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Der Staat soll uns von allen

Nöten erlösen. Denn wir


fürchten uns vor dem realen
Anderssein: Armut, Krankheit,
Tod
Verwahrlost sind stets die anderen. Wir lassen uns davon im
Westen kaum mehr anrühren. So retten wir krampfhaft das
Bild einer heilen Welt – und betrügen uns selbst und vielleicht
sogar unsere Mitmenschen.

Hans Ulrich Gumbrecht


29.6.2018, 05:30 Uhr

Mein Weg zur Arbeit führt durch ein mittelständisches Wohngebiet in


Santiago de Chile, zu dem auch einige elegant aussehende
Privatkliniken gehören. Zwischen zwei von ihnen, genau wo ich rechts
abbiegen muss, stehen auf dem Gras, neben einem Kamin aus
frühindustrieller Vergangenheit, ein paar Campingzelte. Sie schützen
ganze Familien vor der Kälte des südlichen Winters.

Wenn ich morgens dort vorbeikomme, waschen sich Alt und Jung
unter einem Gartenschlauch zur Musik von Fernseh- oder
Radiosendungen, die aus den Zelteingängen dröhnt. Am späten
Nachmittag sehe ich die Frauen stricken, während die Männer auf
einem fleckigen Teppich Karten spielen und die Kinder zwischen zwei
«Toren» kicken, die sie mit Steinen markiert haben.

Seit ein Bewohner dieser Strassenecke mich einmal höflich um Feuer


für seine Zigarette bat, sprechen wir fast jeden Tag. Es sei wirklich gut,
hier zu wohnen, sagt er, «zwischen den soliden Gebäuden» werde es
nachts «nie allzu kalt» und manche der Kliniken seien sogar bereit, bei
Notfällen «ohne Versicherung oder Check zu helfen». Ausserdem
könne man sich in diesem Viertel auf die Polizei verlassen. Sorgen
macht er sich nur um eine neue Baustelle, die den Platz für die Zelte zu
verengen beginnt.

Seine Ausführungen erinnern an den Diskurs gutbürgerlicher


Immobilieneinschätzung und lassen mich an den Mann auf der einen
Hauptstrasse von Palo Alto in Silicon Valley denken, der mit seinem
langen grauen Bart wie ein gestrandeter Aristokrat aussieht.

Ich kenne den Mann schon seit Jahren, ohne zu wissen, wie er heisst.
Manchmal lade ich ihn zu einem Hamburger bei McDonald's ein, wo
der Einkaufswagen mit seinem Bündel steht, und zu meiner Rolle
gehörte die immer selbe Mini-Pointe, dass ich eigentlich lieber
«Kentucky Fried Chicken» esse, bis der namenlose Bekannte mich
neulich mit einem «No, thanks» und der Begründung ausstach, er sei
inzwischen Veganer geworden.
Die Reaktion
Sicher, diese besondere Szene gehört zu einer Umwelt historisch
beispiellosen Wohlstands, wo selbst die am meisten
Unterprivilegierten ab und an wählerisch sein dürfen – aber
grundsätzlich beschwören solche Situationen ein Bündel von
Reaktionen voller Widersprüche herauf, die wir uns nicht gerne
bewusstmachen.

Zuerst sind da das Mitleid mit Menschen, deren Schlaf von


wechselnden Wetterlagen abhängt, und der Impuls, ihnen gleich einen
Dollarschein zu geben oder ihnen einen Hamburger zu spendieren.
Und dann kommt der eher politische Gedanke auf, sie durch staatlich-
soziale «Massnahmen» von ihrem Leben auf der Strasse – und uns
selbst von ihrem Anblick – zu erlösen.

Wollen wir also wirklich unsere


Normalerwartungen und unsere eigenen
Lebensformen zum Mass aller Dinge – und
zur Norm für das Leben aller Menschen –
machen?

Zur Spannung der Gefühle gehören ähnlich auseinanderstrebende


Projektionen. Erstaunlich oft wird auf der einen Seite die Vermutung
geäussert, dass die namenlosen Bekannten ein Leben ganz ohne
Verpflichtungen bewusst gewählt hätten und als eigentliche Erfüllung
erlebten. Oder sparen sie einfach die Ausgaben für jene Zigaretten und
Hamburger, die sie von mir bekommen können? Auf der anderen Seite
bewundere ich die Würde, die viele Menschen von der Strasse davor
bewahrt, trotz allen Narben eines prekären Lebens die Form ihrer
Worte und Gesten je ganz zu vernachlässigen. Sie haben sich nicht
aufgegeben und sprechen immer gerade noch auf Augenhöhe.

Die grundsätzliche Unsicherheit unserer Normalbürgereinstellung


gegenüber Zeitgenossen, die auf dem Boden der Städte schlafen,
unsere Unsicherheit zwischen franziskanischen Impulsen und
sozialdemokratischen Lösungsrezepten schlägt sich auch in der
Sprache nieder. Denn wir haben keinen genauen und doch
wertneutralen Begriff für ihre Lebensformen und verurteilen dann –
im Grunde aus Verlegenheit und kaum verdrängten Schuldgefühlen –
jede beschreibende Rede über sie als moralisch illegitim.

Nur etwas weniger herablassend als das gängige, sehr norddeutsch


klingende Wort «Penner» kommt mir der österreichische Ausdruck
«Sandler» vor, der in den späten achtziger Jahren von einem Schlager
der Pop-Gruppe «Erste Allgemeine Verunsicherung» zum «Sandler-
König» gesteigert worden war.

Allerdings wird auch das deutlicher aseptische englische Konzept von


den «homeless people» der Komplexität ihrer Lebensform nicht
gerecht – und der zunächst neutral wirkende Begriff der
«Verwahrlosung» zeigt auf den zweiten Blick eine durchaus
problematische Implikation. Verwahrlost, lesen wir in einem
Psychologielexikon, sei «eine anhaltend und in allen Bereichen des
Lebens von den Erwartungen ihrer Umwelt abweichende Person».
Wollen wir also wirklich unsere Normalerwartungen und unsere
eigenen Lebensformen zum Mass aller Dinge – und zur Norm für das
Leben aller Menschen – machen?

Die Geschichte
Immerhin gehören zum Alltag in vielen europäischen Ländern die
Sinti und Roma, die ihre mobile Unabhängigkeit – oft leidenschaftlich
– bejahen, obwohl sie immer wieder und auch ganz ohne Konflikt mit
dem Gesetz unter den Begriffsschatten der Verwahrlosung fallen.
Woher könnte man eine moralische Berechtigung ableiten, sie zur
Bindung an einen Ort zu zwingen?

Die im Wohlfahrtsstaat dominierende Einstellung, an die wir uns


längst gewöhnt haben, nämlich die Kombination zwischen einer
harschen Unterdrückung von Lebensformen, die von den Erwartungen
ihrer Umwelt abweichen, und gutgemeinten Erlösungsversprechen, ist
in der frühen Neuzeit entstanden. Ausgehend von Spanien nahmen ab
dem sechzehnten Jahrhundert allenthalben komplizierte Verbote des
Bettelns und des Vagabundierens überhand. Zugleich bildeten sich
Institutionen massiver Umerziehung heraus, etwa die in der
englischen Aufklärung entstehenden «working houses». Beide Seiten
dieser Entwicklung trugen dazu bei, Armut für all jene Menschen
unsichtbar zu machen, die nicht von ihr betroffen waren.

Hinter dem machtvollen Programm von


Einschränkung, Unsichtbarwerden und
Aufhebung öffentlicher Armut ist die
Intuition nie ganz verschwunden, dass sie
als gewählte Lebensform Würde und
Charisma entfalten kann.

Trotzdem hat sich jene grundlegende Unsicherheit gegenüber ihrer


Präsenz bis in unsere Gegenwart erhalten. Innerhalb einzelner
nationaler Rechtssysteme sind die Gesetze zur Regulation von Betteln,
Verwahrlosung und anderen Formen exzentrischen Lebens durch
beständige Revisionen gegangen. Und obwohl es einen breiten
modernen Konsens gibt, wonach Betteln des Menschen nicht würdig
ist und verhindert werden muss, schwanken die Rechtsvorschriften
zwischen absoluten Verboten und ebenso grundlegender Freizügigkeit.
Woher kommen solche Ambivalenzen? Warum verlassen wir uns nicht
auf die in der Neuzeit verbindliche Formel? Was geht uns heute
Verwahrlosung an?

Hinter dem machtvollen Programm von Einschränkung,


Unsichtbarwerden und Aufhebung öffentlicher Armut ist die Intuition
nie ganz verschwunden, dass sie als gewählte Lebensform Würde und
Charisma entfalten kann. Niemand hat dies eindrucksvoller vorgelebt
und formuliert als der heilige Franziskus von Assisi, der die
Abwendung vom sinnlichen Leben seiner Jugend auf die ebenso
schöne wie provokante Formel brachte, er heirate die Dame Armut.
Seine Vorgänger waren Religionsstifter wie Jesus Christus und
Gautama Buddha (die islamische Interpretation der Armutsdimension
in Mohammeds Leben bleibt ambivalent), aber natürlich gehört auch
die philosophisch-kynische Schule mit dem Leben des Diogenes als
ihrer sprichwörtlichen Konkretisierung zur selben Genealogie.
Mangel an Empathie
Aus geschichtlicher Perspektive – und das heisst: ausserhalb
theologischer Sinngebungssysteme – bleiben solche Gestalten Teil je
besonderen Welten der Vergangenheit, an deren Erneuerung uns
unmöglich liegen kann. Bemerkenswert ist allerdings, dass wir
innerhalb einer globalen Kultur, die sich so gerne für ihre Öffnung
gegenüber vielfältigen (auch körperlich) exzentrischen Lebensformen
feiert, alles Gefühl verloren haben für einen Willen zur Mobilität ohne
Heimat, für Armut als existenzielle Option und auch für den Tod als
physische Realität des Lebens. Fortschrittlich und politisch korrekt
wirkt allein das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, diese
Dimensionen aus unserer Erfahrung auszuschliessen – und unsichtbar
werden sie vor allem durch die Umformung in jene normative
Lebensform, die unserem eigenen Alltag entspricht (Sinti und Roma
sollten am besten zu Sparkassenbeamten oder Tankwarten
umgeschult werden und die Zeltbewohner von Santiago zu
Verkehrspolizisten oder Philosophielehrern).

Dagegen verfügte die mittelalterliche Kultur in der «Separatio


Leprosorum» über eine eigenartige soziale Form, in der gerade die
Isolierung eines – in diesem Fall – für die Gemeinschaft gefährlichen
Körpers mit seiner Präsenz im sozialen Leben zu vermitteln war.
Sobald deutlich wurde, dass Lepra als ansteckende Krankheit eine Frau
oder einen Mann überfallen hatte, wurden sie tatsächlich bei
lebendigem Leib einem Beerdigungsritual unterworfen, in dem ein
Priester sie – öffentlich – als «für die Welt gestorben und zu neuem
Leben für Gott erweckt» vorstellte.

Von diesem Moment an lebten sie mit anderen Leprakranken in


sichtbarer Gegenwart an den Rändern der Städte, ohne zu Opfern
kollektiver Aggression zu werden. An bestimmten Tagen des
Kirchenjahres durften sie – durch ihre Kleidung und bestimmte
Zeichen sichtbar gemacht – in die Städte zurückkehren, und alle
gesunden Christen standen in der Pflicht, ihr Leben durch Almosen zu
erhalten.

Zwar hat die moderne Medizin zahlreiche sozial bedrohliche


Krankheiten eliminiert oder unter Kontrolle gebracht, doch fehlen uns
– mehr denn je vielleicht – soziale Formen, um in der realen Präsenz
dessen leben zu können, was uns heute als bedrohliches Anderssein
beunruhigt: in der realen Präsenz von Armut, von Krankheiten ohne
verfügbare Therapie – und in der realen Präsenz des Todes als
physischen Ereignisses.

Die stärksten Technologien unserer Zeit und unser radikalster Wille zu


kultureller Offenheit scheinen das Problem nur zu verschieben, ohne
es zu lösen. Wir haben trotz allem objektiven Fortschritt Grund, die
Namen der prinzipiell Namenlosen in unserer Welt wieder zu lernen
und zu gebrauchen, um jene Distanz aufzuheben, welche die
Dimension von Verwahrlosung über uns verhängt – so wie wir unsere
Eltern nicht mehr alleine sterben lassen sollten.

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert-Guérard-Professor für Literatur an der Stanford


University.
Das Denken wagen
Öffentliche Intellektuelle sind brav und zahm geworden. Die
meisten predigen aus sicherer Warte ökologisches
Wohlverhalten, mehr Gleichheit und noch mehr Konsens.
Kein Wunder, verlieren sie an Gewicht. Wie tickt der neue Intellektuelle?
Hans Ulrich Gumbrecht / 21.3.2018, 05:30

Würdig, wer die Haltung wahrt


Gibt es eine Ästhetik der Würde? Gerade alternden
Gesellschaften stellt sich die Frage drängender als je zuvor.
Wer Vorbilder sucht, könnte sich an Muhammad Ali und
Queen Elizabeth orientieren.
Hans Ulrich Gumbrecht / 1.1.2018, 05:30

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