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Wolfgang Cernoch

Konversion und Vermittlung


Organisation als Grund und Politik
als Folge der Institutionalisierung der Macht.
Die Philosophie der modernen Massengesellschaft zwischen
Naturalisierung und Faschismus

1. Die Konversion als Produkt der Theorie und als


Folge der Überwindung sozialer Distanz

Es ist die Absicht der ersten Abschnitte, die Konversion nicht primär aus dem
Blickwinkel der korrumpierenden Macht zu betrachten. Überhaupt soll der
organisatorisch geprägte Anteil der Kommunikation von der individuellen
Ökonomie der Macht und deren Übertragungs- und
Gegenübertragungspotential getrennt vorgestellt werden. Ebenso will ich auch
nicht das kollektive Charisma von Personen in den Vordergrund stellen, man
wird es von Fall zu Fall voraussetzen müssen.
Der Begriff der Konversion wird in verschiedenen Bereichen bereits mit einer
präzisen Bedeutung verwendet. Ich will also auch den Gebrauch dieses
Begriffes mit Hilfe von den im Internet leicht zugänglichen
Verwendungsweisen ein erstes Mal als mehr oder weniger verfremdbare
Analogien skizzieren.
(i) Konversion (Logik), die Zurückführung eines unvollkommenen Modus auf
einen vollkommenen Modus eines Syllogismus durch Vertauschung von
Subjekt und Prädikat einer Aussage in der Syllogistik
(ii) Konversion (Marketing), Umwandlung eines Interessenten in einen Käufer
(iii) Konversion (Psychologie), nach Sigmund Freud die Übertragung von
Affekte auf Organe
(iv) Konversion (Religion), der Übertritt zu einer anderen
Glaubensgemeinschaft
(v) Konversion (Aktiengeschäft), Umwandlung einer bestehende Anleihe in
eine andere
(vi) Serokonversion, die serologische Antwort des Immunsystems
(vii) Umdeutung (Recht), die Umdeutung eines nichtigen Rechtsgeschäftes in
ein gültiges
(viii) Umschrift als Zusammenfassung von (literaler) Transkription (siehe
Transkription (Schreibung) und Transliteration
Alle diese spezifischen Definitionen beschreiben einen Aspekt des von mir
beabsichtigten Gebrauchs des Begriffs der Konversion in der Organisation
sozialer Kommunikation. Ich verstehe unter menschlicher Kommunikation
zunächst alle Möglichkeiten, auf Bedeutungen, Kontexte und deren Horizonte
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zu verweisen, inklusive der nachvollziehbaren Konstruktion von Konzepten in


Sprache und Bild. Die Verständigkeit der unbeteiligten Beobachters einer
Handlung soll von diesem weiten Kommunikationsbegriff mit umfasst
werden, auch wenn von dem Handelnden keine Kommunikationsabsicht
vorliegt.
Im Zuge der Untersuchung des weiten Gebrauchs von Kommunikation zeigt
sich eine Verzweigung des Gebrauchs des Begriffes von »Institution«. Die
erste Verwendung von »Institution« ist das epistemische Gerüst, das sich im
kommunikativen Prozess historisch als kulturspezifisch einspielt. Robert
Zimmermann beschreibt diese Formationen an Bedeutungen mit Kant, und
nennt diese »historische Gemeinbilder«. Darauf bezieht sich noch Friedrich
August v. Hayek, wenn er schlußendlich feststellt, daß die Ökonomie keine
mathematische Naturwissenschaft sein kann, wie Carl Menger noch
zumindest methodisch erhofft hat, die Ökonomie sei vielmehr von Geschichte
und Psychologie bestimmt. Man kann auch an das »man« des täglichen
Besorgens bei Martin Heidegger denken. Die »historischen Gemeinbilder«
betreffen nicht allein die Gewöhnung an die Pragmatik des Kundigen, sie
beziehen sich auch auf die sinngebende Interpretation, manchmal nur auf die
historische Dauer der Gewöhnung an ein bestimmtes Verständnis. Der
Verweis auf die historische Dauer der Gewöhnung vermag auch selbst
Wertcharakter anzunehmen. Insofern ist die Wertbeziehung historisch und
führt in ihrer Interpretation oder kritischen Reinterpretation zu ideologischen
Wertsetzungsfragen.
Die zweite Verwendung von »Institution« bezieht sich auf soziale
Organisationsformen des menschlichen Verhaltens. Innerhalb der
soziologischen Perspektive der Institution sind wieder die Horizonte der
konstituierenden Episteme zu bedenken, die die Sprache der Verständigen im
Verein mit der Erledigung spezifischen Aufgabenstellungen im
durchschnittlichem Konsens prägt. Die kollektive, also verschieden ausgeprägt
bekannte Absicht der Organsiation von Handlungen und die spezifische
Terminologie der Sprache dieser Organisation macht die Bedeutung der
Aufprägung der Sprache für die Kommunikation in der Organisation und mit
der Organisation konkret institutionssoziologisch kenntlich. Allgemein
kommunikationstheoretisch ausgedrückt, bleibt diese Institutionalisierung
nicht nur eine innerhalb der Kommunikation, da eine kollektive und
ungefähre (insofern selbst abstrakte)  Kenntnis des Zweckes der Organisation
anzunehmen ist, und die Dauer der Organisationsform dieselbe erst
institutionalisiert. Die Institutionalisierung der sozialen Organisationsform ist
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wiederum die Bedingung, daß die spezifische Aufprägung der kollektiven


natürlichen Sprache als Terminologie institutionalisiert wird.
Der Horizont der Gegliedertheit der gemeinschaftlichen Handlung in
Teilhandlungen verlangt nach einer spezifischen Normierung des
Sprachgebrauchs, der diese Gegliedertheit der realen Handlungsabläufe
organisierend zusammenfasst. Der Zusammenhang beider Abhebungen des
Institutionsbegriffes (Sprache und Kommunikation einerseits, Organisation
von zusammenhängenden Handlungen andererseits) wird mit Hilfe des
komunikationstheoretischen Rahmens der Darstellung der sozialen
Organisation der Zusammenarbeit selbst in dieser Wiederholung ouvert.
Vergleiche auch Martens (1997), der an Luhmanns Organisationsbegriff
kritisiert, daß in einem Betrieb, der als Organisation aufgefaßt wird, eine
Unterscheidung von technischem und sozialem Handeln nötig sei. Luhmanns
Konzeption reduziere Kommunikation allerdings auf einen sozialen Teil
(Martens, Will, Organisation und gesellschaftliche Teilsysteme, in: Ortman,
Günther et al. (Hrsg.), Theorien der Organisation. Die Rückkehr der
Gesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 274).
Wenn ich behaupte, die Konversion sei ein Teil der Vermittlung, so ist die
Vermittlung zwar ein Teil der sozialen Kommunikation (Institution erster
Stufe), aber doch von der Durchschnittlichkeit derselben, die kollektive
angenommen worden ist, deutlich durch eine weitere Institutionalisierung,
eben die systematische Organisation der Handlungen, unterscheidbar. Die
Vermittlung findet demnach zwischen den organisierten Verständigen und
den nicht organisierten Verständigen oder nur Teilverständigen anhand der
Terminologie statt, was ich dahingehend verstehe, daß die erfolgreiche
Vermittlung mit Konversionen verbunden ist. Die Konversion, die ich
inhaltlich ansprechen will, kann in diesem Beispiel durch den Übergang von
Nichtzugehörigkeit zur Zugehörigkeit zu einer Institution der organisierten
Verständigkeit auch soziologisch dargestellt werden.
Ähnlich wird horizontal der Übergang von einer Gruppe mit klar umrissenen
Interessen und spezifisch ausgeprägter Terminologie zu einer anderen zu
Konversionen führen. Es handelt sich dabei nicht um das einfache
Übersetzungsproblem, auf das Quine aufmerksam gemacht hat. Das
Übersetzungsproblem besteht darin, daß nicht alle Texte linear von einer
natürlichen Sprache in eine andere übersetzt werden können. Doch ist
ungeachtet dieser Grenzziehung, die keine endgültige zu sein braucht und
verschiebbar zu denken ist, das erste Prinzip der Übersetzung die
Verpflichtung zur Getreulichkeit gegenüber dem Modell, von dem der Autor
ausgegangen sein muß, um seinen Begriffen den zusammenhängenden
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Kontext zu geben, der erst zu einer bestimmbaren Aussage führt. Im hier


angezogenen Fall will ich den Übergang von einer Terminologie innerhalb der
selben natürlichen Sprache (oder ungeachtet verschiedener natürlicher
Sprachen) zu einer anderen Terminologie beschreiben, die einen gemeinsamen
Gegenstandsbereich besitzen mögen, aber verschiedene methodische
Perspektiven (z. B. Rationalitätstypen wissenschaftlichen Denkens) besitzen,
oder die verschiedenen Gruppen auch nicht zusammenhängende
Themenkreise behandeln, aber vielleicht in einem hilfswissenschaftlichen
Aspekt mit der ersten Gruppe zu tun haben kann. Die Orientierung im
semantischen Raum der Konzepte und deren Modifikation oder Verschiebung
im wie eben charakterisierten Übergang von einer Gruppe zur anderen, ist,
formal betrachtet gleichgültig mit welchem Eingriffsgrad der Konversion,
keine Übersetzung, wie im semantischen Raum des sozialen Verhaltens noch
als möglich gedacht werden könnte. Die minimale Konversion ist
kommunikationstheoretisch die Übernahme von einem Mindestsatz von
inhaltlichen oder methodischen Präsuppositionen, um eine relevante
Kommunikation führen zu können (vgl. Davidsons liberale
Eingangsbedingung).
Trotz dieser grundsätzlichen Unterscheidung von Übersetzung und
Konversion ist anzunehmen, daß neben Analogien auch Übersetzungen im
Prozess der Konversion eine Rolle spielen werden. Diese Konversion ist als
erste ouverte Institutionalisierung anzusehen und kann soziologisch mit
Anpassung und Rollenspiel beschrieben werden. Die Konversion als
persönliche Umorientierung und Eingliederung in die Institutionen der
Gruppe hätte allerdings einen noch stärkeren Eingriff als die Anpassung an
die Organisation und deren Benützung zur Folge.
Ich werde versuchen, die vertikale und die horizontale Dimension der
Konversion vom Individuum als wesentliches Bestandteil der
Institutionalisierung der Kommunikation und der sozialen Organisation in
ihrer Aufeinanderbezogenheit zu beschreiben. Dabei haben sich
kommunikationstheoretisch eine erste kollektive Institutionalisierung, und
eine zweite theoretische oder organisatorische Institutionalisierung
unterscheiden lassen, die mit der horizontalen und der vertikalen Dimension
der Konversion identifiziert werden können.
Die Perspektive jeder theoretischen Auffassung über den Menschen und des
Vergesellschaftungsprozesses betrachtet die Handlungen des Individuums
kollektive oder statistisch, um zu verallgemeinerbaren Regeln zu kommen.
Damit wird aber die Differenz zwischen kollektiven Handlungen und bewußt
geplanten Handlungen ausgeblendet und präsumptiv das ganze Individuum
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der Idee der Theorie und deren allgemeinen Regeln unterstellt. M. a. W.: Jede
allgemeine Theorie stellt das Individuum grundsätzlich nur als Mitglied einer
logisch-allgemeinen oder einer kollektiven Menge dar (Tokenproblem).
Die logisch grundsätzlich zu fordernde Abzählbarkeit der distinkt
unterscheidbaren Elemente einer Menge erzeugt im Versuch der
durchgängigen Bestimmung des Einzelfalls einen logisch fundierbaren
Widerstand: Die Allheit der Prädikate eines einzelnen Dinges ist keine
mathematisch-logische Menge, da die verschiedenen möglichen Prädikate
ohne einer gemeinsamen Theorie nicht abstrakt zwischen den verschiedenen
Aussagen und deren Modifikationen unterschieden werden können, also die
Prädikate unkontrolliert vermehrt werden können, und deren Unterscheidung
noch dazu im verschiedenen Maße auf implizite theoretische Annahmen
beruhen (zu liberale Abstraktions- und Distributionstheorie).
Da nur die Distribution gemäß der extensionalen Logik allgemein Merkmale
über eine ungeordnete Vielheit verschiedener Elemente aussagen läßt, läßt
sich logische Rationalität nur an der Menge aller Elemente einer Klasse
herstellen. Das setzt voraus, daß nur solche Merkmale der vorliegenden
Vielzahl von Elementen geregelt (allgemein: unmodifiziert jedem Element auf
gleiche Weise) zugesprochen werden können, die an diesen Elementen auch
regelmäßig zu finden sind. Die Merkmale können nur dann geregelt
distribuiert werden, wenn sie eben auch den Elementen allgemein sind, und
nicht nur unter bestimmten kontingenten, bekannten oder nicht bekannten
Umständen zutreffen. Diese ontologische Implikation der logischen Wahrheit
bleibt formal an dieser orthogonalen Konstruktion gebunden, muß selbst aber
eigens konzeptuell vorausgesetzt oder hergestellt werden.
Das führt in der allgemeinen soziologischen Theorie allein schon aus logischen
Gründen zur allerdings seltsamen Konsequenz, daß öffentliches Handeln
rational sein müsse. Ich glaube, daß diese logische Konsequenz als Produkt
der Formalität einer jeden allgemeinen Theorie der Soziologie und nicht als
Produkt der jeden soziologischen Theorie vorausgesetzten politischen
Philosophie angesehen werden kann, auch wenn es diesen Aspekt des
Herrschaftswissens geben wird. Ich möchte zwischen dem instrumentiellen
Charakter einer Wissenschaft, die diese zu einem Teil des Herrschaftswissen
macht, der Wissenschaft, die politische Macht untersucht, und dem Wissen
um eigene Macht unterscheiden können. Ich hebe hier den logischen Aspekt
und die zu treffenden Voraussetzungen, um eine allgemeine soziologische
Theorie zu situieren, heraus. Die allgemeine soziologische Theorie muß als
normative Idee bereits gedacht werden können, um die Rationalität des
sozialen Handelns überhaupt bestimmen zu können. Diese erste Bestimmung
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der durchschnittlichen Rationalität ist aber nichts als eine empirische


Bestandsaufnahme der jeweiligen kollektiven Standards, der eben die jeweils
vorfindbare Gesellschaft funktionieren hat lassen.
Gelingt es dem Individuum nicht, den historisch entstandenen sozialen
Epistemen zu entsprechen, die die abstrakte Idee von Rationalität gemäß der
jeweiligen Gesellschaft interpretieren, führt das zu einem lokalen
Ausnahmezustand, der mittels Exklusion im politischen Gefängnis oder im
klassischen Irrenhaus der Aufklärung endet (Foucault in der »Archeologie des
Wissens«). Etwas differenzierter Carl Menger, der neben der
Grenznutzentheorie eine Soziologie der Inklusion und Exklusion verfasst hat.
Der Ausnahmezustand drückt sich aber auch bei Menger in der stärksten
Form des Ausschlusses, der Entfernung aus der Gruppe aus.
Da die inhaltlichen Kriterien und die Diskursregeln nicht bekannt sind, also
auch nichts über die sachliche Korrektheit (intensionale Logik des Konzeptes
und der Gesetzesbegriff) und die Liberalität hinsichtlich des principium
contradictionis und der extensionalen Distributionsregel gesagt werden kann,
besitzt die Abstraktheit der Darstellung auch Platz für die Deskription des
Verhaltens mit »ratiomorphically« (Rupert Riedl), das statistisch im
Nachhinein über das Erfüllungskriterium »sozial funktionales Verhalten«
behauptet werden kann. Das ist auch die Mindestdefinition von rationalem
Handeln jeder allgemeinen soziologischen Theorie.

2. Das Konversionsproblem als Inklusion und Exklusion


in kollektiver und institutioneller Perspektive
Die Soziologie versucht nicht Kenntnisse über den Umgang mit Gegenständen
des gemeinsamen Interesses selbst zu finden, die Aufgabe der allgemeinen
Soziologie kann nur sein, einen logischen Leitfaden zu finden, der erlaubt, die
Episteme des organisierten Sozialverhaltens aus der Doxa der aus dem
alltäglichen Gebrauch gemachten Erfahrungen herauszuheben. Die Doxa
enthält zusammenhängende, aber ungeordnete Erfahrungen von dem
praktisch-technischen Umgang mit den gemeinsamen Dingen, aber damit
verbunden, immer auch Erfahrungen über die Handlung selbst und
unvollständig über deren soziale Relevanz, schließlich Erfahrungen über
kommunikative und soziale Institutionen. Diese bei Plato wie bei Aristoteles
relevante Denkfigur sieht in der Klassifizierung und der Systematisierung
vieler pragmatischer Regeln unter wenigen einfachen Regeln den ersten
Zweck der Wissenschaft.
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Damit allein kann aber eine erfahrungswissenschaftliche Theorie seit der


europäischen Neuzeit nicht mehr ausreichend beschrieben werden. Ich denke,
wir folgen heute dem Leibnizprogramm, wonach von den schon bekannten
Dingen neue Arten von Erfahrungsmöglichkeiten zu suchen sei, und neue
Arten von Erfahrungsmöglichkeiten zu suchen seien, die uns mit unbekannten
Dingen bekannt macht. Diese weitere Aufstufung verhilft zur formalen
Möglichkeit, rational (geregelt) nach den Epistemen unseres sozialen
Verhaltens zu fragen.
In einer ersten Stufe wird, wie oben angeführt, der Zusammenhang der
Rationalität der Kommunikation im weiten, pragmatisch-funktionalistischem,
und im engen, konzeptuellen Sinn des praktischen und theoretischen
Erkenntnisinteresses, in der zweiten Stufe der Reflexion wird einmal die
kollektiv-kommunikative, einmal die organisatorisch-soziologische
Rationalität der zwei Institutionalisierungen der Kommunikation möglichst
allgemein zu fassen gesucht, ohne die Rationalitätstypen der
Erkenntnisinteressen und der sozialen Kommunikationsinteressen sofort
wechselseitig zu konfundieren oder gar zu identifizieren. Ohne weitere
inhaltliche Interpretation kann eine kommunikationstheoretische Überlegung
selbst kein bestimmbares Kriterium über die Qualität und Adequanz angeben,
und verbleibt ähnlich unbestimmt, wie die Mindestforderung des abstrakten
Funktionalismus nach bloßer Bestandserhaltung.
Mit der Frage nach der Bedeutung von Rationaltät ist grundsätzlich immer das
allgemeine Konversionsproblem angesprochen, das mit jedem individuellen
Evidenzerlebnis im Zuge der Falsifikation einer Hypothese anhand der
Erfahrung untrennbar verbunden ist. Da das Wahrheitsproblem einen
intersubjektiven Aspekt besitzt, sind die Regeln der Kommunikation und
deren sozialen Institute für das Wahrheitsproblem von Logik und Semantik
Gegenstände einer Grundlagenwissenschaft. Insofern besitzt die
Wahrheitsfrage in logisch-semantischer Hinsicht auch einen sozialen
Hintergrund, der innerhalb der Gemeinschaft der Verständigen den
kollektiven Prozess der Inklusion und Exklusion durch Zuordnung und
Gegenüberstellungen zu bekannten Denkschulen horizontal wiederholt.
Das nämliche Konversionsproblem, das mit der Wahrheitsfrage unmittelbar
selbst verbunden bleibt, sehe ich im Zuge jeder Abstraktion, die geregelt das
Regelmäßige aus den ungeordneten, aber zusammenhängenden Erfahrungen
heraushebt. Diejenigen Bedeutungen, welche als Prinzip des Heraushebens
von Regeln brauchbar sind, werden zu Episteme, welcher aus der Doxa die
Ontologia heraushebt, also das, was empirische Aussagen allgemein (nach
einer Regel) wahr machen können soll. Mit der Einsicht in eine allgemeine
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Regelhaftigkeit, welche die pragmatischen Regeln des Alltags auf einfachere


Regeln zurückführt, ist auch die Entfernung aus dem Kreis der pragmatisch
Verständigen und eine Annäherung an den Kreis der theoretisch Verständigen
verbunden. Deshalb gehe ich davon aus, daß jede gelungene Abstraktion von
einer Konversion begleitet ist. Als gelungen bezeichne ich so unverbindlich
wie möglich jene Abstraktionen, die eine systematische Deskription von
Zusammenhängen voneinander verschiedener Ereignisreihen erlauben.
Damit wird aus der Diskussion um die Wahrheitsproblematik zwischen Logik
und Semantik (Kant: Die elende Diallele der Logiker) ein soziologisches
Kriterium des einfachen Inklusions-Exklusionsschemas als Bedingung für
kommunikativ bedeutsames soziales Handeln vorausgesetzt, um die Relevanz
der gemeinsamen Beobachtung für die soziologische Absicht garantieren zu
können, geradezu und absichtlich eingeschränkt in Hinblick auf
wissenschaftliche Verallgemeinerbarkeit (Theoriefähigkeit) zu sein. Damit
wird aber zugleich der kollektive und verallgemeinerbare Blick auf den
Menschen und die Gesellschaft fixiert, was die spezifisch soziologische
Konversion ausmacht.

3) Die Exklusion in der kollektiven Kommunikation


Foucaults Adaption des Tabus
Michel Foucaults Darstellung der Inklusion und Exklusion im
Kommunikationsprozess verzeichnet den nämlichen Prozess radikal auf
individueller Ebene. Die Exklusion beginnt mit der Verschiebung des
Sprechers oder sozial bedeutsam Handelnden an die Peripherie der Gruppe,
welche die Sprache und deren Bedeutungen prägen darf, und erst bei
Radikalisierung die Ausbürgerung konkretisiert wird, indem der
Einbürgerungsprozess in die Institute der Exklusion beginnt. Diese kollektive
Darstellungsebene verweist abermals auf den Umstand, daß neben der
Konversion der Abstraktion in wissenschaftlicher Absicht, die Konversion im
Übergang von einer sozialen Gruppierung mit spezifischer Sprachprägung zu
einer anderen auch eine Verschiebung in semantischer Hinsicht mit sich
bringt.
Foucault sieht die erste und grundlegende Definition von gesellschaftlicher
Rationalität nicht in der Konversion zur jeweils herrschenden soziologischen
Theorie, er findet die Kraft des Normativen im kollektiven sozialen und
kommunikativen Handeln von Individuen, und geht nicht nur von der
Funktionalität der bestehenden Institutionen und deren eigene Normativität
nach innen und deren normativen Eigenschaften nach außen, aus. Zuerst stellt
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Foucault fest, wie Rationalität vom Ausschlußprozess dessen, was für nicht
rational oder nicht funktional gehalten wird, ausgehend, erst kollektive und
negativ bestimmt wird. Insofern beruht dieser Selektionsprozess einerseits auf
dem Tabu primitiver Gesellschaften und andererseits doch wieder auf der
normativen politischen Konstitutionsprozess von Massengesellschaften,
welche die Organisation der ausschließenden Institutionen in der von
Foucault beschriebenen Form überhaupt erst ermöglicht hat. — Die Reflexion
auf die Totalität gesellschaftlicher Kommunikation zeigt abermals eine
Verzweigung in den Prozessen der Bestimmung gesellschaftlicher Rationalität:
Entweder Konversion durch eine allgemeine Theorie der Soziologie als
Instrument einer politischen Philosophie, oder die kollektive Bestimmung der
Rationalität des sozialen Handelns mit einem uninterpretierten
Selektionsprinzip zwischen unbestimmter allgemeiner Zweckrationalität und
kriterienloser Mindestfunktionalität der Einzelfälle.
Thomas Briebicher beschreibt in seiner Rezension von Christian Schauers
Studie Aufforderung zum Spiel. Foucault und das Recht, (Böhlau, Weimar, Köln,
Wien, 2006) die sich einstellende Indifferenz der Position Foucaults
hinsichtlich des Zusammenwirkens der beiden Aspekte der
Institutionalisierung der Kommunikation, der des kollektiven Tabus, und der
der sozialen Organisation des Handelns, anhand der Kritik an dem Verhältnis
von Gerichtsgutachter und Richter:
»Schon in der Archäologie des Wissens, vor allem aber in der Vorlesung Die
Anormalen von 1974/75 beschäftigt Foucault das Verhältnis zwischen
forensischer Psychiatrie und Recht und in welcher Weise sich beide
gegenseitig beeinflussen. Im Rahmen der Vorlesungen sieht Foucault in
gerichtspsychiatrischen Gutachten das Scharnier zwischen jenen Diskursen,
wobei erstere jedoch weder im medizinischen noch im rechtlichen Code
verfasst sind, sondern sich unscharfer Begriffe wie „Gefährlichkeit“ und
„Risiko“ bedienen. Dies führt nicht nur zu einer zunehmenden Infragestellung
der Autonomie der jeweiligen Diskurse, es bringt auch eine Anzahl von
Rollen- und Funktionsverschiebungen mit sich. So wird etwa der Richter, der
sich vermehrt auf entsprechende Gutachten stützt zu „einem Verhaltens- und
Sicherheitstechniker unter anderen“ und insgesamt lässt sich auf der Basis von
Foucaults Ansatz und mit Hilfe einer systemtheoretischen Lesart folgern, dass
„das richterliche Urteil faktisch oft durch das Urteil des Psychiaters ersetzt
wird [...] und weiter, dass der Diskurs des forensischen Experten eine Tendenz
zur epistemischen Verselbständigung gegenüber dem medizinischen Diskurs
aufweist, mit der Konsequenz, dass er bisweilen weder von der Medizin noch
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von der Rechtsprechung verstanden werden kann“ (136, 139-140)«. (in: Ancilla
iuris, anci.ch, 2007:20, S. 21)
Das kollektive Tabu ist mit dem Schlüsselbegriff »Sicherheit« beschrieben. Es
ist zu vermuten, daß die doppelte Konversion des Gerichtsgutachters
zwischen Gericht und Medizin nicht gelingt. Da der forensische Experte des
Gerichts nicht mehr zwischen Medizin und Gericht vermittelt, nähert sich das
Gericht der Kollektivität des Auschlußprozesses an. Die Position des
Gerichtsgutachters führte demnach zu einer eigenen Institutionalisierung mit
eigener Fachterminologie und eigenen semantischen Modellen des zu
verhandelnden Themenkreises, sodaß anschließend von Gericht und Medizin
die Konversion verlangt werden kann. Das scheint gegenüber dem Gericht
besser zu funktionieren als gegenüber der Medizin. Daraus schließt Foucault
auf die durchschnittliche Reduktion der politisch relevanten Institutionen auf
den organisatorischen Aspekt der politischen Macht. Insgesamt lässt sich
sagen: Die Vermittlung zwischen Hilfestellung (Medizin), unabhängiger
Wahrheitsfindung (Gericht) und Herrschaft (Staat) gelingt nicht und
verwandelt die Diagnose zum bloßen Herrschaftsinstrument.
William Walters (Carlton, Kanada) sieht die durch die Reduktion auf den
Machtaspekt sich einstellende Indifferenz zwischen Kommunikation und
Institution als Gegelegenheit an, das Problem der Regierbarkeit schon auf
methodischer Ebene von den zentralstaatlichen Institutionen weg zu den
Formen des partikularen Handelns und deren Ineinandergreifen zu verlagern;
offenbar in der Hoffnung, damit auch politische Institutionen auf
übernationaler Ebene konstruieren zu können (z.B. Global Governmentality,
edited with Wendy Larner, 2004).
Eine der aktuellen Schwierigkeiten, die sich meiner Meinung nach in unserem
postmodernen Verständnis des Vergesellschaftungsprozesses einer adequaten
Analyse des Herausforderungshorizontes entgegenstellt, ist die Interpretation
unserer Kultur und Zivilisation als Naturprodukt. Hier geht es mir nicht um
die Kritik an der biologischen Grundlegung des durchschnittlichen Verhaltens
der Gattung überhaupt, hier steht die Verwechslung der biologischen
Grundlegung unseres sozialen Verhaltens mit der eigentlichen Ursächlichkeit
und der Begründung unserer konkreten kulturellen Entwicklung zu
Zivilisation und Wissenschaft zur Diskussionn.
Foucault scheint zuletzt die sich letztlich einstellende Indifferenz zwischen
den kollektiven und organisatorischen Aspekten der Institutionalisierung der
Kommunikation zu nutzen, die politischen Institutionen von zwei Seiten
aufzulösen. Von der kollektiven Betrachtung des handelnden Subjekts
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ausgehend wird in der Geschichte der Sexualität anhand der sexuellen


Repression, die als klassisches Beispiel der Verbindung kollektiver und
politisch organisierter Gewalt gelten kann, die »biopolitics of the population«
beschrieben (1991, S. 20). Foucault scheint die im Zuge der
Effizienzsteigerungsprogramme des aufgeklärten Absolutismus
(Kameralismus, zentraler Außenhandel) seit der Mitte des Sechszehnten
Jahrhunderts stattfindenden Bemühungen vorwiegend bürgerlicher Gelehrter
zur Ausbildung und Leistungsfähigkeit des städtischen Bürgertums
(Gewerbes, Handels, zunehmend auch von Manufakturen) nicht mehr
historisch analysieren zu wollen. Er betrachtet den Körper als Maschine mit
auszubildenden Fähigkeiten, und seine Untersuchungen umspielen das
Interesse der politischen Gewalt an die biologische Vermehrung und an der
alleinigen und zentralen Macht über Leben und Tod.
Abgesehen von der Ausblendung der historisch bedeutsamen und durch
Handlungen, Konzepte und Projekte nachweisbaren individuellen, kollektiven
und organisatorischen Anstrengungen, die Abstraktion der kommunikativen
und politischen Organisation zur Organisation der Gewalt identifiziert eine
soziale Organisationsform, die aus der Spontaneität der Gattung entstanden
ist (Reichsgründung und die Organisation eines Staatswesens) völlig
fälschlicherweise direkt mit einer sozialen Organisationsform von
vergleichbaren Naturwesen, deren Sozialwesen keine ausgeprägte
Kulturentwicklung, oder gar Zivilisation aufweisen. Das führt Foucault zur
Verwechslung des Naturzustandes mit dem Beginn der Organisation des
Staates zur Verhinderung des andauernden Bürgerkrieges (Thomas Hobbes:
Behemoth und Leviathan).
Insofern vollzieht das Denken Foucaults die Konversion des abstrakten
theoretischen Denkens in dem Moment, in dem er seine Indifferenz zwischen
kollektiver Kommunikation und sozialer Organisation in der
Institutionalisierung der Gesellschaft zugunsten der Verwechslung der
verhaltensbiologischen Grundlagen der Vergesellschaftung mit der
Organisation unserer biologischen und symbolischen Bedürfnisse aufgibt,
ohne die daraus sich ergebende Verschiebung des Funktionskreises der
biologisch grundgelegten Handlungsmuster und deren Erweiterungen durch
sich kollektivierenden Erfindungen einzelner Gruppen und Individuen
analysiert zu haben.
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4) Max Weber zwischen offener Werthierarchie in der Gesellschaft und der


Idee einer allgemeinen Zweckrationalität des Staates
Alec Schaerer wollte im Vortrag »Conceiving Futur Civilisations« (Wien,
SUSFOR, Oktober 2008) auf eine für die postanalytische Philosophie
bezeichnende Weise Max Webers allgemeine Zweckrationalität dazu
mißbrauchen, eine eindeutige Ordnung der kollektiven Episteme herzustellen,
nur um diese entweder gleich mit biologischen Verhaltensmustern zu
identifizieren, oder die Episteme des sozialen und technisch-praktischen
Handelns als deren bloße Emergenz zu behandeln. Derart wird die
Naturgesetzlichkeit als solche behauptet und die Spontaneität der Gattung in
der Kulturentwicklung unterschlagen. Damit hat Schaerer aber die Konversion
durch Abstraktion jeder Theorie und die Kollektivität der anonymen Selektion
der Kommunikation autoritär in eins gesetzt; also der Autorität der sozialen
Institutionen mit der Biologisierung der Gesellschaft ein Instrument der
Interpretationshoheit über die passive Selektion nicht nur der öffentlichen
Kommunikation in die Hand geben.
Max Weber hingegen hat wie Henrich Rickert allein schon die Möglichkeit
einer geschlossenen Wertehierarchie bestritten. Oakes (1999, S. 33 f.) hat die
Abhängigkeit Webers von Rickert in der Frage der Wertanalyse aufgewiesen
(Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine
Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Mohr Siebeck 1979). Zwar
vertritt Max Weber die Trennung der wissenschaftlichen Einstellung und
deren Verpflichtung zur Objektivität von der verstehenden und wertenden
Einstellung, und stellt die Forderung der Wertfreiheit für Soziologen mit einer
immer schon umstrittenen Strenge auf. Daraus ist aber keineswegs zu folgern,
daß die sich bildenden Wertehierarchien im theoretischen Denken zu
vereinigen hätten oder unter der Idee von der allgemeinen Zweckrationalität
zu subsummieren wären. Vielmehr begründen oder verwerfen Theorien
bestimmte Werthaltungen und bestimmte Theorien bilden sich wegen
bestimmten Werthaltungen (Interessen).
So ist Max Webers allgemeine Zweckrationalität nach Alberts Darstellung
geeignet, zumindest ein gewisses Maß an Naturgesetzlichkeit in der Soziologie
vorstellbar zu machen (Hans Albert, Werfreiheiheit als methodisches Prinzip. Zur
Frage der Notwendigkeit einer normativen Sozialwissenschaften, in: Ernst Topisch,
Hrsg.: Logik der Sozialwissenschaften, Köln-Berlin 1965, Köln 19769, S. 181 –
210). Allerdings besagt das zunächst nichts weiter, als daß auch in der
Soziologie allgemeine Regeln möglich sind. Diese Behauptung scheint nur in
der Ökonomie bestätigt zu worden zu sein, da die Ökonomie auf Grund ihres
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nicht physikalischen, und so nicht mittels Identifizierbarkeit bestimmbaren


Quantums definitiv eine soziologische Wissenschaft ist.
Doch muß auch zugestanden werden, daß unser ökonomisches Verhalten auf
einfachere Verhaltensmuster früherer kultureller Prägungen aufruht. Gerade
die Okonomie bietet Gelegenheit, das Verhalten des Naturwesen unserer
vormenschlichen Vorfahren, wie es immer schon auch als Sozialwesen auftritt,
als Grundlage aller weiteren kulturellen Aufprägungen zu verstehen. Aber
spätestens nach der Konstitution und der Umgestaltung des Reiches zum
Staatswesen mit öffentlicher Beteiligung und der Wirtschaft zum
internationalen System des Außenhandels kann nicht mehr ausschließlich von
einem natürlichen Sozialwesen ausgegangen werden. Das versteht sich mit der
Einführung des Geldes als konventionelles Zahlungsmittel ökonomisch
eigentlich von selbst, ist doch die politische Konstitution die Voraussetzung
eines allgemeinen Geldverkehrs. Die öffentliche Beteiligung und der gezielte
Umbau zum Zentralstaat im aufgeklärten Absolutismus beendet die Phase der
Reichgründungen, welche die naturnahen Sippengesellschaften abgelöst
haben. Die Entwicklung des internationalen Handels und die Verringerung
der Zollgrenzen nach den Reichsgründungen und deren imperalistischen
Ausweitung beginnt den Überrest der im biologischen Verhalten wurzelnden
territorialen Bindung weiter zu verschieben.
Webers Differenzierungen in der Wertfrage stehen in einem diffizilen
Verhältnis zur allgemeinen Zweckrationalität, da diese nicht einfach das
Ergebnis einer bestimmten soziologischen Theorie sein kann. Ob die
konstatierte Unmöglichkeit einer geschlossenen Wertehierachie das
Gegengewicht zu der zwanghaften Tendenz der abstrakten Idee von der
allgemeinen Zweckrationalität mit strikter und allgemeiner Verpflichtung
bleiben kann, bleibt aber zu bezweifeln. Schon die Unterscheidung in
Wertanalyse, welche mit der gedanklichen Analyse der Wertordnung befaßt
ist, und in die historische Wertbeziehung, welche den empirischen und den
affektiven Aspekt beinhaltet, zeigt, wie Weber die Aufstufung zu aufeinander
beziehbare Wertehierarchien grundsätzlich wieder zur Wechselbeziehung
zwischen Werterfahrung im Verstehen und theoretischer Begründbarkeit
zurückbiegt. Die historische Dimension und das damit verbundene Problem
des Wissenschaftsfortschrittes selbst verhindert eindeutige materiale
Wertehierarchien.
Wenn allerdings die initierte Wirtschaftsgesinnung beginnt, der Umgestaltung
zur Gesellschaft allein die Richtung vorzugeben, dann wird die allgemeine
Zweckrationalität allein vom ökonomischen Interesse interpretiert. Das selbst
labile Gleichgewicht zwischen allgemeiner Zweckrationalität und divergenten
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oder nur alternativ verzweigten Wertehierarchien der deskriptiven Dimension


der Soziologie Max Webers wird von der Dynamik der ökonomischen
Entwicklung und deren gesellschaftsverändernden Kraft einseitig ursurpiert.
Die Soziologie als allgemeine Theorie beginnt mit einer spezifischen
Abstraktionen, die letztlich aus systematischen Gründen vom Individuum
absehen muß. Es stellt sich die Frage, an welcher Stelle der Überlegung eine
solche Konversion stattfinden soll, und ob sie später in einer entwickelten
Soziologie überhaupt noch kritisch behandelt werden kann. Luhmann
verhindert mit der Aufhebung der Differenz von Struktur und System
endgültig die Rückkehr zum Problem des Individuums und lässt dieses passiv
ohne Spontaneität und Antizipation als Produkt seiner Rollenspiele
herausspringen. Gerade Max Weber hat aber in Folge diese Schwierigkeit des
Individuellen als unmittelbare und letzte Ursache des Handelns versucht,
durch Berücksichtigung des kultursoziologischen Hintergrundes menschlicher
Wertsetzungen auf soziologisch relevante Weise überhaupt erst fassbar zu
machen.
Die Diskussion der Problematik allgemeiner soziologischer Theorien, die
gegenüber dem Individuum und dem Einzelfall aus logischen Gründen
entstehen muß, wenn allgemeine Regeln gesucht werden, führt bei Max Weber
zu einem Doppelsystem von individueller, mehr oder weniger verständigen
(verbundenen) Wertung und innere und äußere Herausforderungen
zusammenfassende Interpretation der allgemeinen Zweckrationalität. Damit
wird das Individuum als Einzelfall zwar sowenig wie im Sinne logischer
Distribution erreicht, jedoch in seiner Anteilhabe an der Wertdiskussion und
am politischen Prozess auch erst als Kultur- und Zivilisationswesen
beschreibbar. Wird die Hauptherausforderung allein ökonomisch interpretiert,
bleibt die Aufstellung des Problems zwischen wertendem Urteil und
rationalem pragmatisch-utilitaristischem Urteil bei Adam Smith: Wir handeln
zuerst nach ökonomischen aktuellem Interesse und bewerten die Handlungen
im Anschluß, also auch in sittlicher Hinsicht, erst aus der Erfahrung.

5) Kollektivität und allgemeines Bewußtsein im sozialen Handeln des


Individuums zwischen Republik und Totalitarismus bei Hannah Arendt
Die späte philosophische Analyse des menschlichen Handelns von Hannah
Arendt in Das geistige Leben. Das Denken. Das Wollen (München, Piper 1971) im
Verhältnis zu herstellen und produzieren ist geeignet, das logische
Distributionsproblem in der Frage nach der Bestimmbarkeit des Einzelfalles
zwischen Kollektivität der Handlung und der Spontaneität des individuellen
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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Bewußtseins zu demonstrieren. Damit entkommt Arendt in der


nachgereichten philosophischen Grundungsakte dem Sog des Kollektivismus
durch Biologisierung des Einzelfalles, dem Foucault offenbar am Grunde
seiner Kulturanalysen erlegen ist. Zugleich könnte Arendts Definitionen des
sozial bedeutsamen, also auch relevanten Handelns die Naturalisierung aus
der Perspektive der Kollektivität der Autopoesis komplexer Systeme
komplementär rechtfertigen, während die Potentialität zur Naturalisierung bei
Weber erst mit einer einseitigen Okkupation der Interpretation der
allgemeinen Zweckrationalität abgeleitet worden konnte.
In den philosophischen Analysen kommt Hannah Arendt zu folgender
Darstellung des Handlungsbegriffes:
Das absichtliche Handeln sei real und ein Bewußtseinsakt zugleich, arbeiten
und produzieren sei autopoetisch. Doch wird diese Art von Verschmelzung
von Bewußtseinstheorie und Praxis selbst zweimal problematisch.
Schon im Arbeiten sind im Zielerreichungsstreben beim Menschen bewußte
Vorgaben vorauszusetzen, ansonsten die »Arbeit« in einem Prozess der
systematischen Weiterverarbeitung nicht weiter verwertet werden kann, oder
einfach gedacht, den Zweck nicht befriedigend erfüllen wird.
Das Herstellen hat ebenfalls unbestrittene autopoetische Momente, doch
verlangt ist eine Art von Verständigkeit, die über das kontrollierende
Bewußtsein des Arbeitens hinausgeht. Grundsätzlich bemerkt, wird im Lernen
das Autopoetische bewußt, und in der geübten Ausführung wird das bewußt
Gewußte autopoetisch und unbewußt gebraucht. Das Konstruierende am
Herstellen aber ist selbst schon das Handeln, das nach Arendt, verkürzt und
idealisierend, einem unterbestimmten reinen Handeln vorbehalten bleiben
soll.
Sind nun die nach Arendt allein der Autopoesis überlassenen Begriffe von
Arbeiten und Herstellen fähig, darunter soziale Handlungen zu verstehen, die
in der Einleitung skizzierten Sinne der Soziologie definitionsgemäß per
Mindestfunktionalität als rational festgesetzt wurden? Hannah Arendt zeigt in
ihren Definitionen des sozial relevanten Handelns schließlich indirekt eine
weitere Seite der Naturalisierungspotentialität komplexer Systeme auf: Die
Kollektivität des Autopoetischen erlaubt die Analogie zu anderen nicht völlig
determinierten und insofern autopoetischen Systemen. Die minimalistische
kollektive Festsetzung von sozial rationalem Handeln qua Bestand der
Gesellschaft als System von sozialem Handeln wie bei Foucault oder, wie ich
behaupte, zu Beginn jeder allgemeinen soziologischen Theorie, entspricht
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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jedoch sicherlich nicht dem bewußtseinsphilosophischen praktischen Ideal


vom Handeln, wie Arendt den Begriff formuliert.
Das rein bewußte Handeln aber führt zur idealistischen Bewußtseinstheorie
und unterhält von da ausgehend eine Verbindung zum
gesamtgesellschaftlichen Adam Kadmos (philosophisch gebrochen der bloßen
Idee eines gemeinschaftlichen Willens bei Rousseau vergleichbar) und dessen
Gegenbild im Monarchen des Zentralstaates des aufgeklärten Absolutismus.
Folgerichtig versteht Arendt Thomas Hobbes Leviathan als erste Zivilisierung
der Naturgewalt, die selbst nicht gewaltlos sein kann. Der bürgerliche,
demokratisch legitimierte Rechtsstaat, der im vorrevolutionärem Bathos
seinen ideellen Ursprung hat, ist eine spätere Errungenschaft der Neuzeit, die
im wirtschaftlichen Erstarken des Bürgertums seine Grundlagen hat. — In der
Ökonomiegeschichte kann man die theoretische Revolution der Physiokraten
(Adam Smith, Quasnay) als die Zäsur ansehen, welche die gedankliche
Eingliederung der Umgestaltung des Reiches zu einem rational organisierten
Zentralstaat zum Bestandteil der bürgerlichen Ideologie anzeigt.

Hauke Brunkenhorst beschreibt in ihrer Studie Hanna Arendt (C. H. Beck, 1999)
die Dynamik der Entwicklung des politischen Denkens von Hannah Arendt,
die zwischen ihrem geistigen Hinterland und den politischen Entwicklungen
Europas entstanden ist. Die ökonomischen und politischen Veränderungen in
Europa, die zum Zweiten Weltkrieg führten, hat Arendt als Versagen und
Zurückdrängen des republikanischen Nationalstaates verstanden. Sie schreibt
1948: »Das bisher stärkste Bollwerk gegen die schrankenlose Herrschaft der
bürgerlichen Gesellschaft, gegen die Ergreifung der Macht durch den Mob
und die Einführung imperialistischer Politik in die Struktur der
abendländischen Staaten ist der Nationalstaat gewesen. Seine Souveränität, die
einst die Souveränität des Volkes selbst ausdrücken sollte, ist heute von allen
Seiten bedroht. (VT, 29)« (Brunkenhorst 1999, S. 29).
Arendt sieht in Origins of Totalitarianism (New York, 1951) »im Verlust der
revolutionären Substanz des Nationalstaates die Hauptursache für die
europäische Katastrophe« (ebenda). An solchen Stellen ist nachzufragen, ob
nicht eine zu weitgehende Identifizierung des romantischen Nationalstaates
des Ausnahmezustandes mit den bürgerlichen Ideen der Republik mit
vorrevolutionären Wurzeln vorliegt. Der rationale Zentralstaat des
aufgeklärten Absolutismus muß sich selbst nicht zwingend nationalstaatlich
verstehen, auch das historische Vorbild Frankreich war erst postrevolutionär
explizite nationalpatriotisch. Den Nationalstaat betrachte ich als Folge des
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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konstitutionell werdenden politischen Gewichts des Bürgertums und als erste


Ausweitung der natürlichen territorialen Bindung des Sozialwesens auf eine
größere territoriale Einheit. Die Übertragung dieser lokalen Bindung des
Sozial- und Kulturwesens auf das politische Prinzip der strikten Terriorialität,
wie sie erst mit dem starken Zentralstaat politisch und militärisch formuliert
werden kann, halte ich für eine romantisch-idealistische Dehnung. Die
Negation der Herrschaft nach innen und außen setzt die theoretischen
Grenzen des Zentralstaates: Das politische und das militärische
Machtvakuum. Insofern muß auch das Bürgertum die Macht ergreifen, um
einen bürgerlichen Nationalstaat vollständig, also auch politisch zu
verwirklichen. Was Arendt kritisiert, möchte ich in zwei Richtungen
zuspitzen. Die bürgerliche Machtergreifung, die von Arendt kritisiert wird,
muß schrankenlos sein. Damit wird die bürgerliche Revolution an der
vorrevolutionären bürgerlichen Vernunftphilosophie und deren politischen
Grundsätzen der Gewaltentrennung und des völkerrechtskonformen
internationalen Umgangs gemessen. Die Idee des bürgerlichen Nationalstaates
von Hannah Arendt ist eine bestimmte philosophische Idee, also politische
Philosophie.
Der dazu gegenläufige Blickwinkel ist der der oben skizzierten Bindung an die
Region in geographischer, natürlicher, und historisch-kultureller Hinsicht und
deren Übertragung auf die Nation, die von mir als romantische Dehnung ein
erstes Mal beschrieben worden ist. Diese Idee vom bürgerlichen Nationalstaat
ist selbst nicht philosophisch oder kulturwissenschaftlich, sondern selbst
Kulturausdruck. Die kultursoziologische und kulturpsychologische
Deskription konstatiert aber nur kollektive Tendenzen, und beschreibt den
Kreis der Wertbeziehungen. Erst deren logische Wertanalyse im Sinne der
Max Webers kann die Funktionsweise der historischen Bindungen in der
Wertbeziehung verständlich machen. Die nämlichen kollektiven Tendenzen
haben in Frankreich zur Transformation des nachrevolutionären Frankreich zu
einem Bürgerkaisertum geführt. M. a. W., die zweite, kultursoziologische Idee
des Nationalstaates behält vorwiegend die Machtergreifung des Bürgertums
im Kopf. Arendt hat die synergetischen Momente zwischen Machtergreifung
und Mob in ihrer zeitgenössischen Analyse aber nicht übersehen. Die Totalität
der Herrschaft führe nur »zur Zersplitterung nationalstaatlicher Macht« und
zur Perversion »entstaatlichter Politik« (Brunkenhorst 1999, S. 53). Arendt
sieht diesen Prozess im Schlußband des dreibändigen Werkes Origins of
Totalitarianism schließlich im Zuge der Globalisierung als unausweichlich an,
der aus der bereits gewonnenen bürgerlichen Mitte der modernen Gesellschaft
in den Totalitarismus führen muß.
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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Es würde den Umfang dieser Einführung sprengen, wollte ich versuchen, im


Detail nachzuweisen, daß Arendts Schlußfolgerungen auf zwei Irrtümern
beruht. Der erste Irrtum wurde oben schon von mir kritisiert: der bürgerliche
Nationalstaat verwirklicht sich nicht vorwiegend, vielmehr durchschnittlich
überhaupt nicht als philosophische Idee. Die Idee der Gewaltenteilung und
der demokratischen Partizipation am Prozess der politischen Willensbildung
kann nicht allein in soziologisch und organisatorisch fassbare Institutionen
verwirklicht werden, dazu muß das Verständnis des Zweckes dieser
politischen Institutionen eines Rechtsstaates und ein kollektives Interesse an
den Verfahren der politischen Institutionen hinzutreten. Dieser zusätzliche
Schritt der Institutionalisierung des politischen Gewichts des Bürgertums
mußte eben erst revolutionär gegen den Widerstand der europäischen
Herscherhäuser, aber auch postrevolutionär gegen den Revisionismus und der
bürgerlichen Vorliebe für aristokratische und monarchische Vorbilder
durchgesetzt werden. Der politisch selbstbewußte bürgerliche Liberalismus ist
seinerseits nicht grundsätzlich demokratisch, nicht einmal immer
rechtstaatlich, sondern vermag durchaus elitär oder oligarchisch zu werden.
Die Auseinandersetzung um eine emanzipatorische und partizipatorische
Politik des politischen Ausgleiches der Interessen ist nicht ohne einer
ausdrücklichen philosophischen politischen Idee möglich gewesen. Arendt
übersieht das Verhältnis von Machtergreifung und Mob nicht in der Krise,
aber am Anfang des bürgerlichen Nationalstaates.
Arendts zweiter Irrtum in Origins of Totalitarianism vermute ich in der
unterstellten Folgerichtigkeit der historischen Entwicklung zum bürgerlichen
Nationalstaat finden zu können, die durch den Zusammenbruch des
vorrevolutionären bürgerlichen Bathos und der Kurzschließung politischer
Macht und Masse unter Umgehung der Rechtsinstitute der Republik
gewaltsam unterbrochen worden sei. Meiner Auffassung nach handelt es sich
zweifellos um eine Tendenz der modernen Massengesellschaft, die aber
nunmehr die Problematik des vor- und nachrevolutionären Bürgertums mit
der Aristokratie wiederholt, nachdem die Entwicklung des Kapitalismus in
der ökonomischen und politischen Elite oligarchische Züge angenommen hat,
sodaß der Mittelstand, also die politische Breite des Bürgertums, in Gefahr
gerät. Die kulturpsychologische Folge ist eine zunehmend autoritären
Gesinnung, die wiederum das nämliche komplementäre Verhältnis von
politischer philosophischer Idee und kultursoziologischer und
kulturpsychologischer Idee zeigt. Auf diese Verzweigungen wie auf meine
Gegenthese zur vermeintlichen Unausweichlichkeit des modernen Faschismus
werde ich anhand der Diskussion von Auffassungen zu »Biopolitics« von
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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Roger Masters und Gideon Schubert einerseits und der elitären politischen
Geschichtsphilosophie von Leo Strauß andererseits im übernächsten Abschnitt
näher eingehen; ein Abriss zu Grundlagenfragen des Verhältnisses von
politischer und wirtschaftlicher Macht wird ab dem dritten Kapitel gegeben.
Hier springt heraus, daß auch Hannah Arendt von einer gesetzmäßigen
Entwicklung der Geschichte ausgeht, die zuerst in der Auseinandersetzung
mit Monarchie und Aristokratie und deren Camouflage im französischen
Bürgerkaisertum als fruchtbar angesehen wird, weil sie kollektive der
partikularen Emanzipation und Partizipation wie der ökonomischen
Entwicklung förderlich war. Am vermeintlichen Ende der Epoche des
abendländischen Nationalstaates wird die Auseinandersetzung mit der
Oligarchisierung der politischen und ökonomischen Elite aber nicht
grundsätzlich wegen politischer Ohnmacht sistiert, die Auseinandersetzung
scheint theoretisch grundsätzlich abgeschlossen, weil wieder die
gesellschaftliche Entwicklung nur als historische Gesetzmäßigkeit betrachtet
wird, deren Ursachenanalyse bei der Ökonomie stehen bleibt.
Obzwar Hannah Arendt mitnichten mit der Depotenzierung des
Nationalstaates zum Totalitarismus zugleich das Individuum oder den
gesamten Vergesellschaftungsprozess zum einfachen Naturwesen und zur
Verhaltensbiologie depotenziert, wie es Michel Foucault an der Rändern seiner
Kulturanalyse tut, fällt sie, so meine kritische These, formal der nämlichen
Konversion der Theorie zum Opfer. Das ist mit der impliziten These, die auch
Arendt ab dem Moment zu vertreten beginnt, ab dem die Überlegung an dem
Punkt angekommen ist, daß die historische Entwicklung der modernen
Massengesellschaft offenbar mit Notwendigkeit ablaufe, zweimal deutlich
geworden.
Ich behaupte hingegen, daß die kultursoziologisch und kulturpsychologisch
gefaßte politische Idee zusammen zwar eine rationale Motivlehre ergeben
können, daß aber die Gesetzlichkeit nur eine verallgemeinerte
Schlußfolgerung aus eben dieser kollektiven kulturpsycholgischen Perspektive
ist. Die philosophisch gefaßte politische Idee, von der Hannah Arendt im
Grunde genommen normativ ausgeht, ist hingegen immer eine Idee der
Fähigkeit zu handeln und zu organisieren. Ich erblicke darin eine Parallele zu
Max Webers Doppelsystem von teils koordinierbaren, teils divergenten
Wertehierarchien einerseits und der Diskussion um die Interpretation der
bloßen Idee der allgemeinen Zweckrationalität andererseits. Wenn die
Soziologie, sei sie institutionssoziologisch oder kollektiv historisch, das
Freiheitsproblem ausblendet, hat die philosophische, das ist die kollektiv und
allgemein gefasste politische Idee, ihre Grundlage verloren.
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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6) Der revolutionäre Kern des Patriotismus und der Liberalismus des


Nationalstaates als historischer Widerspruch bei Hannah Arendt.
Die Idee der Repolitisierung zwischen Nationalstaat und
Weltbürgerlichkeit als Ausweg
In den Siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts hat Jürgen Habermas
Parallelen zwischen seiner Theorie des kommunikativen Handelns mit der
Machttheorie Arendts festgestellt, ohne ihren sich entwickelnden
Neoaristotelismus zu teilen, und formuliert das Konzept der
»kommunikativen Macht«. Dennoch ist auch anhand der selbst kritisierbaren
Begriffsbildung von Hannah Arendt die anfängliche Beschränktheit der rein
soziologischen Mindestdefinition von rational wieder eindeutig kenntlich
geworden. Wie eingangs bereits skizziert, kommt Arendt im philosophischen
Spätwerk Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken, Bd. 2: Das Wollen,
(München, Piper, 1971) zur Frage des sozialen Handelns des Individuums
zurück, und unterzieht den sozialen, kommunikativen und technisch-
praktischen Dimensionen unseres Handelns einer philosophischen Analyse.
Leider kam es nicht mehr zur systematischen Ausarbeitung einer
philosophischen politischen Theorie.
Die Nähe zu Carl Schmitt hinsichtlich eines Projekts der Repolitisierung gegen
den bürgerlichen Liberalismus kann ich hier nicht wirklich ausführen, weil
dazu auf die Implikate des Liberalismus in der Entstehungsgeschichte des
bürgerlichen Nationalstaates historisch eingegangen werden müßte, deren
Verselbstständigung gegenüber dem demokratisch legitimierten bürgerlichen
Rechtsstaat Arendt zuerst übersieht. Der Liberalismus als bürgerliche
politische Philosophie tritt in der Maske der universalisierbaren Moral und
Ökonomie auf und wird so zum Partner derjenigen philosophischen Politik,
die sich zuvor von der expliziten politischen Theologie des Gottesgnadentums
der Monarchie emanzipiert hat und gegenüber der romantischen politischen
Idee des Nationalstaates sowohl als emanzipatorisch und partizipatorisch wie
auch als rechtstaatlich und demokratisch beschrieben worden ist. Der andere
bürgerliche Liberalismus als die andere philosophische Nachfolge der
politischen Theologie hat aber offenbar nur Gott durch die Natur ersetzt, und
wird insofern nachrevolutionär zum Gegner derjenigen philosophischen
politischen Theorie, die ihre Wurzeln in der vorrevolutionären politischen
Aufklärungsphilosophie besitzt. Nach der politischen und ökonomischen
Revolution driften die naturphilosophischen und die philosophisch-
anthropologischen Denkschulen wieder auseinander. Da dies meine obige
grundsätzliche Kritik an den Thesen in Origins of Totalitarianism betrifft,
könnte es sich um eine beabsichtigte Selbstkritik Arendts handeln, die
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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innerhalb ihres Werkes im Detail zu verfolgen den Rahmen dieser Arbeit


sprengen würde.
Mit dem angepeilten kommunikativen Ansatz des sozialen Handelns steht die
Unterscheidbarkeit und das Zusammenwirken dreier Aspekte zur Diskussion,
in welchen Bewußtsein vermutet werden kann:
(1) dem individuellen Zielbewußtsein zwischen bloßem mythischen
Effektdenken und wissenschaftlicher Ursachenanalyse
(2) vom Bewußtsein des konkreten Handlungaktes selbst und das Wissen
über die relevanten Bestimmungsstücke des Handlungsaktes
(3) dem Bewußtsein der Organisationsform der Bestimmbarkeit konkreter
Handlungsakte und der Organisation der Handlungsakte selbst.
Im letzten Punkt wird historisches Gedächtnis, bürokratische
Informationsverarbeitung und Institutionssoziologie eine präzise
Verfremdung der Terminologie zur Beschreibung der selbst größten Teil
unbewußten Prozesse des Bewußtseins erlauben. Diese Externalisierung muß
das Individuum nicht abermals radikal an die Peripherie verschieben, diesmal
als Kulturwesen, sondern ist der Gewinnung einer Kulturtheorie auf
kommunikationstheoretischer Grundlage geschuldet, die den
Zivilisierungsprozess nicht im Patriotismus des bürgerlichen Nationalstaates
aufgehen läßt, der dann unweigerlich droht, als bloß völkischer Nationalismus
zum Spielball einer »entstaatlichten Politik« zu werden. Die gesuchte
Kulturtheorie der Politik hätte wie Grotius, Kant (von ökonomischer Seite
auch Adam Smith. J. S. Mill) in der Idee der Weltbürgerlichkeit ein
Gegengewicht zum Patriotismus wieder zu entdecken, um sowohl dem
staatszerstörenden völkischen Mob wie auch der internationalen Aristokratie
(der oligarchisch werdenden ökonomischen und politischen Elite) eine
philosophisch fundierte politische Theorie der Freiheit entgegenzusetzen.
Um das Individuum als Person vorstellbar zu machen, muß zwar die
Kollektivität unserer Sprachverwendung und die damit verbundene
Kollektivität von epistemisch relevanten und historisch entstandenen
Gemeinbildern bedacht werden, wozu die kultursoziologische Dimension
unverzichtbar ist. Aber ebenso gilt abermals: Wir müssen die urteilsfähige
Person nicht nur soziologisch aus theorieimmanenten Gründen elitär
voraussetzen, sondern wir müssen urteilsfähige Personen sowohl historisch
zur Ausbildung der komplexen Gesellschaft wie für die erkenntliche
beharrliche Absicht, den Vergesellschaftungssprozess theoretisch zu fassen
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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und zu beeinflussen, praktisch, d.h. als handelnde Personen auch faktisch


voraussetzen.
Schlußfolgerung: Ohne zureichende Bewußtseinstheorie, die je nach
Fragestellung auch peripher bleibt, kann es weder Kulturentwicklung noch
geregelte Stellungnahme zur Kulturentwicklung geben. Zureichend könnte in
diesem Fragekreis eine Bewußtseins-»theorie« dann genannt werden, wenn
Kollektivität und Individualität unserer anspruchvolleren Kommunikation als
zueinander geordnete Pole des Kommunikationsprozesses auch außerhalb der
dialogischen und gruppalen Kommunikation, also in der kollektiven
(massenhaften) Kommunikationsstruktur nachvollziehbar gemacht werden
kann. Dazu ist allerdings eine qualifizierte politische Öffentlichkeit
Voraussetzung.
Der erkenntnistheoretischen Kritik an den ersten einfachen kollektiven
Bestimmungen von sozialem Handeln bleibt aber nur mehr die Feststellung,
daß soziologisch betrachtet ausschließlich in der Unterscheidbarkeit des
Bereichs der privaten Motive und des Beobachtbaren an den sozialen
Handlungen, also zwischen Psychologie und Soziologie, das methodische
Motiv liegen kann, den Einzelfall als Individuum zu betrachten, und nicht als
passiv entstandenes Ergebnis der verschiedenen Selbstbilder aus
verschiedenen Rollen. Erst dann kann der Prozess der Institutionalisierung
unseres Sozialwesens kultursoziologisch beschrieben werden, was wiederum
die Voraussetzung ist für das historische Verständnis der Kulturentwicklung.
Das historische Verständnis kann aber nicht bei universalisierbaren Regeln des
bürgerlichen Liberalismus stehen bleiben, denn das historische Verständnis
versteht den Doppelcharakter des Liberalismus, einerseits seine Wurzeln in
der Umgestaltung des Reiches zum Zentralstaat zu besitzen, andererseits den
bürgerlichen Nationalstaat als Bollwerk gegen die »Entstaatlichung der
Politik« sowohl durch die schrankenlose Machtergreifung des Bürgertums
selbst wie durch die Patriotisierung zum völkisch-nationalistischen Mob im
Sinne Arendts wieder aufzulösen. Das historische Verständnis aller relevanten
Aspekte wäre aber die letzte und entscheidende Voraussetzung für eine nur
philosophisch zu fundierende politische Idee der Freiheit des öffentlich
relevanten individuellen Handelns.
Der aus der Naturphilosophie ererbte alleinstehende erkenntnistheoretische
Idealismus konstruiert hingegen einen ethischen Idealismus der Willkür
innerhalb des entschränkten Naturalismus. Das bleibt ohne Behandlung des
Doppelcharakters des Reiches der Zwecke zwischen einer objektivierbaren
Hierarchie möglicher äußerer Zwecke und der Ordnung der intelligiblen
Wolfgang Cernoch, 2009-2018

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Wesen, die Zwecke an sich selbst sein sollen (also wir selbst) reine Spekulation
und deshalb bei der negativen Freiheit stehen. Ohne die Reflexion auf die
Doppeltbestimmtheit unseres Wollens und Willens zwischen pretium
(Marktwert und Gebrauchswerte) und dignitas (Würde und Wahrhaftigkeit)
gibt es keinen Übergang zum transzendentalen Ideal der Freiheit.

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