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© Mohanad Yaqubi

Bawabet Yafa
Jaffa Gate

Riwaq, Khaldun Bshara


2016, Multimedia-Installation, Arabisch, Englisch. Produk tions- „Sonntag, 18. Dezember 1917: Mit großem militärischem Zeremo-
firmen Riwaq (Ramallah, Palästina), Idioms Film (Ramallah, Paläs- niell zieht Feldmarschall Allenby in Jerusalem ein und markiert
tina). Recherche Khaldun Bshara. Regie Video „On That Day“ damit den offiziellen Sieg und die Eroberung der Stadt... Ich erin-
Mohanad Yaqubi. 3D-Modell Yousef Taha. nere mich immer noch an diesen großen Tag als er durch das Jaffa-
tor kam.“ Wasif Jawhariyyeh
Khaldun Bshara, geboren 1972 in Palästina, ist Architekt, Restau-
rator und Anthropologe und lebt in Ramallah. Er ist der Direktor Die Multimedia-Installation Bawabet Yafa befragt die Konzepte
des Riwaq Centre in Ramallah, wo er seit 1994 arbeitet. Bshara hat Erbe und Gedächtnis im palästinensischen Kontext am Beispiel
Architektur- und Restaurationsprojekte durchgeführt und ist Autor des Jaffators. Mithilfe früher palästinensischer Fotografie und
zahlreicher Bücher und Artikel. Seine Arbeit untersucht die Bezie- der gelebten Erinnerung Wasif Jawhariyyehs erzählt sie eine al-
hung zwischen Raum und Identitätsbildung. Er interessiert sich ternative Geschichte der Beziehung zwischen materieller Ver-
vor allem für Randgebiete, Peripherien und begrenzte Räume, die gangenheit und kollektiven Vorstellungen von Nation. Sie denkt
identitätsstiftende Erzählungen und Raumtheorien herausfordern. zukünftige Generationen mit und zeigt, dass die Bauten, die uns
umgeben, obwohl sie nicht als Erbe anerkannt sind, Teil der räum-
Mohanad Yaqubi, geboren 1981 in Kuwait, unterrichtet neben seiner lichen Diskurse waren, die Wissensproduktion über vergangene
Arbeit als Filmemacher und Produzent Filmwissenschaften an der Ereignisse (in der Zukunft) beeinflussten. Bawabet Yafa lässt uns
International Art Academy in Palästina. Er ist Mitbegründer der Pro- spekulieren, was passiert wäre, „hätte Jawhariyyeh Ashbee* eine
duktionsfirma Idioms Film in Ramallah und des Kollektivs Subversive Abreibung verpasst.“
Film, das sich mit militanter Filmpraxis beschäftigt. Er ist Regisseur *Charles Robert Ashbee, städtebaulicher Berater des britischen
und Produzent sowohl dokumentarischer als auch fiktionaler Kurz- Mandatsgebiets von Palästina, war verantwortlich für den Abriss
filme. Seine Filme wurden auf internationalen Festivals gezeigt. des Uhrenturms am Jaffator. Wasif Jawhariyyeh war sein Sekretär.

Kontakt: http://www.riwaq.org http://www.idiomsfilm.com

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© Sandra Schäfer, VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Constructed Futures: Haret Hreik

Sandra Schäfer
2017, 4-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 27 Minuten, Arabisch, Eng- Das schiitisch dominierte Viertel Haret Hreik in Beirut beherbergt
lisch. Produktion Sandra Schäfer, Ekaterina Degot. Produktionsfir- nach außen unsichtbar das Hauptquartier der Hisbollah-Partei.
men mazefilm (Berlin, Deutschland), Akademie der Künste der Welt 2006 bombardierte die israelische Armee das Viertel, die Hisbollah
(Köln, Deutschland), Urban Subjects (Wien, Österreich). Kamera baute es in der Folge rasch wieder auf. Dieses Wiederaufbauprojekt
Sandra Schäfer. Ton Sandra Boutros. Sound Design Martin Ehlers- ist Teil eines kriegerischen Konflikts und geopolitischen Gefüges,
Falkenberg. Schnitt Sandra Schäfer. Production Manager Caroline in dem Architektur an der Herstellung von Raum, Landschaft und
Kirberg. Mit Ibtissam Malak, Hassan el-Jeshi, Rahif Fayad. Erinnerung beteiligt ist.
Die Videoinstallation zeigt Büros, in denen der Wiederaufbau ge-
Kontakt: http://www.mazefilm.de/ plant und entworfen wurde, eine der wiederaufgebauten Woh-
nungen selbst sowie eine Mehrzweckhalle, in der regelmäßig die
Sympathisanten der Hisbollah zusammenkommen, um Videoanspra-
chen des Parteiführers Hassan Nasrallah beizuwohnen.
Was bedeutet es, wenn Neubauten sich ohne Risse und Brüche in
die bestehende städtische Struktur und in individuelle Erinnerun-
gen einfügen sollen? Wie wird die Interpretation des Widerstands
durch die Hisbollah zum beherrschenden Projekt, das sich räum-
lich manifestiert? Was bedeutet das Bauen, das keinen Platz für
Ruinen und Gedenken lässt, weil es in einer Logik kurzer Intervalle
von Kriegslosigkeit denkt?

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Sandra Schäfer, geboren 1970 in Altenkirchen, Deutschland, ist
Künstlerin und lebt in Berlin. In ihrer künstlerischen Arbeit un-
tersucht sie die Produktion von städtischen und transregionalen
Räumen, Geschichte und Bildpolitiken. Häufig entstehen ihre Ar-
beiten auf Grund von längeren Recherchen, in denen sie sich mit
Prozessen des Wiederlesens und Neubewertens von Dokumenten,
Bildern und räumlichen Narrativen beschäftigt. Ihre Arbeiten wer-
den international in Ausstellungen gezeigt. Seit 2010 ist sie Mit-
glied des feministischen Filmverleihs Cinenova in London.

Filme
1996: Doch bin ich wirklich (Videoinstallation, 38 Min.). 1997: Eng-
land–Deutschland (Videoinstallation, 171 Min.). 1998: Mensch, Tan-
ja! (Videoinstallation, 30 Min.). 1999: Kontaktfreudig, offen und
gewandt im Umgang (Videoinstallation, 7 Min.). 2000: Die unsicht-
bare Dienstleistung (Videoinstallation, 4 Min.). 2001: A Country’s
New Dawn (5 Min.). 2004: The Making of a Demonstration (10 Min.).
2006: Traversée de la Mangrove (38 Min.). 2007: Passing the Rain-
bow (71 Min.). 2008: To Act in History (Videoinstallation, 21 Min.).
2011: On the Set of 1978ff (Videoinstallation, 58 Min.). 2013: Notes
on Pasolini’s Form of a City. Sana’a, Sabaudia, Rome (Videoinstal-
lation, 25 Min.). 2014: Başakşehir: An Urban Model (Videoinstalla-
tion). 2016: Mleeta (Videoinstallation, 12 Min., Forum Expanded
2016). 2017: Constructed Futures: Haret Hreik.

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© Take to the Sea

Hawamesh Aan Al-Hegra 0!p`lL:eso


Footnotes on Migration

Take to the Sea


2016, 2-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 10 Minuten, Arabisch. Pro- Im Jahr 2008 nahm eine Gruppe aus Forscher*innen, Schrift-
duktionsfirma Take to the Sea (Kairo, Ägypten). steller*innen und Filmemacher*innen die Arbeit an einem Do-
kumentarfilm auf. Der Film sollte die Migration über den Seeweg
Kontakt: gawad.md@gmail.com von der Nordküste Ägyptens nach Europa beschreiben. Acht Jah-
re später, nun angesichts erbitterter und verzweifelter globaler
Migrationsbewegungen, wenden sich zwei Mitglieder von Take
to the Sea, dem Kollektiv hinter der Dokumentation, den damals
entstandenen Videoaufnahmen erneut zu. Sie nehmen einige der
fragilen Momente in den Blick, die in Narrativen der Migration und
im dokumentarischen Kino oft keinen Platz finden.
Hawamesh Aan Al-Hegra möchte den Raum zwischen Filme-
macher*in und deren Subjekt untersuchen, diese Distanz durch-
brechen beziehungsweise ganz in sich zusammenfallen lassen.
Die Installation besteht aus zwei Videos: Auf der einen Seite die
Projektion einer bis zur Verpixelung vergrößerten Sonne, auf der
anderen eine Zusammenstellung von Videofragmenten. Diese neue
Konfiguration entzieht die Arbeit ihren Anfängen als klassischer
Dokumentarfilm und zoomt auf der Suche nach möglichen neuen
Bedeutungen in die Materialität der Bilder hinein, in Pixel und
Erinnerungen.

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Take to the Sea wurde Anfang 2008 als offenes Forschungsprojekt
gegründet, das sich mit irregulärer Migration von Ägypten über das
Mittelmehr nach Italien beschäftigte. Seitdem sind verschiedene
Köpfe und Motivationen dazu gestoßen und das Kollektiv hat sich
wiederholt verändert. Ihre bild-, sound- und textbasierten Arbeiten
wurden auf Filmfestivals und in Kunstausstellungen gezeigt und
in arabisch- und englischsprachigen Publikationen veröffentlicht.
Inzwischen haben Take to the Sea einen Gezeitenwechsel vollzo-
gen: Sie untersuchen nun ihre eigenen Vorstellungen von Migra-
tion, Vertreibung, Grenzen und Handlungsmacht anstatt andere
Subjekte zu untersuchen.

Hawamesh Aan Al-Hegra wurde von zwei Mitgliedern des Kollek-


tivs realisiert:

Lina Attalah ist Journalistin und Autorin und lebt in Kairo.

Mohamed A. Gawad ist Cutter und Filmemacher und lebt in Kairo.


Er ist Mitbegründer der Cimatheque und Vorstandsmitglied von
CIC – Contemporary Image Collective.

Filme
2011: Not Yet Anywhere (Soundinstallation), Fragments of a Suspended
Practice (Installation). 2013: I Swear I Saw This (Videoinstallation,
loop), A Roomful of Lost Memory (Installation), The answer is that
we all depend heavily on wires, but we hardly ever think about them.
(Videoinstallation). 2016: Hawamesh Aan Al-Hegra / Footnotes
on Migration.

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© Oliver Husain

Isla Santa Maria 3D

Oliver Husain
2016, 3D, Farbe, 18 Minuten, Englisch. Produktion Oliver Husain. Die Isla Santa Maria ist – wenn man dem Mythos Glauben schenkt –
Produktionsfirma Oliver Husain (Toronto, Kanada). In Auftrag eine Insel, die aus dem Wrack des Nachbaus eines der Schiffe
gegeben von Images Festival and Gallery TPW, Toronto. Regie, Christopher Columbus‘ entstand, der für die World’s Columbian
Buch Oliver Husain. Kamera Iris Ng. Production Design Oliver Exposition 1893 in Chicago angefertigt wurde. Ausgehend von
Husain. Kostüm Stuart Farndell. Maske Buzz Buzz. Ton Michelle diesem Mythos verknüpft Isla Santa Maria 3D zwei historische
Irving. Musik Michelle Irving. Sound Design Michelle Irving. Ereignisse, die die Art, wie wir die Welt sehen, neu ordneten:
Schnitt Oliver Husain. Mit Liz Peterson (Dr. Hologramm), Naishi Columbus‘ brutales koloniales Vermächtnis und die Entwicklung
Wang (Konquistador). perspektivischer Zeichnung und stereoskopischer Bilder. Die Fi-
guren, die den Film bevölkern – ein tanzender Konquistador, ein
Kontakt: oliver@husain.de als schwebendes Hologramm erscheinendes Orakel, eine Grup-
pe Repräsentant*innen eines fremden Planeten und eine Grup-
pe viktorianischer Müßiggänger*innen am Strand – sind aus der
Zeit gerissen, hinein in eine non-lineare Erzählung, in der sich
Geschichte, Wahrheit und Fantasie zu einer Neuerfindung der Zu-
kunft vermengen.

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Eine Karte der Welt ohne Utopia: schließt Dr. Hologramm, dass die Gruppe versammelt sei, weil sich
Oliver Husains Isla Santa Maria 3D ihre Welt in der Krise befinde, dass sie an „Sorgen, Verzweiflung,
Desillusionierung und Enttäuschung“ leiden, ein Zustand, der al-
Als Filmemacher und Installationskünstler (das Wort multidis- len bekannt sein dürfte, die Erfahrung mit dem Leben im 21. Jahr-
ziplinär verblasst im Vergleich) ist Oliver Husain ein vollendeter hundert gesammelt haben.
Geschichtenerzähler und visueller Denker. Husain studierte in
Deutschland Film und Medienkunst, bevor er 2006 nach Toronto Mein Titel nimmt Anleihe an Oscar Wildes Essay The Soul of Man
zog. Obwohl ganz verschieden in der Ausführung, teilen seine vie- Under Socialism (Der Sozialismus und die Seele des Menschen),
len Projekte das Interesse an Geschichte und Geographie und sind den Dr. Hologramm in Husains Film zitiert. Wilde schreibt: „Eine
in ihren erfindungsreich gebauten filmischen Untersuchungen des Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient
scheinbar Profanen ineinander gebaut wie verschachtelte Puppen. keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit
Seine Arbeit könnte als skulpturales Filmschaffen oder expanded ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält
cinema beschrieben werden. Alle Projekte Husains zeichnen sich sie Umschau nach einem bessern Land und richtet die Segel dahin.
durch außergewöhnlichen Esprit und Performativität aus. Tatsäch- Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“ Wilde beschreibt
lich macht Husain schon seit langem auf die eine oder andere Weise die stetig wachsenden (und oft utopischen) Träume der imperia-
dreidimensionale Filme; an verschiedenen Punkten haben sich in len Expansion mit einer – besonders in 19. Jahrhundert verbrei-
seinem Werk Leinwände bewegt, wurden Hüte aufgesetzt und hat teten – Mischung aus Geringschätzung und Möglichkeit. In einer
das Publikum als Projektionsfläche gedient. Der Künstler spielt mit gewaltsamen Unkenntnis von indigenen Kulturen wurden utopi-
Tiefe und Raum in Werken wie Rushes for Five Hats (2007), bei dem sche Projekte häufig auf dem Gebiet einer Kolonie gedacht, die
Performer*innen /Zuschauer*innen sich in der vordersten Sitzrei- als terra nullius für die Neuerfindung eines Europas dienen sollte,
he große Hüte aufsetzen und so die Seherfahrung für die ande- das ständig im Verfall gewähnt wurde. Dass Utopie auf die Kos-
ren blockieren und verzerren. In Purfled Promises (2009) bewegt ten von jemandem oder etwas anderem geht, bleibt Husain nicht
sich die Leinwand selber auf den*die Zuschauer*in zu, während verborgen. Wie von ihm im Film dargelegt, sind die historischen
sich die Kamera in sirupartigen Bewegungen samtenen Vorhängen Narrative von Kolonialismus und stereoskopischer Fotografie (der
in Meeresfarben nähert und eine Serie von Enthüllungen zeigt: technische Vorläufer des 3D-Films) miteinander verknüpft und sich
ein Martini oder bunte Ballons zum Beispiel. Isla Santa Maria 3D gegenseitig verstärkend; die stereoskopischen Bilder dienten des
(2016) ist der erste stereoskopische Film (umgangssprachlich als Erlebens anderer Länder und der Kommunikation von kolonialem
3D-Film bekannt) des Künstlers, der von der Galerie TPW, Images Bestreben (utopischem und anderweitigem). Husain nutzt diese
Festival und Western Front in Auftrag gegeben und in der Galerie Trope der Replikation (des Schiffs, des Bildes, der kolonialen Sied-
TPW in Toronto uraufgeführt wurde. In Isla Santa Maria 3D sind lung) als ein strukturierendes Element des Films. Dennoch schreibt
die Betrachtungspunkte fixiert, begrenzt durch die Technologie der Tonfall nichts vor; die Galerie wird zum Raum der Möglichkeit,
der 3D-Brillen. Außer dem Film bewegt sich nichts in der Galerie. nicht der Bildung.

Der Film ist eine Geschichte von Bewegungs- und Projektionstech- Husain bemerkt, dass 3D-Film sowie die ihm vorangegangenen Ste-
nologien. Zentraler Punkt ist die Reproduktion der Santa Maria, des reoskope einen einzigen idealen Standpunkt haben, von dem alle
Flaggschiffs von Columbus‘ erster Atlantiküberquerung. Columbus’ anderen divergieren und den er als König*innen-Standpunkt be-
Santa Maria strandete am Weihnachtstag 1492 vor Haitis Küste auf zeichnet. Wie wir aus der Kunstgeschichte wissen, korrespondiert
einer Sandbank und sank am Tag darauf. 400 Jahre später, 1893, der Aufstieg der Tradition der fixen Betrachterperspektive in der
wurde für die Weltausstellung von Chicago eine Nachbildung der europäischen Kunst mit einem schnell wachsenden Wunsch, neu
Santa Maria erstellt. Diese sank zwar nicht, wurde aber nach der erobertes Land zu „sehen“ – denn die Ansicht war privilegierter
Weltausstellung jahrelang im Chicago-Becken der Verrottung preis- modus operandi von Inbesitznahme und Eigentümerschaft. Nach
gegeben. In der Eingangsszene des Films bewegt sich ein Konquis- der fixen Betrachterperspektive gestaltete Abbildungen situieren
tador langsam am Ufer eines Gewässers, die Choreographie an der den*die Beobachter*in/Zuschauer*in außerhalb des Bildes und
Bewegung eines Teleskops orientiert. Weiße Stangen in den Hän- betonen die Objektivität und Realität des Abgebildeten. Später
den der tanzenden Gestalt orientieren sich ständig neu, um sowohl stellte sich die Fotografie in den Dienst dieses Bildes der Reali-
den Körper des Konquistadors wie die ihn umgebende Geographie tät, setzt die fixe Betrachterperspektive fort und wiederholt die
im Raum festzulegen. Diese sich bewegende Geometrie markiert Vorstellung für ein zentrales, rationales Subjekt, dem diese Bilder
auch das Verhältnis zwischen Leinwand und Zuschauer*in, ein Um- dargeboten werden.
stand, der ansonsten nicht immer sichtbar wird. Später im Film er-
scheint unser Konquistador wieder, nun mit Kreisen, die Leonardos In seinem epischen Roman Gegen den Tag (eine von Husains vielen
Vermessung des Menschen in Erinnerung rufen. Die Vielzahl der Quellen) beschreibt Thomas Pynchon eine fantastische Landkar-
Kreise wiederholt die Form eines Teleskops, der*die Zuschauer*in te folgendermaßen:
an der Spitze, der Tänzer am Steuer (die Schiffsmetaphern sind „Das Problem liegt in der Projektion. Der Urheber des Itinerars
zahlreich). Der narrative Höhepunkt erfolgt in Form einer von einer [der Karte] hat sich die Erde nicht nur als dreidimensionale Kugel,
gewissen Dr. Hologramm (das projizierte Bild einer Frau in viktoria- sondern, darüber hinausgehend, als imaginäre Fläche vorgestellt,
nischen Gewändern) gehaltenen Rede vor einer Gruppe von wild und die optischen Vorrichtungen für deren irgendwann erfolgen-
kostümierten „Repräsentant*innen“. Die Szene wurde im Keller der de Projektion auf die zweidimensionale Seite erwiesen sich in der
Art Gallery of Ontario gedreht, inmitten der Thompson-Sammlung Tat als sehr vertrackt.“
von Schiffsmodellen, welche, neben anderen berühmten Schiffen,
einige Modelle enthält, die von Gefangenen des Napoleonischen Die von Pynchon angeführte Äquivalenz zwischen der bekannten
Kriegs gemacht wurden. Zwischen diesen aufgeladenen Miniaturen Dreidimensionalität unserer Erde und der einer imaginären Fläche

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passt auch in Bezug auf Husains Interesse an der Weltausstellung und lassen Projektionstechnologien aufeinanderprallen. Die sich
und Technologien des Sehens und ihre Verbindung zur Kolonial- bewegenden Dias sind eingebettet in Rahmungen, die häufig zur
geschichte. Weltausstellungen waren ergiebige Orte der Projektion Dekoration von Carte-de-Visite-Fotografien und stereographischen
von kolonialen Ambitionen und globalem Kapital, in denen Bilder Postkarten benutzt wurden. In einer anderen Szene sehen wir die
und dreidimensionale Modelle als Währung für beide dienten. Wie Darsteller*innen im Jahr 1893: ein Picknick am Strand, und da-
uns Dr. Hologramm erinnert: „Die Nachbildung der Santa Maria mit man nicht zu denken beginnt, es handle sich um ein weiteres
wurde zur Feier des Imperialismus erbaut, ihr Ende als ein wei- Replikat, werden ihre historischen Gewänder von Anachronismen
cher Sitzplatz für Vögel kann als Umkehrung ihrer ursprünglichen unterbrochen: wunderliche weiße Augenbrauen, ein Plastikkegel
Intention gesehen werden.“ Fotografie sowie Weltausstellungen um den Hals eines Hundes. Eine Stimme liest aus der Columbian
dokumentierten und zelebrierten imperiale Expansion. Teile der Ode, einem von Harriet Monroe geschriebenen Lied, das vom Komi-
Weltausstellung von Chicago waren den neuesten fotografischen tee der Weltausstellung 1893 in Auftrag gegeben wurde. Während
Technologien und „exotischen“ Nachbildungen weit entfernter Län- verschiedene Figuren eine Auswahl von Betrachtungsgeräten zur
der gewidmet – „Klein-Ägypten“ war nur eines der Bekannteren. Hand nehmen, verbinden sich die Stimmen der Gruppe am Strand
Fotografie, Ausstellung und Replikation waren und sind noch ver- zu einem Chor, um die Ode zu singen und einen kleinen Teil der ge-
fangen im Dienst von Geschichten des Imperialismus und techno- schäftigen Geräuschkulisse der Messe zu rekonstruieren.
logischem Determinismus.
In Sergej Eisensteins Essay von 1947 Über den Raumfilm, seinem
Im Gespräch beschrieb Husain das Medium des 3D-Films als etwas, letzten Filmessay vor seinem Tod, stellte er Mutmaßungen über
in dem das Scheitern immer schon angelegt ist, sprich, ein unbän- die Zukunft des Kinos an, kartographiert immersive Techniken in
dig hoffnungsvolles Medium. In dieser Hinsicht schließt Husain der Geschichte des Theaters durch die Erfindung von Raumfilm
sich einer langen Tradition von Avantgarde-Künstler*innen an, (eine frühe Iteration von 3D-Film). Er vergleicht die von ihm so
darunter Marcel Duchamp und Robert Breer, deren Interesse an genannten zwei „Partner“ der Performance – Schauspieler*innen
den philosophischen Spielzeugen des 19. Jahrhunderts über die (Produzent*innen) und Zuschauer*innen (Konsument*innen) – mit
Versuchsanstalt und das Messegelände hinausweist und sie in die den sich überkreuzenden Räumen Fiktion und Realität. Die Über-
Räume von Galerien überführt. Der Begriff „philosophisches Spiel- brückung der Erfahrung zwischen Schauspieler*in und Zuschauer*in
zeug“ bezieht sich im Allgemeinen auf eine Gruppe von Objekten wird zum Mittel der Vereinigung von Fiktion und Realität. Eisen-
und Vorrichtungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts populär wur- stein führt eine lange Liste von Techniken auf, mit denen diese
den. Das vielleicht berühmteste ist eine Erfindung zum stereosko- Vereinigung zu erreichen versucht wurde und verortet ihren Höhe-
pischen Zeichnen und Sehen von Sir Charles Wheatstone, die später punkt in der sowjetischen Erfindung des Raumfilms. Er beschreibt
von Sir Oliver Wendell Holmes bekannt gemacht wurde. Nach den diese Theatergeschichte als eine, in der „die ‚tatsächliche Realität’
gleichen optischen Prinzipien wie 3D-Kino funktionierend, wurden ‚physisch’ in erfundene Szenen und Situationen stürzt.“ Husains
diese Geräte als Objekte der Freizeitunterhaltung sehr geschätzt eigenes Werk folgt einem ähnlichen Verlauf. Wie oben angeführt,
und so zum Ort intensiver wissenschaftlicher und philosophischer werden in seinen Filmen häufig Techniken der physischen und di-
Spekulation. Wie Jonathan Crary darlegte, bildeten diese Geräte gitalen Manipulationen mit demselben Ziel der Immersion und Du-
auch den Fokus eines epistemologischen Dramas, das sich über plikation erforscht. Hierin liegt der Unterschied zwischen diesem
weite Teile des 19. Jahrhunderts abspielte, als frühere Theorien Film und vielen von Husains früheren Werken. In Isla Santa Maria
von Subjektivität umgestürzt wurden. Diese Geräte, ähnlich wie 3D ist das Bild geschlossener und die Technologie umfassend. Wie
später das 3D-Kino, legten die inneren Vorgänge des binokularen ist also diese neue Oberfläche, die Glätte von Husains kinemato-
Sehens offen und verschafften der Idee Form, dass die menschli- graphischer Komposition zu beurteilen? Judith Halberstam hat
che Erfahrung der äußeren Realität das Resultat einer Reihe von Scheitern als „Grammatik der Möglichkeit“ beschrieben und zeigt
physiologischen Vorgängen ist. Wie Marcel Duchamp es später aus- damit den Wert der Erforschung der radikalen Möglichkeiten an, die
drückte: nun „konnte man das Sehen anschauen“. den Narrativen von technologischem oder persönlichem Scheitern
innewohnen. Ähnlich fragen Husains Repräsentant*innen in dem
Duchamp und Breer sowie der sowjetische Avantgarde-Filmemacher Raum mit den Schiffswracks: „Wie sollen wir diese Schiffswracks
Sergej Eisenstein experimentierten alle mit den Möglichkeiten des bewohnen, diese Unternehmungen, mit denen wir zurückgelas-
3D-Kinos. Zwei Kunstwerke Duchamps (Rotary Demisphere und Discs sen werden... seht ihr den Funken des Potentials in dieser neuen
Bearing Spirals) dienten als experimentelle Unternehmung für das Form der Nachbildung?“ Wie Eisensein (und vielleicht Husain) es
Interesse des Künstlers am 3D-Film. Lange als Medium mit einem wollten, hat das Eindringen der Realität in erfundene Geschichten
Brecht’schen politischen Potential gesehen (obwohl wir eher sein gewaltiges Potential.
kommerzielles Scheitern kennen), ist das 3D-Kino das philosophi-
sche Spielzeug des 20. Jahrhunderts und wurde gerade erst durch Durch Husains wilde Meditation über die Geschichte der Technologie
die Abenteuer der virtuellen und erweiterten Realität abgelöst. können wir selber unsere Komplizenschaft in der Konstruktion von
Ich würde Husain aber keinen Gefallen erweisen, wenn ich seine Ar- Blick und Macht prüfen. Wie der 3D-Film selbst, erforscht Husains
beit mit 3D-Film fein säuberlich in diese kunsthistorische Entwick- Narration Scheitern und Möglichkeit, Zukunft und Geschichte,
lungsschiene einsortieren würde. Anders als Breers und Duchamps basierend auf der Form der Nachbildung als treibende Kraft, die
formale Abstraktionen oder Eisensteins offenkundig präskriptives nicht nur in der Form des Schiffs gefunden werden kann, son-
politisches Projekt, nutzt Husain die Technik, um eine Form von dern auch in den hunderten von stereoskopischen Bildern, die im
narrativer Abstraktion zu schaffen. Die Narration von Isla Santa 19. Jahrhundert zirkulierten, und die weit verstreuten Rekonstruk-
Maria 3D ist collagenartig in der Anleihe von Worten sowie in der tionen, die in Chicagos Vergnügungspark „White City“ ihr Zuhause
Replikation von Bildern. Mit dem unverwechselbaren Geräusch fanden. Das Replikat steht für Erinnerung und Vorstellungskraft
eines Diaprojektors drehen sich Dias durch die Hologramm-Kugel gleichermaßen, eine Dichotomie, die auf wunderbare Weise im

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Gegenstand von Film und Fotografie reproduziert wird, Medien,
die mit ihrer eigenen Zeitlichkeit immer in einem Spannungsfeld
stehen. In vollendeter Zukunft und einfacher Vergangenheit spe-
kuliert Husains Film über die Zukunft und Vergangenheit mit glei-
cher Hingabe und verbindet eine fantastische Erzählung mit den
politischen Implikationen seines Mediums.

Emily Doucet: „A Map of the World Without Utopia: Oliver Husain’s


Isla Santa Maria 3D“, in: Border Crossings, Volume 35, Nr. 4, Issue
No. 140, 2016.
Übersetzung von Annette Lingg

Oliver Husain lebt und arbeitet als Künstler und Filmemacher in


Toronto, Kanada. Seine Filme und Videos waren international in
Einzel- und Gruppenausstellungen sowie auf zahlreichen interna-
tionalen Filmfestivals und in Screenings zu sehen.

Filme (Auswahl)
1999: Ron & Leo (13 Min.). 2002: Q (16 Min.). 2005: Swivel (15 Min.),
Shrivel (8 Min.), Squiggle (22 Min.). 2007: Rushes for Five Hats (13
Min.). 2008: Mount Shasta (8 Min.). 2009: Purfled Promises (8 Min.).
2012: Item Number (15 Min.). 2013: Parade (11 Min.). 2016: Isla
Santa Maria 3D.

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© Merle Kröger, Izadora Nistor, Philip Scheffner

Izadora (listening to versions of herself)

Merle Kröger, Izadora Nistor, Philip Scheffner


2017, 1-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 8 Minuten, ohne Dialog. Pro- Ein sonniger Nachmittag. Dieser Augenblick gehört ganz allein
duktion Merle Kröger. Produktionsfirma pong Film GmbH (Berlin, Izadora; er explodiert in Tausende von Sekunden oder verlängert
Deutschland). Regie, Buch, Kamera , Schnitt Merle Kröger, Izadora einen Sekundenbruchteil bis in die Unendlichkeit. In diesem Mo-
Nistor, Philip Scheffner. ment ist alles möglich. Ein von ihr selbst geschriebenes Drehbuch
oder von einem anderen Selbst, für sie selbst. Ein Mädchen, das
Filme eine Frau wird, eine kraftvolle weibliche Erscheinung, die immer
Merle Kröger: 2010: Der Tag des Spatzen / Day of the Sparrow (100 schon gelebt hat und ewig leben wird. Fortschreitend, zurückbli-
Min., Forum 2010). 2012: Revision (106 Min., Forum 2012). 2016: ckend. Izadora, Versionen ihres Selbsts lauschend.
And-Ek Ghes... (93 Min., Forum 2016), Havarie (93 Min., Forum 2016).
2017: Izadora (listening to versions of herself). Merle Kröger, geboren 1967 in Deutschland, ist Filmemacherin,
Autorin von vier Romanen, Co-Direktorin der Professional Media
Izadora Nistor: 2012: Revision (106 Min., Forum 2012). 2016: And-Ek Master Class in Halle (Saale) und unterrichtet Projektentwicklung.
Ghes... (93 Min., Forum 2016). 2017: Izadora (listening to versions
of herself). Izadora Nistor, geboren 2002 in Frankreich, ist Schülerin einer Will-
kommensklasse in Berlin. Mit ihrer Familie hat sie an den Filmen
Philip Scheffner: 2003: A/C (42 Min.). 2007: The Halfmoon Files (87 Revision und And-Ek Ghes... mitgewirkt. Seit 2014 besitzt sie eine
Min., Forum 2007). 2010: Der Tag des Spatzen / Day of the Sparrow eigene Kamera und hat seitdem zahlreiche Videos und Fotos erstellt.
(100 Min., Forum 2010). 2012: Revision (106 Min., Forum 2012).
2016: And-Ek Ghes... (93 Min., Forum 2016), Havarie (93 Min., Philip Scheffner, geboren 1966 in Homburg an der Saar, lebt und
Forum 2016). 2017: Izadora (listening to versions of herself). arbeitet als Künstler und Filmemacher in Berlin. Mit Merle Kröger,
Alex Gerbaulet und Caroline Kirberg betreibt er die Produktions-
Kontakt: http://www.pong-berlin.de plattform pong.

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© Noam Enbar

Pana Ha’Geshem
The Rain is Gone

Noam Enbar
2016, 1-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 17 Minuten, Hebräisch. Holot ist ein Internierungslager in der israelischen Wüste nahe der
Produktion Avi Mograbi, Serge Lalou. Produktionsfirma Les Films ägyptischen Grenze. Dorthin werden Asylsuchende aus Eritrea und
d’Ici (Paris, Frankreich). Kamera Philippe Bellaiche. Ton Tully Chen. dem Sudan gebracht, die nicht in ihre Heimatländer abgeschoben
Musik Noam Enbar. Schnitt Noam Enbar. Mit Awet Asheber, Dawit werden können, denen die israelische Politik aber jegliche Perspek-
Tsegai, Nouraldin Musa, Liat Boltsman, Liat Shabtai, Goytom Brahne, tive in Israel verwehrt. Theaterregisseur Chen Alon und Filmema-
Yonatan Yohanns Estifanos, Ybrah Menan, Liat Shabtai, Shaharit cher Avi Mograbi beschließen, mit diesen in prekärsten Umständen
Yerushalmi. lebenden Menschen einen Theaterworkshop zu initiieren.
Noam Enbar entwickelte die strukturiert-improvisierte Komposi-
tion Pana Ha‘Geshem, die unter Mitwirkung der Teilnehmer*innen
Noam Enbar, geboren 1978 in Tel-Aviv, Israel, ist ein Sänger, Kom- performt wurde. Die Komposition basiert auf einem berühmten,
ponist und Performer. Er komponiert Musik für Filme, Theater und mit der Kibbuzbewegung assoziierten, israelischen Bauernlied,
Tanzstücke. Die großformatige Audio-Video-Performance The De- das in einen expressiven polyphonen Gesang umgewandelt wurde.
tails, eine Kollaboration mit Avi Mograbi, war erstmals als Teil des Die 1-Kanal-Videoinstallation entstand im Zusammenhang mit dem
Berlinale Forum Expanded 2012 zu sehen. 2015 gründete er sein Dokumentarfilm Between Fences (2016) von Avi Mograbi und Chen
eigenes Ensemble, The Great Gehenna Choir, das seine Komposi- Alon, der 2016 im Berlinale Forum präsentiert wurde.
tionen spielt. Seit 2012 unterrichtet er Komposition und Chor an
der Musrara School of Art, Jerusalem.

Filme
2016: Pana Ha’Geshem / The Rain is Gone.

Kontakt: http://www.lesfilmsdici.fr

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© Joe Namy

Purple, Bodies in Translation – Part II of


A Yellow Memory from the Yellow Age

Joe Namy Die Installation basiert auf zwei Texten, in denen der Vorgang
des Übersetzens von Krieg und Widerstand diskutiert wird. Sie
2017, 1-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 15 Minuten, Englisch, eröffnet den Zuschauer*innen übermittelt durch Zeugenberich-
Arabisch. te einen immersiven Erfahrungs- und Reflexionsraum zur Durch-
dringung der Komplexität des Krieges in Syrien und im Irak. Das
Kontakt: http://www.olivetones.com Bild zeigt nur eine Farbe: Purpur, projiziert auf eine reflektierende
Leinwand, so dass die Spiegelung des Publikums mit dem unterti-
telten Text verschmilzt.
Lina Mounzers Aufsatz War in Translation: Giving Voice to the Wo-
men of Syria verwebt die Zeugenaussagen, die sie übersetzt, mit
ihren eigenen Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg im Libanon und
mit der Frage, wie diese Einfluss auf die Art und Weise ausüben, in
der sie die Berichte verarbeitet und verinnerlicht, um die Essenz
der Worte herauszudestillieren.
Stefan Tarnowskis Aufsatz Subtitling a Film beschreibt die Feinhei-
ten des Übersetzens von Untertiteln für das anonyme Filmkollektiv
Abounaddara und die Arbeit mit jemandem, den man nie getrof-
fen hat. Auf diesen Erfahrungen basierend untersucht Tarnowski
die Rolle von Untertiteln, indem er hinterfragt, welche Details in
einer Übersetzung verloren gehen und welche Ergänzungen und
Widersprüche zwischen Untertitel und Bild entstehen.

berlinale forum expanded 2017 193


In einer ruhigen Nacht las ich auf dem Balkon mit Blick auf Jabal
Sheikh (der Berg Hermon an der Grenze zu Syrien). Aus weiter Ent-
fernung hinter dem Berg kamen schwache Geräusche, verbunden
mit einem purpurnen Licht, das unscharf flackerte. Ich versuchte
herauszufinden, was passiert war, was diese Geräusche und diese
Farbe bedeuten, aber je mehr ich versuchte sie zu verstehen, desto
dunkler wurde die Farbe. Seitdem begegnete mir dieses Purpur in
Texten, Videos, Überschriften, auf der Straße; in vielen Überset-
zungen einer farbigen Situation, die ich immer noch nicht verstehe.

Hier sind vier Farbnuancen, auf die ich gestoßen bin:

Ruhiges Purpur (Stille):


das Abwesende, das Unbekannte und das Unerklärliche;

dunkles Purpur (im Körper):


Lina Mounzer über das Übersetzen von Erfahrungsberichten;

Purpur auf Purpur (der Untertitel und deren Autor*innen):


Stefan Tarnowski über das Untertiteln eines Films;

der purpurne Fisch porphyra (eine Farbe und ein Gefühl):


die griechische Etymologie des Wortes Purpur.
Joe Namy

Joe Namy, geboren 1978 in Lansing, USA, ist ein in Beirut, Liba-
non, lebender Künstler. Er arbeitet mit visuellen Medien und Musik.
Seine Projekte setzen sich mit Identität, Erinnerung, Macht und
Strömungen in organisierten Klängen auseinander. Er ist aktuell
Berater für das unabhängige Studienprogramm Home Workspace or-
ganisiert von Ashkal Alwan. Er studierte Jazz, Arabisch und Heavy-
Metal-Schlagzeug in Detroit, wo er begann Hip-Hop Videos zu
machen. Seine Arbeiten wurden auf zahlreichen internationalen
Festivals und in Ausstellungen gezeigt. Einige seiner Arbeiten
veröffentlicht er auf der Soundart-Plattform Electric Kahraba, die
auch als experimentelles Radioprogramm operiert.

Filme
2008: Locusts (10 Min.). 2009: People Not Places (12 Min.),
Jnoub / South Lebanon (12 Min.). 2010: Detroit Summer (4 Min.),
Foreclosure Reversal (4 Min.), Under the Shade of Apprehension (7
Min.). 2014: Testify (6 Min.), Half Step (1 Min., Forum Expanded
2014). 2015: Dive (5 Min.), Stones Gods People (5 Min., Forum Ex-
panded 2016). 2017: Purple, Bodies in Translation – Part II of A
Yellow Memory from the Yellow Age.

berlinale forum expanded 2017 194


© Jeamin Cha

Twelve

Jeamin Cha
2016, 3-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 33 Minuten, Koreanisch. Die südkoreanische Mindestlohn-Kommission ist ein Gremium, das
Produktionsfirma Jeamin Cha (Seoul, Korea). Regie, Buch Jeamin den gesetzlichen Mindestlohn für das jeweilige Folgejahr aushan-
Cha. Kamera Youngjik Cho. Sound Design Morceauxx J. Woo. Mit delt und festlegt. Seit seiner Gründung 1978 wurden die Beratun-
Si Hyun Cho, Sook Hee Song, SungDae Yoon, Donghoon Lee, Yo Han gen des Gremiums unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten.
Choi, An Young Shin, Jong Sup Hwang, Sang Jin Baik, Changwan Wir können daher nur vermuten, wie im Jahr 2015 der Mindestlohn
Park, Hyunkwang Jin, Ji Hyun Jung, Hye Young Kim. für das Jahr 2016 zu Stande kam. Das bedeutet, dass wir, um eine
die Gegenwart betreffende Entscheidung zu verstehen, auf die Si-
Kontakt: theyoungowl@gmail.com tuation eines bereits vergangenen Treffens zurückblicken müssen,
in dem der zukünftige Lohn ausgehandelt wurde.
Das Drehbuch zur 3-Kanal-Videoinstallation Twelve basiert, aus-
gehend von verschiedenen Dokumenten, auf einem tatsächlichen
Treffen des Jahres 2015. Zwölf Charaktere repräsentieren die zwölf
Termine, an denen die Beratungen stattfanden. Den Spielszenen
des Treffens werden Aufnahmen einer Maschine gegenüber gestellt,
die repetitive Bewegungen ausführt, deren Zweck unklar bleibt. Die
Arbeit unterstreicht die Tatsache, dass das, was als formale, öffent-
liche und menschliche Diskussion bezeichnet wird, ausschließlich
hinter verschlossenen Türen, in einem nicht-öffentlichen Raum
stattfindet und fragt nach der Zukunft von Nation und Demokratie.

berlinale forum expanded 2017 215


Kalt und Trocken Chroma-Key-Hintergrund, wo sie sich zwar fleißig bewegen, aber
nichts wirklich machen. So hinterfragt die Künstlerin die Definiti-
Jeamin Chas Filmarbeiten sind trocken. Das Ausgewogene sowie onen und den Stellenwert der von Arbeitern verrichteten Arbeit im
das kühl Kolorierte ihrer Kompositionen lassen an die Waagscha- Vergleich zu der im Begriff „Arbeit“ verankerten Arbeitsauffassung.
len der Justitia denken, die weder zur einen noch zur anderen Sei-
te kippen. Um durchweg neutral zu bleiben, unterdrückt Cha jede Den Kabelinstallateur traf Cha erstmals als ein Bekannter, der ei-
Gefühlsaufwallung und bezieht stattdessen eine Position wach- ner Arbeitsgewerkschaft vorsteht, eine Videoarbeit in Auftrag gab.
samer Zurückhaltung. Dies heißt allerdings nicht, dass ihre Werke Die Gewerkschaft suchte nach einem Künstler, der Videomaterial
emotionsleer oder vereinfachend ausfallen. Im Gegenteil: Sie ver- für eine Untersuchung zu Arbeitsbedingungen festhalten könnte,
steht es turbulente Stürme auszulösen, tut dies aber lakonisch- die der südkoreanischen Nationalversammlung vorgelegt werden
konzis, indem sie ins ruhige Auge des Sturms vordringt. Während sollte. Obwohl sie einander nur informell vorgestellt wurden, wurde
sie dort steht, wo der Konflikt am erbittertsten ist, verfeinert sie die Beziehung zu dem Arbeiter unausweichlich zu einem zentralen
die eigenen Emotionen und erzählt besonnen weiter. Thematisch Bestandteil von Chas Arbeit. Denn Chas von einer reifen Diskreti-
gründen die meisten ihrer Werke in einem profunden kritischen Be- on getragene Arbeitsweise ermöglicht es ihr, einen Standpunkt zu
wusstsein. Dabei wäre es ein Leichtes aus einer gesellschafts- und beziehen, der sich weigert, ihren Protagonisten zu verdinglichen.
politikkritischen Haltung heraus, Werke des Trotzes, der Entrüs- Sie bereitet sich auf die Produktion vor, als ob sie einen Doku-
tung zu produzieren, die je dramatischer die erkundete Thematik mentarfilm drehen würde: sie trifft das Subjekt ihres Films per-
ist, desto explosiver in der Darstellungsweisen sind – wie bei vi- sönlich, beobachtet, forscht und kommuniziert aus nächster Nähe
suellen Effekten. Im Gegensatz dazu lässt Cha ihren Standpunkt und knüpft enge Beziehungen zu der jeweiligen Gemeinschaft. Cha
klar hervortreten, bewahrt aber eine emotionale Balance, der das ordnet das gesammelte Material jedoch nicht chronologisch. Das
Dogmatische und Didaktische fremd sind. Sie verzichtet auf jedwe- Bildmaterial lässt erkennen, dass die Kamera immer die gleiche
den Ansatz, den man als belehrend oder eindimensional auffassen Entfernung zum Protagonisten hat. Weder bewegt sich die Kamera
könnte, und gelangt so zu einmaligen Inszenierungen. Hauptmerk- zu weit von dem Arbeiter weg, noch zoomt sie an ihn heran. Selbst
male ihrer Ästhetik sind eine trockene Distanziertheit sowie ei- wenn der Arbeiter einen Telefonmast hoch- und herunterklettert
ne karge, geraffte visuelle Schönheit, die sowohl das Schwere als oder in einem engen Durchgang Kabeldrähte entwirrt, behält die
auch das Leichte meidet. Kamera den gleichen Abstand. Cha bleibt einem Standpunkt und
Blickwinkel treu, von dem aus sie im Gesamtkontext ein bestimm-
Da diese Künstlerin noch jung ist, ist es selbstredend kaum mög- tes Gefühl identifizieren und hervorheben kann, um Probleme zu
lich, Schlüsse über die Eigenschaften, die für ihr Œuvre charakteris- artikulieren und in einem vorher für festgefügt gehaltenen Rah-
tisch sind, zu ziehen. Blickt man aber über das zurück, was sie seit men einen dünnen Riss kenntlich zu machen.
2010 – also seit dem Jahr, in dem sie ernsthaft anfing, ihre Werke
zu präsentieren – produziert hat, so kann man diese grob in drei Während Chroma-key and Labyrinth den Arbeitsvorgang und -akt
thematische Gruppen gliedern: in Werke, die Fragen der Arbeits- fokussiert, nimmt sich Twelve – eine neue, erstmals auf der Media-
welt behandeln (Chroma-key and Labyrinth (2013), Twelve (2016)), city Seoul 2016 gezeigte Arbeit – die Arbeitsbedingungen vor. Die
Werke, die mysteriöse Todesfälle beim Militär darstellen (Hysterics für die Biennale in Auftrag gegebene Arbeit untersucht die Ver-
(2004), Autodidact (2014)), und Werke, welche die Entwicklung des handlungsprozesse der südkoreanischen Mindestlohnfeststellungs-
urbanen Raums darstellen (Sleep Walker (2009), Mrs. Rottenmeier kommission beim Festsetzen des Lohnniveaus für das kommende
(2010)). Ein roter Faden, der sich durch ihr ganzes bisheriges Œuvre Jahr. Seit ihrer Gründung im Jahr 1987 arbeitet die Kommission
zieht, ist die Untersuchung von arbeitsrechtlichen Problemfeldern unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Cha gelang es mit einiger
im großstädtischen Raum. Dabei versucht Cha weniger, explizit Mühe an die Protokolle der Sitzungen von 2015 zu kommen und
einen großangelegten Diskurs zu entfalten, sondern zieht es vor, verwandelte sie ohne zusätzliche Dramatisierung in ein Drehbuch
das jeweilige Thema auf die Ebene der involvierten Personen und für ihre Arbeit. Obwohl die Anzahl der Sitzungsteilnehmer*innen
deren Probleme zurückzuführen, um dort auf sozialrelevante Fra- und die Tonlage ihrer Äußerungen leicht geändert wurden, blie-
gestellungen hinzuweisen. ben die Dialoge unverändert. Der Betrachter meint, er sehe eine
Szene einer Reality Show.

Chroma-key and Labyrinth (2013) und Twelve (2016) Die 3-Kanal-Videoinstallation Twelve lässt die als Mittler agieren-
Die beiden Filme der Künstlerin zu Fragen der Arbeitswelt wurden den Kommissionsmitglieder auf der zentralen Leinwand, Vertreter
im Jahr 2016 auf zwei unterschiedlichen koreanischen Biennalen der Wirtschaft auf der linken Seite und Vertreter der Arbeiter auf
präsentiert: auf der Mediacity Seoul 2016 und der Gwangju Bien- der rechten Seite auftreten. Es werden zwölf Sitzungen in chrono-
nale 2016 – was für die junge Künstlerin einen bemerkenswerten logischer Reihenfolge dargestellt. Die Standpunkte der Teilnehmer
Erfolg darstellte. Auf der Gwangju Biennale wurde das bereits be- divergieren stark voneinander, doch die Handlung verläuft abge-
stehende Werk Chroma-key and Labyrinth gezeigt. Die künstlerische sehen von ein paar hitzigen Momenten eher gemäßigt. Wenn der
Direktorin der Biennale Maria Lind beschrieb die Arbeit als eine, Konflikt sich zuspitzt, unterbrechen Bilder einer Pillen sortierenden
die den Tatbestand beleuchtet, dass der moderne Mensch zwar in Maschine die Verhandlungen. Obwohl die Verhandlungsparteien äu-
einer Online-Welt lebt, die Grundlage dieser Welt aber letztendlich ßerst unterschiedliche ökonomische Bedürfnisse und Standpunkte
die körperliche Arbeit ist. In Chroma-key and Labyrinth untersucht vertreten, ist das visuelle Gefälle entschieden geringer. Dies liegt
Cha die rein theoretische, abstrakte Auffassung von Arbeit, die das daran, dass im Film die gleichen Szenen immer wieder wiederholt
tatsächliche Wesen des Arbeitsprozesses verschleiert. Der Film werden und die Verteilung der Personen auf den Leinwänden (je
zeigt die geschäftigen Hände eines Kabelinstallateurs zwei Mal: vier pro Leinwand) ausgewogen ist. Solange die beiden opponie-
Einmal bei ihrer tatsächlichen Arbeit, ein weiteres Mal vor einem renden Seiten keine Kompromissbereitschaft an den Tag legen,

berlinale forum expanded 2017 216


können sie nur parallel zueinander agieren, unfähig ohne Vermitt- „Warum mache ich Kunst?“ „Was ist die Rolle der Kunst in der Ge-
lungsinstanz aufeinander zuzugehen. In Chroma-key and Labyrinth, sellschaft?“ Die Position, die eine Künstlerin bezieht, wird letzt-
in dem ein wirklicher Arbeiter auftritt, und in Twelve, der auf tat- endlich zur Grundlage der visuellen Elemente sowie der Grammatik
sächlichen Sitzungsprotokollen basiert, stellt Cha die Frage nach ihres Kunstschaffens. Cha sagte einmal, das Verfassen einer Zei-
dem Arbeitswert, insbesondere nach dem Wert der unsichtbaren, tungskolumne oder das Lostreten einer Kampagne wäre eine ef-
abstrakten Aspekte des Arbeitens. Ihre Werke sind unmittelbare fektivere Art, ihre Standpunkte zu vertreten, weshalb sie betont,
Untersuchungen am Gegenstand, die reelle Personen und Ereignisse dass die Kunst eine Art Aussaat sein müsste, die Menschen zum
miteinbeziehen. Indem sie aber die versteckten Erzählungen ext- Nachdenken und zum Erkennen des Falschen in spezifischen so-
rahiert, schneidet sie die Wahrheits- und Realitätsmomente weg. zialen Verhältnissen bringen könnte. Die subtilen Spannungen in
ihrer Kunst sowie das Düstere, aber nicht Verzagte in ihrer Bloß-
Hysterics (2014) und Autodidact (2014) stellung aktueller Missstände zeugen von ihren Positionen und
Bei Hysterics (2014) und Autodidact (2014) sind die visuellen Ele- von dem, was ihr als Künstlerin am meisten zu schaffen macht.
mente entschieden abstrakter. In Hysterics wird Schwarzlicht
eingesetzt, das häufig bei forensischen Untersuchungen be- Lim Seunghyun: „Cold and Dry“, in: The Artro, Platform for Korean
nutzt wird, um nach einem mysteriösen Todesfall Blutspuren in Contemporary Art, 2016, URL: http://eng.theartro.kr/interview/in-
der Nähe einer Leiche zu suchen. Die Kamera fährt eine Schie- terview.asp?idx=48&curpage=
ne entlang. Auf leeren weißen Blättern, die dem Schwarzlicht
ausgesetzt werden, leuchten Flüssigkeitsflecken auf. Die Dar-
stellung spielt auf die innerhalb einer Gesellschaft versteckten Jeamin Cha wurde 1986 in Seoul, Südkorea geboren, wo sie als
Bedeutungen an. Der Film besteht aus nur einer ungeschnitte- Künstlerin und Filmemacherin lebt und arbeitet. Sie studierte an
nen Einstellung, die laut der Künstlerin in einem einzigen Take, der Korean National University of Arts in Seoul (BFA) und machte
ohne Wiederholung, gedreht wurde. Auf der Leinwand sind elek- ihren MFA am Chelsea College of Design and Arts in London. Ihre
trische Kabel und das weiße Papier deutlich zu sehen; es handelt Arbeiten wurden in Einzelausstellungen sowie zahlreichen Grup-
sich um eine Inszenierung. Die Künstlerin macht dies offensicht- penausstellungen präsentiert.
lich, statt es zu verbergen. Die Dinge werden so dargestellt, wie
sie wirklich sind, in einer abstrakten Realität. In einem Zustand Filme
der Hysterie versucht die Künstlerin die in einer gefälschten Si- 2013: Fog and Smoke (21 Min.), TROT, TRIO, WALTZ (12 Min.), Laby-
tuation versteckte Wahrheit herauszufinden, und tut dies ohne rinth and Chroma-key (15 Min.). 2014: Autodidact (10 Min., Forum
falschen Vorwand. Ihr Bestreben gilt dem Aufspüren des hinter Expanded 2015), Hysterics (8 Min., Forum Expanded 2015). 2016:
einem vorgetäuschten Äußeren verschleierten Wahrheitsgehalts. OorR (2 Min.), Hospital (2 Min.), Twelve.

In Autodidact gibt Cha ein Gespräch wieder, das sie mit Hur
Youngchun geführt hat. Er brachte sich Forensik bei, um die Wahr-
heit hinter dem Tod seines Sohnes herauszufinden, der 1984 wäh-
rend seines Militärdiensts unter fragwürdigen Umständen ums
Leben kam. Auch hier stellt Cha die unentwegte Suche nach einer
zu enthüllenden, versteckten Wahrheit als Hysterie-Erfahrung dar.
Der aufgrund seiner Assoziationen mit psychischen Störungen ne-
gativ konnotierte Begriff Hysterie wird der Wahrheit gegenüber-
gestellt, insbesondere einer Wahrheit, von der Moral und Gewissen
verlangen, dass wir sie ans Licht bringen. Mittels eines ironischen,
kontrastierenden Wortpaars sowie durch abstrakte visuelle Ef-
fekte verleiht die Künstlerin einer Auseinandersetzung Form, die
aufgrund der gesellschaftlichen Unterdrückung anders nicht zum
Ausdruck gebracht werden kann.

Kunst, die sich mit soziopolitischen Fragestellungen befasst, nimmt


oft eine aufklärerische Rolle ein. Der Künstler oder die Künstlerin
nutzt Film, das Medium der Kamera, um eine persönliche soziale
Botschaft zu verkünden und so eine Art Allwissenheit zu behaup-
ten. Gerade vor einem solchen Prozess der didaktischen Selbstposi-
tionierung, die einen gewaltsamen Zwang ausübt, möchte sich Cha
besonders hüten. Ihre präferierte Vorgehensweise ist vielmehr, die
Wahrheit schonungslos darzustellen und so ans Licht zu bringen.
Von Anfang bis Ende erzeugen ihre Filme eine durchgehende Span-
nung. Gleichzeitig visieren sie Risse im Denken des Betrachters an.
Diese ästhetische Syntax wurzelt in grundlegenden Fragen. Chas
Einstellung zur Kunst ist die einer permanenten Selbstbefragung
bezüglich ihrer Fokussierung und Zielsetzung beim Produzieren
einer sich mit gesellschaftlich-sozialen Fragen befassenden Kunst.

berlinale forum expanded 2017 217


© Mike Crane

UHF42 E01+E02 2 1 / 42
UHF42 / E01+E02

Mike Crane
2017, 4-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 40 Minuten, Arabisch. Pro- UHF42 E01+E02 sind die ersten zwei Episoden eines Fernsehdramas,
duktion Khaled Faqeeh, Mike Crane. Produktionsfirmen Wattan TV das in der Fernsehnachrichtenagentur Wattan TV in der besetzten
(Ramallah, Palästina), Mike Crane (New York, USA). Buch Khaled Stadt Ramallah im Westjordanland spielt. Die 6-teilige Serie por-
Faqeeh. Kamera Amjad Shoman. Production Design Atheer Niem. trätiert das alltägliche Büroleben und kombiniert dokumentari-
Ton Atheer Niem. Schnitt Sameh Kareem. Production Manager sche Aufnahmen mit inszenierten Szenen, die Techniker*innen,
Samia Hirzalla. Mit Wafaa Arouri, Kamal Odeh, Sara AlAdra, Hamza Journalist*innen und Mitarbeiter*innen des Senders bei der Pro-
AlSalaymeh, May Marei, Ala Zeid, Raneen Khalid, Emad S. AbuBaker. duktion eines Berichts über die steigenden Verbraucherschulden
in der Region zeigen. Im Verlauf der letzten zehn Jahre ist Ramal-
Mike Crane, geboren 1982 in Miami, USA, und aufgewachsen in lah, begünstigt durch die steigende Zahl privater Bankkredite,
Bogotá, Kolumbien, ist Künstler und lebt in New York. Er studierte Investitionen in den Immobiliensektor und eine florierende Frei-
an der Cooper Union School of Art (BFA) und machte seinen MFA zeitwirtschaft, zu einer kosmopolitischen Insel des Wohlstands
am Hunter College, City University of New York. Crane präsentier- inmitten der besetzten palästinensischen Gebiete geworden. Etwa
te seine Filme international in Kinos und Ausstellungen. Er wurde zeitgleich machte sich Wattan TV mit seiner Berichterstattung zu
mit dem Creative Capital Award 2015 ausgezeichnet. Entwicklungen im öffentlichen Sektor einen Namen, die er als ers-
ter Sender im Mittleren Osten in Form fiktionaler Erzählungen – als
Filme „dramatisierte Nachrichten“ – produziert. UHF42 übernimmt Wat-
2005: Highlands (140 Min.). 2009: New Company (45 Min.). 2010: tans Fernsehnachrichtenästhetik, stülpt das System aber um: Die
Spoke Hub Distribution Paradigm (60 Min.), Theory of Heat (15 Min.). Angestellten inszenieren ihre eigenen Recherchen zu privater Ver-
2012: Assembly Room 1 (42 Min.). 2014: Feedback Action Program schuldung öffentlicher Infrastruktur unter militärischer Besetzung.
(30 Min.). 2015: Choice Modeling (20 Min.), Bunker Drama (30 Min.,
Forum Expanded 2016). 2017: UHF42 E01+E02. Kontakt: cranemike@gmail.com

berlinale forum expanded 2017 218


© James Benning

Untitled Fragments

James Benning
2017, 3-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 75 Minuten, Englisch. Die 3-Kanal-Videoinstallation Untitled Fragments bringt vier histo-
rische Geschichten miteinander in Verbindung: Kit Carsons Politik
Kontakt: http://www.neugerriemschneider.com der verbrannten Erde, mit der er in den 1860er-Jahren die Navajos
aus ihrer Heimat im Canyon de Chelly vertrieb, die Exekution Che
Guevaras in Bolivien 1967, das Flächenbombardement in Hanoi 1972
und das Cedar Fire, ein Flächenbrand in der kalifornischen Sierra
2016. Auf der Tonspur ist die Aufnahme der Funkübermittlung einer
B-52 der US Air Force (Stratofortress Bomber, Codename Lilac 02)
zu hören, die am Abend des 26. Dezembers 1972 entstand, als 116
B-52s während ihres Angriffs auf Hanoi und Haiphong innerhalb
von 15 Minuten ihre gesamten Bomben abwarfen. Die Aufnahme
wurde 2016 freigegeben.
Die Installation ist Teil eines größeren Projekts, zu dem zusätzlich
Malerei, Zeichnungen, Serigraphien, Wandteppiche, Filmloops und
historische Objekte gehören.

berlinale forum expanded 2017 224


Begriffsliste El Valley Centro (90 Min., Forum 2002). 2000: Los (90 Min., Forum
2002). 2002: Sogobi (90 Min., Forum 2002). 2004: 13 Lakes (133
Red Crown: Radarschiff der Marine im Golf von Tonkin Min., Forum 2005), Ten Skies (101 Min., Forum 2005). 2005: One Way
Guns: Bordkanone am Heck der B-52 Boogie Woogie / 27 Years Later (120 Min., Forum 2006). 2007: RR (110
CPI: Aktuelle Positionsanzeige (Current Position Indicator) Min., Forum 2008), Casting a Glance (81 Min.). 2009: Ruhr (121 Min.),
Triple A: Luftabwehrartillerie (Anti-Aircraft Artillery) Fire & Rain (1 Min.). 2010: John Krieg Exiting the Falk Corporation in
LP: Layer Protocol 1971 (71 Min.), Pig Iron (33 Min.), Pascal’s Lemma (document) (17
IP: Eintrittspunkt (Insert Point) Min.), Reforming the Past (60 Min.). 2011: Two Cabins (30 Min.), Faces
Bulls-eye: Angriffsziel, in diesem Fall: Hanoi (1973) (25 Min.), Faces (135 Min.), Milwaukee/Duisburg (Installation,
RCD: Eintrag (Record) Forum Expanded 2011), Twenty Cigarettes (99 Min., Forum 2011),
LIST: Kommunikationszentrale After Warhol (65 Min.), Small Roads (103 Min.). 2012: Nightfall (98
Lilac, Pinto, Colbalt, Snow, Slate, Cream, Copper, Pink, Ash, Min.), Stemple Pass (121 Min, Forum 2013), Postscript (7 Min.), Easy
etc.: B-52s flogen in farbkodierten Dreiergruppen, zum Beispiel Rider (95 Min.), The War (55 Min.), One Way Boogie Woogie 2012
Lila 01, Lila 02 und Lila 03 (90 Min.), BNSF (194 Min.). 2013: Three Generations (8 Min.), Data
SAM: Boden-Luft-Rakete (Surface to Air Missile) Entry (10 Min.), US 41 (52 Min.). 2014: Natural History (77 Min.),
Uplink: Radiosignal, das vom Boden aus gesendet wird, um Boden- FAROCKI (77 Min.), Concord Woods (121 Min.). 2015: 52 Films Project
Luft-Raketen umzulenken (300 Min.), American Dreams (85 Min.), Fresh Air (46 Min.). 2016:
PDI: markierte Zielobjekte (Pre-Designated-Items) Dancing in the Street (6 Min.), Cuba, An Historical Romance (4 Min.),
TG: Ziel (target) Thinking of Red (8 Min.), In Memory of Benjamin Benally (5 Min.),
Secondary: zweite Explosion, die auftritt, wenn Bomben ein ex- Vallegrande, 1967 (4 Min.), Ash 01 (20 Min.), Fall Equinox (77 Min.),
plosives Ziel treffen Spring Equinox (77 Min.), Scorched Earth (61 Min.), Red Cloud (61
Nav: Navigator Min.), Measuring Change (61 Min.), Time after Time (44 Min.). 2017:
Chicks: Küken, umgangssprachlich für drei Flugzeuge in einer Untitled Fragments.
Gruppe
COA: Vorgehensweise, Gefechtsfeld (Course Of Action, Combat
Area)
Gate or Fence: Grenze oder Rand des Gefechtsfelds
POL: Benzin-, Öl- und Schmiermittelspeicher (Petroleum, Oil, and
Lubricant storage)
MiG: sowjetischer Kampfjet
Bandit: umgangssprachlich für sowjetischer Kampfjet

James Benning

James Benning wurde 1942 in Milwaukee, USA geboren. Ab 1972,


noch vor seinem Filmstudium an der University of Wisconsin, be-
gann er, Filme zu drehen. Von 1977 bis 1980 unterrichtete er an
den Universitäten von Kalifornien und Oklahoma und zog dann
nach New York, wo er als Filmemacher arbeitete. 2009 wechselte
er vom 16-mm-Film zu digitalen Formaten. Seitdem realisierte er
auch zahlreiche Installationen und ortsspezifische Arbeiten, die
in Galerien und Museen gezeigt wurden. Neben seiner Filmarbeit
lehrt er seit 1987 am California Institute of the Arts. Letztes Jahr
war er ein Gastkünstler an der Internationalen Hochschule für Film
und Fernsehen (EICTV) in Kuba.

Filme (Auswahl)
1971: Did You Ever Hear that Cricket Sound?. 1972: Ode to Muzac
(3 Min.), Time & A Half (17 Min.), Art Hist. 101 (17 Min.). 1973:
Honeyland Road (11 Min.), Michigan Avenue (6 Min.). 1974: i94 (3
Min.), 8½ x 11 (33 Min.). 1975: 3 Minutes on the Dangers of Film
Recording (3 Min.), Saturday Night (3 Min.), The United States of
America (25 Min.), 9/1/75 (22 Min.). 1976: Chicago Loop (8 Min.),
11 x 14 (83 Min., Forum 1977). 1977: One Way Boogie Woogie (60
Min.). 1979: Grand Opera. An Historical Romance (90 Min., Forum
1980). 1981: Him and Me (88 Min.). 1983: American Dreams (lost
and found) (56 Min.). 1985: O Panama (28 Min., Forum 1987). 1986:
Landscape Suicide (95 Min., Forum 1987). 1988: Used Innocence (95
Min.). 1991: North on Evers (87 Min.). 1995: Deseret (82 Min.). 1997:
Four Corners (80 Min., Forum 1998). 1998: Utopia (93 Min.). 1999:

berlinale forum expanded 2017 225


© Oraib Toukan

When Things Occur

Oraib Toukan
2016, 1-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 28 Minuten, Arabisch. Pro- When Things Occur basiert auf Skype-Gesprächen mit in Gaza leben-
duktion Oraib Toukan. Produktionsfirma Oraib Toukan (Ramallah, den Fotograf*innen, ihren lokalen Helfer*innen und Fahrer*innen.
Palästina). In Auftrag gegeben von Cities Exhibition 5, Birzeit Uni- Die Gesprächpartner*innen zeichnen für bestimmte Bilder verant-
versity Museum. Schnitt Oraib Toukan. Übersetzung und Unter- wortlich, die sich im Sommer 2014 von Bildschirm zu Bildschirm
titel Fadi Abu Nimeh. Mit Lara Abu Ramadan, Hosam Salem, Khalil verbreiteten. Der Film schaut hinter die Fassade der Trauer und des
Hamra, Walaa Al Ghussein, Ashraf Al Masri. Schmerzes – auf deren digitale Verkörperung, Verbreitung und Re-
präsentation. Er untersucht, wie der Blick im digitalen Raum gelei-
tet wird und wie Empathie überspringt. Darüber hinaus fragt der
Oraib Toukan, geboren 1977 in den USA, lebt und arbeitet als Künst- Film nach der Funktionsweise des dokumentarischen Signifikants
lerin in Oxford, England, wo sie aktuell promoviert. Bis 2015 leitete – und dessen Abstraktion – beim Betrachten von Leid. Was genau
sie die Kunstabteilung des Bard College an der Al Quds University bedeutet es, Leid „aus der Distanz“ zu betrachten – und wie viele
in Palästina. Sie ist Gastdozentin an der International Academy Meter oder Kilometer Abstand sind dazu nötig? Wie sieht das Ver-
of Fine Arts in Ramallah und Assistenzprofessorin an der Univer- halten und die politische Ökonomie von Bildern des Kriegs aus? Wer
sity of Oxford’s Ruskin School of Fine Arts. Sie hat an zahlreichen ist „der Einheimische“ in der Repräsentation des Kriegs? Und worin
internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen teilgenommen. besteht die tägliche Routine derer, die den Krieg repräsentieren?

Kontakt: http://www.oraibtoukan.com/

berlinale forum expanded 2017 227


© Karrabing Film Collective

Wutharr, Saltwater Dreams

Karrabing Film Collective


2016, 1-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 29 Minuten, Englisch. Mithilfe einer Reihe von Rückblenden erzählt Wutharr, Saltwater
Produktionsfirma Karrabing Indigneous Corporation (Nightcliff, Dreams vom Streit einer indigenen Großfamilie über die Ursache
Australien). Regie Elizabeth A. Povinelli. Buch Karrabing Film eines Motorschadens, der ihr Boot lahmlegt und sie im Busch ge-
Collective. Kamera Natasha Lewis. Production Design Sandra strandet zurücklässt. Die Familienmitglieder stellen Vermutungen
Yarrowin. Ton Leandros Ntounis. Sound Design Leandros Ntounis. an: die Anwesenheit der Ahnen, die staatliche Gesetzgebung und
Schnitt Elizabeth A. Povinelli. Production Manager Cecilia Lewis. der christliche Glaube sollen an dem Zwischenfall die Schuld tra-
Mit Trevor Bianamu (Trevor), Rex Edmunds (Over), Linda Yarrowin gen. Der Film entfaltet durch ihre Gespräche und Erzählungen ein
(Jojo), Rex Sing (Rex), Patsy-Ann Jorrock (Ahnengeist #1), Lorraine Panorama der unterschiedlichen Bedürfnisse und unvermeidlichen
Lane (Ahnengeist #2), Robyn Lane (Ahnengeist #3), Sandra Yarrowin Fallstricke des zeitgenössischen indigenen Lebens.
(Ahnengeist #4), Sharon Lane (Sozialarbeiter #1), Daphne Yarrowin Wutharr, Saltwater Dreams ist die bis dato surrealste, fast schon
(Pastorin, aktuell und von 1952). psychedelische, Arbeit des indigenen Karrabing Film Collective.
Der Film untersucht die Erfahrungen der Filmemacher*innen mit
Kontakt: http://www.karrabing.com den Einschränkungen durch sowohl missionarisch-christliche Mo-
ralvorstellungen als auch die durch Siedler geschaffene koloniale
Gesetzgebung und wie diese alte, durch Schweiß gesicherte, über
Generationen überlieferte und eingehaltene territoriale Arrange-
ments überlagern und verschieben, um schlussendlich von ihnen
absorbiert zu werden.

berlinale forum expanded 2017 228


Interview mit dem Karrabing Film Collective Heute fuhr die Karrabing-Gruppe von Jerusalem nach Ramallah, um
Zeit mit dem Subversive Film-Kollektiv zu verbringen, weil dieses
Im Oktober 2016 erhielt das Karrabing Film Collective erstmals nicht an der öffentlichen Veranstaltung in der Al Ma’mal Foundation
Reisepässe und konnte nach Jerusalem reisen, um an der Jerusa- teilnehmen durfte. Damit es zu diesem Treffen überhaupt kommen
lem Show VIII Before and After Origins in der Al Ma’mal Foundation konnte, mussten Sie die Grenze überqueren. Sie haben gemeinsam mit
teilzunehmen. Die Ausstellung war Teil des 3rd Qalandiya Inter- Subversive Film deren Forschungsmaterial über palästinensische mi-
national – ein zeitgenössisches Kunstereignis, das alle zwei Jah- litante Filmpraxis gesichtet. Was haben Sie dabei gelernt?
re in mehreren palästinensischen Städten und Dörfern stattfindet Die Filmsequenzen waren überwältigend – sowohl das surrea-
und 2016 auch Stätten der palästinensischen Diaspora in Amman, listische Propaganda-Material der Palestine Liberation Organi-
Beirut und London miteinbezog. Das Karrabing Film Collective zation als auch das dokumentarische Material über die Ankunft
war mit dem Film Wutharr, Saltwater Dreams in der Ausstellung der Menschen in den jordanischen Lagern im Jahr 1967. Wir erin-
vertreten. Darüber hinaus war eine Diskussionsveranstaltung mit nerten uns an die Geschichten unserer Großeltern und Urgroß-
dem Kollektiv Subversive Film angekündigt.1 eltern, die in den 1930er-Jahren interniert und während des
Zweiten Weltkriegs noch einmal verlagert wurden. Wie einige
Vivian Ziherl, Kuratorin der Jerusalem Show und Gründerin der von ihnen entkommen konnten und Hunderte von Kilometern
Frontier Imaginaries, traf mehrere Mitglieder des Kollektivs – durch Buschland zurücklegten, um zu ihrem Land zurückzu-
Gavin Bianamu, Sheree Bianamu, Natasha Lewis und Elizabeth A. kehren. Einige von uns waren sehr interessiert zu sehen, wie
Povinelli – zu einem Interview. Frauen und Kinder das Kämpfen mit Gewehren trainierten. Und
dass die Menschen glaubten, sie könnten mit Waffen ihr Land
Vivian Ziherl: Die Jerusalem Show VIII Before and After Origins zurückbekommen – und dies zum Teil sogar geschafft haben.
schlägt eine „Kunst des Verbindens“ vor, wobei sie aus der palästi- In Australien kam es in den Zeiten des frühen Siedlerkolonia-
nensischen Erfahrung lernt, in der die Haupttechnik der Enteignung lismus zu gewaltsamem Widerständen, aber die demografischen
in der langfristigen Teilung und Entfremdung von Bevölkerungsgrup- Verhältnisse waren anders und die indigenen Völker wurden
pen bestand. Inwiefern ist das Filmemachen des Kollektivs eine Kunst weitgehend niedergemetzelt.
des Verbindens und wie ist es dazu gekommen?
Karrabing Film Collective: Das Filmemachen des Karrabing Coll- Was die Grenzübergänge anbelangt: Einige von uns dachten
ectives begann als Konsequenz einer brutalen staatlichen In- über die Unterschiede und Ähnlichkeiten in der Art nach, wie
tervention gegen die indigene Regierungsführung – gegen die ländliche und entlegene indigene Gemeinschaften bei uns
Selbstregierung der einheimischen Bevölkerung im Norden Aus- weggeschlossen werden. Das Wegschließen und Verdrängen
traliens. In den 1970er-Jahren hatte der australische Staat das hat zum Teil mit den Orten zu tun, wo die indigenen Menschen
Recht der indigenen Bevölkerung auf ihr Land zwar „anerkannt“, im Norden in den 1930er-Jahren interniert wurden – weit
aber gleichzeitig das Recht operationalisiert, indem er Bevölke- weg von den Städten der Weißen – und wie die Armut sie
rungsgruppen gemäß den reduktiven anthropologischen Theorien dort abschottet (Autos, Benzin, Registrierung kosten Geld).
von „Clan“ und „Totem“ einteilte. Tatsächlich hat die staatliche Ein Teil des Problems ist die Art und Weise, wie der Staat die
Anerkennung von Land indigene Gruppen gegeneinander aus- Aboriginal-Gemeinschaften aktuell polizeilich kontrollieren
gespielt, wobei die „Settler Courts“ als angeblich neutrale Ver- lässt. Die Polizei hat das Recht, nach Belieben unter den
mittlungsinstanzen eingerichtet wurden. In den 2000er-Jahren fadenscheinigsten Vorwänden in Gemeinden und Häuser
versuchte eine langetablierte, von mächtigen Bergbau-Interes- einzudringen. Sie darf Straßenkontrollen durchführen, um
sen gestützte konservative Regierung die Landrechtsgesetze nach Alkohol zu suchen, und mit dieser Ausrede Menschen
langsam aufzuheben, indem sie die Menschen von ihrem Land zum Beispiel aufgrund von geringfügigen Verstößen, noch
„aushungerte“. Sie verweigerte finanzielle und soziale Unter- ausstehender Haftbefehle oder nicht registrierter Autos
stützung für entlegene, ländliche indigene Gemeinschaften und festnehmen. Während die Geldstrafen sich häufen und das
zwang sie, Jobs im Niedriglohnsektor anzunehmen. Oder – was Einkommen sinkt, sorgen diese langsamen, quasi gewaltsamen
noch häufiger vorkam – sie kümmerte sich, nachdem sie ihr Land Akte für eine unverhältnismäßig hohe Anzahl von indigenen
verlassen hatten, gar nicht um sie. Diese Taktik geht davon aus, Männern und Frauen, die in australischen Gefängnissen sitzen.
dass für Menschen, die ihr Land einmal aufgegeben haben, der Wir haben die Einmauerung und permanente Belästigung der
Begriff „Land“ zunehmend zu einer Abstraktion wird und nicht Palästinenser, das Einschränken der Bewegungsfreiheit als
mehr eine gelebte Beziehung darstellt. Hinzu kommt, dass das ähnlich angesehen, zumindest in der Form, wenn nicht im
Bedürfnis nach einem Lebensunterhalt zunimmt. Als Abstrakti- Inhalt.
on üben die Verlockungen des Kapitals sowie der Kapitalisierung
von Land eine größere Verführungskraft aus. Bei der Militanz im Stil der 1970er-Jahre hieß es: Bereit sein zu ster-
ben, um weiter zu existieren, aber für Euch – und zunehmend auch
Das Filmemachen des Karrabing Collectives lehnt beide For- für die Palästinenser – heißt es: Bereit sein zu leben, um weiter zu
men der staatlichen Trennung ab – die Trennung von Familien existieren?
sowie die Trennung der Familien und Generationen von ihren Stimmt. Aber dabei müssen wir das, was heute militant sein
Erinnerungen und ihrem Land. Karrabing bezieht sich nicht auf bedeutet, neu denken – jenseits von den vorherrschenden Bil-
das Land oder Totem einer einzelnen Familie, sondern auf die dern und Ursachen der Militanz der 1970er-Jahre, jenseits vom
Gezeiten. Karrabing ist das Salzwasser, das die Menschen über bewaffneten Widerstand, der Bereitschaft, für die Sache zu
ihre Länder hinweg verbindet und die Bedingung ihrer Existenz sterben. In einer Zeit der staatlichen Schwächung und Entkräf-
darstellt. Das Filmemachen der Karrabing-Akteure bietet eine tung indigenen Lebens bedeutet Militanz die Weigerung, nicht
Erinnerungspraxis an, die Menschen und Orten kontinuierlich mehr zu existieren.
neues Leben einhaucht.

berlinale forum expanded 2017 229


Unsere Kollegin und Mitverschwörerin Rachel O’Reilly machte einmal Das Karrabing Film Collective wurde 2008 im Kontext der Angrif-
darauf aufmerksam, dass es bei dem Filmemachen der Karrabing- fe des australischen Staats auf soziale und territoriale Struktu-
Mitglieder in gewisser Weise darum geht, für die Protagonist*innen ren der indigenen Bevölkerung gegründet. Das Kollektiv ist eine
bessere Drehbücher zu schreiben. Mit welchem Teil des australischen Grassroots-Kunst- und Filmgruppe, die ihre ästhetische Praxis als
siedlerkolonialen Drehbuchs setzt sich Wutharr, Saltwater Dreams ein Mittel zur Selbstorganisation und sozialen Analyse nutzt. Die
insbesondere auseinander und wie wird dies durch Bilder erreicht? indigenen Karrabing-Mitglieder (der Großteil der Gruppe) leben in
Wutharr, Saltwater Dreams ist unser Lieblingsfilm bis jetzt, ländlichen Gemeinden im Norden mit geringem oder ohne Einkom-
selbst wenn er der wohl herausforderndste für nicht-indigene men. Ihre Filme und Arbeiten zeigen ihr Leben, schaffen Verbindun-
Menschen ist. Der Film besteht von Anfang an und kontinuier- gen zu ihrem Land und greifen in das globale Bild von Indigenität
lich darauf, dass indigene Familien keine homogenen kulturel- ein. Sie entwickeln eigene künstlerische Sprachen und Formen und
len Maschinen sind, sondern diverse komplexe Standpunkte erlauben somit den Zuschauer*innen neue Formen des kollektiven
vertreten. Der Film fängt mit einer einfachen Frage an: Woran indigenen Handelns zu verstehen. Das Medium (der Kunst) ist dabei
lag es, dass ein Motorboot während einer Fahrt zum entlegenen eine Form der Überlebensstrategie – eine Weigerung das eigene
Karrabing-Land eine Panne hatte? Lag es an fehlerhafter Ver- Land zu entäußern und ein Mittel für die Untersuchung aktueller
drahtung? Oder an eifersüchtigen Ahnen? Oder war es letztend- gesellschaftlicher Bedingungen der Ungleichheit.
lich eine Prüfung für die christliche Glaubensrichtung? Karrabing Film Collective Mitglieder: Trevor Bianamu, Gavin
Bianamu, Sheree Bianamu, Ricky Bianamu, Taleesh Bianamu,
In einer Serie von Rückblenden wird jeder dieser Standpunkte Danielle Bigfoot, Kelvin Bigfoot, Rex Edmunds, Chloe Gordon,
vorgetragen. Am Ende wird deutlich, dass tatsächlich alle drei Claudette Gordon, Ryan Gordon, Claude Holtze, Ethan Jorrock,
gleichzeitig – quasi im gleichen Einzelbild – existieren, dass Marcus Jorrock, Reggie Jorrock, Patsy-Anne Jorrock, Daryl Lane,
alle drei nunmehr gegebene Fakten sind, dass sie am gleichen Lorraine Lane, Robyn Lane, Sharon Lane, Tess Lea, Cecilia Lewis,
Ort zur gleichen Zeit koexistieren und dass sie, wenn nicht zu Angelina Lewis, Marcia Bigfoot Lewis, Natasha Lewis, Serina Lippo,
einer Einheit, so doch zu einer kontinuierlichen Wechselbe- Joslyn McDonald, Elizabeth A. Povinelli, Rex Sing, Kerin Sing,
ziehung finden. Shannon Sing, Claude Yarrowin, Daphne Yarrowin, Linda Yarrowin,
Es gibt zwei zentrale Szenen, von denen wir meinen, dass sie Roger Yarrowin, Sandra Yarrowin, Quentin Shields
Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung bilden, ohne
das diese erläutert wird: Am Anfang des Films streiten sich drei Filme
Menschen darüber, ob die Motorpanne durch die Ahnen (Trevor), 2012: Karrabing, Low Tide Turning (14 Min.). 2014: When the Dogs
Jesus (Linda) oder die Verdrahtung (Rex) ausgelöst wurde. Die Talked (34 Min.). 2015: Windjarrameru, The Stealing C*nt$ (35 Min.).
zweite ist die lange Szene gegen Ende, in der Linda hilfesu- 2016: Wutharr, Saltwater Dreams.
chend die Ahnen aufsucht. Den ganzen Film hindurch bleibt
das Bild der „entryways“ zentral. Die Personen treten durch
einen Eingang ein und kommen an einem anderen Ort und in
einer anderen Zeit wieder heraus. Und wie in allen Karrabing-
Filmen werden die tagtäglichen Bemühungen der Indigenen,
eine zeitgenössische Beziehung zueinander und zu ihrem Land
aufrechtzuerhalten, immer wieder vom Staat unterbunden. In
Wutharr, Saltwater Dreams wird der Streit über den Auslöser der
Motorpanne durchgehend von der Tatsache angetrieben, dass
die Polizei versucht, den Bootsbesitzern eine saftige Geldstrafe
dafür zu verpassen, dass ein Leuchtsignal als Hilferuf abgefeu-
ert wurde, ohne dass teure Sicherheitsausrüstung an Bord war
oder entsprechende Genehmigungen vorlagen.

1
Subversive Film besteht aus Reem Shilleh und Mohanad Yaqubi, die
ihre Arbeit im Rahmen von Think Film No. 5 „Archival Constellations“ vor-
stellen werden. Yaqubis Film Off Frame aka Revolution until Victory wird
ebenfalls im Forum Expanded 2017 präsentiert.

Vivian Ziherl: „Karrabing Film Collective, Wutharr, Saltwater


Dreams”, auf vdrome.org, 2016, URL: http://www.vdrome.org/
karrabing-film-collective-wutharr-saltwater-dreams/

berlinale forum expanded 2017 230


© Katrin Winkler

Towards Memory

Katrin Winkler
2016, 2-Kanal-Videoinstallation, Farbe, 32 Minuten, Deutsch, Warum sind manche Ereignisse aus der aktuellen Geschichtsschrei-
Englisch. Produktion Katrin Winkler. Produktionsfirma Katrin bung ausgeklammert und andere überbetont? Wer gibt wem das
Winkler (Berlin, Deutschland). Kamera Katrin Winkler. Ton Kauna Recht sich zu äußern und zu welchem Zeitpunkt? Wie ist Geschich-
Hoabeb. Sound Design Stefan Röselmair. Schnitt Katrin Winkler, te im gegenwärtigen Moment sichtbar und hörbar? Was ist ein
Noam Gorbat. Mit Monica Nambelela, Lucia Engombe, Fatima Pedru, Anti-Monument? Auf welche Art und Weise wirkt ein Archiv auf
Esther Utjiua Muinjange. die Gegenwart?
Towards Memory ist ein Video- und Rechercheprojekt, das in Zu-
Kontakt: katrin.winkler2@gmx.de sammenarbeit mit namibischen Frauen entstand, die als Kinder
ab 1979 während des Namibischen Unabhängigkeits- und Anti-
Apartheid-Kampfs in die damalige DDR gesandt wurden. Nach dem
Fall der Berliner Mauer wurden sie schnell wieder zurückgeschickt.
Grundlage der Videoinstallation sind Archivrecherchen, Video-
interviews und aktuelle Erinnerungsfeierlichkeiten zur 25-jäh-
rigen Unabhängigkeit Namibias und dem Genozid an den Herero
und Nama. Das Projekt fragt nach der Verknüpfung deutscher und
namibischer Geschichte und dem politischen Umgang mit den Kon-
sequenzen und (Un-)Sichtbarkeiten von Kolonialismus, Genozid,
Vertreibung und Apartheid.

berlinale forum expanded 2017 213


Towards Memory Katrin Winkler wurde 1983 in Starnberg geboren. Ihre künst-
lerische Arbeit bewegt sich zwischen Expanded Cinema, inten-
Katrin Winkler beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Fragen der siven Recherchen, Video und Fotografie. Inwieweit Geschichte
Geschichtskonstruktion vorwiegend im postkolonialen Kontext und (un-)sichtbar und mit der Gegenwart verwoben ist, ist eine wieder-
mit den Konsequenzen, die diese für den aktuellen öffentlichen kehrende Thematik in ihrer künstlerischen Praxis. Sie absolvierte
und politischen Raum hat. Sie begreift ihre Arbeitsweise, die Be- einen Recherche- und Assistenzaufenthalt am Katutura Commu-
troffene mit einbezieht, nicht zuletzt als Option zum Diskurs, zur nity Art Center, Windhuk, Namibia. Sie studierte Fotografie an der
Emanzipation und Identitätsbildung. Um eine Instrumentalisie- Hochschule München (BFA), Fotografie und Medien unter anderem
rung von Geschichte – ein fortlaufender und unabgeschlossener bei Allan Sekula am California Institute of the Arts, Los Angeles
Prozess – zu verhindern, benötigt es eine ständige Neujustierung (MFA) und war Meisterschülerin bei Clemens von Wedemeyer an
von Interpretationen und somit ihrer folgenreichen Wirkkraft ins der HGB, Leipzig. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt.
aktuell zu Verhandelnde.
Filme
Wie sich Erinnerung festschreibt und Form, Umfang und Zustand, 2009: Not Only A. (13 Min.). 2011: To Protect and to Serve (10 Min.,
ja die Methoden der Dokumentation unserer Archive bestimmt, Loop). 2013: We don’t just want a piece of the pie, we want the whole
welche Kriterien der Aufbewahrung und Überlieferung zur Anwen- fucking bakery! (Videoinstallation, 28 min., Loop). 2016: Towards
dung kommen und wie sie bestimmten Dispositionen von Macht Memory.
und Ideologie unterworfen waren und sind, das sind die strukturell
entscheidenden Fragen im Hinblick auf unsere Speicher selbst. Die
Archive, ständig wachsend und multimedial wuchernd, sind in die-
ser Hinsicht wichtiger denn je und werden, nicht zuletzt auf Grund
ihres Umfanges an massenmedialen Quellen, eine neue Form des
Umgangs und der Dekonstruktion erfordern, zumal eine überhitz-
te Mediengesellschaft exzessiv dazu neigt, ständig zu publizieren
und zu „dokumentieren“.

Artistic Research und dokumentarische Formate sind in diesem Zu-


sammenhang adäquate Werkzeuge neben den strikt wissenschaft-
lichen und historischen Methoden, um an der Umformulierung
des „Monuments“, bzw. der Rekontextualisierung des „Anti-Mo-
numents“ zu forschen. Insofern entspricht das mediale Format
der Mehrkanal-Videoinstallation der komplexen Sachlage und der
Möglichkeit der Einbindung unterschiedlichster visueller und akus-
tischer Quellen in ein ineinander verzahntes Format der essayisti-
schen Bewegtbilder. Der künstlerische Umgang mit Historie erzeugt
die nötige Differenz zur üblichen Aufarbeitung von Geschichte
und mündet im besten Falle in eine neue Archäologie der Gegen-
wart. Katrin Winklers Arbeit ist ein hervorragendes Beispiel dafür.

Günther Selichar

berlinale forum expanded 2017 214

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