschlagenen Augen, das Ernst ist im Spiel und Leben. Hier ist die Quelle der Ironie . . . Hier ist aber auch,
mit allem Ernste ein Formenspiel treibt, das durch Täuschung, wenn irgendwo, die Verwandtschaft, die Ähnlichkeit der Kunst
glänzende Nachahmung, inniges Gaukelspiel die Menschen- mit der Politik: denn auch diese nimmt, auf ihre Art, eine
brust mit unnennbarem Schluchzen und unnennbarem Geläch- Mittlerstellung zwischen dem reinen Geist und dem Leben ein,
ter auf einmal erschüttert! Die Kunst hat ja durch ihre Verbin- und sie verdient ihren Namen nicht, wenn sie nichts als kon-
dung mit der Moral, das ist mit dem radikal-kritizistischen servierend oder radikal-destruktiv ist! Dieser Situationsähn-
Geist, ihre Natur als Lebensanreiz keineswegs eingebüßt: sie lichkeit wegen den Künstler aber zum Politiker machen zu
könnte nicht umhin, auch wenn sie anders wollte — und sie wollen wäre Mißverständnis; denn seine Aufgabe, das Ge-
glaubt oder scheint zuweilen anders zu wollen —, dem Leben, wissen des Lebens zu wecken und wachzuhalten, ist schlechter-
indem sie es zur sinnlich-übersinnlichen Selbstanschauung, zu dings keine politische Aufgabe, sondern eher noch eine reli-
einem intensivsten Selbstbewußtsein und Selbstgefühle bringt, giöse. Ein großer Neurologe hat eines Tages das Gewissen als
neue Lust an und zu sich selbst befeuernd einzuflößen, könnte »soziale Angst« bestimmt. Das ist, mit allem Respekt, eine
nicht anders, selbst in Fällen, wo ihr Kritizismus radikal lebens- unangenehm ›moderne‹ Bestimmung, — ein typisches Bei-
feindlich, nihilistisch zu sein scheint. spiel dafür, wie man heute alle Sittlichkeit und Religio-

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sität im Sozialen aufgehen läßt. Ich möchte wissen, was etwa schen Geist und Leben ihr das Ironische zu einem sehr heimat-
Luthers einsame Nöte und Gewissenskämpfe im Kloster, bevor lichen Elemente macht, und wenn ich nicht sage, daß Kunst
er unvorhergesehenerweise Reformator und also sozial wurde, immer ironisch sein müsse, so nenne ich Ironie doch, im Ge-
mit der Gesellschaftsidee zu tun gehabt haben sollten... Wenn gensatz zum Radikalismus, ein künstlerisches Element; denn
aber jemand es für eine Aufgabe der Kunst erklärte, Gottes- der Geist wird in ihr konservativ und erotisch, während er in
angst zu wecken, indem sie das Leben vor das Richterantlitz jenem nihilistisch und selbstsüchtig bleibt.
des reinen Geistes stelle, so wollte ich nicht widersprechen. Ironie aber ist immer Ironie nach beiden Seiten hin; sie rich-
tet sich gegen das Leben sowohl wie gegen den Geist, und dies
Man wird nicht sagen wollen, daß ein Welterlebnis im Sinne nimmt ihr die große Gebärde, dies gibt ihr Melancholie und
des radikalen Geistes der Kunst sehr zukömmlich wäre. Das Bescheidenheit. Melancholisch und bescheiden ist auch die
persönliche Lebensergebnis wäre eine beständige Wut auf alle Kunst, sofern sie ironisch ist, — oder sagen wir richtiger: der
Erscheinungen, die das menschliche Staats- und Gesellschafts- Künstler ist so. Denn das Gebiet des Sittlichen ist das des Per-
leben dem Auge darbietet, zum Beispiel auf einer Reise. ›Der sönlichen. Der Künstler also, sofern er Ironiker ist, ist melan-
Geist‹ sieht Kirchen — Fabriken — Proletarier — Militär — cholisch und bescheiden; die ›Leidenschaft‹, die große Geste,
Schutzleute — Prostituierte — die Macht der Technik und Indu- das große Wort versagen sich ihm, ja, geistig kann er nicht
strie — Bankgebäude — Armut — Reichtum, tausend aus dem einmal zur Würde gelangen. Die Problematik seiner Mittel-
Menschlichen herausgewachsene Lebensformen. Alles das ist stellung, seine Mischlingsnatur aus Geist und Sinnlichkeit, die
dumm, roh, gemein und wider den Geist; das heißt: das keusche »zwei Seelen in seiner Brust« verhindern das. Ein Künstler-
Nichts. ›Der Geistige‹ kommt aus dem Ärger, dem stillen leben ist kein würdiges Leben, der Weg der Schönheit kein
Grimm und inneren Widerspruch, dem Haß und Protest über- Würdenweg. Schönheit nämlich ist zwar geistig, aber auch
haupt nicht heraus. Was diese Lebensstimmung, diese Art zu sinnlich (»göttlich und sichtbar zugleich«, sagt Plato), und so
sehen, diese fortwährende Auflehnung im Namen des anstän- ist sie der Weg des Künstlers zum Geiste. Ob aber jemand
digen Nichts mit Künstlertum zu tun haben soll, danach müßt Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den
ihr diejenigen fragen, die den Künstler mit dem Intellektu- der Weg zum Geistigen durch die Sinne führt, machte ich frag-
ellen verwechseln; ich weiß es nicht. Ein Künstlertum, das auf lich in einer Erzählung, worin ich einen »würdig gewordenen«
immer dieser politisch-kritischen Anschauung sich überließe, Künstler begreifen ließ, daß seinesgleichen notwendig lieder-
das den kindlichen, den unbefangenen und gläubigen Blick auf lich und Abenteurer des Gefühles bleibe; daß die Meisterhal-
die Erscheinungen der Welt auf immer verlernt hätte und nie- tung seines Stiles Lüge und Narrentum, sein Ehrenstand eine
mals mehr fähig wäre, ein Ding als etwas zu sehen, was in Posse, das Vertrauen der Menge zu ihm höchst lächerlich ge-
seinem gottgewollten Stande sich wohl fühlt, heiter aus sich wesen und Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst ein
herausschaut und ebenso wiederangeschaut zu werden bean- gewagtes, zu verbietendes Unternehmen sei.
spruchen darf: ich glaube nicht, daß ein solches Künstlertum Indem ich es ihn melancholisch-ironisch begreifen ließ, blieb
zur Erfüllung seiner besonderen Aufgabe noch besonders ge- ich mir selber treu, — was der Punkt ist, auf den es mir an-
schickt wäre. kommt. Blutjung, schickte ich der Zeitschrift, die danach ver-
Da aber Kunst nicht radikal sein kann, so wäre sie also iro- langt hatte, einen autobiographischen Abriß, worin es hieß:
nisch? Sicher ist, daß ihre Mittel- und Mittlerstellung zwi- »Diejenigen, die meine Schriften durchblättert haben, werden

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das Ende von ›Buddenbrooks‹, — geht sie anders denn auf
sich erinnern, daß ich der Lebensform des Künstlers, des Dich-
eine höchst vage und mittelbare Weise auf Schulreform aus?
ters stets mit dem äußersten Mißtrauen gegenüberstand. In
Sie ist gewiß eine Anklage, aber eine recht unverbindlich ver-
der Tat wird mein Erstaunen über die Ehren, welche die Gesell-
klausulierte Anklage: verklausuliert und bedingt durch die
schaft dieser Spezies erweist, niemals enden. Ich weiß, was ein
Natur dessen, der jene Einrichtung erlebt, durch dessen Erleb-
Dichter ist, denn bestätigtermaßen bin ich selber einer. Ein
nis sie erscheint, mit dessen Augen sie gesehen ist. Es versagt
Dichter ist, kurz gesagt, ein auf allen Gebieten ernsthafter Tä-
dort etwas, — aber was versagt, ist ja nicht sowohl die neu-
tigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter,
deutsche Mittelschule, die freilich übel wegkommt, als noch
dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig
vielmehr der kleine Verfallsprinz und Musikexzedent Hanno
gesinnter Kumpan, der nicht einmal sonderliche Verstandes-
Buddenbrook, und er versagt am Leben überhaupt, dessen
gaben zu besitzen braucht, sondern so langsamen und unschar-
Symbol und vorläufiger Abriß die Schule ist. Die Kunst — ist
fen Geistes sein mag, wie ich es immer gewesen bin, — übri-
sie nicht immer eine Kritik des Lebens, ausgeübt durch einen
gens ein innerlich kindischer, zur Ausschweifung geneigter
kleinen Hanno? Die anderen, das ist offenbar, fühlen sich im
und in jedem Betrachte anrüchiger Scharlatan, der von der Ge-
Leben, wie es ist, ja recht wohl und in ihrem Element, — wie
sellschaft nichts anderes sollte zu gewärtigen haben — und im
Hanno's Kameraden in der Schule. Er, durch dessen Erlebnis
Grunde auch nichts anderes gewärtigt — als stille Verachtung.
die Schule erscheint, und zwar als skurril, quälend, stumpfsin-
Tatsache aber ist, daß die Gesellschaft diesem Menschenschlage
nig, abscheulich erscheint, ist im Grunde weit entfernt, sein
die Möglichkeit gewährt, es in ihrer Mitte zu höchsten Ehren
Erlebnis und Empfindungsurteil für allgemein gültig und maß-
zu bringen.« — Das war die Ironie eines jugendlichen Künst-
gebend zu halten; denn er kennt sich als reizbaren Ausnahme-
lertums, und ich weiß wohl, daß Ironie, obgleich sie doch etwas
fall. Dies ist sein Stolz und seine Bescheidenheit, und es ist, wie
leidlich ›Intellektuelles‹, wenn auch nicht eben im Tugend-
mir scheint, der Stolz und die Bescheidenheit des Künstlers vor
sinne, ist, inzwischen gar sehr zum vieux jeu geworden, zu
dem Leben. Kritik des Lebens durch die Kunst zu melioristi-
einem Merkmal der Bürgerlichkeit und des mesquinen Quietis-
schen Propagandazwecken zu benutzen ist im Grunde illoyal;
mus. Der Aktivist ist angekommen, — pulcher et fortissimus.
weder die Schule noch das Leben überhaupt lassen sich so ein-
Und dennoch frage ich mich, in stiller Zurückgebliebenheit, ob
richten, daß die höchste sittliche und ästhetische Reizbarkeit,
ironische Bescheidenheit nicht immer das eigentliche anständige
daß die Sensitivität und der Geist sich darin zu Hause fühlen.
Verhältnis des Künstlers — nein, nicht zur Kunst, aber zum
Wenn trotzdem eine solche Kritik meliorisierende Wirkungen
Künstlertum bleiben wird.
im Wirklichen, politische Wirkungen also, zeitigt, weil zwar
Merkwürdig ist, daß der Wille eines Künstlertums, Leben der reizbare Ausnahmefall nicht politisch maßgebend sein
und Menschenwesen unter dem Gesichtspunkt des reinen Gei- kann, trotzdem aber das Gewissen der Menschheit darstellt
stes zu richten, einen geringeren Mangel an Ironie, Melancholie und in einem höheren, zarteren, ästhetisch-moralischen Sinn,
und Bescheidenheit bedeutet als der Wille, es nach seinem auch gegen und gerade gegen seinen Willen, ihr leidender Füh-
Sinn politisch zu verbessern. Daß aber diese letztere Absicht rer ist, — weshalb denn auch tatsächlich künstlerische Lebens-
überhaupt bestehe, wird sich in der Regel als ein Fehlschluß kritik verbessernde, veredelnde, sittigende, beglückende Wir-
des Betrachters erweisen. Warum nicht noch einmal ein Bei- kungen nach sich gezogen hat—: nun, so ist das etwas anderes,
spiel aus meiner eigenen Praxis anführen? Es ist am bequem- eine Sache für sich, und darf keineswegs dazu verführen, die
sten zur Hand. Die Kritik der neudeutschen Mittelschule gegen

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Kunst, weil sie politische Folgen haben kann, als ein politi- lateinischen Dichter-Politikers und Kriegsrufers vom Typ des
sches Instrument bestimmen, den Künstler zum Politiker ma- Gabriele d'Annunzio empfinde? Ist so ein Rhetor-Demagog
chen zu wollen. Ein Künstlertum, welches seine besondere und denn niemals allein? Immer auf dem ›Balkon‹? Kennt er keine
ironische Art von Führerschaft derart mißverstände, daß es sie Einsamkeit, keine Selbstbezweiflung, keine Sorge und Qual
unmittelbar politisch zu verstehen und danach sich zu gebär- um seine Seele und um sein Werk, keine Ironie gegen den
den anfinge, würde der Selbstgerechtigkeit und sittlichen Ge- Ruhm, keine Scham vor der ›Verehrung‹? Und man nahm
borgenheit, einer unleidlichen Tugendpose verfallen, — Ereig- den eitlen, rauschsüchtigen Künstlernarren ernst dortzulande,
nis würde der Eintritt eines Achtbarkeitsphilisteriums und wenigstens vorübergehend! Niemand stand auf und sprach:
Volksmagistertums, dem unzweifelhaft der künstlerische Ruin »Kennt er die Zeit, so kenn' ich seine Launen, — fort mit dem
auf dem Fuße folgen — und nicht erst folgen müßte. Schellen-Hanswurst!« War das vielleicht nur möglich in
Ironie als Bescheidenheit, als rückwärts gewandte Skepsis einem kindlich gebliebenen Lande, einem Lande, in dem aller
ist eine Form der Moral, ist persönliche Ethik, ist ›innere Po- politisch-demokratische Kritizismus nicht hindert, daß es an
litik‹. Aber alle Politik im bürgerlichen Sinne sowohl wie in Kritik und Skepsis in jedem größeren Stile dort fehlt, einem
dem des Geisttäters, des Aktivisten, ist äußere Politik. Man Lande also, dem keine Vernunft-, keine Moralkritik, am we-
überschlage alles, was einen Künstler zum Unpolitiker, zum nigsten aber eine Kritik des Künstlertums Erlebnis wurde?
unmöglichen Politiker machen kann. Da ist die Erwägung, daß D'Annunzio, den Affen Wagners, den ehrgeizigen Wort-Orgi-
für die Kunst keine bestimmte Staatsform Lebensbedingung asten, dessen Talent »an alle Glocken schlägt« und dem La-
und sine qua non ist, sondern daß sie unter den verschieden- teinertum und Nationalismus ein Wirkungs- und Begeiste-
sten Bedingungen auf Erden geblüht hat. Da ist ein gerade rungsmittel ist wie irgendein anderes, den unverantwortlichen
ihm angeborener Abscheu vor der Stümperei, der Widerwille, Abenteurer, der seinen Rausch und seine große Stunde, seinen
dilettantisch in offenbar schwierige und komplizierte Angele- ›historischen Augenblick‹, seine Hochzeit mit dem Volke
genheiten hineinzupfuschen. Da ist die Tatsache, daß des Künst- wollte und weiter nichts, — man nahm ihn ernst, man nahm
lers Arbeit, die höchste, feinste, verantwortungsvollste und den Künstler als Politiker ernst in einer Schicksalsstunde des
verzehrendste Arbeit, die es gibt, ihm kaum den Übermut las- Landes! — Der Künstler als Kriegspanegyriker . . . »Und du?«
sen wird, den politischen Schreihals zu spielen. Alle diese — Und ich! Wo ist der deutsche Künstler, der zum Kriege ge-
Hemmungen kommen an Stärke derjenigen nicht gleich, die schürt, nach dem Kriege geschrien —, dessen Gewissen und
ich Bescheidenheit, die Bescheidenheit der rückwärts gewand- Gesittung ihn auch nur für möglich gehalten hätte noch im
ten Skepsis nannte. Ein Künstler, der so gewissensruhig, so äußersten Augenblick und selbst jenseits des äußersten Augen-
bar aller Ironie, mit seiner Menschlichkeit so einverstanden, blicks? Und ich! Mir scheint, es ist ein anderes, wenn der Krieg
von seiner Arbeit so männlich befriedigt, im ganzen so bür- Schicksal geworden, mit seinem bißchen Wort und Geist bei
gerlich standfest wäre, daß er die Gangart fände, in welcher seinem Volke zu stehen und sein Recht auf ›Patriotismus‹
der Biedermann, seiner Sache gewiß, zur Urne schreitet, um noch zu bezweifeln — und ein anderes, sein Talent, seine Seele,
seine Rauschfähigkeit, seinen Ruhm zu mißbrauchen, um Mil-
sein Wahlrecht, womöglich das neue preußische, auszuüben, —
lionen Menschen in eine Bluthölle zu hetzen und dann »aus
ein solcher Künstler ist schwer vorstellbar. Aber woher nehme
dem Himmel des Vaterlandes« (o Schmach der Schönrednerei!)
ich das Wort, um ein Maß von Verständnislosigkeit, Staunen,
seine Brokatprosa auf sie hinabzuwerfen. Da habt ihr es denn,
Abscheu, Verachtung zu bezeichnen, wie ich es angesichts des

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euer Aktivistentum! Da habt ihr ihn, den politisierten Ästhe- stürzlerischen Sozialdemokratie. Später erfuhr ich, daß das
ten, den poetischen Volksverführer, Volksschänder, den Wol- Bombenwerfen gar kein notwendiges Zubehör des russischen
lüstling des rhetorischen Enthusiasmus, den belles-lettres-Po- Nihilismus sei, daß es vielmehr wirklich einfach der westeuro-
litiker, den Katzeimacher des Geistes, den miles gloriosus päische Liberalismus, die politische Aufklärung sei, die in Ruß-
demokratischer ›Menschlichkeit‹! Und das sollte heraufkom- land — und zwar durch die Literatur — den Namen des Nihilis-
men bei uns? Das sollte Herr werden bei uns? Nie wird es das. mus erhalten hatte: Bismarck und Dostojewski stimmten darin
Und ich wenigstens bin dankbar, einem Lande anzugehören, überein, daß die westeuropäische Aufklärung, die Vernunft-
das niemals ›dem Geiste‹ die Macht zu so elendem Unfug ein- und Fortschrittspolitik des Liberalismus nihilistischen Wesens
räumen wird. sei, und es war wohl so, daß die Terroristen des Ostens eben
nur taten, was die Nihilisten des Westens meinten und lehrten.
Ich stellte eine Situationsähnlichkeit fest für Politik und Kunst. Der ›Geist‹, welcher tut, der handelnde ›Geist‹ enthüllt und
Ich meinte, sie beide nähmen eine Mittel- und Mittlerstellung bewährt den ganzen Radikalismus seines Wesens, denn die
ein zwischen Leben und Geist, und leitete eine Neigung zur Tat des reinen Geistes kann anständiger- und reinlicherweise
Ironie daraus ab, die man mir für die Kunst allenfalls zuge- immer nur die radikalste sein. Der Geistige, der die Überzeu-
stehen wird. Aber ›ironische Politik‹? Die Wortkoppelung gung gewinnt, handeln zu müssen, steht sofort vor dem poli-
wirkt allzu befremdend und namentlich allzu unernst, als daß tischen Mord — oder, wenn nicht dies, so steht es doch um die
man sie irgend wird gelten lassen, noch gar wird zugeben wol- Moralität seines Handelns immer so, daß der politische Mord
len, daß Politik überhaupt und immer ironischen Wesens sei. die Konsequenz seiner Handlungsweise wäre. Die Losung ›Der
Überzeugen wir uns wenigstens, daß sie niemals das Gegen- Geistige handle!*, soweit sie eben im Sinne des reinen Geistes
teil, daß sie nie radikal sein kann, daß dies ihrer Natur wider- gemeint ist, ist eine recht fragwürdige Losung, da doch alle
spricht, daß es die Logik des hölzernen Eisens hätte, von ›ra- Erfahrung lehrt, daß der Geistige, den seine Leidenschaft ins
dikalistischer Politik‹ zu sprechen! Politik ist notwendig der Wirkliche reißt, in ein falsches Element gerät, worin er sich
Wille zur Vermittlung und zum positiven Ergebnis, ist Klug- schlecht, dilettantisch und unselig ausnimmt, menschlich
heit, Geschmeidigkeit, Höflichkeit, Diplomatie und braucht bei Schaden leidet und sofort in das düstere Märtyrertum des mo-
alldem der Kraft keineswegs zu entbehren, um immer das ralischen Selbstopfers sich hüllen muß, um vor sich und der
Gegenteil ihres Gegenteils zu bleiben: der vernichtenden Welt überhaupt noch zu bestehen.
Unbedingtheit, des Radikalismus. »Der Handelnde«, sagt Goethe, »ist immer gewissenlos. Es
Als Knabe hörte ich, Fürst Bismarck habe gesagt, die rus- hat niemand Gewissen als der Betrachtende.« Aber auch das
sischen Nihilisten hätten viel mehr Verwandtschaft mit unse- Umgekehrte ist wahr: der Betrachtende hat im Verhältnis zum
ren Liberalen als mit der Sozialdemokratie. Das wunderte Wirklichen Gewissen weit weniger nötig, oder doch eine an-
mich; denn auf der parlamentarisch-politischen Linie hatte dere Art von Gewissen nötig als der Handelnde; er kann sich
man sich doch wohl die Sozialisten zwischen den mehr rechts den schönen Luxus des Radikalismus leisten. Der zum Han-
haltenden Liberalen und den die äußerste Linke bildenden Ni- deln im Wirklichen Berufene kann es nicht. Er wird sich der
hilisten zu denken, und es wurde mir schwer, zu denken, daß Unbedingtheit rasch, als knabenhafter Unreife, entschlagen,
jene Bombenwerfer den Parteigängern eines bürgerlich-frei- denn er weiß, daß seine Sache die politische Vermittlung
sinnigen Fortschritts geistig näherstehen sollten als der um- zwischen Gedanke und Wirklichkeit ist und daß er also zum

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Zugeständnis fähig sein muß, — eine Fähigkeit, an der es dem ihm vorhält, es sei an der Zeit, der Augenblick sei da, wo es
›Betrachtenden‹ völlig gebricht, und zwar darum gebricht, hervorzutreten, zu handeln gelte. Der Meister wird versagen.
weil die unnatürliche Anstrengung, die es ihn kostet, seine an- Die erwartungsvoll brennenden Augen des jungen Gläubigen
geborene Scheu und Schüchternheit vor dem Wirklichen zu werden statt eines Fanatikers einen Weltmann, einen — Künst-
überwinden, ihm nicht auch noch die Kraft zum Zugeständnis, ler erblicken. Vielleicht, daß der Weltmann sich angesichts
zur Mäßigung und zur Klugheit läßt. Das Tätertum des zur dieses schwarzen, brennenden, fordernden Augenpaars ein
Betrachtung Geborenen wird immer ein unnatürliches, gräß- bißchen verfärbt; doch dann wird er lächelnd sprechen: »O
liches, verzerrtes und selbstzerstörerisches Tätertum, die action nein, junger Mann, Sie verlangen Falsches von mir. Ich meine
directe, die Tat des Geistes immer nur eine Mißgeburt von einigen Grund zu haben, auf meine persönliche Sicherheit Wert
Tat sein. zu legen . .. Meine Gesundheit, welche der jungen Generation
Ein Glück nur, daß dieser Ruf: ›Der Geistige handle!‹ eine immerhin teuer zu sein scheint, wäre, wie ich befürchten muß,
sehr literarische Parole bleibt, eine Modelehre und Sensation einer längeren Untersuchungshaft nicht gewachsen. Ich habe
der Zeitschriften. Der Künstler-Aktivist denkt gar nicht ans den ›Robespierre‹ geschrieben, bei dessen Premiere Sie und
Tun — und zwar, bezeichnenderweise, desto weniger, je größer Ihre Freunde so jubelten, obgleich ich nicht versäumt hatte,
das Talent ist, dessen er sich erfreut. Lehrt mich die Zärtlichkeit meinen Helden in den Verdacht eines luetischen Gehirnleidens
des großen Talentes für sich selber kennen, seine persönliche zu bringen . . . Obgleich? Gerade deshalb! Sie würden weniger
Kostbarkeit, die lächelnde Eitelkeit, womit es die Bewunde- gejubelt haben, hätte ich Ihnen diesen Verdacht nicht freige-
rung entgegennimmt, die man der vibrierenden Hochherzig- stellt. Aber eine Konstitution, aus welcher Werke von so me-
keit, dem harten Glanz seiner Perioden zollt! Das sollte zur lancholischer Tiefe hervorgehen, kostbare Manifeste der vertu
selbstzerstörerischen Tat, zum persönlichen Opfer fähig sein? sans y croire, — eine solche Konstitution ist nicht dafür ge-
Nie, sein ganzes Leben lang, ist man der geringsten Probe schaffen, sich politisch bloßzustellen. Malen Sie sich aus, daß
davon fähig gewesen! Ruhm will man, Geld, Liebe, Applaus, die Macht Hand an mich legte . . . Nein, nein, lieber Freund,
Applaus. Den Hals in Pelz geschmiegt steht man, umstarrt leben Sie wohl! Sie unterbrachen mich in einer bewegten Seite
von den Linsen der Kinematographen, und singt vom ›Geist‹. über die Freiheit und das Glück, die ich beenden möchte, bevor
In seiner Person wenigstens verwirklicht man die Demokratie, ich ins Bad reise. Gehen Sie, gehen Sie, und tun Sie Ihre Pflicht!
indem man mit der Tugend Geschäfte macht, — Minister zu Votre devoir, jeunes hommes de vingt ans, sera le bonheur!«
erschießen oder auch nur Streikreden zu halten, überläßt man
minder erlesenem Menschengut, Leuten, die nichts zu ver- Ironie . . . Es ist möglich, daß ich sie sehe, wo andere Leute sie
lieren haben, armen, talentlosen Fanatikern, verzweifelten nicht sehen; aber mir ist eben, als könnte man diesen Begriff
Judenjungen. Mit einem Worte, sein Verhältnis zur Tat (und nicht weit genug fassen, ihn niemals zu ethisch und zu poli-
zum Tuenden) ist durchaus weltmännisch-aristokratisch. Wenn tisch nehmen. Wenn Kant, nach einem furchtbaren und nur
es aber so ist; wenn die ernstlich kompromittierende Tat Sache zu erfolgreichen erkenntniskritischen Feldzuge, unter dem Na-
der Minderbegnadeten, der Untergeordneten bleibt: wie steht men von »Postulaten der praktischen Vernunft« alles wieder
es dann um Rang und Würde der Tat selbst, der Tat über- einführt und neuerdings möglich macht, was er soeben kritisch
haupt? — Die Lustspielszene ist zu schreiben, wie der junge zermalmt, weil nämlich, wie Heine sagt, »der alte Lampe
Idealist zum Meister des revolutionären Tonfalls kommt und einen Gott haben muß«, — so sehe ich politische Ironie darin.
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Wenn Nietzsche und Ibsen, der eine philosophisch, der andere Pflanze ab, die sie hervorgebracht hat. Soll aber dieser Kreis-
durch die Komödie, den Wert der Wahrheit für das Leben in lauf nicht zum schnellen Untergange alles Bestehenden, mit-
Frage stellen, so sehe ich darin dasselbe ironische Ethos. Wenn hin auch alles Rechten und Guten führen, so muß es notwen-
das christliche Mittelalter, mit seinem Dogma der Erbsünde, dig neben der großen, zuletzt immer überwiegenden Anzahl
das heißt der Lehre von einer wesentlichen und für die Masse derer, welche für das Neue arbeiten, auch eine kleinere geben,
unüberwindlichen Sündhaftigkeit der Welt, das Ideal bestän- die mit Maß und Ziel das Alte zu behaupten und den Strom
dig ein Auge zudrücken ließ, in einem beständigen Zugeständ- der Zeit, wenn sie ihn auch nicht aufhalten kann noch will,
nis des Ideals an das Allzumenschliche lebte, die höhere gei- in einem geregelten Bette zu erhalten sucht . . . Ich war mir
stige Kultur von der Naturgrundlage wohl unterschied und stets bewußt, daß ungeachtet aller Majestät und Stärke meiner
diese zu sehr großem Teil der Sünde überwies, um sie prinzi- Kommittenten und ungeachtet aller der einzelnen Siege, die
piell ins Unrecht zu setzen und sie praktisch zu berücksich- sie erfochten, der Zeitgeist zuletzt mächtiger bleiben würde als
tigen, — so ist das abermals in meinen Augen nichts anderes wir, daß die Presse, so sehr ich sie in ihren Ausschweifungen
als ironische Politik. Wenn Adam Müller, dieser bei allem verachtete, ihr furchtbares Übergewicht über alle unsere Weis-
Fortschritt übel beleumundete Denker, der aber über die poli- heit nicht verlieren würde, und daß die Kunst so wenig als
tische Frage die weisesten und geistreichsten Dinge von der die Gewalt dem Weltenrade in die Speichen zu fallen vermag.
Welt gesagt hat, — wenn er Politik nicht etwa mit Recht ver- Dies war aber kein Grund, die mir einmal zugefallene Auf-
wechselt, sondern das Recht, unzweifelhaft und positiv, als gabe nicht mit Treue und Beharrlichkeit zu verfolgen; nur ein
das natürlich und geschichtlich Gegebene, das Legitime, kurz, schlechter Soldat verläßt seine Fahne, wenn das Glück ihr ab-
als die sichtbare Macht bestimmt, die Politik oder Staatsklug- hold zu werden scheint; und Stolz genug besitze ich auch, um
heit aber, dem Recht gegenüber, als dasjenige Prinzip, welches mir selbst in den finsteren Momenten zu sagen: victrix causa
uns lehrt, das positiv-historische und unzweifelhafte Recht Diis placuit,sed vieta Catoni.«
»mit gewissen Schonungen zu gebrauchen«, es mit dem Ge- ›Geist‹, das ist der Geist der Zeit, der Geist des Neuen,
wissen, der Klugheit, der Gegenwart und Zukunft, dem der Geist der Demokratie, für den die »zuletzt immer über-
Nutzen zu versöhnen, als das Prinzip des Vermitteins, Ver- wiegende« Mehrzahl arbeitet. Aber ein Dokument, wie das
tragens, Überredens und Kontrahierens also, das wissenschaft- da, lehrt, daß die Geistreichsten diejenigen sind, deren Auf-
lich von der Jurisprudenz durchaus zu scheiden sei, praktisch gabe es ist, dem ›Geiste‹ zu steuern, — vielleicht weil sie Geist
aber immer Hand in Hand mit ihr gehen müsse, — nun, so »am nötigsten haben«.
haben wir da wiederum eben Politik: und zwar Politik in
jenem ironischen und konservativen Sinn, welcher der Sinn Ironie und Konservativismus sind nahe verwandte Stimmun-
und Geist der Politik eigentlich ist. Als schönster, großartig- gen. Man könnte sagen, daß Ironie der Geist des Konservati-
resignierter Ausdruck konservativer Ironie aber erscheint mir vismus sei, — sofern dieser nämlich Geist hat, was selbstver-
ein politischer Brief des alten Friedrich von Gentz an eine ständlich sowenig die Regel ist wie im Falle des Fortschritts
junge Freundin, worin es heißt: und des Radikalismus. Er kann eine einfache und starke Ge-
»Die Weltgeschichte ist ein ewiger Übergang vom Alten zum fühlstendenz sein, ohne Witz und Melancholie, robust wie die
Neuen. Im steten Kreislauf der Dinge zerstört alles sich selbst, frisch-fromm-fröhliche Fortschrittlichkeit; dann ist ihm wohl,
und die Frucht, die zur Reife gediehen ist, löset sich von der und er schlägt drein, um der Zersetzung zu wehren. Witzig
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und melancholisch wird er erst dann, wenn zur nationalen Ge- mittelbar und offen sich zu ihr zu bekennen.« Der positive
fühlsbetontheit internationale Intellektbetontheit tritt; wenn Grund aber, weshalb Dostojewski als Politiker längere Zeit
ein Einschlag von Demokratie, von Literatur sein Wesen kom- anstand, sich zur konservativ-slawophilen Partei zu beken-
pliziert. Ironie ist eine Form des Intellektualismus, und iro- nen, war sein Schriftstellertum, seine Liebe zur Literatur. »Denn
nischer Konservativismus ist intellektualistischer Konservativis- er liebte die Literatur«, sagt Strachow, »und diese Liebe war
mus. In ihm widersprechen einander im gewissen Grade Sein der wichtigste Grund, weshalb er nicht sogleich zu den Slawo-
und Wirken, und es ist möglich, daß er die Demokratie, den philen überging. Er empfand doch lebhaft die Feindseligkeit,
Fortschritt fördert durch die Art, in der er ihn bekämpft. mit der sich dieselben von jeher, ihren Prinzipien gemäß, zur
Daß Konservativismus notwendig auf Roheit und böswilli- zeitgenössischen Literatur verhielten.«
ger Dummheit beruhen müsse, ist ein Glaube, den der Fort- Unzweifelhaft besteht ein gewisser Gegensatz zwischen Kon-
schritt desto inniger hegt, je geistlos-frisch-fromm-fröhlicher servativismus und Schriftstellertum, und Literatur. So gut wie
er selber ist. Es lohnt kaum, ihn zu bestreiten. Der Bürger die Verbindung ›radikalistische Politik‹ enthält auch › k o n -
Jacob Burckhardt war weder dumm noch schlecht, aber seine servatives Schriftstellertum‹ in gewissem Sinne einen Wider-
politisch-erhaltende Gesinnung, sein aristokratischer Wider- spruch im Beiwort. Denn Literatur ist Analyse, Geist, Skepsis,
wille gegen das Eindringen eines geräuschvollen Freisinns in Psychologie, ist Demokratie, ist ›Westen‹, und wo sie sich
das Rathaus und die Kirche des alten Basel, sein unerschütter- mit konservativ-nationaler Gesinnung verbindet, da tritt je-
tes Halten zur Opposition einer stillen und stolzen konserva- ner Zwiespalt von Sein und Wirken ein, von dem ich sprach.
tiven Minderheit ist bekannt. Dazu seine Volksfreundlichkeit, Konservativ? Natürlich bin ich es nicht; denn wollte ich es
— welche die Eigenschaft so vieler konservativer Politiker des meinungsweise sein, so wäre ich es immer noch nicht meiner
Altertums und der Neuzeit war. Goethe und Nietzsche waren Natur nach, die schließlich das ist, was wirkt. In Fällen wie
Konservative, — aller deutsche Geist war konservativ von je meinem begegnen sich destruktive und erhaltende Tendenzen,
und wird es bleiben, sofern er nämlich selber bleibt und nicht und soweit von Wirkung die Rede sein kann, ist es eben diese
demokratisiert, das heißt abgeschafft wird. doppelte Wirkung, die statthat.
Strachow, in seiner mehrfach erwähnten Einleitung zu Do- Über meine ›kulturpolitische‹ Stellung weiß ich heute so
stojewski's politischen Schriften, sagt über den Beitritt des Dich- ziemlich Bescheid: Sogar war es die Statistik, die mir Winke
ters zur Slawophilen-Partei folgendes: »Der Slawophilismus darüber erteilte. Sie lehrt, daß im Jahre 1876 (ein Jahr nach
ist doch nicht eine vom Leben losgelöste Theorie; er ist eine dem meiner eigenen Geburt) der ›Höchststand der Lebend-
vollkommen natürliche Erscheinung, sowohl von seiner positi- geburten‹ auf 1000 Personen in Deutschland erreicht wurde.
ven Seite — als Konservativismus — wie von seiner negativen Er betrug 40,9. Es folgte bis zur Jahrhundertwende ein lang-
Seite — als Reaktion, das heißt als Wunsch, das geistige und samer Geburtenrückgang, der indessen durch die Abnahme
moralische Joch des Westens abzuwerfen. So ist es denn er- der Todesfälle reichlich wettgemacht wurde. Plötzlich, genau
klärlich, daß sich in Fjodor Michailowitsch eine ganze Reihe seit 1900, vollzieht sich im Laufe von dreizehn Jahren ein Ab-
von Ansichten und viele Sympathien entwickelt hatten, die sturz der Geburtenzahl von 35 auf 27, — ein Absturz, wie ihn,
vollkommen slawophil waren, und daß er mit ihnen hervor- so versichert die Statistik, kein Kulturvolk in so kurzer Zeit er-
trat, ohne zunächst seine Übereinstimmung mit der schon lebt hat. Dabei konnte durchaus nicht von eigentlicher Rassen-
längst existierenden Partei zu bemerken, um dann später un- verschlechterung die Rede sein. Geschlechtskrankheiten und
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Alkoholismus traten zurück, die Hygiene schritt fort. Die diesem Begriff, das ironisch sein mochte, aber nicht ironischer
Ursachen sind rein moralisch, oder, um es indifferent-wissen- war als mein Verhältnis zum ›Geist‹. Dieser Begriff des Le-
schaftlicher zu sagen, kulturpolitisch; sie liegen in der ›Zivili- bens bekommt nationale Aktualität ums Jahr 1900, als der
sierung‹, der im westlichen Sinne fortschrittlichen Entwick- Fruchtbarkeitssturz einsetzt. Er ist ein konservativer Begriff,
lung Deutschlands. In diesen Jahren, um es kurz zu sagen und kaum ist der Verfallsroman fertig, als konservativer Ge-
und auch auf die Spitze zu stellen, hat sich die deutsche Prosa genwille in Form von Ironie sich anmeldet, als diese Wörter
verbessert; gleichzeitig drang die Anpreisung und Kenntnis ›Leben‹ und ›konservieren‹ in meiner Produktion eine Rolle
der empfängnisverhütenden Mittel bis ins letzte Dorf. zu spielen beginnen. Ich schrieb: »Das Reich der Kunst nimmt
Im Jahre 1876, als die Nation auf dem Gipfel ihrer Frucht- zu, und das der Gesundheit und Unschuld nimmt ab auf Er-
barkeit stand, lebten in Deutschland Bismarck, Moltke, Helm- den. Man sollte, was noch davon übrig ist, aufs sorgfältigste
holtz, Nietzsche, Wagner, Fontane. Das waren keine Zivilisa- konservieren, und man sollte nicht Leute, die viel lieber in
tionsliteraten, aber Geist markierten sie immerhin. Was haben Pferdebüchern mit Momentaufnahmen lesen, zur Poesie ver-
wir heute? Das Niveau. Die Demokratie. Wir haben sie ja führen wollen! . . . Es ist widersinnig, das Leben zu lieben
schon! Die ›Veredelung‹, ›Vermenschlichung‹, Literarisierung, und dennoch mit allen Künsten bestrebt zu sein, es auf seine
Demokratisierung Deutschlands ist ja seit annähernd zwanzig Seite zu ziehen, es für die Finessen und Melancholien, den
Jahren im rapidesten Gang! Was schreit und hetzt man denn ganzen kranken Adel der Literatur zu gewinnen« (›Tonio
noch? Wäre nicht eher etwas Konservativismus zeitgemäß? Kröger‹). Man sieht, ich wandte jene Begriffe und Wörter auf
Ich weiß ganz gut, was es zu bedeuten hat, daß gerade im rein moralisch-geistige Dinge an, aber unbewußt war ganz
Jahre 1900, als ich für meine Person es auf fünfundzwanzig ohne Zweifel dabei politischer Wille in mir lebendig, und noch
Jahre gebracht hatte, der plötzliche, bei keinem Kulturvolk er- einmal zeigt sich, daß man nicht den politischen Aktivisten und
hörte Fruchtbarkeitsrückgang beginnt. Zu diesem Zeitpunkt, Manifestanten zu machen braucht, daß man ein ›Ästhet‹ sein
genau in dem Jahre, in dem ›Buddenbrooks‹, diese Geschichte und dennoch mit dem Politischen tiefe Fühlung besitzen
der Veredelung, Sublimierung und Entartung eines deutschen kann.
Bürgerstammes, dies zweifellos sehr deutsche Buch, welches
aber ebenso unzweifelhaft auch ein Merkmal nationalen Ge-
sundheitsabstieges ist, erschien, um es in fünfzehn Jahren auf Ich schließe diese Aufzeichnungen an dem Tage, an dem der Be-
siebzig Auflagen zu bringen: zu diesem Zeitpunkt, mit mir ginn der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Deutsch-
und meinesgleichen, beginnt der moralisch-politisch-biolo- land und Rußland gemeldet wird. Wenn nicht alles täuscht,
gische Prozeß, hinter dem der Zivilisationsliterat mit der Hetz- soll der lange, fast seit Beginn des Krieges gehegte Wunsch
peitsche steht. Wie sehr ich teil an ihm habe, wie sehr auch meines Herzens sich erfüllen: Friede mit Rußland! Friede zu-
mein Wirken Ausdruck und Förderung dieses Prozesses be- erst mit ihm! Und der Krieg, wenn er weitergeht, wird weiter-
deutet, weiß ich genau. Nur daß ich von jeher, im Gegensatz gehen gegen den Westen allein, gegen die ›trois pays libres‹,
zum radikalen Literaten, auch erhaltende Gegentendenzen in gegen die ›Zivilisation‹, die ›Literatur‹, die Politik, den rhe-
mir hegte und, ohne mich politisch selbst zu verstehen, früh- torischen Bourgeois. — Der Krieg geht weiter; denn das ist
zeitig zum Ausdruck brachte. Das machte der Begriff des kein Krieg. Das ist eine historische Periode, die währen mag
Lebens, den ich von Nietzsche hatte, und mein Verhältnis zu wie von 1789 bis 1815 oder auch wie von 1618 bis 48, »und eh
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nicht«, heißt es in dem Gedicht vom ›Bruderzwist in Habsburg‹: alle unsere häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse zerstö-
renden politischen Wahnglauben mit den Waffen in der Hand
Und eh nicht, die nun Männer, faßt das Grab,
aufzudringen, und zu eben der Zeit, da sie nichts als Men-
Und, die nun Kinder, Männer sind geworden,
schenrechte, Freiheit, Gleichheit, Weltbürgerschaft und allge-
Legt sich die Gärung nicht, die jetzt im Blut.
meine Verbrüderung im Munde führen, uns die abscheuliche
Der Krieg geht weiter; und auch dies Buch, darin er sich im Wahl vorlegen, ob wir entweder zu Verrätern an den Ge-
Kleinen abbildete, im Persönlichen wiederholte, könnte wei- setzen unseres Vaterlandes, an unsern rechtmäßigen Regenten
tergehen mit ihm — und währt' er dreißig Jahr. Wohl mir, daß und an uns selbst und unsern Kindern werden oder uns wie
ich darf, was den furchtbar sich straffenden Völkern noch die verworfensten Sklaven behandeln lassen wollen?« Und er
lange verwehrt sein wird, — daß ich enden darf. Einige dieser wußte, daß er nicht allein sei und keinen Verrat am Geiste
Blätter sind schön; es sind die, wo Liebe sprechen durfte. Dort- begehe, als er die Reihe seiner Aufsätze über die Französische
hin, wo Hader und bittere Scheidung herrscht, werde ich nie Revolution mit den Worten beschloß: »Ich werde nur mit dem
wieder blicken. Aber wahr ist, daß ungerechte Ehrenkränkung Dasein aufhören, meinen seit mehr als fünfunddreißig Jahren
dort abgewehrt wurde, die wiederum nur ein Abbild der großen öffentlich dargelegten Grundsätzen und Gesinnungen getreu,
war, die ein Volk von einer ganzen wortkundigen Welt erfuhr. als Schriftsteller zu Beförderung alles dessen mitzuwirken,
Welches ist diese Welt? Es ist die der Politik, der Demo- was ich für das allgemeine Beste der Menschheit halte; und
kratie; und daß ich mich gegen sie stellen, daß ich in diesem eben darum werde ich, solange es nötig sein wird, allen un-
Kriege zu Deutschland — und nicht, wie der Zivilisationslite- ächten, verworrenen und schwindlichten Begriffen von Frei-
rat, zum Feinde — stehen mußte, diese Notwendigkeit geht für heit und Gleichheit, allen auf Anarchie, Aufruhr, gewalt-
jeden Sehenden aus allem, was ich in fünfzehn Friedensjahren samen Umsturz der bürgerlichen Ordnung und Realisierung
schrieb und fügte, klar hervor. Der Anschein aber, daß ich mit der neuen politischen Religion der Westfränkischen Dema-
meinem Glauben, die Frage des Menschen sei nie und nimmer gogen abzweckenden, oder auch (vielleicht wider die Absicht
politisch, sondern nur seelisch-moralisch zu lösen, heute unter wohlmeinender sogenannter Demokraten) dazu führenden
geistigen Deutschen allein stehe, kann eben nicht mehr als Maximen, Räsonnements, Deklamationen und Assoziationen,
ein Anschein sein, er muß auf Täuschung beruhen. Die Legi- aus allen Kräften entgegen arbeiten; nicht zweifelnd, daß ich
timität solcher Anschauungs- und Gefühlsweise ist durch zu hierin jeden ächten deutschen Patrioten, Volksfreund und
viele Äußerungen edler Geister erhärtet, die deutsch blieben, Weltbürger auf meiner Seite habe und behalten werde.«
indem sie überaus deutsch waren. Wieland war national im
höchsten und geistigsten Sinn, als er es den ewigen Refrain
aller seiner politischen Träume nannte, daß, solle es jemals
besser um die Menschheit stehen, die Reform nicht bei Re-
gierungsformen und Konstitutionen, sondern bei den einzel-
nen Menschen anfangen müsse. Er war es ebenfalls, als er
ausbrach in die Frage: »Welcher Deutsche, in dessen Brust
nur ein Funke von Nationalgefühl glimmt, kann den Gedanken
ertragen, daß ein auswärtiges Volk sich anmaße, uns einen
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