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jesammelte Werke 20
ichriften zur Politik
ind Gesellschaft
Band 20
Suhrkamp Verlag
Herausgegeben vom Suhrkamp Verlag
in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann
Seit langem schon denke ich, daß ich nicht recht imstande bin, mich unter
den Menschen und Dingen zurechtzufinden, und daß ich doch dazu besser
imstande sein könnte. Diese beiden Gedanken zusammen haben mich zu
vielen Nachforschungen und Versuchen gebracht, zu denen mich einer
allein bestimmt nicht veranlaßt hätte; denn wenn ich zum Beispiel nur
gedacht hätte, ein Leben wie das meine sei nicht zu meistern, so wäre eine
Religion oder eine der mannigfachen skeptischen Haltungen der Philo-
sophen ausreichend gewesen, mich zu beruhigen. Hätte ich nur gedacht,
ich müßte meine Aussichten verbessern, so würde ich mich mit dem Erwerb
einiger schlauer Handgriffe begnügt haben und wäre in jene so häufige
Betriebsamkeit verfallen, die aus allem das Beste herausholt und damit
im Grunde alles sein läßt, indem sie sich eben an sein Bestes hält. So aber
hielt ich meine zwei Gedanken immer beisammen und wurde so weder die
Unruhe los noch die Vorsicht: Ich wollte alles so betrachten, daß ich mich
zurechtfände, weder länger noch kürzer; ich wollte mich nicht zu lange
beim Unvermeidlichen aufhalten, noch zu früh etwas für unvermeidlich
erklären.
Aus Notizbüchern
1919 bis 1926
1919
Monarchie
In jener Steinzeit handelte es sich darum, einem Menschen zu
dienen. Man kann das nicht verwechseln mit jener Übergangs-
epoche, wo eine Kommission an der Spitze des Staates es dem
Bürger leichter machte, sich frei zu fühlen. Der Mann der
Monarchie fühlte sich nicht weniger frei. Die Gesichtspunkte
der Eiszeit ermangelten nicht einer gewissen Größe. Der
Mensch wurde nicht so sehr nach seiner Leistung eingeschätzt
als vielmehr dem Vertrauen nach, das auf ihn (in ihm) gehäuft
lag. Das ist kein unfreier Standpunkt. Das Gefühl der Frei-
heit wird gemeinhin weniger geschätzt als das der Sicherheit
und der Übereinstimmung. Das Lebensgefühl jener Menschen
äußerte sich in dem Wissen um die organische Mitgliedschaft in
einem Gesamtkörper, der in seinem Haupt, gut oder schlecht,
frei war.
Der Tod
[In der] Dämmerung seiner Stube saß er, ein giftiger Kloß, und
dachte nach über die absolute Scheußlichkeit aller Dinge und
über einige Zusammenhänge, die man nicht geschenkt bekam.
Der Tod war der Abgrund, den man nicht ausloten konnte.
Aber wie konnte man es unternehmen, sich damit zu befassen,
wenn das Leben noch in keiner Form bewältigt war?! Es schien
ihm: er habe noch nicht gelebt. Da es nun aber nötig war, das
Denken von jeder Ausschweifung ins Zukünftige abzuhalten,
da die Möglichkeit einer Besserung nicht mehr hinter den Din-
gen stand, wie sollte es möglich sein, sie in ihrer wahren Art zu
begreifen? Das hieß mit geschlossenen Augen sein Todesurteil
4 Zur Politik und Gesellsdiaft
unterschreiben! Und da es also nicht möglich sein konnte,
die Wahrheit zu packen (da sie wohl nicht zu ertragen war),
mußte man sich zu überzeugen versuchen, daß dies auch nicht
nötig war. Dann blieb einem immer noch die Möglichkeit,
während man versuchte, sich einen Begriff vom Leben, wie es
sein sollte, nach seinem eigenen Leben, wie es war, zu bilden,
langsam zu vergessen, daß das Wesentliche dabei im dunkeln
blieb, und man erlebte vielleicht die kleine Erleichterung einer
von der Vernunft sanft geduldeten Klarheit, die weder in ihrer
Helligkeit noch in ihrer Herkunft besonders befriedigend war,
die zu lieben aber nicht allzuschwer werden konnte, wenn
immer man nur recht überzeugt war, daß es außer ihr nichts
gab...
Jene, die in die Begriffe verliebt sind oder der Eitelkeit der
Worte wie Liebhaber knechtisch ergeben, erleben durch die Er-
kenntnis ihres unheilbaren Zustandes noch einen kleinen
Triumph: Sie klammern sich blind an die Planken des Schiff s-
leibs, der sie mit hinab in den Strudel reißt. Mongol gehört
nicht zu ihnen. Jedoch erlebte er nach kurzem Schweißverlust,
daß die menschliche Natur die Wahrheit verschleiert, damit
der Geist nicht vor dem Körper sterbe.
Gott
Als er um sich sah nach einer Planke, die ihn nicht oben [...],
sondern er wollte nur etwas haben, das er mit hinabneh-
men konnte, verfiel er auf die Ideen, die sich mit Gott
beschäftigten. Gott, das war das hohe C der Romantik. Der
Abendhimmel über dem Schlachtfeld, die Gemeinsamkeit der
Leichen, ferne Militärmärsche, der Alkohol der Geschichte, das
war die Romantik der Schlachtfelder, die Zuflucht der Ster-
benden und der Mörder. Der Mann, der am Krebs verendete,
suchte mit allen Mitteln die Poesie dieses peinlichen Gescheh-
nisses auf die Zunge zu kriegen, er malte sich Bilder vom Leid
Aus Notizbüchern 5
der Erde, die ihn ausspie, vom Schmerz der Hinterbleibenden
oder der grandiosen und ihn ergreifenden Ironie ihrer Gleich-
gültigkeit, und vom Dunkel, das ihn aufnahm. Er hüllte sich
ein in Mitleid und Bewunderung und täuschte sich. Alle Men-
schen, in jeder Lage, unter allen Himmeln und mit allen Phi-
losophien, bemühten sich zäh und dringend, sich selbst zu täu-
schen. Je nach ihrer Intelligenz waren ihre Versuche geschick-
ter oder täppischer, etlichen gelang es bei sich selbst nicht, aber
bei andern, etlichen ging es umgekehrt. Immer aber schienen
die Triebe zu schwach, um ohne Heiligung zu triumphieren.
Als die wimmelnde Masse der Wesen auf dem fliegenden Stern
sich kennengelernt und ihre unbegreifliche Verlassenheit emp-
funden hatte, hatte sie schwitzend Gott erfunden, den nie-
mand sah, also daß keiner sagen konnte, es gäbe ihn nicht, er
habe ihn nicht gesehen.
Patriotismus
Nur in den Staaten, wo die Untertanen solche Schweine sind,
daß sie ansonsten in die Hosen pissen, ist es wirklich nötig, die
Pissoire zu Tempeln einzuweihen.
Sich mit dem Staat abfinden, ist so notwendig als: sich mit
dem Scheißen abfinden. Aber den Staat lieben ist nicht so
notwendig.
war als ihre Gemeinheit, sondern wegen dieser, als sie umge-
fallen waren, aus Faulheit nicht zuletzt, da begann die irrsin-
nige Jagd der Beherrschten nach - der Peitsche. Die Zwanzig-
jährigen schlössen sich an.
Die Zwanzigjährigen hatten die Gesichter derer gesehen, die
oben gestanden waren: schweißige, verkommene, aufgedun-
sene. Nun liefen sie mit, jene zu zertreten, und sahen nicht die
Gesichter hinter ihnen und neben ihnen. Die Zwanzigjährigen
können für eine Idee nichts tun als für sie sterben.
Gewiß, es gibt Völker, die keine Achtung hatten vor den Ideen
und sie verkommen ließen in der Gosse. Gewiß, es gibt Völ-
ker, die Achtung hatten vor den Ideen und sie in einen Tempel
sperrten und sie anbeteten (sie durften nur nicht heraus).
Aber dieses Volk, von dem ich rede aus Gnade, legte sich zu
den Ideen ins Bett, schändete sie und zeugte ihnen Bälge. Geht
weg von mir, hört nur nicht zu, sonst speie ich euch ins Ge-
sicht, ich kann nichts dagegen tun.
Die Besten aber, sich bleich abwendend von dem Gesicht die-
ses untergehenden Volkes, werden gut tun, sich nicht besprit-
zen zu lassen von dem Erbrochenen des Sterbenden und dem
Kot, den er noch läßt. Habt ihr nicht Ekel im Hals wie einen
Kloß beim Anblick dieses Volkes, das sich, ein Verein verrückt
gewordener Schieber, auf ein Karussell geworfen hat, um vor-
wärtszukommen; so sucht das Karussell abzudrosseln, um jene
zu »retten«!
[Keine Hilfe]
Ich habe immer, wenn ich Leute sah, die vor Schmerz oder
Kummer die Hände rangen oder Anklagen ausstießen, ge-
dacht, daß diese den Ernst ihrer Situation gar nicht in seiner
ganzen Tiefe erfaßten. Denn sie vergaßen vollständig, daß
nichts half, es war ihnen noch nicht klar, daß sie von Gott
nicht nur verlassen oder gekränkt waren, sondern daß es
io Zur Politik und Gesellschaft
überhaupt keinen Gott gab und daß ein Mann, der, allein auf
einer Insel, Aufruhr macht, wahnsinnig sein muß.
[...] Aber die Kirche ist ein Zirkus für die Masse, mit Pla-
katen außen, auf denen Dinge sind, die es innen nicht gibt.
(Wie auf den Jahrmärkten: außen »Die Enthauptung Louis
Capets« — innen zwei Jongleure und eine Pferdeschinderei.)
Das Plakat heißt: Der Hungerkünstler oder das königliche
Skelett, oder: Jedermann wird selig für elf Groschen, oder: Da
ich jetzt nicht komme, muß ich nachher kommen und so weiter
und so weiter. Sie haben nichts als ein Buch überliefert, das
haben sie verkritzelt und Kochrezepte und Medizinen über
die Weisheit geschmiert. So stark war die Idee, daß sie auch
nicht gleich kaputtging, als sie organisiert wurde, sondern
langsam hinsiechte. Es mußte etwas sein, das alle hören konn-
ten, auch die Tauben, auch die weit weg, die auf den schlech-
ten Plätzen, auch die, die man anbinden mußte, daß sie nicht
fortliefen... Das für die paar Fischer, das verging mit dem fau-
len Galiläer, der Gelegenheitsreden hielt unter Feigenbäumen,
12 Zur Politik und Gesellsdiaft
wenn er ein stilles Wasser sah und an sie und die Fische dachte.
Das war eine Hand voll Datteln für die Zunge, kaum für den
Hals, und da waren tausend Mägen. Der Galiläer hatte kein
Dach über dem Kopf gehabt, sie bauten Häuser für seine
Gläubigen, während sie, in der Hand die Kelle, immerfort
predigten, daß die Leute sich nicht verliefen. Der Galiläer war
für sich gestorben, sie riefen ihn wieder ins Leben zurück,
brauchten ihn, zitierten ihn nicht bloß, schickten ihn wieder
in den Tod, immer wieder, stellten ihn bereit im Tabernakel,
pfiffen ihm, wenn jemand da war, für den er sterben sollte,
und ließen ihn für Totschläger und Widerwillige sterben, in
ununterbrochenen Cinemas. Es war eine »heilige Handlung«,
besser eine heilige Feilschung. Der Galiläer war hochmütig
gewesen, ziellos, er hatte den Statthalter ewig verdammen
lassen, ohne ihn aufzuklären, er starb mitten in Mißverständ-
nissen, zwischen Schachern, die mit ihm ins Paradies kamen,
er sagte nicht, was Wahrheit sei, er schätzte die Dinge nicht ein,
unterschätzte sie nicht, sie waren da, also gut, er küßte den
Judas, weil er handelte, wie er war, und so liebte er ihn. Der
Katholizismus ist ein Ausbeutersystem, ein amerikanisches
Unternehmen, mit Gleichheit für alle, mit Stufenleitern, mit
Lohntarifen. Das Positive und der Verantwortungssinn daran
werfen einen Stier um. Die Entdeckung des Kopernikus, die
den Menschen dem Vieh näher bringt, indem sie ihn von den
Gestirnen entfernt, die dem Menschen befiehlt, mit seinem
Globus die Sonne zu umkreisen und die ihn aus dem Mittel-
punkt in die Statisterie schmeißt, war zunächst niedergeknallt,
dann für richtig und völlig unwichtig erklärt. »Das sind un-
geheure Dinge, geschaffen, daß ihr Gott bewundert, aber ihr
könnt ohne sie leben. Die Heilspunkte sind andere: sie zu ent-
decken, brauchen wir keine Wissenschaft.« Das ist eine Frech-
heit, der es an Erfolg nicht fehlen kann. Und in dieser Kirche
sind unabsehbare Wände leergelassen, mit Absicht, für die
Phantasten, in den Speichern hat alles Platz, alle Ideen sind in
den Dogmen unterzubringen. 7000 Gesichte gibt die Pflanze
Aus Notizbüchern 13
ab. Die Bänke sind bequem. Der Kot wird als Dünger verwer-
tet. Das Vieh gedeiht. Gott ist sichtlich über dem Unterneh-
men. Der arme Mensch stirbt täglich ungezählte Male für die
Mitglieder. Die Versicherung läuft bis zum Tod. Sie wird den
Überlebenden ausbezahlt. Es ist eine Lust zu sterben.
31. August
wie Schnee, wenn man ihn anlangt. Laßt euch nichts einreden:
100 000 Mark sind viel, aber 5 mal 20 000, das ist nicht viel.
Sollen sie in ihren frischgestrichenen Einheitshütten hocken
zwischen Grammophonen und Hackfleischbüchsen und neben
fix gekauften Weibern und vor Einheitspfeifen? Es ist kein
Glück, denn es fehlt die Chance und das Risiko. Chance und
Risiko, das größte und sittlichste, was es gibt. Was ist Zufrie-
denheit? Kein Grund zum Klagen, das ist ein Grund zuwe-
nig, nichts sonst! Und das Leben ohne Härte, das ist dummes
Zeug! Güte und Großmut und Kühnheit, das ist nichts ohne
die Sicherheit, daß das Selbstverständliche Roheit, Dummheit
und Appetitlosigkeit ist! Es ist reine Unwissenheit, wenn alle,
die von dieser verbrauchten Bourgeoisie angewidert sind, die
ja selber nichts als eine solche sozialisierte, das heißt versicher-
te Claque ist, ohne Appetit, Chance und Risiko, nicht sehen,
wo die wahrhaften Feinde dieser Bourgeoisie (und jener So-
zialdemokratie) stehen.
Notizen über die Zeit
1925 bis 1932
[Vergänglichkeit]
Nach Genuß von etwas schwarzem Kaffee erscheinen auch die
Eisenzementbauten in besserem Licht. Ich habe mit Erschrek-
ken gesehen (auf einem Reklameprospekt einer amerikani-
schen Baufirma), daß diese Wolkenkratzer auch in dem Erd-
beben von San Francisco stehenblieben. Aber im Grund halte
ich sie doch nach einigem Nachdenken für vergänglicher als
etwa Bauernhütten. Die standen tausend Jahre lang, denn sie
waren auswechselbar, verbrauchten sich rasch und wuchsen
also wieder auf ohne Aufhebens. Es ist gut, daß mir dieser
Gedanke zu Hilfe kam, denn ich betrachte diese langen und
ruhmvollen Häuser mit großem Vergnügen.
Ich glaube: Die Oberfläche hat eine große Zukunft.
In den kultivierten Ländern gibt es keine Moden. Es ist eine
Ehre, den Vorbildern zu gleichen. Ich freue mich, daß in den
Varietes die Tanzmädchen immer mehr gleichförmig aufge-
macht werden. Es ist angenehm, daß es viele sind und daß
man sie auswechseln kann.
Ich habe kein Bedürfnis danach, daß ein Gedanke von mir
bleibt, ich möchte aber, daß alles aufgegessen wird, umgesetzt,
aufgebraucht.
Ich habe das Gefühl, ich dürfe nichts sagen, sonst verfiele ich
einem Strafgericht. Es sei nicht erwünscht, von mir etwas ge-
sagt zu hören. Die Gefährlichkeit jeglicher Äußerung von mei-
ner Seite war mir außerordentlich klar. Wenn ich aber nach-
dachte, was ich nun zu sagen hätte und was man von mir um
keinen Preis zu hören wünschte, so konnte ich (so eigentümlich
dies vielleicht klingen mag) nichts finden.
Es leuchtet wohl ein, daß so etwas sehr beunruhigen muß. Ich
22 Zur Politik und Gesellschaft
habe jedesmal nachgeprüft, ob ein momentaner Fehler meiner
Konstitution vorlag, wenn ich plötzlich mit meinen Mitmen-
schen nicht zufrieden war. Einige Male war dies nicht der
Fall, meines Wissens. Aber auch in diesen Augenblicken hatte
ich nichts gegen die Menschen vorzubringen, vielleicht deswe-
gen, weil mir eher der ganze Typus verfehlt schien. Ich glaube,
der Mensch ist eine Rasse, die im Schöpfungsplan nicht vorge-
sehen war, welche Tatsache im Laufe ihrer nur wenigen Jahr-
tausende dauernden Lebenszeit nur von wenige Exemplaren
erkannt wurde, die übrigens selber noch nicht die Stufe der
Ichthyosaurier erreicht haben können. Ich möchte damit, wie
man sich wohl denken kann, keinem Menschen persönlich zu
nahe treten.
Ich würde zu keiner anderen Gruppe weniger gern gehören als
zu der der Unzufriedenen.
Etwa 1926
Notizen über die Zeit 25
Nachdruck verboten!
In jener Zeit war ich Soldatenrat in einem Augsburger La-
zarett, und zwar wurde ich das nur auf dringendes Zureden
einiger Freunde, die behaupteten, ein Interesse daran zu
haben. (Wie sich dann herausstellte, konnte ich jedoch den
Staat nicht so verändern, wie es für sie gut gewesen wäre.)
Wir alle litten unter einem Mangel an politischen Überzeu-
gungen und ich speziell noch dazu an meinem alten Mangel
an Begeisterungsfähigkeit. Ich bekam einen Haufen Arbeit
aufgehalst. Der Plan der Obersten Heeresleitung, mich ins
Feld zu bringen, war ja schon ein halbes Jahr vorher ge-
scheitert. Ich hatte es, durch Glück begünstigt, verstanden,
meine militärische Ausbildung zu verhindern, nach einem
halben Jahr beherrschte ich noch nicht einmal das Grüßen und
war selbst für die damals schon gelockerten militärischen Ver-
hältnisse zu schlapp. Ich verfügte dann aber sehr bald über mei-
ne Entlassung. Kurz: ich unterschied mich kaum von der über-
wältigenden Mehrheit der übrigen Soldaten, die selbstverständ-
lich von dem Krieg genug hatten, aber nicht imstande waren,
politisch zu denken. Ich denke also nicht besonders gern daran.
9. November 1928
[Über Militarismus]
Von allen Militaristen sind diejenigen die gefährlichsten, die
den Militarismus mildern wollen. Mich erschreckte nicht die
Haltung der Extremen, die die allgemeine Dienstpflicht ver-
längern und den Drill verschärfen wollten. Aber als ich hörte,
daß es Leute gab, die für ein Volksheer eintraten, eine Diszi-
plin mit Berücksichtigung der Menschenwürde forderten und
den Offizieren nahelegten, sich die Elemente der Bildung an-
zueignen, als ich das hörte, erschrak ich. Denn nun übersah
ich eine endlose Kette von Kriegen, die unsere Kindeskinder
i6 Zur Politik und Gesellschaft
töten, roh machen, niederhalten würden vermittels eines ver-
besserten Militarismus, und den widerlichsten Typ des Sol-
daten: den, der aus Berechnung tötet, aus Pflichtgefühl, auf
Grund zwingender Argumente.
lieh erschüttert, wer sie also sind: Spießer. Spießer sind heute
die letzten Träger dieser einst tragischen Leidenschaft. Der ver-
lockende Gedanke an Pensionsberechtigung ist es, der ihnen
das Messer in die Hand drückt. Der Sitz der Eifersucht ist näm-
lich jener Körperteil, mit dem man auf etwas sitzt. Damit
will ich übrigens nicht gesagt haben, daß ich selber nicht gern
sitze - denn wie könnte jemand behaupten, daß nichts Spie-
ßiges in ihm wäre!
Dezember 1928
Sylvester 1928
Es gibt einen Grund, warum man Berlin anderen Städten
vorziehen kann: weil es sich ständig verändert. Was heute
schlecht ist, kann morgen gebessert werden. Meine Freunde
und ich wünschen dieser großen und lebendigen Stadt, daß
ihre Intelligenz, ihre Tapferkeit und ihr schlechtes Gedächtnis,
also ihre revolutionärsten Eigenschaften, gesund bleiben. Mei-
nen Freunden wünsche ich natürlich alles, was sie meiner An-
sicht nach brauchen.
[Rauschgift]
Das gegen ihn gespritzte Gift verwandelt der Kapitalismus
sogleich und laufend in Rauschgift und genießt dieses.
[Nationale Schundliteratur]
Ich gestehe, daß ich es für einen wunden Punkt meiner Exi-
stenz halte, daß zum Beispiel die deutsche Geschichte so
schlecht geordnet ist. Es ist keine Entwicklung drinnen, und
sie ist auch nicht hineingebracht worden. Wären die Eisen-
bahnen etwa in beständigen Kämpfen mit den Cheruskern
erbaut worden oder könnte man den Siebenjährigen Krieg
nicht als Bürgerkrieg, sondern als Anzeichen größerer Schie-
bungen darstellen, so müßte es doch möglich sein, die Be-
freiungskriege, in denen von Deutschen nur Kleber und Ney
hervortraten, einfach zu streichen. Ebenso ist es bei gutem
Willen erreichbar, den Krieg 1870 totzuschweigen. Man kann
dafür Luther unterstreichen und im Notfall auf eine so inter-
nationale europäische Erscheinung wie Karl den Großen zu-
rückgreifen, wenn es Schwierigkeiten machen sollte, Bismarck
aus den Lesebüchern unserer Jugend zu entfernen. Was ich
meine, ist lediglich, daß es uns an nationalem Willen fehlt.
Das für den Augenblick dringendste ist es aber, die national
gefärbten Ansichtskarten einzustampfen. Es ist möglich, daß
andere Leute die rosa Farbe für anziehender halten als ich,
aber ich bezweifle, daß sie bei irgend jemandem eine heroische
Stimmung hervorrufen kann. Solange ich den Rhein als Him-
beersauce empfinde und seine Weinberge etwa mit dem poeti-
schen Schwung einer Weinhandlung angepriesen werden, ziehe
ich mich von diesem Strome zurück. Man muß bei einer zeit-
gemäßen Propagandatätigkeit der Tatsache, daß die Donau
zum Beispiel, behielte sie die Bedeutung bei, die sie in Passau
erreicht hat, und würde nicht ergiebiger in Bukarest, nicht
verwendbar wäre für Propaganda. Ich sage, man muß dieser
harten Tatsache ins Auge blicken können. Keine Schundlitera-
tur ist so ekelerregend als die nationale.
Notizen über die Zeit 39
Eigentum
Nach Aufhebung aller Gesetze, die etwa den Diebstahl mit
Strafen belegen, würde eine bestimmte Gruppe von Menschen
dennoch fortfahren (oder beginnen?), das Eigentum als Tabu
zu behandeln, und diese Gruppe würde anfangen (oder
4o Zur Politik und Gesellschaft
Als ich schon jahrelang ein namhafter Schriftsteller war, wußte ich noch
nichts von Politik und hatte ich noch kein Buch und keinen Aufsatz von
Marx oder über Marx zu Gesicht bekommen. Ich hatte schon vier Dramen
und eine Oper geschrieben, die an vielen Theatern aufgeführt wurden, ich
hatte Literaturpreise erhalten, und bei Rundfragen nach der Meinung fort-
schrittlicher Geister könnte man häufig auch meine Meinung lesen. Aber ich
verstand noch nicht das Abc der Politik und hatte von der Regelung
öffentlicher Angelegenheiten in meinem Lande nicht mehr Ahnung als
irgendein kleiner Bauer auf einem Einödshof. [...] 1918 war ich Soldaten-
rat und in der USPD gewesen. Aber dann, in die Literatur eintretend, kam
ich über eine ziemlich nihilistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
nicht hinaus. Nicht einmal die großen Filme Eisensteins, die eine unge-
heuere Wirkung ausübten, und die ersten theatralischen Veranstaltungen
Piscators, die ich nicht weniger bewunderte, veranlaßten mich zum Stu-
dium des Marxismus. Vielleicht lag das an meiner naturwissenschaftlichen
Vorbildung (ich hatte mehrere Jahre Medizin studiert), die mich gegen eine
Beeinflussung von der emotionellen Seite sehr stark immunisierte. Dann
half mir eine Art Betriebsunfall weiter. Für ein bestimmtes Theaterstück
brauchte ich als Hintergrund die Weizenbörse Chicagos. Ich dachte, durch
einige Umfragen bei Spezialisten und Praktikern mir rasch die nötigen
Kenntnisse verschaffen zu können. Die Sache kam anders. Niemand, weder
einige bekannte Wirtschaftsschriftsteller noch Geschäftsleute - einem Mak-
ler, der an der Chicagoer Börse sein Leben lang gearbeitet hatte, reiste ich
von Berlin bis nach Wien nach -, niemand konnte mir die Vorgänge an der
Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, daß diese
Vorgänge schlechthin unerklärlich, das heißt von der Vernunft nicht erfaß-
bar, und das heißt wieder einfach unvernünftig waren. Die Art, wie das
Getreide der Welt verteilt wurde, war schlechthin unbegreiflich. Von je-
dem Standpunkt aus außer demjenigen einer Handvoll Spekulanten war
dieser Getreidemarkt ein einziger Sumpf. Das geplante Drama wurde nicht
geschrieben, statt dessen begann ich Marx zu lesen, und da, jetzt erst, las
ich Marx. Jetzt erst wurden meine eigenen zerstreuten praktischen Erfah-
rungen und Eindrücke richtig lebendig.
Studium des Marxismus
[Weltbildhauer]
Es gibt einige, die unter dem Verdacht stehen, daß sie die
Revolution nur machen wollen, um den dialektischen Ma-
terialismus durchzusetzen.
3
Du sollst dir kein Bild von der Welt machen des Bildes willen.
Nichts aber ist schlimmer als die geheime Sklaverei. Denn ist
die Sklaverei eine öffentliche, ist ein Zustand als Sklaverei
erkannt, so gibt es wenigstens als einen denkbaren noch einen
anderen Zustand, nämlich den der Freiheit. Wird aber tat-
sächliche Sklaverei von allen als Freiheit angesprochen, dann
ist Freiheit nicht mehr denkbar: Nicht nur ist Sklaverei ein
natürlicher, sondern auch Freiheit ein unnatürlicher Zustand
Marxistisdie Studien 55
Ober Freiheit
Die meisten Kopfarbeiter (Intellektuellen), welche für die Re-
volution sind, erwarten sich von ihr hauptsächlich die Frei-
heit. Von den Auswirkungen des kapitalistischen Systems
empfinden sie die große Unfreiheit am drückendsten. Sie kön-
nen am schnellsten gewonnen werden, wenn man ihnen zeigt,
daß die herrschenden politischen Verhältnisse furchtbare
Schranken für die freie Entfaltung der Wissenschaften bedeu-
ten, für alle menschliche Forschung und nützliche Praxis.
Viele Kopfarbeiter verstehen nun, daß eine Revolution, welche
sogleich ein Höchstmaß an persönlicher politischer Freiheit
herstellen würde, nur ein ganz kurzer Rausch wäre. Sie haben
ein eindrucksvolles Beispiel vor Augen. Die deutsche Revolu-
Marxistische Studien $7
Das Beispiel hierfür ist: Ein zu enger Schuh erzeugt oft eine
Stimmung ziemlich unbegrenzter Gereiztheit. Kann sich der
Gereizte des Schuhes nicht entledigen, dann ist er oft bereit,
58 Zur Politik und Gesellschaft
[Reiner Geist?]
Jahre hindurch eine schlechte Politik sehend, eine Politik im
Interesse der Schlechtigkeit, erklären sie nunmehr Politik für
schlecht, jede Politik, auch eine im Interesse der Güte. Das ist,
als ob sie, eine schlechte Operation sehend, jedes Operieren
für schlecht erklärten.
Aber der reine Geist? Vertreten sie nicht den reinen Geist?
Nun, welchen reinen Geist meinen sie? Es trat viel Geist auf
in der Geschichte, er nannte sich immer rein, er trat ohne
Hände auf, nur mit Augen, so sah man nicht blutbefleckte
Hände.
Die in unserer Epoche den reinen Geist vertreten, meinen den
Geist des revolutionären Bürgertums vergangener Jahrhun-
derte. Damals vertrat das Bürgertum tatsächlich eine kurze
Zeit lang alle Unterdrückten und kämpfte tatsächlich für den
»Fortschritt«. Es forderte Freiheit für die Industrie und den
Marxistische Studien 59
Früher hattet ihr unrecht, jetzt habt ihr recht, wären sie doch
unzufrieden, es freut sie nicht, da recht zu haben. In Wirklich-
keit fühlen sie, daß sie früher und heute unrecht hatten. Es
ist falsch, sich von der Geschwindigkeit alles zu erwarten, und
es ist unrecht, sie aufzugeben, wenn sie, nur technisch, nicht
aber faktisch erreicht ist.
lektivist sieht die Menschheit als einen Apparat, der erst teil-
weise organisiert ist.
Jene These, daß das Genie sich durchringe und dadurch sein
Genie beweise, daß es sich durchringe, gibt nur dem Wunsche
Ausdruck, nichts für das Genie zu tun. Das heißt, die Kon-
kurrenz der Individuen zum Zwecke der Auslese zu veran-
stalten, ohne ihnen den gleichen Start zu garantieren, also das
Examen über das Lehren [zu] stellen, was etwa den Berufseig-
nungsprüfungen der kapitalistischen , Gesellschaft entspricht,
die im Grund nur Prüfungen dieses Gesellschaftssystems sind,
und zwar solche, die es nicht besteht.
Was immer noch die Ursachen des Staates sein mögen; eine
Ursache des Staates ist auch der Staat selber.
Das Haus ist gebaut, aber die Bauleute wollten nicht weggehen.
Bevor das Haus gebaut ist, können wir nicht einziehen, aber
wenn es gebaut ist, sitzen die Bauleute darinnen, und wir kön-
nen nicht einziehen. Ist es so mit dem Staat? Der Staat soll
gemacht werden, mit viel Sorge und Mühe, damit das Land und
die Fabriken an alle kommen. Dann soll er verschwinden. Und
dann verschwindet er nicht. Und da er nicht verschwindet,
kommen das Land und die Fabriken nicht an alle. Ist es so?
Könnte das drohen?
Selbst wenn es drohte, könnte es sein, daß ohne Staat das Land
und die Fabriken nicht an alle kämen.
Wenn dies aber wäre, müßten wir die Gefahr auf uns nehmen.
68 Zur Politik und Gesellschaft
Brechtisierung
Lenin gibt Anleitung in der Bekämpfung des Redens von der
Notwendigkeit.
gemacht durch die Kälte der Menschen gegen die Menschen, die
unverschuldete Armut, durch unbesiegliche Ausbeutung nur zu
oft in ein Laster verwandelt, der Hunger, vor dem das Eigen-
tum sich nur durch Gewalt zu schützen vermag: das sind die
großen Zersetzer. Aber die Schilderer schildern die schlechten
Sitten mit verdächtiger Freude?! Die menschliche Natur erliegt
(und sei es menschlichen Zumutungen!), und diese melden es
fast triumphierend! Auch hier ein Irrtum! Wenn sie triumphie-
ren, so triumphieren sie meist nur über die Unwissenheit, das
Sichnichtswissenmachen oder die direkte Lüge. Denn die Schul-
digen, die sie nennen, soweit das Gesetz es zuläßt, wünschen
das moralische Elend, das sie durch das physische erzeugen,
nicht beleuchtet. Und gegenüber einem Elend, das ein solches
Maß erreicht hat wie das unsrige, erscheinen schon die Sich-
nichts wissenmachen den als Schuldige, ja sogar die Unwissen-
den! Das ist selten eine geheime Freude am Schmutz, was man
an den Schilderern schlechter Sitten bemerkt, viel häufiger eine
geheime Freude am Triumph eigener Unbestechlichkeit oder
naive Freude über das Gelingen des nicht immer leichten Nach-
weises.
[Marx-Beschreibungen]
Man sollte sich endlich frei machen von dem unserer Zeit nicht
liegenden Ton der Marx-Beschreibungen, die eigentümlich
hartnäckig in dem Stil gehalten sind, der das zweite Drittel
des 19. Jahrhunderts kennzeichnet. Um sich dieses Stiles zu
bedienen: Zum Teufel mit diesen prächtigen Kerlen, wacke-
ren Kumpanen, echten Kämpfernaturen! Genug von der Lö-
wenbrust oder Löwenmähne Marxens, des verteufelten Moh-
ren! Lauter Freiligrath! Das sieht schon bei Delacroix etwas
besser aus. Aber Frankreich kolonisierte ja wenigstens tatsäch-
lich, während Deutschland wieder nur »im Geiste« partizi-
pierte. Zeigte man sich hier nach Kräften aufsässig, indem man
gegen die fischigen, wohltemperierten, abgemessenen tatsäch-
lichen Machthaber sich kraftgenialisch gebärdete, so nahm man
doch auch wieder genußvoll teil an dem Gefühl des Auf-
schwungs des Bürgertums, das sein Schäfchen ins Trockene ge-
bracht hatte und sein Pfund wuchern ließ. Die Biographen
stellen Marx am liebsten eine Miniaturbarrikade als Schreib-
tisch in seine Bücherstube, wofern nicht als Nippes auf sei-
nen Schreibtisch. Und aus diesem Schreibtisch könnte man um-
Marxistische Studien 75
Kultur, also Überbau, ist nicht als Ding, Besitz, Resultat einer
Entwicklung, in geistigen Luxus umgesetzte Rente, sondern als
selbst entwickelnder Faktor (eventuell aber nicht nur renten-
erzeugend) und vor allem als Prozeß anzusehen.
5
Die Art, auf die Überbau entsteht, ist: Antizipation.
Was vernünftig ist, das wird wirklich, und was wirklich wird,
das ist vernünftig.
8
Aufgabe der Dialektiker ist es, die verschiedenen Denkgebiete
zu dialektisieren und die politische Komponente zu ziehen.
78 Zur Politik und Gesellschaft
10
Pädagogik
In allen bisherigen staatlichen Formen (sie sind auf Klassen-
unterschieden aufgebaut) erzeugte der Unterbau den ideolo-
gischen Überbau, die Kultur. Von dieser waren die weitaus
wichtigsten praktischen Ergebnisse zweifellos die Sitten und
Gebräuche selber. Daß diese auf den Unterbau wiederum ein-
wirkten, wurde von den Dialektikern immer betont. Im
neuen klassenlosen Staat (der kein Staat mehr ist) ist zum
erstenmal die Möglichkeit gegeben, diesen funktionellen Zu-
sammenhang bewußt zu bestimmen, die Beziehungen werden
direkt, Überbau und Unterbau bilden eine Einheit. Der Un-
terbau schafft Gebräuche, welche direkt wieder auf den Un-
terbau einzuwirken bestimmt sind, und zwar in Hinblick auf
Oberbau, oder die Oberbau-Dinge werden.
Marxistische Studien 79
[Untersdiied]
Nur wer sich vor Augen hält, daß ein Unterschied besteht
zwischen diesen beiden Sätzen, kann den zweiten, richtigen,
vollkommen verstehen.
Eines ist der Satz: Der Kommunismus ist das Ziel oder soll
das Ziel sein aller Menschen und ein anderes der Satz: Die
Sache des Proletariats, eben der Kommunismus, sei die am
allgemeinsten menschliche, breiteste und tiefste.
[Sklaverei]
Zukünftigen Geschlechtern muß die tödliche Abhängigkeit rie-
siger Menschenmassen von einigen Leuten, welche die Werk-
zeuge aller in Form gewaltiger Fabriken in ihren Händen hal-
ten, nicht weniger befremdlich erscheinen als uns die Sklaverei.
Sie werden nicht ohne Mühe ausfindig zu machen suchen, wie
dieser für beinahe alle doch so furchtbare Zustand so lang auf-
rechterhalten werden konnte.
[Schlechte Ordnung]
Was bedeutet es, sich darüber zu beschweren, daß Leute sich
in Städten unserer Art schlecht benehmen?
Wenn in einem Lande die Vorteile, die man aus der Gemeinheit,
den Lastern der Unwissenheit und dem asozialen Verhalten
ziehen kann, bei weitem die Vorteile überwiegen, die man aus
einem andern besseren Verhalten haben könnte, dann ist das
Land schlecht geordnet.
Wenn in einem Lande die Kaufleute den Hunger schaffen, um
ihn zu erpressen, die Beamten die Verfassung mißachten, die
Richter Unrecht tun, indem sie die Gesetze ausführen, die Zei-
tungsschreiber um Zeilenhonorare Existenzen vernichten, die
Politiker ihre Wähler verraten, die Ingenieure ihre Erfindun-
gen gegen Entlohnung verschweigen, die Ärzte den Kranken
84 Zur Politik und Gesellschaft
Was erzieht? Es erzieht der Hunger und die Art, wie er gestillt
werden kann. Es erzieht die Kälte und die Art, wie ein Obdach
oder die Kleidung errungen werden können. Es erzieht die Art,
wie die Menschen einander begegnen, wie einander zu begegnen
sie durch ihre Nöte gezwungen werden.
Es erziehen die schönen Künste nur, wenn sie nicht den Lebens-
kampf schwächen.
Marxistische Studien 85
wenn der Verrat nichts mehr hilft, die Gemeinheit nichts mehr
einbringt, die Dummheit niemanden mehr empfiehlt;
wenn selbst der unersättliche Blutdurst der Pfaffen nicht mehr
ausreicht und sie weggejagt werden müssen;
wenn nichts mehr zu entlarven ist, weil die Unterdrückung
ohne die Larve der Demokratie, der Krieg ohne die der Frie-
densliebe, die Ausbeutung ohne die der freiwilligen Zustim-
mung der Ausgebeuteten einherschreitet;
wenn die blutigste Zensur jedes Gedanken herrscht, aber über-
flüssig ist, denn es werden keine Gedanken mehr gedacht;
Nichts ist frecher als die schlaue Trennung der Begriffe Kul-
tur und Zivilisation, mit der schon die Halbwüchsigen in den
Volksschulen bekannt gemacht werden. Da soll das eine das
Lebensnotwendige, mit Administration Zusammenhängende,
Komfort, Tempo, Verkehr, Hygiene Regelnde, eigentlich recht
Seichte sein; das andere hingegen etwas langsamer Wachsen-
des, mehr Organisches, schwer Beibringbares, Wertvolles,
Überflüssiges. Gerade der letztere Begriff zeigt besonders deut-
lich, daß hier ein und dasselbe gemeint ist — aber für zweierlei
Klassen, also etwas ganz unbeschreiblich Verschiedenes. Und
für die eine dieser Klassen ist der Überfluß überflüssig, das ist
klar. Während gewisse Rassen und gewisse Klassen zivilisiert
werden können, was mit einigen Kanonen und Kapitalien ganz
Marxistisdie Studien 93
leicht geht, hört man nichts davon, daß man sie auch kultivie-
ren könnte — was die betreffenden mehr oder weniger farbigen
Rassen betrifft, haben sie eigentlich Kultur, wenn die Kanonen
angerollt werden. Nur die Zivilisation ist nicht vollständig ge-
nug. Mit den gewissen Klassen ist es anders: Die Kanonen
werden meist angerollt, weil sie die Kultur bedrohen.
[Zweierlei Versprechungen]
Der Arbeiter im Kapitalismus hat völlig recht, wenn er seinen
Wochenlohn zählt und auf die Versprechungen pfeift, die ihm
für die Zukunft gemacht werden. Er weiß, daß er am Ende der
Woche alles bekommen hat, was er bekommen wird aus der
Produktion, die er vollbracht hat. Außer seinen Lohn am
Ende der Woche hat er nichts zu erwarten; was er produziert
hat, geht ihn nichts an. Im Kapitalismus so zu denken ist für
den Arbeiter überhaupt der Beginn seines vernünftigen Den-
kens. (Es macht ihn sogar zum Atheisten, dies und nichts
anderes: Auch in der Religion sieht er vernünftigerweise nichts
anderes als Versprechungen, die nicht gehalten werden dürften.)
Er denkt nicht so, wenn er den Sozialismus aufbaut, und es
ist nunmehr seine Vernunft, die ihn nicht so denken läßt. Er
weiß, daß er nunmehr am Ende der Woche nicht alles erhält,
Marxistische Studien 95
was er aus der Produktion erhalten wird. Der Satz, daß man
nur hat, was man hat, ist ungemein wissenswert für den Ar-
beiter im Kapitalismus, der Anfang und die Quintessenz des
Materialismus. Aber der Kapitalist, als der Leiter der Pro-
duktion und ebenfalls Materialist, weiß, daß seine Fabrik,
die er hat, unter Umständen, zum Beispiel, wenn die Polizei
schlappmacht, nichts mehr ist, was er hat, daß sie schon im
Streik ein Haufen rostenden Eisens ist; er weiß, daß das,
was er hat, solang er etwas hat, die Arbeitskraft der Arbeiter
ist. Im Sozialismus ist der Arbeiter der Leiter der Produk-
tion und, was immer wieder gesagt werden muß, einer völlig
anderen Produktion, das heißt nicht nur einer Produktion mit
anderer Leitung. Lauten die Versprechungen der Faschisten ähn-
lich wie das, was sich der kommunistische Arbeiter verspricht,
so kommt das, es ist wahrhaft komisch, daß dies gesagt wer-
den muß, daher, daß es Versprechen gibt, die gehalten, und
Versprechen, die nicht gehalten werden.
Über revolutionären Kampf
In den Zeiten der Schwäche ist vieles wahr, aber es ist gleich
wahr; ist viel nötig und kann weniges geschehen; der Aus-
geschaltete ist in Ruhe versetzt und hat keine Ruhe.
3
Wann werden diese Schichten enttäuscht sein? Was will der
Bauer? Unter welchen Umständen kann er es erhalten? Unter
welchen Umständen sieht er ein, daß er es nicht erhalten
kann? (So, daß er keine Revolution macht, weil die auch
nichts ändern würde - seiner Meinung nach.)
5
Welche sozialistischen Maßnahmen kann der Faschismus
durchführen?
[Die Partei]
Lenin hatte den Wunsch, daß es für die Revolution nur die
Partei gebe. Für alle Menschen, die die Revolution wollten,
Marxistisdie Studien 99
Fragmentarisch
der Satz gilt: »Jeder nach seiner Fähigkeit, jedem nach seiner
Leistung.« Die Leistung wird gemessen an dem Wert, der für
den Aufbau der Produktion herauskommt. Die Bolschewiki
halten diesen Satz für einen vorübergehend zu praktizieren-
den. Sie rechnen mit einer Epoche, wo der Satz: »Jeder nach
seiner Fähigkeit, jedem nach seinem Bedürfnis« gelten soll.
Sie sehen die Praktizierung des ersten Satzes für notwendig
an zu der Schaffung eines Zustandes, der die Praktizierung
des zweiten ermöglicht und notwendig macht. Der Schlüssel-
punkt für das Verständnis des Prozesses, der den ersten Satz in
den zweiten verwandeln soll, bildet die Art der Produktion,
die hier aufgebaut wird. Würde es sich um eine solche Produk-
tion handeln, wie wir sie im Kapitalismus kennen, also eine
anarchische, eingeschränkte, in gewisser Hinsicht statisch ge-
haltene Produktion, dann bestünde wenig Aussicht dafür, daß
auf die jetzige Epoche eine so von ihr verschiedene folgt, wie
sie sein muß, damit der zweite, vom ersten so verschiedene Satz
in ihr praktiziert werden kann und muß. Wir wären auf die
Versprechungen der herrschenden Klasse angewiesen. Ver-
sprechungen zukünftiger gesetzlicher Bestimmungen, aber die
Produktion, die unter Praktizierung des ersten Satzes, der
große Ungleichheiten der Einkommen beinhaltet, aufgebaut
wird, ist keine kapitalistische Produktion, keine anarchische,
eingeschränkte, statisch gehaltene Produktion. Sie ist eine
sozialistische Produktion der größtmöglichen Menge, es gibt
keine Beschränkung, gegeben durch den Profit. Eine unüber-
sehbare Reihe von Mißverständnissen ergab sich seit wenigstens
einem Jahrhundert aus der Unfähigkeit vieler Menschen, den
Kommunismus als eine vor allem die Produktion betreffende
Lehre zu verstehen. Ausgehend von dem so weithin sichtbaren
Faktum der Fehlerhaftigkeit und Ungerechtigkeit des bürger-
lichen Systems der Konsumtion haben immer wieder gutwil-
lige und sympathische Leute im Kommunismus hauptsächlich
ein neues System der Verteilung der Güter gesehen und be-
grüßt. Sie haben die Produktion, ihre ungeheuerliche Fehler-
Marxistische Studien 107
In diesen Sätzen ist von Freiheit die Rede. Freiheit ist allem
Anschein nach etwas sehr Allgemeines, Einfaches. Was es ist,
weiß doch wohl jedermann, der Sohn, dem der Vater das Stu-
dium vorschreibt, die Frau, die der Vater verheiratet und der
Ehemann gefangen hält, der Arbeiter, dem der Polizist die
Flugblätter aus der Hand reißt, der Schriftsteller, dem der
Redakteur den Artikel verstümmelt. Etwas so Einfaches wie
die Freiheit zu sehen, kam der alte Mann in das Land der
Sowjets, aus einem Land, wo soviel Unfreiheit herrschte. Was
er sah und hörte, erfüllte ihn mit Erstaunen und nicht mit
freudigem.
Er hörte, daß man in diesem Land, dem Land der Freiheit,
über Freiheit sonderbare Anschauungen hatte. Die Freiheit
galt hier keineswegs als etwas so ewig gleich zu Definie-
rendes, Allgemeines und Einfaches. In einer gewissen Weise,
hörte er, sei er selber eigentlich aus einem Land der Freiheit
gekommen. Man schlug ihm die kommunistischen Klassiker
auf, die großen Verdammer der Unterdrückung, und zeigte
ihm, daß sie zum Beispiel den Arbeiter in den kapitali-
stischen Ländern als im Zustand der Freiheit befindlich be-
zeichneten. Allerdings waren sie, wie immer, ziemlich genau
in ihren Ausführungen und sagten sogleich, was für eine Frei-
heit sie da meinten: die Freiheit von Produktionsmitteln.
Und das war keineswegs ironisch gemeint. So wenig ironisch,
daß sie zum Beispiel den Arbeitern abrieten, eigene Häuschen
zu erwerben, wo dies möglich schien, um nur ja diese Freiheit
zu bewahren. Nun, das waren eigentümliche Anschauungen.
Der berühmte Reisende war nicht gesonnen, zuzugeben, daß
er nicht wüßte, was Freiheitsdrang ist, jener universelle, ewige,
Marxistisdie Studien m
Dies ist meine Meinung, die Prozesse betreffend. Ich teile sie,
in meinem isolierten Svendborg sitzend, nur Ihnen mit und
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen, ob eine Argu-
mentation dieser Art Ihnen nach Lage der Dinge politisch
richtig erscheint oder nicht.
Die Leute reagieren so: Wenn ich höre, daß der Papst ver-
haftet wurde wegen Diebstahls einer Wurst und Albert
Einstein wegen Ermordung seiner Schwiegermutter und Erfin-
dung der Relativitätstheorie, dann erwarte ich, daß die bei-
den Herren das leugnen. Gestehen sie diese Vergehen, dann
nehme ich an, sie wurden gefoltert. Ich meine keineswegs,
ii4 ^ u r Poetik und Gesellschaft
7
Aufbau einer großzügigen Propaganda der technischen und
ethischen Überlegenheit des Sozialismus für den Großteil
der Menschheit. Aufgabe des Herrschaftsanspruches des In-
dustrieproletariats und Angebot seines Vorkämpfertums. Die
Diktatur des Proletariats als die einfachste, unbestechlichste,
kürzeste, wirksamste und also praktischste Form des sozialen
Umbaus.
118 Zur Politik und Gesellschaft
3
Nichteinnehmen einer beratenden, onkelhaften, nach dem
kindlichen Willen lauschenden Haltung eines »Sprachrohrs«.
Sie verurteilt zur Untätigkeit, bloßen Selbstverständigung,
nimmt allen Analysen den organisierenden Charakter, min-
destens solange die revolutionäre Situation nicht »eintritt«,
hilft nicht, sie herbeizuführen (Verbreiten von Erkenntnissen
ist schwächer als Aufrichten von Kampfgruppen).
Totalität
Die Metaphysiker versuchen, und der Versuch beweist sie als
Metaphysiker, zur Totalität zu kommen, und sie tun so, als
gälte es, dieselbe lediglich nachzuweisen, so, als sei sie im
Grund vorhanden, müsse also nur aufgezeigt werden. Sie tun
so, das heißt, sie verstellen sich, denn wenn ihre Versuche miß-
glücken, also stets, zeigt es sich, daß sie ein Puzzlespiel gespielt
haben, bei dem sie gegen alle Spielregeln die Steine nicht nur
zusammensetzten, sondern auch heimlich bemalten.
Tatsächlich kann man sich eine Totalität nur bauen, machen,
zusammenstellen, und man sollte das in aller Offenheit tun,
aber nach einem Plan und zu einem bestimmten Zweck.
Jedermann weiß, daß zum Beispiel ein Haufen gewisser re-
volutionärer Verhaltungsweisen, also etwa Sinn für Gerech-
tigkeit, freiheitliche Bestrebungen, Gewalttätigkeit, List, ge-
wisse Kenntnisse und so weiter, keineswegs alle zusammen
und immerfort angewendet werden dürfen, wenn man eine
Revolution gewinnen will. Alle diese Verhaltungsarten und
noch ganz unbekannte dazu, müssen sich nach ganz bestimm-
tem Plan in die gemeinsame Aufgabe teilen, also planmäßig
auftreten und abtreten und im Augenblick ihrer Verwendung
noch dazu ohne jede Spur von Selbsterhaltungstrieb handeln.
Die Revolution ist ihr Bezugssystem, nur in Hinblick auf sie
treten sie auf oder ab. Die Revolution ist auf sie angewiesen,
aber sie nützen ihr nur, wenn sie nicht sich selbst durchsetzen
wollen, ohne Zugeständnis aneinander und so weiter.
132 Zur Politik und Gesellsdiaft
Zu Descartes »Betrachtungen«
Herauszufinden wäre, was ihm diese eine so unglückliche und
qualvolle Überlegung nützt oder zu nützen scheint. Denn zu-
nächst scheint es doch ganz und gar gleichgültig, was für uns
wahr und falsch ist, und auch ganz und gar unergründbar -
solange es eben nur um ein Erkennen und nicht um Handeln
geht, also um ein Erkennen, das jedenfalls vom Handeln ge-
trennt ist. Denn das ist ein doch ganz unnatürliches, das heißt
für gewöhnlich nicht vorkommendes Unterfangen, dessen
Nützlichkeit (oder Ziel) also durchaus genannt werden muß.
Wie kann dieser Untersucher erwarten, er könne über etwas,
was ihm nicht unmittelbar nötig zu wissen ist, etwas erfahren!
Das heißt, wenn er nicht handeln muß! Er erkennt das Papier,
vor dem er sitzt (und billigt ihm eine gewisse größere Sicher-
heit zu als vielem andern), denn er will schreiben. Schreibend
gewinnt er an Sicherheit in bezug auf das Papier. Auch das
Schreiben selber hat verhältnismäßig wenig Zweifelhaftes: Er
sehe hin und er wird sehen: er hat geschrieben. Aber über das
Wesen des Papiers ohne Manipulationen [.. .]* etwas zu
erfahren, wird sehr schwierig sein. Es ist durch Manipulatio-
nen entstanden, für Manipulationen da und hat drin seine
ganze mögliche Sicherheit. Es wäre unvernünftig, zu bezwei-
feln, daß man auf Schreibpapier schreiben kann. Auf den
ersten Blick erscheint es dagegen beinahe vernünftig, etwa
daran zu zweifeln, ob ein Quadrat unbedingt vier Seiten ha-
ben muß. Aber einmal haben wir (es gibt also auch uns) etwas
mit vier Seiten Quadrat genannt. Wir vergaßen die Zwecke
schneller als diese Bezeichnung, sowohl auch deshalb, weil sie
bald mehreren Zwecken genügte. Freilich kann ich bezweifeln,
ob ein Baum, den ich sehe, da ist. Wäre er nicht da, würde mir
aber vielleicht wenigstens der Sauerstoff fehlen, den er ausat-
met. Und wieviel, was ich nicht kenne, ist nötig, für vorhan-
Damit sprang ich natürlich ganz aus dem Denken des Descar-
tes, und was ich dachte, hat nur wenig mehr von seinem Den-
ken; es steht sozusagen quer zu seinem Denken. Das sage ich,
damit man nicht meint, ich wolle etwas darüber aussagen, was
er eigentlich gesagt habe, worauf man aber bisher nicht ge-
kommen sei. Ich springe aber mit ihm nur um, wie einer, der,
wenn er liest, [Galilei] habe in der Kirche, das Schwanken
eines Leuchters betrachtend, das Pendelgesetz entdeckt, an-
fängt zu fragen: Warum ging er in die Kirche, oder: Warum
sah er dort nach den Leuchtern?
So fragte ich mich bei der Lektüre der Grundlagen der Philo-
sophie jetzt: ob auch ich Lust und Möglichkeit hätte, an allem
zu zweifeln, was ich für wahr halte, und, wenn ja, meine Exi-
stenz in Zweifel stellte und dann annähme als unzweifelhaft,
diese sei gesichert, wenn ich und da ich doch denke, und zwar
das alles prüfen und entscheiden würde in ganz allgemeinem,
aber meinem Sinne.
Ich sagte sogleich, es habe sich mir vor allem andern aufge-
drängt, daß meine Zeit eine ganz und gar andere als die seine
sein müsse. Aber das andere war doch kein völlig anderes; es
war nur anders, wie der Morgen und der Abend ein und des-
selben Tages anders sind. Stand jener am Anfang, so stand ich
am Ende einer Zeit. Und da es eine Zeit war, Frühe und Abend
eines einzigen Tages, fühlte ich mich wohl auch aufgelegt zu
ähnlichen Fragen. Und da der Morgen und der Abend eines
einzigen Tages so sehr anders sind, fühlte ich, daß auch die Ant-
wort auf die Fragen anders ausfallen müßte.
So konnte auch ich zweifeln an meiner Existenz, und auch ich
konnte mir eine Sicherung derselben nur erhoffen durch ein
Denken, und es machte zunächst nichts aus, daß ich unter Exi-
stenz etwas ganz Profanes verstand, nämlich das, was der ge-
wöhnliche Mann eben Existenz nennt, nämlich, daß er eine
Arbeitsstelle hat, die ihn nährt, kurz, daß er leben kann. Und
auch ich konnte nicht gut zweifeln, daß ich diese Existenz
einzig und allein durch Denken, wenn auch im weitesten
Notizen zur Philosophie 135
Audi der Satz »Cogito ergo sum« hat eine ungleidie (und ver-
gleidisweise) Wahrheit. Es müssen noch viele Sätze dazukom-
men, um ihn zu stützen. Das Sein wie das Denken ist etwas
Vergleidisweises und Ungleidies (Steigerbares). Der Satz ist
auch nur als Grundstein eines ganzen Gebäudes gedacht. Er
ist nicht durch sich selber richtig.
Was meint er? Will er sagen: Man muß an allem zweifeln, so-
lang man keinen Beweis hat. Man muß mit der Bezweiflung
der eigenen Person (als des noch Sichersten) beginnen. Man
darf sie nur glauben, weil man sie beweisen kann. Ihr Beweis
ist: sie denkt. Will er das sagen? Da es viel Seiendes gibt, das
(zumindest vergleichsweise) nicht denkt, könnte dieses Seiende
sein Sein niemals nachweisen. Der Satz heißt also: Ich bin
bewiesen durch das Ich; wenn ich auch nicht denken könnte,
wäre ich vielleicht auch, könnte es mir aber nicht nachweisen.
Das Nachweisen und das Den-Nachweis-Aufnehmen ist ein
Denken. Ist also der Selbstnachweis der Person gelungen? Es
ist nur Denken als eine Art des Seins behauptet; es gibt aber
noch mehr Arten des Seins.
Die Frage nach dem Ding an sich wird gestellt in einer Zeit,
wo auf Grund der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung
die Verwertung aller Dinge in Angriff genommen wird. Die
Frage aber zielte nicht nur ab auf die Auffindung neuer
Brauchbarkeiten an den Dingen, sondern bezeichnete auch den
Widerspruch zu einer Betrachtung der Dinge nur nach Ver-
wertbarkeit hin: Die Dinge sind nicht nur für uns, sondern
auch für sich. Allerdings sind sie auch in diesem absoluten Zu-
stand noch verwertbar . . .
i Die Operation mit diesen Begriffen ermöglicht die Auflösung der Kant-
sdien Zweifel und die Fruktifizierung der Descartesschen.
Notizen zur Philosophie 139
nahmen sich nicht mehr nur von den Dingen, was sie brauch-
ten, sondern, ein Ding besitzend, suchten sie neue Brauchbar-
keiten an ihm ausfindig zu machen. Es war jetzt auch zu
verwerten, was andere brauchten. Das Ding wurde ungeheuer
gedrängt, möglichst viel herzugeben.
Die Dinge sind für sich nicht erkennbar, weil sie für sich auch
nicht existieren können.
5
Der Baum erkennt den Menschen mindestens so weit, als er
die Kohlensäure erkennt.
Zur Erkenntnis des Baums gehört für den Menschen die Be-
nutzung des Sauerstoffs. Der Begriff des Erkennens muß also
weiter gefaßt werden.
14° Zur Politik und Gesellschaft
i Der Philosoph scheint zu verfahren wie gewisse Zeichner, die eine Fläche
schraffieren, so daß die unsichtbare, aber vorher »darunter« angebrachte
Zeichnung heraustritt, ganz von selber sozusagen. Man sieht niemand die
»eigentlichen« Striche machen, so wie der Philosoph könnten auch wir das
Schraffieren besorgen, und wir könnten oben oder unten oder in der Mitte
damit beginnen, da ja das »Ganze« schon da ist, und überall, wo man
schraffiert, heraustreten muß.
Notizen zur Philosophie 143
[Notizen]
Im Gegensatz zum Idealismus muß einem der Materialismus
immer sagen, was bei ihm herauskommt, den Idealismus da-
gegen muß man fragen, woraus er herauskam.
Über Vorstellungskritik
Die Kant-Goethesche Ästhetik postuliert, daß die genießende
Person von ihren Interessen gelöst sei. Durch ihre Interessen
nämlich ist die Person zu eindeutig (zu fest) bestimmt, um alle
Haltungen einzunehmen, die sie (ohne durch Interessen be-
stimmt zu sein) einnehmen könnte. Denn an sich ist dem Men-
schen nichts Menschliches fremd. Die Kunst gestattet ihm, sich
allgemein menschlich zu geben, was er sonst nicht kann. Sie
gestattet also eigentlich, auf (seinen) Interessen zu verharren,
welche nicht allgemein menschlich sind, nämlich »im Leben«.
Die Welt des Künstlers enthält also im Grund alles, was zu
einer Welt nötig ist. Sie kann als Ganzes genossen werden,
und zwar - nach Aufgabe der individuellen Interessen - ohne
Gefahr. Der Genießer kann durch Einfühlung (Mimesis) zu
nichtinteressebedingtem Verhalten kommen. Jedenfalls wird
ihm dies zugesagt.
Darin liegt eine grobe Tauschung.
Notizen zur Philosophie 145
6
Kausalität zum Beispiel nur, wo sie herstellbar anzuerkennen.
7
Verhalten als Logik. Geschäftsordnung als Ordnung.
9
Das methodische Denken von mehr als einem.
4
Sie erzieht diese Dialektiker zu Organisatoren von Dialekti-
kern. Jedes ihrer Mitglieder beginnt seine Lerntätigkeit zu-
gleich mit einer Lehrtätigkeit; es organisiert sofort.
5
Die Arbeiten in den einzelnen Fachgebieten werden in Zusam-
menarbeit mit den auf anderen Fachgebieten tätigen Mitglie-
dern ausgeführt.
Dialektik
Es ist psychologisch erklärlich, daß die Sozialisten erlebnis-
mäßig einen sehr schneidigen Fortschrittsbegriff haben. Der
Fortschritt besteht im Sozialismus, und ohne Fortschritt ist
Sozialismus nicht möglich. Dieser Begriff »Fortschritt« hat
große Annehmlichkeiten politischer Art, aber für den Begriff
»Dialektik« hat er nachteilige Folgen gehabt. Dialektik ist,
unter dem Gesichtswinkel des Fortschritts gesehen, etwas, was
152 Zur Politik und Gesellsdiaft
die Natur hat (immer gehabt hat), eine Eigenschaft, die aber
erst Hegel und Marx entdeckt haben. Vor dieser Entdeckung
war die Welt nicht erklärlich, wo etwas von ihr doch erklärt
wurde, war man eben, ohne es zu wissen und ohne es sich zu
merken, auf ihre Dialektik gestoßen. In den Köpfen der Dia-
lektiker nämlich spiegelt sich nur dieses Ding Dialektik, das die
Eigenschaft der Natur ist, wider. So in Kenntnis gesetzt von
den Eigentümlichkeiten irdischer Erscheinungen, sind die Dia-
lektiker, in gewaltigem Vorsprung zu andern Menschen, im-
stand, ihre Vorkehrungen zu treffen. Die Anhänger dieser ein-
fachen, aber begeisternden Auffassung verfallen, wenn man
sie auf die Ähnlichkeit ihrer Auffassung mit der einiger Hand-
leser, sie könnten die in der Handfläche gelesenen bevorste-
henden Ereignisse jetzt nach ihrer Feststellung natürlich
vereiteln, hinweist, in mürrisches und übelnehmerisches Gemur-
mel. In Wirklichkeit ist die Dialektik eine Denkmethode oder
vielmehr eine zusammenhängende Folge intelligibler Metho-
den, welche es gestattet, gewisse starre Vorstellungen aufzulö-
sen und gegen herrschende Ideologien die Praxis geltend zu
machen. Man mag mit gewissem Erfolg in Form gewagter
Deduktionen das Verhalten der Natur als dialektisch bewei-
sen können, aber viel leichter ist es, auf die schon erreichten
handgreiflichen und unentbehrlichen Erfolge dialektischen
Verhaltens, das heißt der Anwendung dialektischer Methoden
in bezug auf gesellschaftliche Zustände und Vorkommnisse,
also die Natur der Gesellschaft, und zwar unserer Gesellschaft,
hinzuweisen. Ich kann mir denken, daß eins gleich eins ist,
und ich kann mir denken, daß eins nicht gleich eins ist. Ge-
nügt nicht, zu sagen, daß das letztere zu denken günstiger ist,
nämlich, wenn ich in bestimmter Weise handeln muß?
Notizen zur Philosophie 153
Dialektische Kritik
Sollen nun an der Hand ihrer Resultate Anschauungen kri-
tisch untersucht (in die Krise gebracht) werden statt der Re-
sultate dieser Anschauungen, so müssen auch diese wieder nicht
auf eine Art gesichtet werden, als wolle man sie sich unter
Umständen einverleiben. Diese Art der Betrachtung aber ist
sehr schwer zu vermeiden, denn der ganzen Struktur der Ge-
sellschaft nach, in der wir leben, sind wir sehr auf die Einver-
leibung von Dingen angewiesen und damit auf Methoden,
welche alle Dinge eben in Einverleibbare verwandeln. Diese
unsere Art bekommt den Dingen schlecht. Die Anschauungen,
getrennt von den Menschen, die sie haben, und damit von den
Standpunkten, die diese Menschen einnehmen, haben keinerlei
Kraft mehr, und hauptsächlich weil unsere Anschauungen so
von bestimmten Menschen auf bestimmten Standpunkten
weggenommen sind, beeinflussen sie unsere Haltung so we-
nig. Wir stellen sie nur aus. Es ist also falsch, an Anschauun-
gen heranzugehen von der Seite her, wo sie übernehmbar
(oder ablehnbar) im obigen Sinne sind. Betrachten wir also
die Haltung von Menschen an der Hand ihrer Anschauun-
gen und vergegenwärtigen wir uns, daß diese Haltung mit je-
nen Anschauungen nur bedingt übereinstimmt, das heißt, daß
der Grad, nach dem die Handlungen der Menschen durch ihre
Anschauungen verpflichtet sind, erst untersucht werden muß.
Denn letzten Endes müssen wir darauf hinauskommen, her-
auszubringen, wie die Menschen handeln werden, wenn es gilt,
die Welt zu verändern. Dazu müssen wir sie jeweils in Grup-
pen teilen und die Einteilung so vornehmen, daß Interessen
sichtbar werden, die genügend stark und einflußreich sind,
um sich bemerkbar, also sichtbar zu machen.
154 Zur Politik und Gesellschaft
Man kann sagen, daß die ersteBahn von Eri bis [Piermont] von
Verbrechern gebaut wurde. Dennoch kam sie zustande und
lohnte sich nicht nur für die Verbrecher. Sie war ein sehr wich-
tiges Werk, und sie zu bauen war also nicht nur ein Verbre-
chen. Aber was soll man von einer Gesellschaft sagen, in der
^ die wichtigen Werke nur durch Verbrechen zustande kommen?
Denn so ist es: Das Land hatte von der Bahn Nutzen, aber
der Anstand hatte Schaden.
Notizen zur Philosophie 155
Ist die Privatinitiative gut oder ist sie schlecht? Die großen
industriellen Werke wurden durch Leute mit Privatinitiative
aufgebaut. Sie war also gut. Als die großen Werke standen,
war sie unnütz geworden, und die Kollektivinitiative konnte
sie abschaffen. Die Arbeiter hatten sie immer schlecht genannt.
So war es: Je mehr ihr Gutes (in den Werken) hervortrat, desto
mehr trat auch ihr Schlechtes hervor. Das Gute bezeichnete
das Schlechte als schlecht.
Erkannt zu haben, daß das Denken was nützen müsse, ist die
erste Stufe der Erkenntnis.
Die Mehrheit derer, die diese Stufe erreicht haben, gibt ange-
sichts der Unmöglichkeit, eingreifend zu denken, das Denken
(das nur spielerische Denken) auf.
Klassik ist keineswegs, wie sich dies für den nachherigen Be-
trachter darstellt, eine besonders hohe Stufe der Vervoll-
kommnung innerhalb einer eigengesetzlichen Kunstgattung
oder der lediglich reflektierte Ausdruck einer in sich geschlos-
senen, eben »klassischen Epoche«, also ein Resultat, sondern
etwas viel Absichtsvolleres (wenn auch nicht unbedingt be-
wußt Gemachtes), und zwar gingen die Absichten auf gesell-
schaftliche Zustände. Der Versuch, bestimmte Vorschläge ethi-
scher und ästhetischer Art dauerhaft zu gestalten und ihnen
etwas Endgültiges, Abschließendes zu verleihen, also klassisch
zu arbeiten, ist der Versuch einer Klasse, sich Dauer und ihren
Vorschlägen den Anschein von Endgültigkeit zu geben.
[Richtiges Denken]
Wenngleich das Denken auf vielen Gebieten große Ergebnisse
gezeitigt hat und immerfort zeitigt, wenngleich unsere Be-
rechnungen uns den Magen füllen, die Kälte abhalten, die
Nächte erhellen, uns von einem Ort zum andern mit großer
Schnelligkeit bringen und so weiter, so ist doch unser Handeln
in wichtigsten und gefährlichsten Angelegenheiten weniger
von Berechnungen als von ziemlich trüben, ungenauen, ja
widerspruchsvollen Beweggründen geleitet. Es ist uns nicht
schwer, wenn wir gehandelt haben, triftige Beweggründe in be-
liebiger Menge zu nennen, aber vorher, wenn wir uns zum
Handeln anschicken, haben wir keineswegs diese schöne Über-
sicht. In den meisten Fällen berechnen wir nicht, sondern raten.
5
Die Gesetze vom Verhalten der sozialen Elemente eine Dialek-
tik.
Die Lehre von den Klassen.
Die Lehre von der menschlichen Entwicklung als einer Ent-
wicklung der Produktionsweise.
Die Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus.