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HS: Historische Epistemologie | Dr.

Henning Trüper

F OUCAULTS KRITISCHE O NTOLOGIE


G E G E N W A R T U N D G E S C HI C H T E Foucault steht einer Geschichtsschreibung,
die mit den Topoi der Kontinuität und Entwicklung arbeitet, ablehnend gegenüber, da für jenen auch
Diskontinuitäten und Brüche zur Geschichte dazugehören. Er weist das lineare und durchgehende Modell
von Geschichte als eine epistemologisch-politische Strategie aus, mit der das Ziel verfolgt wird, zum einen
die historische Komplexität für die Geschichtsforschung in erkenntnistheoretischer Hinsicht zu reduzieren
und zum anderen, um die Bedeutung des Subjekts oder individueller Akteure aufrechtzuerhalten, während
die Menschen gegenüber den unpersönlichen Machtverhältnissen und Technologien, die zunehmend die
Welt strukturieren, an Bedeutung zu verlieren scheinen. [vgl. MARCHAND, 1997, 323-336]

Aus philosophischer Sicht ist Foucaults Kritik der historiographischen Methode Teil einer Kritik am
Humanismus. So ist das Subjekt für ihn weder Schöpfer noch Erklärer der Welt, sondern ein durch Sprache,
die um es, über es und von diesem selbst gesprochen wird, sowie Machtverhältnisse, die sowohl die die
Sprache als auch die materielle Welt durchziehen, produziertes Konstrukt. Foucaults Schriften suchen eben
jene Kontingenz und sprachliche Bedingtheit von Subjektivität einzufangen und verfolgen damit das Ziel,
dem Denken eine neue Perspektive auf die Geschichte der Moderne zu eröffnen.

Ihm geht es um ein Verständnis der Bedingungen und Motive der erzählenden Geschichte bei gleichzeitiger
Aufdeckung der Institutionen und Diskurse, die für die Erfassung des lebensweltlichen Verlusts an
Subjektivität hinderlich sind. Dabei greift Foucault auf ein vielseitiges methodisches Repertoire zurück,
welches von der literarischen Dekonstruktion und der marxistischen Kritik der Macht beeinflusst ist, sowie
Nietzsche beerbt, dessen genealogische Methode zum Anknüpfpunkt der Foucaultschen Forschungen wird.
Mit seiner Methodik will Foucault den Aufstieg der liberalen Institutionen der westlichen Welt in Frage
stellen und das Subjekt der Moderne damit in seinem Selbstverständnis neu situieren. Die Originalität des
Foucaultschen Angebots und Aufgebots besteht gerade in dieser eklektischen Arbeitsweise, in deren Rahmen
die liberale Geschichtsschreibung kritisiert wird. Trotz dieser methodologischen Heterogenität ist sein Werk
von wiederkehrenden Vorannahmen durchzogen und wird über die Jahre von einer überschaubaren Anzahl
immergleicher Motive heimgesucht.

Foucault greift auf Nietzsches genealogische Methode zurück, um etablierte oder paradigmatisch gewordene
Ideen zur Disposition zu stellen. Dadurch soll das Selbstverständnis der Moderne aufgebrochen werden,
demzufolge die soziale und wissenschaftliche Entwicklung – besser gesagt: Veränderung über die Zeit – als
eine Fortschrittsgeschichte erscheint. Foucaults Weise, Geschichte zu schreiben, ist zwar von der
marxistischen Kritik der vermeintlich repressiven Natur des modernen Liberalismus beeinflusst, doch
Thomas Pawelek, 368732, 6. Fachsemester | BA-KulT-WTG-4 | große Leistung | Hausarbeit

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zeichnet Foucault sich im Gegensatz zu seinen marxistischen Zeitgenossen durch ein viel subtileres
Verständnis derjenigen Prozesse aus, in denen Ideen gesellschaftlich akzeptiert werden und schließlich zu
wirken beginnen.

Foucault lokalisiert die Orte, an denen genannte Repressionen stattfinden, in liberalen Institutionen wie
dem Irrenhaus, der Klinik und dem Gefängnis. Die historische Untersuchung dieser drei Institutionen
vollzieht sich nach einem grundsätzlichen Muster: Er kehrt die „übliche Erfolgsgeschichte“ [ebd., 329] um
und zeigt, wie die machthabenden Individuen an diesen Orten ihr „neues Expertentum nutzen, um ihre
eigenen Interessen zu befördern“ [ebd.], während die Autonomie der dort formierten Subjekte nach und
nach reduziert wird; sozialer und wissenschaftlicher Fortschritt vollzieht sich durch „Techniken sozialer
Kontrolle“ [ebd.] und mündet im „[Verlust] an individueller Autonomie“ [ebd.].

Über Gesellschaft zu schreiben bedeutet für Foucault, eine gesellschaftskritische Ontologie der
Machtverhältnisse zu zeichnen und diese in ihrer Veränderung über historische Zeiträume hinweg
rekonstruierend zu dokumentieren. Die moderne Gesellschaft stellt sich für Foucault als ein Netzwerk von
„ineinandergreifenden und sich überlappenden Systemen von Herrschaft [dar], die alle ihre Macht durch
die Schaffung je spezifischer Arten wissenschaftlichen Wissens legitimieren“ [ebd., 329 f.]. Die Geschichte,
die Foucault schreibt, ist die der hinterlistigen instrumentellen Vernunft, die ihr Wirken auf das Innerste
des Subjekts ausweitet, welches wiederum „durch den Rückzug der sichtbareren Formen der Macht von der
Erkenntnis dieses Vorgangs abgelenkt wird“ [ebd., 330]. Dieses Subjekt entsteht im Gefüge von
Machteffekten und trägt die Signatur der Machttechnologien, die als Koordinaten fungieren, zwischen
denen es als modernes Subjekt aufgespannt wird und sich als jenes konstituieren kann. Macht ist für
Foucault als destruktiv und zugleich produktiv zu verstehen; sie wirkt hemmend und beschneidend, doch
gleichzeitig konstituierend und ermöglichend auf das Subjekt ein.

Für Foucault formiert sich Subjektivität maßgeblich durch die Sprache, in deren konkreten diskursiven
Praktiken sich das Subjekt konstituiert. Sprache vermittelt das Denken wie auch die Erfahrung, so dass die
Analyse „sprachlicher Formationen und Gebrauchsweisen“ [ebd., 332] den einzigen Zugang zum
Verständnis der spezifischen Formen des In-der-Welt-Seins darstellt. Denn letzteres bietet uns immer nur
unter historischen Bedingungen, um die Konstruktion des Subjekts und seiner kulturellen Systeme zu
verstehen. Sprachliche Diskontinuitäten zeigen für Foucault das Auftauchen neuer Weltsichten und damit
auch neuer Macht- und Wissensregimes an. Foucaults Untersuchung des Sprachgebrauchs fügt sich in seine
Archäologie des Wissens ein, die eine Suche nach den „‘Denkmälern‘ […] und Brüchen im Diskurs ist, die
das Aufkommen neuer Ordnungsformen […] markieren.“ [ebd., 333]

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Foucaults Weise, mit Geschichte zu arbeiten, rückt diesen in die Nähe der französischen La nouvelle histoire,
die in Verbindung zu der 1929 von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründeten Zeitschrift Annales steht.
Mit diesem Modell der Geschichtsschreibung teilt Foucault einen problemorientierten, analytischen,
interdisziplinär ausgerichteten Ansatz, der das menschliche Handeln in seiner ganzen Breite zu erfassen
sucht; die Annales-Schule, der Foucault allerdings nicht zugehört, grenzt sich explizit von einer nur
ereignisorientierten und politischen Geschichtsschreibung ab. [vgl. BURKE, 2004, 7 f.].

Die vorliegende Ausarbeitung ist in folgende Abschnitte gegliedert: Gegenwart und Geschichte (S. 1) –
Aufklärung und Kritik (S. 3) – Archäologie des Wissens (S. 7) – Genealogie der Macht (S. 11) –
Gouvernementalität (S. 13) – Technologien der Macht (S. 14) – Geschichte der Wahrheit (S. 16).

Ich beginne mit der Bestimmung von Foucaults kritischer Intention in ihrem Verhältnis zum
Aufklärungsgedanken Kants, gebe anschließend einen Überblick über Foucaults archäologisch-
genealogische Methode und ihre machttheoretischen Implikationen und schließe die Arbeit mit einem
Resümee zum historiographischen Forschungsprogramm Foucaults. In dieser Arbeit, die sich als eine
Annäherung an das Denken Foucaults versteht, soll gezeigt werden, worin Foucaults Motivation besteht,
sich von der Historiographie seiner Zeit abzugrenzen und inwieweit diese Distanz zum einen als eine Kritik
an der historiographischen Methodologie und zum anderen an der Moderne verstanden werden kann;
Foucault soll als unkonventioneller Historiker herausgestellt werden, der die historiographische Arbeit
transzendiert, indem er sie mit einem kritischen Motiv ausstattet, welches sich vom lebensweltlichen
Erfahrungsgehalt der Gegenwart als Moderne ableitet: Subjektivität soll sich in der historischen Kontingenz
ihrer machtrelationalen Konstitutionsbedingungen selbstdurchsichtig werden, um durch jene Aufklärung
über sich selbst frei darüber disponieren zu können, ob sich einer bestimmten Subjektivierungspraxis
unterworfen wird, oder ob man diese zurückweist und sich als Subjekt zu einer ganz anderen Form von
Subjektivität entschließt. Foucault arbeitet keine revolutionären Programme aus und predigt auch keine
Heilsversprechen, vielmehr zeigt infolge seiner archäologisch-genealogischen Herangehensweise mit aller
Deutlichkeit auf, das Subjektivität historisch kontingent ist und dass das Subjekt stets eine gewisse Wahl hat,
wie es leben möchte; Foucaults Werk ist als eine Bekräftigung des stets in einer Geschichte stehenden
kontingenten Subjekts zu verstehen, für sich selbst einzustehen und seine eigene Geschichte zu modifizieren.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf den analytischen Kategorien des Foucaultschen Begriffsapparats,
die ich darzustellen und in einen Zusammenhang mit Foucaults gesellschafts-, macht- und subjektkritischer
Absicht zu bringen suche; dabei ziele ich auf den internen logischen Zusammenhang seiner Kategorien im
Angesicht meiner Problemstellung ab, anstatt jene Terminologie anhand der Foucaultschen
Denkentwicklung durch seine Werke hindurch nachvollziehend zu explizieren. Foucaults Werk soll
vielmehr als eine kritische Ontologie der gesellschaftlichen Subjektivierungsverhältnisse dargestellt werden,

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wobei mir bewusst ist, dass so eine schließende Vereinheitlichung eines Gesamtwerks gewisse Brüche und
Nuancen in der Denkentwicklung eines Autors vernachlässigt oder glättet. Um Vollständigkeit kann es im
Rahmen einer Hausarbeit dieses Formats nicht gehen; eher geht es mir um eine in sich schlüssige Darstellung
gewisser fundamentaler Aspekte des Foucaultschen Denkens.

AUFKLÄRUNG UND KRITIK Foucaults Werk ist von einer kritischen Intention

durchzogen, die in der Tradition der Aufklärung steht; er bezieht sich dabei in affirmierender, aber doch
kritischer Weise auf Kant. So spricht Foucault von einer Gemeinsamkeit zwischens der „erhabenen
Unternehmung Kants“ [FOUCAULT, 1992, 8] und den „kleinen polemisch-professionellen Aktivitäten“
[ebd.] der Kritik; dieses Gemeinsame beläuft sich auf eine gewisse kritische Grundhaltung, auf ein
spezifisches Verhältnis zwischen Denken, Sprechen, wie auch Handeln und Gesellschaft sowie Kultur.
Foucault versteht Kritik, die immer nur in Bezug auf etwas Anderes existieren kann als sie selbst, als
Instrument oder Mittel zur Veränderung der Gegenwart hin auf eine unbekannte, noch offene Zukunft.

Diese kritische Haltung wird von Foucault den „Regierungskünsten“ [ebd., 12] als eine Praxis
entgegengestellt, sich aktiv in Bezug auf die Formen des Regiertwerdens zu verhalten. Er definiert Kritik als
„die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ [ebd.] und spielt dabei auf die verschiedenen Möglichkeiten
an, sich kritisch gegenüber der Macht zu verhalten; letzterer kann misstraut werden, sie kann begrenzt oder
gänzlich abgelehnt werden, man kann die Macht verändern, sie verschieben oder gar versuchen, ihr zu
entwischen.

Als theologisches Beispiel für genannte kritische Haltung und den Willen, nicht dermaßen regiert zu werden,
führt Foucault das Begehren nach einem anderen Verhältnis zur Heiligen Schrift an: Es zeichnet sich zum
einen durch eine Abkehr von der traditionellen Lehre und durch Verweigerung, Zurückweisung oder
Einschränkung des kirchlichen Lehramts aus; zum anderen ist es mit einer Rückkehr zur Heiligen Schrift
verbunden, die im Zeichen eines Zugangs zu ihrem authentischen Gehalt und der Suche nach ihrer
eigentlichen Wahrheit einhergeht. Die Kunst nicht regiert werden zu wollen verbindet sich auch damit,
gewisse Gesetze nicht mehr zu akzeptieren zu wollen und jenen Gesetzen andere, „universale und
unveränderbare Rechte“ [ebd., 14] entgegenzusetzen wie es im 16. Jahrhundert in kritischer Absicht durch
die Berufung auf das Naturrecht geschehen ist. Die kritische Haltung gegenüber dem Regiertwerdens äußert
sich letztlich darin, die von Autoritäten ausgerufenen Wahrheiten in ihrem Legitimationsgehalt zu
überprüfen und als wahr nur das gelten zu lassen und anzunehmen, dessen Gründe man selbst für legitim
befindet. Die, sich in einer sozialen Praxis, durch Machtmechanismen und durch Berufung auf Wahrheit
vollziehende Unterwerfung der Individuen im Zuge der „Regierungsintensivierung“ [ebd., 15] findet in der

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Kritik eine Gegenkraft, mit „welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre
Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin“ [ebd.].

Foucaults Verständnis von Kritik trifft sich mit Kants aufklärerischer Intention: Letzterer beschreibt die
Aufklärung als Heraustreten aus einem Zustand der Unmündigkeit, in dem die Menschen durch die
Autoritäten gehalten werden; genannte Unmündigkeit ist für Kant subjektiv selbstverschuldet, da diese
durch das Unvermögen gekennzeichnet sei, sich selbstständig seines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne
sich dabei durch andere leiten zu lassen. Foucault greift Kants Definition der Aufklärung als einen „Appell
an den Mut“ [ebd., 16] auf und macht damit „Entschlossenheit und Mut“ [ebd.] zu konstitutiven
Momenten der kritisch-aufklärerischen Haltung, in der sich Selbstbefreiung, Mündigkeit und Tugend
verbinden. Was Kant als Aufklärung beschreibt, charakterisiert Foucault als Kritik: „als die kritische
Haltung, die man im Abendland als besondere Haltung neben dem großen historischen Prozeß der
Regierbarmachung der Gesellschaft auftauchen sieht“ [ebd., 16].

Foucaults Forschungsprogramm, das normativ und antinormativ zugleich ist, gibt sich als eine „historisch-
philosophischen Praktik“ [ebd., 26], die von dem Gedanken getragen wird,

sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren, die von der Frage
nach den Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften
Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist [ebd.].

Foucaults kritische Ontologie wird von einem philosophischen Ethos getragen, das sich als „historische und
kritische ‚Haltung‘ gegenüber der Gegenwart“ [SCHÄFER, 1995, 24] gibt und sich auf gegenwärtige Wissens-
, Handlungs- und Sprechformen menschlicher Betätigung bezieht, die sich als „Manifestationen von
‚Denkweisen‘ darstellen und deren Gegenstand darüber hinaus das ‚Subjekt‘ ist“ [ebd.]. Das Denken gilt für
Foucaults Sichtweise als fundamentales Phänomen, da jene „Lebenspraktiken“ [ebd., 23] stets in einer
bestimmten historischen Rationalität gründen; der Fokus seines Unternehmens liegt hierbei auf
Gegenständen, in denen das Subjekt als Objekt möglichen Wissens referiert wird. Kritische Ontologie ist
zugleich eine kritische Geschichte des Denkens und erfüllt damit die Funktion einer kritischen Geschichte
der (modernen, historisch positiven, allgemeinen) Subjektivität.

Jene kritische Betrachtung des „ontologischen Status der Gegenwart“ [ebd., 26] nimmt die Gegenwart nicht
unter Allgemeingültigkeit, Vernünftigkeit und Selbstverständlichkeit in den Blick, sondern misst diese in
ihrer Spezifizität, ihren Grenzen nach und ihrer historischen Kontingenz nach aus: „[D]ie Absicht der
ontologischen Analyse besteht vielmehr darin, das vermeintlich Allgemeine oder Vernünftige selbst anders
wahrzunehmen, nämlich so, daß es als singulär, kontingent und zwanghaft erscheint, das heißt, daß diese
Eigenschaften in ihm, als wesentliches Moment seiner selbst aufgezeigt werden.“ [ebd.] Foucault

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beansprucht damit die Ermöglichung eines neuen Blicks auf die Gegenwart, einer neuen Selbsterfahrung
und eines neuen Umgangs mit den Referenten des Diskurses.

Die Untersuchung der Gegenwart bearbeitet drei differente, aber im theoretischen Kontext
zusammengehörende Aufgaben: Erstens wird die Gegenwart in ihrer singulären historischen
Ereignishaftigkeit sowie ihre Diagnostik „hinsichtlich ihrer spezifischen Differenz gegenüber der
Vergangenheit und möglichen Zukunft“ [ebd., 28] betrachtet und dies im Modus des historischen
Vergleichs zur Sichtung und Artikulation historischer Brüche und Diskontinuitäten; zweitens erfolgt die
Analyse der Begrenzungen von Denken, Tun und Sprechen, denen wir soweit unterstellt sind als dass wir
ihnen durch bestimmte „Formen von Subjektivität bzw. bestimmten Weisen der Subjektivierung
unterworfen sind“ [ebd., 29]; drittens werden die „historischen Bedingungen der Möglichkeit der
Gegenwart“ [ebd., 30] analysiert: Die Herausstellung der historischen Kontingenz der Gegenwart soll durch
die Erarbeitung der „spezifischen historischen Bedingungen“ [ebd.], unter denen sich unsere Subjektivität
konstituiert, sowie unter Beachtung der Machtverhältnisse, die diesen Bedingungen zuteil kommen,
vollzogen werden. Foucault weist dabei zwei Unterstellungen bezüglich des Verständnisses von Gegenwart
zurück: Gegenwart ist kein „integrales Element einer vermeintlich kontinuierlichen Kette von Bedeutungen“
[ebd., 31]; Gegenwart ist kein „Resultat einer sinnhaft rekonstruierbaren historischen Entwicklung“ [ebd.].

Das politische Moment der genealogischen Kritik Foucaults zeigt sich in der Diskreditierung der fraglosen
Akzeptanz von Machtverhältnissen und Delegitimierung unserer Gegenwart durch die Entlarvung des
gewalttätigen Urgrunds, auf denen sich die „historische Entstehung der von uns akzeptierten Formen des
Denkens und Handelns“ [ebd., 33] vollzogen hat. So ist die Aufhebung der Unterwerfung das praktisch-
theoretisches Ziel jener Kritik: Mit der „Gegenwartsdiagnose Foucaults“ [ebd., 36] erfolgt die Benennung
der „Orte [...], an denen derartige experimentelle Überschreitungen [...] wünschbar sein könnten“ [ebd.],
sowie die Angabe der „Bedingungen für tatsächliche, beabsichtigte Überschreitungen“ [ebd.]. Die
„Kritisierbarkeit aller möglichen ‚Gegenwärtigkeit‘“ [ebd., 41] ist eine fundamentale Annahme des
Foucaultschen Programms; Kritik fungiert hier als permanente theoretische Haltung im Zusammenspiel
mit einer Permanenz des praktischen Experimentierens der Überschreitung. Es geht Foucault durchaus um
„Aufforderungen zu Veränderungen“ [ebd., 35], um ein antinormatives Gebot, sich kritisch-reflexiv am
Normativen abzuarbeiten, es in seiner Grundlosigkeit hinsichtlich einer Letzbegründbarkeit zu erkennen
und das Fehlen letzterer als Möglichkeit wahrzunehmen, die konkreten singulär-historischen Ausprägungen
des Normativen gegebenenfalls mit anderen Inhalten zu füllen. Das „praktische Interesse an der
Veränderung bestehender Denkweisen, Lebensweisen und Sinnbezüge“ [ebd.] spiegelt sich am Willen zur
überschreitenden Überführung des theoretischen Kritikverfahrens in eine experimentelle und
supplementierende Form der kritischen Praxis, durch die „Ansatzpunkte für die theoretische Analyse“ [ebd.,

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36] ermittelt werden sollen; Kritik nimmt die Form einer permanenten kritischen Haltung gegenüber der
Gegenwart an, das heißt gegenüber den gegenwärtigen „zugrunde liegenden grundsätzlichen (impliziten)
Vorstellungen von Leben, Menschsein, Gerechtigkeit oder Wissen und Erkenntnis“ [ebd., 40]. Dabei geht
es Foucault nicht um die Denunziation eines bestimmten Bewußtseins, sondern um die Problematisierung,
„geltende Orientierungen im Denken, Handeln oder Wollen seien Ausdruck von Universellem, von
Wahrheit oder Evidenz, und besäßen folglich mehr als bloß faktische, historische und lokale Geltung“ [ebd.,
51]. Freiheit wird, wenn dann nur im selbstbestimmten Changieren von Bewußtseinsformen und
Subjektivierungspraktiken erfahren; es geht Foucault darum, ein Verfallen an eine bestimmte Weltdeutung
zu vermeiden und ein blindes, nicht selbstbestimmtes Dasein innerhalb dieser zu führen [vgl., ebd., 55].

Foucaults Methodologie setzt sich aus einer archäologischen und genealogischen Komponente zusammen, wie
im Folgenden zu zeigen sein wird. Mit Hilfe der Archäologie und Genealogie beansprucht Foucault, die
grundlegenden ontologischen Formen zu beschreiben, in denen sich Gesellschaft organisiert, so dass man
hinsichtlich seines Forschungsprogramms von einer kritischen Ontologie sprechen kann, in der auf die
gesellschaftlichen Machtrelationen und Machtpraktiken referiert wird; jene Formen sind stets mit
konkreten, aber historisch variablen Inhalten gesättigt.

Das sozialontologisch fundierte Denkgebäude Foucaults ist gerade nicht als etwas statisches, überhistorisches
angelegt, sondern als ein Kategoriengebilde, mit dem beansprucht wird, die latente Instabilität und das
Veränderungspotenzial von Gesellschaft einzufangen. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive gesehen geht
es Foucault mit seinem analytischen Zugang um die Erfassung und Beschreibung der elementaren diskursiv
vermittelnden sozio-materiellen Formen gesellschaftlicher Praxis, durch die sich Gesellschaft historisch auf je
singuläre Weise transformiert wie auch stabilisiert; es muss betont werden, dass es Foucault nicht darum
geht, allgemeine Regeln des Diskursiven, Historischen, Ökonomischen etc. aus seiner empirischen
Geschichtsarbeit abzuleiten – vielmehr dient ihm seine Terminologie als ein, aus seinen historischen
Untersuchungen gewonnenes Analyseraster für die Untersuchung von Gesellschaft und ihrem Sein in der
Zeit.

A R C H Ä O L O G IE D E S W I S S E N S Die in den 1960er-Jahren durch Foucault

vorgenommene programmatische Entfaltung einer Archäologie des Wissens ist zum einen „Versuch einer
umfassenden methodologischen Standortbestimmung in Hinblick auf seine früheren Arbeiten“ [KAMMLER
ET. AL., 2014, 51]; im Zentrum des Werks steht die systematische Entwicklung der archäologischen
Methode. Zum anderen umfasst sie die Konzeption einer alternativen, sich kritisch von der Ideengeschichte
und „etablierten philosophischen und gesellschaftstheoretischen Problemstellungen“ [LEMKE, 1997, 38]
abgrenzenden und in methodologischer und thematischer Nähe zur Annales-Schule stehenden

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Wissenschaftsgeschichtsschreibung, mittels dieser die Konstitutionsbedingungen von


Erfahrungsgegenständen in den Wissenschaften herausgestellt werden sollen, deren Einfluss für unsere
heutige Erfahrung uns in dessen strukturbildenden Moment nicht bewusst ist [KÖGLER, 2004, 25].
Foucault geht es um eine Veränderung der Perspektive hinsichtlich der Geschichte der
Geisteswissenschaften, die durch die Überwindung der menschlichen Erfahrungsstruktur in ihrer
erfahrungsbgerenzenden anthropologischen Bedingtheit angestoßen werden soll: Foucault zielt dabei auf
den Nachweis der historischen Kontingenz der „den Menschen als Subjekt und Objekt der Erkenntnis
erfassenden Wissensstruktur“ [ebd.], in der gegenwärtiges Denken gefangen sein soll. Dabei operiert jene
archäologische Methode nicht im Sinne von historischen Ausgrabungen zum Zwecke einer
„hermeneutische[n] Tiefendimension“ [LEMKE, 1997, 39], die geborgen werden soll; die Archäologie
verbleibt vielmehr an der Oberfläche, um das Geschichtsmaterial in seiner Positivität zu beschreiben.
Foucaults Arbeitsweise lässt sich auch in Anlehnung an Darwins Modell der Evolution sowie Nietzsches
genealogischer Methode beschreiben:

Historisch ist [...], daß Foucault die Geschichte der Weltbilder als eine keiner Teleologie unterworfene
Abfolge beschreibt. Jede hat gleiches Recht mit jeder anderen, keine bringt die definitive Wahrheit des
Menschenwesens ans Licht, alle sind – nach Rankes berühmten Wort – ‚gleich unmittelbar zu Gott‘. Aber
Foucaults Archäologie teilt mit dem Historismus mur die moralische und erkenntnistheoretische
Gleichgültigkeit (Indifferenz), nicht den Anspruch zu verstehen. Diesen Verzicht auf Verstehen teilt sie dagegen
mit der Genealogie. Genealogisch heißt nicht genetisch – fast im Gegenteil.“ [...] Wer die Geschichte in
Anlehnung an die Genealogie beschreibt, sucht also niemals den Übergang aus der einen zur anderen
Formation als etwas subjektiv oder durch Gottes lenkenden Willen Beabsichtigtes zu verstehen, sondern
beschreibt ganz wertfrei die verschiedenen Konfigurationen, die ohne nachvollziehbaren Grund dem einen
Wissenstyp größere Überlebenschancen gelassen haben als dem vorangegangenen. [FRANK, 1984, 146 f.]

Gegenstand der Archäologie bildet das „Problem des Wissens“ [ebd.]. Anstatt das Modell einer
fortschreitenden Wissenschaftsgeschichte zu bemühen, die von Foucault als ideologisches Pendant des
Subjektdenkens abgetan wird, zielt dessen Archäologie auf die Aufdeckung des „in Diskursen und Praktiken
enthaltene epistemologischen Grundmodells“ [KÖGLER, 2004, 27], das konstitutiv für eine
Erfahrungsstruktur ist. Durch die Untersuchung und Zurückdrängung des wissenschaftlichen
Erkenntnissubjekts soll „jene geschichtliche Dimension der konkreten Erfahrungsmuster und
Wissensnformen“ [ebd., 29] vordergründig werden, die unser Denken und Handeln in seinem jeweiligen
historischen Kontext hintergründig bestimmt. Foucaults spricht dabei von zu analysierenden Monumenten,
in denen sich genannte historische Strukturen materialisieren; historische Phänomene sollen also nicht nur
in ihrem, bestimmte Ausdrucksformen der Subjekte dokumentierenden Gehalt untersucht werden, sondern
auch auf ihren Ermöglichungsgrund hin:

[Heutzutage] ist die Geschichte das, was die Dokumente in Monumente transformiert und was dort, wo man
von den Menschen hinterlassene Spuren entzifferte, dort, wo man in Aushöhlungen das wieder zu erkennen

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versuchte, was sie gewesen war, eine Masse von Elementen entfaltet, die es zu isolieren, zu gruppieren, passend
werden zu lassen, in Beziehung zu setzen und als Gesamtheit zu konstituieren gilt [FOUCAULT, 2015, 15].

Statt also die Bedeutung von Äußerungen in ihrem objektkonstitutiven Gehalt in ein „sinnstiftendes
Subjekt“ [ebd., 30] zu integrieren, setzt Foucault bei den diskursiven Ermöglichungsbedingungen der vom
Subjekt getätigten Aussagen an. Deren regulativer Charakter strukturiert die Kontingenz der Erscheinungen
und macht diese zu einem epistemologisch zugänglichen Objekt in Form einer Sinnordnung oder eines
Erfahrungsrasters, dessen Genese Foucaults Ansatz zu erklären beansprucht. Letztlich bemüht sich die
Archäologie um die Analyse der „konkreten historischen Konstellationen“ [ebd., 32] und der ihr
korrespondieren Erfahrungsstruktur und der dazugehörigen „politischen, perzeptiven und kulturellen
Momente“ [ebd., 35].

Trotz Beibehaltung der Idee der Erkenntniskonstitution lehnt Foucault jegliche apriorisch-überhistorisch
gültige Transzendentalität hinsichtlich der Erkenntnisbedingungen ab, sondern sieht diese als etwas in der
historisch-kulturellen Faktizität Entstandenes:

So sind an Stelle der kontinuierlichen Chronologie der Vernunft, die man gleichbleibend bis zum
unzugänglichen Ursprung, bis zum Anfangsgrund zurücklaufen ließ, mitunter kurze, voneinander
verschiedene, einem einheitlichen Gesetz sich widersetzende Abstufungen erschienen, die oft Trägerinnen
eines Geschichtstyps sind, der jeder von ihnen eigen ist, und die auf das allgemeine Modell eines Bewußtseins
sich nicht zurückführen lassen, das erwirbt, fortschreitet und sich erinnert [FOUCAULT, 2015, 17].

Die Erschließung der kulturellen und wissenschaftlichen Erfahrungsformen in Folge einer


rekonstruierenden Analyse ihrer erfahrungskonstitutiven Strukturen vollzieht sich durch eine, die
historischen Phänomene in ihrer Mannigfaltigkeit einfangenden und ordnenden Terminologie, bestehend
aus den analytischen Kategorien:

Erfahrungsstruktur – historisches Apriori – Episteme – Diskurs – Dispositiv – Aussage.

Die Erfahrungsstruktur bezeichnet die, Erkennenden und Erkanntes umfassende kulturelle Situation, durch
die ein bestimmtes Phänomen in Epistemologie transponiert wird, dieses damit zu einem erfahrbaren
Gegenstand von Wissen wird und die zur historisch konkreten Erfahrbarkeit notwendigen
Erkenntniskategorien bereitgestellt bekommt [vgl. 34 f.].

Das historische Apriori dagegen dient als analytischer Zugang zum historisch konkreten und empirisch
festzustellenden Organisationsprinzip einer Erkenntnisepoche, mit dem sich die „historisch vorbestimmte
und somit zeitlich begrenzte Notwendigkeit einer bestimmten Erfahrung“ begreifen lässt. Foucault will
damit „ein Apriori bezeichnen, das nicht Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für
Aussagen ist“ [FOUCAULT, 2015, 184]; Aufgabe der Archäologie ist dabei,

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die Bedingungen des Auftauchens von Aussagen, das Gesetz ihrer Koexistenz mit anderen, die spezifische
Form ihrer Seinsweise und die Prinzipien freizulegen, nach denen sie fortbestehen, sich transformieren und
verschwinden [ebd.].

Das historische Apriori nimmt die Form eines Archivs an, indem es

das Gesetz dessen [ist], was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner
Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis
ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben
und nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden [ebd., 187].

Das Archiv ist also „das, was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper in dem sie
sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert“ [ebd., 188]. „Es ist das allgemeine System
der Formation und der Transformation der Aussagen.“ [ebd.] „Die Archäologie beschreibt die Diskurse als
spezifizierte Praktiken im Element des Archivs.“ [ebd., 189]

Durch Begriff der Episteme erhöht sich die analytische Auflösung nochmals, da mit diesem die historisch-
kulturell wandelbare Erkenntnisstruktur in den Blick genommen wird, die Erkenntnis erst möglich macht
[vgl. KÖGLER, 2004, 36 f.]. Bei den epistemischen Strukturen handelt es sich erstens um immer historisch
und kulturell entstandene und angewandte Begriffe; zweitens sind jene Strukturen den Individuen
vorgelagert und unbewusst; drittens findet die Episteme Einzug in die „sprachlich-semiotische Dimension
der Theoriewirklichkeit“ [ebd., 37]; viertens zeichnet sich die Konsistenz dieser symbolischen Ordnung
intern und hierarchisch organisiert; fünftens sind die verschiedenen Epistemen „scharf voneinander
skandiert“ [ebd., 37] und sie lösen sich „brauchartig voneinander ab“ [ebd.]; sechstens besitzen diese
erfahrungskonstituierenden Prinzipien eine Verknüpfungsfunktion, mit denen sich die Mannigfaltigkeit der
Aussagen zu einem Weltbild verknüpft.

Der Begriff der Episteme weist zudem Ähnlichkeiten strukturanaloger Art mit dem Kuhnschen
Paradigmenbegriff auf, der in die Wissenschaftstheorie Einzug gefunden hat; als paradigmatisch gelten
Forschungsleistungen, die

neuartig genug [sind], um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher
auf andere Art betrieben hatten, und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neuen Gruppe von
Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen [KUHN, 1976, 25].

Dem Paradigmenbegriff Kuhnscher Prägung ist wesentlich, dass das Paradigma als anerkanntes Beispiel für
eine Wissenschaftspraxis ein Vorbild abgibt, von dem aus „bestimmte festgefügte Traditionen
wissenschaftlicher Forschung erwachsen“ [ebd.] können, und damit gleichzeitig jene Forschungstraditionen
exemplifiziert; letztere verpflichten ihre Anhänger auf dieselben „Regeln und Normen für die
wissenschaftliche Praxis“ [ebd., 26]. Ein Paradigma leitet den Wissenschaftler also bei der Wahl seiner
Methoden und der Beurteilung von Theorien und Evidenzen und dient einer Wissensgemeinschaft damit
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als Organisationsprinzip ihrer wissenschaftlichen Welterfahrung; die Ablösung von Paradigmen verläuft
bruchartig und die wissenschaftliche Wirklichkeit dabei – Kuhns Begriff des Paradigmas und die
Foucaultsche Kategorie der Episteme sind demnach beide von einer gewissen historischen Kontingenz
hinsichtlich ihrer Herausbildung, ihres Bestehens und ihrer Ablösung betroffen.

Der Diskurs ist die Form, in der sich die Episteme aktualisiert und zu erkennen gibt [vgl. KAMMLER, 2014,
54]; als Diskurse oder Diskursformationen sind Aussagenmengen zu verstehen, die über eine gewisse
Kohärenz verfügen und deren wahrheitserzeugenden Ordnungsprinzipien untersucht werden sollen.
Foucault verwendet den Begriff in einem dreifachen Sinn: als allgemeines Gebiet aller Aussagen, als
individualisierte Gruppe von Aussagen und als regulierte Praxis, die für eine bestimmte Zahl von Aussagen
verantwortlich ist.

Was Foucault mit dem Begriff Dispositivs zu erfassen sucht,

ist erstens eine entschiedene heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen,
architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen
Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen,
kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das
Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.

Zweitens ist das, was ich im Dispositiv festhalten möchte, gerade die Natur der Verbindung, die zwischen
diesen heterogenen Elementen bestehen kann. [...] Kurz, zwischen diesen diskursiven oder nicht-diskursiven
Elementen gibt es gleichsam ein Spiel, gibt es Positionswechsel und Veränderungen in den Funktionen, die
ebenfalls sehr unterschiedlich sein können.

Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art [...] Gebilde [...], das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt
vor allem die Funktion hat, auf einen Notstand [...] zu antworten. Das Dispositiv hat also eine dominante
strategische Funktion [FOUCAULT, 2003, 392 f., zit. n.: LINK, 2014, 239]

Das Dispositiv ist demnach als ein Netzwerk heterogener Entitäten zu verstehen, die in ihrer elementaren
Vermittlung zu einer Gesamtheit den Charakter einer „‘Verfügungs-Macht‘“ [LINK, 2014, 238] annehmen:

Das topische Element liegt also in der Kombination heterogener Elemente, die im strategischen Gebraucht
als ebenso viele zur Disposition stehende Optionen quasi instrumenteller Intervention erscheinen. Dabei
bilden die disponierten Subjektivitäten integrierende Elemente der instrumentellen Topik, über die die
Klaviatur von Optionen der disponierenden Subjekte verfügen kann. [ebd., 239]

Die Aussage ist das das unterste, irreduzible Element in Foucaults terminologischer Hierarchie und
begrifflich nur sehr abstrakt bestimmbar. Die Aussage lässt sich einerseits negativ bestimmen: sie
unterscheidet sich von der logischen Proposition und dem grammatikalischen Satz, ferner ist die Aussage
trotz ihres Zeichengehalts kein formales Element einer Sprache. An positiven Bestimmungen lässt sich
festhalten, dass die Aussage zwar „mit einer bestimmten Materialität ausgestattet ist, die sie in Raum und
Zeit identifizierbar macht, [doch] lässt sie sich nicht auf bloße Materialität reduzieren“ [ebd., 57]; der Sinn
einer Aussage wird nicht subjektiv gestiftet, sondern ihr Sinn ist „der bloße Effekt ihres materiellen und
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diskursiven Umfelds, das ihr Auftreten überhaupt erst ermöglicht“ [ebd.]. Die Aussage referenziert ein Feld,
das von dieser definiert wird und in dem die Objekte einer Aussage auftauchen können; analog zu ihrer
raumgebenden Funktion hinsichtlich einer bestimmten Menge von Objekten ist das Subjekt der Aussage
eine Art Variable an einem leeren Platz, „den bestimmte Individuen – allerdings nur unter klar definierten
kontextuellen Bedingungen – einnehmen können“ [ebd., 58].

Zusammenfassend gesagt hat die Foucaultsche Archäologie folgendes Ziel:

Die Archäologie untersucht im Gegensatz zu einer strukturalistischen Analyse nicht die allgemeinen
Konstruktionsgesetze von Diskursen, sondern analysiert die historischen Bedingungen ihres tatsächlichen
Auftauchens und ihrer Existenz [...]. [...] Die Archäologie fragt also nicht nach allgemeinen
Möglichkeitsbedingungen von Aussagen, sondern nach ihren historischen Existenzbedingungen. [LEMKE,
1997, 46]

Während Foucault mit seiner archäologischen Methode die historische Emergenzpunkte von Aussagen und
Diskursen in den Blick nimmt, zielt die genealogische Untersuchungesmethode auf deren materiale
Organisationsformen ab.

G E N E A L O G I E D E R M A C H T In seiner Antrittsvorlesung vom 2. Dezember 1970 am


College de France stellt Foucault sein genealogisches Forschungsprogramm vor, für das folgende Überlegung
tragend ist:

Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert,
organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und
die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftiges zu bannen, seine schwere und
bedrohliche Materialität zu umgehen. [FOUCAULT, 2014, 11]

Foucault geht davon aus, dass das westliche Denken und Handeln einem Willen zur Wahrheit unterworfen
ist, der sich in gewissen Prozeduren hinsichtlich der Produktion von Diskursen äußert: Kontrolle, Selektion,
Organisation und Kanalisation des Diskurses erscheinen als Mechanismen zur Reduktion der unendlichen
Komplexität der Wirklichkeit [vgl. KÖGLER, 74]. Diese, auf die Verbindung von Wissen und Macht
gehende, Analysedimension eröffnet Foucaults Konzeption die Erschließung der für die Moderne
spezifischen Machtform: So handelt es sich bei der Bio-Macht als eine auf die „Lebensfunktionen des
Individuums und der Bevölkerung abzielende, den Humanwissenschaften eingespeiste Kontroll- und
Produktionsstrategie von konformen Systemverhalten“ [ebd., 75].

Foucault unterscheidet in der Ordnung des Diskurses externe und interne „Prozeduren der Kontrolle und
Einschränkung des Diskurses“ [FOUCAULT, 2014, 17]. Erstere „wirken gewissermaßen von außen; sie
funktionieren als Ausschließungssysteme; sie betreffen den Diskurs in seinem Zusammenspiel mit der Macht
und dem Begehren“ [ebd.]. Die internen Prozeduren hingegen sind „Prozeduren, die als Klassifikations-,

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Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken. Diesmal geht es darum, eine andere Dimension des Diskurses
zu bändigen: die des Ereignisses und des Zufalls“ [ebd.].

Foucault unterscheidet hinsichtlich der Form von Machtausübung insgesamt drei Ausschließungsprinzipien
[vgl. KÖGLER, 2004, 77]: Erstens existiert die Unterscheidung zwischen dem Erlaubten und dem
Verbotenen; zweitens wird zwischen dem Vernünftigen und Unvernünftigen unterschieden; drittens dient
die Trennung zwischen Wahrem und Falschem als ausschließender Mechanismus. Es geschieht also eine
Privilegierung bestimmter Gruppen durch die Humanwissenschaften und das auf Basis kontingenter, in
soziale Machtzusammenhänge eingelassener Entscheidungen, hier: binärer Oppositionen. Deshalb bedarf es
der Entfaltung einer Außenperspektive, in der sich Wissensformen und Zurichtung der Erkenntnissubjekte
als in kontingenten Entscheidungen in Form institutionell-symbolischer Gewaltakte fundiert erweisen; der
Diskurs soll so als selbstermächtigende Verknüpfung von Wahrheit und Macht ausgewiesen werden. Es gilt
demnach, die Analyse der diskursiven Bemächtigungsprozesse und ihren Regeln um „eine die soziale
Tiefendimension des kulturbeherrschenden Wahrheitswillens erfassende Genealogie“ {ebd., 79] zu
erweitern.

Im Zuge der Genealogie der Macht werden die Grunderfahrungen des neuzeitlichen Denkens in Frage
gestellt [vgl. ebd., 80 f.]: die der Ich-Identität, des Körpers sowie die der Macht. So wird gezeigt, dass das mit
sich selbstidentitsche Subjekt auf einer der unbegründeten Interpretationen geschichtlichen Denkens
beruht; ferner wird die Möglichkeit einer Ich-Fiktion als durch auf den Körper bezogene Praktiken erklärt;
schließlich wird von Foucault eine, die eigentliche Dimension unseres Seins aufdeckende, Geschichte der
Macht geschrieben, die durch Kämpfe, Strategien und Konflikte bestimmt ist, deren Kontingenz,
Zufälligkeit und Ereignishaftigkeit sich einer etwaigen allgemeinen Theorie der Geschichte, die jene als
Entwicklungszusammenhang begreift und auf einen vermeintlichen Endpunkt zulaufen lässt, stets entziehen
würde. Foucault befreit die Geschichtsschreibung damit von den Ideen des „Überhistorischen, des
Erkenntnissubjekts, der allgemeinen Vernunft und Wahrheit“ [ebd., 82].

G O U VE R N E ME N T A L IT Ä T Charakteristisch für die moderne Macht ist für Foucault


[vgl. ebd. 83-91], dass sie sich dem Körper des Individuums bemächtigt. Subjekte sind in ein Netz von
Praktiken eingespannt, das durch die Kombination externer Einschließung und körperzentrierter
Verhaltenskontrolle durch überwachende, überprüfende und beurteilende, also disziplinierende
Maßnahmen die, einer habituellen Einübung gleichkommende, unbewusste Verinnerlichung von
Überzeugungen forciert. Macht steht den Subjekten nicht fremd gegenüber und nimmt damit nicht die
Form von Gut oder Besitz an, sondern vollzieht sich durch und zwischen den Subjekten, so dass es diese
erst in Beziehung zueinander treten lässt; das Subjekt steht schon immer im Kraftfeld der Macht, so dass die

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Beziehungen der Subjekte untereinander die Form von Kräfteverhältnissen annehmen, deren unaufhörliche
Veränderung mit dem unaufhörlichen Kampf der Subjekte um Macht zusammenfällt und ihrer Subjektivität
damit einen gewisse Handlungsfreiheit ermöglicht. Durch eine als dezentral und immanent verstandene
Macht soll sichtbar gemacht werden, dass Staat und Ökonomie ebenfalls auf die zu analysierenden
Machtpraktiken rekurrieren und lediglich lokale, aggregierte, sedimentierte Macht darstellen, aber
keinesfalls den als transzendental zu verstehenden Kräfteverhältnissen vorgelagert sind und diese von
außerhalb kontrollieren. Ferner verfährt Macht nicht nur ausschließend und unterdrückend, sondern besitzt
eine eigentümliche Produktivität, indem sie Erfahrungen und epistemologische Objektbereiche und damit
Wirklichkeit produziert. Das moderne Individuum stellt einen produzierten Knotenpunkt moderner Macht
dar und ist aufgrund seiner, aus der körperlich-geistigen Disziplinierung resultierenden spezifischen Form
von Subjektivität auf effektive Weise an die Strukturen moderner kapitalistischer Ökonomie und
Verwaltung gebunden. Die Humanwissenschaften spielen dabei eine wesentliche Rolle, da durch die
Epistemologisierung des Menschen die Kategorie des Subjekts entsteht, die eine wissenschaftliche Analyse
des Individuums erst möglich macht.

Die Beziehung zwischen Körper und Macht ist vielschichtig; es wäre daher in bezug auf diese beiden
Kategorien analytisch verkürzend, in der „Vergewaltigung [Hervorhebung durch mich] von Subjekten […]
[die] transzendentale Ermöglichungsbedingung“ [FRANK, 1989, 425] der Diskursanalyse zu sehen, wird
dadurch der Eigensinn und die Widerständigkeit des Körperlichen heruntergespielt und die Macht zu einer
Art Übermacht hochstilisiert, die vollständig determinierend, statt nur integrierend wirkt. Körper sind
demnach nicht als einseitig bestimmter Machteffekt zu verstehen, vielmehr besitzen Körper einen
kontingenten Charakter und damit auch eine subversive, sich den Machtzugriffen entziehende und
widerstrebende Qualität:

Körper sind Verwerfungsstellen. Sie sind Kreuzungen, Resultate, praktische Ausführungsorgane von
Ordnungen, aber sie sind auch Unruheherde, in ihnen treffen Vektoren von Macht zusammen, und sie sind
– vom Diskurs her gesehen – uneindeutig, überraschend. Körper erscheinen nicht nur als Anderswo, also als
das, was im Diskurs nicht aufgehen kann. Sondern sie erscheinen als möglicherweise ‚subversiv‘, als
Umsturzgefahr – in Aussageordnungen wie in anderen Ordnungen. [GEHRING, 2004, 100 f.]

T E C H N O L O G IE N D ER M A C H T Die in den 1960er-Jahren in Frankreich

ausgearbeitete Diskurstheorie zielt auf Sprache wie auf Wirklichkeit; die Diskursanalyse bemüht sich dabei
um das Verstehen der formellen Bedingungen, die die Produktion von Sinn steuern.

Diskurse erscheinen als historisch-situierte Problematisierungen des bis dahin geltenden Wahren, mit dem
Effekt, erneut Wahrheiten zu produzieren. Wissen und Macht befinden sich, trotz ihrer Differenz, in einer
inneren Beziehung, ohne identisch zu sein: Es gibt eine Macht-Ordnung, die in den Regeln der Konstitution
von Wissen und Wahrheit begründet ist. [BUBLITZ ET. AL., 1999, 11]

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Als Elemente in strategischen Machtfeldern stellen Diskurse Verbindungen zwischen Aussageformationen,


sozialen Milieuformationen, Alltagsethiken und institutionellen Praktiken her. Sie können als eine
‚Mittelordnung‘ zwischen Wissens- und Denkformen, als normativ geregelte Vorgabe des Alltagshandelns
und einer wissenschaftlichen ‚Ordnung der Dinge‘ begriffen werden. [ebd., 12]

Foucaults Diskursanalyse ist von dem Interesse geleitet, wie festgefügte Formationen von „positiven,
historisch vorfindlichen“ [SARASIN, 2003, 34] Aussagen und Aussageserien die gesellschaftliche
Konstruktion der Dinge steuern und dem sprechenden Subjekt einen Ort zuweisen, an dem sich sein
Sprechen und seine Sprache erst entfalten können. Seine Diskursanalyse geht auf Redezusammenhänge mit
historisch situierten, zeitlich begrenzten, einen sozialen Ort belegenden Aussage- und Wahrheitsregeln;
Foucaults Diskursanalyse untersucht den „historisch, sozial und kulturell bestimmten Ausgangspunkt“
[ebd.] von Aussageserien, der auch immer ein Ort institutionalisierter Macht ist, weil an diesem Ort
Wahrheit produziert wird und das Subjekt dazu genötigt wird, diesen Ort einzunehmen, „wenn es im
Rahmen eines Diskurses etwas sagen will, das als wahr gelten soll“ [ebd.] Die Diskursanalyse untersucht die
diskursgenerierenden Muster und diskursiven, sich aus der Gleichförmigkeit miteinander verbundener
Aussagen ergebenden Regelmäßigkeiten, die sich an diesem Ort von Macht, Wahrheit und Sprechen
wiederholen und dabei stets leicht modifizieren. Ferner widmet sich die Diskursanalyse der Konsistenz der
Diskurse, das heißt ihrer inneren Ordnung, die die diskursiven Grenzen, Auschlussmechanismen unwahren
Sprechens und Verbindungen zu anderen Diskursen umfasst. Foucault untersucht den Meta-Diskurs aller
Diskurse, in dem die Ermöglichungs- und Reproduktionsbedingungen der Diskurse zusammenlaufen und
der als diskursanalytischer Gegenstand Aussagen über die Hervorbringung über die historische Spezifizität
der sozialen Welt ermöglicht. Denn die sinnhafte, soziale, sprachliche und materielle, Dinge umfassende
Realität ist ein Effekt der wahrheitsproduzierenden Diskurse [vgl. ebd., 36]. Foucault beansprucht damit,
eine Art Geschichte der Wahrheit zu schreiben:

Der ‚weiße Raum‘, von dem aus Foucault zu sprechen beansprucht, liegt jenseits wahrheitsgebundener
Geltung und soll eben dadurch die historisierende Untersuchung von Wahrheitseffekten ermöglichen […].
[SCHRAGE, 1999, 67]

Das Prozessieren der Diskurse zeugt von einer gewissen Materialität: Diskurse erzeugen durch ihre innere,
sich dem Subjekt entziehende Ordnung epistemische Gegenstände und geben damit die Möglichkeit wahrer
Rede vor; Diskurse sind auf Medien angewiesen, die wiederrum Bedingungen des Aussagens und der
Rezeption darstellen; Diskurse operieren auf Basis der polysemischen Eigenlogik der Sprache, deren
Bändigung zwar versucht, aber nicht erreicht werden kann. In ihrer wissens- und wahrheitsproduzierenden
Funktion sind Diskurse durch eine Unberechenbarkeit charakterisiert, so „dass die mühsam hergestellte
Regelhaftigkeit von Wissen und gesellschaftlicher Praxis ständig aufs Neue gefährdet ist“ [BUBLITZ ET. AL.,
1999, 13]:

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Das bedeutet, dass Diskurse im Rahmen des historische und gesellschaftlich Möglichen ordnungsstiftende
bzw. –auflösende Grundmuster im Sinne einer ‚generativen‘ Grammatik individuellen Handelns und sozialer
Praktiken darstellen. [ebd.]

Das Verhältnis von Diskurs und Macht als „spezifische Perspektiven bzw. Niveaus der Analyse“ [SEIER,
1999, 76] ist weder identisch noch kausal zu denken; ihre gegenseitige Bedingtheit ergibt sich vielmehr
daraus, dass es die gesellschaftlichen Machtbeziehungen sind, „die den Diskurs in seiner spezifischen Form
in die Welt setzen“ [ebd., 75]. So gesehen wird die Macht unmittelbar vom Diskurs vorausgesetzt, während
letzterer jene Machtbeziehungen zugleich produziert, „indem er Gegenstände für soziales Handeln
hervorbringt“ [ebd.]: „Der Diskurs bildet die Ebene, auf der die Strategien der Macht mit den Techniken
der Wissensproduktion ineinanderfließen“ [ebd., 77]; Macht wirkt hierbei repressiv wie auch produktiv.

Die repressive, reglementierende Wirkung der Macht kanalisiert und kontrolliert den Diskurs von außerhalb
durch Ausschließungs-, Verwerfungs- und Grenzziehungsprozesse [vgl. ebd., 79]; die produktive Wirkung
der Macht tritt von innerhalb des Diskurses in Form von kontingenten, zufälligen, ereignishaftigen,
wuchernden Prozessen auf, die von der repressiven Macht unter Kontrolle gehalten werden müssen, um die
Ordnung und Kohärenz des Diskurses zu gewährleisten. Diskurse sind wiederrum in Dispositive
eingegliedert, die „Verknüpfungen von Diskursen, Praktiken und Macht dar[stellen]“ [ebd., 80] und das
Sprachliche transzendieren; das Dispositiv beschreibt ein „komplexes Gefecht von Macht- und
Herrschaftsbeziehungen“ [LOREY, 1999, 94], analytisch gesehen sind Dispositive „Machtbeziehungsbündel,
die nach einer Strategie zusammengefasst sind“ [ebd.] und sich beispielsweise als Institutionen
materialisieren können. Auf dieser Analyseebene erscheint Macht als „produktiver
Integrationszusammenhang, der die gesamte Gesellschaft durchdringt und dem nichts äußerlich ist“ [ebd.].
Weder Verbot oder Zwang noch der Diskurs als solcher stehen im epistemologischen Zentrum der
Foucaultschen Analytik der Macht, sondern „Praktiken und ihre Relationen zueinander“ [ebd., 92] in ihrer
diskursiven Vermitteltheit. Subjektivität produziert sich durch genannte Machtpraktiken hindurch; die
Machtverhältnisse sind „das, was uns lebensfähig macht, weil wir gezwungen sind, uns entlang dessen zu
verhalten, was als normal, als vernünftig, als wahr gilt“ [ebd., 95].

Die innerhalb von Machtbeziehungen situierten Funktionen des Diskurses sind dabei in ihrer historisch
spezifischen Positivität und in ihrem singulären Auftreten im Laufe der Geschichte auf ihre historischen
Akzeptibilitätsbedingungen hin zu untersuchen; Diskursanalyse ist demnach immer auch Analyse bestimmter
historischer Konstellationen. Als „perspektivische Analyse-Kategorie“ [SEIER, 1999, 84] ist die Macht
Bestandteil in der Entfaltung eines kausalen Netzes, „das – bezogen auf das Verhältnis von Macht und
Diskurs – die Vielfalt der möglichen Verkettungen zwischen Macht und Diskurs sichtbar macht“ [ebd.];
Foucault Absicht besteht darin, die grundlegende Reversibilität jener Verkettungen aufzudecken, statt ihre

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Notwendigkeit oder Zwangsläufigkeit zu postulieren. Ziel des Foucaultschen Analyserasters ist die
Beschreibung kontingenter Machtmechanismen in ihrer jeweiligen Singularität. Statt als grundlegende
Erklärungsprinzipien eingeführt zu werden,

[…] stellen [Foucaults Kategorien] eine Art Matrix dar, die spezifischen Arten von (interessengeleiteten)
Analysen ermöglicht, die also jeweils bestimmte Perspektiven auf das zu untersuchende Material erlaubt […]
Gefragt ist nicht (mehr) der Wahrheitsgehalt der Kategorien, etwa die Frage, ob der foucaultsche Machtbegriff
gesellschaftliche Machtbeziehungen ‚adäquat‘ beschreibt, sondern ihre – kontextabhängige – Produktivität
und ihr Effekt. [ebd., 85].

G E S C HI C H T E D E R W A H R H E I T Trotz der interdisziplinären Ausrichtung des

Foucaultschen Programms „betreibt Foucault, wie er immer wieder betont, im handwerklich-positiven


Sinne des Wortes Geschichte – um ‚anders‘ zu ‚denken‘“ [GEHRING, 2004, 145]. Foucault distanziert sich
vom Modell der Geschichte als durchgehender Bewegung und vom Modell der Geschichte an sich., ohne
die Dimension des Historischen zu verwerfen; denn letzterer wird durch die archäologisch-genealogische
Analytik eine kritische Sonderstellung im Hinblick auf die Gegenwart zugebilligt. Bei Foucault findet sich
keine Vorstellung eines homogenisierenden Zeitverlaufs, mit dem Geschichte zur Totalität erhoben wird;
vielmehr zerfällt die historische Zeit in die verschiedenen Eigenzeiten der Diskurse und Dispositive, während
die, nur anhand ihrer Effekte sichtbare Episteme die tragende materiale Topologie darstellt, die als
Ermöglichungsgrund für die Wiederholung spezifischer Aussagen, Diskurse und Dispositive fungiert. Zeit
nimmt bei Foucault die Form von Zeitschichten [KOSELLECK, 2015, 19-26] an; Foucaults Ansatz erlaubt es
historiographisch, „verschiedene Geschwindigkeiten messen zu können, Beschleunigungen oder
Verzögerungen und damit verschiedene Veränderungsweisen sichtbar zu machen, die von großer temporaler
Komplexität zeugen“ [ebd., 22]. Der Gewinn dieser Konzeption für die Historiographie liegt für Koselleck
darin, „verschiedene Wandlungsgeschwindigkeiten zu thematisieren, ohne in die Scheinalternative linearer
oder kreisförmiger Zeitverläufe zu verfallen“ [ebd., 26]. Geschichte vollzieht sich zwischen Wiederholung
und Veränderung; Diskurse und Dispositive gelten bei Foucault als so etwas wie Wiederholungsstrukturen,
die, so lange sie existieren, Zeit für das Subjekt gegenwärtig sein lassen; von historischen Diskontinuitäten
lässt sich dann sprechen, wenn eine gewichtige diskursive bzw. dispositive Relation terminiert, das heißt
eine, in ihrem phänomenalen Gehalt als konstant erfahrene Wiederholungsstruktur aufbricht und es damit
gleichzeitig zu einer Veränderung in der Episteme kommt. Mit Hölschers Neuer Annalistik [HÖLSCHER,
2003], die in den historischen Ereignissen Knotenpunkte einzelner Geschichten und ihrer Eigenzeiten sieht
und die Geschichte als ein stetig wachsendes relational-dynamisches Netzwerk von Ereignis- und
Sinnzusammenhängen betrachtet, scheint dieser Gedanke fortgeführt zu werden.

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Geschichte erscheint Foucault deshalb wichtig, da ihr in unserer Kultur eine faktische Privilegierung
zukommt, handelt es sich bei der europäischen Kultur nicht um eine geschichtslose, sondern geschichtliche
Kultur; dies ist schon allein daran zu sehen, dass sich die Diskurse seit mehreren Jahrhunderten in Form
einer geschichtlichen Sequenz organisieren, welche konstitutiv für den europäischen Sinn der Wirklichkeit
ist, so dass eine kritische Untersuchung der Wirklichkeit demnach vorzugsweise im Modus der Geschichte
zu erfolgen hat [vgl. GEHRING, 2004, 148].

Für Foucault sei Freiheit im Medium der Geschichte zu erreichen. Geschichte hat nicht nur erinnernde
Funktion, sondern vollzieht sich bei Foucault methodisch als eine „Ausarbeitung des dem Europäisch-
Eigenen radikal Fremden“ [ebd., 152]; dieses radikal Andersartige wird antizipiert durch ein Wiederfinden
von „etwas Verlorenem“ [ebd.] und eine Suche nach dem „nie wirklich Dagewesene[n]“ [ebd.]. Ferner
versteht sich Foucaults Historiographie als eine Vorbereitung von Akten in einem immerwährenden
Konflikt; eine Gegenwartskritik im Medium der Geschichte macht das „Andere der Wirklichkeitskultur
Europas“ denkbar [ebd., 154]. Geschichtsschreibung vollzieht sich hier als eine „Distanzbewegung“, die von
der Theorie zum radikal subjektiven Akt hinüberleitet; jene Vorbereitung einer kommenden
Ereignishaftigkeit macht den politischen Ethos und das Interesse des Foucaultschen Programms einer
kritischen Historiographie der Wahrheit aus, während die historiographische Darstellung von Wahrheit in
ihrer jeweiligen historischen Kontingenz das erkenntnistheoretische Anliegen von Foucault ist.

Trotz Foucaults Abgrenzung von der traditionellen Historiographie, teilt er mit letzterer die lebenspraktische
Konstitution des historischen Denkens. Obschon uns Foucault die historische Kontingenz von Wahrheit
vor Augen führt, bleiben es stets Geschichten relativer Kontinuität im Zuge der grundsätzlichen historischen
Veränderbarkeit, die von ihm erzählt werden. Seine Erzählungen sind von der Intention geleitet, ein
Geschichtsbewusstsein für die Wahrheit der Gegenwart zu schaffen; dieses konstituiert sich historiographisch

durch die lebensweltliche (allgemeine und elementare) geistige Operation des Erzählens, mit dem Menschen
ihr Handeln und Leiden in der Zeit orientieren. Durch das historische Erzählen werden identitätsbildende
Kontinuitätsvorstellungen über den zeitlichen Wandel des Menschen und seiner Welt im Medium der
Erinnerung formuliert und als Sinnbestimmung in den Orientierungsrahmen der menschlichen Lebenspraxis
eingebracht. [RÜSEN, 1983, 57 f.]

LITERATURVERZEICHNIS
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