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EINES UNPOLITISCHEN
Als ich im Jahre 1915 das Büchlein ›Friedrich und die große
Koalition‹ dem Publikum übergeben hatte, glaubte ich, »dem
Tag und der Stunde« meine Schuld entrichtet zu haben und
mich den künstlerischen Unternehmungen, die ich vor Aus-
bruch des Krieges eingeleitet, auch im Toben der Zeit wieder
widmen zu können. Das erwies sich als Irrtum. Wie Hundert-
tausenden, die durch den Krieg aus ihrer Bahn gerissen, ›ein-
gezogen‹, auf lange Jahre ihrem eigentlichen Beruf und Ge-
schäft entfremdet und ferngehalten wurden, so geschah es auch
mir; und nicht Staat und Wehrmacht waren es, die mich ›ein-
zogen‹, sondern die Zeit selbst: zu mehr als zweijährigem
Gedankendienst mit der Waffe, — für welchen ich am Ende
meiner geistigen Verfassung nach so wenig geschickt und ge-
boren war, wie mancher Schicksalsgenosse nach seiner physi-
schen für den wirklichen Front- oder Heimatdienst, und von
welchem ich heute, nicht gerade im besten Wohlsein, ein
Kriegsbeschädigter, wie ich wohl sagen muß, an den verwaisten
Werktisch zurückkehre.
Die Frucht dieser Jahre — aber ich nenne das keine ›Frucht‹,
ich rede besser von einem Residuum, einem Rückstand und
Niederschlag oder auch einer Spur, und zwar, die Wahrheit zu
gestehen, einer Leidensspur — das Bleibsel dieser Jahre also,
um den stolzen Begriff des Bleibens zu einem Substantiv nicht
allzu stolzen Gepräges zurechtzubiegen, ist vorliegender Band:
welchen ein Buch oder Werk zu nennen ich mich aus guten
Gründen wiederum hüte. Denn eine zwanzigjährige, nicht ganz
gedankenlose Kunstübung hat mich immerhin vor dem Be-
griff des Werkes, der Komposition zu viel Achtung gelehrt, als
daß ich diesen Namen in Anspruch nehmen könnte für einen
Erguß oder ein Memorandum, ein Inventar, ein Diarium oder
eine Chronik. Um dergleichen aber, um ein Schreib- und
Schichtwerk, handelt es sich hier, — obgleich der Band sich
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zuweilen, mit halbem Recht übrigens, als Komposition und als Künstler, wie ich glaube, zuweilen Nutzen gezogen habe.
Werk präsentiert. Mit halbem Recht: Ein organischer und im- Sie zeitigte aber von jeher den bedenklichen Nebenhang, un-
mer gegenwärtiger Grundgedanke wäre aufzuweisen, — wenn mittelbar-schriftstellerisch, kritisch, polemisch auf solche Reize
es nicht eben nur das schwankende Gefühl eines solchen wäre, zu reagieren, und zwar auch dann, ja gerade dann, wenn nicht
von dem allerdings das Ganze durchdrungen ist. Man könnte nur ein äußerer Hautkitzel in Frage stand, sondern wenn ich
von ›Variationen über ein Thema‹ sprechen, wenn dieses von innen her in gewissem Grad an dem Wahrgenommenen
Thema nur eben präzisere Gestalt gewonnen hätte. Ein Buch? teilhatte: eine rein literarische Streitbarkeit oder Streitsucht,
Nein, davon kann nicht die Rede sein. Dies Suchen, Ringen beruhend auf dem Bedürfnis nach Gleichgewicht und darum
und Tasten nach dem Wesen, den Ursachen einer Pein, dies ihrerseits wieder zur erbosten Einseitigkeit nur allzu ent-
dialektische Fechten in den Nebel hinein gegen solche Ur- schlossen, — ohne daß bei alldem die kritische Erkenntnis hin-
sachen, — es ergab natürlich kein Buch. Denn unter diese länglich bewußtseinsfähig, des Wortes, der Analyse fähig,
Ursachen zählte unzweifelhaft ein widerkünstlerischer und un- intellektuell reif genug wäre, um auf essayistische Erledigung
gewohnter Mangel an Stoffbeherrschung, wovon auch das ernstlich hoffen zu können. So, meine ich, entstehen Künstler-
deutliche und beschämende Bewußtsein immerfort rege war schriften.
und aus Instinkt durch eine leichte und souveräne Sprechweise Künstlerwerk sind diese Abhandlungen ferner in ihrer Un-
verhehlt werden sollte .. . Trotzdem, wie ein Kunstwerk Form selbständigkeit, ihrem Hilfs- und Anlehnungsbedürfnis, ihrem
und Anschein einer Chronik haben kann (was ich aus Er- unendlichen Zitieren und Anrufen starker Eideshelfer und
fahrung weiß), so kann am Ende eine Chronik auch Form und ›Autoritäten‹ — diesem Ausdruck schwelgender Dankbarkeit
Anschein eines Kunstwerkes haben; und so zeigt denn dies für empfangene Wohltat und des kindischen Triebes, dem
Konvolut, gelegentlich wenigstens, den Ehrgeiz und Habitus Leser all das wörtlich aufzudrängen, was man sich zum Troste
eines Werkes: es ist ein Mittelding zwischen Werk und Erguß, erlas, statt es den stummen und beruhigenden Untergrund
Komposition und Schreiberei, — wenn auch sein Existenzpunkt der eigenen Rede bilden zu lassen. Übrigens scheint mir, daß
so wenig genau in der Mitte, in Wahrheit so viel mehr nach bei aller Zügellosigkeit dieser Begierde ein gewisser musischer
der Seite des Nicht-Künstlerischen liegt, daß man besser tut, Takt und Geschmack in ihrer Befriedigung am Werke war:
es trotz seiner komponierten Kapitel als eine Art von Tage- Das Zitieren wurde als eine Kunst empfunden, ähnlich der-
buch zu nehmen, dessen frühe Teile aus den Anfängen des jenigen, den Dialog in die Erzählung zu spannen, und mit
Krieges und dessen letzte Abschnitte etwa von der Jahres- ähnlich rhythmischer Wirkung zu üben gesucht. ..
wende 1917/18 zu datieren sind. Künstlerwerk, Künstlerschrift: Es redet hier einer, der, wie
Wenn aber diese Aufzeichnungen kein Kunstwerk sind, so es im Texte heißt, nicht gewohnt ist, zu reden, sondern reden
sind sie es am Ende darum nicht, weil sie, als Aufzeichnungen zu lassen, Menschen und Dinge, und der also reden ›läßt‹
und Betrachtungen, nur allzusehr Künstlerwerk, Werk eines auch da noch, wo er unmittelbar selber zu reden scheint und
Künstlertums sind, — denn das sind sie in der Tat auf mehr als meint. Ein Rest von Rolle, Advokatentum, Spiel, Artisterei,
eine Weise. Sie sind es zum Beispiel als Erzeugnis einer gewis- Über-der-Sache-Stehen, ein Rest von Überzeugungslosigkeit
sen unbeschreiblichen Irritabilität gegen geistige Zeittenden- und jener dichterischen Sophistik, welche den Recht haben
zen, einer Reizbarkeit, Dünnhäutigkeit und Wahrnehmungs- läßt, der eben redet, und der in diesem Falle ich selbst war, —
nervosität, die ich von jeher an mir kannte und aus der ich ein solcher Rest blieb zweifellos überall, er hörte kaum auf,
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halb bewußt zu sein, — und doch war jeden Augenblick, was Warum mir die Galeere, während andere frei ausgingen? Ich
ich sagte, wahrhaftig meines Geistes Meinung, meines Her- weiß ja wohl, daß Künstler aller Art, soweit eben ihre phy-
zens Gefühl. Es ist meine Sache nicht, die Paradoxie dieser sische Person vom Kriege verschont blieb, und auch, wenn die
Mischung von Dialektik und wirklich, redlich sich mühendem Krisis und Zeitwende sie auf ungefähr derselben Altersstufe
Wahrheitswillen zu lösen. Daß es mir ernst war, dafür bürgt betraf wie mich, in ihrer Produktion durch sie überhaupt
zuletzt das Dasein selbst dieses Buches. nicht oder nur ganz vorübergehend gehemmt wurden. Werke
Denn ich wünschte wohl, sein feuilletonisierender Ton der Schönen Literatur wie der Musik und der bildenden Kunst
täuschte niemanden darüber, daß es die schwersten Jahre sind in diesen vier Jahren geschaffen und veröffentlicht wor-
meines Lebens waren, in denen ich es aufhäufte. Künstlerwerk den, haben ihren Urhebern Dank, Ruhm und Glück gebracht.
und kein Kunstwerk, ja; denn es entstammt einem in seinen Jugend kam an und wurde begrüßt. Aber auch Künstler auf
Grundfesten erschütterten, in seiner Lebenswürde gefährdeten höherer Lebensstufe, einer höheren sogar als der meinen, reg-
und in Frage gestellten Künstlertum, einem krisenhaft ver- ten sich fort, führten zu Ende, was sie unternommen, gaben
störten Zustande dieses Künstlertums, der sich zu jeder an- das schon Gewohnte, für ihre Kultur, ihr Talent Charakte-
deren Art von Hervorbringung als völlig ungeeignet erweisen ristische, und fast schien es, als wären ihre Erzeugnisse desto
müßte. Die Einsicht, aus der es erwuchs, die seine Herstellung willkommener, je weniger sie von den Geschehnissen berührt
als unumgänglich erscheinen ließ, war vor allem die, daß jedes erschienen und daran erinnerten. Denn die Nachfrage des
Werk sonst intellektuell wäre überlastet worden, — eine zu- Publikums nach Kunst war ja sogar gesteigert, seine Dank-
treffende Erwägung, die aber der wahren Sachlage noch nicht barkeit für das freie Werk lebhafter als sonst, die Aussicht
gerecht wurde; denn in Wahrheit hätte ein Fortarbeiten an auf jede Art Lohn, auch den materiellen, besonders günstig.
jenen Dingen sich als ganz unmöglich erwiesen und erwies Was ich da sage, ist eine captatio benevolentiae, und ich
sich, bei wiederholten Versuchen, als ganz unmöglich: dank mache kein Hehl daraus. Wirklich, ich trachte, mit diesem
nämlich den geistigen Zeitumständen, der Bewegtheit alles Buch zu versöhnen, indem ich darauf hinweise, wieviel Ver-
Ruhenden, der Erschütterung aller kulturellen Grundlagen, zicht es umschließt. Meine liebsten Pläne, auf deren Verwirk-
kraft eines künstlerisch heillosen Gedankentumultes, der nack- lichung viele — möge es ihnen nun zu Spott oder Ehre ge-
ten Unmöglichkeit, auf Grund eines Seins etwas zu machen, reichen — nicht ohne Begierde und Ungeduld warteten, stellte
der Auflösung und Problematisierung dieses Seins selbst durch ich zurück, um ein Schreibwerk zu bewältigen, von dessen
die Zeit und ihre Krisis, der Notwendigkeit, dies in Frage ge- innerer und äußerer Weitläufigkeit ich mir freilich, auch dies-
stellte, in Not gebrachte und nicht mehr als Kulturgrund fest, mal, eine nicht annähernd richtige Vorstellung machte, — ich
selbstverständlich und unbewußt ruhende Sein zu begreifen, hätte mich sonst, trotz allem, kaum darauf eingelassen. Ich
klarzustellen und zu verteidigen; der Unabweisbarkeit also erinnere mich wohl, daß mein Eifer anfangs bedeutend war,
einer Revision aller Grundlagen dieses Künstlertums selbst, daß der Glaube mich trieb, ich hätte mir und anderen viel
seiner Selbsterforschung und Selbstbehauptung, ohne welche Gutes, Belangreiches zu sagen. Aber dann: welche wachsende
seine Betätigung, Auswirkung und heitere Erfüllung, jedes Unruhe, welches Heimweh nach der ›Freiheit in der Begren-
Tun und Machen fortan als ein Ding der Unmöglichkeit er- zung«, welche Qual durch das unsäglich Kompromittierende
schien. und Desorganisierende alles Redens, welcher nagende Kum-
mer über das Versäumnis der Monate, der Jahre! Ist aber der
Warum denn aber mußte es gerade mir so erscheinen?
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Punkt überschritten, an dem ein Zurück, ein Liegenlassen und Sei dem wie ihm wolle, ich bringe den Ursprung dieser
Sichdavonmachen eben noch möglich war, so wird ›Durchhal- Blätter auf seinen einfachsten Namen, wenn ich ihn Gewissen-
ten‹ zu einem mehr noch ökonomischen als moralischen Im- haftigkeit nenne, — eine Eigenschaft, die einen so wesentlichen
perativ, — wenn auch der Wille zum Fertigmachen unbedingt Bestandteil meines Künstlertums ausmacht, daß man kurz
etwas Heroisches gewinnt in Fällen, wo an Fertigwerden gar sagen könnte, es bestehe daraus: Gewissenhaftigkeit, eine sitt-
nicht zu denken ist. Für ein Treiben und Schreiben wie dieses lich-artistische Eigenschaft, der ich jede mir je zuteil gewor-
gibt es immer nur einen Leitspruch, der seine Torheit, seinen dene Wirkung verdanke, und die mir nun diesen Streich
Jammer erklärt, ohne es ganz zu verwerfen. Er steht in Tho- spielte. Denn ich weiß wohl, wie nahe sie an Pedanterie grenzt,
mas Carlyle's ›Französischer Revolution‹ und lautet: »Wisse, und wer dieses ganze Buch als eine ungeheuere kindlich-hypo-
daß dies Universum das ist, was es zu sein vorgibt: ein Un- chondrische Pedanterie erklären und bezeichnen wollte, der
endliches. Versuche nie im Vertrauen auf deine logische Ver- ginge kaum fehl; mir selbst erschien es in mancher Stunde
dauungskraft, es zu verschlingen; sei vielmehr dankbar, wenn nicht anders. Die Frage des Mottos drängte sich mehr als ein-
du durch geschicktes Einrammen dieses oder jenes festen Pfei- mal, als hundertmal, mit einem Gelächter, wie es Unfaßbares
lers in das Chaos verhinderst, daß es dich verschlinge.« begleitet, durch all meine Explorationen, Explikationen, Ex-
pektorationen, und nachträglich, betrachte ich etwa meine un-
Nochmals, warum mußte »mein Leib sich mühen an Stelle
beholfenen Bemühungen um die politische Frage, mischt sich
der Christenheit«, — mit Claudels Violaine zu reden? War
selbst etwas von jener Rührung darein, die nicht verfehlen
meine seelische Situation denn besonders schwierig, — daß
wird, meine Leser anzuwandeln. »Was Teufel ging es ihn
sie so sehr der Erörterung, Darlegung, Verteidigung zu be-
an?« Allein es ging mich an, es lag mir wahrhaft und leiden-
dürfen schien? Vierzig Jahre sind wohl ein kritisches Alter,
schaftlich am Herzen, und unbedingt nötig schien, mit diesen
man ist nicht mehr jung, man bemerkt, daß die eigene Zu-
Fragen irgendwie nach meinem besten Wissen, Glauben und
kunft nicht mehr die allgemeine ist, sondern nur noch — die
Vermögen ins reine zu kommen. Denn so war die Zeit ge-
eigene. Du hast dein Leben zu Ende zu führen, — ein vom
artet, daß kein Unterschied mehr kenntlich war zwischen dem,
Weltlauf schon überholtes Leben. Neues stieg über den Hori-
was den einzelnen anging und nicht anging; alles war auf-
zont, das dich verneint, ohne leugnen zu können, daß es nicht
geregt, aufgewühlt, die Probleme brausten ineinander und
wäre, wie es ist, wenn du nicht gewesen wärest. Vierzig ist
waren nicht mehr zu trennen, es zeigte sich der Zusammen-
Lebenswende; und es ist nichts Geringes — ich wies wohl im
hang, die Einheit aller geistigen Dinge, die Frage des Men-
Text darauf hin —, wenn die Wende des persönlichen Lebens
schen selbst stand da, und die Verantwortlichkeit vor ihr um-
von den Donnern einer Weltwende begleitet und dem Bewußt-
faßte auch die Notwendigkeit politischer Stellungnahme und
sein furchtbar gemacht wird. Aber auch andere waren vierzig
Willensentschließung . . . Es war die Größe, Schwere und
und fuhren besser. War ich schwächer, verstörbarer, zerstör-
Schrankenlosigkeit der Zeit, daß es für den Gewissenhaften
barer? Mangelte es mir an Stolz und innerer Festigkeit, daß
und irgendwie — ich weiß nicht wovor oder vor wem — Ver-
ich mich an das Neue polemisch verlor, auf die Gefahr, meine
antwortlichen, für den, der sich selber wichtig nahm, über-
Selbstzerstörung damit zu betreiben? Oder muß ich mir ein
haupt nichts mehr gab, was er nicht wichtig zu nehmen
besonders reizbares Solidaritätsgefühl mit meiner Epoche zu-
brauchte. Alle Qual um die Dinge ist Selbstquälerei, und nur
schreiben, eine besondere Zugespitztheit, Empfindlichkeit, Ver-
der quält sich, der sich wichtig nimmt. Man wird mir jede
letzlichkeit meiner Zeitbestimmtheit?
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Pedanterie und Kindlichkeit dieser Blätter verzeihen, wenn gar natürlich, daß ein Künstler, der sich soeben im Werke
man verziehen hat, daß ich mich selbst wichtig nehme, — ein menschlich geopfert und hingegeben, ja hingeworfen hat, im
Faktum, das augenfällig wird dort, wo ich unmittelbar von nächsten Augenblick unter die Leute tritt ohne den Anflug
mir selber spreche, und freilich eine Eigenschaft, die man selbst eines Gefühls, daß er seiner bürgerlichen Person das Ge-
als den Urgrund aller Pedanterie empfinden und belächeln ringste vergeben habe, — und eine gesellschaftliche Öffentlich-
mag. »Himmel, wie er sich wichtig nimmt!« — zu diesem keit von Kultur, das heißt eine solche, die sich nach Möglich-
Zwischenruf gibt mein Buch allerdings auf Schritt und Tritt keit mit der geistigen Öffentlichkeit gleichsetzt, wird ihm
Gelegenheit. Ich habe dem nichts entgegenzustellen als die nicht nur recht geben, sondern die Verdienste, die er sich als
Tatsache, daß ich, ohne mich wichtig zu nehmen, nie gelebt ein Einsam-Öffentlicher erworben, mögen seiner bürgerlichen
habe noch leben könnte; als das Wissen, daß alles, was mir Ehre sogar zugute kommen.
gut und edel scheint, Geist, Kunst, Moral — menschlichem Dies alles aber gilt nur bedingungsweise. Es gilt nur dann,
Sichwichtignehmen entstammt; als die klare Einsicht, daß und nur dann erweist sich das Menschliche durch literarische
alles, was ich je leistete und wirkte, und zwar der Reiz und Publizität der sozialen Öffentlichkeit fähig, wenn es der gei-
Wert jedes kleinsten Bestandteiles davon, jeder Zeile und stigen Öffentlichkeit würdig ist, — andernfalls wird es durch
Wendung meines bisherigen Lebenswerkes — so viel und so Publizität zum Spott oder zum Skandal. Man muß an diesem
wenig dies nun besagen möge — ausschließlich darauf zurück- Gesetz, diesem Kriterium festhalten. Ich aber habe mich nun
zuführen ist, daß ich mich wichtig nahm. zu fragen, ob die Veröffentlichung dieser Blätter, des Produkts
Nahe verwandt der Gewissenhaftigkeit aber ist Einsamkeit, einer Einsamkeit, welche gewohnt ist, öffentlich zu sein, zu
— sie ist vielleicht nur ein anderer Name dafür: jene Einsam- Recht geschieht; das will sagen: ob sie sozialer Öffentlichkeit
keit nämlich, welche von der Öffentlichkeit zu unterscheiden sich fähig erweisen mögen, weil sie der geistigen Öffentlich-
für den Künstler so schwer ist. Sogar wird dieser im ganzen keit würdig sind, — und da würde es mir denn wenig helfen,
überhaupt nicht geneigt sein, zwischen beiden zu unterschei- wenn ich ihre Publizierbarkeit, ihr Recht auf Öffentlichkeit
den. Sein Lebenselement ist eine öffentliche Einsamkeit, eine oder das Recht, das die Öffentlichkeit darauf hat, nur mit
einsame Öffentlichkeit, die geistiger Art ist und deren Pathos menschlich-persönlichen Gründen verteidigen könnte. Allen-
und Würdebegriff sich von dem der bürgerlichen, sinnlich-ge- falls sind solche Gründe mitzunehmen. In Jahr und Tag
sellschaftlichen Öffentlichkeit vollkommen unterscheidet, ob- stockte meine Produktion, angekündigte Arbeiten blieben aus,
gleich in der Erfahrung beide Öffentlichkeiten gewissermaßen ich schien verstummt, gelähmt, schien ausgeschieden. War ich
zusammenfallen. Ihre Einheit beruht in der literarischen Pu- meinen Freunden nicht Rechenschaft schuldig darüber, wie
blizität, welche geistig und gesellschaftlich zugleich ist (wie ich die Jahre verbracht? Und wenn nicht von Schuldigkeit die
das Theater) und in der das Einsamkeitspathos gesellschafts- Rede sein sollte, — vielleicht durfte die Rede sein von einem
fähig, bürgerlich möglich, sogar bürgerlich-verdienstlich wird. Recht? Denn am Ende hatte ich gekämpft und entsagt, hatte
Die Rücksichtslosigkeit, der Radikalismus seiner mitteilenden es mir sauer werden lassen, mich redlich um Erkenntnis ge-
Hingabe möge bis zur Prostituierung, bis zur Preisgabe der müht, wenn auch mit unzulänglichen und dilettantischen
Biographie, bis zur vollständigen Jean-Jacqueshaften Scham- Kräften, und es war menschlich, zu wünschen, daß all das
losigkeit gehen, — die Würde des Künstlers als Privatperson nicht ganz ›umsonst‹, nicht in privater und unöffentlicher
bleibt dadurch völlig unangefochten. Es ist möglich, es ist so- Einsamkeit getragen, geduldet und getan sein sollte. Ich sage,
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solche Gründe sind mitzunehmen, — den Ausschlag geben sie Noch bin ich nicht so bleich, daß ich der Schminke brauchte;
nicht. Von der Seite des Geistigen her muß die Publizierbar- Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe!
keit dieser Blätter erwiesen, ihre Publikation gerechtfertigt
werden; es handelt sich um ihr geistiges Recht auf Öffentlich- Ich wiederhole: Eine Fixierung problematischer Art, sei sie
keit, — und wirklich, ich finde, daß ein solches besteht. nun Bild oder Rede, ist der bürgerlichen Öffentlichkeit fähig,
Diese Schrift, die die Hemmungslosigkeit privat-brieflicher sofern sie der geistigen würdig ist. In diesem Falle bleibt die
Mitteilung besitzt, bietet in der Tat, nach meinem besten Wis- private Würde durchaus unberührt davon. Ich habe dabei ein
sen und Gewissen, die geistigen Grundlagen dessen, was ich menschlich-tragisches Element des Buches besonders im Äuge,
als Künstler zu geben hatte, und was der Öffentlichkeit ge- jenen intimen Konflikt, dem eine Reihe von Seiten besonders
hört. War dieses der geistigen Öffentlichkeit würdig, so mag gewidmet sind und der auch sonst vielerorten mein Denken
auch der folgende Rechenschaftsbericht es sein. Und da es die färbt und bestimmt. Auch von ihm, und von ihm namentlich,
Zeit war, die ihn mir, und zwar unweigerlich, abverlangte, so gilt, daß seine Preisgabe, soweit eine solche überall noch mög-
scheint es, daß die Zeit ein Anrecht darauf besitzt: Ein Do- lich war, geistig berechtigt ist und darum der Anstößigkeit
kument, scheint mir, liegt vor, nicht unwert, von Heutigen entbehrt. Denn dieser intime Konflikt spielt im Geistigen, und
und sogar von Späteren gekannt zu sein, wenn auch allein um er besitzt ohne allen Zweifel genug symbolische Würde, um
seines zeitlich symptomatischen Wertes willen, in der Unend- ein Recht auf Öffentlichkeit zu haben und folglich, dargestellt,
lichkeit seiner geistigen Aufgeregtheit, in seinem Eifer, von nicht schimpflich zu wirken. Eine gebildete bürgerliche Öffent-
allen Dingen auf einmal zu reden . . . Ob ich mich aber dabei lichkeit, das heißt eine solche, die sich mit der geistigen mög-
nicht allein als schlechter Denker erwies, sondern auch durch lichst gleichsetzt, skandaliert sich nicht über die Preisgabe von
die Enthüllung der geistigen Fundamente meines Künstler- Persönlichem, das der geistigen Öffentlichkeit würdig ist, und
tums dieses mein Künstlertum selbst noch bloßstellte, diese worauf diese ein Anrecht hat. Das Vertrauen, das in solcher
Ungewißheit darf kein Grund für mich sein, die Schrift zu Preisgabe sich ausdrückt, möge sich als allzu ›einsam‹ und
verschließen. Was wahr ist, komme an den hellen Tag. Nie optimistisch-gutgläubig erweisen: sein Zunichtewerden wird
habe ich mich besser gemacht, als ich bin, und will dies weder nicht dem zur Unehre gereichen, der es hegte.
durch Reden noch auch durch kluges Schweigen tun. Nie fürch-
tete ich, mich zu zeigen. Der Wille, den Rousseau im ersten
Zeitdienst, sagte ich, hätte ich geleistet, indem ich dies Buch
Satz seiner ›Bekenntnisse‹ ausdrückt und der zu jener Zeit neu
schrieb, indem ich gewissenhafter- oder pedantischerweise
und unerhört schien: »einen Menschen, und zwar sich selbst
die von der Zeit aufgewühlten, aufgewirbelten Gründe mei-
in seiner ganzen Naturwahrheit zu zeigen«, dieser Wille, den
nes Wesens in gebundenen Sätzen wieder ›niederzulegen‹
Rousseau »bis heute beispiellos« nannte und von dem er
suchte. Aber mancher, nachdem er von den folgenden Kapiteln
glaubte, daß seine Ausführung keine Nachahmer finden werde,
Kenntnis genommen, wird urteilen, ich hätte der Zeit damit
— ist zur eingefleischten Selbstverständlichkeit, zum geistig-:
auf recht fragwürdige Art, ohne gesunde Liebe zu ihr, diszi-
künstlerischen Grund-Ethos des Jahrhunderts geworden, dem
plinlos, obstinat, unter hundert Bekundungen feindseligen
ich wesentlich angehöre, des neunzehnten; und auch über
Ungehorsams und bösen Willens ›gedient‹ und mich um ihre
meinem Leben, wie über dem so vieler Söhne dieser Bekenner-
Erfüllung, Vollendung, Verwirklichung wenig verdient ge-
epoche, stehen die Verse Platens:
macht. Nicht sowohl oder nicht nur als schlechter Denker
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hätte ich mich erwiesen, sondern auch und vielmehr als ein kein ›Führer‹ und will es nicht sein. Ich liebe nicht ›Führer‹,
schlecht Denkender, schlecht Gesinnter, als schlechter Charak- und auch ›Lehrer‹ liebe ich nicht, zum Beispiel ›Lehrer der
ter: indem ich nämlich Absterbendes, Hinfälliges zu stützen, Demokratie‹. Am wenigsten aber liebe und achte ich jene
zu verteidigen und dem Neuen und Notwendigen, der Zeit Kleinen, Nichtigen, Spürnäsigen, die davon leben, daß sie
selbst zu wehren, zu schaden versucht hätte. — Ich will darauf Bescheid wissen und Fährte haben, jenes Bedienten- und Läu-
erwidern, daß man der Zeit auf mehr als eine Weise dienen fergeschmeiß der Zeit, das unter unaufhörlichen Kundgebun-
kann und daß die meine nicht unbedingt die falsche, schlechte gen der Geringschätzung für alle weniger Mobilen und Behen-
und unfruchtbare zu sein braucht. Ein zeitgenössischer Den- den dem Neuen zur Seite trabt; oder auch die Stutzer und
ker hat gesagt: »Die Richtung aufzufinden, in der eine Kultur Zeitkorrekten, jene geistigen Swells und Elegants, welche die
sich fortbewegt, ist nicht so schwer, und mit Geheul sich ihr letzten Ideen und Worte tragen, wie sie ihr Monokel tragen:
anzuschließen nicht so großartig, als die Viertelsköpfe rings zum Beispiel ›Geist‹, ›Liebe‹, ›Demokratie‹, — so daß es heute
im Land es sich denken. Die eigentliche Bahn des Lebens zu schon schwer ist, diesen Jargon ohne Ekel zu hören. Diese
erkennen, die Rücksprünge, Widersprüche, Spannungen des alle, die Heulenden sowohl wie die Snobs, genießen die Frei-
Lebens, die Gegengewichte, die es braucht, die Widerkräfte, heit ihrer Nichtigkeit. Sie sind nichts, wie ich im Texte sagte,
die es neu spannen, wo es sich im Verbrauch seiner Kräfte und also sind sie ganz frei, zu meinen und zu urteilen, und
schwächt, die Gegenspieler, ohne die das Drama des Lebens zwar immer nach neuestem Schnitt und à la mode. Ich verachte
nicht vorwärts geht, — alles dies zu sehen nicht nur, sondern sie redlich. — Oder ist meine Verachtung nur verkappter Neid,
lebendig in sich selbst widereinander angehen zu fühlen, das da ich ihrer windigen Freiheit nicht teilhaft bin?
macht den Menschen, der ganz Mensch ist in seiner Zeit.« Inwiefern denn aber bin ich es nicht? Inwiefern bin ich ge-
Ein schönes Wort, mir recht aus der Seele gesprochen. Ich bunden und bestimmt? Wenn ich nicht nichts bin, wie sie, was
glaube nicht, daß es Wesen und Pflicht des Schriftstellers sei, bin ich denn also? — Es war diese Frage, die mich auf die »Ga-
sich »mit Geheul« der Hauptrichtung anzuschließen, in der leere« zwang, und durch »Vergleichung« suchte ich ihr Ant-
die Kultur sich eben fortbewegt. Ich glaube nicht und kann es wort zu finden. Die Erkenntnis, die mehrfach hervortreten
meiner Natur nach nicht glauben, daß es dem Schriftsteller wollte, war schwankend, nebelhaft, unzulänglich, dialektisch-
natürlich und notwendig sei, eine Entwicklung auf durchaus einseitig und durch Anstrengung verzerrt. Soll ich im letzten
positive Weise, durch unmittelbare und gläubig-enthusia- Augenblick noch einmal versuchen, sie zu leidlicher Beruhi-
stische Fürsprache zu fördern, — als ein rechtschaffener Ritter gung zu befestigen?
der Zeit, ohne Skrupel und Zweifel, geraden Sinnes, unge-
Ich bin, im geistig Wesentlichen, ein rechtes Kind des Jahr-
brochenen Willens und Mutes zu ihr, seiner Göttin. Schrift-
hunderts, in das die ersten fünfundzwanzig Jahre meines
stellertum selbst erschien mir vielmehr von jeher als ein Er-
Lebens fallen: des neunzehnten. Ich finde wohl in mir arti-
zeugnis und Ausdruck der Problematik, des Da und Dort, des
stisch-formale wie auch geistig-sittliche Elemente, Bedürfnisse,
Ja und Nein, der zwei Seelen in einer Brust, des schlimmen
Instinkte, die nicht mehr dieser Epoche, sondern einer neueren
Reichtums an inneren Konflikten, Gegensätzen und Wider-
angehören. Aber wie ich als Schriftsteller mich eigentlich als
sprüchen. Wozu, woher überhaupt Schriftstellertum, wenn es
Abkömmling (natürlich nicht als Zugehörigen) der deutsch-
nicht geistig-sittliche Bemühung ist um ein problematisches
bürgerlichen Erzählungskunst des neunzehnten Jahrhunderts
Ich? Nein, zugegeben, ich bin kein Ritter der Zeit, bin auch
fühle, die von Adalbert Stifter bis zum letzten Fontane reicht;
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wie, sage ich, meine Überlieferungen und artistischen Nei- ganda für Reformen sozialer und politischer Natur getrieben.
gungen in diese heimatliche Welt deutscher Meisterlichkeit Dagegen habe etwa Hegel, mit seiner fatalistischen Denk-
zurückweisen, die mich durch eine idealische Bestätigung mei- weise, seinem Glauben an die größere Vernunft des Siegrei-
ner selbst entzückt und stärkt, sobald ich mit ihr in Be- chen, seiner Rechtfertigung des wirklichen »Staats« (an Stelle
rührung komme; so liegt auch mein geistiger Schwerpunkt von »Menschheit« und so weiter) ganz wesentlich einen Erfolg
jenseits der Jahrhundertwende. Romantik, Nationalismus, gegen die Empfindsamkeit bedeutet. Und Nietzsche spricht von
Bürgerlichkeit, Musik, Pessimismus, Humor — diese Atmo- Goethe's Antirevolutionarismus, von seinem »Willen zur Ver-
sphärilien des abgelaufenen Zeitalters bilden in der Haupt- göttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen
sache die unpersönlichen Bestandteile auch meines Seins. Es und Ergründen Ruhe und Glück zu finden«. Seine Kritik, über-
ist aber besonders eine Grundstimmung und seelische Ver- all nicht ohne Sympathie, wird höchst positiv, sie umschreibt
anlagung, ein Charakterzug, wodurch das neunzehnte Jahr- in Wahrheit die Religiosität eines ganzen Zeitalters, indem
hundert, ins Große gerechnet, sich von dem vorhergehenden sie Goethe's Natur als einen »fast« freudigen und vertrauen-
und, wie immer deutlicher wird, auch von dem neuen, gegen- den Fatalismus umschreibt, »der nicht revoltiert, der nicht
wärtigen unterscheidet. Nietzsche war es, der diesen Charak- ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glau-
terunterschied zuerst und am besten in kritische Worte ge- ben, daß erst in der Totalität alles sich erlöst, als gut und ge-
faßt hat. rechtfertigt erscheint«.—
»Redlich, aber düster« nennt Nietzsche das neunzehnte Nietzsche's Kritik des abgelaufenen Jahrhunderts, dieser
Jahrhundert im Gegensatz zum achtzehnten, das er, ungefähr gewaltigen, aber wenig »hochherzigen«, im Geistigen wenig
wie Carlyle, feminin und verlogen findet. Dieses habe jedoch, galanten Epoche, erschien niemals großartiger zutreffend, als
in seiner humanen Gesellschaftlichkeit, einen Geist im Dienste unter der Optik des Jetzt und Heute. Ich fand kürzlich gedruckt,
der Wünschbarkeit besessen, den das neunzehnte nicht kenne. Schopenhauer sei »sozial-altruistisch« gewesen, und zwar, weil
Animalischer und häßlicher, ja pöbelhafter und eben deshalb seine Sittlichkeit im Mitleid gegipfelt habe, — ich setzte ein
»besser«, »ehrlicher« als jenes, sei das neunzehnte Jahrhun- dickes Fragezeichen dorthin, wo das stand. Die Willensphilo-
dert vor der Wirklichkeit jeder Art unterwürfiger, wahrer. Da- sophie Schopenhauers (der niemals geneigt war zu vergessen,
bei freilich sei es willensschwach, traurig und dunkel begehr- was man von der Natur des Menschen weiß), war ohne jeden
lich, fatalistisch. Weder vor der »Vernunft« noch vor dem Willen im Dienste der Wünschbarkeit, durchaus ohne jedes
»Herzen« habe es Scheu und Hochachtung an den Tag gelegt soziale und politische Interessement. Sein Mitleid war Er-
und, durch Schopenhauer, selbst die Moral auf einen Instinkt, lösungsmittel, nicht Besserungsmittel in irgendeinem der
nämlich das Mitleid, reduziert. Es habe sich, als das wissen- Wirklichkeit opponierenden, geistespolitischen Sinn. Scho-
schaftliche, im Wünschen bedürfnislose, losgemacht von der penhauer war Christ hierin. Man hätte ihm von sozial-refor-
Domination der Ideale und überall triebmäßig nach Theorien matorischen Aufgaben der Kunst reden sollen! — dem der
gesucht, geeignet, eine fatalistische Unterwerfung unter das ästhetische Zustand ein seliges Vorherrschen der reinen An-
Tatsächliche zu rechtfertigen. Das achtzehnte suche zu ver- schauung, ein Stillstehen des Ixion-Rades, ein Loskommen
gessen, was man von der Natur des Menschen weiß, um ihn vom Willen, Freiheit im Sinn der Erlösung und in keinem
an seine Utopie anzupassen. Oberflächlich, weich, human, für anderen Sinne war. — Da ist Flauberts harter Ästhetizismus,
»den Menschen« schwärmend, habe es mit der Kunst Propa- sein grenzenloser Zweifel mit dem nihil als Fazit, mit der
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höhnischen Resignation des »Hein, le progrès, quelle blague!« nur noch musikalischen Spätling des Bürgergeschlechts, dem
Da tritt Ibsens bürgerlich-böses Haupt hervor, ähnlich im kleinen Johann. »Der kleine Johann starrte auf seines Vorder-
Ausdruck dem Schopenhauers. Die Lüge als Bedingung des manns breiten Rücken, und seine goldbraunen, bläulich um-
Lebens, der Träger der ›sittlichen Forderung‹ als komische Figur, schatteten Augen waren ganz voll von Abscheu, Widerstand
Hjalmar Ekdal als der Mensch wie er ist, sein plump realisti- und Furcht . . .« — Nun, die Widersetzlichkeit, die sensitiv-
sches Weib als die Rechtschaffene, der Zyniker als Räsoneur: sittliche Revolte gegen »das Leben, wie es ist«, gegen das
da haben wir die Askese der Ehrlichkeit—barsches neunzehntes Gegebene, die Wirklichkeit, die ›Macht‹, — diese Widersetz-
Jahrhundert. Und wieviel von seinem brutalen und redlichen lichkeit als Merkmal des Verfalls, der biologischen Unzu-
Pessimismus, von seinem besonderen strengen, maskulinen und länglichkeit; der Geist selbst (und die Kunst!), verstanden und
›bedürfnislosen‹ Ethos waltet noch in Bismarcks ›Realpolitik‹ dargestellt als das Merkmal hiervon, als Entartungsprodukt:
und Anti-Ideologie! das ist neunzehntes Jahrhundert, das ist das Verhältnis, in
Ich erkenne, daß diese vielfach variierende Tendenz und welchem dieses Jahrhundert den Geist zum Leben sieht, —aber
Grundstimmung des neunzehnten Jahrhunderts, seine wahr- freilich wiederum in einer besonderen und extremen Nuance,
haftige, un-schönrednerische und unempfindsame, dem Kult welche erst nach der Kulmination jener melancholisch-ehr-
schöner Gefühle abholde Unterwürfigkeit vor dem Wirk- lichen Tendenz in Nietzsche möglich war.
lichen und Tatsächlichen die entscheidende Mitgift ist, die ich Nietzsche nämlich, der den Charakter der Epoche am schärf-
von ihm empfing; daß sie es ist, die mein Wesen gegen ge- sten kritisch gekennzeichnet hat, bedeutete in gewissem Sinn
wisse neu hervortretende und meine Welt als ethoslos ver- eine solche Kulmination: Die Selbstverneinung des Geistes zu-
neinende Strebungen einschränkt und bindet. Der Roman des gunsten des Lebens, des »starken« und namentlich »schönen«
Fünfundzwanzigjährigen, an der Schwelle des Jahrhunderts Lebens, das ist unzweifelhaft eine äußerste und letzte Los-
entstanden, war ein Werk ganz ohne jenen »Geist im Dienste machung von der »Domination der Ideale«, eine schon nicht
der Wünschbarkeit«, ganz ohne sozialen »Willen«, ganz un- mehr fatalistische, sondern begeisterte, erotisch berauschte
pathetisch, unrednerisch, unsentimental, vielmehr pessimistisch, Unterwerfung unter die ›Macht‹, eine Unterwerfung von
humoristisch und fatalistisch, wahrhaftig in seiner melan- schon nicht mehr recht maskuliner, sondern — wie sage ich —
cholischen Unterwürfigkeit als Studie des Verfalls. Eine ein- sentimentalisch-ästhetizistischer Art—und obendrein ein Fund
zige unscheinbare Anführung genügt, um den — man verzeihe für Künstler in noch ganz anderem Grade als Schopenhauers
mir doch das Wort—den geistesgeschichtlichen Platz des Buchs Philosophie! Es sind in geistig-dichterischer Hinsicht zwei
zu bezeichnen. Gegen den Schluß werden bittere und skurrile brüderliche Möglichkeiten, die das Erlebnis Nietzsche's zeitigt.
Schulgeschichten erzählt. »Wer«, heißt es, »unter diesen fünf- Die eine ist jener Ruchlosigkeits- und Renaissance-Ästhetizis-
undzwanzig jungen Leuten von rechtschaffener Konstitution, mus, jener hysterische Macht-, Schönheits- und Lebenskult,
stark und tüchtig für das Leben war, wie es ist, der nahm in worin eine gewisse Dichtung sich eine Weile gefiel. Die an-
diesem Augenblick die Dinge völlig wie sie lagen, fühlte sich dere heißt Ironie, — und ich spreche damit von meinem Fall.
nicht durch sie beleidigt und fand, daß alles selbstverständlich In meinem Falle wurde das Erlebnis der Seiostverneinung des
und in der Ordnung sei. Aber es gab auch Augen, die sich in Geistes zugunsten des Lebens zur Ironie, — einer sittlichen
finsterer Nachdenklichkeit auf einen Punkt richteten . . .«Und Haltung, für die ich überhaupt keine andere Umschreibung
diese Augen gehören dem durch Entartung sublimierten und und Bestimmung weiß als eben diese: daß sie die Selbstver-
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der seine, — ein Geist gesellschaftlicher Humanität. Die Ver-
neinung, der Selbstverrat des Geistes zugunsten des Lebens
nunft und das Herz: sie stehen wieder obenan im Vokabular
ist, — wobei unter dem ›Leben‹, ganz wie beim Renaissance-
der Zeit, — jene als Mittel, das ›Glück‹ zu bereiten, dieses als
Ästhetizismus, nur in einer anderen, leiseren und verschla-
›Liebe‹, als ›Demokratie‹. Wo wäre noch eine Spur von
generen Gefühlsnuance, die Liebenswürdigkeit, das Glück, die
»Unterwürfigkeit vor dem Wirklichen«? Aktivismus vielmehr,
Kraft, die Anmut, die angenehme Normalität der Geistlosig-
Voluntarismus, Meliorismus, Politizismus, Expressionismus;
keit, Ungeistigkeit verstanden wird. Nun ist Ironie freilich ein
mit einem Worte: die Domination der Ideale. Und die Kunst
Ethos nicht durchaus leidender Art. Die Selbstverneinung des
hat Propaganda zu treiben für Reformen sozialer und politi-
Geistes kann niemals ganz ernst, ganz vollkommen sein. Iro-
scher Natur. Weigert sie sich, so ist ihr das Urteil gesprochen.
nie wirbt, wenn auch heimlich, sie sucht für den Geist zu ge-
Es lautet kritisch: Ästhetizismus; es lautet polemisch: Schma-
winnen, wenn auch ohne Hoffnung. Sie ist nicht animalisch,
rotzertum. Die neue Empfindsamkeit ist kein Erzeugnis des
sondern intellektuell, nicht düster, sondern geistreich. Aber
Krieges; kein Zweifel aber, daß sie aufs mächtigste durch ihn
willensschwach und fatalistisch ist sie doch und jedenfalls weit
gesteigert wurde. Nichts mehr von Hegels ›Staat‹: die ›Mensch-
entfernt, sich ernstlich und auf aktive Art in den Dienst der
heit‹ ist wieder an der Tagesordnung, nichts mehr von Scho-
Wünschbarkeit und der Ideale zu stellen. Vor allem aber ist
penhauers Verneinung des Willens: der Geist sei Wille und
sie ein durchaus persönliches Ethos, kein soziales, genau so
er schaffe das Paradies. Nichts mehr von Goethe's persönlichem
wenig, wie Schopenhauers ›Mitleid‹ dies war; nicht Besse-
Bildungsethos: Gesellschaft vielmehr! Politik, Politik! Und
rungsmittel im geistespolitischen Sinn, unpathetisch, weil
was den ›Fortschritt‹ betrifft, über den Flauberts faustisches
ohne Glauben an die Möglichkeit, das Leben für den Geist
Heldenpaar zu einem so höhnischen Resultat gelangte: der
zu gewinnen — und eben hierin eine Spielart (ich sage Spiel-
Fortschritt ist Dogma — und keine blague, für den, der ›in
art) der Mentalität des neunzehnten Jahrhunderts.
Betracht kommen‹ w i l l . . . Dies alles zusammen ist das ›Neue
Selbst dem nun aber, der es nicht schon längst, seit zehn Pathos‹. Es vereinigt Empfindsamkeit und Härte, es ist nicht
oder fünfzehn Jahren sah, kann heute nicht mehr verborgen ›menschlich‹ in irgendeinem pessimistisch-humoristischen
bleiben, daß dieses junge Jahrhundert, das zwanzigste, aufs Sinn, es verkündet »entschlossene Menschenliebe«. Unduld-
allerdeutlichste Miene macht, dem achtzehnten weit stärker sam, ausschließlich, von einer französischen Bösartigkeit der
nachzuarten als seinem unmittelbaren Vorgänger. Das zwan- Rhetorik, beleidigt es, indem es alle Sittlichkeit für sich in
zigste Jahrhundert erklärt den Charakter, die Tendenzen, die Anspruch nimmt, — obgleich auch andere Leute am Ende mit
Grundstimmung des neunzehnten in Verruf, es diffamiert einer Art von Recht vermeinen, schon vor der Proklamation
seine Art von Wahrhaftigkeit, seine Willensschwäche und Un- der Tugendherrschaft nicht gerade als Liederjane, zum bloßen
terwürfigkeit, seinen melancholischen Unglauben. Es glaubt — Spaß gelebt zu haben, und versucht sein mögen zu antwor-
oder es lehrt doch, man müsse glauben. Es sucht zu vergessen, ten, was Goethe einem vorwurfsvollen Patriotismus zur Ant-
»was man von der Natur des Menschen weiß«, — um ihn an wort gab: »Jeder tut sein Bestes, je nachdem Gott es ihm ge-
seine Utopie anzupassen. Es schwärmt für ›den Menschen‹ geben. Ich kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur
ganz im dix-huitième-Geschmack, es ist nicht pessimistisch, mir zum Tagewerk bestimmt, mir Tag und Nacht keine Ruhe
nicht skeptisch, nicht zynisch und nicht — dies sogar am gelassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer
wenigsten — ironisch. Jener »Geist im Dienste der Wünsch- gestrebt und geforscht und getan, so gut und soviel ich konnte.
barkeit«, es ist offensichtlich der Geist, den es meint, es ist
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Wenn jeder von sich dasselbe sagen kann, so wird es um uns langen, als gäbe es zweierlei oder gar vielerlei ›Politik‹ und
alle gut stehen.« als sei nicht vielmehr die politische Einstellung immer nur
Was mich betrifft, so habe ich mir an verschiedenen Punk- eine: die demokratische. Wenn in den folgenden Abhandlun-
ten der nachfolgenden Aufzeichnungen deutlich zu machen gen die Identität der Begriffe ›Politik‹ und ›Demokratie‹
gesucht, inwiefern ich mit dem Neuen zu tun habe, inwiefern verfochten oder als selbstverständlich behandelt wird, so ge-
auch in mir etwas ist von jener »Entschlossenheit«, jener Ab- schieht es mit einem ungewöhnlich klar erkannten Recht. Man
sage an den »unanständigen Psychologismus« der abgelaufe- ist nicht ein ›demokratischer‹ oder etwa ein ›konservativer‹
nen Epoche, an ihr laxes und formwidriges tout comprendre, Politiker. Man ist Politiker oder man ist es nicht. Und ist man
— von einem Willen also, den man anti-naturalistisch, anti- es, so ist man Demokrat. Die politische Geisteseinstellung ist
impressionistisch, anti-relativistisch nennen möge, der aber, die demokratische; der Glaube an die Politik der an die De-
im Künstlerischen wie im Sittlichen, ein Wille jedenfalls, und mokratie, den contrat social. Seit mehr als anderthalb Jahr-
nicht bloße »Unterwürfigkeit«, wiederum war. Dergleichen hunderten geht alles, was man in geistigerem Sinn unter Po-
hat sich sichtbar genug bei mir kundgegeben, — nicht vermöge litik versteht, auf Jean Jacques Rousseau zurück: und er ist
eines Anschlußbedürfnisses, sondern einfach, weil ich nur der der Vater der Demokratie, indem er der Vater des politischen
eigenen inneren Stimme zu lauschen brauchte, um auch die Geistes selbst, der politischen Menschlichkeit ist.
Stimme der Zeit zu vernehmen. Warum mußte ich trotzdem Als Demokratie also, als politische Aufklärung und Glücks-
in Feindschaft mit dem Neuen geraten, mich davon abge- Philanthropie trat mir das Neue Pathos entgegen. Die Po-
stoßen, verneint, beleidigt fühlen und in der Tat von ihm litisierung jedes Ethos begriff ich als sein Betreiben; in der
beschimpft und beleidigt werden, um so unerträglicher und Leugnung und Schmähung jedes nicht-politischen Ethos be-
vergiftender, als es mit dem höchsten literarischen Talent ge- stand — ich erfuhr es am eigenen Leibe — seine Aggressivität
schah, mit der reißendsten Schreibkunst, der geübtesten Lei- und doktrinäre Intoleranz. Die ›Menschheit‹ als humanitärer
denschaft, über die es verfügt? — Weil es mir, mir persönlich, Internationalismus; ›Vernunft‹ und ›Tugend‹ als die radi-
in einer Gestalt entgegentrat, in der es das Tiefste und Gründ- kale Republik; der Geist als ein Ding zwischen Jakobinerklub
lichste in mir, das Persönlich-Unpersönlichste, das Unwill- und Großorient; die Kunst als Gesellschaftsliteratur und bös-
kürlichste, Unveräußerlichste und Instinktivste, das nationale artig schmelzende Rhetorik im Dienste sozialer ›Wünschbar-
Grundelement meiner Natur und Bildung gegen sich aufbrin- keit‹: da haben wir das Neue Pathos in seiner politischen
gen mußte: in politischer Gestalt. Reinkultur, wie ich es in der Nähe sah. Ich gebe zu, es ist eine
besondere, extrem romanisierende Form davon. Mein Schicksal
Bei keiner Analyse des Neuen Pathos wird das Wort ›Poli-
aber war es nun einmal, es so zu erleben; und dann, wie ich
tik‹ je zu vermeiden sein. Es liegt durchaus in seiner optimi-
schon sagte, ist es immer und jeden Augenblick im Begriff,
stisch-melioristischen Natur, daß es von Politik immer nur
diese Form anzunehmen: ›Tätiger Geist‹, das heißt: ein Geist,
zwei Schritte entfernt ist: ungefähr — und nicht nur un-
der zugunsten aufklärerischer Weltbefreiung, Weltbesserung,
gefähr — in dem Sinne, worin ein Freimaurer- und Illumina-
Weltbeglückung tätig zu sein »entschlossen« ist, bleibt ›Po-
tentum romanischer Färbung immer nur zwei Schritte davon
litik‹ nicht lange im weiteren und übertragenen Sinn, er ist es
entfernt ist und auch diese zwei Schritte niemals einhalten
sofort auch im engeren, eigentlichen. Und was für eine — um
wird. Wer aber fragte, was für eine Politik es denn sei, die
noch einmal einfältig zu fragen? Deutschfeindliche Politik,
das Neue Pathos verfolge, der zeigte sich in dem Irrtum be-
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das liegt auf der Hand. Der politische Geist, widerdeutsch als gleichen den politischen Geist für einen in Deutschland land-
Geist, ist mit logischer Notwendigkeit deutschfeindlich als fremden und unmöglichen Geist erklärt, so sollte ein Miß-
Politik. verständnis nicht aufkommen können. Wogegen das Tiefste in
Wenn ich auf den folgenden Blättern die Meinung vertrat, mir, mein nationaler Instinkt sich erbittern mußte, war der
daß Demokratie, daß Politik selbst dem deutschen Wesen Schrei nach ›Politik‹ in der Bedeutung des Wortes, die ihm
fremd und giftig sei; wenn ich Deutschlands Berufenheit zur in geistiger Sphäre gebührt: Es ist die ›Politisierung des
Politik bezweifelte oder bestritt, so geschah es nicht in der — Geistes‹ die Umfälschung des Geist-Begriffes in den der bes-
persönlich und sachlich genommen — lächerlichen Absicht, serischen Aufklärung, der revolutionären Philanthropie, was
meinem Volk den Willen zur Realität zu verleiden, es im wie Gift und Operment auf mich wirkt; und ich weiß, daß
Glauben an die Gerechtigkeit seiner Weltansprüche wankend dieser mein Abscheu und Protest nichts unbedeutend Per-
zu machen. Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche sönliches und zeitlich Bestimmtes ist, sondern daß in ihm das
Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, nationale Wesen selbst aus mir wirkt. Geist ist nicht Po-
aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht litik: man braucht, als Deutscher, nicht schlechtes neunzehntes
lieben kann, und daß der vielverschriene ›Obrigkeitsstaat‹ Jahrhundert zu sein, um auf Leben und Tod für dieses »nicht«
die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von einzustehen. Der Unterschied von Geist und Politik enthält
ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. Dieser den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft,
Überzeugung Ausdruck zu geben, dazu gehört heute ein ge- von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und
wisser Mut. Trotzdem wird damit nicht nur nicht dem deut- Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht
schen Volke irgendwelche Geringschätzung im geistigen oder Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur. Der Unter-
sittlichen Sinne ausgedrückt — das Gegenteil ist die Mei- schied von Geist und Politik ist, zum weiteren Beispiel, der
nung —, sondern auch sein Wille zur Macht und Erdengröße von kosmopolitisch und international. Jener Begriff entstammt
(welcher weniger ein Wille als ein Schicksal und eine Welt- der kulturellen Sphäre und ist deutsch; dieser entstammt der
notwendigkeit ist) bleibt dadurch in seiner Rechtmäßigkeit Sphäre der Zivilisation und Demokratie und ist — etwas ganz
und seinen Aussichten völlig unangefochten. Es gibt höchst anderes. International ist der demokratische Bourgeois, möge
›politische‹ Völker, — Völker, die aus der politischen An- er überall auch noch so national sich drapieren; der Bürger —
und Aufgeregtheit überhaupt nicht herauskommen und die auch das ist ein Motiv dieses Buches — ist kosmopolitisch,
es dennoch, kraft eines völligen Mangels an Staats- und denn er ist deutsch, deutscher als Fürsten und ›Volk‹: dieser
Machtfähigkeit, auf Erden nie zu etwas gebracht haben noch Mensch der geographischen, sozialen und seelischen ›Mitte‹
bringen werden. Ich nenne die Polen und Iren. Andererseits war immer und bleibt der Träger deutscher Geistigkeit,
ist die Geschichte ein einziger Preis der organisatorischen und Menschlichkeit und Anti-Politik . . .
staatsbildenden Kräfte des grund-unpolitischen, des deutschen
Im Nachlaß Nietzsche's fand man eine unglaublich in-
Volkes. Sieht man, wohin Frankreich von seinen Politikern
tuitionsvolle Bestimmung der ›Meistersinger‹. Sie lautet:
gebracht worden ist, so hat man, wie mir scheint, den Beweis
»Meistersinger — Gegensatz zur Zivilisation, das Deutsche
in Händen, daß es mit ›Politik‹ zuweilen durchaus nicht geht;
gegen das Französische.« Die Aufzeichnung ist unschätzbar.
was wiederum eine Art von Beweis dafür ist, daß es auch
Im blendenden Blitzschein genialischer Kritik steht hier auf
ohne ›Politik‹ am Ende gehen möchte. Wenn also meines-
eine Sekunde der Gegensatz, um den dieses ganze Buch sich
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müht, — der aus Feigheit viel verleugnete, bestrittene und ›menschlichen Zivilisation‹ handhabt, im Jahre 1914 sofort
dennoch unsterblich wahre Gegensatz von Musik und Politik, sein eigenes Wort und seinen eigenen Willen vereinigen
von Deutschtum und Zivilisation. Dieser Gegensatz bleibt konnte und dessen abscheulichen Argot er redete, wie er es
auf seiten des Deutschtums eine nur zögernd einzugestehende schon immer getan hatte. Ich wiederhole: Nicht mit der an-
Tatsache des Gemütes, etwas Seelisches, nicht verstandesmäßig ständigen, ritterlich respektvollen Feindschaft draußen, nicht
Erfaßtes und darum Unaggressives. Auf seiten der Zivilisation mit dem nouveau esprit, welcher im Geistig-Sittlichen mit
aber ist er politischer Haß: Wie könnte es anders sein? Sie ist Deutschland im Grunde sympathisiert, war er im Einverneh-
Politik durch und durch, ist die Politik selbst, und auch ihr men, sondern mit dem politischen, dem giftigen Feinde, wel-
Haß kann immer nur und muß sofort politisch sein. Der po- cher ist Gründer und Aktionär »d'un journal qui répand les
litische Geist als demokratische Aufklärung und »menschliche lumières«. Er war sein Held, seinen Sieg wünschte er, seine
Zivilisation‹ ist nicht nur psychisch widerdeutsch; er ist mit Invasion in Deutschland ersehnte er; und so war es billig.
Notwendigkeit auch politisch deutschfeindlich, wo immer er Der Triumph eines »Gesinnungsmilitarismus« (mit Max
walte. Und dies bestimmte die Haltung seines innerdeutschen Scheler zu reden) über den anderen hätte wenig Sinn gehabt;
Anhängers und Propheten, der unter dem Namen des Zivili- erflehenswert war der Sieg des pazifistisch-bourgeoisen »Zweck-
sationsliteraten durch die Seiten dieses Buches spukt. Die Ge- militarismus« (mit schwarzen Armeen) über den »Gesinnungs-
schichtsforschung wird lehren, welche Rolle das internationale militarismus« : Und hier nun, spätestens hier, gingen unsere
Illuminatentum, die Freimaurer-Weltloge, unter Ausschluß Meinungen, die des politischen Neu-Pathetikers und die meine,
der ahnungslosen Deutschen natürlich, bei der geistigen Vor- auseinander; der Gegensatz zwischen uns wurde im Drange
bereitung und wirklichen Entfesselung des Weltkrieges, des der Zeit akut; denn irgendwelche Gebundenheiten meines Seins
Krieges der ›Zivilisation‹ gegen Deutschland, gespielt hat. und Wesens bewirkten, daß ich Deutschlands Sieg wünschte.
Was mich betrifft, so hatte ich, bevor irgendwelches Material Das ist ein Wunsch, den zu erklären, zu entschuldigen man
vorlag, meine genauen und unumstößlichen Überzeugungen sich unter Deutschen die erdenklichste Mühe geben muß. Es ist
in dieser Hinsicht. Heute braucht nicht mehr behauptet, ge- im Lande kantischer Ästhetik vor allem ratsam, hervorzuheben,
schweige bewiesen zu werden, daß etwa die französische daß einem Deutschlands Sieg »ohne Interesse« gefallen
Loge politisch ist bis zur Identität mit der radikalen Partei, — würde. Ich bin weder ein Machtjunker, noch ein Schwer-
jener radikalen Partei, die in Frankreich recht eigentlich Pflanz- industrieller, noch auch nur ein kapitalverbundener Sozial-
stätte und Nährboden für den geistigen Haß auf Deutsch- imperialist. Ich habe kein Lebens- und Sterbensinteresse an
land und deutsches Wesen bildet. Nicht der nouveau esprit des deutscher Handelsherrschaft und hege sogar meine oppositio-
jungen Frankreich ist es, der eigentlich Deutschenhaß nährt; nellen Zweifel an Deutschlands Berufenheit zur Großen Po-
auch er liegt im Kriege heute mit uns, aber wir sind ihm ein litik und imperialen Existenz. Auch mir ist es am Ende um
Feind, den er ehrt. Deutschlands Feind im geistigsten, instinkt- Geist zu tun, um ›innere Politik‹. Ich stehe mit meinem Her-
mäßigsten, giftigsten, tödlichsten Sinn ist der ›pazifistische‹, zen zu Deutschland, nicht sofern es Englands machtpolitischer
›tugendhafte‹, ›republikanische‹ Rhetor-Bourgeois und fils Konkurrent, sondern sofern es sein geistiger Gegner ist; und
de la Révolution, dieser geborene Drei-Punkte-Mann, — und was den deutschen Verfechter der ›menschlichen Zivilisation‹
er war es, mit dessen Wort und Willen der deutsche Vertreter betrifft, so war es sehr bald nicht sowohl seine politische
des politischen Geistes, er, der das Neue Pathos im Sinne der Deutschfeindlichkeit, als vielmehr seine seelische Wider-
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deutschheit, was mich kümmerte, mir Furcht, Haß und Wider- gleich vor dem Ende? War es nicht Verderbnis, in Kämpfen
stand erregte, — zumal auch auf seiner Seite sehr bald die und Krisen die Verwirklichung von Ideen zu betreiben? Auch
›innere‹ Politik der ›äußeren‹ wieder den Rang ablief, die unser soll jetzt dies Los sein . . .«
Deutschfeindlichkeit hinter die Widerdeutschheit zurücktrat Welch ein unsäglich peinvoller Widerstand hebt mein In-
oder richtiger: von ihr abfiel und sie, als ihren Kern, zurück- neres auf vor dieser feindseligen Milde, all dieser schön stili-
ließ. Seine Deutschfeindlichkeit hatte bald wenig mehr zu sierten-Unannehmlichkeit? Sollte man denn nicht lachen? Ist
hoffen: Die militärische Invasion der Zivilisationstruppen in denn nicht jeder Satz, jedes Wort darin falsch, übersetzt,
Deutschland mißglückte. Worauf er mit einem starken Schein grundirrtümlich, groteske Selbsttäuschung, — die Verwechs-
von Recht seine Hoffnungen zu setzen fortfuhr, das war die lung der Wünsche, Instinkte, Bedürfnisse eines geistig in
geistige Invasion, die möglicherweise bei weitem stärkste und Frankreich naturalisierten Romanciers mit deutscher Wirklich-
überwältigendste politische Invasion des Westens, die je deut- keit? »Auch unser soll jetzt dies Los sein!« Ein hohes und
sches Schicksal geworden. Deutschlands seelische Bekehrung glänzendes, aber von Grund aus romanisiertes Literatentum,
(die eine wirkliche Verwandlung und Strukturveränderung das sich längst jeder Fühlung mit dem besonderen Ethos seines
sein müßte) zur Politik, zur Demokratie: sie ist es, worauf Volkes begab, ja schon die Anerkennung eines solchen be-
er hofft, — nein! die ihm, nicht ohne einen starken Schein von sonderen nationalen Ethos als bestialischen Nationalismus
Recht, wie ich sagte, zur triumphierenden Gewißheit gewor- verpönt und ihm seinen humanitär-demokratischen Zivilisa-
den ist, und zwar in dem Grade, daß er es heute bereits für tions- und ›Gesellschafts‹-Internationalismus entgegenstellt, —
möglich hält, es nicht mehr für Raub an seiner Ehre erachtet, dieses Literatentum träumt: Weil Deutschland damit umgeht,
Deutschland und sich selbst in der ersten Person Pluralis zu das Fundament der Auswahl für seine politische Führung zu
vereinigen, und über die Lippen bringt, was er all seiner Leb- verbreitern und dies ›Demokratisierung‹ nennt, werde es bei
tage noch nicht darüber gebracht: das Wort »Wir Deutschen«. »uns« nun so herrlich unterhaltsam wie in Frankreich zu-
»Wir Deutschen«, heißt es in einem zivilisationsliterarischen gehen! Es wirft, befangen in Wahn und Verwechslung, seinem
Manifest, das um die Jahreswende 1917/18 erschien, »haben, Lande und Volke ein Los, das nie und nimmer das ihre wird
nun wir zur Demokratie heranwachsen, vor uns das aller- sein können und dürfen, — ist es nicht so? Ich lasse die Rede-
größte Erleben. Ein Volk erlangt nicht die Selbstherrschaft, wendung stehen von Deutschlands »Heranwachsen zur Demo-
ohne über den Menschen viel zu lernen und mit reiferen Or- kratie« — einer Staats- und Gesellschaftsform also, zu welcher
ganen das Leben zu handhaben. Das Spiel der gesellschaft- Paraguay und Portugal schon des längern »herangewachsen«
lichen Kräfte liegt in Völkern, die sich selbst regieren, allen waren. Noch weniger halte ich mich auf bei der Kammer-
Augen offen, und auch die einzelnen dort erziehen einander, Tirade von den »sich selbst regierenden Völkern«. Worauf es
öffentlich handelnd, zur Erkenntnis von ihresgleichen. Aber ankommt, ist, daß nie, und lege er sich noch so viel »Demo-
kommen wir nun innerlich in Bewegung, dann fallen alsbald kratie« zu, daß niemals der deutsche Mensch das Leben mit
auch die Schranken nach außen, die europäischen Entfernun- den »reiferen Organen« eines Boulevard-Moralisten »hand-
gen werden kleiner, und als Verwandte auf gleichen Wegen haben« wird. Nie wird er unter dem »Leben« die Gesellschaft
erblicken wir die Mitvölker. Solange wir im staatlichen Still- verstehen, nie das soziale Problem dem moralischen, dem
stand verharrten, erschienen sie uns als Feinde — todgeweiht, inneren Erlebnis überordnen. Wir sind kein Gesellschaftsvolk
weil nicht auch sie verharrten. Kam nicht jede Umwälzung und keine Fundgrube für Bummelpsychologen. Das Ich und
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Und doch — welche triumphale, schon nicht mehr kämp- unserer gegenwärtigen Feinde, daß je die nationalen Demo-
ferische, sondern in glückstrahlende Milde übergegangene kratien sich zu einer geistig einheitlichen europäischen oder
Sicherheit spricht aus den angeführten Worten jenes Mani- Weltdemokratie zusammenschließen könnten. Was Dosto-
fests! Ist es möglich, über soviel subjektives Siegesbewußtsein jewski den »kosmopolitischen Radikalismus« nennt, ist jene
mit Achselzucken hinwegzugehen? Und sagte ich nicht selbst, Geistesrichtung, welche die demokratische Zivilisationsgesell-
daß seine Hoffnungen, sein Glaube, sein Triumph einen star- schaft der »Menschheit« zum Ziele hat; la république sociale,
ken Anschein von Recht besäßen? Ist die geistig-politische In- démocratique et universelle; empire of human civilization.
vasion des Westens so vollkommen vereitelt worden wie die Ein Trugbild unserer Feinde? Aber Trugbild oder nicht: Feinde
militärische? Das ist von vornherein unwahrscheinlich, denn Deutschlands müssen es unbedingt sein, denen dies ›Trug-
der militärischen Widerstandskraft Deutschlands kommt die- bild‹ vorschwebt, denn soviel ist sicher, daß bei einem Zu-
jenige seines nationalen Ethos — geben wir doch zu, was wir sammenschluß der nationalen Demokratien zu einer euro-
wissen! — bei weitem nicht gleich. Jene Invasion ist nicht päischen, einer Weltdemokratie von deutschem Wesen nichts
vereitelt worden und konnte es nicht werden, denn sie traf übrigbleiben würde: Die Weltdemokratie, das Imperium der
nicht nur auf ethische Schwäche, sondern auch auf positives Zivilisation, die »Gesellschaft der Menschheit« könnte einen
Entgegenkommen: die Wege waren ihr bereitet, nicht erst mehr romanischen oder mehr angelsächsischen Charakter
seit heute und gestern. Das nationale Ethos Deutschlands tragen, — der deutsche Geist würde aufgehen und verschwin-
kann sich an Klarheit, Distinktheit nicht mit dem anderer den darin, er wäre ausgetilgt, es gäbe ihn nicht mehr. Richard
Völker messen, es fehlt ihm, im eigentlichen und übertrage- Wagner erklärte einmal, vor der Musik vergehe die Zivilisa-
nen Sinne des Wortes, an ›Selbstbewußtsein‹. Es ist nicht tion wie Nebel vor der Sonne. Daß eines Tages die Musik,
wohlumzirkt, es hat so ›schlechte Grenzen‹ wie Deutsch- sie ihrerseits, vor der Zivilisation, der Demokratie, wie Nebel
land selbst. Seine größte Schwäche aber ist seine Unbereit- vor der Sonne vergehen könnte, hat er sich nicht träumen
schaft zum Wort. Es spricht nicht gut; und faßt man es in lassen. . .
Worte, so klingen sie mesquin und negativ, wie der Satz, es Dies Buch läßt sich davon träumen, — verworren und schwer
sei nicht deutsche Angelegenheit, »Ideen zu verwirklichen«. Da- und undeutlich, aber dies und nichts anderes ist der Inhalt
gegen hat das politisch-zivilisatorische Ethos in seiner hoch- seiner Ängste. »Finis musicae«: das Wort kommt irgendwo
herzig-rhetorischen Literaturfähigkeit den schwer widersteh- vor darin, und es ist nur ein Traumsymbol für die Demo-
lichen Schmiß und Schwung einfallender Revolutionstruppen. kratie. Der Fortschritt von der Musik zur Demokratie, — er
Es hat Bewunderer, Freunde, Verbündete innerhalb der
ist es, den es überall meint, wo es von ›Fortschritt‹ spricht.
Mauern, Verräter aus Edelmut, die ihm die Tore öffnen. Bald
Wenn es aber behauptet und aufzuzeigen sucht, daß Deutsch-
sind es fünfzig Jahre, daß Dostojewski, der" Augen hatte zu
land sich wirklich rapide und unaufhaltsam in der Richtung
sehen, fast ungläubig fragte: »Sollte es wahr sein, daß der
dieses Fortschritts bewege, so ist das freilich zunächst ein
kosmopolitische Radikalismus auch in Deutschland schon
rhetorisches Mittel der Abwehr. Denn es bekämpft ja offenbar
Wurzel gefaßt hat?« Das ist eine Art zu fragen, die einer
diesen Fortschritt, es leistet ihm konservativen Widerstand.
verwunderten Feststellung gleichkommt, und der Begriff des
In. der Tat ist all sein Konservatismus nur Opposition in
kosmopolitischen oder, richtiger, internationalen Radikalismus
dieser Beziehung; all seine Melancholie und halb ge-
selbst widerspricht der Versicherung, es sei ein ›Trugbild‹
heuchelte Resignation, all sein Hinsinken an die Brust der
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spiel zusammengefaßt. Ich sagte zugleich, was sie sind. Sie
Romantik und seine »Sympathie mit dem Tode« ist auch
sind das umständliche Erzeugnis einer Problematik, die Dar-
nichts anderes. Es verneint den Fortschritt überhaupt, um
stellung eines innerpersönlichen Zwiespaltes und Widerstrei-
jedenfalls diesen Fortschritt zu verneinen; es argumentiert
tes. Daß sie es sind, das macht dies Buch, welches kein Buch
recht wahllos und geht selbst zweifelhafte Bündnisse ein; es
und kein Kunstwerk ist, beinahe zu etwas anderem: beinahe
rennt gegen die ›Tugend‹ an, deckt den ›Glauben‹ mit Zita-
zu einer Dichtung.
ten zu, äußert sich herausfordernd über ›Menschlichkeit‹, —
dies alles, um diesem Fortschritt zu opponieren, dem Fort-
schritt Deutschlands von der Musik zur Politik.
Aber wozu der Aufwand? Warum die schädliche und kom-
promittierende Galeerenfron dieses Buches, die niemand von
mir verlangte noch erwartete, und für die ich nicht eine Spur
von Dank und Ehre haben werde? Man kümmert sich nicht in
diesem Maßstabe um etwas, was einen nicht zu kümmern
braucht, was einen nicht angeht, weil man nichts davon weiß
und nichts davon in sich selbst, im eigenen Blute hat. Ich
sagte, Deutschland habe Feinde in seinen eigenen Mauern,
das heißt Verbündete und Förderer der Weltdemokratie.
Sollte sich das im Engeren wiederholen, und sollte ich Ele-
mente, die dem ›Fortschritt‹ Deutschlands Vorschub leisten,
in meinem eigenen konservativen Innern hegen? Wäre es so,
daß mein Sein und — soweit davon die Rede sein kann —
auch mein Wirken durchaus nicht genau meinem Denken und
Meinen entspricht, und daß ich selbst mit einem Teil meines
Wesens den Fortschritt Deutschlands zu dem, was in diesen
Blättern mit einem recht uneigentlichen Namen ›Demokratie‹
genannt wird (und mit gleichem Wahlrecht nur oberflächlich
zu tun hat), zu fördern bestimmt war und bin? Und was für
ein Teil wäre denn das? Vielleicht das literarische? Denn die
Literatur — sagen wir nur abermals, was wir wissen! — die
Literatur ist demokratisch und zivilisatorisch von Grund aus;
richtiger noch: sie ist dasselbe wie Demokratie und Zivilisa-
tion. Und mein Schriftstellertum also wäre es, was mich den
›Fortschritt‹ Deutschlands an meinem Teile — noch fördern
ließe, indem ich ihn konservativ bekämpfe? —
Mit dem, was ich da sagte und fragte, habe ich die Motive
der folgenden Betrachtungen wie in einem musikalischen Vor-
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gung immer Fortschritte gemacht und sich ununterbrochen
DER PROTEST verändert. Die Entwicklung des Versuchs habe jedoch zum
Verlust des wesentlichen Teiles der christlichen Grundsätze
geführt. Die Erben der altrömischen Welt, dahin gelangt, das
In seiner krankhaft leichten, unheimlich genialen Art, die Christentum geistig zu verwerfen, verwarfen mit ihm auch
immer ein wenig an das verkommene Schwatzen gewisser re- das Papsttum: und zwar geschah das in der Französischen Re-
ligiöser Personnagen in seinen Romanen erinnert, spricht volution, die nichts anderes war (im Grunde nichts anderes)
Dostojewski — 1877 — über die deutsche Weltfrage, über als die letzte Gestaltveränderung oder Umverkörperung dieser
»Deutschland, das protestierende Reich«. Solange es über- selben altrömischen Formel der universellen Vereinigung. Die
haupt ein Deutschland gebe, sagt er, sei seine Aufgabe das Verwirklichung der Idee — wir folgen noch immer dem Do-
Protestantentum gewesen: »Nicht allein jene Formel des Pro- stojewski'schen Gedankengange — die Verwirklichung war
testantismus, die sich zu Luthers Zeiten entwickelte, sondern sehr unzulänglich. Zwar herrschte vollkommenste Zufrieden-
sein ewiges Protestantentum, sein ewiger Protest, wie er ein- heit bei jenem Teil der menschlichen Gesellschaft, der 1789
setzte mit Armin gegen die römische Welt, gegen alles, was für sich die politische Suprematie gewonnen hatte, nämlich
Rom und römische Aufgabe war, und darauf gegen alles, was bei der Bourgeoisie: diese triumphierte und hielt dafür, daß
vom alten Rom aufs neue Rom überging und auf all die Völ- weiterzugehen nun nicht mehr nötig sei. Diejenigen Geister
ker, die von Rom seine Idee, seine Formel und sein Element aber, die nach den unvergänglichen Gesetzen der Natur zur
empfingen, der Protest gegen die Erben Roms und gegen alles, ewigen Beunruhigung der Welt bestimmt sind, zum Suchen
was dieses Erbe ausmacht.« neuer Formeln des Ideals und des neuen Wortes, wie sie beide
Er führt dann in großen Zügen die Geschichte der römi- für die Entwicklung des menschlichen Organismus unentbehr-
schen Idee vorüber: angefangen beim alten Rom mit seinem lich sind, — sie schlugen sich zu den Erniedrigten und Um-
Gedanken einer universalen Vereinigung der Menschheit, sei- gangenen, denen die neue, revolutionäre Formel der allmensch-
nem Glauben an die praktische Verwirklichung dieses Ge- lichen Vereinigung nichts oder sehr wenig gegeben hatte: der
dankens in Gestalt einer Allerweltsmonarchie. Diese Formel, Sozialismus sprach sein neues Wort.
sagt er, sei gefallen, aber nicht die Idee; denn die Idee sei die Und Deutschland? Und die Deutschen? Dostojewski sagt:
Idee der europäischen Menschheit, aus ihr habe sich deren »Der charakteristischste, wesentlichste Zug dieses großen, stol-
Zivilisation gebildet, für sie allein lebe sie überhaupt. Der Ge- zen und besonderen Volkes bestand schon seit dem ersten
danke der römischen Universalmonarchie sei ersetzt worden Augenblick seines Auftretens in der geschichtlichen Welt
durch den der Vereinigung in Christo; worauf jene Spaltung darin, daß es sich niemals, weder in seiner Bestimmung noch
des neuen Ideals in das östliche, das Dostojewski als das Ideal in seinen Grundsätzen, mit der äußersten westlichen Welt hat
der durchaus geistigen Vereinigung der Menschen bezeichnet, vereinigen wollen, das heißt mit allen Erben der altrömischen
und in das westeuropäische, römisch-katholische, päpstliche Bestimmung. Es protestierte gegen diese Welt diese ganzen
erfolgt sei, in welcher Gestalt die Idee ihren christlichen, gei- zweitausend Jahre hindurch, und wenn es auch sein eigenes
stigen Charakter zwar nicht aufgegeben, aber die altrömische, Wort nicht aussprach — und es überhaupt noch nie aus-
politisch-imperiale Überlieferung bewahrt habe. Seitdem, sagt gesprochen hat, sein scharf formuliertes eigenes Ideal, zum
Dostojewski weiter, habe die Idee der universalen Vereini- positiven Ersatz für die von ihm zerstörte altrömische Idee —
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so, glaube ich —« (dies ist eine gewaltige Stelle; man spürt den Phasen seines ewigen Kampfes mit der äußersten west-
plötzlich, wo man ist: beim ersten Psychologen der Welt- lichen W e l t . . . «
literatur!) »so«, sagt er, »glaube ich, war es doch im Herzen
immer überzeugt, daß es noch einmal imstande sein werde, Wer sich der geistigen Anschauung großer Erschütterungen,
dieses neue Wort zu sagen und mit ihm die Menschheit zu zermalmender Katastrophen hingibt, läuft immer Gefahr, in
führen. Schon mit Armin begann es, gegen die römische Welt den Verdacht zu geraten, die Eitelkeit stachle ihn, an einem
zu kämpfen. Zur Zeit des römischen Christentums kämpfte Erdbeben seinen Witz zu erproben. Unter großen und schreck-
es mit dem neuen Rom mehr denn jedes andere Volk um die lichen Umständen erscheint der Geist sehr leicht als Frivolität.
Oberherrschaft. Endlich protestierte es in der allermächtigsten Dennoch ist ohne Geist kein Ding zu erkennen, das kleinste
Weise, indem es die neue Formel des Protestes aus den gei- nicht, geschweige die großen Geschichtsphänomene. Sie alle
stigsten, elementarsten Gründen der germanischen Welt zog. haben ein doppeltes Gesicht. Zieht man von der Französischen
Die Stimme Gottes tönte aus ihm und verkündete die Freiheit Revolution ›die Philosophie‹ ab, so bleibt die Hungerrevolte.
des Geistes. Die Spaltung war furchtbar und allgemein, — die Es bleibt eine Umwälzung in den Besitzverhältnissen. Aber
Formel des Protestes war gefunden und ging in Erfüllung, — wer wollte leugnen, daß der Französischen Revolution auf
wenngleich es noch immer eine negative blieb und das posi- diese Weise großes Unrecht geschähe? Es ist mit dem Erlebnis
tive Wort noch immer nicht gesagt wurde . . .« unserer Tage nicht anders, und unmöglich kann man den
Nach dieser Tat, so fährt Dostojewski ungefähr fort, er- erbitterten Puristen beistimmen, welche, aus freilich begreif-
stirbt der germanische Geist auf längere Zeit. Die westliche lichem Schrecken vor dem Feuilleton, darauf bestehen, die ein-
Welt aber, unter dem Einfluß der Entdeckung Amerikas, der zige Wirklichkeit dieses Krieges sei seine Erscheinung, näm-
neuen Wissenschaft, neuer Grundsätze, »sucht sich in eine lich namenloses Elend, und es sei frech, einen Sinn dafür zu
andere neue Wahrheit umzugebären«, gleichfalls in eine neue erwitzeln und diese abscheuliche Wirklichkeit zu fälschen und
Phase einzutreten; und der erste Versuch dieser Umgestal- zu beschönigen, indem man Geist hineinzutragen, hineinzu-
tung ist die Revolution. Welch verwirrendes Ereignis für den deuten versuche. Die Forderung solcher Abstinenz ist in-
germanischen Geist! Er versteht im Grunde, deutet Dostojew- human, obgleich sie humanitärem Schmerz über den Verfall
ski an, sowenig davon wie der romanische von der Reforma- der Brüderlichkeit entstammt. Nicht immer ist das Humani-
tion; ja, er ist nahe daran, seine Individualität einzubüßen und täre dasselbe wie das Humane.
den Glauben an sich zu verlieren. »Er konnte nichts gegen die Dostojewski's Anschauung der europäischen Geschichte
neuen Ideen der äußersten westlichen europäischen Welt sagen. oder vielmehr der eigentümlich widerstrebenden Rolle Deutsch-
Luthers Protestantismus hatte seine Zeit schon längst hinter lands in ihr ist nicht weniger wahr, weil sie geistreich ist. Daß
sich, die Idee aber des freien Geistes, der freien Forschung war seine Deutung Freiheiten, Einseitigkeiten, ja Fehler enthält,
bereits von der Wissenschaft der ganzen Welt angenommen glaube ich zu sehen. Wenn er etwa erklärt, die Entwicklung
worden. Der riesige Organismus Deutschlands fühlte mehr denn der römischen Vereinigungsidee habe in der Revolution zum
je, daß er keinen Körper, keine Form habe, die ihn ausgedrückt Verlust des wesentlichen Teiles der christlichen Grundsätze
hätte. Und damals entstand in ihm das dringende Bedürfnis, geführt, so scheint er mir zu verwechseln, was die Revolution
sich wenigstens äußerlich in einen einzigen festen Organis- selber verwechselte, nämlich das Christentum mit der Kirche;
mus zusammenzufügen: in Anbetracht der neuen herannahen- denn aller Vernunftkultus, aller Haß auf die Klerisei, aller
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entfesselte Hohn auf die Dogmen und Legenden der posi- wir konnten sie lesen, ohne uns sonderlich von ihr betroffen
tiven Religionen im allgemeinen und den »Bastard einer treu- zu finden, ja, ohne sie recht zu fühlen und zu verstehen. Heute
losen Ehefrau« im besonderen hinderte nicht, daß der Revo- brauchen wir sie nicht zu lesen und sind dennoch ihres Ver-
lution, soweit sie Rousseau'sches Geistesgepräge trug, ein ständnisses und der Anschauung ihrer Wahrheit voll. Denn
gutes Teil Christlichkeit, christlicher Universalität, christlicher es ist ein kriegerischer Gedanke, von kriegerischer Wahrheit,
Empfindsamkeit zugrunde lag. Nicht umsonst spricht Madame und in Kriegszeiten erglüht dieser Gedanke vom »protestie-
Roland in ihrem Brief an den Papst von »jenen evangelischen renden Reich« in seiner stärksten Wahrheitskraft, einleuch-
Grundsätzen, welche die reinste Demokratie, die zärtlichste tend für jedermann, — ja, es bestand vom ersten Augenblick
Menschenliebe und die vollkommenste Gleichheit atmen«. an im Grunde völlige und allgemeine Einhelligkeit über ihn:
Auch ist leicht festzustellen, daß bis zum heutigen Tage aller Deutschland stimmte in diesem Gedanken mit den Feinden
Rousseauismus, aller radikale Demokratismus, alles Revolu- überein und nicht nur mit den äußeren, sondern auch mit den
tionsepigonentum jeden Augenblick bereit ist, in christlichem sogenannten inneren Feinden, mit jenen Geistern, welche
Stile zu moralisieren, ja, das Christentum bewußt als Eides- unter uns gegen den deutschen Protest protestieren, — in gläu-
helfer anzurufen. Und endlich wird es irgend etwas auf sich biger Liebe dem europäischen Westen zugewandten Geistern,
haben, daß gegen Deutschland, gegen das Deutschland dieses von denen wir noch zu reden beabsichtigen. Alle, sage ich,
Krieges von gegnerischer Seite, aus dem Lager der ›Zivilisa- Freund und Feind, waren und sind einer Meinung, wenn auch
tion‹, der Vorwurf des Heidentums und der heimlichen Odins- nicht eines Sinnes, — denn das ist allerdings etwas anderes.
anbeterei geschleudert werden konnte, — irgend etwas, meine Wenn etwa Romain Rolland in seinem Kriegsbuche sagt, ich
ich, wird es auf sich haben damit, da in unserer eigenen hätte in einem gewissen Artikel, dessen einzelne meiner Leser
Mitte das Witzwort geprägt worden ist, die einzigen Christen sich möglicherweise erinnern (›Gedanken im Kriege‹, Novem-
in Deutschland seien die Juden. — Was aber das Verhältnis ber 1914), einem wütenden Stiere geglichen, der mit gesenk-
des deutschen Geistes zur römischen Welt betrifft, so sieht tem Kopf in den Degen des Matadoren rennt; ich hätte
Dostojewski, wie mir scheint, von zwei großen symbolischen alle Anklagen der Gegner als ebenso viele Ruhmestitel für
deutschen Ereignissen und Erlebnissen nur eines, während er Deutschland in Anspruch genommen und den Feinden Deutsch-
das andere, wohl geflissentlich, übersieht: er sieht das deutsche lands Waffen geliefert, — ihnen, mit einem Worte, in der un-
Ereignis ›Luther in Rom‹; aber er sieht nicht das andere, vorsichtigsten Weise zugestimmt: nun, so macht er damit
manchem Deutschen noch teuerere und wichtigere, das Ereig- eben nur jenen Unterschied zwischen Meinung und Gesin-
nis ›Goethe in Rom‹, — bei welchen formelhaften Andeutun- nung deutlich, auf dem eigentlich alle geistige Feindschaft
gen es hier sein Bewenden haben muß. beruht. Denn wo überhaupt keine Gemeinsamkeit der Ge-
danken besteht, da kann es keine Feindschaft geben, es herrscht
Dostojewski's Aperçu ist großzügig und einseitig, aber es
dort gleichgültige Fremdheit. Nur wo gleich gedacht, aber ver-
ist tief und wahr, — wenn man sich auch erinnern muß, daß
schieden empfunden wird, dort ist Feindschaft, dort wächst
wahre Gedanken nicht zu allen Zeiten gleich wahr sind. Dosto-
Haß. Zuletzt handelt es sich um einen europäischen Bruder-
jewski schrieb seine Betrachtung unter dem Eindruck von
zwist, lieber und guter Herr Rolland.
Bismarcks Persönlichkeit, wenige Jahre nach dem deutsch-
französischen Kriege, und sie war damals in hohem Grade Umfassendste Einhelligkeit also, meine ich, bestand vom er-
wahr. In der Zwischenzeit verlor sie an Wahrheitsintensität; sten Augenblick an darüber, daß die geistigen Wurzeln dieses
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Krieges, welcher mit allem möglichen Recht ›der deutsche
Krieg‹ heißt, in dem eingeborenen und historischen ›Prote- DAS UNLITERARISCHE LAND
stantentum‹ Deutschlands liegen; daß dieser Krieg im wesent-
lichen einen neuen Ausbruch, den großartigsten vielleicht,
den letzten, wie einige glauben, des uralten deutschen Kamp- Es liegt viel Selbstbeherrschung darin, wenn Dostojewski die
fes gegen den Geist des Westens sowie des Kampfes der Deutschen »ein großes, stolzes und besonderes Volk« nennt,
römischen Welt gegen das eigensinnige Deutschland bedeutet. denn wir wissen, daß er recht weit entfernt war, Deutschland
Ich lasse es mir nicht nehmen, daß aller deutsche ›Patriotis- zu lieben, — nicht aus übergroßer Sympathie für den äußer-
mus‹ in diesem Kriege — und namentlich jener, der sich un- sten Westen, sondern weil in seinen Augen Deutschland eben
erwarteter- oder kaum erwarteterweise kundgab — seinem doch und trotz seines Protestantentums dem »windigen Europa«
Wesen nach instinktive, eingeborene, oft erst nachträglich zugehörte, das er im Grunde seiner Seele verachtete. Viel
reflektierte Parteinahme für eben jenes Protestantentum war Selbstbeherrschung und gerechte Mäßigung also, als Folge
und ist; daß das deutsche Antlitz in diesem Kriege nach großer, freier, historischer Anschauung, liegt in seiner Art,
Westen gerichtet bleibt, — trotz der großen physischen Ge- von Deutschland zu sprechen. Denn statt »stolz und beson-
fahr, die von Osten drohte und zu drohen nicht aufgehört hat. ders« hätte er ebensogut »renitent, verstockt, böswillig« sagen
Die östliche Gefahr war furchtbar, und jene fünf Armeekorps können — und das wären ja noch milde Ausdrücke gewesen
mochten immerhin von der Westfront fortgenommen werden, im Vergleich mit denen, die der römische Westen uns in
so daß die Franzosen ihre grande victoire sur la Marne be- seiner großen Gesittung während des Krieges hat zukommen
kamen, — jeder von uns hätte zugestimmt, wenn er gefragt lassen. In der Tat enthält Dostojewski's Formulierung des deut-
worden wäre, denn es ging in Ostpreußen natürlich nicht so schen Wesens, der deutschen Urbesonderheit, des Ewig-Deut-
weiter. Das hindert nicht, daß dies gefährlich ungefüge Ruß- schen die volle Begründung und Erklärung der deutschen
land im gegenwärtigen Kriege lediglich das Werkzeug des Einsamkeit zwischen Ost und West, der Weltanstößigkeit
Westens ist; daß es geistig heute lediglich in Betracht kommt, Deutschlands, der Antipathie, des Hasses, den es zu tragen
insofern es westlich liberalisiert, — eben als Mitglied der und dessen es sich zu erwehren hat — in Erstaunen und
›Entente‹, in die es sich geistig, so gut es gehen will, einfügt Schmerz über diesen Haß einer Welt, den es nicht begreift,
(es geht gar nicht schlecht, wie die fesselnde Unterhaltung da es seiner selbst nur wenig kundig und überhaupt in Din-
zeigt, die der russische Minister des Auswärtigen, Herr Ssa- gen seelischen Wissens nicht gar weit vorgeschritten ist -:
sonow,mit einem englischen Romanschriftsteller über christen- die Begründung und Erklärung auch seiner ungeheueren Tap-
menschliche Sünderdemut und den unerträglichen »strikten ferkeit, welche es ohne Wanken mit der umringenden Welt
Moralismus« des Preußentums gepflogen hat, — eine sehr aufgenommen, mit dem römischen Westen, der heute fast
gute und geistreiche Unterhaltung, über die unsere Presse sich überall ist, im Osten, im Süden, sogar im Norden und jen-
in der unpassendsten Weise lustig zu machen suchte): als Mit- seits des Ozeans, wo das neue Kapitol steht, — jener blind-
glied der ›Entente‹, sage ich, welche, Amerika eingeschlossen, heroischen Tapferkeit, welche riesenhaft ausholend nach allen
die Vereinigung der westlichen Welt, der Erben Roms, der Seiten dreinschlägt . . . Und auch der gute Sinn des Vorwurfs
›Zivilisation‹ gegen Deutschland, das protestierende, so ur- der »Barbarei« ist erklärt darin, den mit Entrüstung zurück-
gewaltig wie nur je protestierende Deutschland ist. zuweisen eben doch unlogisch ist, da die Erben Roms in der
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Tat, wortkundig wie sie sind, kein besseres, einfacheres, schla- Humanität ist so bei weitem lockerer als das der Literatur,
genderes, agitationskräftigeres Wort finden konnten, um das, daß die musikalische Einstellung dem literarischen Tugend-
was instinktiv, von je zu je, gegen ihre Welt protestiert, da- sinn mindestens als unzuverlässig, mindestens als verdächtig
mit zu belegen, als eben dies. Denn nicht das ist das Schlimmste, erscheint. Auch nicht mit Dichtung: es steht damit allzu ähn-
daß Deutschland seinen Willen und sein Wort niemals mit lich wie mit der Musik; das Wort und der Geist spielen darin
dem der römischen Zivilisation hat vereinigen wollen: Was eine allzu indirekte, verschlagene, unverantwortliche und dar-
es ihr entgegenstellte, war nur sein Wille, sein störender, reni- um ebenfalls unzuverlässige Rolle. Sondern ausdrücklich mit
tenter, eigensinniger, »besonderer« Wille — aber nicht sein Literatur, mit sprachlich artikuliertem Geist, — Zivilisation
Wort, denn es hatte kein Wort, es war wortlos, es war nicht und Literatur sind ein und dasselbe.
wortliebend und wortgläubig wie die Zivilisation, es leistete Der römische Westen ist literarisch: das trennt ihn von der
einen stummen, unartikulierten Widerstand, und man darf germanischen — oder genauer — von der deutschen Welt, die,
nicht zweifeln, daß weniger der Widerstand selbst, als seine was sie sonst nun sei, unbedingt nicht literarisch ist. Die lite-
Wertlosigkeit und Unartikuliertheit von der Zivilisation als rarische Humanität, das Erbe Roms, der klassische Geist, die
»barbarisch« und haßerregend empfunden wurde. Das Wort, klassische Vernunft, das generöse Wort, zu dem die generöse
die Formulierung des Willens, wie alles, was mit Form zu Geste gehört, die schöne, herzerhebende und menschenwür-
tun hat, wirkt versöhnlich, gewinnend; es vermag mit jeder dige, die Schönheit und Würde des Menschen feiernde Phrase,
Art von Willen schließlich zu versöhnen, namentlich wenn die akademische Redekunst zu Ehren des Menschengeschlech-
es schön, generös, werbekräftig und klar-programmatisch ist. tes — dies ist es, was im römischen Westen das Leben lebens-
Das Wort ist unentbehrlich, um Sympathie zu erwerben. Was wert, was den Menschen zum Menschen macht. Es ist der Geist,
nützt riesenhafte Tapferkeit ohne das generöse Wort? Was der in der Revolution seine hohe Zeit hatte, ihr Geist, ihr
nützt die verstockte Überzeugung, daß man »noch einmal ›klassisches Modell‹, jener Geist, der im Jakobiner zur scho-
imstande sein wird, sein Wort zu sagen und mit ihm die lastisch-literarischen Formel, zur mörderischen Doktrin, zur
Menschheit zu führen«, wenn man es im entscheidenden tyrannischen Schulmeisterpedanterie erstarrte. Der Advokat
Augenblick nicht sagen kann oder will — (denn das läuft auf und der Literat sind seine Meister, die Wortführer des › d r i t -
dasselbe hinaus: Können ist eine Folge des Wollens, Wort- ten Standes‹ und seiner Emanzipation, die Wortführer der
geläufigkeit eine Folge der Liebe zum Wort, wie auch um- Aufklärung, der Vernunft, des Fortschritts, ›der Philosophie‹
gekehrt). Man kann ohne Wort die Menschheit nicht führen. gegen die seigneurs, die Autorität, die Tradition, die Ge-
Riesenhafte Tapferkeit ist barbarisch ohne ein wohlartiku- schichte, die ›Macht‹, das Königtum und die Kirche, — die
liertes Ideal, dem sie gilt. Nur das Wort macht das Leben Wortführer des Geistes, den sie für den unbedingt, einzig und
menschenwürdig. Wortlosigkeit ist menschenunwürdig, ist blendend wahren, den Geist selbst, den Geist an sich halten,
inhuman. Nicht nur der Humanismus — Humanität über- während es eben nur der politische Geist der bürgerlichen
haupt, Menschenwürde, Menschenachtung und menschliche Revolution ist, den sie meinen und kennen. Daß ›der Geist‹
Selbstachtung ist nach der eingeborenen und ewigen Über- in diesem politisch-zivilisatorischen Sinne eine bürgerliche
zeugung der römischen Zivilisation untrennbar mit Literatur Angelegenheit, wenn auch keine bürgerliche Erfindung ist
verbunden. Nicht mit Musik — oder doch keineswegs notwen- (denn Geist und Bildung sind in Frankreich nicht ursprünglich
dig mit ihr. Im Gegenteil, das Verhältnis der Musik zur bürgerlicher, sondern adelig-signoriler Herkunft, und der Bür-
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ger usurpierte sie nur) — das ist eine geschichtliche Tatsache,
DER ZIVILISATIONSLITERAT
die man ganz vergebens bestreitet. Sein Vertreter ist eigent-
lich der beredte Bürger, der literarische Anwalt des dritten
Standes, wie gesagt, und seiner geistigen sowohl wie auch,
nicht zu vergessen, seiner materiellen Interessen. Der Sieges- Man glaubte, das Ideal der Slawophilen sei:
zug dieses Geistes, der Prozeß seiner Ausbreitung, der das »Rettich zu essen und Denunziationen zu
Ergebnis ungeheuerer ihm innewohnender agitatorischer und schreiben«. Ja, Denunziationen! Sie setzten
sprengender Kräfte ist, wäre als ein Vorgang zu bestimmen, eben durch ihr Erscheinen und ihre Ansichten
alle so in Erstaunen, daß die Liberalen schon
der zugleich Verbürgerlichung und Literarisierung der Welt
bedenklich wurden und zu fürchten anfingen:
bedeutet. Was wir die ›Zivilisation‹ nennen, was sich selber
wie, wollten diese sonderbaren Leute sie nicht
so nennt, ist nichts anderes als eben dieser Siegeszug, diese am Ende denunzieren?
Ausbreitung des bürgerlich politisierten und literarisierten Dostojewski, Schriften
Geistes, die Kolonisation der bewohnten Erde durch ihn. Der
Imperialismus der Zivilisation ist die letzte Form des römi- Die großen Gemeinschaften besitzen jedoch — und es wäre
schen Vereinigungsgedankens, gegen den Deutschland › p r o - fast langweilig, wenn es sich anders verhielte — nicht jene
testiert‹; und gegen keine seiner Erscheinungsformen hat er geistige Einheitlichkeit, die sie in Kriegszeiten, und auch dann
das leidenschaftlicher getan, gegen keine einen furchtbareren nur vorübergehend, zu besitzen scheinen. Die Aufgabe, zu
Kampf auszufechten gehabt, als gegen diese. Das Einverständ- untersuchen, inwiefern dies für andere Länder zutrifft, darf
nis und die Vereinigung all jener Gemeinschaften, die dem uns hier nicht locken. Wir haben uns um Deutschland zu
Imperium des bürgerlichen Geistes angehören, heißt heute kümmern, — wobei das Wort ›kümmern‹ ein wenig etymo-
›die Entente‹ — mit einem französischen Namen, wie billig —, logisch zu nehmen ist und ohne jeden Chauvinismus fest-
und es ist wahrhaftig eine Entente cordiale, eine Vereinigung gestellt werden darf, daß aller Geisteskummer um Deutsch-
voll herzlichsten und im Geistigen, Wesentlichen, trotz man- land sich stets als besonders lohnend erwiesen hat. Es verhält
cher Temperamentsunterschiede, trotz machtpolitischer Diver- sich, unserer stillen Einsicht nach, mit Deutschland, wie folgt.
genzen, ausgezeichneten Einverständnisses: gerichtet gegen Die Gegensätze, welche die innere geistige Einheitlichkeit
das protestierende, der letzten Vollendung und endgültigen und Geschlossenheit der großen europäischen Gemeinschaften
Befestigung dieses Imperiums sich entgegensetzende Deutsch- lockern und in Frage stellen, sind im großen ganzen überall
land. Die Hermannsschlacht, die Kämpfe gegen den römischen die gleichen: sie sind im Grunde europäisch; doch sind sie bei
Papst, Wittenberg, 1813, 1870, — das alles war nur Kinder- den verschiedenen Völkern national stark differenziert und
spiel im Vergleich mit dem fürchterlichen, halsbrecherischen unter der nationalen Synthese vereinigt, so daß etwa ein
und im großartigsten Sinne unvernünftigen Kampf gegen die radikal-republikanischer Franzose ein ebenso echter, richtiger,
Welt-Entente der Zivilisation, den Deutschland mit einem vollkommener und zweifelloser Franzose wie ein klerikal-
wahrhaft germanischen Gehorsam gegen sein Schicksal—oder, royalistischer, ein liberaler Engländer ebensosehr ein Eng-
um es ein wenig aktivischer auszudrücken, gegen seine Sen- länder ist wie sein konservativer Landsmann: der Franzose
dung, seine ewige und eingeborene Sendung auf sich genom-
versteht sich mit dem Franzosen, der Engländer mit dem Eng-
men hat.
länder letzten Endes am besten und aufs beste. Es gibt jedoch
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ein Land und Volk, in welchem es sich anders verhält: ein langweilig, klar, dumm und undeutsch machen wollen und
Volk, das eine Nation in jenem sicheren Sinne, wie die Fran- also ein Anti-Nationalist sein, der darauf bestünde, daß
zosen oder Engländer Nationen sind, nicht ist und es wahr- Deutschland eine Nation in fremdem Sinne und Geiste
scheinlich niemals werden kann, weil seine Bildungsgeschichte, würde . . .
sein Menschlichkeitsbegriff dem entgegenstehen; ein Land, Eine sonderbare Bestrebtheit! Gleichwohl gibt es solche
dessen innere Einheitlichkeit und Geschlossenheit durch die Deutsche, und ganz irrig wäre es, zu glauben, daß für Deutsch-
geistigen Gegensätze nicht nur kompliziert, sondern beinahe land die Dinge so einfach lägen, wie es der großen Formel
aufgehoben wird; ein Land, wo diese Gegensätze heftiger, vom ›protestierenden Reiche‹ nach den Anschein haben könnte.
gründlicher, böser, des Ausgleichs unfähiger sich anlassen als Diejenigen, die es noch nicht wissen, müssen es unbedingt er-
sonst überall, und zwar, weil sie dort kaum oder ganz locker fahren — denn es ist sehr wichtig und interessant —, daß es
von einem nationalen Bande umschlungen, kaum irgendwie in Deutschland Geister gibt, die an dem ›Protest‹ ihrer Ge-
im Großen und Weiten zusammengefaßt sind, wie dies bei meinschaft gegen den römischen Westen nicht nur nicht teil-
den einander widersprechenden Willensmeinungen jedes an- nehmen, sondern sogar im leidenschaftlichsten Protest gegen
deren Volkes immer der Fall bleibt. Dies Land ist Deutschland. diesen Protest ihre eigentliche Aufgabe und Sendung sehen
Die inneren geistigen Gegensätze Deutschlands sind kaum und den innigen Anschluß Deutschlands an das Zivilisations-
nationale, es sind fast rein europäische Gegensätze, die bei- Imperium mit allen Kräften ihres Talentes fordern. Während
nahe ohne gemeinsame nationale Färbung, ohne nationale aber die inneren Gegner des amtlichen und wortführenden —
Synthese einander gegenüberstehen. In Deutschlands Seele o ja: wortführenden Frankreich im Kriege mit völligster Ent-
werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen, — im schiedenheit zu ihrem Lande stehen, leihen unsere Anti-Pro-
mütterlichen und im kämpferischen Sinne ›ausgetragen‹. testler ihrem kämpfenden Lande keineswegs Unterstützung
Dies ist seine eigentliche nationale Bestimmung. Nicht phy- und Sympathie, sondern bekennen sich, soweit ein solches Be-
sisch mehr — dies weiß es neuerdings zu verhindern —, aber kenntnis heute angängig ist, mit Begeisterung zur Gegenseite,
geistig ist Deutschland immer noch das Schlachtfeld Europas. zur Welt des Westens, der Entente, insbesondere Frankreichs,
Und wenn ich ›die deutsche Seele‹ sage, so meine ich nicht und warum insbesondere Frankreichs, soll gleich gesagt wer-
nur im großen die Seele der Nation, sondern ich meine ganz den. Diese Geister undeutsch zu nennen, — davor werde ich
im einzelnen die Seele, den Kopf, das Herz des deutschen In- mich hüten. Der Begriff ›deutsch‹ ist ein Abgrund, bodenlos,
dividuums: ich meine sogar auch mich selbst. Seelischer und mit seiner Negation, der Entscheidung ›undeutsch‹, muß
Kampfplatz für europäische Gegensätze zu sein: das ist man äußerst vorsichtig umgehen, um nicht zu Fall und Scha-
deutsch; aber nicht, sich die Sache leicht zu machen und die den dabei zu kommen. Ich nenne also, möge es auch leise-
nationale Schwäche, die — wie Nietzsche sagt — »heimliche treterisch scheinen, diese Geister beileibe nicht unpatriotisch.
Unendlichkeit« seines Volkes dadurch zu bekunden, daß man Ich sage nur: Ihr Patriotismus bekundet sich dergestalt, daß
sich etwa einfach französiert. Wessen Bestreben es wäre, aus sie die Vorbedingung der Größe, oder, wenn nicht der Größe,
Deutschland einfach eine bürgerliche Demokratie im römisch- so doch des Glückes und der Schönheit ihres Landes nicht in
westlichen Sinn und Geiste zu machen, der würde ihm sein seiner störenden und Haß erregenden »Besonderheit«, son-
Bestes und Schwerstes, seine Problematik nehmen wollen, in dern, um es zu wiederholen, in seiner bedingungslosen Ver-
der seine Nationalität ganz eigentlich besteht; der würde es einigung mit der Welt der Zivilisation, der Literatur, der
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herzerhebend und menschenwürdig rhetorischen Demokratie — denn solche gibt es. Es gibt, allgemein gesprochen, ohne
erblicken, — welche Welt durch die Unterwerfung Deutsch- Zweifel ein Maß von angeborenem Verdienst, von Geist und
lands in der Tat komplett würde: ihr Reich wäre vollendet und Kunst, mit dem man einer Kritik durch den nationalen Begriff
umfassend, es gäbe keine Opposition mehr gegen sie. nicht mehr unterliegt, vielmehr: mit dem man diesen Begriff
Der Typus dieses deutschen Anhängers der literarischen selbst bestimmt, vielleicht neu bestimmt, korrigiert, — ich ver-
Zivilisation ist, wie sich versteht, unser radikaler Literat, er, gesse das nicht. Ich lasse nicht außer acht, daß man mit sol-
den ich den ›Zivilisationsliteraten‹ zu nennen mich gewöhnt chem Range ein Faktor und Element des nationalen Schicksals
habe, — und es versteht sich deshalb, weil der radikale Literat, ist, — ein unseliger Faktor möglicherweise, — desto schlimmer
der Vertreter des literarisierten und politisierten, kurz, des für die Nation! Desto schlimmer, sage ich, für sie, — es ist ihr
demokratischen Geistes, ein Sohn der Revolution, in ihrer Unglück, es liegt an ihr, in ihr, in ihrem Wesen, wenn sie in
Sphäre, ihrem Lande geistig beheimatet ist. In der Tat ist das ihrer schwersten Stunde von etwelchen ihrer besten Geister
Wort ›Zivilisationsliterat‹ wohl ein Pleonasmus. Denn ich im Stiche gelassen und nicht nur im Stiche gelassen wird. In-
sagte ja schon, daß Zivilisation und Literatur ganz ein und dem man solche Geister bekämpft, ihre Tendenz trotz ihres
dasselbe sind. Man ist nicht Literat, ohne von Instinkt die Ranges bekämpft, hört man auf, Künstler zu sein: als welcher
»Besonderheit« Deutschlands zu verabscheuen und sich dem man gewohnt war, des Ranges zu achten und sich um die
Zivilisationsimperium verbunden zu fühlen; genauer: man ist Tendenz nicht sonderlich zu kümmern. Man wird vorüber-
beinahe schon Franzose, indem man Literat ist, und zwar klas- gehend zum Politiker — und hat sich desto sorgsamer vor
sischer Franzose, Revolutionsfranzose: denn aus dem Frank- politischen Lastern zu hüten, wie zum Beispiel davor, dem
reich der Revolution empfängt der Literat seine großen Über- Widersacher ungeistige, das heißt: gemeine Motive unterzu-
lieferungen, dort liegt sein Paradies, sein goldenes Zeitalter, schieben, selbst wenn das Umgekehrte bereits der Fall gewesen
Frankreich ist sein Land, die Revolution seine große Zeit, es sein sollte. Das Bewußtsein, den ›Fortschritt‹ für sich zu
ging ihm gut damals, als er noch ›Philosoph‹ hieß und in der haben, zeitigt offenbar eine sittliche Sicherheit und Selbst-
gewißheit, die der Verhärtung nahekommt und schließlich das
Tat die neue Philosophie, nämlich die der Humanität, Frei-
Gemeine zu adeln glaubt, einfach dadurch, daß sie sich seiner
heit, Vernunft vermittelte, verbreitete, politisch zubereitete...
bedient. Das ist eine Entschuldigung. Wir, die wir uns mora-
Indem ich vom deutschen Zivilisationsliteraten spreche, dem
lisch weniger geborgen fühlen, sind notwendig furchtsamer...
sein nationales Beiwort so sonderbar zu Gesichte steht, spreche
Aber kommen wir zur Sache!
ich nicht vom Gesinde und Gesindel, dem mit irgendwelchem
Studium, das man ihm widmete, allzu viel Ehre geschähe; Der radikale Literat Deutschlands also gehört mit Leib und
nicht also von jenem schreibenden, agitierenden, die inter- Seele zur Entente, zum Imperium der Zivilisation. Nicht, daß
nationale Zivilisation propagierenden Lumpenpack, dessen er mit sich zu kämpfen gehabt, daß die Zeit ihn in schmerz-
Radikalismus Lausbüberei, dessen Literatentum Wurzel- und lichen, seelischen Widerstreit gerissen hätte; nicht, daß sein
Wesenlosigkeit ist, — jener Hefe der Literatur, die als Hefe Herz hier und dort gebunden wäre, daß es mahnend, strafend,
und nationaler Gärstoff dem Fortschritt von einigem Nutzen begütigend nach beiden Seiten zu predigen und sich, wie der
sein mag, in der es aber an persönlichem Range oder einer sanfte Romain Rolland, über das Getümmel zu stellen ver-
Menschlichkeit, die anders als mit der Feuerzange anzufassen suchte : er stellt sich mit voller Leidenschaft in das Getümmel,
wäre, fehlt. Ich spreche von den edlen Vertretern des Typus, - aber auf die feindliche Seite. Vom ersten Augenblick an
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nahm er automatisch den Standpunkt der Entente ein, — ist: und zwar so vollkommen, daß es zu ruhigerer Zeit ein
natürlich, denn es war schon immer der seine gewesen. Mit wahres Vergnügen wäre, alle Hochherzigkeiten, Empfind-
unfehlbarer Treffsicherheit fühlte, dachte und sagte er genau samkeiten, Kindlichkeiten und Bösartigkeiten des noch zu
das, was gleichzeitig oder später Entente-Journalisten oder keiner kritischen Selbstbesinnung, keiner Resignation ge-
Entente-Minister sagten. Er war kühn, er war original, aber langten, des klassisch-ungebrochenen französischen National-
nur für deutsche Begriffe, nur relativ. Ich glaube, er machte charakters an ihm zu studieren. Er ist einer der besten fran-
Miene, seine Isoliertheit für tragisch auszugeben, — nicht zösischen Patrioten. Der Glaube trägt ihn und verleiht seinem
ganz mit Recht, denn sie bestand nur innerhalb Deutschlands, Stile zuweilen ein herrliches Tremolo, einen bewunderungs-
er dachte nicht eigentlich einsame Gedanken; was er dachte, würdigen Schwung: der Glaube an die Ruhmes- und Missions-
war nicht weiter erhaben, überlegen, liebevoll umfassend: es idee seines — des französischen — Volkes und daß es ein für
hätte in jedem Entente-Blatt stehen können, und es stand allemal zum Lehrer der Menschheit berufen sei, berufen, ihr
darin; kurzum, er dachte, wie im feindlichen Ausland Johann ›die Gerechtigkeit‹ zu bringen, nachdem es ihr ›die Freiheit‹
und jedermann, und das nenne ich nicht tragische Isoliertheit. gebracht hat (welche aber aus England stammt). Er denkt nicht
Man darf sagen: er hatte es gut während jener ersten Wochen nur in französischer Syntax und Grammatik, er denkt in
und Monate des Krieges, an die seine nicht zivilisations-lite- französischen Begriffen, französischen Antithesen, französi-
rarischen Landsleute zeit ihres Lebens denken werden, — da- schen Konflikten, französischen Affären und Skandalen. Der
mals, als die Welt, die demokratische öffentliche Meinung der Krieg, in dem wir stehen, erscheint ihm, völlig entente-kor-
Welt, gegen Deutschland losgelassen war, und als es Kot rekt, als ein Kampf zwischen ›Macht und Geist‹ — das ist
regnete: er hatte es recht gut, sage ich, denn alles, was damals seine oberste Antithese! —, zwischen dem ›Säbel‹ und dem
und späterhin dieses »große, stolze und besondere« Volk sich Gedanken, der Lüge und der Wahrheit, der Roheit und dem
hat sagen und antun lassen müssen, — ihm machte es weder Recht. (Ich brauche nicht hinzuzufügen, auf welcher Seite
heiß noch kalt, ihn berührte, ihn traf es nicht, — er nahm sich nach seiner Ansicht sich Säbel, Roheit und Lüge, auf welcher
ja aus, er gab den anderen recht; was sie sagten, hatte er wört- sich die antithetisch entsprechenden Ideale befinden.) Mit
lich schon längst gesagt. Undeutsch? Aus allen meinen Kräf- einem Worte: dieser Krieg stellt sich ihm als eine Wieder-
ten wehre ich mich dagegen, ihn undeutsch zu nennen, und holung der Dreyfus-Affäre in kolossalisch vergrößertem Maß-
werde nicht aufhören, mich dagegen zu wehren, solange die stabe dar, — wer es nicht glaubt, dem will ich Dokumente
Kräfte mir nicht versagen. Man kann höchst deutsch sein und unterbreiten, die ihn vollkommen überzeugen werden. Ein
dabei höchst antideutsch. Das Deutsche ist ein Abgrund, halten Intellektueller ist, nach der Analogie jenes Prozesses, wer
wir fest daran. Nein denn! er ist nicht undeutsch, er ist nur ein geistig auf Seiten der Zivilisations-Entente gegen den ›Säbel‹,
erstaunliches, sehenswürdiges Beispiel dafür, wie weit der gegen Deutschland ficht. Wem es anders ums Herz ist, wer
Deutsche es in Selbstekel und Einfremdung, in kosmopoliti- irgendwelchen trüben Instinkten folgend in diesem gewal-
scher Hingebung und Selbstentäußerung heute noch, im nach- tigen Streitfall zu Deutschland hält, der ist ein Verlorener,
bismärckischen Deutschland, bringen kann. Zu sagen, daß die ein Verräter am Geist, der steht gegen Recht und Wahrheit
Struktur seines Geistes unnational ist, mag statthaft sein. Sie — ob nun in eleganter oder in schlottrichter Haltung, das gilt,
ist es jedoch nur insofern, als — oder vielmehr, in dem Grade, mit Recht, dem Moralisten gleichviel — er steht gegen sie, und
daß — sie nicht deutsch-national, sondern national französisch jede Verdächtigung seiner Motive ist fortan nicht nur statt-
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haft, nein, auch geboten: Applaussucht, Erwerbssinn, die nette reich zu großem Glücke, denn sie brachte ihm die Republik,
Gabe, von den Verhältnissen zu profitieren, die nichts als das heißt: Wahrheit und Gerechtigkeit. Wenn aber dies, daß
menschliche Absicht auch wohl, den zum Schweigen oder zur die Vorsehung es gut mit Frankreich meinte, die einzige Er-
Intrige, zum Doppelsinn verurteilten Konkurrenten bei dieser klärung der Tatsache ist, daß Deutschland damals siegte (denn
Gelegenheit auszustechen und in Vergessenheit zu bringen, — von Geistes wegen konnte es unter einem nach der Meinung
es gibt keine Treuherzigkeit, auf die der Zivilisationsliterat des Zivilisationsliteraten völlig ungeistigen und widergeisti-
nicht mit verzerrter Miene verfiele, um die Parteinahme für gen Machtmenschen wie Bismarck doch wohl nicht siegen),
›den Säbel‹ in das rechte psychologische Licht zu setzen. Da es so ist es doch keine Entschuldigung für Deutschland. Ich weiß
aber (gewiß ein Indizium gegen Deutschland!) eine beträcht- nicht, es ist schwer zu erraten, was unser radikaler Literat
lich heiklere und verwickeitere Sache ist, für Deutschland zu damals gewünscht hätte; heute wünscht er, daß Deutschland
sprechen, als für die ›Zivilisation‹, wozu nur ziemlich viel durch die Entente geschlagen und bekehrt werde, — ihr Sieg
Schmiß und Tremolo gehört und man ist fertig, — da man, wäre der Sieg der Literatur für Deutschland und für Europa,
um für Deutschland zu sprechen, versuchen muß, so gut und es wäre sein Sieg, wie auch ihre Niederlage die seine wäre:
schlecht es nun gehen will, ein wenig in die Tiefe zu dringen, so sehr hat er die Sache der rhetorischen Demokratie zu der
so spricht der Zivilisationsliterat in solchem Falle auch noch seinen gemacht. Er wünscht also die physische Demütigung
mit klarer Verachtung von »Tiefschwätzerei«. Deutschlands, weil sie die geistige in sich schlösse; wünscht den
Zusammenbruch — aber man sagt es richtiger auf französisch:
So malen die Dinge sich im Haupt des Zivilisationslite- die débâcle des ›Kaiserreiches‹, weil durch diese physische
raten. Seine Sympathie für die Feinde des protestierenden und moralische debâcle — die moralische mag übrigens auch
Reiches ist geistige Solidarität. Seine Liebe und Leidenschaft vor der physischen kommen — endlich, endlich der heiß er-
ist bei den Truppen der westlichen Verbündeten, Frankreichs sehnte, handgreifliche und katastrophale Beweis erbracht wäre,
und Englands, auch wohl Italiens, in denen er die Heere des daß Deutschland in Lüge und Roheit statt in der Wahrheit
Geistes erblickt und mit denen die Zivilisation marschiert. und im Geiste gelebt hat. Ja, wäre heute noch darauf zu
Für sie schlägt sein Herz, — für Deutschland schlägt es recht hoffen, so wünschte er wohl von Herzen die demokratische
indirekt: in dem Sinn nämlich nur, als er mit seines Herzens Invasion in Deutschland, wünschte, daß es nicht bei irgend-
ganzer Inbrunst die deutsche Niederlage wünscht. Daß seine einem Marne-Valmy (es war jedoch eher ein Marne-Kolin)
Beweggründe geistiger, also edler Art sind, versteht sich am sein Bewenden haben möchte, sondern daß die Zivilisations-
Rande. Er wünscht die deutsche Niederlage ihrer geistigen truppen mit klingendem Spiel in Berlin einmarschierten: —
Bedeutung, der geistigen Folgen wegen, die sie für Deutsch- wie sein Herz sie empfangen würde! Wie er Mittel und Wege
land und für Europa mit sich brächte. Er wünscht sie aus ›in- finden würde, dem Triumph seiner Seele doppelsinnigen Aus-
neren‹ Gründen, — als Ersatz gleichsam für die Revolution, druck zu verleihen! Ach, das wird nicht geschehen. Es ist ein
an der Deutschland es ja bis heute hat fehlen lassen: denn undankbares Geschäft, den fluchenden Propheten zu machen
1848 war ein Fehlschlag, und Deutschlands Einigung ist nicht in einem Lande, wo Konsequenzen nicht eintreffen; dem
durch die demokratische Revolution, sondern durch das Lande der Halbheiten, das besten Falles sogar nur von halben
Schlimmste und Unverzeihlichste bewerkstelligt worden, wo- Katastrophen ereilt wird und keines reinlich romangemäßen
durch sie hätte bewerkstelligt werden können: durch die De- Schicksals fähig ist! Der Zivilisationsliterat wird nicht die
mütigung Frankreichs. Zwar gedieh die Niederlage Frank-
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débâcle des deutschen second empire zu schreiben haben, das billigt, wenn dieser im Dienste der Zivilisation unternommen
keinesfalls. Er wird froh sein müssen, wenn Deutschland nicht wird. Er folgt darin dem Beispiel Voltaire's, der Friedrichs
allzu auffällig siegt. . . Kriege zwar verabscheute, zum Zivilisationskriege (gegen die
Türken, mit denen Friedrich sich statt dessen beinahe ver-
Ich bitte, mir zu glauben, daß, wenn irgend etwas wie Spott bündet hätte) aber geradezu aufforderte. Wie könnte denn
oder Bitterkeit in meine Zeilen eingedrungen sein sollte, dies auch der Schüler der Revolution — um nicht zu sagen: ihr
gegen meinen Willen geschehen ist. Ich wünsche durchaus Epigone — das Vergießen von Blut um der guten Sache, um
nicht zu spotten oder bitter zu reden, sondern mein Bestreben der Wahrheit, des Geistes willen grundsätzlich verurteilen?
geht dahin, dieser Untersuchung einen — sagen wir: populär- »Entschlossene Menschenliebe« — das Wort gehört dem Zivi-
wissenschaftlichen Charakter zu wahren und einen literarisch- lisationsliteraten — entschlossene Menschenliebe ist nicht blut-
politischen Typus zu kennzeichnen. Es geschieht in dieser scheu; so gut wie das literarische Wort gehört die Guillotine
Absicht, daß ich zu folgender Bemerkung fortschreite. Die zu ihren Werkzeugen, wie vordem der freilich unblutige
logische, psychologische Gleichstellung nämlich der Begriffe Scheiterhaufen dazu gehörte. Es braucht also keineswegs gei-
›geschlagen‹ und ›bekehrt‹, die Gleichstellung der physi- len Ästhetizismus, wie bei Gabriele d'Annunzio, zu bedeuten,
schen und geistigen Demütigung eines Volkes beweist, daß wenn der Zivilisationsliterat grundsätzlich kein Kriegsgegner
der Zivilisationsliterat nicht eigentlich Kriegsgegner, nicht ist. Er frondiert gegen diesen Krieg, weil er einen deutschen
unbedingt Pazifist ist, daß er kriegerischer Entscheidung in- Krieg, ein historisches Unternehmen Deutschlands, einen Aus-
appellable geistige Gültigkeit zuerkennt, im Kriege eine ultima bruch des deutschen ›Protestes‹ darin erkennt; weil dieser
ratio, ja etwas wie ein Gottesgericht erblickt. Das ist auffal- Krieg deutschen Stempel trägt, seine Aktivität deutsch ist,
lend, aber es ist so. Wir beobachten da eine Art von Irratio- seine großen Taten bei Deutschland sind. Er frondiert nicht
nalismus, der in Wahrheit ein vergeistigter Rationalismus ist gegen ihn, insofern er einen Zivilisationskrieg gegen die bar-
und darin besteht, daß man den Krieg für ein Gottesgericht barische Renitenz Deutschlands darin sieht: in diesem Sinne,
erklärt, solange auch nur die geringste Aussicht vorhanden ist, für drüben, heißt er ihn gut. Er frondiert, kurz gesagt, nicht
daß Deutschland in irgendeiner Form, und sei es auch nur sowohl gegen den Krieg, als gegen Deutschland, und nur hierin
durch wirtschaftliche Erstickung, geschlagen wird. Keinesfalls ist die Lösung für allerlei Widersprüche zu finden, die der
länger! Denn sobald diese Aussicht entschwände, wäre er Un- Zivilisationsliterat sich scheinbar zuschulden kommen läßt
recht und rohe Gewalt, sein Ergebnis ohne geistige Bedeu- und die ohne jenes aufschließende Faktum durchaus wunder-
tung. Das darf uns jedoch nicht hindern, daran festzuhalten, lich wirken müßten. Sein Verhältnis zu diesem Kriege schwankt
daß ›der Geist‹ nicht notwendig pazifistisch ist, — wie schon zwischen humanitärem Abscheu und größter Bewunderung für
das Beispiel Italiens lehrt, wo vielmehr ›der Geist‹ den Krieg die soldatischen Leistungen der Feinde. Einerseits sieht er in
geradezu gemacht hat: denn nicht wahr, die Republikaner, der ›Entente‹ etwas Zartes, Gebrechliches, Köstliches, Edel-
Freimaurer, Radikalisten und Literaten Italiens, die den Krieg Schwaches, das durch das barbarische Deutschland brutali-
gemacht haben, repräsentieren doch dortzulande ›den Geist‹ siert zu werden natürlich große Gefahr läuft. Andererseits
— und nicht etwa die Sozialdemokraten, die sich gegen den aber hat er nur äußerste Verachtung für diejenigen seiner
Krieg gewehrt haben und in der Tat Pazifisten sind. Es ver- Landsleute, die die kriegerischen Tugenden und Kräfte der
hält sich so, daß der Zivilisationsliterat den Krieg nicht miß- Entente unterschätzten oder sogar noch unterschätzen. Er ist
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entzückt von den Leistungen der Zivilisationsmächte, er be- Auch er erkennt darin die uralte Auflehnung Deutschlands
wundert ihr Kriegsgerät, ihre Stahlplatten, Betongräben, Flie- gegen den westlichen Geist, gegen seinen, des Zivilisations-
gerpfeile, Ekrasit- und Stickgasbomben, ohne zu fragen, wie literaten, Geist — und ein Einschreiten Roms (Westroms, ver-
sich das alles mit Edelschwäche verträgt, und während er die- bunden mit Ostrom) gegen diese Auflehnung; einen Inter-
selben Dinge auf deutscher Seite ekelerregend findet. Eine ventionskrieg also der europäischen Zivilisation gegen das
französische Kanone scheint ihm verehrungswürdig, eine renitente Deutschland: denn wenn die Londoner ›Times‹ eines
deutsche verbrecherisch, abstoßend und idiotisch. Auch darin Tages erklärten, dieser Krieg werde von den Verbündeten
stimmt er mit sämtlichen Entente-Ministern und -Journali- »aus Interesse an Deutschlands inneren Zuständen« geführt,
sten überein, daß jeder deutsche Sieg nur Folge und Beweis so war das wohl freilich ziemlich genau das, was man unter
langjährig tückischer Vorbereitung ist, jeder Entente-Erfolg einer shameless audacity zu verstehen hat, aber es war völlig
aber einen Triumph des Geistes über die Materie bedeutet. im Sinne des Zivilisationsliteraten gesprochen, der ihn eben-
Wiederum aber duldet seine Liebe auch dies nicht, daß eine falls aus europäischem Interesse an den inneren »Zuständen«
Entente-Macht und gar namentlich Frankreich schlecht vor- seines Landes führt und, nachdem er während der ersten
bereitet, mangelhaft gerüstet sein könne. Gerüstet? Sie sind Kriegswochen, wie jeder Franzose, einer gewissen Demorali-
glänzend gerüstet! — Nochmals, die Logik von alldem liegt sation unterlegen war, seit dem Marne-Mirakel vom Endsiege
nicht auf der Hand. Aber wer wäre denn auch Pedant genug, überzeugt ist. »Deutschland wird sich schicken müssen«, sagte
von der Liebe Logik zu verlangen! er damals, und seine Augen glommen. Deutschland wird end-
Ich wünschte, wie gesagt, mich wissenschaftlich und infor- lich artig sein müssen, sagte er, und es wird dann glücklich
mativ zu verhalten. Dennoch geht wohl aus meiner Skizze des sein wie ein Kind, das nach Schlägen schrie und, wenn es
zivilisationsliterarischen Typs hervor, daß ich nicht recht mit welche bekommen hat, dankbar ist, daß man seinen Trotz
ihm übereinstimme. Meine Stellung zu den Ereignissen — eine gebrochen, ihm über seine Hemmungen hinweggeholfen, es
Stellung, die ich gewiß nicht ›wählte‹, eine zunächst sehr un- erlöst, es befreit hat. Wir erlösen und befreien Deutschland,
reflektierte und simpel-selbstverständliche Stellung — alles, indem wir es schlagen, es auf die Knie werfen, seine böse
was ich von Anfang an dazu äußerte, hat ihn erbittert, ich Renitenz, ihm selbst zur Wohltat, brechen und es zwingen,
habe es, soweit ich das nicht schon vorher getan hatte, auf Vernunft anzunehmen und ein ehrenwertes Mitglied der de-
immer dadurch mit ihm verdorben. »Mit Schmerz und Zorn«, mokratischen Staatengesellschaft zu werden.
sagt er, hat er sich von mir gewandt, wobei sein Schmerz
Ich gab schon zu, daß ich solchem Gedankengange nicht
seinen Zorn nicht hinderte, mir doppelsinnig-halböffentlich
recht zu folgen vermag; ich gehe weiter und gestehe, daß er
Dinge zu sagen, die in politischem Betrachte vorzüglich sein
mich sehr unliebsam berührt, mich irgendwie persönlich be-
mögen, menschlich genommen aber einfach tüchtige Gemein-
leidigt und empört, meine innerste Ehre antastet, ja, als ich
heiten sind, — ein Wink offenbar, daß auch die ›Politik der
ihn zuerst kennenlernte, recht eigentlich wie Gift und Oper-
Menschlichkeit‹ eben Politik bleibt und dem Menschlichen
ment auf mich wirkte. Aber woher das? Woher die Empörung
nicht eben zuträglich ist. Allein diese äußere Entfremdung ist
meines letzten und untersten, persönlich-überpersönlichen
um so bedauerlicher, als wir im Grunde ganz einer Meinung
Willens gegen die Willensmeinung eines guten Europäers,
sind, — nicht eines Sinnes, aber einer Meinung über diesen '
den eben sein gutes Europäertum vermag, den Niederbruch
Krieg, von dem auch er die Dostojewski'sche Auffassung hat.
seines Vaterlandes, die Gefügigmachung seines Volkes durch
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Merkwürdig, — denn die Tatsache besteht, daß mein eigenes
die Mächte der westlichen Zivilisation zu wünschen und zu
Sein und Wesen sich zu dem des Zivilisationsliteraten viel
glauben? Nie gehörte ich zu denen, die einen leichten und
weniger fremd und entgegengesetzt verhält, als die kalt ob-
triumphalen militärischen Sieg Deutschlands über seine Geg-
jektive Kritik, die ich dem seinen zuteil werden ließ, glauben
ner, mit Pauken und Trompeten, für ein Glück, ein europäi-
machen könnte. Was will er? Und wenn ich es nicht will —
sches oder ein deutsches gehalten hätten. Ich habe dem früh-
warum will ich es nicht? Es ist ja keineswegs so, daß er ein
zeitig Ausdruck gegeben. Woher aber das Gefühl, das mich
schlechter Bürger und Patriot wäre, der sich um Deutschland
zu Anfang des Krieges bis in den Grund meines Wesens be-
nicht kümmerte. Im Gegenteil! er kümmert sich aus allen
herrschte, daß ich nicht hätte leben — ohne im geringsten ein
Kräften darum, er fühlt sich im höchsten Grade verantwort-
Held und todesmutig zu sein, buchstäblich nicht weiter hätte
lich für sein Schicksal. Er will und betreibt eine Entwicklung,
leben mögen, wenn Deutschland vom Westen geschlagen,
— die ich für notwendig, das heißt: für unvermeidlich halte;
gedemütigt, im Glauben an sich selbst gebrochen worden
an der auch ich meiner Natur nach unwillkürlich in gewissem
wäre, so daß es sich »schicken« und die Vernunft, die ratio,
Grade teilhabe; der zuzujauchzen ich aber gleichwohl keinen
der Feinde hätte annehmen müssen? Gesetzt, das wäre ge-
Grund sehe. Er fördert mit Peitsche und Sporn einen Fort-
schehen, die Entente ihrerseits hätte rasch und glänzend ge-
schritt, — der mir, nicht selten wenigstens, als unaufhaltsam
siegt, die Welt wäre vom deutschen ›Alpdruck‹, dem deut-
und schicksalsergeben erscheint und den an meinem beschei-
schen ›Protest‹ befreit worden, das Imperium der Zivilisation
denen Teile zu fördern mein eigenes Schicksal ist; dem ich
hätte sich vollendet, oppositionslos übermütig geworden: das
aber trotzdem aus dunklen Gründen eine gewisse konser-
Ergebnis wäre ein Europa gewesen, — nun, ein wenig drollig,
vative Opposition bereite . . . Ich möchte ganz verstanden
ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-elegant, ein
sein. Ich meine also: Man kann einen Fortschritt sehr wohl
Europa, schon etwas allzu ›menschlich‹, etwas preßbanditen-
als unvermeidlich und schicksalsgegeben betrachten, ohne im
haft und großmäulig-demokratisch, ein Europa der Tango-
mindesten gestimmt zu sein, mit Hurra und Hussa hinter-
und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa à la
drein zu hetzen, — was, sollte ich denken, der Fortschritt auch
Edward the Seventh, ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie
gar nicht nötig hat. Der Fortschritt hat alles für sich, vor allem
eine Pariser Kokotte, — aber etwa nicht ein Europa, in dem es
die guten Federn. Wenn es scheint, daß die guten Federn die Zu-
für meinesgleichen sich weit vorteilhafter hätte leben lassen
kunft für sich haben, so verhält es sich in Wirklichkeit so, daß
als in einem ›militaristischen‹? Etwa nicht ein amüsantes,
vielmehr die Zukunft die guten Federn für sich hat. Es ist ein
ja! ein durch und durch amüsantes Europa, welches nicht zu
metaphysischer Beweis für die Güte und Zukünftigkeit einer
wollen bei einem Schriftsteller zum mindesten nicht von Egois-
Sache, wenn in ihrem Namen gut geschrieben wird. Aber man
mus zeugt? Denn ohne Zweifel wäre es ungemein artistisch
kann auch sagen: Solange noch für eine Sache gut geschrieben
gewesen, dies Entente-Europa für human freedom and peace,
wird, hat sie auch Wert und Berechtigung, selbst wenn sie nicht
und der Artist, soweit er eben ›Artist‹ ist, hätte sich pudel-
der Fortschritt ist. .. Ich wiederhole: Der Fortschritt hat alles
wohl darin fühlen können, das möge er bedenken und möge
für sich. Nur scheinbar ist er die Opposition. Der erhaltene Ge-
man ihm anrechnen . . .
genwille ist es, der in Wahrheit immer und überall die Oppo-
Im Ernst, meine Auflehnung ist sehr merkwürdig! Merk- sition bildet, der sich in der Verteidigung befindet, und zwar in
würdig für mich, — und ich habe die schlechte Gewohnheit,' einer, wie er genau weiß, aussichtslosen Verteidigung.
anderen als merkwürdig aufzudrängen, was mir so erscheint.
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Welches ist nun diese Entwicklung, dieser Fortschritt, von
dem ich sprach? Aber es ist eine Handvoll schändlich häßlicher EINKEHR
Kunstwörter nötig, um anzudeuten, um was es sich handelt.
Es handelt sich um die Politisierung, Literarisierung, Intel-
lektualisierung, Radikalisierung Deutschlands, es gilt seine Sollte es wirklich wahr sein, daß der kosmo-
›Vermenschlichung‹ im lateinisch-politischen Sinne und seine politische Radikalismus auch in Deutschland
Enthumanisierung im deutschen . . . es gilt, um das Lieblings- schon Wurzel gefaßt hat?
wort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu Dostojewski, Schriften
brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles Doch, auch ich habe teil daran . . . und nun wollen wir der
zusammenzufassen und auf den Generalnenner zu bringen: Einfachheit halber all jene Exküsen übergehen, die selbstver-
es gilt seine Entdeutschung . . . Und an all diesem Unfug ständlich im höchsten Grade am Platze sind, wenn heutigen-
sollte ich teilhaben? tags jemand Miene macht, von sich selbst zu reden. »Eine
Weltwende!« höre ich sagen. »Der rechte Augenblick, in der
Tat, für einen mittleren Schriftsteller, unsere Aufmerksam-
keit für seine werte literarische Persönlichkeit in Anspruch zu
nehmen!« Das nenne ich gesunde Ironie. Auf der anderen
Seite jedoch überlege ich, ob eine Weltwende nicht bei Lichte
besehen für jedermann recht wohl der Augenblick ist, in sich
zu gehen, mit seinem Gewissen Rats zu pflegen und eine Ge-
neral-Revision der eigenen Grundlagen anzusetzen, — begreif-
lich wenigstens und entschuldbar erscheint mir ein solches
Bedürfnis dort, wo auch in Hochzeiten der äußeren Politik
und der ›Macht‹ die innere Politik und die moralischen An-
gelegenheiten das beherrschende Interesse bleiben. Nur die
Sympathie freilich, nicht Gleichgültigkeit oder Abneigung,
wird zu überzeugen sein, daß es sich um Gewissensdrang
handelt, wo die Diagnose auf Selbstverliehtheit und eitle
Anmaßung im entferntesten möglich ist. Indem ich mich an-
schicke, geschmacklos zu sein, muß ich mir ein kleines Publi-
kum von Freunden, mir bekannten und unbekannten, ein-
bilden dürfen: Freunden in dem Sinne, daß ihnen aus dem
ernsten und heiteren Anteil, den sie an meinem früheren
Treiben und Schreiben genommen haben, eine gewisse Mit-
verantwortlichkeit dafür erwächst und bewußt ist, — Freun-
den also im Sinn jener Gewissens-Solidarität, die einen Künst-
ler mit seinem wahren Publikum verbindet und die stark
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genug sein möge, um auch ihnen, wie mir, über das zeitlich gesse ich auch hier nicht ganz, daß es beinahe zur deutschen
Gewagte der folgenden Abschnitte hinwegzuhelfen. Humanität gehört, sich undeutsch, und selbst antideutsch auf-
Die Sache fängt damit an, daß mein Recht auf ›Patriotis- zuführen; daß eine den Nationalsinn zersetzende Neigung
mus‹ mit gutem Fug bezweifelt werden könnte, denn ich bin zum Kosmopolitischen nach maßgeblichem Urteil vom Wesen
kein sehr richtiger Deutscher. Zu einem Teil romanischen,
der deutschen Nationalität untrennbar ist; daß man seine
latein-amerikanischen Blutes, war ich von jung auf mehr euro-
Deutschheit möglicherweise verlieren muß, um sie zu finden;
päisch-intellektuell als deutsch-poetisch gerichtet, — ein Un-
daß ohne einen Zusatz von Fremdem vielleicht kein höheres
terschied, nein, ein Gegensatz, über den, wie ich hoffen muß,
Deutschtum möglich ist; daß gerade die exemplarischen Deut-
von vornherein Einverständnis herrscht, so daß ich nicht wei-
schen Europäer waren und jede Einschränkung ins Nichts-als-
ter darauf zu bestehen brauche. Ein deutscher Dichter zu sein,
Deutsche als barbarisch empfunden hätten. Den großen Schil-
wie etwa Gerhart Hauptmann, wie noch Herbert Eulenberg
ler hat noch Fontane einen Halbfremden genannt, und wenn
es ist, habe ich mir nie einzureden versucht, — wobei ich mich
sein rhetorisches Drama eigentlich im grand siècle zu Hause
beeile, hinzuzufügen, daß hier keinen Augenblick vom Range,
ist, so fehlt nicht viel, daß Nietzsche das Werk des anderen
sondern ausschließlich vom Wesen die Rede ist. Diejenige
großen deutschen Theatralikers in die französische Romantik
Begabung, die sich aus synthetisch-plastischen und analytisch-
verweist. Was Goethe betrifft, so sind mindestens die W a h l -
kritischen Eigenschaften zusammensetzt und die Kunstform
des Romans als die ihr gemäße ergreift, ist überhaupt nicht verwandtschaften formal genommen kein sehr deutsches
eigentlich deutsch, der Roman selbst keine recht deutsche Gat- Werk, wie denn überhaupt die Prosa dieses Schriftstellers zu-
tung; vorderhand ist es nicht vorstellbar, daß hierzulande — weilen französiert, daß es eine Schande ist (eine Erscheinung,
im ›unliterarischen Lande‹ — ein Schriftsteller, ein Prosaist die bei dem ›Polen‹ Nietzsche nicht weiter auffallen kann),
und Romanschreiber im Bewußtsein der Nation zu repräsen- während Schopenhauer seine Paragraphen zunächst ins Latei-
tativer Stellung aufsteige, wie der Poet, der reine Synthetiker, nische übersetzt zu haben scheint, um sie dann mit einem Ge-
der Lyriker oder Dramatiker es vermag. Ich sage: vorder- winst an erzen-unsterblicher Präzision ins Deutsche zurück-
hand, denn der Zivilisationsliterat will, daß es anders werde, zuübersetzen . . . Zu solchen nationalen Unzuverlässigkeiten
und er weiß, warum. Es ist sicher, daß ein Vortreten des unserer Großen also hat man sich gewöhnt, gute Miene zu
Romans oder genauer: des Gesellschaftsromans im öffent- machen, und sich einfach entschlossen, dergleichen in den Be-
lichen Interesse der exakte Gradmesser wäre für den Fort- griff des höheren Deutschtums aufzunehmen. Unterdessen bin
schritt jenes Prozesses der Literarisierung, Demokratisierung ich nicht so toll, das Europäisieren meines Geschmacks mit
und ›Vermenschlichung‹ Deutschlands, von dem ich sprach, meinem Range in Verbindung zu bringen, (aber von dem
und den anzufeuern die eigentliche Angelegenheit und Sen- sollte ja überhaupt nicht die Rede sein). Es ist kein Verdienst,
dung des Zivilisationsliteraten ist. wenn es kein Tadel ist, daß intim und exklusiv Deutsches mir
niemals genügen wollte, daß ich nicht viel damit anzufangen
Kommen wir aufs Persönliche zurück! Ich sagte, ich sei kein
wußte. Mein Blut bedurfte europäischer Reize. Künstlerisch,
sehr guter und richtiger Deutscher, — und ließ dabei freilich
literarisch beginnt meine Liebe zum Deutschen genau dort,
in meinem Falle jene letzte Vorsicht außer acht, die ich im
wo es europäisch möglich und gültig, europäischer Wirkungen
Falle des Zivilisationsliteraten sorgfältig walten ließ. Gegen
fähig, jedem Europäer zugänglich wird. Die drei Namen, die
mich selbst darf ich unbedenklicher vorgehen. Dennoch ver-
ich zu nennen habe, wenn ich mich nach den Fundamenten
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meiner geistig-künstlerischen Bildung frage, diese Namen für Thomas Buddenbrook vor seinem Ende in einem verstaubten
ein Dreigestirn ewig verbundener Geister, das mächtig leuch- Winkel seines Bücherschrankes machte, — er machte ihn nur
tend am deutschen Himmel hervortritt, — sie bezeichnen nicht scheinbar zufällig, nicht viele Jahre vorher hatte Europa, das
intim deutsche, sondern europäische Ereignisse: Schopen- intellektuelle Europa, mit dem der Mittelstadt-Honoratiore
hauer, Nietzsche und Wagner. nervös sympathisierte, denselben Fund gemacht, der Pessimis-
Das kleine, hochgelegene Vorstadtzimmer schwebt mir vor mus Arthur Schopenhauers herrschte, er war große Mode im
Augen, worin ich, es sind sechzehn Jahre, tagelang hinge- intellektuellen Europa: denn dieser deutsche Philosoph war
streckt auf ein sonderbar geformtes Langfauteuil oder Kana- kein deutscher Philosoph‹ mehr im herkömmlichen, unzu-
pee, ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ las. Einsam-un- gänglich-abstrusen Sinne — er war wohl freilich sehr deutsch
regelmäßige, welt- und todsüchtige Jugend — wie sie den (kann man Philosoph sein, ohne deutsch zu sein?) — sehr
Zaubertrank dieser Metaphysik schlürfte, deren tiefstes Wesen deutsch, insofern er zum Beispiel durchaus kein Revolutionär,
Erotik ist und in der ich die geistige Quelle der Tristan- kein Busen-Rhetor und Menschheitsschmeichler, sondern
Musik erkannte! So liest man nur einmal. Das kommt nicht Metaphysiker, Moralist und politisch, gelinde gesagt, indiffe-
wieder. Und welch ein Glück, daß ich ein Erlebnis wie dieses rent war . . . Aber er war etwas sehr Überraschendes und
nicht in mich zu verschließen brauchte, daß eine schöne Mög- Dankenswertes darüber hinaus: ein ganz großer Schriftsteller
lichkeit, davon zu zeugen, dafür zu danken, sofort sich dar- nämlich, ein Schöngeist und Sprachmeister von umfassend-
bot, dichterische Unterkunft unmittelbar dafür bereit war! sten literarischen Wirkungsmöglichkeiten, ein europäischer
Denn zwei Schritte von meinem Kanapee lag aufgeschlagen Prosaist, wie es deren vorher unter Deutschen vielleicht zwei,
das unmöglich und unpraktisch anschwellende Manuskript — drei und keineswegs unter deutschen Philosophen gegeben
Last, Würde, Heimat und Segen jenes seltsamen Jünglings- hatte . . . Ja, das war neu, und die Wirkung davon war groß:
alters, höchst problematisch, was seine öffentlichen Eigen- auf das intellektuelle Europa, welches die Mode durchmachte
schaften und Aussichten betraf —, welches eben bis zu dem und ›überwand‹, auf Thomas Buddenbrook, der starb —, und
Punkte gediehen war, daß es galt, Thomas Buddenbrook zu auf mich, der nicht starb und dem ein überdeutsches Geistes-
Tode zu bringen. Ihm, der mir mystisch-dreifach verwandten erlebnis zu einer der Quellen seines literarisch so anstößigen
Gestalt, dem Vater, Sprößling und Doppelgänger schenkte ich ›Patriotismus‹ wurde.
das teure Erlebnis, das hohe Abenteuer, in sein Leben, dicht Es war um dieselbe Zeit, daß meine Passion für das Kunst-
vor dem Ende, wob ich es erzählend ein, denn mir schien, daß werk Richard Wagners auf ihre Höhe kam oder doch ihrem
es ihm wohl anstehe, — dem Leidenden, der tapfer stand- Höhepunkt sich näherte: ich sage ›Passion‹, weil schlichtere
gehalten, dem Moralisten und ›Militaristen‹ nach meinem Wörter, wie ›Liebe‹ und ›Begeisterung‹, die Sache nicht wahr-
Herzen, dem späten und komplizierten Bürger, dessen Nerven haft nennen würden. Die Jahre der größten Hingebungs-
in seiner Sphäre nicht mehr heimisch sind, dem Mitregenten; fähigkeit sind nicht selten zugleich auch diejenigen der größ-
einer aristokratischen Stadtdemokratie, welcher, modern und ten psychologischen Reizbarkeit, welche in meinem Falle durch
fragwürdig geworden, unherkömmlichen Geschmacks und von eine gewisse kritische Lektüre noch mächtig verschärft wurde;
entwickelt europäisierenden Bedürfnissen, die gesunder, enger und Hingabe zusammen mit Erkenntnis — eben dies ist Pas-
und echter gebliebene Umgebung zu befremden und — zu be- sion. Die innig-schwerste und fruchtbarste Erfahrung meiner
lächeln längst begonnen hat. In der Tat, den Fund, den Jugend war diese, daß Leidenschaft hellsichtig — oder ihres
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Namens nicht wert ist. Blinde Liebe, nichts als panegyrisch- schaffen auf eine für den Genießenden ohnehin strapaziöse
apotheosierende Liebe — eine schöne Simpelei! Eine gewisse Weise zu vereinigen. Aber die Beschäftigung mit ihr wird bei-
Art approbierter Wagner-Literatur habe ich nie auch nur lesen nahe zum Laster, sie wird moralisch, wird zur rücksichtslos
können. Jene verschärfend kritische Lektüre aber, von der ich ethischen Hingabe an das Schädliche und Verzehrende, wenn
sprach, war diejenige der Schriften Friedrich Nietzsche's: ins- sie nicht gläubig-enthusiastisch, sondern mit einer Analyse
besondere sofern sie Kritik des Künstlertums, oder, was bei verquickt ist, deren gehässigste Erkenntnisse zuletzt eine Form
Nietzsche dasselbe besagt, Wagnerkritik sind. Denn überall, der Verherrlichung und wiederum nur Ausdruck der Leiden-
wo in diesen Schriften vom Künstler und Künstlertum die schaft sind. Noch im ›Ecce homo‹ ist eine Seite über den
Rede ist — und es ist auf keine gutmütige Weise davon die ›Tristan‹, welche Beweis genug wäre, daß Nietzsche's Ver-
Rede —, da ist der Name Wagners, sollte er auch im Texte hältnis zu Wagner bis in die Paralyse hinein heftigste Liebe
fehlen, unbedenklich einzusetzen: Nietzsche hatte, wenn nicht geblieben ist.
die Kunst selbst — aber auch dies könnte man behaupten —, Der intellektuelle Name für ›Liebe‹ lautet ›lnteresse‹, und
so doch das Phänomen ›Künstler‹ durchaus an Wagner er- der ist kein Psycholog, der nicht weiß, daß Interesse einen
lebt und studiert, wie dann der so viel geringere Nachkömm- nichts weniger als matten Affekt bedeutet, — vielmehr einen,
ling das Wagner'sche Kunstwerk und in ihm beinahe die der zum Beispiel den der ›Bewunderung‹ an Heftigkeit weit
Kunst selbst durch das Medium dieser Kritik leidenschaftlich übertrifft. Es ist der eigentliche Schriftsteller-Affekt, und
erlebte — und dies in entscheidenden Jahren, so daß all meine Analyse vernichtet ihn nicht nur nicht, sondern er saugt, sehr
Begriffe von Kunst und Künstlertum auf immer davon be- anti-spinozistisch, beständig Nahrung aus ihr. Es ist also
stimmt, oder, wenn nicht bestimmt, so doch gefärbt und be- nicht der Panegyrikus, es ist die Kritik; und zwar die böse
einflußt wurden — und zwar in einem nichts weniger als herz- und selbst gehässige Kritik, ja geradezu das Pamphlet, vor-
lich-gläubigen, vielmehr einem nur allzu skeptisch-verschla- ausgesetzt, daß es geistreich und Produkt der Leidenschaft ist,
genen Sinn. — worin passioniertes Interesse sein Genüge findet: die bloße
Erkennende Hingabe, hellsichtige Liebe — das ist Passion. Lobpreisung schmeckt ihm schal, es findet, daß nichts daraus
Ich versichere, daß die Inständigkeit meiner Wagner-Leiden- zu lernen ist. Ja, sollte es etwa selbst dahin gelangen, den
schaft nicht die mindeste Einbuße dadurch erlitt, daß sie sich Gegenstand, die Persönlichkeit, das Problem, für das es brennt,
in Psychologie und Kritik brach — einer Kritik und Psycho- produktiv zu feiern, so wird etwas Wunderliches zustande
logie, die an Raffinement ihrem zauberischen Gegenstande, kommen, welches im Mißverstandenwerden beinahe seine
wie man weiß, gewachsen ist. Im Gegenteil, ihren feinsten Ehre sucht, ein Erzeugnis hinterhältiger und verschmitzt irre-
und schärfsten Stachel erhielt sie erst eben hierdurch, sie führender Begeisterung, das auf den ersten Blick einem Pas-
wurde erst eben hierdurch recht zur Leidenschaft — mit all den quill zum Verwechseln ähnlich sieht. Ich gab kürzlich ein
Ansprüchen, die eine rechte Passion an die nervöse Spann- kleines Beispiel dafür, als ich eine historisierende Schrift,
kraft nur immer stellen kann. Die Kunst Wagners, so poetisch, einen Abriß des Lebens Friedrichs von Preußen, zur Kriegs-
so ›deutsch‹ sie sich geben möge, ist ja an und für sich eine diskussion beisteuerte, — ein von den Zeitereignissen eingege-
äußerst moderne, eine nicht eben unschuldige Kunst: Sie ist benes/ja abgepreßtes Werkchen, dessen Veröffentlichung mir
klug und sinnig, sehnsüchtig und abgefeimt, sie weiß be- im ersten Augenblick — der Krieg währte noch nicht lange —
täubende und intellektuell wachhaltende Mittel und Eigen- von besorgten Freunden dringend widerraten wurde: und
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zwar nicht seines die Literatur beleidigenden ›Patriotismus‹ der Tat ist Wagner als geistige Erscheinung so gewaltig deutsch,
wegen, sondern aus gerade entgegengesetzten Gründen . . . daß mir immer schien, man müsse unbedingt sein Werk mit
Ich weiß wohl, wohin ich steuere, wenn ich von diesen Leidenschaft erlebt haben, um von der tiefen Herrlichkeit so-
Dingen rede. Nietzsche und Wagner — sie sind beide große wohl wie von der quälenden Problematik deutschen Wesens
Kritiker des Deutschtums: dieser auf mittelbar-künstlerische, irgend etwas — wenn nicht zu verstehen, so doch zu ahnen.
jener auf unmittelbar-schriftstellerische Weise, — wobei, wie Aber außerdem, daß dieses Werk eine eruptive Offenbarung
es modern ist, die künstlerische Methode an intellektueller deutschen Wesens ist, ist es auch eine schauspielerische Dar-
Bewußtheit und Un-Einfalt der schriftstellerischen nicht nach- stellung davon, und zwar eine Darstellung, deren Intellektua-
steht. Es hat, wie gesagt, wenn man Nietzsche beiseite nimmt, lismus und plakathafte Wirksamkeit bis zum Grotesken, bis zum
in Deutschland nie eine Wagner-Kritik gegeben, — denn das Parodischen geht, — eine Darstellung, die, sehr roh gesprochen,
›unliterarische‹ Volk ist damit auch das un- und anti-psycho- momentweise nicht völlig über den Verdacht erhaben ist, Bezie-
logische. Baudelaire und Barrès haben bessere Dinge über hungen zur Fremdenindustrie zu unterhalten, und die bestimmt
Wagner gesagt, als in irgendwelchen deutschen Wagner-Bio- scheint, ein neugierig schauderndes Entente-Publikum zu dem
graphien und -Apologien zu finden sind, und in diesem Ausrufe hinzureißen: »Ah, ça c'est bien allemand par exemple!«
Augenblick ist es ein Schwede, W. Peterson-Berger, der in Wagners Deutschtum also, so wahr und mächtig es sei, ist
seinem Buche ›Richard Wagner als Kulturerscheinung‹ uns modern gebrochen und zersetzt, dekorativ, analytisch, intellek-
Deutschen einige Winke darüber erteilt, in welcher Haltung tuell, und seine Faszinationskraft, seine eingeborene Fähig-
etwa man gut tut, sich einer so im ungeheuersten Sinne inter- keit zu kosmopolitischer, zu planetarischer Wirkung stammt
essanten Erscheinung zu nähern: in demokratisch aufrechter daher. Seine Kunst ist die sensationellste Selbstdarstellung und
Haltung nämlich, die es gestattet, überhaupt etwas davon zu Selbstkritik deutschen Wesens, die sich erdenken läßt, sie ist
sehen. Der Schwede spricht da von Wagners Nationalismus, danach angetan, selbst einem Esel von Ausländer das Deutsch-
seiner Kunst als einer national deutschen, und bemerkt, daß tum interessant zu machen, und die leidenschaftliche Beschäf-
die deutsche Volksmusik die einzige Richtung sei, die von tigung mit ihr ist immer zugleich eine leidenschaftliche Be-
seiner Synthese nicht umfaßt werde. Zu Charakterisierungs- schäftigung mit diesem Deutschtum selbst, das sie kritisch-
zwecken könne er wohl mitunter, wie in den ›Meistersingern‹ dekorativ verherrlicht. Sie wäre das an und für sich, aber wie
und im ›Siegfried‹, den deutschen Volkston anschlagen, aber sehr wird sie es erst sein, wenn sie sich von einer Kritik leiten
dieser bilde nicht die Grundlage und den Ausgangspunkt läßt, die, während sie der Kunst Wagners zu gelten scheint, in
seiner Tondichtung, sei niemals der Ursprung, aus dem sie Wahrheit dem Deutschtum im allgemeinen gilt, wenn auch nicht
spontan hervorsprudele, wie bei Schumann, Schubert und immer so unmittelbar ausgesprochenerweise wie in jener herr-
Brahms. Es sei notwendig, zwischen Volkskunst und natio- lichen Analyse des Meistersinger-Vorspiels zu Anfang des
naler Kunst zu unterscheiden; der erstere Ausdruck ziele nach Achten Hauptstücks von ›Jenseits von Gut und Böse‹. In
innen, der letztere nach außen. Wagners Musik sei mehr Wahrheit, wenn Nietzsche als Wagner-Kritiker im Auslande
national als volkstümlich; sie habe wohl viele Züge, die Rivalen hat, als Kritiker des Deutschtums hat er deren nir-
namentlich der Ausländer als deutsch empfinde, aber sie habe gends, weder draußen noch daheim: er ist es, der bei weitem
dabei ein unverkennbar kosmopolitisches Cachet. — Nun, es das Böseste und Beste darüber gesagt hat, und die Genialität
ist leicht, treffend zu sein, wenn man sehr zugespitzt ist. In der Beredsamkeit, die ihn ergreift, die ihn trägt, wenn er auf
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Schopenhauer, Nietzsche und Wagner: ein Dreigestirn ewig
deutsche Dinge, auf das Problem des Deutschtums zu reden
verbundener Geister. Deutschland, die Welt stand in seinem
kommt, ist Zeugnis seines durchaus leidenschaftlichen Ver-
Zeichen, bis gestern, bis heute — wenn auch morgen nicht
hältnisses zu diesem Gegenstand. Von Nietzsche's Deutsch-
mehr. Tief und unlösbar sind ihre Schöpfer- und Herrscher-
feindlichkeit zu reden, wie es in Deutschland zuweilen ge-
schicksale verknüpft. Nietzsche nannte Schopenhauer seinen
schieht — das Ausland, dank seinem weiteren Abstande, sieht
»großen Lehrer«; welch ungeheueres Glück für Wagner das
richtiger —, ist ebenso plump, wie es wäre, ihn einen Anti-
Erlebnis Schopenhauers war, weiß der Erdkreis; die Freund-
Wagnerianer zu nennen. Er liebte Frankreich aus artistisch-
schaft von Tribschen mochte sterben, — sie ist unsterblich, wie
formalen, wenn auch gewiß nicht aus politischen Gründen;
die Tragödie unsterblich ist, die nachher kam und die nie und
aber man zeige mir die Stelle, wo er von Deutschland mit je-
nimmermehr eine Trennung, sondern eine geistesgeschichtliche
ner Verachtung spricht, die englischer Utilitarismus, englische
Umdeutung und Umbetonung dieser ›Sternenfreundschaft‹
Unmusikalität ihm erweckten! Auf ihn, wahrhaftig! mögen
war. Die drei sind eins. Der ehrfürchtige Schüler, dem ihre
jene politischen Sittenrichter sich nicht berufen, die sich an-
gewaltigen Lebensläufe zur Kultur geworden, möchte wün-
maßen, ihr Volk literarisch zu züchtigen, es mit der klappern-
schen, von allen dreien auf einmal reden zu können, so schwer
den Terminologie des westlichen Demokratismus zu schul-
scheint es ihm, auseinanderzuhalten, was er dem einzelnen
meistern, aber nie, niemals im Leben ein einziges Wort der
verdankt. Wenn ich von Schopenhauer den Moralismus — ein
erkennenden Leidenschaft fanden, welches ihr Recht erhärtet
populäreres Wort für dieselbe Sache lautet ›Pessimismus‹ —
hätte, über deutsche Dinge auch nur mitzureden . . . Ich wollte
meiner seelischen Grundstimmung habe, jene Stimmung von
sagen: der junge Mensch, den Geschmack und Zeitumstände
»Kreuz, Tod und Gruft«, die schon in meinen ersten Ver-
nötigten, die Kunst Wagners, die Kritik Nietzsche's zur Grund-
suchen hervortrat: so findet sich diese »ethische Luft«, um mit
lage seiner Kultur zu machen, an ihnen hauptsächlich sich zu
Nietzsche zu reden, auch bei Wagner; in ihr steht ganz und
bilden, mußte gleichzeitig der eigenen nationalen Sphäre,
gar sein riesenhaftes Werk, und ebensogut auf seinen Einfluß
mußte des Deutschtums als eines überaus merkwürdigen, zu
könnte ich mich berufen. Wenn aber eben diese Grundstimmung
leidenschaftlicher Kritik anreizenden europäischen Elementes
mich zum Verfallspsychologen machte, so war es Nietzsche,
ansichtig werden; eine Art von psychologisch orientiertem
auf den ich dabei als Meister blickte; denn nicht so sehr der
Patriotismus mußte sich zeitig in ihm ausbilden, der mit poli-
Prophet irgendeines unanschaulichen »Übermenschen« war er
tischem Nationalismus natürlich überhaupt nichts zu schaffen
mir von Anfang an, wie zur Zeit seiner Modeherrschaft den
hatte, aber eine gewisse Reizbarkeit des nationalen Selbst-
meisten, als vielmehr der unvergleichlich größte und erfah-
bewußtseins, eine gewisse Ungeduld gegen plumpe, der Un-
renste Psychologe der Dekadenz .. .
wissenheit entspringende Beschimpfungen dennoch hervor-
brachte: in dem Sinne etwa, wie ein Kunstfreund, der tief Selten, denke ich, wird auf einen Nicht-Musiker — und ent-
durch das Erlebnis Wagners gegangen, aus höheren geistigen schiedeneren Nicht-Dramatiker — der Einfluß Wagners so
Gründen aber zum Gegner dieser Kunst geworden ist, Un- stark und bestimmend gewesen sein, wie ich es von mir zu
geduld in sich ausbrechen fühlen wird bei den Schimpfreden bekennen habe. Nicht als Musiker, nicht als Dramatiker, auch
rückständig-banausischer Ahnungslosigkeit. ›Interesse‹, um nicht als ›Musikdramatiker‹ wirkte er auf mich, sondern als
es umgekehrt zu wiederholen, ist der intellektuelle Name eines Künstler überhaupt, als der moderne Künstler par excellence,
Affektes, dessen sentimentaler Name — ›Liebe‹ lautet. wie Nietzsche's Kritik mich gewöhnt hatte ihn zu sehen, und
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im besonderen als der große musikalisch-epische Prosaiker besetzt. Man hört das Fragment zu Ende. Dann beginnt in der
und Symboliker, der er ist. Was ich vom Haushalt der Mittel, ganzen Runde der Kampf zwischen ostentativem Beifall und
von der Wirkung überhaupt — im Gegensatz zum Effekt, die- nationalem Protest. Man schreit »Bis!« und klatscht in die
ser ›Wirkung ohne Ursache‹ —, vom epischen Geist, vom Hände. Man schreit »Basta!« und pfeift. Es sieht aus, als ob
Anfangen und Enden, vom Stil als einer geheimnisvollen die Opposition das Feld behaupten werde; aber Vessella bis-
Anpassung des Persönlichen an das Sachliche, von der Sym- siert. Diesmal wird schonungslos in das Stück hinein demon-
bolbildung, von der organischen Geschlossenheit der Einzel-, striert. Pfiffe und Schreie nach einheimischer Musik zerreißen
der Lebenseinheit des Gesamtwerkes, — was ich von alldem die piano-Stellen, während beim forte die Zustimmungsrufe
weiß und zu üben und auszubilden in meinen Grenzen ver- der Enthusiasten die Oberhand haben. Aber nie vergesse ich,
sucht habe, ich verdanke es der Hingabe an diese Kunst. Heute wie unter Evvivas und Abbassos zum zweiten Male das
noch, wenn unverhofft eine beziehungsvolle Wendung, irgend- Nothung-Motiv heraufkam, wie es über dem Straßenkampf
ein abgerissener Klang aus Wagners musikalischem Kosmos der Meinungen seine gewaltigen Rhythmen entfaltete, und
mein Ohr trifft, erschrecke ich vor Freude. Aber dem jungen wie auf seinem Höhepunkt, zu jener durchdringend schmet-
Menschen, für den zu Hause kein Platz war und der in einer ternden Dissonanz vor dem zweimaligen C-Dur-Schlage, ein
Art von freiwilliger Verbannung in ungeliebter Fremde lebte, Triumphgeheul losbrach und die erschütterte Opposition un-
war diese Kunstwelt buchstäblich die Heimat seiner Seele. widerstehlich zudeckte, zurücktrieb, auf längere Zeit zu ver-
Schaufahrt mit Konzert auf dem Pincio . . . und eingesprengt wirrtem Schweigen brachte . . . Der zwanzigjährige Fremde
in das banal genießende Gewimmel internationaler Eleganz — fremd hier wie diese Musik, mit dieser Musik — stand ein-
stand der ärmliche und halb verwahrloste Junge zu Füßen gekeilt in der Menge auf dem Pflaster. Er schrie nicht mit, da
des Podiums, unter einem dickblauen Himmel, der nie auf- die Kehle ihm zugeschnürt war. Sein Gesicht, nach dem Po-
hörte, ihm auf die Nerven zu fallen, unter Palmen, die er dium spähend, das wütende Italianissimi stürmen wollten
mißachtete, und empfing, schwach in den Knien vor Begeiste- und das von den Musikern mit ihren Instrumenten verteidigt
rung, die romantischen Botschaften des Lohengrin-Vorspiels. wurde, — sein aufwärts gekehrtes Gesicht lächelte im Gefühl
Erinnerte er sich solcher Stunden, zwanzig Jahre später, als seiner Blässe, und sein Herz pochte in ungestümem Stolz, in
Krieg wurde zwischen dem Geist des Lohengrin-Vorspiels und jugendlich krankhafter Empfindung . . . Im Stolz worauf? In
der internationalen Eleganz? Sind vielleicht solche Erinnerun- Liebe wozu? Nur zu einem umstrittenen Kunstgeschmack? —
gen mitschuldig an seiner wahllos-unliterarischen Stellung- Wohl möglich, daß er an Piazza Colonna dachte, zwanzig
nahme in diesem Kriege? —Wagner-Demonstration auf Piazza Jahre später, im August 1914, und an die nervösen Tränen,
Colonna! Maëstro Vessella, damals Dirigent des Munizipal- die einst beim Siege des Nothung-Motivs jäh seine Augen
Orchesters (mit Kesselpauken: wenn Kesselpauken auf die überfüllend ihm über das kalte Gesicht gelaufen waren und
Piazza gebracht wurden, so hieß das, daß nicht die dumme die er nicht hatte trocknen können, weil ein fremdes Volks-
Militärkapelle, sondern das Stadtorchester konzertieren und gedränge ihn hinderte, den Arm zu heben. Trotzdem, ich
daß Wagner auf dem Programm stehen werde) — Vessella täusche mich nicht. Mochte immerhin das inständige Erlebnis
also, Verkündiger der deutschen Musik in Rom, spielt die dieser Kunst dem Jüngling zur Quelle patriotischer Gefühle
Totenklage um Siegfried. Jedermann weiß, daß es Skandal werden, — es war ein überdeutsches Geisteserlebnis, es war
geben soll. Der Platz ist gedrängt voll, alle Balkons sind ein Erlebnis, das ich mit dem intellektuellen Europa gemein-
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sam hatte, wie Thomas Buddenbrook das seine. Dieser deutsche
heit sehen zu lehren. Auch ist es diese wohl kaum, worauf man
Musiker war ja kein ›deutscher Musiker‹ mehr im alten, in-
timen und echten Sinne. Er war wohl freilich sehr deutsch heute bestehen müßte. Die ungeheuere Männlichkeit seiner
(kann man Musiker sein, ohne deutsch zu sein?). Aber es war Seele, sein Antifeminismus, Antidemokratismus, — was wäre
nicht das Deutsch-Nationale, Deutsch-Poetische, Deutsch-Ro- deutscher? Was wäre deutscher als seine Verachtung der
mantische an seiner Kunst, was mich bezauberte — oder doch »modernen Ideen«, der »Ideen des achtzehnten Jahrhunderts«,
nur, insofern dies alles intellektualisiert und in dekorativer der »französischen Ideen«, auf deren englischem Ursprung er
Selbstdarstellung darin erschien —: es waren vielmehr jene besteht: die Franzosen, sagt er, seien nur ihre Affen, Schau-
allerstärksten europäischen Reize, die davon ausgehen und für spieler, Soldaten gewesen — und ihre Opfer; »denn an der
die Wagners heutige, fast schon außerdeutsche Stellung Be- verdammlichen Anglomanie der ›modernen Ideen‹ sei zuletzt
weis ist. Nein, ich war nicht deutsch genug, um die tiefe die âme française so dünn geworden und abgemagert, daß
psychologisch-artistische Verwandtschaft seiner Wirkungsmit- man sich ihres sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts,
tel mit denen Zola's und Ibsens zu übersehen: welche beide ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfinderischen Vor-
vor allem Herren und Meister des Symbols, der tyrannischen nehmheit heute fast mit Unglauben erinnere«. (Jenseits von
Formel waren, gleich ihm, und von denen besonders der west- Gut und Böse.‹) Einen Absatz weiter ist von der »rasenden
liche Romancier, Naturalist und Romantiker wie er, als sein Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen
echter Bruder im Willen und Vermögen zur Massenbetäubung, Bourgeois« die Rede — nicht ohne jenen »tiefen Ekel«, mit
Massenüberwältigung erscheint .. . Die ›Rougon-Macquart‹ dem der deutsche Geist selbst sich gegen die anglo-französische
und der ›Ring des Nibelungen‹, — der ›Wagnerianer‹ denkt das Ideenwelt erhoben habe . . . »Mit tiefem Ekel« . . . Man sieht,
nicht zusammen. Trotzdem gehört es zusammen: für die An- wie gut sich Nietzsche über die renitente Rolle des deutschen
schauung, wenn auch nicht für die Liebe. Denn es gibt frei- Wesens in der europäischen Geistesgeschichte mit Dosto-
lich Fälle, in denen der Verstand auf einem Vergleiche be- jewski verstand, — er verstand sich ja auch in anderen Stük-
steht, den der Affekt auf immer von der Hand weisen möchte. ken mit ihm aufs beste. »Mit tiefem Ekel« . . . Da ist er, der
Die ›Rougon-Macquart‹ und der ›Ring des Nibelungen‹! Man Ursprung dieses Krieges, des deutschen Krieges gegen die
stellt mich hoffentlich nicht vor die Wahl. Ich fürchte, daß ich westliche ›Zivilisation‹! — Vor allem aber: wenn Nietzsche's
mich ›patriotisch‹ entscheiden würde. »großer Lehrer«, Schopenhauer, nur anti-revolutionär war —
Schopenhauer und Wagner . . . Soll ich auch über den drit- aus pessimistischer Ethik, aus Haß auf den unanständigen
ten »Stern der schönsten Höhe« ein Wort des Bekenntnisses Optimismus der Jetztzeit- und Fortschrittsdemagogen —, so
sagen? Ich erinnere mich wohl des Lächelns oder auch Lachens, war er selbst anti-radikal in einem bis dahin unerhörten,
das ich zu unterdrücken hatte, als eines Tages Pariser Lite- einem wahrhaft radikalen Sinne und Grade, und in dieser
raten, die ich über Nietzsche aushorchte, mir zu verstehen Eigenschaft und Willensmeinung kam sein Deutschtum zu
gaben, er sei im Grunde nichts anderes als ein guter Leser einem Elementarausbruch wie in sonst keiner andern. Denn
der französischen Moralisten und Aphoristiker gewesen. Hätten Anti-Radikalismus — ohne Lob und Tadel gesagt — ist die
sie wenigstens Pascal genannt. Aber sie brachten es nicht über spezifische, die unterscheidende und entscheidende Eigenschaft
Chamfort hinaus . . . Das war manches Jahr vor dem Kriege, oder Eigenheit des deutschen Geistes: dies Volk ist das un-
und der Krieg war nicht nötig, um mich Nietzsche's Deutsch- literarische eben dadurch, daß es das anti-radikale ist, oder,
um das bloß Verneinende, aber wiederum ohne Lob und Tadel,
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ins Positive, höchst Positive zu wenden, — es ist das Volk des bei diesem freilich in einem neuen, moderneren, farbigeren
Lebens. Der Lebensbegriff, dieser deutscheste, goethischste Lichte steht, — eine anti-radikale, anti-nihilistische, anti-
und im höchsten, religiösen Sinn konservative Begriff, ist es, literarische, eine höchst konservative, eine deutsche Idee, mit
den Nietzsche mit neuem Gefühle durchdrungen, mit einer der man in der Tat, bei noch so französierender Prosa, mit
neuen Schönheit, Kraft und heiligen Unschuld umkleidet, zum noch soviel Schlachtschitzenblut, noch soviel Oberflächen- und
obersten Range erhoben, zur geistigen Herrschaft geführt hat. Philosophenhaß auf das ›Reich‹ und das Bauern- und Korps-
Behauptet Georg Simmel nicht zu Recht, seit Nietzsche sei ›das studententum seines Urhebers — ganz ohne Rettung ein Deut-
Leben‹ zum Schlüsselbegriff aller modernen Weltanschau- scher ist.
ung geworden? Auf jeden Fall steht Nietzsche's ganze Moral- Und dennoch . . . der Redende darf das ›Einerseits‹ einer
kritik im Zeichen dieses Begriffes, und wenn emanzipatorische Sache mit desto entschiedenerem Nachdruck verfechten, je
Kühnheit im Verhältnis zur Moral bis dahin immer nur ästhe- sicherer er unterdessen im stillen des ›Andererseits‹ bleibt. . .
tizistischen Charakter getragen hatte, in Platens Vers: »Vor dennoch ist die Erziehung durch Nietzsche sowenig eine
dem Hochaltar des Schönen neige sich das Gute selbst« völlig eigentlich und einwandfrei deutsche Erziehung, wie die durch
beschlossen gewesen war, so war es Nietzsche, der mit un- Schopenhauer und Wagner. Ich bitte, an ein Wort, einen Vers
vergleichlich tieferem und leidenschaftlicherem Zynismus zum Stefan George's anknüpfen zu dürfen, die Klage, womit er das
erstenmal die höchsten moralischen Ideale, die Wahrheit selbst herrliche Nietzsche-Poem im ›Siebenten Ring‹ beschließt. »Sie
in ihrem Werte für das Leben philosophisch in Frage stellte, hätte singen, nicht reden sollen, diese neue Seele!« ruft er
indem er die radikalste Psychologie einem anti-radikalen, aus — und zitiert damit, wie man weiß oder auch nicht weiß,
anti-nihilistischen Willen dienstbar machte. Er hat das ›Gute‹ ein Wort seines Helden selbst, aus der späten Vorrede zur
nicht vor das Tribunal des Schönen, — vor das des Lebens ›Geburt der Tragödie‹ wo jenem Ausruf die Erläuterung hin-
selbst hat er es gezogen . . . oder wäre das ein und dasselbe? zugefügt ist: »Wie schade, daß ich, was ich damals zu sagen
Hat er das Schöne vielleicht nur mit einem neuen, heilig- hatte, nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht
rauschvollen Namen genannt, — mit dem des Lebens? Und gekonnt! .. .« Vielleicht... das klingt fast kokett geheimnis-
war also auch seine Auflehnung gegen die Moral mehr eines voll. Der Entwurf eines Empedokles-Dramas ist liegenge-
Künstlers und Liebenden Auflehnung, als eigentlich philoso- blieben, stark hölderlinisch, — er stammt von 1870-71, aus
der Zeit der dionysischen Schrift. Aber darf man es nun aus-
phischer Natur? Ich habe oft empfunden, daß Nietzsche's
sprechen, daß jenes schöne Klagewort in George's Munde für
Philosophie einem großen Dichter auf ganz ähnliche Weise
George bezeichnender ist als für den, dem es gilt? Daß der
zum Glücksfall und Glücksfund hätte werden können, wie die
Dichter, der als parnassien begann und dessen Kunst und
Schopenhauers dem Tristan-Schöpfer: nämlich zur Quelle einer
Persönlichkeit heute eine ganz deutsche Angelegenheit ist, —
höchsten, erotisch-verschlagensten, zwischen Leben und Geist
daß George, indem er ein Augenblicksbedauern, das von der
spielenden Ironie . . . Nietzsche hat seinen Künstler nicht, oder
Erinnerung an ein irrtümlich-unzukömmliches und darum ge-
noch nicht, wie Schopenhauer, gefunden. Wenn aber ich auf
scheitertes, nicht zustandegekommenes Unternehmen einge-
eine Formel, ein Wort bringen sollte, was ich ihm geistig zu
geben ward, verallgemeinert und auf die Gesamterscheinung
danken habe, — ich fände kein anderes als eben dies: die Idee
Nietzsche's bezieht und anwendet, Nietzsche als Gesamt-
des Lebens, — welche man, wie gesagt, von Goethe empfangen
erscheinung in gewissem Sinne verkennt, in gewissem Sinne
mag, wenn man sie nicht von Nietzsche empfängt, und die
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verkleinert? Denn es bedeutet unzweifelhaft eine Verkennung einer will und meint. Er war als Mann deutschen Schicksals
und Verkleinerung seiner kulturellen Sendung, es bedeutet der gute Bruder seines großen Gegenspielers Bismarck, dessen
ein Augenschließen vor seinen letzten, von ihm nicht ge- letzte, unwillkürliche, eigentliche Wirkungen ebenfalls in de-
wollten, rein schicksalsmäßigen Wirkungen, auch nur zu wün- mokratischer Richtung verlaufen. Wir wollen darauf an seiner
schen, daß diese »strenge und gequälte Stimme« — man kann Stelle zurückkommen. Für den Augenblick begnügen wir uns,
es nicht schöner sagen —, daß diese Stimme hätte singen festzuhalten, daß Wille, Meinung, Tendenz für die Wirkung,
mögen, statt ›bloß‹ zu reden, daß Nietzsche als neuer Höl- den Einfluß gerade der größten, der eigentlichen Schicksals-
derlin und deutscher Poet sich hätte erfüllen sollen, statt zu menschen auf die Entwicklung im Großen sehr wenig besagen
sein, was er war: nämlich ein Schriftsteller von oberstem und entscheiden. Und wenn es mit den Gewaltigen sich so
Weltrang; ein Prosaist von noch viel mondäneren Möglich- verhält, — wieviel mehr mit uns Geringen! Ich wüßte hübsche
keiten als Schopenhauer, sein großer Lehrer; ein Literat und Beispiele anzuführen für den Widerstreit zwischen Wille und
Feuilletonist höchsten Stils, etwas sehr Ententemäßiges — seien Wirkung, Tendenz und Natur, — einen Widerstreit, der in der
wir geschmacklos, aber charakteristisch! —, ein europäischer Krisis dieser Zeit unter offenbar harten inneren Kämpfen
Intellektueller mit einem Wort, dessen Einfluß auf die Ent- akut wurde, subjektiv wurde und ins Bewußtsein trat, so daß
wicklung, den ›Fortschritt‹, ja! geradezu den politischen Fort- gleichsam über Nacht aus einem antidemokratisch-konserva-
schritt Deutschlands durch kein Empedokles-Fragment, auch tiv-militaristischen Saulus ein entente-christlicher Paulus wurde,
nicht durch irgendwelche Lieder des Prinzen Vogelfrei oder der sich den seit zwanzig Monaten bohrenden Stachel aus dem
selbst Dionysos-Dithyramben gekennzeichnet wird, sondern Fleische gerissen und endlich sich selbst gefunden hatte. ›Be-
durch Produktionen, die in Haltung und Geschmack, in ihrer kehrung‹ — das ist nur ein anderes Wort für die Entdeckung
Leichtigkeit und Bösartigkeit, ihrem Raffinement und ihrem seiner selbst. . .
Radikalismus dermaßen undeutsch und antideutsch sind wie Nietzsche's Lehre also war für Deutschland weniger neu und
der ewig bewunderungswürdige Essay ›Was bedeuten aske- revolutionierend, sie war für die deutsche Entwicklung weni-
tische Ideale?‹. ger wichtig — ›wichtig‹ im guten oder schlimmen Sinne, wie
Es ist nicht zu bezweifeln: Nietzsche hat, unbeschadet der man nun will —, als die Art, in der er lehrte. Mindestens,
tiefen Deutschheit seines Geistes, durch seinen Europäismus allermindestens ebenso stark wie durch seinen ›Militaris-
zur kritizistischen Erziehung, zur Intellektualisierung, Psycho- mus‹ und sein Macht-Philosophem hat er durch seine äußerst
logisierung, Literarisierung, Radikalisierung oder, um das westliche Methode, als europäisierender Prosaist die deutsche
politische Wort nicht zu scheuen, zur Demokratisierung Geistigkeit beeinflußt, und seine ›fortschrittliche‹, zivilisato-
Deutschlands stärker beigetragen als irgend jemand. Ich stelle rische Wirkung besteht in einer ungeheueren Verstärkung,
fest, daß unser gesamtes Zivilisationsliteratentum bei ihm Ermutigung und Schärfung des Schriftstellertums, des litera-
schreiben gelernt hat, — worin ein Widerspruch liegt, der rischen Kritizismus und Radikalismus in Deutschland. Es ge-
letzten Endes keiner ist. Nietzsche, meine Herren Voluntari- schah in seiner Schule, daß man sich gewöhnte, den Begriff
sten, ist das schlagendste Beispiel dafür, daß in Hinsicht auf des Künstlers mit dem des Erkennenden zusammenfließen zu
die Entwicklung, den schicksalsmäßigen ›Fortschritt‹ alles ent- lassen, so daß die Grenzen von Kunst und Kritik sich ver-
scheidende Gewicht auf der Frage liegt, was einer ist (oder wischten. Er brachte den Bogen neben der Leier als apollini-
was aus einem wird und gemacht wird), nicht auf jener, was sches Werkzeug in Erinnerung, er lehrte zu treffen, und zwar
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tödlich zu treffen. Er verlieh der deutschen Prosa eine Sensitivi- ›Buddenbrooks‹, die Erzählung, mit der ich nach einigem
tät, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzen- leis-psychologischen Präludieren die Aufmerksamkeit eines
tuiertheit und Leidenschaft—ganz unerhört bis dahin und von breiteren Publikums gewann, ist gewiß ein sehr deutsches Buch,
unentrinnbarem Einfluß auf jeden, der nach ihm deutsch zu und dies nicht nur durch sein Milieu, meine hanseatische Hei-
schreiben sich erkühnte. Nicht seine Persönlichkeit, o nein! mat, die ältester deutscher Kolonialboden ist; auch nicht nur
aber seine Wirkung ähnelt außerordentlich der des in Paris im kulturgeschichtlichen Sinn: sofern sich darin die seelische
akklimatisierten Juden Heinrich Heine, den er pries und den Entwicklung und Differenzierung, die — nun ja, die ›Ver-
er als Schriftsteller sich selbst zur Seite stellte, — ähnelt ihr im menschlichung‹ des deutschen Bürgertums von der urgroß-
Schlimmen so stark wie im Guten... Dies zu analysieren kann väterlichen Generation bis zu meiner spiegelt. Der Roman ist
hier nicht meine Aufgabe sein. Es handelt sich um Feststellun- deutsch vor allem im formalen Sinn, — wobei ich mit dem For-
gen, die man im stillen nachprüfen möge. Was ich aber meine, malen etwas anderes meine als die eigentlich literarischen Ein-
wenn ich sage, daß die gewaltige Verstärkung des prosaistisch- flüsse und Nährquellen. Ich erinnere mich einer Besprechung
kritizistischen Elementes in Deutschland, die Nietzsche bewirkt des Buches im ›Mercure de France‹, etwa vom Jahre 1908,
hat, Fortschritt im bedenklichsten, politischsten Sinne, im Sinne worin es, bei freundlicher Schätzung, wegen seines Baus für
der ›Vermenschlichung‹, — Fortschritt in westlich-demokrati- unübersetzbar erklärt wurde. Romain Rolland, wie ich ihn
scher Richtung bedeutet und daß die Erziehung durch ihn nicht kenne, wäre vielleicht anderer Meinung; aber es läßt sich wohl
gerade das ist, was man eine Erziehung in deutsch-erhaltendem hören, daß dies Werk in französischer Sprache ein Unding und
Geiste nennen dürfte, das hoffe ich deutlich gemacht zu haben... Monstrum wäre. Es ist geworden, nicht gemacht, gewachsen,
nicht geformt und eben dadurch unübersetzbar deutsch. Eben
Solchen Einflüssen, solchen Bedürfnissen und Empfänglichkei- dadurch hat es die organische Fülle, die das typisch französi-
ten entsprach denn auch nur zu sehr meine eigene schriftstelle- sche Buch nicht hat. Es ist kein ebenmäßiges Kunstwerk, son-
rische Haltung: sie war derart, daß Leute, die sich nicht an- dern Leben. Es ist, um die freilich sehr anspruchsvolle kunst-
ders zu raten wußten, wie Adolf Bartels, einen Juden aus mir und kulturgeschichtliche Formel anzuwenden, Gotik, nicht
machen wollten,—wogegen ich der Wahrheit halber protestie- Renaissance . . . Das alles aber hindert freilich nicht, daß eine
ren zu sollen meinte. Wenn ich, in meinen Grenzen, dazu bei- vollkommen europäisch-literarische Luft darin weht, — es ist
trug, die deutsche Prosa-Erzählung zu europäisieren; wenn ich für Deutschland der vielleicht erste und einzige naturalistische
behilflich sein konnte, den Roman als Gattung für Deutsch- Roman und auch als solcher, schon als solcher von künstlerisch
land im Range und Ansehen zu erhöhen, so war das eine Aus- internationaler Verfassung, europäisierender Haltung, trotz
wirkung meines Blutes, nicht meines Ranges: denn der Rang des Deutschtums seiner Menschlichkeit. Es enthält nicht etwa
ist heutzutage kaum etwas Individuelles, er ist eine Frage des Raabe oder Jean Paul, es hat mit Spielhagen und anderem deut-
nationalen Niveaus, er berechtigt kaum zu aristokratischem, schen Roman überhaupt nichts zu tun. Der deutsche Einfluß
sondern nur zu einem demokratischen Selbstbewußtsein—»ich ist wunderlich zusammengesetzt: aus dem niederdeutsch-hu-
habe teil am deutschen Niveau«, darf der einzelne sich sagen; moristischen und dem episch-musikalischen Element, — er kam
»das ist mein Rang« —, einem Selbstbewußtsein, wie man von Fritz Reuter und Richard Wagner. Die anderen kamen
sieht, das in Zeiten nationaler Vereinsamung und Bedrohtheit überall her: aus Rußland, England, Frankreich — den Entente-
ins Anstößig-Patriotische zu entarten gar sehr Gefahr läuft... Ländern, wie man sieht, den Ländern des psychologischen
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Romans —, aus dem Dänemark Bangs und Jacobsens, dem fentlich, nicht wahr, Sie wissen es, — nicht die ›Buddenbrooks‹
Norwegen Kiellands und Lie's. sind Ihr Eigentliches, Ihr Eigentliches ist der ›Tonio Kröger‹!«?
Ich hatte, um, ihrer Schönheit wegen, Worte aus ›Dichtung Ich sagte, ich wüßte es.
und Wahrheit‹ anzuführen, »in vermögender Jugendzeit das Die Sache war die, daß, während in ›Buddenbrooks‹ nur
Nächstvergangene festgehalten und kühn genug zur günstigen der Schopenhauer-Wagner'sche Einfluß, der ethisch-pessimisti-
Stunde öffentlich aufgestellt«. Ich hatte mir zugleich durch das sche und der episch-musikalische, sich hatte geltend machen
breite Werk eine menschlich-künstlerische Basis geschaffen, auf können, in ›Tonio Kröger‹ das Nietzsche'sche Bildungselement
der ich bei weiterer Produktion würde fußen können, — hatte zum Durchbruch kam, das fortan vorherrschend bleiben sollte.
mir gleichsam den Geigenkörper gebaut, auf dem ich nun frei- Der dithyrambisch-konservative Lebensbegriff des lyrischen
hin konzertieren mochte, dessen gutes Holz immer wohllau- Philosophen und seine Verteidigung gegen den moralistisch-
tend mit den Saiten schwingen, dessen akustischer Hohlraum nihilistischen Geist, gegen die ›Literatur‹, war in dem Erlebnis
meinem Spiel volle Resonanz leihen würde . . . Es gibt Leute, und Gefühl, das die Novelle gestaltete, zur erotischen Ironie
die wissen wollen, dieses Spiel sei so gut nicht gewesen, als geworden, zu einer verliebten Bejahung alles dessen, was nicht
die Geige es verdient hätte, ich hätte mir das Konzert auch Geist und Kunst, was unschuldig, gesund, anständig-unproble-
sparen können, es werde schnell vergessen sein, und als wert- matisch und rein vom Geiste ist, und der Name des Lebens, ja,
voll übrigbleiben werde nichts als die gutgebaute Geige. Nun, der der Schönheit fand sich hier, sentimentalisch genug, auf die
einmal wenigstens entschied die Jugend, die ums Jahr 1880 Welt der Bürgerlichkeit, der als selig empfundenen Gewöhn-
geborene geistige Jugend Deutschlands, in anderem Sinne: das lichkeit, des Gegensatzes von Geist und Kunst übertragen.
war im Falle des ›Tonio Kröger‹, dieser Prosa-Ballade, die frei- Kein Wunder, daß dergleichen der Jugend gefiel. Denn wenn
lich ohne ›Buddenbrooks‹ schlecht bestünde und die so recht ›das Leben‹ gut dabei wegkam, ›der Geist‹ kam noch besser
ein Lied war, gespielt auf dem selbst gebauten Instrumente des weg, denn er war der Liebende, und ›der Gott‹ ist im Lieben-
großen Romans .. . den, nicht im Geliebten, was auch ›der Geist‹ hier ganz genau
wußte. Was er noch nicht wußte oder vorläufig beiseite ließ,
»Lebendige, geistig unverbindliche Greifbarkeit der Gestal-
war die Tatsache, daß nicht nur der Geist nach dem Leben,
tung«, heißt es in einer späteren Arbeit von etwas parodisti-
sondern auch das Leben nach dem Geiste verlangt, und daß
schem Meisterstil, »bildet das Ergötzen der bürgerlichen Mas-
sein Erlösungsbedürfnis, seine Sehnsucht, sein Schönheitsge-
sen, aber leidenschaftlich unbedingte Jugend wird nur durch
fühl — denn Schönheit ist nichts als Sehnsucht — vielleicht ern-
das Problematische gefesselt.« Ich dachte dabei an ›Budden-
ster, vielleicht ›göttlicher‹, vielleicht weniger hoch- und über-
brooks‹ und ›Tonio Kröger‹. Jene, durchaus plastisch, Kunst
mütig ist als das des ›Geistes‹. Ironie aber ist immer Ironie
— und kaum auch Geist, beschäftigten andauernd die gebildete
nach beiden Seiten hin, etwas Mittleres, ein Weder-Noch und
Mittelklasse; aber die intellektuelle und radikale Jugend, die
Sowohl-Alsauch, — wie denn ja auch Tonio Kröger sich als
den Radikalismus damals freilich noch nicht politisch meinte,
etwas Ironisch-Mittleres zwischen Bürgerlichkeit und Künstler-
ergriff den ›Tonio Kröger‹ als ihr gemäß, — dies Spiel war ihr
tum empfand und wie schon sein Name das Symbol für jeder-
wichtiger als die Geige . . . Wo ist er jetzt, der Göttinger Stu-
lei Mischlingsproblematik abgeben mußte, für die romanisch-
dent von damals, mit dem mager-nervösen Gesicht, der mir,
deutsche Blutsmischung nicht nur, sondern auch für die Mittel-
als wir alle nach der Vorlesung in Mütze's Weinstube tranken,
stellung zwischen Gesundheit und Raffinement, Anständigkeit
mit seiner hellen, bewegten Stimme sagte: »Sie wissen es hof-
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und Abenteurertum, Gemüt und Artistik: ein Situationspathos, denn Kunst war hier ganz als Leben begriffen, Leben und Kunst
das wiederum offenkundig von demjenigen Nietzsche's beein- zu einer Idee verschmolzen, wie vordem Kunst und Geist; der
flußt war, der den Erkenntniswert seiner Philosophie geradezu Geist, der reine Geist erschien separiert, als Literatur, als Kri-
daraus ableitete, daß er in beiden Welten zu Hause sei, in der tik, als »Heiligkeit und Wissen«, und der Held dieser Diskurse
Dekadenz und der Gesundheit, — er stehe, hatte er gesagt, war der durchaus Geistige und Geistliche, der Kritiker, der Li-
zwischen Niedergang und Aufgang. Das ganze Produkt war terat, oder, in seiner Sprache, der Prophet: denn wenn er den
eine Mischung aus scheinbar heterogenen Elementen: aus Weh- Propheten als einen Künstler definiert, der zugleich ein Heiliger
mut und Kritik, Innigkeit und Skepsis, Storni und Nietzsche, sei, so gibt er damit auch die Definition des Literaten. Er also,
Stimmung und Intellektualismus... Kein Wunder, wie gesagt, der Bruder Girolamo, war der Held dieser Szenen; und ob-
daß die Jugend hier zugriff, daß sie diese neunzig Seiten den gleich dialektische Gerechtigkeit ihm den kunstmächtigen Me-
zwei dicken Bänden der ›Buddenbrooks‹ vorzog! Jugend trach- dici zum ebenbürtigen Gegenspieler gab, so war die geheime
tet nach dem Geistigen viel mehr als nach dem Plastischen, und geistige Teilnahme des isar-florentinischen Autors doch recht
was sie in diesem Falle erregte, war ohne Zweifel die Art, wie sehr auf seiten des kritizistischen Intellektuellen,—etwa im Sinne
in der kleinen Geschichte der Begriff des ›Geistes‹ gehandhabt Pico's von Mirandola, wenn er auf Polizians Bemerkung, bes-
wurde, wie er zusammen mit dem der ›Kunst‹, unter dem ser sei es wahrhaftig, auch nur einen Stuhl machen zu können,
Namen der,›Literatur‹, dem unbewußten und stummen Leben irgendein schönes Ding, als nur dazu geboren zu sein, die
entgegengesetzt wurde . . . Was sie fesselte, war ohne Zweifel Dinge zu richten, mit seinem üppigsten Lächeln erwidert: »Nun,
das radikal-literarische, das intellektualistisch-zersetzende Ele- ich weiß nicht! Als Sammler und Liebhaber schätze ich die Er-
ment in dem kleinen Werk, — und wenn das andere, das deut- scheinungen nach ihrer Seltenheit. In Florenz gibt es eine Le-
sche, gemüthaft-konservative, diesem Gefallen keinen Abbruch gion von wackeren Leuten, die schöne Stühle machen können;
tat, sondern es sogar noch verstärkte, so war es, weil es als Ironie aber es gibt nur einen Bruder Girolamo . . .« Pico irrt. Der
erschien und weil Ironie selbst Intellektualismus im höchsten Seltenheitswert ist nicht beim Geiste. Es gibt viel mehr Geist
Grade ist. Sie ist aber überdies ein Zubehör der Romantik, als Kunst. Jene geheime Sympathie und Parteilichkeit aber ver-
und so war sie an ihrem Platze. Denn daß Tonio Kröger ein riet sich zum mindesten in der dick aufgetragenen Ironie, mit
Spätling der Romantik und zwar einer sehr deutschen Roman- der das löbliche Künstlervölkchen geschildert war, diese auf-
tik, — daß er der gute Bruder Schlemihls, Undinens, Heilings, geräumte Körperschaft von Schmarotzern, Raufbolden, Auf-
des Holländers ist, sah man das nicht? Nein, und ich selbst sah schneidern und Possenreißern, talentvoll, sinnlich und dumm
es damals nicht. Heute seh' ich es wohl; und auf die Frage, in- wie Bohnenstroh, deren moralische Unverantwortlichkeit so
wiefern ich deutsch sei, ist die Erzählung mir eine A n t w o r t . . . fröhlich durch Haus und Garten von Careggi s t o l p e r t . . . Es
Das Problem erschien anders gestellt in ›Fiorenza‹. Denn wäre gerecht gewesen, dieser Gruppe auf Seiten der ›Literatur‹
während Tonio Kröger den Gegensatz von Leben und ›Kunst‹ etwas Entsprechendes an menschlicher Geringfügigkeit gegen-
kultiviert und dabei die ›Kunst‹ sehr literarisch verstanden, überzustellen: so hätte sich gezeigt, daß nicht untergeordnetes
sie mit dem ›Geiste‹ in eins gerechnet hatte, so war in der Künstlertum, sondern untergeordnete ›Geistigkeit‹ das Schä-
dramatischen Novelle diese ideelle Einheit — und das war ein bigste und Verächtlichste auf Erden ist.
›Fortschritt‹! — durchaus zerrissen; die Antithese lautete nun- Auf jeden Fall sind es nicht diese harmlos Schaffenden, die
mehr: ›Geist gegen Kunst‹ oder auch ›Geist gegen Leben‹, im Stücke als Anwärter auf die Herrschaft, auf die Gunst und
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den Liebesbesitz ›Fiorenza's‹ auch nur in Betracht kämen . . .
gefälligst mir sagtet: Was heißt Euch Geist?« findet ihn in Be-
Der Titel war nicht weniger symbolisch, als der der Schrift-
reitschaft: »Die Kraft, Lorenzo Magnifico, die Reinheit und
stellernovelle; und er bezeichnet das, was persönlich und ur-
Frieden will.« »Reinheit und Frieden«! Sollte das in der plat-
sprünglich ist an diesem Versuch eines Liedes in höherem
ten Sprache der ›Zivilisation‹ nicht »human freedom and
Tone: jugendliche Ruhmeslyrik schwingt darin, Ruhmeslust,
peace« lauten? In vollem Ernst: es muß erlaubt sein, die mo-
Ruhmesangst eines in zartem Alter vom Erfolg Umstrickten,
ralisch-philosophische Formel ins Politische zu übersetzen,
von der Welt Umarmten. »O Welt! O tiefste Lust! O Liebes-
denn wenn es nur Philosophie ist, »nicht zu wollen«, so ist,
traum der Macht, süßer, verzehrender! . . . Man sollte nicht
»das Nichts zu wollen« — Politik, und der radikale Literat ist
besitzen. Sehnsucht ist Riesenkraft; doch der Besitz entmannt!«
ein Politiker: er sagt es seit Jahren schon selbst, — laut genug!
Der Rest ist Nietzsche. Denn jene beiden Cäsaren und ›feind-
stolz genug! — ein Politiker und Voluntarist, insofern er dem
lichen Brüder‹, die den erotischen Besitz der symbolischen Stadt
Geiste zur Macht verhelfen will und »mit Entschlossenheit«
einander streitig machen, Lorenzo und der Prior, — sie sind
den menschlichen Fortschritt in der Richtung auf Reinheit und
nur allzusehr der Dithyrambiker und der asketische Priester,
Frieden — auf human freedom and peace betreibt. Mit Ent-
wie beide im Buche standen: sind es so sehr, daß allerlei Ver-
schlossenheit .. .Wahrhaftig, es scheint, als sei auch dieses Mo-
suche, Weiteres, Eigeneres, weniger Theoretisches zu geben,
tiv, das Motiv der politischen Literaten-Entschlossenheit, das vom
ihre psychologische Typik zu intimeren und brennenderen
Zivilisationsliteratentum heute so unermüdlich variiert wird,
Problemen in Beziehung zu setzen, begreiflicherweise über-
mir schon damals nicht fremd, meinem Intellekt wenigstens
sehen wurden. Das Problem des literarischen Geistes hat mich
nicht fremd gewesen! Denn wenn mein politisierter Mönch in
mein Leben lang beschäftigt, und es beschäftigte mich vornehm-
die Worte ausbrach: »Ich hasse diese schnöde Gerechtigkeit, dies
lich hier: dieses Problem, das ich nicht liebte, obwohl ich, ein
lüsterne Verstehen, diese lasterhafte Duldung des Gegenteils!
halber Westler, es in mir selber trug, auf das aber geistige
Sie soll nicht an mich! Laßt sie schweigen!« — wenn er hinzu-
Pflicht mich beständig hinwies, weil ich sah, daß es, ursprüng-
fügte, er sei erkoren, er dürfe wissen und dennoch wollen, er
lich so undeutsch wie möglich, dank dem Wirken des Zivilisa-
müsse stark sein, und wie er da stehe, verkörpere er »das Wun-
tionsliteraten, täglich zu größerer Wichtigkeit und Aktualität
der der wiedergeborenen Unbefangenheit«;—wenn lange vor-
für Deutschland heran- und heraufwuchs. Der asketische Prie-
her, gleich zu Anfang des Stückes, Seine Exzellenz der Kardi-
ster Nietzsche's, er, der lieber das Nichts wollen, als nicht wol-
nal Giovanni dem Leibhumanisten die pikante Neuigkeit ins
len will, dieser nihilistische Cäsar, wurde mir — keineswegs
Ohr sagte, daß die Moral wieder möglich sei,— so ist das alles
unversehens — zum radikalen Literaten modernster Obser-
im höchsten Grade neupolitisch und zivilisationsliterarisch,
vanz, und ich sparte die Allusionen nicht, um merken zu las-
und ich wußte es wohl. Ich wußte wohl, daß der christliche Po-
sen, daß er mir dazu geworden. Ich machte ihn zum Vertreter
litiker Girolamo gegen den sündig in die Grube fahrenden
der »sacrae litterae«, zu einem, der »die Stadt mit Worten sich
Ästheten Lorenzo das Neue, das Allerneueste vertrat,—Dinge,
unterwirft«, der ›Florenz‹ beschimpft, und den dieses lüsterne
die zehn Jahre später in Deutschland große intellektuelle Mode
›Florenz‹ dafür liebt.. . »Was heißt Ihr böse?« fragt ihn der
sein, von denen jugendlich spröde Stimmen ein Geschrei ma-
sterbende Lebensfreund. Er antwortet: »Alles, was wider den
chen sollten, daß uns die Ohren gellen. Und mochte ich den
Geist ist — in uns und außer uns.« Und die weiterdringende
untergehenden Ästheten dem politischen Sieger des Augen-
Frage des anderen, der sich nicht geistlos dünkt: »Wenn Ihr
blicks auch zurufen lassen: »Der Tod ist es, den du als Geist
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verkündigst, und alles Lebens Leben ist die Kunst!«, ja, mochte und das Schwergewicht eines Buches stellt, zu leicht selbst in
ich diese Meinung auch teilen, — so galt, ich will es noch ein- Hinsicht auf den Verfasser. Den Pakt mit dem ›Menschen-
mal sagen, mein eigentliches Interesse, meine geheime intel- glück‹, der hier, wenn auch auf lockere Art, geschlossen wurde,
lektuelle Parteilichkeit und Neugier doch dem Vertreter des empfand sie, ohne das Neue, das in der Tendenz sich ankün-
literarischen Geistes und seinem Kunststück, sich vermittelst digte, zu beachten, als charakterlos, und sie prüfte die ›Hand-
»wiedergeborener Unbefangenheit« zum theokratischen Dem- lung‹ mit zu ernstem und sachlichem Blick, als daß sie sie
agogen tüchtig zu machen . . . nicht familienblattmäßig hätte finden müssen. Nun bin ich
weit entfernt, für den dichterischen Wert der Geschichte des
Will man mir erlauben, in diesem Zusammenhange auch
kleinen Prinzen, der im gravitätischsten Zeitungsstil zum Ehe-
von jenem Versuch eines Lustspiels in Romanform zu reden,
mann und Volksbeglücker gemacht wird, eine Lanze brechen
der ›Königliche Hoheit‹ heißt, — und der trotz seines höchst
zu wollen, — obgleich ich mir heute noch denken könnte, daß
individualistischen Titels zugleich einen Versuch mit dem
der alte Anatole France diesen ›Familienblattroman‹ nicht
›Glück‹, eine — wenn auch nicht eben vorbehaltlose — Versöh-
ganz ohne Behagen lesen würde. Da man sich auf den artisti-
nung mit der ›Menschlichkeit‹ darstellte? Von meinem zwei-
schen Wert nach deutscher Art nicht einließ, — den dichteri-
ten Roman, der sich von seinem Vorgänger in künstlerischer
schen im deutschen Sinne hat man gewiß nicht unterschätzt,
Hinsicht so auffallend — und nach jedem deutschen Begriff
wenn man ihn nicht eben hoch einschätzte. Sein geistiger Wert
keineswegs vorteilhaft — unterscheidet, daß man die Identität
aber, wenn er einen hat, beruht ganz und gar in seiner Eigen-
seines Verfassers mit dem von ›Buddenbrooks‹ kaum vermu-
schaft als Zeit-Symptom, als Merkmal deutscher Entwicklung,
ten würde? Hier ist auf einmal ein Buch, — durchaus nicht »ge-
— und kluge Leute, die es der Mühe wert fanden, ihre Klugheit
worden« und »gewachsen«, von allem Wuchernden und Strot-
auf eine so schnurrige Erscheinung anzuwenden, haben das
zenden sehr weit entfernt, ein durchaus geformtes Buch, auf
ganz wohl bemerkt. »Werden«, so hieß es in dem kritischen
Maß und Verhältnis gestellt, verständig, durchsichtig, gedank-
Versuch eines Österreichers (es war Hermann Bahr in eigener
lich beherrscht, — beherrscht von einer Idee, einer intellektuel-
Person), »werden die Deutschen unserer Zeit erkennen, daß
len Formel, die sich überall spiegelt, sich überall in Erinnerung
dieser Roman ein Zeichen ist?« Und er endigte ungefähr da-
bringt, möglichst lebendig gemacht wird, durch hundert De-
mit, meinen Roman ein Fanal der neuen Demokratie zu nen-
tails die Illusion des Lebens zu erzeugen sucht und doch ur-
nen. Mit Unrecht? Wurde in ›Königliche Hoheit‹ nicht ein
sprüngliche, warme Lebensfülle nie erreicht. Ein Kunstspiel,
kleiner einsamer Ästhet zum Volkswirt und zu ›tatkräftiger
nicht Leben. Formal genommen: Renaissance, nicht Gotik.
Menschlichkeit‹ wie man heute sagen würde, erzogen? Und
Französisch, nicht deutsch. Aber sehr deutsch eben freilich doch
wodurch? Durch die Liebe! Aber das ist im höchsten Grade
innerlich, in der Art (wenn auch nicht in der Form) seiner
zivilisationsliterarisch. Und ich würde auf einen so hohen
Geistigkeit und Ethik, seiner Empfindung von Einsamkeit und
Grad von Fortgeschrittenheit noch stolzer sein, als ich es ernst-
Pflicht. .. Auf jeden Fall hat es mich nicht gewundert, daß die
lich bin, wenn unterdessen ›die Liebe‹ nicht zur intellektuel-
französische Kritik, soweit sie nach deutschen Dingen neu-
len Moderichtung, zum literarisch-politischen Oppositionspro-
gierig ist, für ›Königliche Hoheit‹, für die Absichten, die Prosa
gramm geworden wäre, — und wenn ich das nicht überaus
des Romans viel mehr Geschmack hatte als die deutsche, —
schamlos fände. Auch ist nicht zu leugnen, daß das Buch,
welche ihn absolut und relativ als zu leicht befand: zu leicht
ungeachtet seiner demokratischen Lehrhaftigkeit, eine wahre
im Sinne der Ansprüche, die man in Deutschland an den Ernst
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Orgie des Individualismus darstellt, dessen Noblesse in viel-
könig alles Zivilisationsliteratentums . . . Kurzum, der Zivili-
fältigen Erscheinungen unermüdlich abgewandelt wird; daß es
sationsliterat hatte ein Recht — ob er von diesem Recht nun
ihm in aller Fortschrittlichkeit an ›erhaltendem Gegenwillen‹
Gebrauch machte oder nicht —, auf mich und meine bescheide-
nicht fehlt; daß ein tiefes Zögern jene Wendung zum Demo-
nen Kräfte zu hoffen; und Stunden kamen, da nichts ihn län-
kratischen, zur Gemeinsamkeit und Menschlichkeit begleitet,
ger gehindert hätte, bedingungslos auf mich zu rechnen.
ja, daß diese Wendung eigentlich nur humoristischerweise,
In einer Zeitschrift (es war der ›März‹, — ein Name, poli-
nur ironice vollzogen wird und der Herzensernst des Erzäh-
tischen Frühlingsahnens voll) erschien ein Aufsatz, eine Stu-
lers — und des Zuhörers: das ist die Folge — den aristokrati-
die, dem ›Literaten‹ gewidmet, eine Aufklärung für Deutsche
schen Monstren, dem unmöglichen Colly-Dog und dem nicht
über Wesen und Herkunft dieses im höchsten Grade aktuellen
minder unmöglichen Dr. Überbein, zu gehören nicht aufhört.
geistigen Typus, — und Schmeichelhafteres, als ihm in diesem
Zwar wird Klaus Heinrich ›glücklich‹, und Raoul Überbein,
März-Artikel gesagt wurde, war dem Literaten in Deutsch-
der romantische Individualist, geht auf die tendenziöseste Weise
land überhaupt seiner Lebtage noch nicht gesagt worden. Ich
elendiglich zugrunde. Aber für so gemein, so politisch darf
fing damit an, ihn einen ›Brahmanen‹ zu nennen und ihm
man mich nicht halten, daß ich im ›Glücke‹ ein Argument
frei nach dem Vedam zu versichern, daß er mit mehr Klugheit
und im Zugrundegehen eine Widerlegung erblickte. Das wäre
und größerer Liebe zur Tugend geboren sei als alle Welt.
etwas anderes als moralisch, — es wäre tugendhaft; und wie
Seine Klugheit, erklärte ich, das sei sein Wissen um alles
ich über Tugendhaftigkeit denke, werde ich auf diesen Blät-
Menschliche, verbunden mit hoher Abenteuerlust und Meister-
tern noch sagen. Umgekehrt lieben die Erfinder von Geschich-
schaft auf dem Gebiete des Wortes. Seine Liebe zur Tugend
ten es sehr, gewissen Figuren ihre persönliche Sympathie, an-
aber sei: die Reinheit des Betrachtenden, der Wille zum Un-
deren dagegen ihre heitere Geringschätzung auszudrücken, in-
bedingten, der Ekel vorm Zugeständnis und der Korruption,
dem sie jene zugrunde gehen, diese aber glücklich werden
ein spottweise oder feierlich anklagendes und richtendes Be-
lassen . . . Wie dem auch sein mochte: die politisch-antiindi-
stehen auf dem Idealen, auf Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft,
vidualistische Tendenz — eine sehr undeutsche Tendenz oder
Güte und Menschenwürde. Nichts, sagte ich, sei bezeichnender
doch eine Tendenz, die eben erst im Begriffe ist, deutsch zu
für die literarische Anlage, als die zwiefache und im Grunde
werden —, sie war vorhanden; und wenn sie auf eine Weise
doch einheitliche Wirksamkeit jener philanthropischen Publi-
sich kundgab, doppelzüngig und unverbindlich genug, um den
zisten der Aufklärungszeit, welche in kriminalpolitischen Schrif-
Zivilisationsliteraten einiges Mißtrauen in ihre letzte Ernst-
ten die Gesellschaft vor das Forum der Menschlichkeit luden,
haftigkeit setzen zu lassen, — nochmals, sie war vorhanden,
ihre Zeitgenossen zum Abscheu gegen die Wildheiten der Ju-
sie war aufgenommen, sie war nicht ignoriert, und wäre sie
stiz, gegen Tortur und Todesstrafe erzogen, milderen Geset-
selbst weniger greifbar, wäre sie von Ironie noch stärker an-
zen den Weg bereiteten — und sich typischerweise zugleich
gekränkelt gewesen, — es gibt eine Art zu schreiben, gibt eine
durch Lehrschriften über Sprache und Stil, Abhandlungen über
westliche Haltung des Geistes und des Stiles, die deutlicher
die Kunst des Schreibens einen Namen machten. Philanthropie
spricht als alle Didaktik der Fabel; Ironie und Esprit, sie selbst
und Schreibkunst als herrschende Passionen einer Seele: das
sind zivilisationsliterarische Mächte; auch Europas weisester
habe etwas zu bedeuten; nicht zufällig fänden diese Leiden-
Greis, Anatole France in Paris, liebt es zuweilen, die Zivilisa-
schaften sich zusammen. Schön schreiben heiße beinahe schon
tion zu ironisieren, und ist dennoch der Abgott und Groß-
schön denken, und von da sei nicht weit mehr zum schönen
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Handeln. Alle Sittigung des Menschengeschlechtes — das sei politischen Konsequenzen dessen, was ich da ausgekramt hatte,
festzustellen — entstamme dem Geiste der Literatur, und schon lagen ja auf der Hand: die politische Konsequenz von »Phil-
den Volkspädagogen der Alten habe das schöne Wort als der anthropie und Schreibkunst«, das ist die radikale Republik,
Erzeuger der guten Tat gegolten. — Welch ein Sermon! Es ist die Advokaten- und Literatenrepublik, wie der Zivilisations-
Woodrow Wilson, den man zu hören glaubt, dieser hochge- literat sie im Haupte und Herzen hegt. . . Nochmals, ich hatte
stellte Gönner des Menschengeschlechtes, welcher, glaubwür- es getroffen. Aktivisten und Männer des ›Ziels‹ drückten mir
diger Versicherung zufolge, auf den Stil seiner Noten sich nicht ihre Anerkennung aus. In ihrer Art nicht weniger avancierte
wenig einbilden soll. War das alles nur Psychologie oder war Köpfe zählten die Ideen meines Literatenartikels jenen Din-
es Sympathie, Solidarität? — Ich ging weiter. Ich schied den gen zu, die »der neue Geist einer jüngsten Literatur dem Geiste
Literaten von der Kunst im naiven und treuherzigen Sinne, der älteren, der modernen seit Hebbel etwa, zu sagen hat«.
schied ihn ab von ihr im Namen des Geistes, der Moral und Kein Zweifel, ich befand mich im richtigen Boot; ich hatte den
der Kritik. Seine erkennenden und richtenden Triebe, sagte Anschluß, weiß Gott! Seit ›Buddenbrooks‹ war der Fortschritt
ich, entfremdeten ihn dem Künstler wie er im Buche stehe, — deutlich, der Fortschritt in fortschrittlicher Richtung. Zuletzt,
diesem aufgeräumten und harmlosen Wesen, das mit einem was wäre ›intellektueller‹ als die Parodie? Man hat teil an
Gemisch aus Widerwillen und frommer Scheu dem strengen der intellektualistischen Zersetzung des Deutschtums, wenn
Bruder begegne oder lieber noch nicht begegne. Ich schilderte man vor dem Krieg auf dem Punkte stand, den deutschen Bil-
›den Künstler‹ getreu nach dem Bilde meines Aldobrandino dungs- und Entwicklungsroman, die große deutsche Autobio-
in ›Fiorenza‹, ich zeigte ihn als Freudenmeister an den Höfen graphie als Memoiren eines Hochstaplers zu parodieren . . .
der Großen, als unbekümmerten Mitesser am Tische des rei-
chen Halunken und vermutete, daß, wenn irgendein löblicher
Charakterzug diesem sympathischen Gesellen mangeln sollte,
es etwa die Anständigkeit sein möchte, welche schlechterdings
nicht die Sache der Natur und des ›Temperamentes‹, sondern
diejenige des Wissens und der Kritik sei. Der Literat seines-
teils sei der wesentlich anständige Mensch; er sei anständig
bis zur Heiligkeit, anständig bis zur Absurdität, — denn das
Absurde, das sei das geistig Ehrenhafte . . . Und so ging es
fort. Freilich belehren mich meine Papiere, daß ich zur selben
Zeit auch gerade umgekehrt denken konnte. »Der Irrtum des
Literaten«, lese ich auf so einem Blatt, »ist sein Glaube, daß
nur der Geist anständig macht. Aber die Wahrheit ist eher
das Gegenteil: Nur wo kein Geist ist, gibt es Anständigkeit.«
Gleichviel; was ich drucken ließ, ist das Gültige. Und sicher
ist, daß es, um hamletisch zu reden, lächelnd um das Herz des
Zivilisationsliteraten saß. Zwar war ich im Geistig-Sittlichen
verblieben, war nicht ins Politische vorgeschritten. Allein die
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Es gibt ein schönes, tiefes Buch des jungen ungarischen Essay-
BÜRGERLICHKEIT isten Georg von Lukács, betitelt: ›Die Seele und die Formen‹,
und darin eine Studie über Theodor Storm, die zugleich eine
Untersuchung des Verhältnisses von »Bürgerlichkeit und l'art
pour l'art« ist, — eine Untersuchung, die mir, als ich sie vor
Wie alles war in der Welt entzweit,
Jahren las, sofort als das Vorzüglichste erschien, was über die-
Fand jeder in Mauern gute Zeit:
sen paradoxen Gegenstand je gesagt worden und die zu zitie-
Der Ritter duckte sich hinein,
ren ich ein besonderes Recht zu haben meine, da der Verfasser
Bauer in Not fand's auch gar fein.
Wo kam die schönste Bildung her, vielleicht dabei meiner gedacht — und an einer Stelle auch aus-
Und wenn sie nicht vom Bürger wär'? drücklich meiner gedacht hat. Auf ein Wissen, zu dem wir durch
Goethe unser Sein mit verholfen, haben wir ohne Zweifel ein beson-
deres Anrecht; und sind, indem wir es an uns nehmen, etwa
Meistersinger: Gegensatz zur Zivilisation, in der Lage eines Vaters, der sich lächelnd von seinem gelehr-
das Deutsche gegen das Französische. ten Sohn unterrichten läßt. — Lukács also unterscheidet vor
Nietzsche allem zwischen jenem fremden, gewaltsamen und maskenhaf-
Und dennoch mußte ich, als jetzt Krieg wurde, die Literatur ten, asketisch-orgiastischen Bourgeoistum, dessen berühmtestes
verraten? Mußte durch öffentliche Äußerungen, aus denen ein Beispiel Flaubert und dessen Wesen die abtötende Verneinung
teils ironisch hinterhältiger, teils aber auch geschmacklos-herz- des Lebens zugunsten des Werkes sei, — und dem echt bürger-
lich herausfahrender Nationalismus und Patriotismus sprach, lichen Künstlertum eines Storm, Keller, Mörike, welches das
den Zivilisationsliteraten aufs bitterste enttäuschen und mich Paradoxon seines Beiwortes erst eigentlich verwirkliche, indem
literarisch so heillos kompromittieren, wie ich es durch die ver- es bürgerliche Lebensführung, gegründet auf einen bürgerli-
unglückteste Novelle nicht vermocht hätte? Wie geschah das? chen Beruf, verbinde mit den harten Kämpfen der strengsten
— Die Frage zu beantworten, hätte ich mir durch die voran- künstlerischen Arbeit und dessen Wesen »des Handwerkers
gehenden Seiten sehr schwer gemacht, wenn ich sie nicht bei- Tüchtigkeit« sei. »Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens«,
nahe schon darin beantwortet hätte. Denn indem ich zu sagen schreibt Lukács, »bedeutet in erster Linie das Primat der Ethik
versuchte, inwiefern ich Europäer und westlicher Literat sei, im Leben; daß das Leben durch das beherrscht wird, was sich
sagte ich, wenn mir recht ist, zugleich immer auch etwas über systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtge-
die Ursprünge meines ›Patriotismus‹ aus. Um aber die Beant- mäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muß ohne Rück-
wortung jener Gewissensfrage: »Wie geschah das?« ein wenig sicht auf Lust und Unlust. Mit anderen Worten: die Herrschaft
zu vervollständigen, will ich jetzt von der Bürgerlichkeit reden, der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Mo-
von Bürgerlichkeit und Kunst, von bürgerlichem Künstlertum, mentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sen-
— in dem dunklen Gefühl, daß damit meine anstößige Haltung sationen gespeist wird.« Und indem er fortfährt, ergibt sich,
in diesem Kriege auf irgendeine Weise zu tun haben möchte, daß er dies ethisch-handwerkliche Meistertum, im Gegensatz
und fast in der Sicherheit, daß bei solcher Untersuchung auch zu dem Mönchsästhetizismus Flauberts, dessen bürgerliche Le-
für ein unpersönlich allgemeines Interesse diese oder jene An- bensführung eine nihilistische Maske war, als die germanische
regung abfallen wird. Gestalt des bürgerlichen Künstlertyps anspricht: Ästhetizis-
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mus und Bürgerlichkeit, gibt er zu verstehen, stellen hier eine der ›Kunst‹ und meine Bürgerlichkeit sei eine nihilistische
geschlossene und legitime Lebensform dar, und zwar eine Maske; wenn ich, freilich mit aufrichtiger Ironie nach beiden
deutsche Lebensform; ja, diese Mischung von Artistik und Seiten hin, der Kunst, dem ›Werk‹ vor dem Leben den Vor-
Bürgerlichkeit bilde die eigentlich deutsche Abwandlung des rang gab und erklärte, man dürfe nicht leben, man müsse ster-
europäischen Ästhetentums, das deutsche l'art pour l'art. ben, »um ganz ein Schaffender zu sein«. In Wahrheit ist die
Das ist glänzend — überaus fein und wahr! Aber wird man ›Kunst‹ nur ein Mittel, mein Leben ethisch zu erfüllen. Mein
mir erlauben, daß ich es nicht nur lobe, daß ich mich auch darin ›Werk‹ — sit venia verbo — ist nicht Produkt, Sinn und Zweck
wiedererkenne? Denn selbst nochmals in Erinnerung gebracht, einer asketisch-orgiastischen Verneinung des Lebens, sondern
daß hier niemals vom Range, sondern vom Wesen die Rede ist, eine ethische Äußerungsform meines Lebens selbst: dafür spricht
— gerade das, was der Essayist als das Kriterium des deutsch- schon mein autobiographischer Hang, der ethischen Ursprungs
bürgerlichen l'art pour l'art zu betrachten scheint: der bürger- ist, aber freilich den lebhaftesten ästhetischen Willen zur Sach-
liche Beruf nämlich, als wirkliche Lebensform und -Ordnung, lichkeit, zur Distanzierung und Objektivierung nicht ausschließt,
fehlt in meinem Falle. Es fehlte jedoch auch bei Conrad Ferdi- einen Willen also, der wieder nur Wille zur Handwerkstreue
nand Meyer, den man jener deutschen Zunft doch wohl zu- ist und unter anderem jenen stilistischen Dilettantismus er-
rechnen darf und muß (und der im Jahre 1870 sich als deutsch zeugt, welcher den Gegenstand reden läßt und zum Beispiel im
erkannte, die Partei Deutschlands ergriff!) —fehlte aus den ein- Falle des ›Tod in Venedig‹ zu dem erstaunlichen öffentlichen
fachsten, aus gesundheitlichen Gründen. Aber sollte wirklich Mißverständnis führte, als sei die ›hieratische Atmosphäre‹,
jene kritische Bedingung unerläßlich sein? Es ist ja klar, daß der ›Meisterstil‹ dieser Erzählung ein persönlicher Anspruch,
der Geist es liebt, statt der Realität das Symbol zu setzen. Man etwas, womit ich mich zu umgeben und auszudrücken nun
kann soldatisch leben, ohne im mindesten tauglich zu sein, als lächerlicherweise ambitionierte, — während es sich um Anpas-
Soldat zu leben. Der Geistige lebt im Gleichnis. Jener Primat sung, ja Parodie handelte . . . Nicht auf das ›Werk‹ also, son-
des Ethischen im Leben, von dem der Kritiker spricht,—bedeu- dern auf mein Leben kommt es mir an. Nicht ist das Leben
tet er nicht das Übergewicht des Ethischen über das Ästhetische? das Mittel zur Erringung eines ästhetischen Vollkommenheits-
Und ist dies Übergewicht nicht vorhanden, wenn das Leben ideals, sondern die Arbeit ist ein ethisches Lebenssymbol. Nicht
selbst, auch ohne bürgerlichen Beruf, den Primat vor dem irgendwelche objektive Vollkommenheit ist das Ziel, sondern
Werke besitzt? Ein Artistentum ist dadurch bürgerlich, daß es das subjektive Bewußtsein, daß ich »es besser auf keinen Fall
die ethischen Charakteristika der bürgerlichen Lebensform: machen konnte«. Wenn dieses innere Wesen meiner Arbeit auf
Ordnung, Folge, Ruhe, ›Fleiß‹ — nicht im Sinne der Emsigkeit, empfängliche Leute, wie meinen Wiener Gönner, von objektiv
sondern der Handwerkstreue — auf die Kunstübung überträgt. ästhetischer Wirkung sein kann, so ist doch ihr subjektiver
In Wien sagte mir vor Jahren ein kluger Jude: »Was Ihren Sinn durchaus ethisch, — so wenig ist meinesgleichen Schön-
Sachen Würde und Liebenswürdigkeit verleiht, ist, daß Sie, in- heitsfex, so wenig Ästhet im Boheme-Sinne und so sehr im
dem Sie sie hingeben, zu sagen scheinen: ›Besser kann ich es auf bürgerlichen.
keinen Fall machen.‹« Das war ein zweifelhaftes Kompliment,
aber ein sehr eindringliches, und darum habe ich es behalten. »Wie geschah das?« Vielleicht zum Teile aus diesem Wesens-
Es war eine romantische Jünglingstäuschung und Jünglings- grund. Vielleicht weil ich mich deutsch fühle kraft dieser Zu-
allüre, wenn ich mir ehemals einbildete, ich opferte mein Leben gehörigkeit zu einer bürgerlich-ethischen Artistik, die deutsch
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ist. Weil meinesgleichen nichts zu schaffen hat mit Flaubert- das Ethische, und nie habe ich mich im Wortsinn als ݀sthe-
schem Anachoretentum, noch mit der unleidlichen Schönheits- ten‹, sondern immer als Moralisten gefühlt.
Großmäuligkeit des d'Annunzio. Weil ich, persönlich aus alt- So war es deutsch, so war es bürgerlich; Ästhetizismus im
bürgerlicher deutscher Sphäre stammend, trotz aller modernen Wortsinne, Schönseligkeit also, ist die undeutscheste Sache
Fragwürdigkeit und europäisierenden Bedürfnisse, nach meiner von der Welt und die unbürgerlichste zugleich; man wird nicht
Art zusammenhänge mit jenen Repräsentanten deutsch-hand- zum Ästheten erzogen in Schopenhauerisch-Wagner'scher
werkerlichen Kunstmeistertums, von denen Meyer und Storm Schule, man atmet ethisch-pessimistische Luft dort, deutsch-
mir die nächsten sind. Zu jenem zieht mich soziale und mensch- bürgerliche Luft: denn das Deutsche und das Bürgerliche, das
liche Sympathie. Aber meine Verbindung mit Storm ist Stam- ist eins; wenn ›der Geist‹ überhaupt bürgerlicher Herkunft
mesverwandtschaft und mehr als das. Wenn ›Tonio Kröger‹ ist, so ist der deutsche Geist bürgerlich auf eine besondere
ins Modern-Problematische fortgewandelter ›Immensee‹ ist, Weise, die deutsche Bildung ist bürgerlich, die deutsche Bür-
eine Synthese aus Intellektualismus und Stimmung, aus gerlichkeit human, — woraus folgt, daß sie nicht, wie die west-
Nietzsche und Storm, wie ich sagte, so spricht Lukács in jener liche, politisch ist, es wenigstens bis gestern nicht war und es
Studie es aus, daß im Falle von ›Buddenbrooks‹ späte Be- nur auf dem Wege ihrer Enthumanisierung wird ...
wußtheit (die nichts mit dem Range zu tun hat) die Monu- Zu sagen, bei Schopenhauer und Wagner befinde man sich
mentalisierung' jener Verfallsstimmung ermöglichte, welche in bürgerlicher Sphäre, es sei eine bürgerliche Erziehung, die
Storms bürgerliche Welt umgibt. man durch sie erhalte, scheint eine widersinnige Behauptung;
Ethik, Bürgerlichkeit, Verfall: das gehört zusammen, das ist denn es fällt schwer, den Begriff der Bürgerlichkeit mit dem
eins. Gehört nicht auch die Musik dazu? Ich erinnere mich wohl, der Genialität zu vereinigen. Was wäre auch unbürgerlicher,
mit welchen Worten, mündlicher Überlieferung zufolge, Stefan als ihr hochgespannter, tragischer, heftig-qualvoller und in
George meine ›Buddenbrooks‹ abgelehnt hat: »Nein«, sagte Weltruhmesglanz mündender Lebensgang! Trotzdem sind sie
er, »das ist nichts für mich. Das ist noch Musik und Verfall.« rechte Kinder ihres bürgerlichen Zeitalters, und überall ist in
Noch! Späte, ja verspätete Bürgerlichkeit machte mich zum Ver- ihrer Menschlichkeit und Geistigkeit das Bürgerliche nach-
fallsanalytiker; und jene »ethische Luft«, der moralistische Pes- weisbar. Man sehe sich Schopenhauers Leben an: Seine hanse-
simismus (mit Musik), den ich von Schopenhauer und Wagner atisch-kaufmännische Herkunft; seine Seßhaftigkeit in Frank-
empfangen zu haben angab, er war es vielmehr, was ich bei furt; die kantisch-pedantische Unwandelbarkeit und Pünktlich-
diesen europäischen Deutschen als mein Selbst und Eigen vor- keit seines Tageslaufes; seine weise Gesundheitspflege auf
fand, was mich von vornherein zu ihnen zog und führte. Nicht Grund guter physiologischer Kenntnisse (— »Nicht dem Ver-
›Schönheit‹. Nie war es mir um ›Schönheit‹ zu tun. ›Schön- gnügen, sondern der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige
heit‹ war mir immer etwas für Italiener und Katzeimacher des nach« —); seine Genauigkeit als Kapitalist (er schrieb jeden
Geistes, — nichts Deutsches im Grunde und namentlich nicht Pfennig auf und hat sein kleines Vermögen durch kluge Wirt-
Sache und Geschmack einer künstlerischen Deutsch-Bürgerlich- schaft im Laufe seines Lebens verdoppelt); die Ruhe, Zähig-
keit. In dieser Sphäre überwiegt das Ethische über das Ästhe- keit, Sparsamkeit, Gleichmäßigkeit seiner Arbeitsmethode (— er
tische, oder richtiger: eine Vermischung und Gleichsetzung produzierte für den Druck ausschließlich während der ersten bei-
dieser Begriffe hat statt, welche das Häßliche ehrt, liebt und den Morgenstunden und schrieb an Goethe, daß Treue und Red-
pflegt. Denn das Häßliche, die Krankheit, der Verfall, das ist lichkeit die von ihm aus dem Praktischen ins Theoretische und
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Intellektuelle übertragenen Eigenschaften seien, die das Wesen form gerade in Deutschland besitzt. Als ich von dem bestim-
seiner Leistungen und Erfolge ausmachten): — das alles zeugt menden Einfluß sprach, den Wagners Künstlertum auf mich
ebenso stark für die Bürgerlichkeit seines menschlichen Teils, ausgeübt, ließ ich etwas Bedenkliches weg, versparte es mir
wie es Ausdruck bürgerlicher Geistigkeit war, daß er das ro- bis auf diese Stelle, und es handelt sich dabei weniger um
mantische Mittelalter, Pfaffentrug und Ritterwesen so ent- Wagners eigenes Bürgertum, als um seine Beziehungen zur
schieden verabscheute und durchaus auf klassischer Humani- Bürgerlichkeit, um seine Wirkung auf den Bürger. Gerade sie
tät bestehen zu sollen meinte. Übrigens gehört das zu jener ist aber der Punkt, in dem Wagners Einfluß zu einer Art von
Opposition, die er sich selber machte und in der man die Vor- Verderb werden kann und vielleicht in meinem Falle dazu ge-
stufe und Vorschule von Nietzsche's »Selbsthenkertum« erken- worden ist: ich meine das, was Nietzsche die »doppelte Optik«
nen darf, — es ist der stärkste Widerspruch zwischen Tendenz nennt, die artistische und die bürgerliche nebeneinander und
und Natur, die intellektuelle Verneinung seines Selbst, denn auf einmal, den Instinkt — denn es ist natürlich ein Instinkt,
wer wäre weniger klassisch, wer wäre romantischer gewesen als keine Berechnung; etwas durchaus Objektives, nichts Subjek-
er! Was aber Wagner betrifft, so findet sich ja in seiner mensch- tives —, raffinierte und gutmütigere Bedürfnisse zugleich zu
lichen und künstlerischen Persönlichkeit ein nicht nur bürger- befriedigen, die Wenigen zu gewinnen, und die Vielen oben-
licher, sondern geradezu bourgeoiser und parvenühafter Ein- drein, — ein Instinkt, der, nach meiner Einsicht, mit Wagners
schlag, — der Geschmack am Üppigen, am ›Atlas‹, am Luxus, Eroberertum, seinem Weltdurst, seiner ›Sündhaftigkeit‹ im
an Reichtum und bürgerlicher Pracht, — ein Zug des Privat- asketischen Sinne zusammenhängt, mit dem, was Buddha das
lebens zunächst, der aber tief ins Geistig-Künstlerische reicht. »Anhangen« nennt, seiner Sehnsucht, seinem sinnlich-über-
Ich bin nicht sicher, ob die Bemerkung mein Eigentum ist, daß sinnlichen Liebesverlangen. Es gibt ja eine Art von Künstler-
Wagners Kunst und das Makartbukett (mit Pfauenfedern) der- tum, bei welchem von all diesem, oder von diesem einen, durch-
selben zeitlichen und ästhetischen Herkunft sind? Aber wenn aus nicht die Rede sein kann, ein keusches, strenges, kaltes,
Wagner ein wenig bourgeois war, so war er auch Bürger in stolzes, ja steifes, das für die ›Welt‹ nichts als Verachtung
einem hohen, deutschen Sinn, und seine Selbst-Inszenierung und Hohn im Herzen und Geiste hegt und von keinerlei Dem-
und Kostümierung als deutscher ›Meister‹ hatte ihre gute in- agogie, keiner unbewußtesten Rücksicht und Kondeszendenz,
nere und natürliche Berechtigung: man täte unrecht, über dem keinem weltlichen Wirkungs-, Vereinigungs- und Liebesver-
Feuerflüssig-Vulkanischen, dem Dämonischen und Genialen in langen auch nur berührt ist. Wagner war weit davon entfernt.
seiner Produktion das altdeutsch-kunstmeisterliche Element zu In seinem Werk findet sich eine Stelle, die ihn in jedem Sinne,
übersehen, — das Treublickend-Geduldige, Handwerksfromme auch in diesem, resümiert: es ist das Zitat des Sehnsuchts-
und Sinnig-Arbeitsame . . . »An ihren Früchten sollt ihr sie motivs auf dem Worte »Welt« im II. Akt ›Tristan‹ — (»Selbst
erkennen.« Wagners europäischer Intellektualismus findet sich dann bin ich die Welt!«). Man wird mich nicht hindern, in
wieder in Richard Strauß, sein deutschbürgerliches Teil aber Wagners Begierde, seiner Welt-Erotik den Grund und Ursprung
in dem Käppchen-Meistertum und Treufleiß des liebenswerten dessen zu finden, was Nietzsche seine zweifache Optik genannt
Engelbert Humperdinck. hat, eines aus Bedürfnis entsprungenen Vermögens, nicht nur
Bürgerliches Künstlertum, ein verwirklichtes Paradoxon, ein die Feinsten — das ist selbstverständlich — zu fesseln, zu
Paradoxon immerhin, eine Doppeltheit und Zwiespältigkeit faszinieren, sondern auch die breite Masse der Schlichten; ich
auf jeden Fall, trotz der Legitimität, die diese geistige Lebens- sage: aus Bedürfnis entsprungen, weil ich überzeugt bin, daß
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jeder Künstler ohne Ausnahme genau das macht, was er ist, noch einmal geschieht es, daß ein reiner und freier Ausdruck
was seinem eigenen ästhetischen Urteil und Bedürfnis ent- meines Wesens, wie etwa der Friedrich-Essay, den literari-
spricht. Ein unehrliches Künstlertum, welches Wirkungen be- schen Rigorismus nötigt, dem lobenden Urteil der ›Bürger‹
rechnete und erzielte, die ihm selber ein Spott, denen es selbst wohl oder übel beizupflichten. Konnte es nicht geschehen, daß
überlegen wäre und die nicht zuerst auch Wirkungen auf ihren eine Europäer-Zeitschrift, die ›Weißen Blätter‹, den Aufsatz
Urheber wären, ein solches Künstlertum gibt es nicht. Und meisterhaft fand, — wenn auch seine Tendenz natürlich nicht
daraus folgt, daß die objektiven Wirkungen eines Künstlers, gebilligt werden könne?! Es ist das alte Lied von Tonio Krö-
auch die breit bürgerliche Wirkung Wagners, immer für sein ger: »Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim
eigenes Sein und Wesen beweisend sind. Er war ein sehnsüch- und habe es infolgedessen ein wenig schwer.« — Aber ist man
tiger oder, um das kältere Wort dafür einzusetzen, ein ehr- vielleicht gerade damit deutsch? Ist nicht deutsches Wesen die
geiziger Künstler. Was man aber in der Jugend wünscht, wirk- Mitte, das Mittlere und Vermittelnde und der Deutsche der
lich und von Naturrecht wegen wünscht, nicht nur zu wün- mittlere Mensch im großen Stile? Wenn es schon deutsch ist,
schen sich fälschlich und unnatürlicherweise einredet, — das Bürger zu sein, so ist es vielleicht noch deutscher, etwas zwi-
hat man im Alter die Fülle; und die Folge jener aristokratisch- schen Bürger und Künstler, auch etwas zwischen einem Pa-
demokratischen, artistisch-bürgerlichen Optik ist der Erfolg, trioten und Europäer, zwischen einem Protestler und West-
als welcher eben immer ein doppelter Erfolg ist: bei den Ar- ler, einem Konservativen und einem Nihilisten zu sein — und
tisten und bei den Bürgern, denn weder der reine Boheme- überaus deutsche Aufsätze zu schreiben, deren antiliterarische
und Zönakel-, noch der reine Publikumserfolg trägt mit Recht Tendenz jedes französisch akzentuierte Herz mit Widerwillen
seinen Namen. Glaube man doch ja nicht, daß ich im gering- erfüllen muß, die aber gerade von den Westlern, Europäern
sten aus Selbstgefälligkeit rede, wenn ich hinzufüge, daß ich und Literaten dennoch leider als »meisterhaft« angesprochen
vom ›Erfolge‹ ein Lied, mein kleines Lied, zu singen weiß! Ich werden müssen? —
sehe in ihm eine Lebenserfahrung wie eine andere, und ich
weiß, daß er für seinen Träger auf recht zweideutige Weise Das war Grübelei! Kommen wir zur Sache im engeren — oder
charakteristisch ist. Schlicht definiert bedeutet er: Diesen ver- weiteren — Sinne zurück und sprechen wir von Bürgerlichkeit
langte auch nach den Dummen .. . Was ich aber ferner weiß, und Politik: ich meine, von deutscher Bürgerlichkeit, gebilde-
ist, daß der ›Erfolg‹ als Folge jener doppelten Optik, die man ter Bürgerlichkeit, humaner und künstlerischer Bürgerlichkeit
schlimmer- und sündigerweise von Wagner lernt, eine prekäre und ihrem Verhältnis zur Politik, — welches, wie wir schon ein-
und nicht geheuere Behausung ist; daß er Lebensgefahr und fließen ließen, von Hause aus ein rechtes Unverhältnis ist und,
Eumenidenrache in sich selber birgt; daß ein Mann dieses Er- nachdem es schon von Bismarck mit zweifelhaft-halbem Erfolg
folges gewärtig sein muß, es auf die Dauer mit beiden Teilen in die Kur genommen worden, heute vom Zivilisationslitera-
zu verderben, mit der Bürgerlichkeit sowohl wie mit dem Ra- ten auf ›geistigere‹ Weise in die Kur genommen wird . . . Es
dikalismus : da denn in meinem Falle die Sache damit begon- ist ein hartes Stück Arbeit, das er sich vorgesetzt. Denn die
nen hat, daß ich den Literaten bereits ein Dorn im Auge oder deutsche Humanität widerstrebt der Politisierung von Grund
auch das kaum noch bin. Einer, Äternist seines Zeichens, hat aus, es fehlt tatsächlich dem deutschen Bildungsbegriff das poli-
mich neulich eine »Frohnatur« genannt . . . Gut, das ist das tische Element. Noch immer, nach halbhundertjährigem Reichs-
Ende! — Nein, es ist das letzte Ende immer noch nicht. Immer bestande, gelten für den höheren Deutschen die Worte des
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jungen Nietzsche aus der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung: strömt es von halbgebildet-exzitiertem Straßengerede über. Er
»Denn der, welcher den furor philosophicus im Leibe hat, wird redet zu keinem und zu uns allen, er streckt sogar sein Kinn
schon gar keine Zeit mehr für den furor politicus haben und über die Schulter des Wagenführers, diese gesetzte Schulter im
sich weislich hüten, jeden Tag Zeitungen zu lesen oder gar Dienstmantel, und schwatzt ihm von der Seite ins Gesicht. Er
einer Partei zu dienen: ob er schon keinen Augenblick anstehen schwätzt vom »schwarz-blauen Block« oder ähnlichem unmensch-
wird, bei einer wirklichen Not seines Vaterlandes auf seinem lich dummen Zeug, er steckt die Daumen in die Weste und ahmt
Platze zu sein. Alle Staaten sind schlecht eingerichtet, bei denen gassenhumoristisch einen Juden nach . . . Er war die Verzer-
noch andere als die Staatsmänner sich um Politik bekümmern rung des Volkes selbst, und gut habe ich den Blick im Sinne
müssen, und sie verdienen es, an diesen vielen Politikern zu- behalten, mit dem der Wagenführer sich endlich nach dem
grunde zu gehen.« Was aber hier von dem typischen Deut- peinlichen Menschen umwandte und ihn von oben bis unten
schen höherer geistiger Ordnung, wie er wenigstens bis gestern musterte, diesen nüchternen, gesetzten, schweigend-befremde-
sich vorstellte, gesagt ist, — hat es im Grunde nicht Gültigkeit ten, abschätzigen, leicht angewiderten Blick des Mannes im
für den Deutschen im großen und ganzen, für Deutschland Dienstmantel auf den von Politik und Halbbildung Trunke-
als Volksperson, ja für das eigentliche Volk in Deutschland? nen, einen Blick, der mir für das Verhältnis des deutschen
Wie dieses Volk sich ausnimmt, wenn es gilt, »bei einer wirk- Volkes zur Politik unvergeßlich bezeichnend schien. War er ein
lichen Not des Vaterlandes auf dem Platze zu sein«, haben wir Egoist, mein Wagenführer? Aber er ist »auf seinem Platze«
Anfang August 1914 gesehen, — überaus schön nimmt es sich gewesen, dafür verbürge ich mich, als wirkliche Not anbrach,
aus; wir möchten glauben: so schön wie kein anderes. Desto sein Gesicht war immer noch nüchtern, aber es war andächtig
schlechter steht ihm die flache Aufgeregtheit solcher Zeiten zu damals, und er hält seinen Platz bis zum heutigen Tag, sei es
Gesicht, die im engeren und inneren Sinne politisch sind, — über der Erde oder gedeckt von ihr. —
schlechter, wahrscheinlich, als jedem anderen; es entstellt sich Der Sinn des gesetztesten Volkes schien mir in dem Blick
dabei aufs unangenehmste, und es weiß das im Grunde selbst. dieses seines anständigen Sohnes zu liegen. Wende ich mich
Ich habe meine kleinen Erinnerungen an Straßen- und Tram- von ihm dem deutschen Künstler, der typisch deutschen Spiel-
bahnszenen in Reichstagswahltagen, ich sehe mich wieder auf art des bildenden Menschen, zu, so muß ich versuchen, ihr Bild
einer vorderen Plattform, hinter dem Wagenführer, einem und Wesen »mit meines Geistes Aug'«, wie Hamlet sagt, zu
noch jungen Mann mit einem Ehering an der Hand, mit der erfassen. Was sehe ich? Ich sehe ein etwas seitlich- und vorge-
er die Stromschaltkurbel regiert. Er steht da, umdrängt vom neigtes Antlitz von unvergleichlichem und unverwechselbarem
Publikum, in seinem soliden Dienstmantel, und tritt die Glocke, nationalen Gepräge, irgendwie altertümlich holzschnitthaft,
späht durch die regenbeschlagene Glasscheibe vor seinem Ge- nürnbergisch-bürgerlich, menschlich in einem unerhörten und
sicht. Ein Mann springt auf, den Hut im Nacken, mit wirren einmaligen Sinne, sittlich-geistig, hart und milde zugleich, —
Augen, Hitzflecken auf den Backenknochen, und beginnt schon ein hinein- und hinüberschauendes, nicht ›feuriges‹, eher ein
auf dem Trittbrett zu reden. Er ist in voller Aktion, in politi- wenig welkes Auge, einen verschlossenen Mund, Zeichen der
scher Rage. Er kommt aus dem Wahllokal, ein Agent wahr- Anstrengung und der Ermüdung auf der besorgt, doch ohne
scheinlich, ein Werber, ein Stimmenjäger, jedenfalls ein feuri- Grämlichkeit gefalteten Stirn . . . Waibling oder Weife? Ach,
ger Parteigänger. Er könnte nicht schweigen, man sieht es; nein: »Nur stiller Künstler, der sein Bestes tat, versonnen
sein Herz ist voller Politik und Halbbildung, und unablässig wartend, bis der Himmel helfe.« Was hätte dieser Treue, Wür-
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dige und Demütige, was dieser metaphysische Handwerker mit ein Werk dieser unpolitischen Bürgerkultur, dieser Zeit einer
Politik in irgendeinem westlich-demokratischen Gassensinn zu behaglich-genauen, helläugig-satirischen Alltagsgestaltung, der
schaffen? Er ist national, natürlich ist er es, wenn auch viel zu Zeit der Predigt und Mystik, der Fastnachtsspiele, Rechtsbücher
human und urban, kosmopolitisch umgetan und bürgerlich ge- und Chroniken ... einer Zeit des Aufschwungs deutscher Indi-
bildet, um in Zeiten friedlicher Arbeit mit dem Nationalen einen vidualität nach dem einen, der Demokratisierung des Persön-
trumpfenden Unfug zu treiben; er ist national und wird sich lichkeitsbegriffs nach dem anderen Historiker, der Zeit innigst-
dessen innig bewußt werden, wenn er das nationale Wesen in würdiger, national-meisterlicher Griffelkunst und Malerei, —
physischer und namentlich geistiger Bedrängnis sieht. Aber dieser Zeit, mit einem Wort, die es bewirkt, daß in deutscher
ein Politiker? Ein Manifestant und Tumultuant? Ein Men- Sphäre Bürgerlichkeit und Geistigkeit,Bürgerlichkeit und Kunst-
schenrechtler und Freiheitsgestikulant? Nein, nein! — meistertum innig sinnverwandte Wörter geblieben sind.
Es ist kein Zufall, daß mir, indem ich nach dem Bilde bür- Und der ›Weltbürger‹, ist nicht auch er — ein Bürger? Was
gerlicher Geistigkeit, des bürgerlich-kulturellen Typus trachte, stellt er denn anderes vor, als die Verbindung deutscher Bür-
ein mittelalterlich-nürnbergisch Gesicht erscheint. Man forscht gerlichkeit mit humanistischer Bildung? Ja, wie in das deutsche
in den Büchern, man forscht in der Not der Zeit nach den fern- Wort für ›Kosmopolitismus‹ Wort und Begriff des ›Bürgers‹
sten Ursprüngen, den legitimen Grundlagen, den ältesten see- aufgenommen ist, so ist auch diesem Wort und Begriffe selbst
lischen Überlieferungen des bedrängten Ich, man forscht nach der Welt- und Grenzenlosigkeitssinn immanent. —
Rechtfertigung. War es nicht so: das bürgerliche Zeitalter un- Wer bin ich, woher komme ich, daß ich bin, wie ich bin, und
serer Geschichte, das auf das geistliche und ritterliche folgte, mich anders nicht machen noch wünschen kann? Danach forscht
das Zeitalter der Hansa, das Zeitalter der Städte, es war ein man in Zeiten seelischer Bedrängnis. — Ich bin Städter, Bürger,
reines Kulturzeitalter, kein politisches, der Bürger trat das poli- ein Kind und Urenkelkind deutsch-bürgerlicher Kultur. Das
tische Erbe des Ritters nicht an. Dies Zeitalter war jedoch mütterlich-exotische Blut mochte als Ferment, mochte entfrem-
national im höchsten Grade, national mit Bewußtsein, nach Ge- dend und abwandelnd wirken, das Wesen, die Grundlagen ver-
wand und Haltung; man hat die bürgerliche Kultur die erste änderte es nicht, die seelischen Hauptüberlieferungen setzte es
rein nationale genannt. Welche Epoche ist es, die den Möser, nicht außer Kraft. Waren meine Ahnen nicht Nürnberger Hand-
den Fichte als die eigentliche Glanzzeit deutscher Geschichte werker von jenem Schlage, den Deutschland in alle Welt und
erschien? Es ist diese, es ist die Blütezeit der deutschen Hansa. bis in den fernen Osten entsandte, zum Zeichen, es sei das
Die Geschichte der deutschen Städte, sagt Treitschke mit einem Land der Städte? Sie saßen als Ratsherren im Mecklenburgi-
Ton der Verteidigung, sei »etwas durchaus Patriotisches« ge- schen, sie kamen nach Lübeck, sie waren »Kaufleute des römi-
wesen, und Geschichtsschreiber, die es beklagen, ja, es ein deut- schen Reiches«, — und indem ich die Geschichte ihres Hauses,
sches Verhängnis nennen, daß der politische Bund zwischen eine zum naturalistischen Roman entwickelte städtische Chro-
Monarchie und Bürgertum, die Begründung des Nationalstaa- nik schrieb, ein deutsches Buch, das man wohl auf ein Bord
tes, wie sie sich in andern Ländern damals vollzog, in Deutsch- mit den Schriftwerken der bürgerlichen Vorzeit stellen mag,
land versäumt wurde, rühmen laut die Bedeutung dieser Ge- erwies ich mich als viel weniger aus der Art geschlagen, als
schichte für die Ausbreitung sowohl wie für die Vertiefung ich selber mir träumen ließ. Ja, ich bin Bürger, und das ist in
deutschen Wesens. Ja, die Vertiefung des deutschen Typus — Deutschland ein Wort, dessen Sinn so wenig fremd ist dem
ich lese es nach, und ich erinnere mich, daß es wahr ist—, sie ist Geiste und der Kunst wie der Würde, der Gediegenheit und
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dem Behagen. Mein Sinn für Eleganz ist urbanen Ursprungs, Kern ihres Idealismus irgendwann durch eine radikale Ent-
er ist Kultur und nicht internationale Zivilisation, wie im Falle scheidung in Dingen politischer Freiheit deutlich wird. Grimm
des eleganten Bourgeois. Mein Sinn für Solidität ist dersel- als einer der Göttinger Sieben, Storm als Holsteiner, Uhland
ben Herkunft. Noch mein Instinktanspruch auf Würde und be- als Württembergischer und Paulskirchen-Abgeordneter gehen
haglichen Überfluß der materiellen Lebensführung hat ältere bis zum letzten, was in diesen Zeiten der Bürger opfern konnte,
Rechte und ist eines anderen Sinnes als die Üppigkeit des inter- zur Aufgabe ihrer Lebensstellung um politischer Dinge willen.
nationalen Bourgeois. Bin ich liberal, so bin ich es im Sinne Und diese Dinge sind in der geraden Aszendenz der heutigen
der Liberalität und nicht des Liberalismus. Denn ich bin un- Demokratie.« Wirklich? Was hat Storms Heimatsgefühl, sein
politisch, national, aber unpolitisch gesinnt, wie der Deutsche bedingungsloser trotzig-tätiger Widerstand gegen das okku-
der bürgerlichen Kultur und wie der der Romantik, die keine pierende Dänentum, das Opfer seiner Husumer Advokatur,
andere politische Forderung kannte als die hoch-nationale nach sein bitterer Gang ins Potsdamer Exil, — was hatte die poli-
Kaiser und Reich und die so gründlich undemokratisch war, tische Leidenschaft dieses Innerlichen und Tiefgetreuen, dessen
daß nur ihre seelischen Nachwirkungen die Politiker, Burschen- Freiheitspathos beschlossen ist in den Versen:
schaftler, Revolutionäre der Paulskirche das Erbkaisertum wol-
len ließen und sie, wie Vogt an Herwegh schrieb, »zu voll- Hör mich! — denn alles andere ist Lüge —
kommenen Aristokraten« machten... Kein Mann gedeihet ohne Vaterland!
Ein Bürger aber, das weiß ich wohl, bin ich auch in meinem — was hätte Storms ›Politik‹, die nichts war als ein inniges
Verhältnis zu diesem Kriege. Der Bürger ist national seinem Hegen metaphysischer Lebenswerte, mit dem Demokratismus
Wesen nach; wenn er Träger des deutschen Einheitsgedankens unseres Zivilisationsliteratentums zu schaffen? Mit Internatio-
war, so darum, weil er immer der Träger der deutschen Kultur ' nalismus, Menschenrechten, radikaler Aufklärung, Wohlstands-
und Geistigkeit gewesen ist. Oft aber ist die teleologische Funk- ideologie, Apotheosierung des Gesellschaftlichen, rhetorisch
tion des Krieges überhaupt darin erkannt worden, daß er die sentimentalem Revolutionsspektakel? Und stand es im wesent-
nationale Eigentümlichkeit bewährt, erhält und bestärkt: er ist lichen anders um das Politikertum der andern großen Bürger
das große Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Na- von damals? Sie waren Demokraten, sie waren Politiker, weil
tionalkultur, und meine Teilnahme an diesem Kriege hat mit zu ihrer Zeit der Begriff des Nationalen, der Vaterlandsliebe,
Welt- und Handelsherrschaft gar nichts zu tun, sondern ist mit dem des Demokratischen, mit dem der Politik selbst sich un-
nichts als die Teilnahme an jenem leidenschaftlichen Prozeß trennbar vermischte. Sie waren national, bevor sie Demokra-
der Selbsterkenntnis, Selbstabgrenzung und Selbstbefestigung, ten waren, sie waren es, indem sie Demokraten waren, — wäh-
zu dem die deutsche Kultur durch einen furchtbaren geistigen rend der heutige Krieg, der Kampf Deutschlands gegen den
Druck und Ansturm von außen gezwungen wurde . . . westlichen Demokratismus, es dem national Empfindenden aufs
»Gut! was du ›Bürgerlichkeit‹ nennen magst, dies Element äußerste erschwert, Demokrat zu sein, und ›Demokratie‹ in
ist lebendig in den eindrucksvoll ruhigen Gestalten zwischen Deutschland ein anderes Wort für ›kosmopolitischer Radika-
1820 und 1860, in der großen Zeit der deutschen Wissenschaft lismus‹ ist. Nein, Zivilisationsliteraten waren das wohl eigent-
und Erzählung. Denkt man aber an die höchsten und reinsten lich nicht, die deutschen Bürger von 1820-60. Aber des Wor-
Typen dieser Epoche, an Jakob Grimm, Uhland, Keller, Theo- tes wollen wir uns immerhin erinnern, das Goethe über Uhland
dor Storni, so ist es unmöglich, zu übersehen, daß der stählerne zu Eckermann sprach: »Geben Sie acht, der Politiker in Uhland
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wird den Poeten aufzehren. In täglichen Reibungen und Auf- heiligen Römischen Reiche deutscher Nation, — selbst seine
regungen leben ist keine Sache für die zarte Natur eines Dich- Vision und Lehre läßt die geistigen Brücken erkennen, die das
ters. Mit seinem Gesange wird es aus sein.« Und auch Adalbert Heute mit dem Damals verbinden. Gut, Dr. Foerster verneint
Stifters gedenkt man vielleicht mit mir, der es in liberalen nicht nur Bismarck, sondern auch die Reformation, und den
Literaturgeschichten büßt, daß er 1848 erklärte, er sei ein Gelehrten gelehrt zu befehden und zu widerlegen war gut und
Mann des Maßes und der Freiheit, und beides sei jetzt gefähr- recht, ihn zu beschimpfen aber bäurisch und falsch. Wie hätte
det, l e i d e r . . . in einer gleich der unseren gedanklich durchpflügten und auf-
Nach all dem wird man mir nicht mehr den jungen Richard gewühlten Zeit nicht auch seine mittelalterlich-universale Idee
Wagner von 1848/49 einwenden und das, was er später, nicht nach oben kommen sollen, die man reaktionär nennen mag,
eben passend, seine »dummen Streiche« von damals nannte. die aber mit modernster, über die Banngrenze des sechzehnten
Wagner war national, dies vor allem, ja einzig dies; von Paris Jahrhunderts zurückschauender europäischer Sehnsucht sehr
heimkehrend hatte der arme und namenlose junge Künstler, viel zu tun hat! Übernational, scheint mir, ist etwas ganz
in feierlicher Gefühlswallung am Ufer des Rheins hingewor- anderes und sehr viel Besseres als international; überdeutsch,
fen, »seinem deutschen Vaterland ewige Treue geschworen«; das heißt: überaus deutsch; und hundert-, tausendmal ist die
aus seinem Deutschtum, seinem Willen zu einem einigen und Willensmeinung dieses katholischen Deutschen, so wie er sie
hoheitsvollen Reich, nicht aus irgendwelchen kosmopolitisch- offenbart hat, mir lieber als die unsäglich widerdeutschen
radikalistischen Sympathien, stammte seine Teilnahme an der Deklamationen unserer italo-französischen Freimaurer, Re-
stürmischen Bewegung jener Zeit, und zehnfach hat er ver- volutionsepigonen und Fortschrittsopernsänger . . . Nein, ein
sichert, daß nur Polizeiaktuare ihn hätten als politischen Re- Zivilisationsliterat wenigstens ist Foerster nicht.
volutionär verfolgen können, daß Zeitpolitik ihn trotz der Hef- Was Wagner betrifft, so steht es fest, daß er als Künstler
tigkeit der Zustände nicht wahrhaft berührt habe, auch von und Geist sein Leben lang ein Revolutionär war. Aber ebenso
ihm gänzlich unberührt geblieben sei. Man darf nicht leugnen sicher ist, daß dieser nationale Kultur-Revolutionär die poli-
oder vergessen, daß die alles mitreißende Begeisterungswoge, tische Revolution nicht meinte und die Atmosphäre von 1848/49
die im Jahre 48 über Deutschland hinging, trotz ihres Ein- durchaus nicht als sein Element empfand. In seinen Lebens-
schlages von Weltbürgerlichkeits-Ideologie, nein, eben wegen erinnerungen spricht er von der »schrecklichen Seichtigkeit der
dieses deutsch-universalistischen Einschlages, eine nationale Wortführer jener Zeit«, von ihrer »aus den abgedroschensten
Sturmflut war und daß jede Art Geistigkeit, die sich ihr hin- Phrasen zusammengesetzten Beredsamkeit bei Versammlun-
gab, auch im August 1914 von Deutschland ergriffen worden gen und überhaupt im persönlichen Umgange«. Es habe ihn
wäre. Man soll vielmehr auf der Verwandtschaft und Zusam- erstaunt, sagt er, zu hören und zu lesen, »mit welcher unglaub-
mengehörigkeit, dem gemeinsamen nationalen Gepräge der lichen Trivialität es dabei herging, und wie bei allen es nur dar-
Bewegungen von 1848 und 1914 bestehen: diese ist nur die auf hinauslief, zu erklären, daß allerdings die Republik das
Wiederkehr jener auf einer anderen historischen Entwicklungs- Beste sei, man sich indessen aber die Monarchie, wenn sie sich
stufe. Der Gedanke ›Mitteleuropa‹, was ist er denn anderes gut aufführe, zur Not noch gefallen lassen könne«. Und den
als die Wiedergeburt der vorbismärckisch-großdeutschen Idee? Zivilisationsliteraten, den Macht- und Geist-Antithetiker, muß
Und selbst das Auftreten jenes christlichen Professors, Frantz- es nicht wenig abstoßen und beleidigen, wenn Wagner vom
Schülers und ernsten Träumers von Rück- und Heimkehr zum Frankfurter Parlamente sagt, man habe nicht wohl ersehen,
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wozu dieses gewaltige Reden der allermachtlosesten Menschen selbst zum höchsten, gotterfüllten Bewußtsein erhöht, und frei
führen sollte. Der machtlosesten! Dieser brutale Schwärmer sei das Volk nur, wenn einer herrsche, nicht wenn viele herr-
hatte eine Schwäche für ›die Macht‹, wie es scheint, er besann schen. Eine wunderlichere Politik treibt selbst Friedrich Wil-
sich nicht, mit ›der Macht‹ zu paktieren im Jahre 1870, — nein, helm Foerster nicht. Aber was hat dieser unmögliche Achtund-
ihr zuzujauchzen, ihr trunken zuzujauchzen und sich ihr zu- vierziger nicht alles gesagt! Zum Beispiel, daß die Kunst zur
liebe begeisterter aufzuführen, als je in den Tagen des Pauls- Zeit ihrer Blüte konservativ gewesen sei und es wieder wer-
kirchen-Geistes. Wenn es nach dem Zivilisationsliteraten ginge, den werde. Ferner den lapidaren, nie zerstörbaren Satz: »Der
wäre er also ›kein Kämpfer‹ gewesen, — o mein Gott! Er pries Deutsche ist konservativ.« Ferner den nur von Franzosen und
den »ungeheueren Mut« Bismarcks, feierte das deutsche Heer radikalen Weltverbesserern anfechtbaren Satz: »Die Zukunft
vor Paris; der Sieg über Frankreich, die Neuschöpfung des ist nicht anders denkbar, als aus der Vergangenheit bedingt.«
Reiches, die Krönung eines deutschen Kaisers: das war zuviel Ferner den überhaupt nicht anfechtbaren, den unsterblichen
für sein Künstlerherz, es brach in eine Art von Gesang aus, und erlösenden Satz: »Die Demokratie ist in Deutschland ein
der ungefähr lautete wie: »Es strahlt der Menschheit Morgen; durchaus übersetztes Wesen. Sie existiert nur in der Presse.«
nun dämm're auf, du Göttertag!« Kurzum, er trieb es ärger Sicher, Wagner hat den Gedanken der Völkerverbrüderung ge-
als irgendein Kriegsbejaher von 1914; denn niemand von uns liebt, aber von internationalistischen Neigungen war er recht
war so groß und heftig von Natur, um es ihm an widergeisti- weit entfernt: sonst hätten die Worte »fremdartig«, »über-
ger Ungebühr gleichzutun. — Will man sich Wagners Ver- setzt«, »undeutsch« in seinem Munde nicht ein Urteil, eine
hältnis zur Politik überhaupt und zum Jahre 48 im besonde- Verurteilung, ja Haß bedeutet, — und dergleichen bedeuteten
ren bis zur Erheiterung klarmachen, so braucht man sich nur sie. Warum aber haßte er die »Demokratie«? Weil er die Po-
zu erinnern, daß er damals ganz kürzlich den ›Lohengrin‹ voll- litik selbst haßte, und weil er die Identität von Politik und De-
endet und mit dem Vorspiel, diesem romantisch gnadenvoll- mokratismus erkannte. Warum glauben, wollen, haben die mit
sten aller existierenden Musikstücke, gekrönt hatte. ›Lohen- Lust und Talent politisierenden Völker die Demokratie? Eben
grin‹ und das Jahr 48 — das sind zwei Welten, verbunden weil sie die politisierenden Völker sind! Nichts ist klarer. Der
höchstens durch eines: das nationale Pathos. Und der Zivili- Geschmack eines Volkes an der Demokratie steht in umgekehr-
sationsliterat wird von einem richtigen Instinkt geleitet, wenn tem Verhältnis zu seinem Ekel vor der Politik. Wenn Wagner
er in satirischen Gesellschaftsromanen den ›Lohengrin‹ ver- irgendwie ein Ausdruck seines Volkes, wenn er irgendworin
ulkt, indem er ihn ins Politische übersetzt. Wahrscheinlich lag deutsch war, deutsch-human, deutsch-bürgerlich im höchsten
Wagnern der schöne Baß seines Königs Heinrich im Sinne, als und reinsten Sinne, so war er es in seinem Haß auf die Politik.
er im Dresdener ›Vaterlandsverein‹ jene grundsonderbare Rede Man mag es auf die geistige Enttäuschung schieben, die er aus
hielt, worin er sich als glühender Anhänger des Königtums, seiner Teilnahme an dem Dresdener Mai-Aufstande davon-
als Verächter alles Konstitutionalismus bekannte und Deutsch-
trug, wenn er es gleich darauf abschwört, sich je wieder auf
land beschwor, die »fremdartigen, undeutschen Begriffe«, näm-
solche Dinge einzulassen, und das Gebiet der Politik für »durch-
lich den westlichen Demokratismus zum Teufel zu jagen und
aus unfruchtbar« erklärt. Aber Sätze wie »Ein politischer Mann
das einzig heilwirkende altgermanische Verhältnis zwischen
ist widerlich« (aus einem Briefe an Liszt) kommen aus tieferen,
dem absoluten König und dem freien Volk wiederherzustel-
unpersönlichen Gründen: wann hätte je ein Engländer, Fran-
len: denn im absoluten König werde der Begriff der Freiheit
zose, Italiener, ja ein Russe einen solchen Ausspruch getan?
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Er kam hier aus vagen und innigen Künstlergrübeleien und es Reminiszenzen an Friedrich und Faust, die dabei mitwirk-
-hypothesen von einer Verderbnis, einer anarchisch-doktrinä- ten. Wie aber sollte der Zivilisationsliterat nicht satirisch
ren Politisierung der Menschheit, die von der Auflösung des gestimmt werden angesichts einer Geistigkeit, die sich anti-
griechischen Staates und der Zertrümmerung der Tragödie politisch — aber national, antipolitisch — aber imperialistisch
her datiert; von einer »ganz entschieden sozialen Bewegung«, gebärdet: er, der mit geübter Leidenschaft dafürhält, daß man
die mit politischer Revolution gar nichts zu tun hatte, sondern zwar unbedingt Politiker sein müsse, beileibe aber nicht na-
im Gegenteil einen menschlichen Zustand herbeiführen werde, tional empfinden dürfe, und der von ›Imperialismus‹ nur wie
der »das Ende der Politik« bedeuten, in dem es überhaupt von verruchtestem Teufelswerk und einem Verbrechen an der
keine Politik mehr geben und in dem also »die Kunst in ihrer Menschheit redet?
Wahrheit« möglich sein werde; von einer entpolitisierten, Der gegenwärtige Krieg lehrt wieder, daß in stürmisch-auf-
menschlichen und künstlerischen Lebens- und Geistesform also, gewühlten Zeiten jeder das Seine findet. Es gibt keine Welt-
die so recht eine deutsche und allem Deutschen günstige Le- anschauung, keine Ideologie, keine Glaubenslehre, auch keine
bens- und Geistesform sein werde, denn: »Große Politiker, so Schrulle und Marotte, die sich nicht durch den Krieg bestätigt
scheint es, werden wir Deutsche nie sein; aber vielleicht etwas und gerechtfertigt fände, die nicht freudig überzeugt wäre, daß
viel Größeres, wenn wir unsere Anlagen richtig ermessen . . .« gerade ihre Stunde und Zukunft nun angebrochen sei. Wagner
Von einer Entpolitisierung und Vermenschlichung der Erde, fand in der sogenannten Deutschen Revolution einiges von
von ihrer Deutschwerdung in des Wortes humanster und wi- sich selbst; er war jung und sehnsüchtig genug, ihr die Ver-
derpolitischster Bedeutung träumte dieser aus Deutschtum wirklichung seiner Kulturträume vom »Ende der Politik« und
und Künstlertum gemischte Geist, wenn er von jener Sehn- vom Anbruch der Menschlichkeit zuzutrauen. Sie hat ihn aufs
sucht sprach, die »nach dem einzig Wahren — dem Menschen« tiefste enttäuscht, er hat seine Teilnahme daran als »dumme
verlange: sehr im Gegensatz zum Zivilisationsliteraten, wel- Streiche« verleugnet, hat ihrem Todfeinde, dem listig-gewalt-
cher vielmehr von der ›Vermenschlichung‹ Deutschlands auf tätigen Reichsgründer zugejauchzt, obgleich Bismarcks Lösung
dem Wege seiner demokratischen Politisierung ›träumt‹ . . . der deutschen Frage nichts weniger als »das Ende der Politik«,
Aber ich sagte ja schon, daß der Zivilisationsliterat wohl weiß, sondern erst recht ihren Anfang für Deutschland bedeutete;
warum er Wagner satirisiert: er weiß es von Instinkt, denn und wenn auch jene »dummen Streiche« sehr ernste und schwere
gelesen hat er ihn nicht, und von seiner Musik versteht er Folgen für Wagners äußeres Leben nach sich zogen, so wäre
nicht einen Ton. Was ihm aber neu und dabei Wasser auf seine es doch ganz und gar absurd, zu behaupten, der politische Tru-
Mühle sein dürfte, ist, daß Wagner Imperialist war, — auch das bel von 48 sei ein inneres Erlebnis ersten Ranges für ihn, das
noch, es ist nachzuweisen! Schon 1848, in eben jener grund- große geistige Erlebnis seiner selbst gewesen. Dieses fand er
sonderbaren Rede, die er dem demokratischen ›Vaterlands- beträchtlich später, und es war so unpolitisch wie möglich, es
verein‹ in Dresden hielt, forderte er die Begründung deutscher war ein recht deutsches Erlebnis, moralistisch-metaphysischer
Kolonien. »Wir wollen es besser machen«, sagte er, »als die Art, —es kam zu ihm in die Einsamkeit seines Schweizer Exils,
Spanier, denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus, und es war nur ein Buch: es war die Philosophie Arthur Scho-
anders als die Engländer, denen sie ein Krämerkasten wurde. penhauers, worin er die geistige Erlösung des eigenen Wesens,
Wir wollen es deutsch und herrlich machen!« Die Kolonial- die wahre Heimat seiner Seele erkannte.
idee hat nie aufgehört, ih