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Bertolt Brecht

jesammelte Werke 20
ichriften zur Politik
ind Gesellschaft

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Bertolt Brecht Gesammelte Werke in 20 Bänden
Bertolt Brecht
Gesammelte Werke

Band 20

Suhrkamp Verlag
Herausgegeben vom Suhrkamp Verlag
in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann

Gesammelte Werke © Copyright Suhrkamp Verlag,


Frankfurt am Main 1967.
51. bis 75. Tausend: 1968. Alle Rechte vorbehalten.
Schriften zur Politik und Gesellschaft:
© Copyright Stefan S. Brecht 1967.
Schriften zur Politik und
Gesellschaft

Aus Notizbüchern 1919-1926


Notizen über die Zeit 1925-1932
Marxistische Studien 1926-1939
Notizen zur Philosophie 1929-1941
Aufsätze über den Faschismus 1933-1939
Notizen über die Zeit 1939-1947
Vorschläge für den Frieden 1948-1956
Anhang: Mies und Meck

Register zu den > Schriften <


Redaktion: Werner Hecht

Seit langem schon denke ich, daß ich nicht recht imstande bin, mich unter
den Menschen und Dingen zurechtzufinden, und daß ich doch dazu besser
imstande sein könnte. Diese beiden Gedanken zusammen haben mich zu
vielen Nachforschungen und Versuchen gebracht, zu denen mich einer
allein bestimmt nicht veranlaßt hätte; denn wenn ich zum Beispiel nur
gedacht hätte, ein Leben wie das meine sei nicht zu meistern, so wäre eine
Religion oder eine der mannigfachen skeptischen Haltungen der Philo-
sophen ausreichend gewesen, mich zu beruhigen. Hätte ich nur gedacht,
ich müßte meine Aussichten verbessern, so würde ich mich mit dem Erwerb
einiger schlauer Handgriffe begnügt haben und wäre in jene so häufige
Betriebsamkeit verfallen, die aus allem das Beste herausholt und damit
im Grunde alles sein läßt, indem sie sich eben an sein Bestes hält. So aber
hielt ich meine zwei Gedanken immer beisammen und wurde so weder die
Unruhe los noch die Vorsicht: Ich wollte alles so betrachten, daß ich mich
zurechtfände, weder länger noch kürzer; ich wollte mich nicht zu lange
beim Unvermeidlichen aufhalten, noch zu früh etwas für unvermeidlich
erklären.
Aus Notizbüchern
1919 bis 1926
1919

Monarchie
In jener Steinzeit handelte es sich darum, einem Menschen zu
dienen. Man kann das nicht verwechseln mit jener Übergangs-
epoche, wo eine Kommission an der Spitze des Staates es dem
Bürger leichter machte, sich frei zu fühlen. Der Mann der
Monarchie fühlte sich nicht weniger frei. Die Gesichtspunkte
der Eiszeit ermangelten nicht einer gewissen Größe. Der
Mensch wurde nicht so sehr nach seiner Leistung eingeschätzt
als vielmehr dem Vertrauen nach, das auf ihn (in ihm) gehäuft
lag. Das ist kein unfreier Standpunkt. Das Gefühl der Frei-
heit wird gemeinhin weniger geschätzt als das der Sicherheit
und der Übereinstimmung. Das Lebensgefühl jener Menschen
äußerte sich in dem Wissen um die organische Mitgliedschaft in
einem Gesamtkörper, der in seinem Haupt, gut oder schlecht,
frei war.

Der Tod
[In der] Dämmerung seiner Stube saß er, ein giftiger Kloß, und
dachte nach über die absolute Scheußlichkeit aller Dinge und
über einige Zusammenhänge, die man nicht geschenkt bekam.
Der Tod war der Abgrund, den man nicht ausloten konnte.
Aber wie konnte man es unternehmen, sich damit zu befassen,
wenn das Leben noch in keiner Form bewältigt war?! Es schien
ihm: er habe noch nicht gelebt. Da es nun aber nötig war, das
Denken von jeder Ausschweifung ins Zukünftige abzuhalten,
da die Möglichkeit einer Besserung nicht mehr hinter den Din-
gen stand, wie sollte es möglich sein, sie in ihrer wahren Art zu
begreifen? Das hieß mit geschlossenen Augen sein Todesurteil
4 Zur Politik und Gesellsdiaft
unterschreiben! Und da es also nicht möglich sein konnte,
die Wahrheit zu packen (da sie wohl nicht zu ertragen war),
mußte man sich zu überzeugen versuchen, daß dies auch nicht
nötig war. Dann blieb einem immer noch die Möglichkeit,
während man versuchte, sich einen Begriff vom Leben, wie es
sein sollte, nach seinem eigenen Leben, wie es war, zu bilden,
langsam zu vergessen, daß das Wesentliche dabei im dunkeln
blieb, und man erlebte vielleicht die kleine Erleichterung einer
von der Vernunft sanft geduldeten Klarheit, die weder in ihrer
Helligkeit noch in ihrer Herkunft besonders befriedigend war,
die zu lieben aber nicht allzuschwer werden konnte, wenn
immer man nur recht überzeugt war, daß es außer ihr nichts
gab...
Jene, die in die Begriffe verliebt sind oder der Eitelkeit der
Worte wie Liebhaber knechtisch ergeben, erleben durch die Er-
kenntnis ihres unheilbaren Zustandes noch einen kleinen
Triumph: Sie klammern sich blind an die Planken des Schiff s-
leibs, der sie mit hinab in den Strudel reißt. Mongol gehört
nicht zu ihnen. Jedoch erlebte er nach kurzem Schweißverlust,
daß die menschliche Natur die Wahrheit verschleiert, damit
der Geist nicht vor dem Körper sterbe.

Gott
Als er um sich sah nach einer Planke, die ihn nicht oben [...],
sondern er wollte nur etwas haben, das er mit hinabneh-
men konnte, verfiel er auf die Ideen, die sich mit Gott
beschäftigten. Gott, das war das hohe C der Romantik. Der
Abendhimmel über dem Schlachtfeld, die Gemeinsamkeit der
Leichen, ferne Militärmärsche, der Alkohol der Geschichte, das
war die Romantik der Schlachtfelder, die Zuflucht der Ster-
benden und der Mörder. Der Mann, der am Krebs verendete,
suchte mit allen Mitteln die Poesie dieses peinlichen Gescheh-
nisses auf die Zunge zu kriegen, er malte sich Bilder vom Leid
Aus Notizbüchern 5
der Erde, die ihn ausspie, vom Schmerz der Hinterbleibenden
oder der grandiosen und ihn ergreifenden Ironie ihrer Gleich-
gültigkeit, und vom Dunkel, das ihn aufnahm. Er hüllte sich
ein in Mitleid und Bewunderung und täuschte sich. Alle Men-
schen, in jeder Lage, unter allen Himmeln und mit allen Phi-
losophien, bemühten sich zäh und dringend, sich selbst zu täu-
schen. Je nach ihrer Intelligenz waren ihre Versuche geschick-
ter oder täppischer, etlichen gelang es bei sich selbst nicht, aber
bei andern, etlichen ging es umgekehrt. Immer aber schienen
die Triebe zu schwach, um ohne Heiligung zu triumphieren.
Als die wimmelnde Masse der Wesen auf dem fliegenden Stern
sich kennengelernt und ihre unbegreifliche Verlassenheit emp-
funden hatte, hatte sie schwitzend Gott erfunden, den nie-
mand sah, also daß keiner sagen konnte, es gäbe ihn nicht, er
habe ihn nicht gesehen.

Über den Gewohnheitspatriotismus


Nachdem ich dich vor dem Gewohnheitssaufen, dem Ge-
wohnheitsphilosophieren, dem Gewohnheitsverliebtsein ge-
warnt habe, warne ich dich jetzt vor der Gewohnheitsliebe
zum Vaterland. Ich habe dir gesagt, daß nicht das das Schlimm-
ste für den Gewohnheitssäufer ist, daß er das Gehen verlernt
oder das Geschäftemachen oder das Gutsein, sondern das: daß
er das Saufen verlernt. So verliert der Mann, der stündlich
bereit ist, sein Leben für sein Vaterland hinzugeben, allmäh-
lich die Liebe zu seinem Vaterland ebenso, wie ein Mann, der
immer Holz hackt, die Liebe zum Holzhacken mit der Ge-
wohnheit, Holz zu hacken, vertauscht, was etwas vollkommen
anderes, wenn auch ganz Nützliches ist. Der Gewohnheits-
patriot aber hat am Schluß nur mehr zu einem Liebe, nämlich
zu einem Helden, und das ist er selber. Das sind aber noch
die Besten, denn die meisten reden ja nur immer. Redner und
Helden, das sind ganz nützliche Leute, aber sie haben nicht
6 Zur Politik und Gesellschaft
das mindeste miteinander zu tun. Für gewöhnlich aber ist der
Leute Liebe zum Vaterland nur ihre Liebe zum Geschwätz. Es
ist angenehm, von der Untadelhafligkeit, ja Verdienstlichkeit
seiner Gesinnung zu schwärmen. Und es ist fast ebenso an-
genehm und leicht, über die Gesinnung anderer zu schimpfen.
Aber, mein Lieber, es ist nicht verdienstlich und keineswegs
untadelhaft. Schimpfen, das ist die Gewohnheit der Enttäusch-
ten und die Rache der Lakaien. Wir sind jetzt wieder bei den
Quellen des Unheils angelangt: den Lakaien, Lehrern und
so weiter. Die Gewohnheitspatrioten haben einen ständigen
Ausdruck, der heißt: unser Volk. Damit stellen sie sich schon
im Wort abseits und lassen das Volk, ihr Volk, vorüber-
defilieren. Es ist ihr Volk, sie sind die Besitzer. Sie wissen, wie
es ist, sie wissen, was ihm gut ist. Sie sind bereit, ihm einiges
zu opfern, sie verlangen etwas von ihm. Wenn sie mit ihrem
Volk gerade zufrieden sind, dann stellen sie sich dazu und
sagen: wir. Das sind sie und ihr Volk. Und nun, in dieser
Stimmung, fühlen sie, daß sie viele sind, ungeheuer viele,
eine ganze Herde, und weil sie glauben, daß Einigkeit stark
mache (was noch ihr entschuldbarster Irrtum ist!), dann füh-
len sie ausgerechnet jetzt sich als Herren. Da siehst du es:
Herrscher und Lakaien, das ist die gleiche Menschensorte.
Wenn man ihn am Arsch leckt, dann ist es ein Herr, und wenn
man ihm ins Gesicht spuckt, dann ist es ein Lakai. Immer aber
ist es ein Lehrer. Der Lehrer, das ist der Mensch, der allein
von seinem Geschwätz lebt. Der Lehrer, das ist der Hemm-
schuh des Fortschritts, der Hort der Zurückgebliebenen, die
Stütze des Alters bei einem Volk wie bei einer Idee, die
Zwingburg des Alten, von dem er sagt, es sei das »mühsam
Erworbene«. Der Lehrer, das ist der, der sich anmaßt, etwas
zu wissen, weil es ihm Spaß macht, etwas besser zu wissen,
der belehrt, also unbelehrbar ist, der nichts liebt, wie es ist,
sondern meint, er könnte alles besser machen. Die Schlange
im Paradies, das war die erste Lehrerin; sie wollte den Men-
schen »lehren«, was gut ist. Zu den Lehrern gehören die
Aus Notizbüdiern 7

Revolutionäre, das heißt: die kleinen Revolutionäre, die-


jenigen, die den Kaiser abschaffen und den Kommunismus
einführen, und Konservativen, die sie bekämpfen, das sind
auch Lehrer. Rechts und links auf den Barrikaden stehen
Lehrer. Aber ich sage dir, der Mensch, der prinzipiell eine
Verbeugung macht, und der Mensch, der prinzipiell keine
macht, das sind Brüder, sie gehören zur gleichen armseligen
Sorte. Dieser Sorte hat der Lehrer einen Ehrennamen ver-
liehen, nämlich: Charakter. Aber der freie Mensch hat kein
Prinzip in solchen gleichgültigen Dingen. Der absolute Pazi-
fist und der absolute Militarist, das sind die gleichen Narren.
1920

Patriotismus
Nur in den Staaten, wo die Untertanen solche Schweine sind,
daß sie ansonsten in die Hosen pissen, ist es wirklich nötig, die
Pissoire zu Tempeln einzuweihen.

Sich mit dem Staat abfinden, ist so notwendig als: sich mit
dem Scheißen abfinden. Aber den Staat lieben ist nicht so
notwendig.

Aufruf zum Streik


An euch: die Zwanzigjährigen in einem Volk, das untergeht!
Dieses Volk auszurotten, war alles wert. Übrigbleiben von die-
ser Zeit wird in der Geschichte die Klage um die Opfer, deren
es bedurfte, daß dieses Volk vom Erdboden verschwände!
Jedem Volk verleiht die Romantik seines Untergangs den
Schein einer ideellen Größe, das Schicksal eines Hiob erhebt
den Verkommensten zu einer Erscheinung, die den Aufwand,
der nötig war, ihn zu demütigen, einigermaßen lohnen mußte.
Unser Untergang aber entlarvt die Romantik! Es ist eine Tat-
sache, daß die Behörden darüber wachten, daß kein Toter
dieses Volkes ein besseres Hemd mit in die Erde nähme als ein
papiernes. Welch eine Ehrung für die Toten läge darin, wenn
dieser Brauch der Ehrerbietung vor der lebendigen Idee, für
die jene starben, verstummte, statt der Ehrerbietung vor den
kostbaren Hemden, die sie nicht wert waren.
Als die Leute, die aus Gewohnheit die Peitsche in Händen
hielten, umgefallen waren, vollgefressen und ausgehurt, die
nicht herrschen durften trotz ihrer Dummheit, die noch größer
Aus Notizbüdiern 9

war als ihre Gemeinheit, sondern wegen dieser, als sie umge-
fallen waren, aus Faulheit nicht zuletzt, da begann die irrsin-
nige Jagd der Beherrschten nach - der Peitsche. Die Zwanzig-
jährigen schlössen sich an.
Die Zwanzigjährigen hatten die Gesichter derer gesehen, die
oben gestanden waren: schweißige, verkommene, aufgedun-
sene. Nun liefen sie mit, jene zu zertreten, und sahen nicht die
Gesichter hinter ihnen und neben ihnen. Die Zwanzigjährigen
können für eine Idee nichts tun als für sie sterben.
Gewiß, es gibt Völker, die keine Achtung hatten vor den Ideen
und sie verkommen ließen in der Gosse. Gewiß, es gibt Völ-
ker, die Achtung hatten vor den Ideen und sie in einen Tempel
sperrten und sie anbeteten (sie durften nur nicht heraus).
Aber dieses Volk, von dem ich rede aus Gnade, legte sich zu
den Ideen ins Bett, schändete sie und zeugte ihnen Bälge. Geht
weg von mir, hört nur nicht zu, sonst speie ich euch ins Ge-
sicht, ich kann nichts dagegen tun.
Die Besten aber, sich bleich abwendend von dem Gesicht die-
ses untergehenden Volkes, werden gut tun, sich nicht besprit-
zen zu lassen von dem Erbrochenen des Sterbenden und dem
Kot, den er noch läßt. Habt ihr nicht Ekel im Hals wie einen
Kloß beim Anblick dieses Volkes, das sich, ein Verein verrückt
gewordener Schieber, auf ein Karussell geworfen hat, um vor-
wärtszukommen; so sucht das Karussell abzudrosseln, um jene
zu »retten«!

[Keine Hilfe]
Ich habe immer, wenn ich Leute sah, die vor Schmerz oder
Kummer die Hände rangen oder Anklagen ausstießen, ge-
dacht, daß diese den Ernst ihrer Situation gar nicht in seiner
ganzen Tiefe erfaßten. Denn sie vergaßen vollständig, daß
nichts half, es war ihnen noch nicht klar, daß sie von Gott
nicht nur verlassen oder gekränkt waren, sondern daß es
io Zur Politik und Gesellschaft
überhaupt keinen Gott gab und daß ein Mann, der, allein auf
einer Insel, Aufruhr macht, wahnsinnig sein muß.

[Der freie Wille]


Der freie Wille - das ist eine kapitalistische Erfindung.

Wenn ein Individuum so weit ist, daß es nur dadurch gerettet


werden kann, daß ein anderes sich ändert, dann soll es kaputt-
gehen.

[Notizen ohne Titel]


Wie mich dieses Deutschland langweilt! Es ist ein gutes mitt-
leres Land, schön darin die blassen Farben und die Flächen,
aber welche Einwohner! Ein verkommener Bauernstand, des-
sen Roheit aber keine fabelhaften Unwesen gebiert, sondern
eine stille Vertierung, ein verfetteter Mittelstand und eine
matte Intellektuelle! Bleibt: Amerika!
18. Juni

Ich glaube nicht, daß ich jemals eine so ausgewachsene Philoso-


phie haben kann wie Goethe oder Hebbel, die die Gedächtnisse
von TrambahnschafTnern gehabt haben müssen, was ihre Ideen
betrifft. Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann
mich nicht entschließen, sie auswendig zu lernen. Auch Städte,
Abenteuer, Gesichter versinken in den Falten meines Gehirns
schneller, als Gras lebt. Was werde ich tun, wenn ich alt sein
werde, wie kümmerlich werde ich dahinleben mit meiner dezi-
mierten Vergangenheit und zusammen mit meinen ramponier-
ten Ideen, die nichts mehr sein werden als arrogante Krüppel!
24. August
Aus Notizbüchern 11

In Deutschland hat nicht etwa der Krieg, sondern der ungün-


stige Ausgang des Krieges einigen Leuten gezeigt, was von den
Pflichten gegen den Staat zu halten sei. Sie verlangen jetzt
mehr als vorhin für den Staat. Dabei ertragen die Menschen
doch keine Herrschaft schwerer als die des Verstandes. Sie sind
bereit, für schwindelhafte Phrasen großen Klangs alles zu
opfern, sie sterben wonnevoll in Schweineverschlägen, wenn
sie nur in großer Oper »mitwirken« dürfen. Aber für ver-
nünftige Zwecke will niemand sterben, und auch das Fechten
dafür wird durch die Möglichkeit des Todes verhindert, denn
das Vernünftigste dünkt ihnen: zu leben, und man kann für
»nichts« sterben, nicht aber für etwas; denn es wäre nichts,
wenn man gestorben ist, und man käme um die große Wol-
lust des Verzichts. In Triumphzeiten des Rationalismus schäm-
ten sich die Nationen nicht, ihren Mitgliedern das Leben abzu-
verlangen.
29. August

[...] Aber die Kirche ist ein Zirkus für die Masse, mit Pla-
katen außen, auf denen Dinge sind, die es innen nicht gibt.
(Wie auf den Jahrmärkten: außen »Die Enthauptung Louis
Capets« — innen zwei Jongleure und eine Pferdeschinderei.)
Das Plakat heißt: Der Hungerkünstler oder das königliche
Skelett, oder: Jedermann wird selig für elf Groschen, oder: Da
ich jetzt nicht komme, muß ich nachher kommen und so weiter
und so weiter. Sie haben nichts als ein Buch überliefert, das
haben sie verkritzelt und Kochrezepte und Medizinen über
die Weisheit geschmiert. So stark war die Idee, daß sie auch
nicht gleich kaputtging, als sie organisiert wurde, sondern
langsam hinsiechte. Es mußte etwas sein, das alle hören konn-
ten, auch die Tauben, auch die weit weg, die auf den schlech-
ten Plätzen, auch die, die man anbinden mußte, daß sie nicht
fortliefen... Das für die paar Fischer, das verging mit dem fau-
len Galiläer, der Gelegenheitsreden hielt unter Feigenbäumen,
12 Zur Politik und Gesellsdiaft
wenn er ein stilles Wasser sah und an sie und die Fische dachte.
Das war eine Hand voll Datteln für die Zunge, kaum für den
Hals, und da waren tausend Mägen. Der Galiläer hatte kein
Dach über dem Kopf gehabt, sie bauten Häuser für seine
Gläubigen, während sie, in der Hand die Kelle, immerfort
predigten, daß die Leute sich nicht verliefen. Der Galiläer war
für sich gestorben, sie riefen ihn wieder ins Leben zurück,
brauchten ihn, zitierten ihn nicht bloß, schickten ihn wieder
in den Tod, immer wieder, stellten ihn bereit im Tabernakel,
pfiffen ihm, wenn jemand da war, für den er sterben sollte,
und ließen ihn für Totschläger und Widerwillige sterben, in
ununterbrochenen Cinemas. Es war eine »heilige Handlung«,
besser eine heilige Feilschung. Der Galiläer war hochmütig
gewesen, ziellos, er hatte den Statthalter ewig verdammen
lassen, ohne ihn aufzuklären, er starb mitten in Mißverständ-
nissen, zwischen Schachern, die mit ihm ins Paradies kamen,
er sagte nicht, was Wahrheit sei, er schätzte die Dinge nicht ein,
unterschätzte sie nicht, sie waren da, also gut, er küßte den
Judas, weil er handelte, wie er war, und so liebte er ihn. Der
Katholizismus ist ein Ausbeutersystem, ein amerikanisches
Unternehmen, mit Gleichheit für alle, mit Stufenleitern, mit
Lohntarifen. Das Positive und der Verantwortungssinn daran
werfen einen Stier um. Die Entdeckung des Kopernikus, die
den Menschen dem Vieh näher bringt, indem sie ihn von den
Gestirnen entfernt, die dem Menschen befiehlt, mit seinem
Globus die Sonne zu umkreisen und die ihn aus dem Mittel-
punkt in die Statisterie schmeißt, war zunächst niedergeknallt,
dann für richtig und völlig unwichtig erklärt. »Das sind un-
geheure Dinge, geschaffen, daß ihr Gott bewundert, aber ihr
könnt ohne sie leben. Die Heilspunkte sind andere: sie zu ent-
decken, brauchen wir keine Wissenschaft.« Das ist eine Frech-
heit, der es an Erfolg nicht fehlen kann. Und in dieser Kirche
sind unabsehbare Wände leergelassen, mit Absicht, für die
Phantasten, in den Speichern hat alles Platz, alle Ideen sind in
den Dogmen unterzubringen. 7000 Gesichte gibt die Pflanze
Aus Notizbüchern 13

ab. Die Bänke sind bequem. Der Kot wird als Dünger verwer-
tet. Das Vieh gedeiht. Gott ist sichtlich über dem Unterneh-
men. Der arme Mensch stirbt täglich ungezählte Male für die
Mitglieder. Die Versicherung läuft bis zum Tod. Sie wird den
Überlebenden ausbezahlt. Es ist eine Lust zu sterben.
31. August

[...] Haufen von Bildern machen die Dinge schicksalhaft


und verschleiert, schnell Hinunterquirlendes wird wieder zu
Muskelgefühlen. Viele Dinge sind erstarrt, die Haut hat sich
ihnen verdickt, sie haben Schilde vor, das sind die Wörter. Da
sind Haufen toter Häuser, einmal Steinhaufen mit Löchern,
in denen abends Lichter angezündet werden und in denen
Fleischpakete herumwandeln, unter Dächern gegen den Regen
des Himmels und die Verlorenheit des grauenhaften Sternen-
himmels, gesichert gegen dies alles und den Wind, und nachts
liegen die Pakete erstarrt unter Tüchern und Kissen, mit offe-
nem Mund, Luft aus- und einpumpend, die Augenlöcher zu.
Dies alles ist totgeschlagen durch das Wort »Häuser«, das uns
im Gehirn sitzt und uns sichert gegen den Ansturm des Dinges.
Wir haben von den Dingen nichts als Zeitungsberichte in uns.
Wir sehen die Geschehnisse mit den Augen von Reportern,
die nur bemerken, was interessieren könnte, was verstanden
wird. [...] Das Schlimmste, wenn die Dinge sich verkrusten
in Wörtern, hart werden, weh tun beim Schmeißen, tot herum-
liegen. Sie müssen aufgestachelt werden, enthäutet, bös ge-
macht, man muß sie füttern und herauslocken unter der Schale,
ihnen pfeifen, sie streicheln und schlagen, im Taschentuch
herumtragen, abrichten. Man hat seine eigene Wäsche, man
wäscht sie mitunter. Man hat nicht seine eigenen Wörter, und
man wäscht sie nie. Im Anfang war nicht das Wort. Das Wort
ist am Ende. Es ist die Leiche des Dinges. Was ist der Mensch
für ein merkwürdiges Geschöpf! Wie er Dinge in seinen Leib
tut, in Regen und Wind herumtrabt, aus Menschen junge
14 Zur Politik und Gesellschaft

kleine Menschlein macht, indem er mit ihnen verklebt und


sie mit Flüssigkeit anfüllt, unter Wonneächzen! Lieber Gott,
laß den Blick durch die Kruste gehen, sie durchschneiden!
6. September

Im Rheinland saugen die Neger den Boden aus. Sie schwän-


gern die Frauen in Kompanie, gehen straflos aus, lachen über
alle Proteste der Bevölkerung. Die Haltung der Bevölkerung
ist in Deutschland vorbildlich: Es gibt keine Meldung von
Mord und Totschlag. Diese Leute, denen die Frauen kaputtge-
macht werden, sind von Lynchjustiz himmelweit entfernt. Sie
knirschen mit den Zähnen, aber dazu gehen sie auf den Ab-
tritt, daß es niemand hört. Sie nageln die Neger nicht an die
Türen, sie sägen die Neger nicht entzwei, sie ballen die Fäuste
im Sack und onanieren nebenbei. Sie beweisen, daß ihnen
recht geschieht. Sie sind die Überreste des großen Krieges,
der Abschaum der Bevölkerung, die niedergehauenen Mäuler,
das entmenschte Massenvieh, deutsche Bürger von 1920.
25. September

Immerfort beschäftigt mich die geringe Macht, die der Mensch


über den Menschen hat. Es gibt keine Sprache, die jeder ver-
steht. Es gibt kein Geschoß, das ins Ziel trifft. Die Beeinflus-
sung geht anders herum: sie vergewaltigt. (Hypnose.) Dieser
Gedanke belagert mich seit vielen Monaten. Er darf nicht her-
einkommen, denn ich kann nicht ausziehen.
2j. September
Etwa 1926

[Mein Appetit ist zu schwach]


Ich sitze nicht bequem auf meinem Hintern: er ist zu mager.
Das schlimmste ist: Ich verachte die Unglücklichen zu stark.
Ich mißtraue den Mißtrauischen, habe etwas gegen die, denen
es nicht gelingt, zu schlafen. . . .
Mein Appetit ist zu schwach - ich bin gleich satt!! Die Wollust
wäre das einzige, aber die Pausen sind so lang, die sie braucht!
Wenn man den Extrakt ausschlürfen könnte und alles ver-
kürzen! Ein Jahr vögeln oder ein Jahr denken! Aber vielleicht
ist es ein Konstitutionsfehler, aus dem Denken eine Wollust zu
machen; es ist vielleicht zu etwas anderm bestimmt! Für einen
starken Gedanken würde ich jedes Weib opfern, beinahe jedes
Weib. Es gibt viel weniger Gedanken als Weiber. Politik ist auch
nur gut, wenn genug Gedanken vorhanden sind (wie schlimm
sind auch hier die Pausen!), der Triumph über die Menschheit.
Das Richtige tun zu dürfen, unnachsichtig, mit Härte!
Als ich nach einer in jeder Hinsicht betrübenden Woche mei-
nem ältesten Freunde sagte, ich sei niedergedrückt, lachte er
und sagte überlegen: »Das bist du nicht oft!« »Nein«, sagte
ich. Aber ich weiß, daß die Eroberer von Weltreichen geneigt
sind, beim Verlust einer Pfeife Selbstmord zu begehen. So
wenig hält sie.

[Alles Unglück der Welt]


Alles Unglück in der Welt kommt von der Feigheit. Die
Menschheit hat oft geglaubt, daß es vom Selbstbewußtsein und
vom Mut einziger Männer komme, aber das Gegenteil ist der
Fall. Die Menschen im allgemeinen halten zuwenig von sich,
16 Zur Politik und Gesellschaft
als daß sie glaubten, sie könnten noch für andere sorgen. Das
Übel der großen Männer (denn sie sind ein Übel) besteht dar-
in, daß es zu wenige gibt. Es müßte eine Masse davon geben,
sagen wir: ein Proletariat. Es gilt als Verpflichtung eines Men-
schen, andern Menschen zu helfen, aber es ist eher ein Vor-
recht, und viel zu viele Leute verzichten darauf.

Die Ansichten trügen


Soweit der Bolschewismus eine Ansichtssache ist, geht er mich
wenig an. Die Ansichten links und die rechts können durchaus
falsch sein. Die Ansichten der Bourgeoisie zum Beispiel erge-
ben keinerlei Schlüsse auf die Bourgeoisie selber. Ein großer
Teil der Bourgeoisie hält zum Beispiel bloßen Gelderwerb für
schmutzig, aber er tut nichts sonst. Tatsächlich sind ihre Hand-
lungen viel vernünftiger als ihre Ansichten. Deshalb zeigen sie
auch einen wahrhaft imposanten Zynismus, wenn sie die ihre
Handlungen rechtfertigenden Ansichten einfach von ihren
Zeitungen anfertigen lassen.

Über den Sozialismus


Es ist eine sichtbare Angelegenheit, daß die kapitalistische
Klasse in Europa verbraucht ist, sie gibt nichts mehr her, vor
allem keine Begierden mehr. Die Menge links ist gut, solang
sie kämpft; dann, wenn sie gesiegt hat, muß sie ersetzt werden.
Ein ärgerlicher Anblick schon die Eisenbahnen etwa, die nie-
mand gehören, mit denen nicht gearbeitet wird, die nicht dazu
dienen, Männer berühmt oder tot zu machen, die einfach aus
dem Spiel herausgezogen sind, nützliche zivilisatorische Hilfs-
mittel, nicht mehr Zwecke! Es kommt nur darauf an, ob man
das Glück in so kleine Stücke zerschneiden will. Man sollte
es nicht. Und es läßt sich auch nicht. Es würde verschwinden
Aus Notizbüchern 17

wie Schnee, wenn man ihn anlangt. Laßt euch nichts einreden:
100 000 Mark sind viel, aber 5 mal 20 000, das ist nicht viel.
Sollen sie in ihren frischgestrichenen Einheitshütten hocken
zwischen Grammophonen und Hackfleischbüchsen und neben
fix gekauften Weibern und vor Einheitspfeifen? Es ist kein
Glück, denn es fehlt die Chance und das Risiko. Chance und
Risiko, das größte und sittlichste, was es gibt. Was ist Zufrie-
denheit? Kein Grund zum Klagen, das ist ein Grund zuwe-
nig, nichts sonst! Und das Leben ohne Härte, das ist dummes
Zeug! Güte und Großmut und Kühnheit, das ist nichts ohne
die Sicherheit, daß das Selbstverständliche Roheit, Dummheit
und Appetitlosigkeit ist! Es ist reine Unwissenheit, wenn alle,
die von dieser verbrauchten Bourgeoisie angewidert sind, die
ja selber nichts als eine solche sozialisierte, das heißt versicher-
te Claque ist, ohne Appetit, Chance und Risiko, nicht sehen,
wo die wahrhaften Feinde dieser Bourgeoisie (und jener So-
zialdemokratie) stehen.
Notizen über die Zeit
1925 bis 1932
[Vergänglichkeit]
Nach Genuß von etwas schwarzem Kaffee erscheinen auch die
Eisenzementbauten in besserem Licht. Ich habe mit Erschrek-
ken gesehen (auf einem Reklameprospekt einer amerikani-
schen Baufirma), daß diese Wolkenkratzer auch in dem Erd-
beben von San Francisco stehenblieben. Aber im Grund halte
ich sie doch nach einigem Nachdenken für vergänglicher als
etwa Bauernhütten. Die standen tausend Jahre lang, denn sie
waren auswechselbar, verbrauchten sich rasch und wuchsen
also wieder auf ohne Aufhebens. Es ist gut, daß mir dieser
Gedanke zu Hilfe kam, denn ich betrachte diese langen und
ruhmvollen Häuser mit großem Vergnügen.
Ich glaube: Die Oberfläche hat eine große Zukunft.
In den kultivierten Ländern gibt es keine Moden. Es ist eine
Ehre, den Vorbildern zu gleichen. Ich freue mich, daß in den
Varietes die Tanzmädchen immer mehr gleichförmig aufge-
macht werden. Es ist angenehm, daß es viele sind und daß
man sie auswechseln kann.
Ich habe kein Bedürfnis danach, daß ein Gedanke von mir
bleibt, ich möchte aber, daß alles aufgegessen wird, umgesetzt,
aufgebraucht.

Ich habe das Gefühl, ich dürfe nichts sagen, sonst verfiele ich
einem Strafgericht. Es sei nicht erwünscht, von mir etwas ge-
sagt zu hören. Die Gefährlichkeit jeglicher Äußerung von mei-
ner Seite war mir außerordentlich klar. Wenn ich aber nach-
dachte, was ich nun zu sagen hätte und was man von mir um
keinen Preis zu hören wünschte, so konnte ich (so eigentümlich
dies vielleicht klingen mag) nichts finden.
Es leuchtet wohl ein, daß so etwas sehr beunruhigen muß. Ich
22 Zur Politik und Gesellschaft
habe jedesmal nachgeprüft, ob ein momentaner Fehler meiner
Konstitution vorlag, wenn ich plötzlich mit meinen Mitmen-
schen nicht zufrieden war. Einige Male war dies nicht der
Fall, meines Wissens. Aber auch in diesen Augenblicken hatte
ich nichts gegen die Menschen vorzubringen, vielleicht deswe-
gen, weil mir eher der ganze Typus verfehlt schien. Ich glaube,
der Mensch ist eine Rasse, die im Schöpfungsplan nicht vorge-
sehen war, welche Tatsache im Laufe ihrer nur wenigen Jahr-
tausende dauernden Lebenszeit nur von wenige Exemplaren
erkannt wurde, die übrigens selber noch nicht die Stufe der
Ichthyosaurier erreicht haben können. Ich möchte damit, wie
man sich wohl denken kann, keinem Menschen persönlich zu
nahe treten.
Ich würde zu keiner anderen Gruppe weniger gern gehören als
zu der der Unzufriedenen.

Beziehungen der Menschen untereinander


Die meisten Beziehungen leiden darunter und gehen oftmals
dadurch in die Brüche, daß der zwischen den betreffenden
Menschen bestehende Vertrag nicht eingehalten wird. Sobald
zwei Menschen zueinander in Beziehung treten, tritt auch, in
den allermeisten Fällen stillschweigend, ihr Vertrag in Kraft.
Dieser Vertrag regelt die Form der Beziehung. Er kann nur aus
zwei Punkten bestehen, aber er ist trotzdem ein Vertrag, und
jeder der Kontrahenten muß zumindest diesen Minimal-
vertrag einhalten, sofern er sich nicht der Gefahr aussetzen
will, daß die andere Seite, Anstoß daran nehmend, ihren
Vertrag und damit die sich darauf gründende Beziehung auf-
hebt. Was zuerst da ist, ist immer die Beziehung, der Vertrag
setzt dann ein, wenn zumindest eine Seite erkannt hat,
welchen Wert die andere Seite für ihn hat. Die menschlichen
Verträge leiden meistens unter dem Nachteil, daß es wohl
zwei Ausfertigungen von einem Vertrag gibt, aber die beiden
Notizen über die Zeit 23

Ausfertigungen voneinander abweichen. So hat zum Beispiel


A in seiner Vertragsurkunde in bezug auf B stehen, er ver-
lange, daß B, mit dem er jede Woche einmal zum Pokerspielen
zusammenkommt, ein erstklassiger Pokerspieler ist, daß er
sich ferner als Gast erstklassig aufzuführen habe und die all-
gemeinen Höflichkeitsregeln befolge. B, dessen Interesse an
A über das als einem bloßen Pokerspieler hinausgeht, glaubt
in seinen Vertrag aufnehmen zu können, daß er zu gewissen
Einmischungen in A's Familienangelegenheiten berechtigt ist
und zu gewissen Dienstleistungen geschäftlicher Art. Dieses
Abweichen der Vertragsausfertigung könnte eines Abends zu
unliebsamen Folgen führen, die besonders für die Seite un-
liebsam sein würde, die das größte Interesse an der Aufrecht-
erhaltung der Beziehung mit der anderen Seite hätte. Das
könnte in diesem Fall ruhig A sein. Mit jedem Menschen muß
man einen besonderen Vertrag machen. Dabei sind natürlich
Sonderverträge für bestimmte Zeiten oder Angelegenheiten
möglich, auch eine Erweiterung der Vertragspunkte oder eine
Vertiefung ist durchaus angängig. Besonders schwierig ist der
Vertrag zwischen einem Mann und einer Frau. Eine Frau,
die klug ist, versucht nie, den Minimalvertrag zu verletzen,
aber sie kann versuchen, ihn zu erweitern. Ein Sondervertrag
ist meistens wertvoller als ein Generalvertrag. Bei Mann und
Frau ist es meistens so, daß der Mann kraft seines Vertrages
ungeheuer viel verlangen kann und die Frau ungeheuer viel
zugeben muß. Es ist wichtig, daß die Frau sobald wie möglich
untersucht oder es instinktiv herausfühlt, welches die Punkte
des gegnerischen Vertrages sind, ob sie berechtigt sind, ob an-
greifbar, ob zu beseitigen, oder ob sie sie als unabänderlich
hinzunehmen hat. Manches muß die Frau als unabänder-
lich hinnehmen. Die meisten Männer, die von ihrer Frau
größte Pünktlichkeit und unbedingte Verläßlichkeit verlangen,
sind ausgemacht unpünktlich und unzuverlässig, was tägliche
Dinge angeht, im Grund kann man sich aber auf sie ver-
lassen. Ein Vertrag darf auch nicht starr sein, sondern muß sich
24 Zur Politik und Gesellsdiaft

wie Gummi ziehen lassen, aber er muß immer den Minimal-


vertrag deutlich erkennen lassen. Lange Dauer macht einen
Vertrag elastischer. Man darf einen Vertrag aber nicht über-
spannen und nicht unterspannen. Das Überspannen geschieht
in verschiedener Form von beiden Seiten, bei Mann und Frau
muß die Frau meistens draufzahlen. Das Unterspannen rich-
tet sich vor allem gegen die Frau und äußert sich meistens in
Gleichgültigkeit oder unzureichender Beschäftigung. Zum Ein-
halten von Verträgen gehört Takt.
September 192$

[Keine Monumente mehr]


Die bürgerliche Klasse bringt keine Monumente mehr hervor
- als Klasse. Ihre Arbeiten zeigen nicht mehr das Gesicht ihrer
Klasse. Wurde man in 1000 Jahren die Fordschen Fabriken
ausgraben, so würden die Leute nicht leicht feststellen können,
ob sie vor oder nach der Weltrevolution so gebaut wurden.
(Schlüsse: Man muß es für unmöglich halten, daß in solchen
Bauten ein kapitalistisches System noch möglich war, da es ja
für sie nicht geeignet war. Daß es aber heute noch möglich ist,
obwohl es nicht mehr geeignet ist, das beweist, daß auf evo-
lutionärem Weg nichts geschehen wird, als was schon geschehen
ist, und daß diese herrschende Klasse mit Gewalt entfernt
werden muß.)

Alle Typen, die ich schaffe, sind Kollektive. Nicht umsonst


halte ich es instinktiv für nötig, alle ihre Situationen histo-
risch aufzufassen. Selbst über Geschehnisse meiner Zeit setze
ich Jahreszahlen. Ich fixiere also die Zeit, in der dieser Typ auf-
tritt. Ich gebe also diese Situationen preis, soweit sie nicht durch
ihn geschaffen werden. Ich halte für historisch, was er sagt.

Etwa 1926
Notizen über die Zeit 25

Nachdruck verboten!
In jener Zeit war ich Soldatenrat in einem Augsburger La-
zarett, und zwar wurde ich das nur auf dringendes Zureden
einiger Freunde, die behaupteten, ein Interesse daran zu
haben. (Wie sich dann herausstellte, konnte ich jedoch den
Staat nicht so verändern, wie es für sie gut gewesen wäre.)
Wir alle litten unter einem Mangel an politischen Überzeu-
gungen und ich speziell noch dazu an meinem alten Mangel
an Begeisterungsfähigkeit. Ich bekam einen Haufen Arbeit
aufgehalst. Der Plan der Obersten Heeresleitung, mich ins
Feld zu bringen, war ja schon ein halbes Jahr vorher ge-
scheitert. Ich hatte es, durch Glück begünstigt, verstanden,
meine militärische Ausbildung zu verhindern, nach einem
halben Jahr beherrschte ich noch nicht einmal das Grüßen und
war selbst für die damals schon gelockerten militärischen Ver-
hältnisse zu schlapp. Ich verfügte dann aber sehr bald über mei-
ne Entlassung. Kurz: ich unterschied mich kaum von der über-
wältigenden Mehrheit der übrigen Soldaten, die selbstverständ-
lich von dem Krieg genug hatten, aber nicht imstande waren,
politisch zu denken. Ich denke also nicht besonders gern daran.
9. November 1928

[Über Militarismus]
Von allen Militaristen sind diejenigen die gefährlichsten, die
den Militarismus mildern wollen. Mich erschreckte nicht die
Haltung der Extremen, die die allgemeine Dienstpflicht ver-
längern und den Drill verschärfen wollten. Aber als ich hörte,
daß es Leute gab, die für ein Volksheer eintraten, eine Diszi-
plin mit Berücksichtigung der Menschenwürde forderten und
den Offizieren nahelegten, sich die Elemente der Bildung an-
zueignen, als ich das hörte, erschrak ich. Denn nun übersah
ich eine endlose Kette von Kriegen, die unsere Kindeskinder
i6 Zur Politik und Gesellschaft
töten, roh machen, niederhalten würden vermittels eines ver-
besserten Militarismus, und den widerlichsten Typ des Sol-
daten: den, der aus Berechnung tötet, aus Pflichtgefühl, auf
Grund zwingender Argumente.

Die Krise des Sportes


Einen Mann, der in der Welt herumgekommen ist, habe ich
kürzlich sagen hören, die Deutschen zeichneten sich (unter
anderen) dadurch vor allen Völkern aus, daß sie zu jeder
Tages- und Nachtzeit essen und zu jeder Tages- und Nachtzeit
lieben können. Wenn dies zutrifft (und ich hoffe, daß es zu-
trifft), dann würde uns Sport sicher ganz gut tun: Es wäre
dann nur allzu klar, daß für uns etwas geschehen muß.
Nun besteht bei den meisten unserer Erziehungsbeamten
zweifellos eine natürliche Abneigung gegen Leibesübungen
(es hat keinen Sinn, daß diese Leiber geübt werden). Wird
diese Abneigung, die besonders von einer Seite ausgeht, die
für unsere Jugend die Erlernung der griechischen Sprache
empfiehlt, die Entwicklung des Sportes aufhalten?
Ich glaube es nicht.
Das deutsche Bürgertum, das mit den Resten feudaler Kasten
1918 so rasch und verhältnismäßig gründlich aufräumte, das
eine unpraktische und teure Offiziers- und Diplomatenkaste
ohne mehr Sentimentalität als der Anstand verlangte, zum
alten Eisen warf, wird die Winke seiner geliebten Wissen-
schaftler in bezug auf eine Stabilisierung der Hygiene kaum
in den Wind schlagen. Was sollten dicke Bäuche für einen Nut-
zen haben? Hygiene ist vorteilhafter als Medizin. Turnlehrer
sind rentabler als Ärzte. Was ist besser: Sich die Fußnägel
schneiden oder sich immer nur größere Stiefel anschaffen?
Wenn der Sport nur laut und lang genug Hygiene brüllt, wird
er schon gesellschaftsfähig werden. Die Frage ist nur, ob ihm
das gut tun wird.
Notizen über die Zeit 27

Eine Propagandaschrift für die, sagen wir, gesellschaftliche An-


erkennung des Sportes könnte sehr reichhaltig sein. Man
könnte eine Menge verlockender Argumente dafür anführen,
daß der Sport in den Schulen gelehrt, von der Akademie
kontrolliert, und von der Nation zum Kulturgut erhoben
werden müsse. Soll man es?
Man müßte zumindest zuerst einige sehr peinliche Eindrücke
verwinden, die man in letzter Zeit empfangen hat.
Die Fotos eines ältlichen deutschen Dramatikers als Dis-
kuswerfer haben wohl alle mit banger Sorge, nicht für die
Zukunft dieses Mannes, für die gesorgt ist, erfüllt, sondern für
den Sport.
Andererseits waren die zynischen Fotos einer in der Lebewelt
gelesenen Monatsschrift, die einen Querschnitt durch das
europäische Kulturleben liefert, wohl geeignet, unser Ärger-
nis zu erregen: Neben James Joyce prangte Herr Diener. Ist
es bösartig anzunehmen, daß diese Zeitschrift damit eher Herrn
Diener als Herrn Joyce nützen wollte? Ich weiß nicht, ob es
Herrn Joyce genützt hat. Aber kann es Herrn Diener
nützen?
Ich habe schon, gelesen, daß man Leibesübungen für Knaben
vorschlug, damit sie besser Griechisch lernen konnten. Nach
Leibesübungen hätten sie einen klaren Kopf. In diesen kla-
ren Kopf könnte man dann Griechisch hineintun. Ist das
verlockend?
Man kann viele Leute hereinbekommen, wenn man ihnen
sagt, daß Sport gesund sei. Aber soll man es ihnen sagen?
Wenn sie Sport genau so weit treiben, als er gesund ist, ist es
dann Sport, was sie treiben? Der große Sport fängt da an, wo
er längst aufgehört hat, gesund zu sein.
Das Scheußlichste, was man sich ausdenken kann, als Äqui-
valent. Diese Leute argumentieren so: Heute braucht man
seinen Kopf mehr als im Jahre 1880. Also muß man Sport
treiben, damit es sich ausgleicht. Ganz abgesehen davon, daß
man mir erst beweisen müßte, wobei heute mehr Kopf
28 Zur Politik und Gesellschaft
gebraucht worden ist als 1880 - wieso sollte dann der Zu-
stand, daß die Leute heute mit ihren Angelegenheiten weniger
leicht fertig werden als 1880, zu der Annahme berechtigen,
sie könnten körperlich leistungsfähiger sein?
Ich weiß sehr gut, warum die Damen der Gesellschaft heute
Sport treiben: weil ihre Männer in ihrem erotischen Interesse
nachgelassen haben. Ohne diesen Damen besonders wohl zu
wollen - je mehr sie Sport treiben, desto mehr werden diese
Herren nachlassen.
Ich bin nicht sicher, ob es uns gut tut, aber Herrn Otto Wolf
wird es schon gut tun, wenn er ab und zu ein paar Kniebeugen
macht, aber leise Kniebeugen werden den Sport nicht weiter-
bringen.
Kurz: ich bin gegen alle Bemühungen, den Sport zu einem
Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese
Gesellschaft mit Kulturgütern alles treibt, und der Sport dazu
wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil und solange
er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschafts-
fähig) und Selbstzweck ist.
1928

Die Todfeinde des Sportes


Der Sport hat hauptsächlich zwei Feinde, die ihm wirklich ge-
fährlich werden können. Erstens sind da die Leute, die aus
ihm mit aller Gewalt eine hygienische Bewegung machen wol-
len. Diese Sorte von Leuten arbeitet mit Vorliebe unter der
Devise, Sport sei gesund, und versucht damit, in den Schulen
und auch durch populäre Literatur das, was an wirklichem
Sportgeist in den jüngeren Leuten steckt, für alle Zeiten zu
ruinieren. Selbstverständlich ist Sport, nämlich wirklicher
passionierter Sport, riskanter Sport, nicht gesund. Da, wo
er wirklich etwas mit Kampf, Rekord und Risiko zu tun hat,
bedarf er sogar außerordentlicher Anstrengungen des ihn
Notizen über die Zeit 29

Ausübenden, seine Gesundheit einigermaßen auf der Höhe zu


halten. Ich glaube nicht, daß Lindbergh sein Leben durch sei-
nen Ozeanflug um zehn Jahre verlängert hat. Boxen zu dem
Zweck, den Stuhlgang zu heben, ist kein Sport. Der Zweck
des Sportes ist natürlich nicht körperliche Ertüchtigung,
sondern der Zweck körperlicher Ertüchtigung kann Sport
sein.
Der zweite Hauptgegner des Sportes ist der wissenschaftliche
Fimmel. Hierher gehören leider meistens mit besonderer Un-
terstützung der Presse die krampfhaften Bemühungen einiger
»Kenner«, aus dem Sport eine Art »Kunst« zu machen.
Diesen Kennern wächst jetzt schon wieder auf der bloßen
Hand eine ganze Nomenklatur von Fachausdrücken, und die
Tendenz geht immer mehr aus Part pour Part. Im Boxsport
äußert sich diese sportsfeindliche Tendenz in der Propagierung
des Punktverfahrens. Je weiter sich der Boxsport vom K. o.
entfernt, desto weniger hat er mit wirklichem Sport zu tun.
Ein Boxer, der seinen Gegner nicht niederschlagen kann, hat
ihn natürlich nicht besiegt. Sehen Sie sich zwei Männer an
einer Straßenecke oder in einem Lokal einen Kampf liefern.
Wie stellen Sie sich hierbei einen Punktsieg vor? Die Haupt-
Todfeinde des natürlichen naiven und volkstümlichen Box-
sportes sind jene Gelehrten, die an den Seilen sitzen und in
ihre Hüte hinein Punkte sammeln.
Sie verstehen mich: Je »vernünftiger«, »feiner« und »gesell-
schaftsfähiger« der Sport wird, und er hat heute eine starke
Tendenz dazu, desto schlechter wird er.

Sport und geistiges Schaffen

[Antwort auf eine Rundfrage]


Ich muß zugeben, daß ich die These, Körperkultur sei die
Voraussetzung geistigen Schaffens, nicht für sehr glücklich
30 Zur Politik und Gesellsdiaft

halte. Es gibt wirklich, allen Turnlehrern zum Trotz, eine be-


achtliche Anzahl von Geistesprodukten, die von kränklichen
oder zumindest körperlich stark verwahrlosten Leuten her-
vorgebracht wurden, von betrüblich anzusehenden mensch-
lichen Wracks, die gerade aus dem Kampf mit einem wider-
strebenden Körper einen ganzen Haufen Gesundheit in Form
von Musik, Philosophie oder Literatur gewonnen haben. Frei-
lich wäre der größte Teil der kulturellen Produktion der letz-
ten Jahrzehnte durch einfaches Turnen und zweckmäßige Be-
wegung im Freien mit großer Leichtigkeit zu verhindern ge-
wesen, zugegeben. Ich halte sehr viel von Sport, aber wenn
ein Mann, lediglich um seiner zumeist durch geistige Faulheit
untergrabenen Gesundheit auf die Beine zu helfen, »Sport«
treibt, so hat dies ebensowenig mit eigentlichem Sport zu tun,
als es mit Kunst zu tun hat, wenn ein junger Mensch, um mit
einem Privatschmerz fertig zu werden, ein Gedicht über treu-
lose Mädchen verfaßt. Einige Leute, die vermutlich der
Seifenindustrie nicht ganz fernstehen, haben versichert, daß
der Zivilisationsstand eines Volkes an seinem Seifenverbrauch
kontrolliert werden könnte. Demgegenüber setze ich vollstes
Vertrauen in Männer wie Michelangelo, daß sie auch durch
einen völlig unmäßigen Gebrauch von Seife nicht hätten gehin-
dert werden können, die Zivilisation zu bedrohen. Ich kann
Ihnen eine kleine private Erfahrung mitteilen. Vor einiger
Zeit habe ich mir einen Punchingball gekauft, hauptsächlich
weil er, über einer nervenzerrüttenden Whiskyflasche hän-
gend, sehr hübsch aussieht und meinen Besuchern Gelegenheit
gibt, meine Neigung zu exotischen Dingen zu bekritteln, und
weil er sie zugleich hindert, mit mir über meine Stücke zu
sprechen. Ich habe nun gemerkt, daß ich immer, wenn ich
(nach meiner Ansicht) gut gearbeitet habe (übrigens auch
nach Lektüre von Kritiken), diesem Punchingball einige launige
Stöße versetze, während ich in Zeiten der Faulheit und des
körperlichen Verfalls gar nicht daran denke, mich durch an-
ständiges Training zu bessern. Sport aus Hygiene ist etwas
Notizen über die Zeit 3l
Abscheuliches. Ich weiß, daß der Dichter Hannes Küpper,
dessen Arbeiten wirklich so anständig sind, daß sie niemand
druckt, Rennfahrer ist und daß George Grosz, gegen den ja
auch keine Klagen vorliegen, boxt, aber sie tun dies, wie ich
genau weiß, weil es ihnen Spaß macht, und sie würden es auch
tun, wenn es sie körperlich ruinieren würde. (Etwas an-
deres ist es natürlich mit ungeistigen Arbeitern, wie etwa
Schauspielern, die körperliches Training nötig haben, da
ihre falsche Auffassung vom Theaterspielen sie zu unge-
heuren Kraftleistungen zwingt.) Ich selber hoffe meinen
körperlichen Verfall auf mindestens noch 60 Jahre auszu-
dehnen.

Für einen deutschen Ozeanflug


Die Organe der Öffentlichkeit haben im allgemeinen eine Nei-
gung, sich bei ihren Angriffen auf Personen, die die Öffent-
lichkeit getäuscht oder enttäuscht haben, mit einer Kritik ihrer
Ehrlichkeit zu begnügen. Wer die deutsche Justiz angreift, gibt
sich allzuschnell damit zufrieden, sie als ehrlos und unanstän-
dig darzustellen. Sie als einfach dumm und unfähig, ihre an-
genommenermaßen anrüchigen Ziele zu erreichen, darzustel-
len, gilt als weniger wirksam. Dieser Gesichtspunkt erweist
sich zweifellos fruchtbar einer Gesellschaft gegenüber, die dar-
auf angewiesen ist, mehr den Schein ihrer Ehrlichkeit, als den
ihrer Klugheit zu wahren. Angesichts des Fiaskos des deut-
schen Ozeanfluges besteht daher die Gefahr, daß nicht ge-
nügend Gewicht auf die öffentliche Verurteilung der zutage
getretenen Feigheit einiger Flieger gelegt werden wird. Dieser
Verzicht darauf, von Leuten, die auf einem bestimmten Gebiet
die Nation repräsentieren, Mut zu verlangen, wäre im Inter-
esse der öffentlichen Sittlichkeit sehr bedauerlich. Ich muß,
da ich wie gesagt fürchte, daß dies nirgends genügend hervor-
gehoben werden wird, besonders betonen, daß ich zumindest
32 Zur Politik und Gesellschaft

die zwei Flieger, die ohne Motordefekt umgekehrt sind,


für ängstliche Leute halte.
Aber ich glaube nicht, daß wir die Versuche, den Ozean zu
überqueren, aufstecken sollen. Ich glaube nämlich einfach
nicht, daß man nicht auch ohne Mut über das große Wasser
kommen kann. Ich glaube, wir Deutschen werden so lange zum
Flug ansetzen und wieder umkehren, als Mut nötig wäre,
aber wir sind außerordentlich dazu befähigt, dafür zu sorgen,
daß man ohne Mut hinüberkommen kann. Viele Leute halten
unsere Verkehrsflugzeuge für die sichersten Europas. Erst jetzt
ist es aufgeklärt, warum sie es sind: weil ihre Piloten ängstlich
sind.
Es steht uns natürlich nicht an, anscheinend wirklich mutige
Leute wie Nungesser und Coli zu verhöhnen. Dennoch ist es
Wahnsinn, auf das Meer hinauszufliegen, wenn man draußen
untergeht. Es ist keineswegs wahnsinnig, hinauszufliegen und
umzukehren.

Bin ich eifersüchtig?

[Antwort auf eine Rundfrage]


Man braucht nur die Zeitungen zu lesen: Von Moabit bis Dah-
lem, durch Villen und Mietskasernen tobt zu allen Tages- und
Nachtzeiten ein unaufhörlicher Kampf alter und junger Män-
ner, die mit Messern in den Händen das Besitzrecht an ihren
Weibern verteidigen. Wer sind diese Leute? Man sieht sie:
plötzlich auf Turschwellen stehend, mit geschwollenen Hälsen,
aus ihnen tritt das Urtier, und das Urtier brüllt: »Du betrittst
diese Schwelle nicht mehr.« Und während man sich dunkel
daran erinnert, eben diese unvergeßlichen Stimmen schon wo-
anders gehört zu haben, irgendwo an Biertischen mit dem
Ton heiterer Ruhe: »Und wenn ich schon nicht mehr arbeiten
kann, dann habe ich doch meine Pension«, ahnt man plötz-
Notizen über die Zeit 33

lieh erschüttert, wer sie also sind: Spießer. Spießer sind heute
die letzten Träger dieser einst tragischen Leidenschaft. Der ver-
lockende Gedanke an Pensionsberechtigung ist es, der ihnen
das Messer in die Hand drückt. Der Sitz der Eifersucht ist näm-
lich jener Körperteil, mit dem man auf etwas sitzt. Damit
will ich übrigens nicht gesagt haben, daß ich selber nicht gern
sitze - denn wie könnte jemand behaupten, daß nichts Spie-
ßiges in ihm wäre!
Dezember 1928

Sexualität des dritten Jahrzehnts


Die Sexualität spielt keine besondere Rolle, das heißt, selbst
in den zahlreichen Katastrophen, die sie den Spalten der Zei-
tungen liefert, ist nichts Besonderes, mit dem viel Aufhebens
oder Rühmens zu machen wäre; es scheint, die Bedürfnisse,
die der Sexus stellt, können leicht befriedigt werden: sie sind
nicht sehr groß. Andere Zeiten zeigen darin eine Unersättlich-
keit, die ihre Phantasie ungeheuer fruchtbar machte. Das
waren die großen Zeiten des Sexus, sie können jeden Tag wie-
der anbrechen. Der Schreiber erkennt solche Flauten des Mark-
tes an etwas für ihn Unerträglichem: sein Wortmaterial. Die
Instinkte eines Wortes sind die der Begierde, die es bezeichnet.
Heute hat die Affinität der sexuellen Wörter, das heißt ihre
Hinneigung zu anderen, fast gänzlich aufgehört. Es bilden sich
keine Assoziationen mehr.

Von der Liebe


Einigen gegenüber, die entweder der strengen Ehe oder aber
der durch nichts gehemmten Sexualität zuviel Bedeutung bei-
maßen, fanden andere, politische Leute, die Losung für rich-
tiger, Liebe sei zu genießen wie ein Glas Wasser, also beiläufig,
34 Zur Politik und Gesellschaft

einem raschen Durste rasch folgend, ohne besondere Aus-


wahl, so, wie man unter dem Wasser nicht besonders auswählt.
Nach diesen war der Wunsch, zu lieben, ein Trieb wie der zu
essen oder zu schlafen, mitunter angenehm, manchmal lästig,
auf keinen Fall eine besondere, tiefere Aufmerksamkeit be-
anspruchende Sache, und Lenin widersprach ihnen. Lenin
fand nicht, daß Liebe solch ein Ding wäre, und hielt es nicht
für nützlich, in solchem Ton von ihr zu sprechen. Ohne Ge-
naueres über sie zu sagen oder auch nur länger bei ihr als
Gesprächsgegenstand zu verweilen, verwarf er doch schnell
und heftig das Wort vom Glas Wasser.
Aus der Liebe wird oft so viel Wesens gemacht, daß vernünftige
Leute ungeduldig werden können. Sie wird aus dem gewöhn-
lichen Leben ganz herausgenommen, für sich allein gestellt,
als stehe sie über oder doch wenigstens außer dem Leben und
müsse ganz für sich betrachtet werden.

Sylvester 1928
Es gibt einen Grund, warum man Berlin anderen Städten
vorziehen kann: weil es sich ständig verändert. Was heute
schlecht ist, kann morgen gebessert werden. Meine Freunde
und ich wünschen dieser großen und lebendigen Stadt, daß
ihre Intelligenz, ihre Tapferkeit und ihr schlechtes Gedächtnis,
also ihre revolutionärsten Eigenschaften, gesund bleiben. Mei-
nen Freunden wünsche ich natürlich alles, was sie meiner An-
sicht nach brauchen.

[Über die Herrenmode]


Wenn wir an einem Herrenmodengeschäft vorbeigehen, so
sehen die im Schaufenster hängenden Kleidungsstücke für
gewöhnlich so schlecht aus, daß man sofort weiß: Dabei hat
Notizen über die Zeit 35
die Ästhetik ihre Hand im Spiele gehabt, das haben ästhetisch
geschulte Leute entworfen, hier sollte hauptsächlich etwas Ge-
schmackvolles gemacht werden. Dabei haben diese Kleidungs-
stücke hier, im Schaufenster, noch ihre beste Zeit. Sie sind
hauptsächlich für das Schaufenster angefertigt und zeigen
ihren wahren, niederträchtigen Charakter erst, wenn sie
gekauft sind und getragen werden. Dann zeigt es sich schreck-
lich rasch, daß sie für die rauhe Wirklichkeit nicht gemacht
sind. Der Stoff ist schlecht, das heißt, er ist wenig haltbar
und verändert sein Aussehen sehr rasch. Der alte Anzug ist
der Bruder des neuen, und er sorgt für seinen Bruder.
Es rentiert sich für die Kleiderfabrikanten, daß sie nicht Ana-
tomie lernen, infolgedessen brauchen sie nichts zu wissen da-
von, daß der Mensch manchmal sein Knie biegt, infolgedessen
muß die Hose nicht darauf eingestellt werden und infolge-
dessen schafft jede einigermaßen lebenserfahrene Hose sobald
als möglich, sozusagen aus sich heraus, eine Art Oberknie.
Die Herrenkleidung zerfällt in einzelne Teile, und diese
Trennung in Teile erfolgt nach Gesichtspunkten, die, etwa
auf ein Auto angewendet, verlangen würden, daß der vor-
dere Teil von der einen Firma und der hintere von einer an-
deren angefertigt werde. Von außen betrachtet ist solch ein
Anzug, wenigstens im Schaufenster, eine Art Gesamtkunst-
werk, aber von innen betrachtet sind es lauter Attrappen, zu-
sammengestückeltes, uneinheitliches Zeug. Jedes einzelne
Stück oder besser Stückchen dieses mosaikartigen Gebildes ist
nur für die äußere Wirkung berechnet, fällt nur eine einzige
von den zahlreichen übereinandergelagerten Hülsen weg, so
ist bereits die zweite Schicht mit ihren Hosenträgern und Sok-
kenhaltern nicht einmal mehr hübsch, geschweige denn prak-
tisch. Das Hemd hat einen abnehmbaren Kragen, den der
Franzose gleich von vornherein schlicht und ehrlich »falscher
Kragen« nennt, und zwischen dem Hemd und dem Kragen
entstehen, da die Kragenweite selten mit der Hemdhalsweite
übereinstimmt, schmerzhafte Quetschungen. Wendet man mir
36 Zur Politik und Gesellschaft

ein, das Hemd mit angenähtem Kragen sei zu teuer, so kann


ich nur sagen: da muß es billiger werden. Die Autos sind
ja auch zu teuer und müssen auch billiger werden.
Die einzig mögliche Form für Schuhe habe ich an einer ame-
rikanischen Marke gesehen. Sie hieß »Vera« und war wirk-
lich die wahre. Sie war nach innen gekrümmt und der Vor-
teil dieser Schuhe bestand darin, daß man darin gehen konnte
(und nicht nur sitzen). Diese Marke ist hier heute nicht mehr
auftreibbar. Die herrschende Anschauung verlangt anschei-
nend, daß Füße nach außen zu krümmen sind. Einen ähn-
lichen Nachteil bietet mein lederner Schlips: Er rutscht nicht.
Er ist auch leicht zu schlingen und hat nichts wirklich Indi-
viduelles. Die Persönlichkeit drückt sich in ihm nicht deutlich
genug aus. (Ich meine natürlich die Persönlichkeit des Schnei-
ders.)
Kurz: ich sehe sogar in der Herrenmodenfrage trübe in die
Zukunft. Was immer wir vorschlagen und wie verbissen wir
immer darum kämpfen, an unserem Grabe werden sie trau-
rig, aber doch wieder in Gehröcken stehen.
März

Über die Größe


Als ich sah, wie dick die amerikanischen Schneider Schulter
und Brust wattierten, begrüßte ich darin ein ähnliches Prinzip,
wie es die Maler der italienischen Renaissance durchführten.
Das Auftauchen jener Jazzbands, in denen lauter Ingenieure
Musik machten, die vor allem der Heiterkeit und dem Gefal-
len an mathematischen Formen dienten, ergriff mich aus glei-
chem Grund. Viele Eindrücke befestigten in mir die Überzeu-
gung, daß die Empfindungen der Menschen in unserer Zeit
ebenso wie in den besten vergangenen groß genug seien, um
mit trockener Sachlichkeit dargestellt werden zu können. Die
Tugenden beginnen die erschreckende Harmlosigkeit des vori-
Notizen über die Zeit 37

gen Jahrhunderts zu verlieren, und die Untaten gewinnen an


Einfluß und Spielraum. Die Menschen in ihren besten Typen
werden fähiger, Verantwortung zu tragen, freier von ihrem
Milieu, genug übersichtlich organisiert, um für Leidenschaften
in Form zu sein. Die großen Städte gewinnen den Wert der
Landschaft.

[Rauschgift]
Das gegen ihn gespritzte Gift verwandelt der Kapitalismus
sogleich und laufend in Rauschgift und genießt dieses.

[Freiheit von Krieg und Militärdienst]


Das einzige, was mich niederdrücken kann bei meiner Arbeit,
ist der mitunter auftauchende Gedanke, unsere Zeit könnte
nicht eine der großartigsten aller Zeiten sein. Natürlich wäre
es für mich nicht niederdrückend, wenn es eine der schlech-
testen wäre. Nur der Kleinmut, irgend etwas Mittelmäßiges
stecke dahinter, nimmt mir jede Lust an der Arbeit. Deshalb
empört mich auch die deutsche Geschichte, die in den Schulen
gelehrt wird, so sehr. Des Krieges 1870 schäme ich mich, wie
ich mich einer Schulnote über gutes Betragen schämen würde.
Die Befreiungskriege machen mir Übel. Unter diesen entmu-
tigenden Erinnerungen ist die an die Erkämpfung des Versail-
ler Vertrags, durch den wir die halbe Welt zwangen, jedem
Deutschen unter großen Geldopfern, an denen wir uns doch
nur in geringem Maß beteiligen, seine Freiheit von Krieg und
Militärdienst zu garantieren, eine der lichtvollsten.
38 Zur Politik und Gesellschaft

[Nationale Schundliteratur]
Ich gestehe, daß ich es für einen wunden Punkt meiner Exi-
stenz halte, daß zum Beispiel die deutsche Geschichte so
schlecht geordnet ist. Es ist keine Entwicklung drinnen, und
sie ist auch nicht hineingebracht worden. Wären die Eisen-
bahnen etwa in beständigen Kämpfen mit den Cheruskern
erbaut worden oder könnte man den Siebenjährigen Krieg
nicht als Bürgerkrieg, sondern als Anzeichen größerer Schie-
bungen darstellen, so müßte es doch möglich sein, die Be-
freiungskriege, in denen von Deutschen nur Kleber und Ney
hervortraten, einfach zu streichen. Ebenso ist es bei gutem
Willen erreichbar, den Krieg 1870 totzuschweigen. Man kann
dafür Luther unterstreichen und im Notfall auf eine so inter-
nationale europäische Erscheinung wie Karl den Großen zu-
rückgreifen, wenn es Schwierigkeiten machen sollte, Bismarck
aus den Lesebüchern unserer Jugend zu entfernen. Was ich
meine, ist lediglich, daß es uns an nationalem Willen fehlt.
Das für den Augenblick dringendste ist es aber, die national
gefärbten Ansichtskarten einzustampfen. Es ist möglich, daß
andere Leute die rosa Farbe für anziehender halten als ich,
aber ich bezweifle, daß sie bei irgend jemandem eine heroische
Stimmung hervorrufen kann. Solange ich den Rhein als Him-
beersauce empfinde und seine Weinberge etwa mit dem poeti-
schen Schwung einer Weinhandlung angepriesen werden, ziehe
ich mich von diesem Strome zurück. Man muß bei einer zeit-
gemäßen Propagandatätigkeit der Tatsache, daß die Donau
zum Beispiel, behielte sie die Bedeutung bei, die sie in Passau
erreicht hat, und würde nicht ergiebiger in Bukarest, nicht
verwendbar wäre für Propaganda. Ich sage, man muß dieser
harten Tatsache ins Auge blicken können. Keine Schundlitera-
tur ist so ekelerregend als die nationale.
Notizen über die Zeit 39

[Das unzufriedenste Volk]


Wir Deutschen haben eine sehr gute Anlage zur Unzufrie-
denheit. Wenn man es mir freistellte, für das Volk, dem ich
angehöre, unter mehreren Kennzeichen die mir am ehrendsten
erscheinende auszuwählen, so würde ich bestimmen, man
möchte uns das unzufriedenste Volk nennen. Man lasse sich
durch eine gewisse politische Trägheit, die uns anhaftet, nicht
täuschen. Jedermann wird zugeben, welch unentbehrliche Re-
sultate wir zum Beispiel in der Wissenschaft erzielt haben, in-
dem wir, immerfort mißtrauisch gegen das eben Erreichte, im-
merfort bereit, es bedingungslos aufzugeben, ohne damit Zeit
zu verschwenden, davon praktisch irgend etwas zu verwerten,
uns an das Ungelöste hielten. Und, gleichsam in der Furcht,
wir könnten doch noch unser Wissen um die Realität bis an
eine allzu große Übersichtlichkeit heranbringen, pflegten wir
von Anfang an mit besonderem Eifer die Metaphysik. So war
uns die Möglichkeit zur Unzufriedenheit bis über unsern Be-
stand hinaus sichergestellt.
Es ist leicht festzustellen: Unser Ideal ist das Unerreichbare;
und während wir bemüht sind, uns in der Bahn des Erreich-
baren fortzubringen, würden wir unzufriedener sein, als wir
schon sind, wenn diese Bahn je enden könnte.
Unsere gewöhnlichste Art zu denken ist: zu revoltieren. Un-
sere besten Leistungen sind Fragmente. Den Grad der uns
möglichen Vervollkommnung haben wir erreicht, bevor wir
fertig geworden sind.

Eigentum
Nach Aufhebung aller Gesetze, die etwa den Diebstahl mit
Strafen belegen, würde eine bestimmte Gruppe von Menschen
dennoch fortfahren (oder beginnen?), das Eigentum als Tabu
zu behandeln, und diese Gruppe würde anfangen (oder
4o Zur Politik und Gesellschaft

fortfahren), die herrschende zu sein. Es ist aber nicht nur nö-


tig, jenes Vorurteil zu vernichten, das einen Mann von Appetit
erhält, sich nur auf eine ganz bestimmte, begrenzte Anzahl
von Wegen in den Besitz des nachbarlichen Eigentums zu set-
zen: Der Besitz muß überhaupt aufgehoben werden. Und
das, wenn sonst nichts dafür spräche, einzig und allein schon
deshalb, weil es von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht
mehr möglich war, über diese obenerwähnten »Wege« eine
Übereinkunft zwischen den Leuten mit Appetit herzustellen.
Diebstahl ist Unrecht? Gut. Aber nicht aller Diebstahl ist
Unrecht? Gut. Aber wir wissen nicht, welcher Diebstahl un-
recht ist? Schlecht.

Über die Justizskandale


Die Bourgeoisie ist mit ihrer Justiz unzufrieden. Der kleine
Teil, der sie schützt, besteht aus denjenigen, die dieser Justiz
nur vorwerfen, daß sie nicht zwei Drittel des Volkes in die
Zudithäuser wirft. In den Zeiten, wo die Revolution vor der
Tür steht, werden die Justizskandale häufiger, weil die Ge-
richte, um ihre wankende Autorität zu festigen, ihre Unge-
rechtigkeiten übertreiben. Das Volk aber verträgt nur einen
Teil von Ungerechtigkeit. Die Sorge der Bourgeoisie ist es, die
groben Ungerechtigkeiten zu beseitigen, um diejenige stän-
dige jahrhundertealte und daher gewohnte Ungerechtigkeit zu
erhalten. Der Richter wurde für unabsetzbar erklärt, weil
man befürchtete, die Regierung oder das Volk könnte ihn ab-
setzen wollen, wenn er gerecht wäre. Warum sollen 50 Leute
besser über die Gerechtigkeit wachen können als 50 Millio-
nen? Es ist ein guter Grundsatz, die Richter nicht in die Poli-
tik hineinziehen zu wollen. Man erreicht dies dadurch, daß
man die Verbrechen, die mit Politik zu tun haben, von den
übrigen abtrennt. Von politischen Vorurteilen befangen kann
nur ein Richter sein, der unabsetzbar ist. Denn ein absetzbarer
Notizen über die Zeit 41

muß sich an die reine Justiz halten, wenn er nicht riskieren


will, durch die beständige Unbeständigkeit der Politik zu fal-
len. Ist die Regierung das Vollzugsorgan der Öffentlichkeit
und setzt sie einen Richter ab, weil er gerecht gerichtet hat,
so ist dies eine öffentliche Angelegenheit, und kann dies nach-
geprüft werden, dann würde die Gerechtigkeit etwas sein, von
dem man öffentlich sprechen muß, und sie kann nur gewinnen
dadurch. Verstößt der Richter gegen die Grundsätze der Ju-
stiz, so muß er doch abgesetzt werden können. Tut er es nicht,
sondern kann er sich auf die Justiz stützen, indem er unge-
recht richtet, so muß die Justiz geändert werden, und dies ist
das nötigste. Die Justizskandale sind in revolutionärem Sinne
gleichgültig und sogar schädlich, wenn sie den Blick von dem
einzigen ungeheuren und gewohnten Skandal ablenken, der
heute Justiz ist. Denn es ist ein ungeheuerlicher Irrtum, zu
glauben, die heutige Justiz sei eine gesunde Sache, ein wert-
voller Organismus, der nur einige vorübergehende Krankhei-
ten habe, die man heilen müsse, um diesen kostbaren Organis-
mus zu erhalten. Diese Krankheiten sind die Krankheiten
eines zum Tode verurteilten Verbrechers, und sie heilen heißt
ihn vom verdienten Tode erretten.

Es gibt unendlich mehr Richter in Deutschland, die Unrecht


tun, indem sie die Gesetze ausführen als solche, die Unrecht
tun, indem sie sie verletzen.

Die Tugend der Gerechtigkeit


Es gibt Staaten, in denen die Gerechtigkeit zu sehr gerühmt
wird. In solchen Staaten ist es, wie man vermuten darf, be-
sonders schwer, Gerechtigkeit zu üben. Viele Menschen schei-
den dafür aus, weil sie entweder zu arm und zu benachteiligt
sind, um gerecht sein zu können oder um unter Gerechtigkeit
etwas anderes zu verstehen als Hilfe für sie selber. Jene
42 Zur Politik und Gesellsdiaft

Gerechtigkeit, die für einen selber gefordert wird, gilt aber


wenig. Diese Unterdrückten werden selten als Freunde der Ge-
rechtigkeit gerühmt; es fehlt ihnen die Selbstlosigkeit. Die
aber haben sie nicht, weil sie eben selber darben und unter-
drückt sind. Die Gerechtigkeit der andern wiederum erweckt
das Mißtrauen, sie seien eben bloß für den Augenblick gesät-
tigt, sorgten also jetzt für ihre nächsten Wochen oder Jahre.
Andere fürchten für die Zustände, die ihnen ständige Sätti-
gung verbürgen, die Empörung der ungerecht Behandelten.
Wieder andere treten für das Recht derjenigen ein, die sie sel-
ber auszubeuten wünschen.
In Ländern, die gut verwaltet sind, braucht es keine besondere
Gerechtigkeit. Dem Gerechten fehlt dort die Ungerechtigkeit,
wie dem Klagenden der Schmerz. In solchen Ländern versteht
man dann unter Gerechtigkeit etwas Erfinderisches, ein frucht-
bares Vorgehen, das die Interessen verschiedener gleichrichtet.

[Über den §218]

[Äußerung zu einer Rundfrage]


So wie der Staat es in seiner Justiz macht - er bestraft den
Mord, sichert sich aber das Monopol darauf -, so macht er
es eben überhaupt: Er verbietet uns, unsere Nachkommen
am Leben zu verhindern — er wünscht dies selber zu tun. Er
behält sich vor, selber abzutreiben, und zwar erwachsene, ar-
beitsfähige Menschen.
März 1930

Zum zehnjährigen Bestehen der A-I-Z


Die ungeheuere Entwicklung der Bildreportage ist für die
Wahrheit über die Zustände, die auf der Welt herrschen,
Notizen über die Zeit 43

kaum ein Gewinn gewesen: Die Photographie ist in den Hän-


den der Bourgeoisie zu einer furchtbaren Waffe gegen die
Wahrheit geworden. Das riesige Bildmaterial, das tagtäglich
von den Druckerpressen ausgespien wird und das doch den
Charakter der Wahrheit zu haben scheint, dient in Wirklich-
keit nur der Verdunkelung der Tatbestände. Der Photogra-
phenapparat kann ebenso lügen wie die Schreibmaschine. Die
Aufgabe der A-I-2, hier der Wahrheit zu dienen und die
wirklichen Tatbestände wiederherzustellen, ist von unüber-
sehbarer Wichtigkeit und wird von ihr, wie mir scheint, glän-
zend gelöst.
1931

[Zur Rußlandhetze des Deutschlandsenders]


Man muß zumindest verlangen, daß die Möglichkeit gegeben
wird, auf diese subjektiv hetzerischen Reden gegen die
Sowjetunion von derselben Stelle aus zu antworten*. Die
Methode der unwidersprochenen Vorträge ist ein Mißbrauch
des Rundfunks, der nur durch Zulassung von Diskussionen
der Vertreter verschiedener Richtungen verhindert werden
kann.
j . September 1931

[Die Ideologie untergehender Klassen]


Eine solche sich absperrende Klasse verliert, immerfort be-
strebt, ihren Umfang klein zu halten und ihren Einfluß zu
vergrößern, am Ende jedes Maß. Gezwungen, Sätze wie
»Wir Deutschen hassen das französische Wesen« oder »Wir
Deutschen halten den Besitz heilig« zu formulieren, da sie
weder den Vorteil, deutsch zu sein, noch den, die einzigen
Deutschen zu sein, aufgeben können, büßen sie rasch alles
44 Zur Politik und Gesellschaft

Augenmaß ein, da sie Gewinn daraus ziehen, Bestehendes zu


leugnen. Sie glauben immer noch, ihre Taten nach ihren
Grundsätzen zu richten, wenn sie schon längst ihre Grund-
sätze nach ihren Gepflogenheiten richten und ihre Ideologie
sogar nur noch eine Verteidigung ihrer Taten darstellt. Der
Anblick der Ideologien untergehender Klassen ist jammervoll.
Unschuld findet sich nur bei den Eroberern, die Verteidiger
sind wissend. Ein ganzer übelriechender Haufen von Litera-
tur besorgt unter dem Vorgeben, die Politik der Kunst fern-
zuhalten, lediglich noch die dunklen Geschäfte einer Politik,
die sich nur mehr halten kann, indem sie eben die Politik
(anderer) fernhält.

[Die deutsche Politik]


Die deutsche Politik wird nicht der Welt verheimlicht — son-
dern Deutschland.
Weswegen?
Weil Deutschland in Klassen gespalten ist und keine Einheit
mehr bildet. Sie ist nicht zu bilden durch So-Tun.
Einer riesigen Mehrheit aller Deutschen muß die deutsche
Politik verheimlicht werden: Sie wären aus Überzeugung und
nacktem Interesse Verräter.
Marxistische Studien
1926 bis 1939
Der Lernende ist wichtiger als die Lehre.

Als ich schon jahrelang ein namhafter Schriftsteller war, wußte ich noch
nichts von Politik und hatte ich noch kein Buch und keinen Aufsatz von
Marx oder über Marx zu Gesicht bekommen. Ich hatte schon vier Dramen
und eine Oper geschrieben, die an vielen Theatern aufgeführt wurden, ich
hatte Literaturpreise erhalten, und bei Rundfragen nach der Meinung fort-
schrittlicher Geister könnte man häufig auch meine Meinung lesen. Aber ich
verstand noch nicht das Abc der Politik und hatte von der Regelung
öffentlicher Angelegenheiten in meinem Lande nicht mehr Ahnung als
irgendein kleiner Bauer auf einem Einödshof. [...] 1918 war ich Soldaten-
rat und in der USPD gewesen. Aber dann, in die Literatur eintretend, kam
ich über eine ziemlich nihilistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
nicht hinaus. Nicht einmal die großen Filme Eisensteins, die eine unge-
heuere Wirkung ausübten, und die ersten theatralischen Veranstaltungen
Piscators, die ich nicht weniger bewunderte, veranlaßten mich zum Stu-
dium des Marxismus. Vielleicht lag das an meiner naturwissenschaftlichen
Vorbildung (ich hatte mehrere Jahre Medizin studiert), die mich gegen eine
Beeinflussung von der emotionellen Seite sehr stark immunisierte. Dann
half mir eine Art Betriebsunfall weiter. Für ein bestimmtes Theaterstück
brauchte ich als Hintergrund die Weizenbörse Chicagos. Ich dachte, durch
einige Umfragen bei Spezialisten und Praktikern mir rasch die nötigen
Kenntnisse verschaffen zu können. Die Sache kam anders. Niemand, weder
einige bekannte Wirtschaftsschriftsteller noch Geschäftsleute - einem Mak-
ler, der an der Chicagoer Börse sein Leben lang gearbeitet hatte, reiste ich
von Berlin bis nach Wien nach -, niemand konnte mir die Vorgänge an der
Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, daß diese
Vorgänge schlechthin unerklärlich, das heißt von der Vernunft nicht erfaß-
bar, und das heißt wieder einfach unvernünftig waren. Die Art, wie das
Getreide der Welt verteilt wurde, war schlechthin unbegreiflich. Von je-
dem Standpunkt aus außer demjenigen einer Handvoll Spekulanten war
dieser Getreidemarkt ein einziger Sumpf. Das geplante Drama wurde nicht
geschrieben, statt dessen begann ich Marx zu lesen, und da, jetzt erst, las
ich Marx. Jetzt erst wurden meine eigenen zerstreuten praktischen Erfah-
rungen und Eindrücke richtig lebendig.
Studium des Marxismus

[Musterung der Motive junger Intellektueller]


Die Idealisten finden oft, dem Materialismus fehle, damit sie
ihn gutheißen könnten, nur etwas - Idealistisches! Zum Bei-
spiel das Religiöse. Dabei kann ihm höchstens etwas Materia-
listisches fehlen, und das ist ja auch der Fall. In jeder Debatte,
gegen einen Iheisten wird man einen schweren Stand haben,
da der Atheismus zunächst nur ein Fehlen an Theismus ist,
als das Fehlen eines Fehlers. Nun kann man sich von Ma-
terialisten, die eigentlich verkrachte Idealisten sind, nicht viel
erwarten. Die Fehler des Materialismus, materialistische Feh-
ler, kündigen sich durch Furchtgefühle an. Ein Beispiel: Die
Mechanik hat den Idealismus geschädigt. (Amerika ist ein
idealistisch tendiertes Land, das sich schwer gegen den an-
stürmenden Materialismus hält.) Trotzdem gibt es nicht we-
nige Materialisten, und vor allem viele Revolutionäre, die
gegen Mechanik sind. Warum?
Die Musterung der Motive, die einen jungen Intellektuellen
zum Revolutionär machen könnten, ist eine äußerst pessi-
mistisch stimmende Tätigkeit. Der Anblick der heute Dreißig-
jährigen, die vor 10 Jahren Hoffnungen erweckten, ist wahr-
haft entmutigend. Sie waren aufgefordert worden, gerecht zu
sein, den Geknechteten Freiheit zu verschaffen. Sie wußten
nicht, was sie dagegen haben sollten, und sie sahen sich schon
von den Parias dankbar umjubelt oder, was noch anziehender
war, von der Bourgeois in die Kerker geworfen. Aber das
Proletariat bekrittelte ihre Zeichnungen, und die Bourgeoisie
kaufte sie. Da sie über den Marxismus der Gracchen nie
hinausgelangt waren, endete jetzt mit Katzenjammer, was
mit Gefühlen begonnen hatte. Eine allgemeingehaltene Miß-
billigung einiger menschlichen Eigenschaften macht keinen
48 Zur Politik und Gesellschaft

Revolutionär aus. Dazu kam, daß der Marxismus sich ge-


zwungen sah, die Motive zu revidieren, die er diesen sym-
pathischen Leutchen zur Verfügung gestellt hatte. Er war ge-
zwungen, das Entgegenkommen einzukalkulieren, das er dem
Kapitalismus abgepreßt hatte. Die Revolution mußte denk-
bar bleiben, auch wo der Kapitalismus das Los der Arbeiter
freiwillig oder unfreiwillig verbesserte und sogar da, wo
ganze Haufen von Ungerechtigkeit nötig waren, um ihm den
Prozeß machen zu können. Freiheit, Gerechtigkeit und so
weiter wurden schwer handhabbare Begriffe, die lange Kom-
mentare erforderten, sehr schwer lesbare Kommentare, die
keine Freude bereiteten. Jene paar Intellektuellen aber, die in
die Partei selbst hineingekommen waren, verrichteten dort
eine Arbeit, die man nur unter Abenteuern oder unter stän-
diger Verfolgung großer und im Zustand der Produk-
tion befindlicher Gesichtspunkte verrichten kann, ohne seine
Schwungkraft und revolutionäre Phantasie zu verlieren.
Schon nach wenigen Jahren war der Anblick dieser Kategorie
(der Parteiarbeiter) der oben geschilderten Kategorie (der
Idealisten) ein völlig ausreichender Grund zur Entschuldi-
gung ihrer eigenen Tatenlosigkeit.
Es ist unmöglich, an unsere jungen Leute mit den rampo-
nierten Bourgeoisidealen von 1789 heranzukommen. Es ist
sehr schwierig, sie auf aktive Politik zu verweisen, und doch
ist gerade dies nötig. Es hat keinen Sinn, sie auf die Bürger
loszulassen. Läßt man sie auf die Arbeiter los, so leiden nicht
die Arbeiter darunter, sondern sie selber. Aber man muß sie
politisieren in ihrer eigenen Sphäre, jeden Nerv an ihnen,
jeden Gehirnstrang.

Man darf nie vergessen, daß der Hauptvorwurf aller kon-


servativer Elemente gegen den Sozialismus, er stelle eine
Fortführung (und also wenn man will: eine Steigerung) des
Kapitalismus dar, eine einfache Wahrheit ist, die noch nicht
alle Sozialisten begriffen haben.
Marxistisdie Studien 49

Rein psychologisch genommen: Nur der Konservative kann


glauben, die Abtötung etwa der Organisationswut und öf-
fentlichen Besitzgier der großen Amerikaner des 19. Jahr-
hunderts könnte die früheren idyllischen Zustände wieder-
herstellen. Der Revolutionär erwartet sich alles von der
kollektiven Steigerung dieser im Grund revolutionären Lei-
denschaften. Die Vorstellung einer idyllischen Staatsform, in
der die Sorge um das Materielle (das sie hassen) dem einzelnen
und der Masse abgenommen wäre, ist eine rein bürgerliche
Vorstellung. Der Revolutionär haßt das Materielle nicht. Die
Revolution soll im Gegenteil jene Sorge zur Sorge aller
machen. Der Kommunismus erstrebt weniger eine Teilung
der freien Zeit als eine solche der Arbeit! Heute haben die
wenigsten eine Ahnung davon, welch eine ungeheure Steige-
rung der Lust an öffentlichen Geschäften bei der Masse zu
erfolgen hat, damit sie fähig werde, den Staat zu überneh-
men. Arbeit zur Beseitigung der Arbeit ist eine ganz jämmer-
liche Pensionistenidee! In Wirklichkeit müssen nur alle
Leute instand gesetzt werden, es sich leisten zu können, um
der Arbeit willen zu arbeiten!

Für den Intellektuellen schwer zu begreifen ist die gegen-


wärtige Leitung der Partei, eine geistig ziemlich niedrige, aber
kräftige und schlaue Kleinbürokratie, die keine sehr großen
Gesichtspunkte hat, aber die Massen gut zusammenhält. Alle
Klagen über ihr bescheidenes geistiges Niveau sind einfach
unvernünftig angesichts der nicht eben leichten Aufgabe dieser
Leute, eine auf Millionenstärke angeschwollene Partei in der
Opposition zu halten - eine Aufgabe, die sie sehr achtens-
wert lösen. Diese Bürokratie mag nicht fähig sein, eine Re-
volution zu führen, aber der Stoß, der sie im Falle einer
Revolution hinwegfegen wird (sie wird ohne falsche Senti-
mentalität erledigt werden), wird nicht von einer Seite aus
geführt werden, der ihre geistige und sittliche Mittelmäßig-
keit auf die Nerven geht. Diese Bürokratie wird an den
5<D Zur Politik und Gesellschaft

Folgen krepieren, die ihre materielle Position bei ihr haben


wird. Mit andern Worten: Sie wird am Tage der Revolution
andere (materielle) Interessen haben als das Proletariat.
Lehre daraus: Sie kann nur an den Punkten bekämpft wer-
den, wo sich die Differenzen ihrer Interessen mit denen der
Arbeiter deutlich auswirken. (Schimpfende Intellektuelle wür-
den sie aber gerade an dem Punkt angreifen, wo sich ihre In-
teressen - oder ihre Interesselosigkeit - mit denen des Prole-
tariats decken!)

[Weltbildhauer]

Der Idealismus ist doch von uns nur deshalb zu bekämpfen,


weil er der Umgestaltung der menschlichen Verhältnisse, die
unerträglich geworden sind, im Wege steht. Täte er es nicht, so
wäre alles, was gegen ihn gesagt werden könnte, ein Gewäsch.

Es gibt einige, die unter dem Verdacht stehen, daß sie die
Revolution nur machen wollen, um den dialektischen Ma-
terialismus durchzusetzen.

3
Du sollst dir kein Bild von der Welt machen des Bildes willen.

Daß diese Weltbildhauer sich auf das Proletariat berufen,


das ist nur Service (Kundendienst).
Marxistische Studien 51

[Schwierige Lage der deutschen Intellektuellen]


Die deutschen Intellektuellen sind in einer schwierigen Lage.
Obwohl der Krieg (nicht gerade durch ihre Schuld) zu einem
Mißerfolg wurde, sind sie den Angriffen von Leuten preis-
gegeben, die ihre Kraft in den Dienst eines aussichtslosen
Unternehmens gestellt haben. Man darf nicht vergessen, daß,
diesen Krieg verloren zu haben, keineswegs bedeutet, keine
Geschäfte gemacht zu haben. Gerade im Kriege kam der Wa-
rencharakter des Intellekts unvorteilhaft zur Geltung. Die
Haltung der deutschen Intellektuellen im Krieg bewies ande-
rerseits, daß die Intellektuellen, wenn ihr Gefühl an einer Sache
beteiligt ist, ihre eigenen »Ideen«, aber auch die anderer, zum
Beispiel toter Intellektueller oder, wo es besondere Mühe
kostet, mit einem bescheidenen Preisaufschlag, »in den Dienst
der Sache stellen können«. Sie führten den Nachweis, daß
Ideen keineswegs überflüssig sind, wenn es nicht möglich ist,
nach ihnen zu handeln, sondern daß Ideen sehr nützlich sind,
wenn sie das Handeln begründen können. Auch dadurch ent-
steht nämlich Einklang. Und gerade dies ist der Einklang, der
sich bezahlt macht.
Der eben erwähnte Befähigungsnachweis der Intellektuel-
len, sich im Klassenkampf nützlich zu machen (denn sie
machten sich natürlich, ob ihr Intellekt dazu ausreichte,
dies zu wissen oder nicht, nur dadurch im nationalen
Kampf, in dem sie sonst nicht brauchbar waren, nützlich,
daß sie sich im Klassenkampf auszeichneten), kann vom Pro-
letariat durchaus ernsthaft betrachtet werden. Es ist zu einer
Auswertung der Intellektuellen nicht nötig, dieselben Indi-
viduen zu engagieren, die bereits für den Krieg produziert
haben, obwohl auch dies möglich wäre, wenn man nur »ihr
Gefühl an der Sache beteiligt« (um Gefühle zu haben, sind
sie zu allem imstande - Gefühl genügt als Bezahlung). Die
Intellektuellen können einfach als eine einzige in ihrer Zu-
sammensetzung stabile Gruppe genommen werden, die auf
52 Zur Politik und Gesellsdiaft

Grund materialistischer Bedingungen konstituiert, durchaus


berechenbar reagiert. Das Proletariat kann also andere In-
tellektuelle benützen, sie werden zu den gleichen Bedingun-
gen arbeiten und die gleiche Wirkung erzielen.
Die Funktion, die sie zu erfüllen hätten (man kann sie hier
rein aus ihrem Verhalten während des Krieges bestimmen),
darf aber nicht verwechselt werden mit einer Funktion, die
das Proletariat, wie die Geschichte zeigt, schon Intellektuellen
zuerteilt hat, einer eminent wichtigen und ganz unentbehr-
lichen Funktion: der der Führung. (Die Wichtigkeit dieser
Funktion ergibt sich schon aus der Tatsache, daß es in den
historischen Fällen zumindest sehr schwierig ist, zu entschei-
den, ob diese Individuen wie Marx, Lenin und so weiter
vom Proletariat eine Funktion zugewiesen erhalten haben
oder ihrerseits dem Proletariat eine Funktion zuwiesen. Die
Luxemburg hat Lenin etwa eine Reihe von Äußerungen und,
was mehr ins Gewicht fällt, von Handlungen angekreidet,
die zu beweisen scheinen, daß Lenin, dessen Brauchbarkeit
für das Proletariat nicht angezweifelt werden kann, zu der
letzteren Ansicht neigte.) Das Proletariat beweist starken
Kampfinstinkt, indem es die Intellektuellen mit einer Reihe
historischer Brauchbarkeiten im Auge, mit äußerstem Miß-
trauen behandelt. Die Intellektuellen, welche gehorchen, in-
dem sie ihr Denken aufgeben, und welche der herrschenden
Klasse nicht fehlen, fehlen in einem anderen Sinne auch dem
Proletariat nicht: dem Proletariat die Intellektuellen, welche
denken.
Das berechtigte Mißtrauen des Proletariats bringt die In-
tellektuellen in ihre schwierige Lage. Sie unternehmen häufig
den Versuch, sich dem Proletariat zu verschmelzen, und ge-
rade dies beweist nicht, daß es verschiedene Intellektuelle
gibt, zweierlei Intellektuelle, solche, die proletarisch, und
solche, die bourgeois sind, sondern daß es nur eine Sorte von
ihnen gibt, denn haben sie früher nicht immer versucht, sich
der herrschenden Klasse zu verschmelzen? War dies nicht der
Marxistische Studien 53

Grund, warum der Intellekt seinen Warencharakter an-


nahm?
Wollen die Intellektuellen sich am Klassenkampf beteiligen,
so ist es nötig, daß sie ihre soziologische Konstitution als eine
einheitliche und durch materielle Bedingungen bestimmte in-
tellektuell erfassen. Ihre häufig zutage getretene Ansicht, es
sei nötig, im Proletariat unterzutauchen, ist konterrevolutio-
när. Nur Evolutionäre glauben an eine Umwälzung der ge-
sellschaftlichen Ordnung durch »Mittun«. Jene Intellektuel-
len, welche mittun, zum Beispiel, weil sie es für ungeheuerlich
halten, nicht mitzutun, spielen die Rolle des Stimmviehs in
parlamentarischen Demokratien, also eine evolutionäre Rolle.
Die wirklichen Revolutionen werden nicht (wie in der bour-
geoisen Geschichtsschreibung) durch Gefühle, sondern durch
Interessen erzeugt.
Das Interesse des Proletariats am Klassenkampf ist klar und
eindeutig, das Interesse von Intellektuellen, das ja historisch
feststeht, ist schwerer zu erklären. Die einzige Erklärung ist,
daß die Intellektuellen nur durch die Revolution sich eine
Entfaltung ihrer (intellektuellen) Tätigkeit erhoffen können.
Ihre Rolle in der Revolution ist dadurch bestimmt: Es ist eine
intellektuelle Rolle.
Der revolutionäre Intellekt unterscheidet sich vom reaktio-
nären Intellekt dadurch, daß er ein dynamischer, politisch
gesprochen, ein liquidierender Intellekt ist.
In einer nicht revolutionären Situation tritt er als Radika-
lismus auf. Jeder Partei gegenüber, auch einer radikalen,
wirkt er, wenigstens solang es ihm nicht gelingt, eine eigene
Partei zu gründen, oder solang er gezwungen ist, seine Partei
zu liquidieren, anarchistisch. [...]
Fragmentarisch
54 Zur Politik und Gesellschaft

Wozu braucht das Proletariat die Intellektuellen?

1. Um die bürgerlidie Ideologie zu durchlödiern.


Durch die Säure der materialistischen Geschichtsauffassung
werden die nackten Interessen der Bourgeoisie reingewaschen.
Die »ideellen« Mitläufer werden lahmgelegt. Der Klassen-
kampf wird verschärft.

2. Zum Studium der Kräfte, die »die Welt bewegen«.


Hauptsächlich in den nichtrevolutionären Situationen kann
eine revolutionäre Intelligenz die Revolution in Permanenz
halten.

3. Um die reine Theorie weiterzuentwickeln.


Durch die Notmaßnahmen, zu denen ihre Isolierung die rus-
sische Partei zwingt, könnte sich eine Theorie bilden, die ein
natürlicher Überbau ihrer ökonomischen Basis wurde. Die
Basis ist aber krankhaft.

Freiheit der Kunst


Jene Freiheit kann ihr nicht gegeben werden, die sie sich nicht
nimmt

Nichts aber ist schlimmer als die geheime Sklaverei. Denn ist
die Sklaverei eine öffentliche, ist ein Zustand als Sklaverei
erkannt, so gibt es wenigstens als einen denkbaren noch einen
anderen Zustand, nämlich den der Freiheit. Wird aber tat-
sächliche Sklaverei von allen als Freiheit angesprochen, dann
ist Freiheit nicht mehr denkbar: Nicht nur ist Sklaverei ein
natürlicher, sondern auch Freiheit ein unnatürlicher Zustand
Marxistisdie Studien 55

geworden. Alle Fortschritte der Menschheit beruhten darauf,


daß Sklaverei als solche entdeckt und so beseitigt wurde —
seien es Abhängigkeiten von der Natur oder solche von
Menschen.
Nichts ist verderblicher als die Haltung jener Leute, die, ge-
wisse Zustände, die zwar schon herrschend sind, deren Cha-
rakter aber noch nicht durchschaut ist, ohne weiteres sanktio-
nieren, sozusagen trotz allem im vornhinein, und jene als
naiv verlachen, die die Herrschenden beim Wort nehmen, um
ihre Taten als nicht zu ihren Worten passend aufzudecken, so
den Charakter der Zustände entlarvend.
Die bürgerlichen Republiken garantieren Gedankenfreiheit,
die »Wissenden« verlachen jeden, der diese Lüge glaubt oder
zu glauben vorgibt, indem er diese Gedankenfreiheit in An-
spruch nimmt, anstatt daß sie jene verachten, die diese Lüge
nicht bekämpfen - also sich selber. Aber sie verachten ja sich
selber!
Sie sagen: Wie kann man es von »diesem« Staat verlangen,
daß er freie Gedanken duldet? Müßten sie doch dann »die-
sen« Staat nicht dulden! Aber so dulden sie »diese« Gedanken
nicht!

[Verantwortlichkeit ökonomischer Zustände]


Viele von uns wehren sich gegen Beschreibungen der Welt, in
denen für alle Vorgänge auf dem Gebiet der Kultur ökonomi-
sche Zustände verantwortlich gemacht werden.
»Das ist zu einfach — einfach im gesellschaftlichen Sinn. Das
ist zu grob, nicht fein genug — fein im gesellschaftlichen Sinn.«
Die Physiker aber, welchen wir alle doch sehr verpflichtet
sind, die wir das elektrische Licht einschalten, wenn wir un-
sere Gedanken zu Papier bringen wollen, werden sich nicht
gegen eine Überlegung folgender Art sträuben. Wir machen
eine versuchsweise Annahme, unterstellen, ohne nach Beweisen
$6 Zur Politik und Gesellschaft

zu suchen, vielleicht mit stärksten Zweifeln, eine be-


stimmte Behauptung als wahr und untersuchen dann, ob in
diesem Falle, unter dieser vorläufigen, unbewiesenen, vielleicht
unrichtigen Voraussetzung, die wir einfach gemacht haben, ge-
wisse nicht bezweifelbare, uns allen bekannte Erscheinungen
verständlich würden. Wäre das der Fall, so müßte unsere ur-
sprüngliche Annahme natürlich noch lange nicht zutreffen, es
wäre erst noch nachzuprüfen, ob nur bei dieser Voraussetzung
die uns bekannten Erscheinungen gerade so und nicht anders
verlaufen müßten. Immerhin hätten wir auch schon vor letz-
terer Nachprüfung der ersten Annahme einiges Vertrauen ver-
schafft. Unsere Annahme soll sein:
»Beschreibung der Besitzverhältnisse. Aufrechterhaltung nur
bei Gewaltanwendung möglich. Undenkbarkeit für die Ent-
wicklung einer Kultur. Unter so tödlichen Gesetzen.«
Wäre zum Beispiel der Schriftsteller dann frei? Wenn nicht,
könnte er einfach, sichtbar, geknechtet werden? Wenn nicht,
wie würde er kontrolliert?
Fragmentarisch

Ober Freiheit
Die meisten Kopfarbeiter (Intellektuellen), welche für die Re-
volution sind, erwarten sich von ihr hauptsächlich die Frei-
heit. Von den Auswirkungen des kapitalistischen Systems
empfinden sie die große Unfreiheit am drückendsten. Sie kön-
nen am schnellsten gewonnen werden, wenn man ihnen zeigt,
daß die herrschenden politischen Verhältnisse furchtbare
Schranken für die freie Entfaltung der Wissenschaften bedeu-
ten, für alle menschliche Forschung und nützliche Praxis.
Viele Kopfarbeiter verstehen nun, daß eine Revolution, welche
sogleich ein Höchstmaß an persönlicher politischer Freiheit
herstellen würde, nur ein ganz kurzer Rausch wäre. Sie haben
ein eindrucksvolles Beispiel vor Augen. Die deutsche Revolu-
Marxistische Studien $7

tion von 1918 hat einige Freiheiten hergestellt. Da aber die


alte Wirtschaftsform, der Privatbesitz an Produktionsmitteln,
beibehalten wurde, konnten die Freiheiten auf keinem Gebiet
aufrechterhalten werden, ja, die Entwicklung der Dinge führte
zu einer größeren Unfreiheit auf allen Gebieten, als je zuvor
erlebt wurde. Denn die politische und jede andere Freiheit
hängt ab von der Ökonomie.

Über die Freiheit

Der Wunsch nach Freiheit ist die Folge von Unterdrückung.


Die Freiheit ist die Folge der Befreiung. Das erscheint ein Spiel
mit Wortern. Aber viele haben für die Befreiung nichts ge-
leistet, weil sie die Freiheit vor oder zugleich mit der Befreiung
haben wollten.

Die Unterdrückung ist meist etwas Besonderes, da sie eine Tä-


tigkeit ist und somit beschränkt; der Wunsch nach Freiheit da-
gegen ist etwas Allgemeineres - so, daß es oft schwierig ist,
gerade die Bedrückung ausfindig zu machen, die den eben allge-
meinen Wunsch nach Freiheit erzeugt, nämlich die eben beson-
dere Bedrückung, durch deren Beseitigung der allgemeine
Wunsch nach Freiheit verschwindet und eine besondere Freiheit
eintritt.

Das Beispiel hierfür ist: Ein zu enger Schuh erzeugt oft eine
Stimmung ziemlich unbegrenzter Gereiztheit. Kann sich der
Gereizte des Schuhes nicht entledigen, dann ist er oft bereit,
58 Zur Politik und Gesellschaft

gegen allerlei Zustände oder Menschen zu kämpfen, die ihn


ebenfalls (außer seinem Schuh) noch bedrücken. An seinem
Kampf teilzunehmen ist aber gefährlich; denn wenn er sich
seines Schuhes entledigt, bevor er sich in die weiteren Kämpfe
genug verwickelt hat, wird man nur zu oft allein weiterkämp-
fen müssen.

Entsteht der allgemeine Wunsch nach Freiheit durch wirtschaft-


liche Bedrückung (Fall des wirklichen Wunsches in unserer
Zeit), dann muß man wissen, daß nur durch wirtschaftliche Be-
freiung die Freiheit eintritt, aber der Wunsch geht nach vielen
Dingen, und manches davon ist der wirtschaftlichen Befreiung
nicht günstig.

[Reiner Geist?]
Jahre hindurch eine schlechte Politik sehend, eine Politik im
Interesse der Schlechtigkeit, erklären sie nunmehr Politik für
schlecht, jede Politik, auch eine im Interesse der Güte. Das ist,
als ob sie, eine schlechte Operation sehend, jedes Operieren
für schlecht erklärten.

Aber der reine Geist? Vertreten sie nicht den reinen Geist?
Nun, welchen reinen Geist meinen sie? Es trat viel Geist auf
in der Geschichte, er nannte sich immer rein, er trat ohne
Hände auf, nur mit Augen, so sah man nicht blutbefleckte
Hände.
Die in unserer Epoche den reinen Geist vertreten, meinen den
Geist des revolutionären Bürgertums vergangener Jahrhun-
derte. Damals vertrat das Bürgertum tatsächlich eine kurze
Zeit lang alle Unterdrückten und kämpfte tatsächlich für den
»Fortschritt«. Es forderte Freiheit für die Industrie und den
Marxistische Studien 59

Handel gegen alle feudalen Behinderungen, Gleichheit aller,


die «ine Ware verkaufen wollten, Brüderlichkeit selbst mit dem
Proletariat, das diese Industrie und diese Handelsgleichheit
brauchte wie sie. Die Parolen sind noch nicht außer Kurs. Zu-
sammengefaßt in nationalen Verbänden treten die bürgerli-
chen Herrschaftsbereiche gegeneinander auf und verlangen
Freiheit ihres Handels und ihrer Ausdehnung, Gleichheit aller
konkurrierenden Mächte auf den kolonialen Märkten, Brü-
derlichkeit einmal mit ihren eigenen Proletariaten gegen
die andern Nationen, zum andern mit den bürgerlichen Re-
gierungen gegen die Proletariate. Dieser Geist ist nicht
mehr sehr rein. Der Appell ist nicht mehr allgemein. Das
Proletariat ist nicht mehr interessiert an den Zielen, die
Ziele haben nicht mehr das Interesse des Proletariates im
Auge.

Perversionen (Verkehrtheiten) bei fixiertem K


Viele, die bei ihrer eigenen Tätigkeit nicht zögerten, aller-
hand hindernden Aberglauben wie manche störende Gewohn-
heit zu überrennen, zögern doch, der Menschheit solches Vor-
gehen zuzutrauen oder zuzumuten, und wenden sich gegen die
Möglichkeit des Fortschritts und finden es nötig, die Aussich-
ten der Vernunft gering anzusetzen. Sie sagen: Als die Men-
schen in der Stunde eine Geschwindigkeit von 30 Kilometern
erreichten, wurden sie von grenzenlosem Optimismus erfüllt.
Von diesem Optimismus war nur jener Teil berechtigt, der an-
nahm, man werde einmal 300 Kilometer Geschwindigkeit er-
reichen, und das war ein sehr kleiner Teil. Leute, die so spre-
chen, werden zornig, wenn man sie Enttäuschte nennt, denn
sie wollen nicht zugeben, daß sie törichte Erwartungen gehegt
haben; aber sie erwarten sich nichts mehr von einer weite-
ren Zunahme der Geschwindigkeit und nichts mehr von der
Auswirkung der bisher erreichten. Würde man ihnen sagen:
60 Zur Politik und Gesellschaft

Früher hattet ihr unrecht, jetzt habt ihr recht, wären sie doch
unzufrieden, es freut sie nicht, da recht zu haben. In Wirklich-
keit fühlen sie, daß sie früher und heute unrecht hatten. Es
ist falsch, sich von der Geschwindigkeit alles zu erwarten, und
es ist unrecht, sie aufzugeben, wenn sie, nur technisch, nicht
aber faktisch erreicht ist.

[Notizen über] Individuum und Masse


Unser Massebegriff ist vom Individuum her gefaßt. Die
Masse ist so ein Kompositum; ihre Teilbarkeit ist kein Haupt-
merkmal mehr, sie wird aus einem Dividuum mehr und mehr
selber ein Individuum. Zum Begriff »einzelner« kommt man
von dieser Masse her nicht durch Teilung, sondern durch Ein-
teilung. Und am einzelnen ist gerade seine Teilbarkeit zu be-
tonen (als Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven).
Was sollte über das Individuum auszusagen sein, solang wir
vom Individuum aus das Massenhafte suchen. Wir werden
einmal vom Massenhaften das Individuum suchen und somit
aufbauen.

Das Bürgertum hat keine Vorstellung von der Masse. Es teilt


immer nur Masse und Individuum, aber selbst dem Indivi-
duum gegenüber ist die Masse wieder sehr teilbar: Sie ent-
hält wieder Individuen, welche für das einzelne Individuum,
von dem wir ausgingen, unterscheidbar wichtig sind. Also
steht das Individuum nicht nur der Masse, sondern Gruppen
innerhalb der Masse gegenüber. Es spricht zu Gruppen, und
diese Gruppen erst sprechen zur Masse. Wer dies weiß, weiß
die Voraussetzung zu jeder Art von Organisation. Er be-
greift den kollektiven Apparat, der keine Demokratie ist. Der
Kollektivist setzt nicht seinen Gruppenapparat gegen die
Masse, sondern in die Masse hinein. Die Menschen wirken
aufeinander. Die Masse besteht nur aus Agenten. Der Kol-
Marxistische Studien &1

lektivist sieht die Menschheit als einen Apparat, der erst teil-
weise organisiert ist.

Zur Überwindung von Schwierigkeiten bilden sich in der Na-


tur Kollektive (Schwalben beim Nachdemsüdenfliegen, Wölfe
bei Hungerzügen und so weiter), negiert: Der Mensch ist
nicht vorstellbar ohne menschliche Gesellschaft. (Das Denken
des Individuums, das Denken findet anatomisch im Indivi-
duum statt, ist ohne die Sprache unmöglich, diese aber entsteht
in der Gesellschaft.)
Ein Kollektiv ist nur lebensfähig von dem Moment an und so
lang, als es auf die Einzelleben der in ihm zusammengeschlos-
senen Individuen nicht ankommt.

In den wachsenden Kollektiven erfolgt die Zertrümmerung


der Person.
Die Mutmaßungen der alten Philosophen von der Gespalten-
heit des Menschen realisieren sich: In Form einer ungeheuren
Krankheit spiegelt sich Denken und Sein in der Person.
Sie fällt in Teile, sie verliert ihren Atem. Sie geht über in ande-
res, sie ist namenlos, sie hat kein Antlitz mehr, sie flieht aus
ihrer Ausdehnung in ihre kleinste Größe - aus ihrer Entbehr-
lichkeit in das Nichts —; aber in ihrer kleinsten Größe erkennt
sie tief atmend übergegangen ihre neue und eigentliche Unent-
behrlichkeit im Ganzen.

Die kollektive Ehre: Aus dem Klassenbewußtsein. Das »Ge-


sichtverlieren« der Chinesen geht bis zum Selbstmord. (Wenn
niemand Dritter anwesend ist, erträgt der Kuli die Beschimp-
fung.) Das ist ein Selbstschutz des Kollektivs gegen das Über-
handnehmen von Persönlichkeiten auf Grund von Bedrük-
kung. Die Hausangestellten stehlen nach Maß des Einkom-
mens ihres Dienstherrn und sind dafür auf genaue Informa-
tion in Betreff desselben aus.
6z Zur Politik und Gesellschaft

Wodurch wird die »Eigenheit« des einzelnen garantiert?


Durch seine Zugehörigkeit zu mehr als einem Kollektiv.

Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein wider-


spruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer
Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist
darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Viel-
heit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand ge-
winnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß
darstellt.
Die Kausalität. Im Vergleich zu größeren Einheiten wie Klas-
sen, wo wir schon eher, wenn wir uns vor Verallgemeinerun-
gen hüten, Voraussagen machen können, sollten uns die Indi-
viduen nicht dazu verführen, eine andere Kausalität als die
von den Physikern die statistische genannte zu erwarten. Das
Mißverhältnis zwischen der Quantität der Einflüsse und
der Kleinheit des ihnen sich anpassenden Menschen, die sich
in der Unbestimmtheit und Geringfügigkeit der Folgen sei-
ner Handlungen kundgibt, ist zu groß. Es ist nur gut, hier
dem zu erwartenden Verhalten eine gewisse Unsicherheit zu
verleihen, das heißt das typische Verhalten jeweils mit einem
Fragezeichen zu versehen, wenigstens in der Rückhand noch
ein anderes mögliches Verhalten zu halten. Erst gut eingefügt
in großer und in starker Bewegung befindliche Bewegungen ge-
winnt das Individuum einige Sicherheit und ist kalkulierbar.
Die Marxisten tragen dem Rechnung, wenn sie auch das
»große« Individuum erst für verstehbar erklären, wenn es
mit großen Bewegungen großer Klassen verknüpft werden
kann, und sie verfahren auch dann noch am glücklichsten,
wenn sie ihm nicht völlig ausdeterminierte Eigenbewegungen
zuerkennen, einen gewissen Spielraum. Der »Durchschnitt«
ist eine wirklich nur gedachte Linie, und daher ist kein einzi-
ger Mensch in Wirklichkeit ein Durchschnittsmensch. Die völ-
lige Totheit der Type, ihre Billigkeit, Falschheit, Unlebendig-
keit ist notorisch.
Marxistisdie Studien 63

Es ist bei uns ausschlaggebend, welcher Schicht wir angehören,


und wir gehören einer übergehenden, den allgemeinen
Schwankungen sehr ausgesetzten Schicht an. Daher mag es
kommen, daß wir den Übergang zu gesellschaftlichen Ord-
nungen, die von großen Gebilden kollektiver Art beherrscht
werden, in besonders tiefer Weise empfinden.

[Betrachtung großer Ingenien]


Die Betrachtung großer bürgerlicher Ingenien bereitet be-
trächtliche Schwierigkeiten in einer Zeit, wo es darauf an-
kommt, die Entbehrlichkeit des Bürgertums schlechthin darzu-
tun und zugunsten der großen Ingenien dieser Klasse um so
weniger eine Ausnahme zu machen, als das Bürgertum ge-
rade die Ingenien als Vorwand und Beweis seiner Existenz-
berechtigung und der Nützlichkeit des von ihm geführten ge-
sellschaftlichen Systems benutzt.

Die Bekämpfung der negativen Seiten weit wirkender Inge-


nien ist durchaus nötig in Zeiten, wo sie eben noch wirken,
das Aufhören der Kämpfe leitet die Überwindung der Gei-
ster ein, und das Vergessen der Vorzüge beendet alles. Gerade
die »Ungerechtigkeit« gegenüber den unbestreitbaren, aber
nicht mehr verfochterien Vorzügen der großen Geister ist die
äußere Form ihrer Überwindung: die lebendigen Interessen
werden von ihnen nicht mehr geschädigt und nicht mehr be-
dient.

Die großen Ingenien tauchen in den jeweils führenden Klas-


sen auf und sind entweder am Zustandekommen der Füh-
rung oder der Entreißung beteiligt. Anders gesehen: Als groß
werden die Individuen bezeichnet, welche ihrer Klasse oder
der sie ablösenden zum Sieg verhelfen.
64 Zur Politik und Gesellsdiaft

Vor allem ist eine gewisse Erforschung des »Wesens« zu unter-


lassen oder zu bekämpfen, die im Grund nur die Unerforsch-
lichkeit des betreffenden Wesens und damit aller Wesen dartun
will.

Jene These, daß das Genie sich durchringe und dadurch sein
Genie beweise, daß es sich durchringe, gibt nur dem Wunsche
Ausdruck, nichts für das Genie zu tun. Das heißt, die Kon-
kurrenz der Individuen zum Zwecke der Auslese zu veran-
stalten, ohne ihnen den gleichen Start zu garantieren, also das
Examen über das Lehren [zu] stellen, was etwa den Berufseig-
nungsprüfungen der kapitalistischen , Gesellschaft entspricht,
die im Grund nur Prüfungen dieses Gesellschaftssystems sind,
und zwar solche, die es nicht besteht.

[Typus des intellektuellen Revolutionärs]


Es gibt einen Typus des intellektuellen Revolutionärs, der den
proletarischen Revolutionären verdächtig ist: Das ist jener
Typus, der sich von der Revolution eine durchgreifende Bes-
serung erwartet. Keineswegs unter einem unerträglichen
Druck stehend, sondern gleichsam frei entscheidend und das
Bessere wählend, entscheidet er sich für Revolution.

Über die beste Art, die Menschen


von ihren Klassenvorurteilen zu befreien
Wenn wir Vorurteile bekämpfen, müssen wir im Aug behal-
ten, daß sie kaum jemals einzeln auftreten. Sie hängen im-
mer mit andern zusammen, darunter solchen, die unter Um-
ständen zäher und für ihre Inhaber lebenswichtiger sind
als die gerade von uns bekämpften. Wir merken oft, daß unser
Mann ein Vorurteil nicht aufgibt, obwohl er unsern Argumen-
Marxistische Studien 65

ten keine Argumente mehr entgegenhalten kann, nicht ein-


mal das (für gewöhnlich äußerst ungern benutzte): er brauche
die betreffende Ansicht, um so existieren zu können, wie er
existiert. Gehen ihm die Argumente aus, so nimmt er an, sie
fehlten nur ihm selber, nicht aber, sie fehlten überhaupt. Von
der Erkenntnis aber, er sei ein schlechter Argumentator, bis
zu der Verachtung des Argumentierens ist der Schritt klein.
Wenn er meint, er brauche dies oder das, um existieren zu kön-
nen, meint er: um so existieren zu können, wie er existiert,
eine andere Art kann er sich natürlich nicht vorstellen. Wenn
wir mit ihm sprechen, müssen wir das immer im Aug behalten,
daß wir außer der Art, wie er existiert* noch eine andere Art
zu existieren für ihn bereithalten, sonst muß er befürchten,
uns läge mehr an unseren Argumenten als an seiner Existenz.

Über meinen Lehrer


Mein Lehrer ist ein enttäuschter Mann. Die Dinge, an denen
er Anteil nahm, sind nicht so gegangen, wie er es sich vor-
gestellt hatte. Jetzt beschuldigt er nicht seine Vorstellungen,
sondern die Dinge, die anders gegangen sind. Allerdings ist
er sehr mißtrauisch geworden. Mit scharfem Auge sieht er
überall die Keime zukünftiger enttäuschender Entwicklun-
gen.
Er glaubt fest an das Neue. So liebt er die Jugend, die für
mich nur unfertig ist. Aber er sieht sie noch voll Möglich-
keiten. So glaubt er auch an das Proletariat. Manchmal scheint
es mir, daß er sich verpflichtet fühlte, mehr zu tun, wenn er
weniger daran glaubte.
Mein Lehrer dient der Sache der Freiheit. Er hat sich selber
ziemlich frei gemacht von allerlei unangenehmen Aufgaben.
Manchmal scheint es mir daher, daß er, bestünde er weniger
auf seiner eigenen Freiheit, mehr für die Sache der Freiheit
tun könnte.
66 Zur Politik und Gesellschaft

Seine Hilfe bei meinen Arbeiten ist unschätzbar. Er entdeckt


alle Schwächen. Und er macht sogleich Vorschläge. Er weiß
viel. Ihm zuzuhören ist schwierig. Seine Sätze sind sehr lang.
So bringt er mir Geduld bei.
Er hat viele Pläne, die er selten ausführt. Ein heftiger Wunsch,
Vollkommenes zu geben, hält ihn vom Geben meist ab.
Er liebt es nicht, mitzuteilen, wie er auf seine oft überra-
schenden Schlüsse kommt. Es mag sein, daß er es selbst nicht
weiß, es kann aber auch sein, daß er damit dem alteinge-
wurzelten Laster aller Lehrer huldigt, sich selber unentbehr-
lich zu machen.
Er ist sehr für den Kampf, aber er selber kämpft eigentlich
nicht. Er sagt, es sei nicht die Zeit dazu. Er ist für die Revo-
lution, aber er selber entwickelt eigentlich mehr das, was ent-
steht.
Er kommt schwer zu Entschlüssen in Dingen seiner persön-
lichen Existenz. Stets behält er sich die größtmögliche Frei-
heit vor. Wenn etwas dadurch verlorengeht, selbst Wichti-
ges, ist er nicht traurig.
Ich glaube, er ist furchtlos. Was er aber fürchtet, ist das Ver-
wickeltwerden in Bewegungen, die auf Schwierigkeiten sto-
ßen. Er hält ein wenig zu viel auf seine Integrität, glaube
ich.
Auch beim Proletariat wäre er wohl nur ein Gast. Man weiß
nicht, wann er abreist. Seine Koffer stehen immer gepackt.
Mein Lehrer ist sehr ungeduldig. Er will alles oder nichts. Oft
denke ich: Auf diese Forderung antwortet die Welt gerne
mit: nichts.

[Über den Staat]


Ich will zum Beispiel leben mit wenig Politik. Das heißt, ich
will kein politisches Subjekt sein. Aber das soll nicht heißen,
daß ich ein Objekt von viel Politik sein will. Da also die Wahl
Marxistisdie Studien 67

nur lautet: Objekt von Politik zu sein oder Subjekt, nicht


aber: kein Objekt, kein Subjekt oder Objekt und Subjekt, muß
ich wohl Politik machen, und die Menge davon bestimme ich
auch nicht selber. Es ist bei dieser Sachlage wohl möglich, daß
ich mein ganzes Leben zubringen muß in politischer Betätigung
und es sogar dabei verliere.

Warum soll ich einen Staat wollen? Damit Ordnung herrscht?


Aber wir haben den Staat und haben die Unordnung. Und ich
will keinen Staat und keine Unordnung. Ich will keine Vor-
schriften und keine Rangstufen. Das ist alles selber Unordnung,
Folge und Ursache von Unordnung.
In dem Land, das unser Denken beschäftigt, wie kein anderes,
haben die Besitzlosen die Macht ergriffen. Sie haben im Laufe
von zwei Jahrzehnten auf vielen Gebieten Ordnung geschaffen.
Aber es gibt dort einen Staat, Vorschriften und Rangstufen,
Folge und Ursache von Unordnung, selber Unordnung.

Was immer noch die Ursachen des Staates sein mögen; eine
Ursache des Staates ist auch der Staat selber.
Das Haus ist gebaut, aber die Bauleute wollten nicht weggehen.
Bevor das Haus gebaut ist, können wir nicht einziehen, aber
wenn es gebaut ist, sitzen die Bauleute darinnen, und wir kön-
nen nicht einziehen. Ist es so mit dem Staat? Der Staat soll
gemacht werden, mit viel Sorge und Mühe, damit das Land und
die Fabriken an alle kommen. Dann soll er verschwinden. Und
dann verschwindet er nicht. Und da er nicht verschwindet,
kommen das Land und die Fabriken nicht an alle. Ist es so?
Könnte das drohen?
Selbst wenn es drohte, könnte es sein, daß ohne Staat das Land
und die Fabriken nicht an alle kämen.
Wenn dies aber wäre, müßten wir die Gefahr auf uns nehmen.
68 Zur Politik und Gesellschaft

Brechtisierung
Lenin gibt Anleitung in der Bekämpfung des Redens von der
Notwendigkeit.

Wenn einer anfangt von der Notwendigkeit zu reden und daß


Anfang und Grenze des menschlichen Handelns durch unüber-
windliche geschichtliche Tendenzen festgelegt sei, widersprich
ihm, denn er steht auf dem Boden der Tatsachen, er ist ein
Lobredner des Bestehenden, weil er seine Notwendigkeit mit
Gründen beweist. Alles ist notwendig gekommen, wie es ge-
kommen ist. Weil dieses so und das andere so, ja da ist nun
einmal alles so. Er ist ein Apologet.

Du mußt aber genau auseinanderlegen, was gegeben ist, ge-


nau feststellen, welche gesellschaftlich-ökonomische Forma-
tion zugrunde liegt und welche Gegensätze in ihr erzeugt wer-
den. Enthülle die Klassengegensätze, damit bestimmst du dei-
nen Standpunkt, und bekämpfe den Standpunkt des Apolo-
geten.
Sprich von jener Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung
leitet und daß sie dabei diese und jene Formen des Widerstan-
des der anderen Klassen hervorruft. Begnüge dich nie mit der
Rede von der Notwendigkeit, sondern stelle klar, welche
Klasse gerade diese Notwendigkeit festlegt. So bist du dem
Apologeten überlegen, denn du beschreibst die gegebene Art
von Notwendigkeit gründlicher und vollständiger. Nicht zu-
frieden mit dem Feststellen der Tatsachen — zeigst du ihren
Inhalt und zeigst, daß sie jede andere Möglichkeit eines Aus-
weges ausschließen als die Aktion der unterdrückten Klasse
selbst. Mit einem Wort: Tritt bei jeder Bewertung eines Ereig-
nisses direkt und offen auf den Standpunkt deiner Klasse, er-
greife in jeder Sache Partei.
Marxistische Studien 69

Objektivismus und Materialismus bei Lenin

Wende dich gegen solche Betrachtungsweisen wie den Objekti-


vismus, der Sätze setzt, die durch jedes Handeln rektifiziert
werden. Objektivistische Sätze machen für das Handeln kei-
nen Unterschied aus, scheinen zunächst als nur wertlos, sind
aber sogar schädlich, weil dadurch ganz bestimmte notwen-
dige Handlungen verhindert werden, so wie ganz bestimmte
notwendige Unterschiede unterdrückt werden.

Bekämpfe Sätze, welche durch bestimmtes Handeln rektifi-


ziert werden, wie den Satz »Große Männer machen die Ge-
schichte«, nicht als Objektivist, das heißt indem du Sätze
setzt, die durch kein bestimmtes Handeln rektifiziert wer-
den können, wie den Satz »Es gibt unüberwindliche gesell-
schaftliche] Tendenzen und so weiter«!

Wenn du die Notwendigkeit einer Reihe von Tatsachen fest-


stellst, so vergiß nicht, daß du selbst auch eine dieser Tat-
sachen bist, und bestimme die Notwendigkeit möglichst ge-
nau, sie braucht nämlich, um eine Notwendigkeit zu sein,
ganz bestimmtes Handeln.
70 Zur Politik und Gesellschaft

Welche Sätze der Dialektik praktiziert Lenin bei der


Kritik des Objektivismus-Subjektivismus?

Der Kampf gegen die große Ausbeutung durch Führerperso-


nen ist nicht möglich ohne die Verwandlung ihres Verhältnis-
ses zwischen Führer (oder Führergruppe) und Geführten aus
einem einheitlich gerichteten, und zwar außerzieligen in ein
zwieträchtiges, innerzieliges. Die Bewegung der Menschheit
als eines Ganzen nach außen, in der und gegen die Außenwelt
findet statt in der Form innerer Kämpfe. Ihre inneren
Kämpfe (der Gruppen und Individuen) finden statt in der
Form (und sind abhängig) von einer äußeren außerzieligen
Gesamtbewegung.
(Es kommt daher bei solchen Kämpfen der Gruppen darauf
an, welche Gruppe die Gesamtbewegung befördern oder sich
ihrer bedienen kann.) (Ebenso kommt es bei der außerzieligen
Bewegung darauf an, in welcher Weise die Gesamtbewegung
sich der kämpfenden Gruppen bedienen oder einzelne von
ihnen fördern kann.)

2 Satz von der Identität der Gegensätze (Korscb i bis 2)


Wenn du von einem Prozeß sprichst, so nimm von vornherein
an, daß du als ein handelnder Behandelter sprichst. Sprich im
Hinblick auf das Handeln! Du bist immer Partei: Organisiere
sprechend die Partei, zu der du gehörst! Wenn du davon
sprichst, was einen Prozeß determiniert, so vergiß nicht dich
selbst als einen der determinierenden Faktoren!
Marxistische Studien

Ableitung der drei Sätze in Korschs


»Why I am a Marxist« aus der Dialektik

Vordersatz: Forderung nach einem historisdien Ausweis des


Marxisten und Marxismus. Der spezifisdie Marxismus.
Entwicklungsgesetze des Denkens (Verallgemeinerns, Idealisie-
rens).
Hindrängen des Gedankens, der Aussage vom Klassengebun-
denen zum Allgemeinen, von der Erfahrung zur Doktrin,
vom zeitlich Bestimmten zum die Zeit Bestimmenden.

Der kritische Marxismus.


Drängen auf die Krise hin, Herauswicklung der Widersprüche,
die Kunst des praktischen Negierens, also einer Kritik, die,
der Entwicklungsgesetze eingedenk, im Hinblick auf eine be-
stimmte mögliche Lösung kritisiert.

Der Stellung beziehende, parteiische Marxismus.


Das Proletariat als A und O.

[Marx an die Proletarier]


Marx spricht die Arbeiter mit einem neuen Namen an: als
Proletarier (nicht als Proletariat).
Er fordert die Proletarier auf, in die Geschichte einzugrei-
fen.
Er sagt den Proletariern, daß sie in die Geschichte eingreifen
können.
ji Zur Politik und Gesellschaft

Marx entdeckt in der Geschichte eine Folge von Veränderun-


gen in der materiellen Produktion.
Marx belehrt die Proletarier, daß sie die materielle Produk-
tion verändern können.
Marx zeigt den Proletariern ihre Feinde, die die Änderung
der gegenwärtigen materiellen Produktion verhindern.
Er nennt den Feind der Proletarier beim Namen: Kapita-
listen,

[Bekämpfung des Reformismus]


Zur Bekämpfung des Reformismus in den Reihen der Arbei-
ter brauchte man eine quantitative Analyse der klassenmäßi-
gen Zusammensetzung der Volksmassen in Deutschland. Es
würde sich dann ergeben, daß die Arbeiterklasse Bündnisse
braucht, um die Mehrheit zu gewinnen. Diese Bündnisse
würde sie aber niemals zustande bringen, da nur eine voll-
ständige Arbeiterpolitik, das heißt der Sozialismus, Lösungen
böte. Je mehr aber diese vollsozialistische Tendenz sichtbar
würde, desto weniger würde sie die Bündnisse bekommen, je
nötiger diese Tendenz erschiene (und erschien), desto mehr
drängte sie die Kleinbürger- (Bauern-) schichten in Bündnisse
mit der herrschenden Klasse.

[Beurteilung von Sittenschilderern]


Sehr oft begegnen den Sittenschilderern solche, die ihnen, wenn
die Sitten schlecht sind, Schlechtigkeit vorwerfen. Die die Zer-
setzung schildern, werden als Zersetzer behandelt. Als ob es
besser für die Menschheit wäre, wenn Dunkel gebreitet wird
um das, was das Licht scheut! Wirklich, den Schilderern wird
zuviel zugetraut. Die Zersetzung der Sitten nämlich besorgen
weit stärkere Mächte. Die Kälte der »freien« Natur, fühlbar
Marxistische Studien 73

gemacht durch die Kälte der Menschen gegen die Menschen, die
unverschuldete Armut, durch unbesiegliche Ausbeutung nur zu
oft in ein Laster verwandelt, der Hunger, vor dem das Eigen-
tum sich nur durch Gewalt zu schützen vermag: das sind die
großen Zersetzer. Aber die Schilderer schildern die schlechten
Sitten mit verdächtiger Freude?! Die menschliche Natur erliegt
(und sei es menschlichen Zumutungen!), und diese melden es
fast triumphierend! Auch hier ein Irrtum! Wenn sie triumphie-
ren, so triumphieren sie meist nur über die Unwissenheit, das
Sichnichtswissenmachen oder die direkte Lüge. Denn die Schul-
digen, die sie nennen, soweit das Gesetz es zuläßt, wünschen
das moralische Elend, das sie durch das physische erzeugen,
nicht beleuchtet. Und gegenüber einem Elend, das ein solches
Maß erreicht hat wie das unsrige, erscheinen schon die Sich-
nichts wissenmachen den als Schuldige, ja sogar die Unwissen-
den! Das ist selten eine geheime Freude am Schmutz, was man
an den Schilderern schlechter Sitten bemerkt, viel häufiger eine
geheime Freude am Triumph eigener Unbestechlichkeit oder
naive Freude über das Gelingen des nicht immer leichten Nach-
weises.

[Grund für Verworfenheit]


Auf die Frage nun, welches denn der Grund für diese Verwor-
fenheit sei, die er so groß und umfassend überall vorgefunden
und beschrieben hat, kann für alle, welche nicht an eine Ver-
kommenheit ohne Ursache glauben wollen, der Marxismus
die Antwort erteilen.
Indem er einerseits die Menschen gegen übertriebene Forde-
rungen in Schutz nimmt, indem er das Versagen der Abhän-
gigen aus ihrer Abhängigkeit allein erklärt und sie so der An-
fechtung entbindet, in Ketten sich frei zu benehmen, mutet er
ihnen doch zugleich die große und unbeliebte Anstrengung zu,
diese Abhängigkeit der einen von den andern endgültig
74 Zur Politik und Gesellschaft

aufzuheben und Verhältnisse zu schaffen, die jede Form der


Unterdrückung, Verwertung, Verschlechterung der Menschen
durch die Menschen überflüssig machen. Freilich, damit sie
überflüssig gemacht werden können, müssen sie als notwendig
vorgestellt werden können. Dies ermöglicht der Marxismus
mit der Einführung der Organisation der Arbeit, also der
Art, wie die Menschen ihre Existenz sichern und verbessern,
in die geschichtliche Betrachtung. Gewisse Formen der Unter-
drückung und so weiter sind dann die Formen, an die diese
Organisation notwendig geknüpft ist. Im Laufe der Entwick-
lung werden andere Formen möglich und sichtbar, welche die
Unterdrückung und so weiter nicht mehr benötigen.

[Marx-Beschreibungen]
Man sollte sich endlich frei machen von dem unserer Zeit nicht
liegenden Ton der Marx-Beschreibungen, die eigentümlich
hartnäckig in dem Stil gehalten sind, der das zweite Drittel
des 19. Jahrhunderts kennzeichnet. Um sich dieses Stiles zu
bedienen: Zum Teufel mit diesen prächtigen Kerlen, wacke-
ren Kumpanen, echten Kämpfernaturen! Genug von der Lö-
wenbrust oder Löwenmähne Marxens, des verteufelten Moh-
ren! Lauter Freiligrath! Das sieht schon bei Delacroix etwas
besser aus. Aber Frankreich kolonisierte ja wenigstens tatsäch-
lich, während Deutschland wieder nur »im Geiste« partizi-
pierte. Zeigte man sich hier nach Kräften aufsässig, indem man
gegen die fischigen, wohltemperierten, abgemessenen tatsäch-
lichen Machthaber sich kraftgenialisch gebärdete, so nahm man
doch auch wieder genußvoll teil an dem Gefühl des Auf-
schwungs des Bürgertums, das sein Schäfchen ins Trockene ge-
bracht hatte und sein Pfund wuchern ließ. Die Biographen
stellen Marx am liebsten eine Miniaturbarrikade als Schreib-
tisch in seine Bücherstube, wofern nicht als Nippes auf sei-
nen Schreibtisch. Und aus diesem Schreibtisch könnte man um-
Marxistische Studien 75

gekehrt viel leichter eine Barrikade bauen! Dabei hat Marx


auf den besseren Daguerrebildern ein ganz angenehmes Aus-
sehen, nichts daran von einem Preisringer und Maulhelden.
Gelassenheit und Einfachheit sind in seiner Haltung ausge-
prägt. Die Kleinbürger möchten ihm gern ein Schurzfell um-
schnallen (wie sie es ja auch mit Bismarck machen, den sie
am liebsten als Schmied sich vorstellen), aber er hat eher das
Aussehen eines Ingenieurs und Erfinders, und niemand denkt
bei seinem Anblick an eine Werkstätte, jedermann an Büro,
Bibliothek und Konferenzzimmer. Die Farbigkeit der litho-
graphischen Drucke steht dem bürgerlichen Maschinenzeitalter
zwar zur Verfügung, aber nicht zu Gesicht. Der Marx der
üblichen Abbildungen könnte ein Buch - er hat bei Gott de-
ren genug konsumiert - nicht anders als mit ausgestreckten
Händen vor sich halten und hätte dann noch Mühe, über seine
Löwenbrust weg zu lesen. An das Rauchen einer Zigarre —
und auch davon hat er genügend konsumiert — ist bei diesem
Gipsguß nicht zu denken: Man stecke nur einer solchen [Büste]
eine Importe ins Gesicht, eine wahre Tempelschändung! Marx
führte ein durchaus großbürgerliches Leben: er wurde oft ge-
nug dafür getadelt. Seine Finanzbeschaffungsoperationen
stehen an Energie denen eines der kleinen, immerfort banke-
rotten Fürstentümer kaum nach. Sie haben weder etwas Dä-
monisches, noch etwas Spießiges. Er war weder appetitlos,
noch unersättlich. Man verschone uns endlich mit diesem Po-
panz eines Jupiter tonans!
j6 Zur Politik und Gesellschaft

Thesen zur Theorie des Überbaus


(Zweck: Die revolutionäre Bedeutung der Überbauarbeit)

Kultur, also Überbau, ist nicht als Ding, Besitz, Resultat einer
Entwicklung, in geistigen Luxus umgesetzte Rente, sondern als
selbst entwickelnder Faktor (eventuell aber nicht nur renten-
erzeugend) und vor allem als Prozeß anzusehen.

Ausdruck des kulturellen Bedürfnisses der Massen sind die Sit-


ten und Gebräuche, welche sich unter dem Druck der Ökonomie
und der Politik immerfort entwickeln und in unserer Zeit bei
klassenbewußtem Proletariat revolutionäre Funktion bekom-
men.

Unter den antagonistischen Faktoren, die im Schöße einer be-


stimmten Gesellschaft entstehen und zu ihrer Revolutionierung
führen, spielt als eine der Produktivkräfte die Technik eine
entscheidende Rolle. Zu dieser Technik muß gerechnet werden
auch die Denktechnik, welche sich nicht ohne weiteres auf je-
nes Gebiet beschränken läßt, auf dem sie zuerst entsteht. Das
dialektische Denken, das auf dem Gebiet der Ökonomie in Er-
scheinung trat und seine Existenz der Existenz des Proletariats
verdankt, greift mehr und mehr auf andere Gebiete über, bleibt
aber eine proletarische Denkweise.
Marxistische Studien 77

Im Zeitalter des Imperialismus ist keine Kultur mehr wesent-


lich national bestimmt. Sogar die bürgerliche Kultur ist we-
sentlich international - um wieviel mehr erst die proletarische!
Die kulturellen Einrichtungen des ersten proletarischen Staates
sind nicht durch dessen politische Grenzen begrenzt und wir-
ken, vom Proletariat bürgerlicher Staaten übernommen, revo-
lutionierend, gerade weil sie in ihrer Auswirkung und Entwick-
lung gewaltsam gehemmt werden. Es sind keineswegs Einrich-
tungen einer klassenlosen Gesellschaft, sondern im Gegenteil:
Es sind klassenkämpferische Maßnahmen des Proletariats.

5
Die Art, auf die Überbau entsteht, ist: Antizipation.

Was vernünftig ist, das wird wirklich, und was wirklich wird,
das ist vernünftig.

Die Dialektisierung aller Kategorien des Denkens ist unver-


meidlich, und von jedem Gebiet aus, das dialektisiert ist,
kommt man, wenn nur die politische Komponente gezogen
wird, zur Revolution.

8
Aufgabe der Dialektiker ist es, die verschiedenen Denkgebiete
zu dialektisieren und die politische Komponente zu ziehen.
78 Zur Politik und Gesellschaft

Was für die klassenlose Gesellschaft »vorgesehen« (in doppel-


tem Wortsinn!) wird, ist wirklich und gehört zum Überbau
dieser klassenlosen Gesellschaft, wenn es für ihre Entstehung
und Befestigung notwendig ist. Die klassenlose Gesellschaft
müssen die Menschen selber machen - vorläufig ist sie selber
eine Antizipation.

10

Überbau entsteht im Moment, wo er am nötigsten ist: dann,


wenn die materiellen Verhältnisse ihn nötig machen, damit sie
sich verändern (springen!) können. Im Moment der Revolution
erlebt er seine qualitative Veränderung. Die Menschheit nimmt
sich nichts vor, was sie nicht verwirklichen kann - sie muß sich
aber alles vornehmen!

Pädagogik
In allen bisherigen staatlichen Formen (sie sind auf Klassen-
unterschieden aufgebaut) erzeugte der Unterbau den ideolo-
gischen Überbau, die Kultur. Von dieser waren die weitaus
wichtigsten praktischen Ergebnisse zweifellos die Sitten und
Gebräuche selber. Daß diese auf den Unterbau wiederum ein-
wirkten, wurde von den Dialektikern immer betont. Im
neuen klassenlosen Staat (der kein Staat mehr ist) ist zum
erstenmal die Möglichkeit gegeben, diesen funktionellen Zu-
sammenhang bewußt zu bestimmen, die Beziehungen werden
direkt, Überbau und Unterbau bilden eine Einheit. Der Un-
terbau schafft Gebräuche, welche direkt wieder auf den Un-
terbau einzuwirken bestimmt sind, und zwar in Hinblick auf
Oberbau, oder die Oberbau-Dinge werden.
Marxistische Studien 79

[Aus:] Ist der Kommunismus exklusiv?


Viele, beinahe alle bürgerlichen Beurteiler der »Mutter« sag-
ten uns so, diese Aufführung sei eine Sache der Kommuni-
sten allein. Von solch einer Sache sprachen sie wie etwa von
einer Sache der Kaninchenzüchter oder Schachspieler, die also
recht wenige Menschen angeht und vor allem nicht beurteilt
werden kann von Leuten, die von Kaninchen oder Schach-
spielen nichts verstehen. Aber wenn schon nicht die ganze
Welt den Kommunismus für ihre Sache hält, so ist doch die
Sache des Kommunismus die ganze Welt. Der Kommunismus
ist keine Spielart unter Spielarten. Radikal auf die Ab-
schaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln ausge-
hend, steht er allen Richtungen, die sich durch was immer
unterscheiden, aber in der Beibehaltung des Privateigentums
einig sind, als einer einzigen Richtung gegenüber. Er erhebt
den Anspruch, die direkte und einzige Fortführung der gro-
ßen abendländischen Philosophie zu sein, als solche Fortfüh-
rung eine radikale Umfunktionierung dieser Philosophie, wie
er die einzige praktische Fortführung der abendländischen
(kapitalistischen) Entwicklung und als solche zugleich die ra-
dikale Umfunktionierung der entwickelten Wirtschaft ist.
Wir können und müssen darauf hinweisen, daß unsere Aus-
sagen keine beschränkt subjektiven, sondern objektive und
allgemeinverbindliche sind. Wir sprechen nicht für uns als
ein kleiner Teil, sondern für die gesamte Menschheit als der
Teil, der die Interessen der gesamten Menschheit (nicht eines
Teiles) vertritt. Niemand hat das Recht, daraus, daß wir
kämpfen, den Schluß zu ziehen, wir seien nicht objektiv. Wer
immer heute, um einen scheinbar objektiven Eindruck her-
vorzurufen, einen Eindruck, als kämpfte er nicht, hervorruft,
der wird bei genauerer Betrachtung auf einem hoffnungslos
subjektiven, die Interessen eines winzigen Teiles der Menschheit
vertretenden Standpunkt ertappt werden können. Er wird,
objektiv betrachtet, die Interessen der gesamten Menschheit
So Zur Politik und Gesellsdiaft

durch sein Eintreten für die Beibehaltung der kapitali-


stischen Besitz- und Produktionsverhältnisse verraten. Der
scheinbar objektive »linke« bürgerliche Skeptiker erkennt
nicht oder will nicht erkennen lassen, daß er in diesem großen
Kampfe mitkämpft, indem er die permanente, aber durch den
Usus langer Zeit dem Bewußtsein entrückte Ausübung der
Gewalt durch eine kleine Schicht nicht Kampf nennt. Es ist
notwendig, dieser besitzenden Schicht, einer entarteten,
schmutzigen, objektiv und subjektiv unmenschlichen Clique,
sämtliche »Güter idealer Art« aus den Händen zu schlagen,
gleichgültig, was eine ausgebeutete, am Produzieren gehin-
derte, sich gegen das Verkommen wehrende Menschheit mit
diesen Gütern weiterhin anzufangen wünscht. Zuerst muß
unter allen Umständen diese Schicht jeden Anspruchs auf
menschliches Ansehen verlustig gesprochen werden. ^Was im-
mer weiterhin »Freiheit«, »Gerechtigkeit«, »Menschlichkeit«,
»Bildung«, »Produktivität«, »Kühnheit«, »Zuverlässigkeit«
bedeuten sollen - bevor diese Begriffe nicht von allem gerei-
nigt sind, was ihnen von ihrem Funktionieren in der bürger-
lichen Gesellschaft anhaftet, werden sie nicht mehr gebraucht
werden dürfen. Unsere Gegner sind die Gegner der Mensch-
heit. Sie haben nicht »recht« von ihrem Standpunkt aus: das
Unrecht besteht in ihrem Standpunkt. Sie müssen vielleicht
so sein, wie sie sind, aber sie müssen nicht sein. Es ist ver-
ständlich, daß sie sich verteidigen, aber sie verteidigen den
Raub und die Vorrechte, und verstehen darf hier nicht ver-
zeihen heißen. Der dem Menschen ein Wolf ist, ist kein
Mensch, sondern ein Wolf. »Güte« bedeutet heute, wo die
nackte Notwehr riesiger Massen zum Endkampf um die Kom-
mandohöhe wird, die Vernichtung derer, die Güte unmöglich
machen.
1932
Marxistische Studien 81

[Untersdiied]
Nur wer sich vor Augen hält, daß ein Unterschied besteht
zwischen diesen beiden Sätzen, kann den zweiten, richtigen,
vollkommen verstehen.
Eines ist der Satz: Der Kommunismus ist das Ziel oder soll
das Ziel sein aller Menschen und ein anderes der Satz: Die
Sache des Proletariats, eben der Kommunismus, sei die am
allgemeinsten menschliche, breiteste und tiefste.

[Im Auftrag der Vernunft]


An einem grauen Morgen stehen in überfüllten Kammern
grauer Mietskasernen Leute auf, nehmen einen Topf mit
Farbe und gehen in kleinen Trupps auf die leeren Groß-
stadtstraßen. Sie stellen einen der ihren als Wache an die
Ecke und fangen an, eine Mauer mit großen ungelenken
Buchstaben zu bedecken. Sie verhalten sich vorsichtig, denn
sie sind in Feindesland; werden sie entdeckt, dann fällt man
über sie her und schlägt sie schnell tot - wenn sie Glück haben.
Warum schreiben sie? Werden sie nicht abgefaßt, dann stehen
einige Stunden lang auf der Mauer drei Buchstaben: KPD.
Was erwarten sie sich davon?
Wird der Leser lachen, wenn er liest, daß diese Leute das im
Auftrag der Vernunft tun, für die Sache der ganzen Mensch-
heit?

An wen wenden wir uns? An die Ohnmächtigen. Wen rufen


wir um Hilfe an? Die Hilflosen.
Proletariat und Ausbeutung

[Erschwernisse der Auseinandersetzung]


Wir Marxisten befinden uns bei unsern Kontroversen in einer
sdiwierigen Lage, da die Einwände, die wir den Behauptungen
unserer mäditigen Gegner entgegenstellen müssen, aus dem
gegnerisdien Wort- und Begriffsmaterial zu formulieren sind.
Das erschwert sogar unsere eigenen Auseinandersetzungen;
denn obwohl wir dabei über ein eigenes, ziemlidi präzises Be-
griffsmaterial verfügen, müssen wir dodi immer wieder mit
Begriffen oder Gegenüberstellungen arbeiten, die der von uns
bekämpften Ideologie entnommen sind. Wir tun es dann sozu-
sagen auf eigene Gefahr, aber der Leser, der sidi hineinbegibt,
kommt mitunter darin um.
Fragmentarisch

[Über den Anbruch gesegneter Jahrhunderte]


Müßte nicht die Menschheit angesichts all dieser Maschinen
und technischen Künste, welche ihr gestatten, sich leicht zu er-
nähren, den Eindruck haben, sich am Morgen eines langen rei-
chen Tages zu befinden, die rosige Morgenröte und den frischen
Wind verspüren, die den Anbruch gesegneter Jahrhunderte
anzeigen? Warum ist es ringsherum so grau, und warum geht
erst jener unheimliche Dämmerungswind, bei dessen Aufkom-
men, wie es heißt, die Sterbenden sterben?
Verfault eine herrschende Klasse, dann wird der Fäulnisgeruch
beherrschend.
Marxistische Studien 83

[Sklaverei]
Zukünftigen Geschlechtern muß die tödliche Abhängigkeit rie-
siger Menschenmassen von einigen Leuten, welche die Werk-
zeuge aller in Form gewaltiger Fabriken in ihren Händen hal-
ten, nicht weniger befremdlich erscheinen als uns die Sklaverei.
Sie werden nicht ohne Mühe ausfindig zu machen suchen, wie
dieser für beinahe alle doch so furchtbare Zustand so lang auf-
rechterhalten werden konnte.

[Die Zähne des Kapitalismus]


Der Kapitalismus fletscht keine anderen Zähne, als die ihm
eben gewachsen sind.
Es ist ganz richtig, daß die Demokratien einen milderen Ka-
pitalismus haben als die Autokratien. Das beweist nur, daß
die Entwicklung der kapitalistischen Staaten ungleichmäßig ist.

[Schlechte Ordnung]
Was bedeutet es, sich darüber zu beschweren, daß Leute sich
in Städten unserer Art schlecht benehmen?
Wenn in einem Lande die Vorteile, die man aus der Gemeinheit,
den Lastern der Unwissenheit und dem asozialen Verhalten
ziehen kann, bei weitem die Vorteile überwiegen, die man aus
einem andern besseren Verhalten haben könnte, dann ist das
Land schlecht geordnet.
Wenn in einem Lande die Kaufleute den Hunger schaffen, um
ihn zu erpressen, die Beamten die Verfassung mißachten, die
Richter Unrecht tun, indem sie die Gesetze ausführen, die Zei-
tungsschreiber um Zeilenhonorare Existenzen vernichten, die
Politiker ihre Wähler verraten, die Ingenieure ihre Erfindun-
gen gegen Entlohnung verschweigen, die Ärzte den Kranken
84 Zur Politik und Gesellschaft

statt der vorhandenen guten schlechte Medikamente verschrei-


ben, die Menschen einander den Arbeitsplatz, selbst wenn er
seinen Mann nicht nährt, abjagen, dann liegt es nahe, von der
Habsucht der Kaufleute, dem Hang zu Willkür bei den Be-
amten, dem zur Grausamkeit bei den Richtern, der Verant-
wortungslosigkeit der Zeitungsschreiber, der Doppelzüngigkeit
der Politiker, der Charakterlosigkeit der Ingenieure und Ärzte
und dem Mangel an Nächstenliebe bei allen Menschen zu spre-
chen. Alle diese Mängel mögen vorhanden, die Verurteilung
derselben berechtigt, ja notwendig sein, und dennoch kann es
schlimme Folgen haben, wenn man, ausschließlich davon re-
dend, ein Bild entwirft, wonach furchtbare und unheilbare Lei-
denschaften der Menschen die elenden Zustände eines Landes
verschulden.

[Erziehung guter Lebensbedingungen]


Wenn wir erkannt haben, welche ungeheure Rolle die Lebens-
bedingungen der Menschen für ihre Kultur spielen, werden wir
unsere Erziehung zunächst auf solche Eigenschaften richten,
welche gute Lebensbedingungen schaffen, das heißt Zustände
beseitigen, in denen schon das nackteste, primitivste Leben nur
durch unaufhörlichen, unbedenklichen Kampf gefristet werden
kann.

Was erzieht? Es erzieht der Hunger und die Art, wie er gestillt
werden kann. Es erzieht die Kälte und die Art, wie ein Obdach
oder die Kleidung errungen werden können. Es erzieht die Art,
wie die Menschen einander begegnen, wie einander zu begegnen
sie durch ihre Nöte gezwungen werden.
Es erziehen die schönen Künste nur, wenn sie nicht den Lebens-
kampf schwächen.
Marxistische Studien 85

Lange sah man ihn noch rudern. Bis zum Fall


Bemühte er sich, das Ufer zu gewinnen/Aber der Fall
Riß ihn doch hinab. Das Gefürchtete
Trat ein. Seinen Feind
Tötete er nicht, er blieb nicht am Leben. Aber
Seinem Mitkämpfer hinterließ er
Den Feind geschwächt.

So erzieht der Mangel an Brot in der Hütte zum Stehlen oder


die Bibel zum Hungern. Der eine Kartoffel haben muß, der
bückt sich, weil der Boden das erheischt oder der Herr. Solcher-
art ist die Erziehung zum Bücken. In den schlecht geleiteten
Ländern zeigen die Tugenden das Elend an. Wo man einen die
Gefahr verachten sieht, da ist vielleicht die Maschine ohne
Schutzgitter.

[Über die Ausbeutung]


"Wie soll in einem Zustand, wo der einzelne niemals restlos in
die Verwertung eingeht, wo also der eine vom andern jeweils
nur den Arm oder das Ohr braucht und brauchen kann, ver-
mieden werden können, daß lauter Krüppel herumlaufen, eben
Armlose, Ohrlose oder solche mit drei Armen und fünf
Ohren? Denn wo der Zustand der Ausbeutung herrscht, wer-
den auch die Ausbeuter ausgebeutet; dies ist nämlich dann die
einzig mögliche Form des Verkehrs zwischen den Menschen.
Wo der Zustand der Ausbeutung herrscht, wird die Liebe die
Form der Ausbeutung annehmen, ebenso aber auch der Haß,
und sowohl die Lehre als auch die Entgegennahme der Lehre
werden das Siegel der Ausbeutung auf der Stirn tragen. Ist der
Zustand unerträglich geworden, so geht, der ihm ausgesetzt
ist, unter, oder der Zustand wird beendet. Ist der Zustand für
den einzelnen unerträglich geworden, so geht er unter, oder
die Massen ändern den Zustand.
86 Zur Politik und Gesellschaft

[Pflicht und Verrat]


Was sind das für Leute und was für Ständen gehören sie an, von
denen man günstigsten Falles sagt: Er ist zwar ein Richter, aber
gerecht; er ist zwar ein Arzt, aber er versucht zu heilen; er ist
zwar ein Baumeister, aber er baut bewohnbare Wohnungen.

Die Organisation, welche die Sachen verbindet, trennt die


Menschen. Von allen Beziehungen, die sie haben zueinander,
bleiben die wenigsten übrig, die »sachlichen«. Die Verantwor-
tung, statt viele Träger zu bekommen, hat keinen mehr. An
vielen verschiedenen Punkten einer Sache dienend, scheinen alle
ganz verschiedene Interessen zu haben. Wenn sie sich bemühen,
zueinander zu passen, glauben sie ihre Pflicht zu tun; aber der
Architekt sagt: Wenn der Bauherr mir kein Geld bewilligt,
kann ich keine bewohnbaren Wohnungen bauen, und der Arzt
antwortet: Wenn die Wohnungen nicht bewohnbar sind, kann
ich die Menschen nicht gesund kriegen. Indem sie also ihre
Pflicht tun und zueinander passen, verrät jeder sich selbst und
verraten alle das Ganze.

Wenn man den einzelnen Richter freispricht, weil das »ganze


System«, nicht er, schuld sei, handelt man unverantwortlich.
Denn wenn er schon, dem System folgend und nicht seinem
Herzen, unrecht spricht, was tut er gegen das System?

[Für die Unterdrückten]


Genossen, bevor wir Sozialisten waren, waren wir Unglück-
liche. Bevor wir die Wahrheit des Marxismus gekannt haben,
haben wir die Wahrheit des Hungers gekannt. Aus dieser
Zeit des reinen und hoffnungslosen Elends haben wir uns
ein Gefühl für alle Elenden und Hoffnungslosen erhalten, und
die Unterdrückten aller Art sind die einzigen Nichtsoziali-
Marxistisdie Studien 87

sten, die wir achten. Genossen, unsere Freunde, die Neger,


sind keine Sozialisten, aber es sind Unglückliche. Wir haben
ein Gefühl für sie, und wir wünschen ihnen, daß sie wie wir,
nachdem sie unglücklich waren, Sozialisten werden mögen.

[Nutzen der Wahrheit]


In einer Zeit, wo das Kapital in seinem Verzweiflungskampf
alle seine Riesenmittel aufbietet, um jede ihm nützliche Vor-
stellung zur Wahrheit zu stempeln, ist Wahrheit in solchem
Maße eine Ware geworden, ein so fragwürdiges verzwicktes
Ding, abhängig von Käufer und Verkäufer, wiederum von
vielerlei Abhängigen, daß die Frage, was ist wahr, ohne die
Frage, wem nützt diese Wahrheit, nicht mehr zu lösen ist.
Wahrheit ist völlig ein funktionierendes Ding geworden, etwas,
was nicht ist (vor allem nicht ohne Menschen), sondern ge-
schaffen werden muß in jedem Fall, wohl ein Produktionsmit-
tel, aber ein produziertes!
Was sollen wir angesichts seines ungeheuren Nutzens für die
bestehende Unordnung halten vom metaphysischen Stand-
punkt, den Engels so beschreibt: (N. 2 . 8/357.)

Jener Zusammenhang der Krisen ist herzustellen, und wenn


uns nichts anderes zwänge, die metaphysische Betrachtungs-
weise aufzugeben, so wäre es völlig begründet durch die Not-
wendigkeit, zu der Erfassung dieser tieferen unheilbaren Ge-
samtkrise zu kommen. Allerdings erfordert diese Krise eine
Tätigkeit, sie ist eine Tätigkeit.

Geleitet von dem Verdacht, unsere Vorstellungen seien in die-


ser Warenwelt selbst längst zu Waren geworden (sie konnten
keine Güter bleiben), wollen wir nunmehr diese Vorstellungen
untersuchen, und zwar gerade auf diesen Warencharakter hin.
Schon fast zu lang haben wir, sprechend von solchen Dingen
gg Zur Politik und Gesellschaft

wie neues Lebensgefühl, Nachkriegsauffassung, Weltbild einer


neuen Generation, beinah alles Neuere als Voraussetzung ge-
lassen und so benutzt. Es wird Zeit nunmehr, diese Voraus-
setzungen zu konstituieren. Es sollen also ohne Rücksicht auf
Leser oder Schreiber, welche nur durch Interessantes inter-
essiert werden können, einzig bauend auf die nackte Notwen-
digkeit, Methoden der Vorstellungskritik angewendet und neue
Vorstellungen aufgebaut werden, welche sich durch ihre Nütz-
lichkeit legitimieren (Waffen brauchen nicht reizvoll zu sein
für den, der Waffen benötigt), und der Nutzen soll bemessen
werden an der unsere gesellschaftliche Welt umändernden
Kraft.

Das Proletariat ist nicht in einer


weißen Weste geboren
Was diese Kultur betrifft, so sind das befleckte Reste, bei den
großen Ausverkäufen, die ja den Bankerotten nicht nur nach-
folgen, sondern auch vorausgehen, liegengeblieben. Die Kultur
befindet sich in schauderbarem Zustand, und wenn man an-
nehmen wollte, sie sei vergewaltigt worden, so hat sie solchem
Akt jedenfalls kräftig Unterschub geleistet. Solcherart ist es
tatsächlich schwer, sie aus den Gänsefüßchen herauszubekom-
men. Aber sie wird von unseren Feinden angegriffen. Ist das
ein Grund für uns, sie zu verteidigen? Wir verteidigen nicht
alles, was unsere Feinde angreifen. Selbst der Faschismus macht
Versuche, gewisse aufgelaufene Schwierigkeiten allgemeiner
Art über den Haufen zu werfen und unhaltbar gewordene
Zustände zu liquidieren (in Deutschland die Politik der Kirche,
einige monarchische, partikularistische Strömungen, den Ver-
sailler Vertrag mit seinen Schulden und seinem Verbot des
Volksheeres und so weiter). Wie ist es mit der Kultur?
Wir wissen, vielleicht nicht genau genug und vielleicht nicht
leidenschaftlich genug, auch nicht im vollen Umfang, daß die
Marxistische Studien 89

bürgerliche Kultur auf dem Eigentum beruht, das heute als


Eigentum von Produktionsmitteln herrscht. Andererseits wis-
sen wir, daß diese Kultur heute in einigen Ländern abgebaut
wird, weil sie nicht mehr hergibt, was von ihr verlangt wird:
nämlich den Schutz des Eigentums. Die Kultur ist also etwas
ziemlich Widerspruchsvolles, wenn sie doch in einen solchen
Konflikt mit den Eigentumsverhältnissen geraten kann, die zu
schützen sie einstmals aufgebaut wurde. Denn sie bleibt nicht
etwa nur zurück, kommt nicht nur nicht mehr recht mit, wird
nicht nur preisgegeben, sondern aktiv und mit viel Tamtam
bekämpft. Man darf eben nicht vergessen, daß sie zugleich mit
der Verklärung des Eigentums seinerzeit auch einige Mitarbeit
an der Entwicklung der Produktivkräfte übernahm. Nunmehr
wird sie, in eine böse Sackgasse geraten, Farbe bekennen müs-
sen. Von ihr wird geopfert werden müssen, was den Produk-
tivkräften entgegensteht. Einiges wird da der Faschismus, sogar
er, opfern, und niemand wird wieder aufbauen, was da fällt.
Aber das an ihr, was immer noch an der Entwicklung der Pro-
duktivkräfte mitbeteiligt ist, wird verteidigt werden müssen,
und zwar gerade von uns und wohl bald nur mehr von uns.

Die Kultur spiegelt natürlich den Konflikt wieder, in den die


Produktivkräfte zu der Produktionsweise geraten sind; sie ist
selbst keineswegs ganz und gar reaktionär, einfaches Rudiment,
störende Fessel. Sie hat das Eigentum zu schützen, aber schützt
sie es? Schützt sie es ganz und gar, tut sie nichts anderes? Auch
die Produktionsverhältnisse hatten die Produktion zu organi-
sieren, wie ist es heute mit dieser Beziehung? Es kann kein
Zweifel sein, daß heute nicht wenige Kulturträger immer en-
ger sich an das Proletariat anschließen, die gewaltigste aller
Produktivkräfte. Die kulturelle Betätigung des Proletariats,
sein Lernen, sein geistiges Produzieren, findet nicht außerhalb
oder neben, also streng geschieden von der bürgerlichen statt.
Hier gibt es gemeinsame Elemente. Ebenso wie wir darauf
90 Zur Politik und Gesellsdhaft

bestehen müssen, daß bestimmte Gepflogenheiten, die Ele-


mente der Kultur waren, ihre Rolle ausgespielt haben und
nun Elemente der Unkultur geworden sind, gibt es andere
Elemente, die weiterbestehen, die in Bedrängnis geraten sind
und von uns verteidigt werden müssen. Die Basis unserer
Einstellung zur Kultur ist der Enteignungsprozeß, der im Ma-
teriellen vor sich geht. Die Übernahme durch uns hat den
Charakter einer entscheidenden Veränderung. Nicht nur der
Besitzer ändert sich hier, auch das Besitztum. Und das ist ein
verwickelter Prozeß. Was von der Kultur also verteidigen wir?
Die Antwort muß heißen: Jene Elemente, welche die Eigen-
tumsverhältnisse beseitigen müssen, um bestehenzubleiben.

Man könnte hier, um sich zu verständigen, eine Stelle bei


Proudhon, die von Lenin übernommen wurde, variieren.
Wenn die Bourgeoisie nicht mehr fähig ist, die Kultur zu orga-
nisieren, wie sie nicht mehr fähig ist, die Produktion zu orga-
nisieren;
wenn die alten Beschwörungen niemand mehr hört, weil jeder-
mann durch die Schreckensrufe der Vergewaltigten und Hun-
gernden taub geworden ist;
wenn Friedensliebe Schwäche bedeutet, Güte Selbstaufopfe-
rung;
wenn die Arbeiter, die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung,
die Wahrheit nicht mehr sagen dürfen und die Unwahrheit
hören müssen;
wenn die Nation ein Gegenstand der Verachtung, der Dienst
für sie ein Verbrechen geworden ist;
wenn die Erzieher die Handlanger der Totengräber sind, die
Erziehung nur Abgerichtete oder Hingerichtete hinterläßt;
wenn öffentliche Dienste nur durch Erpressung erreicht wer-
den können und die Erpressung an der körperlichen Schwä-
chung der Erpreßten scheitert;
wenn dieBelehrungnur mehr den Belehrenden nützt, denBelehr-
ten schadet, wenn sie dann nicht einmal dem ersteren mehr nützt;
Marxistische Studien 91

wenn die Musik dem Massenmord aufspielt, der Roman ihn


verherrlicht, die Philosophie ihn begründet;
wenn die Korruption nicht mehr geheimzuhalten ist, ihre Ab-
stellung keine Linderung des Elends mehr bedeutet;
wenn der Unterschied zwischen den Zuchthäusern und den
Wohnhäusern für die Arbeiter so gering geworden ist, daß
man in den [ersteren], um noch damit schrecken zu können,
die Folterung einführen muß;
wenn die Tugenden dazu herhalten sollen, die Verbrechen der
Oberen zu begleichen;
wenn das Volksvermögen der Vernichtung des Volkes durch
den Krieg dienstbar gemacht wird;
wenn der Krieg die letzte Ausflucht der Wirtschaft geworden
ist und nicht mehr gewonnen werden kann. [.. .]

Kurz: wenn die Kultur, ganz und gar zusammenbrechend, über


und über befleckt ist, fast schon ein System von Flecken, eine
wahre Sammelstelle von Unrat;
wenn die Ideologen zu verkommen sind, die Eigentumsver-
hältnisse anzugreifen, aber auch zu verkommen, sie zu vertei-
digen, so daß sie von den durch die willig, aber schlecht be-
dienten Herren weggejagt werden;
wenn die Wörter und Begriffe mit der Sache, dem Tun und den
Verhältnissen, die sie bezeichnen, überhaupt kaum noch zu-
sammenhängen, so daß man diese letzteren ändern kann, ohne
die ersteren ändern zu müssen, oder die Wörter ändern kann
und Sache, Tun und Verhältnisse im alten Stand belassen wer-
den;
wenn der nicht zum Toten Bereite keine Hoffnung mehr haben
darf, mit dem Leben davonzukommen;
wenn die geistige Tätigkeit so eingeschränkt wird, daß der Pro-
zeß der Ausbeutung selbst darunter leidet;
wenn den Charakteren nicht mehr die Zeit zugestanden wer-
den kann, die sie zum einfachen Umfallen brauchen;
92 Zur Politik und Gesellsdiaft

wenn der Verrat nichts mehr hilft, die Gemeinheit nichts mehr
einbringt, die Dummheit niemanden mehr empfiehlt;
wenn selbst der unersättliche Blutdurst der Pfaffen nicht mehr
ausreicht und sie weggejagt werden müssen;
wenn nichts mehr zu entlarven ist, weil die Unterdrückung
ohne die Larve der Demokratie, der Krieg ohne die der Frie-
densliebe, die Ausbeutung ohne die der freiwilligen Zustim-
mung der Ausgebeuteten einherschreitet;
wenn die blutigste Zensur jedes Gedanken herrscht, aber über-
flüssig ist, denn es werden keine Gedanken mehr gedacht;

so kann die Kultur vom Proletariat in demselben Zustand


übernommen werden wie die Produktion: in zerstörtem Zu-
stand. Denn auch die Produktion bekommt es nur, wenn sie
entwertet ist, durch Krieg oder Krise heruntergewirtschaftet,
und das Proletariat selber muß sich an dieser Zerstörung be-
teiligen.

Niemand kann doch erwarten, daß es sich bei diesem Erben


um ein friedliches fleißiges Hereinschaffen herrenlos im Regen
stehengelassener Güter handeln könnte.

Nichts ist frecher als die schlaue Trennung der Begriffe Kul-
tur und Zivilisation, mit der schon die Halbwüchsigen in den
Volksschulen bekannt gemacht werden. Da soll das eine das
Lebensnotwendige, mit Administration Zusammenhängende,
Komfort, Tempo, Verkehr, Hygiene Regelnde, eigentlich recht
Seichte sein; das andere hingegen etwas langsamer Wachsen-
des, mehr Organisches, schwer Beibringbares, Wertvolles,
Überflüssiges. Gerade der letztere Begriff zeigt besonders deut-
lich, daß hier ein und dasselbe gemeint ist — aber für zweierlei
Klassen, also etwas ganz unbeschreiblich Verschiedenes. Und
für die eine dieser Klassen ist der Überfluß überflüssig, das ist
klar. Während gewisse Rassen und gewisse Klassen zivilisiert
werden können, was mit einigen Kanonen und Kapitalien ganz
Marxistisdie Studien 93

leicht geht, hört man nichts davon, daß man sie auch kultivie-
ren könnte — was die betreffenden mehr oder weniger farbigen
Rassen betrifft, haben sie eigentlich Kultur, wenn die Kanonen
angerollt werden. Nur die Zivilisation ist nicht vollständig ge-
nug. Mit den gewissen Klassen ist es anders: Die Kanonen
werden meist angerollt, weil sie die Kultur bedrohen.

[Einfluß der Gegenrevolution]

Der Einfluß der Gegenrevolution auf die revolutionären


Ideen darf nicht unterschätzt werden. Kein Materialist würde
erwarten, daß die politischen, ökonomischen und sozialen
Positionen des Proletariats so brutal umgeworfen werden
könnten, wie es durch den Faschismus geschah, und die Ideen
der Proletarier oder die Ideen, die durch seine Existenz aus-
gelöst werden, völlig unversehrt bleiben könnten. Wohl kein
besserer Revolutionär wurde durch das Auftreten des Faschis-
mus von seiner Sache abgebracht, aber auch keiner wird seine
Anschauungen ungeprüft gelassen haben. Am ehesten un-
berührt mögen die gewesen sein, die sich als Baumeister des
Kommunismus betrachteten, diesen als die unvermeidliche
»nächste« gesellschaftliche Formation erwarteten und das Pro-
letariat als die Leute ansahen, die ihn zu »verwirklichen«
hatten. Sie sahen den Faschismus an, und siehe, er war noch
nicht die nächste Formation: Sie mußte also noch kommen.
Aus dem Propheten für morgen wurden sie einfach die von
übermorgen. Diejenigen aber, die den Kommunismus ledig-
lich als Lösung ganz bestimmter, benennbarer Schwierigkeiten
vorschlugen, ihn gleichzeitig natürlich auch als Ausnutzung
geschaffener ebenso bestimmter und behennbarer Möglichkeiten
herbeizuführen gedachten, mußten sich die Frage vorlegen, ob
sie nicht doch gewisse andere Auswege übersehen, andere
94 Zur Politik und Gesellschaft
Möglichkeiten außer acht gelassen hatten. Vielleicht hatten sie
sich überhaupt getäuscht in der Frage, welches die die Völker
im Grund bewegenden Kräfte sind?

Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des 2. Kaiserreichs


stehend, findet Sorel die »Sozialistische Geschichte der fran-
zösischen Revolution« von Jean Jaures »gespenstig«. Die Re-
volution hatte sich damit für ihn überlebt. Alle ihre Begriffe
schmeckten schal, abgestanden, antiquiert. Institutionen wie
das allgemeine Wahlrecht sahen nunmehr reichlich altmodisch
aus. Wir müssen heute Hitler keineswegs als den Vollstrecker
der sozialdemokratischen Ideale des ausgehenden 19. und be-
ginnenden 20. Jahrhunderts auffassen, um ebenfalls gewisse
Bestandteile unseres Wortschatzes von gestern erstaunlich alt-
väterlich zu finden.

[Zweierlei Versprechungen]
Der Arbeiter im Kapitalismus hat völlig recht, wenn er seinen
Wochenlohn zählt und auf die Versprechungen pfeift, die ihm
für die Zukunft gemacht werden. Er weiß, daß er am Ende der
Woche alles bekommen hat, was er bekommen wird aus der
Produktion, die er vollbracht hat. Außer seinen Lohn am
Ende der Woche hat er nichts zu erwarten; was er produziert
hat, geht ihn nichts an. Im Kapitalismus so zu denken ist für
den Arbeiter überhaupt der Beginn seines vernünftigen Den-
kens. (Es macht ihn sogar zum Atheisten, dies und nichts
anderes: Auch in der Religion sieht er vernünftigerweise nichts
anderes als Versprechungen, die nicht gehalten werden dürften.)
Er denkt nicht so, wenn er den Sozialismus aufbaut, und es
ist nunmehr seine Vernunft, die ihn nicht so denken läßt. Er
weiß, daß er nunmehr am Ende der Woche nicht alles erhält,
Marxistische Studien 95

was er aus der Produktion erhalten wird. Der Satz, daß man
nur hat, was man hat, ist ungemein wissenswert für den Ar-
beiter im Kapitalismus, der Anfang und die Quintessenz des
Materialismus. Aber der Kapitalist, als der Leiter der Pro-
duktion und ebenfalls Materialist, weiß, daß seine Fabrik,
die er hat, unter Umständen, zum Beispiel, wenn die Polizei
schlappmacht, nichts mehr ist, was er hat, daß sie schon im
Streik ein Haufen rostenden Eisens ist; er weiß, daß das,
was er hat, solang er etwas hat, die Arbeitskraft der Arbeiter
ist. Im Sozialismus ist der Arbeiter der Leiter der Produk-
tion und, was immer wieder gesagt werden muß, einer völlig
anderen Produktion, das heißt nicht nur einer Produktion mit
anderer Leitung. Lauten die Versprechungen der Faschisten ähn-
lich wie das, was sich der kommunistische Arbeiter verspricht,
so kommt das, es ist wahrhaft komisch, daß dies gesagt wer-
den muß, daher, daß es Versprechen gibt, die gehalten, und
Versprechen, die nicht gehalten werden.
Über revolutionären Kampf

[Aus einem] Traktat über die Mängel unserer Sprache


im Kampf gegen den Faschismus
Im Gegensatz zu vielen meiner heutigen Kampfgenossen bin
idi sozusagen auf kaltem Wege zu meiner marxistischen Ein-
stellung gekommen. Wahrscheinlich hängt das damit zusam-
men, daß ich ursprünglidi Naturwissensdiaften studiert habe.
Argumente wirkten auf midi begeisternder als Appelle an mein
Gefühlsleben, und Experimente besdiwingten midi mehr als
Erlebnisse. Dem Elend gegenüber reagierte ich als normaler
Mensch mit Mitleid, aber wenn man mir sagte: Große Massen
von Menschen hungern, dann fragte ich mich immerhin: Ist das
nicht unvermeidlich? Über unvermeidliche Übel zu jammern,
schien mir nicht vernünftig. Bei dieser Einstellung war es klar,
daß ich aufatmete, als mir Argumente dafür beigebracht wur-
den, daß dieses Hungern großer Menschenmassen vermeidlich
ist, und als ich von Versuchen praktischer Art erfuhr, durch be-
stimmte Änderungen in der Art und Weise, wie die Menschheit
das zum Leben Nötige beschafft, den Hunger aus der Welt zu
schaffen, ich meine das große russische Beispiel. Ich begriff
gern, daß es etwas Hinderliches, Unpraktisches in der Lebens-
weise der Völker gäbe, etwas Vermeidliches. Gut, dachte ich (ich
fasse viele Gedanken plump zusammen), dann kann ich dem
Mitleid mein Herz öffnen. Sie verstehen, ich verlangte nach
einer Art Rückversicherung, um Mitleid zu bestätigen, ich
fürchtete vielleicht, daß Mitleid ohne Aussicht einen Menschen
ohne Sinn zerstören könnte.
Fragmentarisch
Marxistische Studien 97

In den Zeiten der Schwäche


In den Zeiten der Schwädie fehlt es oft nicht an riditigen
Leitsätzen, sondern an einem einzigen. Von der Lehre paßt
ein Satz zum andern, aber welcher paßt zum Augenblick?
Es ist alles da, aber alles ist zuviel. Es fehlt nicht an Vor-
schlägen, aber es werden zuviele befolgt. Es fehlt nicht an
Wahrnehmungen, aber sie werden rasch vergessen. In den
Zeiten der Schwäche ist man engagiert, und man engagiert
sich nicht.

In den Zeiten der Schwäche ist vieles wahr, aber es ist gleich
wahr; ist viel nötig und kann weniges geschehen; der Aus-
geschaltete ist in Ruhe versetzt und hat keine Ruhe.

Fragen nach einer Niederlage

Wieso ist es eine Niederlage? Welche Hilfsmittel, Stellungen


und so weiter wurden verloren? Bestehen innerhalb des Pro-
letariats noch Illusionen? Ist die Niedergeschlagenheit zu
groß? Zu unbestimmt? Bestehen diesbezüglich Unterschiede
zwischen Partei und Proletariat? Innerhalb der Partei? Sind
Irrtümer zutage getreten? Können sie liquidiert werden,
stimmungsgemäß und technisch? Bietet die Niederlagesitua-
tion Ausnutzbares im Sinne der Stärkung der Partei? Gibt
es Kräfte Verschiebungen in der Partei? Wären solche wün-
schenswert?

Ist die politische Schwäche des Proletariats durch die Krise


verschuldet? Wird die Krise andauern? Wenn ja, kann es hier
98 Zur Politik und Gesellschaft
einen Umschlag geben? Hat im Fall eines Krieges das Prole-
tariat die Hand an der Gurgel der Produktion? Ist das Pro-
letariat allein imstande, unter bestimmten Umständen eine
Revolution zu machen? Wenn ja, wie kann es solche Um-
stände herbeiführen (helfen)? Genügt es, wenn die kleinbür-
gerlichen und bäuerlichen Klassen enttäuscht sind?

3
Wann werden diese Schichten enttäuscht sein? Was will der
Bauer? Unter welchen Umständen kann er es erhalten? Unter
welchen Umständen sieht er ein, daß er es nicht erhalten
kann? (So, daß er keine Revolution macht, weil die auch
nichts ändern würde - seiner Meinung nach.)

Kann das Proletariat die Landfrage lösen? In der russischen


Form oder in einer andern? Als diktierende Partei?

5
Welche sozialistischen Maßnahmen kann der Faschismus
durchführen?

Wie lange und wodurch kann er einen Krieg vermeiden? Kann


er in einem Krieg siegen?

[Die Partei]
Lenin hatte den Wunsch, daß es für die Revolution nur die
Partei gebe. Für alle Menschen, die die Revolution wollten,
Marxistisdie Studien 99

sollte nur sie in Betracht kommen. Alle Mißstände sollten


nur von ihr aus betrachtet werden. Alle Schritte zu ihrer
Beseitigung sollte nur sie ergreifen. Da muß die Partei aber
auch alles enthalten können, was Mißstände feststellt und zu
ihrer Beseitigung revolutionäre Schritte ergreift!

[Die praktischere Form]


Die modernere (praktischere) Form setzt sich durch unter
mehreren Formen gegen mehrere aufeinanderfolgende Geg-
ner. Nichts spricht so sehr für die Gewalt revolutionärer Art
der französischen Revolution als die Tatsache, daß ihre
Verräter ihr die Geschäfte besorgten. Nichts so sehr für die
Gründlichkeit ihres Erfolgs als der Umstand, daß sie Staats-
formen so unwichtig gemacht hatte, so zum bloßen Mittel,
daß ein Imperium ihre Ideen durchsetzen mußte und konnte.

Über die Beziehung


der internationalen Arbeiterparteien zur KPdSU
Der KPdSU wird von den verschiedenen Oppositionen der
Vorwurf eines nationalistischen Sozialismus gemacht. Es wird
der Verdacht geäußert, die KPdSU könnte die Interessen nicht-
russischer Parteien ihren eigenen aufopfern. Der sozialistische
Charakter der Sowjetunion wird bestritten: sie trete als na-
tionaler Verband auf, habe Staatscharakter, und ein Staat
handle eben als Staat. Eine solche Haltung der Sowjetunion
gegenüber scheint ganz besonders international. In Wirk-
lichkeit ist es eine Haltung, die den Internationalismus ledig-
lich als sittliches Postulat auffaßt, als eine Idee, die nur durch
das Proletariat verwirklicht werden kann und von ihm, da sie
erhaben oder sonstwas ist, verwirklicht werden muß. Die
Leute, welche diese Haltung einnehmen, haben bisher keinerlei
ioo Zur Politik und Gesellsdiaft

Beweis dafür erbracht, daß sie eine internationalistische


Politik der Proletariate zu praktizieren bereit sind. Sie ver-
stehen darunter anscheinend nur eine gegenseitige Sympathie
und Neigung, ihre Interessengegensätze, falls solche auf-
tauchen könnten, irgendwie schiedsgerichtlich auszugleichen.
Sie denken nicht daran, den Zeitpunkt für gegeben zu halten,
wo die Proletariate der verschiedenen Länder in Wirklichkeit
eine gemeinsame Politik machen können. Indem sie der So-
wjetunion vorwerfen, diese gemeinsame Politik zu verfolgen,
das heißt die proletarischen Interessen aller Länder als gemein-
same zu betrachten und zu verfolgen, indem sie der KPdSU
einen Strick daraus drehen, daß sie ihre eigenen Angelegen-
heiten als die aller anderen Proletariate betrachtet und be-
trachtet wissen möchte, geben sie selber eine internationale
proletarische Politik preis. Jedem Kommunisten, dem es mit
dem Internationalismus ernst ist, weil er die ökonomische und
politische Notwendigkeit einer solchen gemeinsamen Politik
für den Sozialismus und Kommunismus begreift, muß es ein-
leuchten, daß heute jede Arbeiterpartei außerhalb der Sowjet-
union ihre Politik der Politik der KPdSU einordnen und in
der Mehrzahl der möglichen Fälle unterordnen muß. Die So-
wjetunion würde heute, auch wenn sie sich weigerte, als
Nation aufzutreten, lauter Nationen gegenüber dennoch als
Nation dastehen. Sie kann auch nicht anders als als Staat
handeln. Aber Staat ist nicht Staat. Bauern sind auch nicht
Bauern, das heißt als solche Interessengegner der Arbeiter. Sie
können, wie das Beispiel zeigt, auch selber Arbeiter werden.
Die völlige Liquidierung des Staates kommt nur, wenn die
Ökonomie sie fordert. Der proletarische Staat kann aber ein-
zelne staatliche Züge liquidieren, wenn seine Ökonomie es
fordert.
Marxistische Studien 101

[Notiz] Über den Versuch


demokratischer Institutionen in der UdSSR
Für den Krieg ist die Einführung demokratischer Institu-
tionen notwendig. Sie wurde durdi die Stalinsche Partei ver-
sucht. Der Versuch hat noch keine Erprobung erfahren. Im
Krieg braucht man eine widerspruchsvolle Einheit von Demo-
kratie und Diktatur; man braucht durchaus beides. Hat man
die Demokratie, so muß man diktatorische Institutionen schaf-
fen, hat man Diktatur, braucht man demokratische. Man
braucht eine Stärkung der führenden Klasse durch einen Burg-
frieden mit den Geführten.

Über die Diktaturen einzelner Menschen


Der eingreifend Denkende hält wirtschaftliche Zustände von
Ländern noch für verbesserungsbedürftig, wenn noch Dikta-
turen von Klassen oder gar von einzelnen Menschen vorhan-
den sind.
Wie soll zum Beispiel die fortgeschrittenste Staatsform der
Welt, die des ersten großen Arbeiterstaates fertig sein, wenn
seine Wirtschaftsform noch so sehr verbesserungsbedürftig
ist?

Die Abschaffung der Klassen bedarf eines gewaltsamen An-


stoßes, aber sie ist eine große, langwierige und verwickelte Ar-
beit. An einem bestimmten Tage wird sie beschlossen, aber in
Jahren oder Jahrzehnten wird sie durchgeführt. Mit dem Be-
schluß der Entfernung sind die Klassen noch nicht entfernt,
so wie die Klassen nicht verschwinden, noch ihr Kampf auf-
hört, wenn es verboten wird, davon zu reden.
Diktaturen sind Werkzeuge der Unterdrückung. Zu jeder
Unterdrückung sind diese Werkzeuge nötig. Sind die Kämpfe
der unterdrückenden Klasse mit den unterdrückten Klassen
102 Zur Politik und Gesellschaft
sehr schwer, dann führen sie meist sogar zu der Diktatur ein-
zelner Personen innerhalb der unterdrückenden Klasse. Dies
kommt daher, daß die unterdrückende Klasse starke Diszi-
plin benötigt und den eigenen verschiedenartigen Interessen
nicht angesichts eines starken Feindes mächtigen Ausdruck
verleihen darf.

Das Leben unter den Diktaturen gleicht sich, so verschieden


auch die Zwecke und Arbeiten der Diktaturen sein mögen.
Niemand kann für die Verewigung eines solchen Lebens sein.
Aber niemand wird einem solchen Leben entgehen, der nicht
seine Anstrengungen gegen jene Zustände richtet, welche die
Unterdrückung verewigen. Es müssen jene Diktaturen unter-
stützt und ertragen werden, welche gegen diese Zustände der
ökonomischen Art vorgehen. Das sind nämlich Diktaturen,
welche ihre eigene Wurzel ausreißen.

Als das erste Drittel des 20. Jahrhunderts verstrichen war,


erblickte man auf der ganzen Erde nur noch große Diktaturen
einzelner Klassen oder sogar einzelner Menschen. Der einzelne
galt so entweder ungeheuerlich zuviel oder ungeheuerlich zu-
wenig. Über ganze Erdteile hinweg wurden Völker von ande-
ren Völkern unterdrückt, und sowohl bei den unterdrückten als
auch bei den unterdrückenden Völkern unterdrückten wieder
einzelne Klassen die andern. Die Wirtschafts- wie die Regie-
rungssysteme waren sehr verschieden, aber bei allen herrschte
Unterdrückung, und bei verschiedenen Völkern, wo ganz
verschiedene Klassen herrschten, hatten doch einzelne Men-
schen den Großteil der Macht in ihren Händen. Es gab
mehrere Staaten, deren Regierungssysteme eine Beteiligung
mehrerer oder aller Klassen an der Macht vorsahen, aber die
Art und Weise der Produktion war dort vollkommen im Inter-
esse bestimmter Klassen festgelegt, und nur darauf kommt es
an, denn nur im Hinblick darauf, auf die Produktion, können
Klassen sinngemäß unterschieden werden.
Marxistische Studien 103

So schien es für den einzelnen Menschen sehr schwierig, eine


Auswahl zu treffen, da er ja nur Diktaturen sah, wenn er
Diktaturen verabscheute.

Ohne die Unterdrückung jener Bauernmassen, welche den


Aufbau einer mächtigen Industrie in Rußland nicht unter-
stützen wollen, kann nicht ein Zustand eintreten, das heißt ge-
schaffen werden, in dem Diktaturen überflüssig sind. Den
Bauernmassen kann nur durch eine mächtige Industrie gehol-
fen werden. Sie müssen die Landwirtschaft selbst in eine In-
dustrie umwälzen. Das ist eine gewalttätige Sache.

Man kann nicht sagen: In dem Arbeiterstaat Rußland herrscht


die Freiheit. Aber man kann sagen: Dort herrscht die
Befreiung. [...]

Für die Bolschewiken entscheidet über Ablehnung oder For-


cierung der Diktatur (in der einzigen bisher aufgetretenen
Form, nämlich derjenigen, die in einem einzigen Mann gip-
felt) nur die Erwägung, ob eine solche die Produktivkräfte
hemmt oder entfaltet. Ob die Distribution bei einer Diktatur
zunächst größere oder kleinere Teile des Volkes befriedigt,
wird nicht gefragt, wenn sie nur nicht die Entfaltung der
Produktivkräfte entscheidend hemmt. Auch ob das Gefühl der
persönlichen Freiheit im großem (oder überhaupt) gesteigert
wird, soll nicht über Beibehaltung oder Abschaffung der Dik-
tatur entscheiden. Die Befreiung ist eine Befreiung der Pro-
duktivkräfte, alle persönliche Freiheit wird davon abhängig
gemacht. Sorge um persönliche Freiheit braucht man nicht zu
haben: Die Hoffnung bestand von allem Anfang an darin,
daß sie erlangt werden könnte durch die Befreiung der Pro-
duktivkräfte: anders konnte sie nicht, so mußte sie entstehen.
Auch die Produktion hat ja als Zweck natürlich die Distribu-
tion. An der Distribution kann dann die Entfaltung der Pro-
duktivkräfte gemessen werden.
104 Zur Politik und Gesellsdiaft

Ob die Diktatur des Proletariats, ohne die eine Befreiung der


Produktivkräfte nicht erfolgen kann, die (uns bekannte) Form
annimmt, in der sie in der Diktatur eines einzigen Mannes
gipfelt, hängt davon ab, ob in dem Land, in dem die Revo-
lution stattfindet, eine solche Form für die Entfaltung der
Produktivkräfte nötig ist oder nicht. Möglicherweise hängt es
auch davon ab, in wie vielen Ländern die Revolution glückt.
Der pure Wunsch nach persönlicher Freiheit entscheidet nicht
darüber.

[Über die Freiheit in der Sowjetunion]


Der Kampf gegen die Sowjetunion wird von vielen Intel-
lektuellen unter der Parole Für die Freiheit! geführt. Man
weist anklagend auf eine große Unfreiheit hin, in der sowohl
der einzelne Mensch als auch die Masse der Arbeiter und
Bauern in der Union leben sollen. Die Knechtung geht an-
geblich von einer Anzahl mächtiger und gewalttätiger Leute
aus, an deren Spitze ein einziger Mensch steht, Josef Stalin.
Die Parole wird ausgegeben und die Schilderung wird ent-
worfen nicht nur von Faschisten, bürgerlichen Demokraten
und Sozialdemokraten, sondern auch von marxistischen Theo-
retikern, welche in ehrlichem Kampf gegen Faschisten, bürger-
liche Demokraten und Sozialdemokraten stehen. Diese Theo-
retiker drücken zugleich die Gefühle und Meinungen vieler
Intellektueller aus. Sie würden bestreiten, daß sie einen Kampf
gegen die Sowjetunion führen, wenn ihre Gegner, die Fa-
schisten, bürgerlichen Demokraten und Sozialdemokraten, sie
als Bundesgenossen bezeichneten, sie würden sagen, sie seien
nur gegen den »Zustand, in dem sich die Sowjetunion gegen-
wärtig befindet«, gegen eine Anzahl mächtiger und gewalt-
tätiger Leute dort, gegen einen einzelnen Menschen, Josef
Stalin. Aber wenn die Sowjetunion in einen Krieg verwickelt
würde, kämen sie mit dieser ihrer Unterscheidung in große
Marxistisdie Studien 105

Schwierigkeiten, denn sie könnten die Sowjetunion nur be-


dingt verteidigen, nur, wenn sie sich von Stalin trennte, und
einen Sieg der Sowjetunion könnten sie nicht gutheißen, wenn
das ein Sieg unter Stalin, also, ihrer Meinung nach, ein Sieg
Stalins wäre. Und sie können nicht bestreiten, daß schon die
Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion durch ihre Argu-
mente »nur gegen Stalin« erleichtert wird.
Der Hauptgrund, warum ihre Argumente die Vorbereitung
des Krieges gegen die Sowjetunion erleichtern, besteht darin,
daß die Gegner der Sowjetunion auf Grund ihrer Argumente
sagen: Das, was ihr wollt, ihr Sozialisten, ist in Rußland ge-
macht worden. Ihr schriet nach Freiheit. Ihr gabt an, was
getan werden müßte, damit es Freiheit gebe. Nun, es wurde
gemacht, und jetzt sagt ihr selber: Da ist keine Freiheit. Da,
wo gemacht wurde, was ihr vorschlagt, ist keine Freiheit.
Ihr habt die ganze Ökonomie umgestürzt, ihr habt alle Be-
sitzverhältnisse geändert. Ihr habt immer gepredigt, Freiheit
gebe es nur, wenn die Ökonomie umgestürzt, der Privat-
besitz abgeschafft würde, und jetzt geschah das, und da ist
keine Freiheit.
Die Antistalinisten antworten, wenn das gesagt wird, nicht
direkt, sondern sie wenden sich wutentbrannt gegen die
»Stalinisten« (denn für sie sind alle, die heute für die So-
wjetunion sind, Stalinisten, das heißt von Josef Stalin be-
zahlte oder unterdrückte Leute) und sagen: »Da habt ihrs.«

Fragmentarisch

Die ungleichen Einkommen

Gide sah große Einkommensunterschiede, es gab keine Gleich-


heit der Einkommen. Er kam in der Epoche des Aufbaus, wo
106 Zur Politik und Gesellsdiaft

der Satz gilt: »Jeder nach seiner Fähigkeit, jedem nach seiner
Leistung.« Die Leistung wird gemessen an dem Wert, der für
den Aufbau der Produktion herauskommt. Die Bolschewiki
halten diesen Satz für einen vorübergehend zu praktizieren-
den. Sie rechnen mit einer Epoche, wo der Satz: »Jeder nach
seiner Fähigkeit, jedem nach seinem Bedürfnis« gelten soll.
Sie sehen die Praktizierung des ersten Satzes für notwendig
an zu der Schaffung eines Zustandes, der die Praktizierung
des zweiten ermöglicht und notwendig macht. Der Schlüssel-
punkt für das Verständnis des Prozesses, der den ersten Satz in
den zweiten verwandeln soll, bildet die Art der Produktion,
die hier aufgebaut wird. Würde es sich um eine solche Produk-
tion handeln, wie wir sie im Kapitalismus kennen, also eine
anarchische, eingeschränkte, in gewisser Hinsicht statisch ge-
haltene Produktion, dann bestünde wenig Aussicht dafür, daß
auf die jetzige Epoche eine so von ihr verschiedene folgt, wie
sie sein muß, damit der zweite, vom ersten so verschiedene Satz
in ihr praktiziert werden kann und muß. Wir wären auf die
Versprechungen der herrschenden Klasse angewiesen. Ver-
sprechungen zukünftiger gesetzlicher Bestimmungen, aber die
Produktion, die unter Praktizierung des ersten Satzes, der
große Ungleichheiten der Einkommen beinhaltet, aufgebaut
wird, ist keine kapitalistische Produktion, keine anarchische,
eingeschränkte, statisch gehaltene Produktion. Sie ist eine
sozialistische Produktion der größtmöglichen Menge, es gibt
keine Beschränkung, gegeben durch den Profit. Eine unüber-
sehbare Reihe von Mißverständnissen ergab sich seit wenigstens
einem Jahrhundert aus der Unfähigkeit vieler Menschen, den
Kommunismus als eine vor allem die Produktion betreffende
Lehre zu verstehen. Ausgehend von dem so weithin sichtbaren
Faktum der Fehlerhaftigkeit und Ungerechtigkeit des bürger-
lichen Systems der Konsumtion haben immer wieder gutwil-
lige und sympathische Leute im Kommunismus hauptsächlich
ein neues System der Verteilung der Güter gesehen und be-
grüßt. Sie haben die Produktion, ihre ungeheuerliche Fehler-
Marxistische Studien 107

haftigkeit und Ungerechtigkeit kaum ernsthaft studiert. Der


große Satz der kommunistischen Klassiker, der den Produk-
tivkräften die entscheidende revolutionierende Rolle gegen-
über der kapitalistischen Produktionsweise zuschreibt, ist
wenig verstanden worden. So wenig, daß das ständig sich
wiederholende Scheitern der sogenannten reformistischen Be-
wegungen, die nur auf die Konsumtion und nicht auf die Pro-
duktion Einfluß nahmen, die Produktionsverhältnisse im ein-
zelnen reformieren wollten, ohne die Produktivkräfte zum
Durchbruch zu bringen, dem Kommunismus selber in die
Schuhe geschoben werden konnte! Wie immer man zu der Er-
scheinung der Einkommensunterschiede im heutigen Rußland
stehen mag, niemand wird sie für eine wünschbare dauernde
Einrichtung halten, man hat sie zu beurteilen als etwas, was
zum Aufbau der Produktion sozialistischer Art nötig ist. Und
man [hat] davon Kenntnis zu nehmen, ob diese Art der
Produktion die These, daß diese Unterschiede verschwinden
werden, erlaubt oder nicht. Die Revolutionen sind nicht nur
juristische Akte; es kann nicht von einem zum anderen Tage
dekretiert werden, daß nunmehr Sozialismus zu herrschen
habe. Der Aufbau des Sozialismus ist der Aufbau einer so-
zialistischen Produktion mit allen juristischen Maßnahmen
wechselnder Art, die dazu nötig sind, mit einer ganzen Reihe
einander abwechselnder Stadien von Besitzverhältnissen,
welche diese Produktion, in ihrer Entwicklung, schafft.

Nach dem Schema F hätte nach der Revolution so etwas wie


eine Proletarisierung der technischen und anderen Intelligenz
eintreter müssen. Die beim Einsetzen der Revolution besser
konsumierenden Schichten hätten im Konsum nunmehr stark
heruntergesetzt und erst dann mit allen andern arbeitenden
Schichten zusammen gradweise zu reichlicherem Konsum wie-
der zugelassen werden dürfen. Nun, das Schema F hat nicht
108 Zur Politik und Gesellschaft

funktioniert. Innerhalb der Intelligenz hat es zwar große


Verschiebungen gegeben, die Einkommen betreffend. Ärzte
waren bis vor kurzem, Lehrer sind, wie ich höre, noch jetzt
verhältnismäßig schlecht bezahlt (wenngleich besser als unge-
lernte Arbeiter); aber die Techniker haben den vorrevolutio-
nären Standard mindestens gehalten, oft überschritten. Aller-
dings mag ein Umstand hervorgehoben werden: Die In-
anspruchnahme derer, die viel verdienen, ist enorm, ver-
glichen mit anderen Ländern. Sie arbeiten fast immer an meh-
reren Stellen, und ihre Einkommen sind so zusammengesetzt.
Im ganzen scheint es, daß der Lebensstandard, unter dem blei-
bend der Betreffende seine Arbeit nicht mehr vollwertig ver-
richten kann, keineswegs eine mechanische Größe, für alle
gleich, ist. Wir halten uns im Augenblick nicht in moralischen
Kategorien auf: Der Anspruch auf einen hohen Lebensstan-
dard kann dem Ingenieur nicht zugebilligt, dem Arbeiter aber
angewiesen werden; nur ist es, in der Sphäre der Produktion,
so, daß zur Erhöhung des letzteren die Produktion gesteigert
werden muß, was durch die Reduzierung des ersteren aber unter
Umständen vereitelt werden könnte. Die Steigerung der Pro-
duktion ist selber nichts Mechanisches, einfach Mengenmäßi-
ges; sie bedeutet eine völlige Umartung der Produktion, bei
der die Stellungsunterschiede im Produktionsprozeß, etwa die
der Stellung des Arbeiters und der des Ingenieurs, zunehmend
aufgehoben werden. Für die Arbeiter ergibt sich dann die
gleiche Notwendigkeit eines hohen Lebensstandardes wie für
den Ingenieur, und zwar von der Produktion her.

Die Umwandlung der alten Welt in die neue erfolgt nicht


außerhalb der Welt, wie das einige der Kritiker erwarten. Die
technischen Kenntnisse, die das Proletariat zu seiner giganti-
schen Aufgabe benötigt, laufen nicht körperlos, sondern sozu-
sagen in Form von Technikern herum. Man kann ihnen nicht
IO
Marxistisdie Studien 9

einfach in Form einer Expropriation ihr Wissen und ihre


Künste abnehmen, sondern man setzt sich in den Besitz dieses
Wissens und dieser Künste, indem man diese Menschen be-
schäftigt. Ihre Kenntnisse und ihre Künste mögen lange Zeit
Mittel für sie gewesen sein, sich allerhand Vorteile in Form
eines hohen Lebensstandards zu verschaffen, sie werden solche
Mittel eine noch ein wenig längere Zeit bleiben können, wenn
es sich herausstellt, daß der hohe Lebensstandard seinerzeit
nunmehr die Kenntnisse und Künste verschafft. Was wir Profit
nennen, ist etwas ganz anderes als nur Mittel zu einem hohen
Lebensstandard für einzelne Leute; aber der Kapitalismus hat
nicht nur Profite erzeugt, sondern auch die moderne Produk-
tion. Die sozialistische Revolution hebt den Profit auf zugun-
sten der Produktion; sie kann nur gesteigert werden durch
Aufhebung des Profits, es wäre ganz sinnlos, die Produktion zu
gefährden oder zu ruinieren durch eine mechanische Reduk-
tion des Lebensstandards solcher Kräfte, die für den Aufbau
und Umbau der Produktion nötig sind. Um zu Gide zurück-
zukehren. Es würde von uns als ganz außergewöhnlich ver-
dienstlich gepriesen werden, wenn Gide oder seinesgleichen
dem Arbeiter im Kapitalismus klarmachen würde, daß er
allen Versprechungen der herrschenden Klassen und ihrer
Handlanger entgegen seinen Wochenlohn betrachten müsse.
Es gibt keinen ernsteren und aufrichtigeren Rat. Weder der
bürgerliche Pazifismus noch die bürgerlichen Religionen, so-
weit sie noch moralische Ambitionen haben, können dem Ar-
beiter etwas besseres raten. Und es gibt keine schlechteren
Apologeten des sozialistischen Aufbaus als diejenigen, die in
der Sowjetunion den Arbeiter solche Dinge wie »das beseeli-
gende Bewußtsein, sich einer großen Sache zu widmen,« ge-
winnen und seinen vielen Entbehrungen und Anstrengungen
keinen irdischeren Lohn winken lassen. Gide wittert die
Schwäche solcher Apologeten, hält sie jedoch nicht für schlechte
Apologeten, sondern für Apologeten einer schlechten Sache.
Und anstatt seinen Rat, den Wochenlohn zu betrachten, dem
i io Zur Politik und Gesellschaft
Arbeiter des Kapitalismus zu erteilen, erteilt er ihn dem Ar-
beiter der Sowjetunion. Worin liegt das Lächerliche dieses Vor-
gehens?

In diesen Sätzen ist von Freiheit die Rede. Freiheit ist allem
Anschein nach etwas sehr Allgemeines, Einfaches. Was es ist,
weiß doch wohl jedermann, der Sohn, dem der Vater das Stu-
dium vorschreibt, die Frau, die der Vater verheiratet und der
Ehemann gefangen hält, der Arbeiter, dem der Polizist die
Flugblätter aus der Hand reißt, der Schriftsteller, dem der
Redakteur den Artikel verstümmelt. Etwas so Einfaches wie
die Freiheit zu sehen, kam der alte Mann in das Land der
Sowjets, aus einem Land, wo soviel Unfreiheit herrschte. Was
er sah und hörte, erfüllte ihn mit Erstaunen und nicht mit
freudigem.
Er hörte, daß man in diesem Land, dem Land der Freiheit,
über Freiheit sonderbare Anschauungen hatte. Die Freiheit
galt hier keineswegs als etwas so ewig gleich zu Definie-
rendes, Allgemeines und Einfaches. In einer gewissen Weise,
hörte er, sei er selber eigentlich aus einem Land der Freiheit
gekommen. Man schlug ihm die kommunistischen Klassiker
auf, die großen Verdammer der Unterdrückung, und zeigte
ihm, daß sie zum Beispiel den Arbeiter in den kapitali-
stischen Ländern als im Zustand der Freiheit befindlich be-
zeichneten. Allerdings waren sie, wie immer, ziemlich genau
in ihren Ausführungen und sagten sogleich, was für eine Frei-
heit sie da meinten: die Freiheit von Produktionsmitteln.
Und das war keineswegs ironisch gemeint. So wenig ironisch,
daß sie zum Beispiel den Arbeitern abrieten, eigene Häuschen
zu erwerben, wo dies möglich schien, um nur ja diese Freiheit
zu bewahren. Nun, das waren eigentümliche Anschauungen.
Der berühmte Reisende war nicht gesonnen, zuzugeben, daß
er nicht wüßte, was Freiheitsdrang ist, jener universelle, ewige,
Marxistisdie Studien m

unverkennbare Drang, der doch gerade dadurch das Interesse


großer Reisender verdiente, weil er so universell und ewig
ist. [. . .]
Ende 1936, fragmentarisch

[Über die Moskauer Prozesse]

Dies ist meine Meinung, die Prozesse betreffend. Ich teile sie,
in meinem isolierten Svendborg sitzend, nur Ihnen mit und
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen, ob eine Argu-
mentation dieser Art Ihnen nach Lage der Dinge politisch
richtig erscheint oder nicht.

Was die Prozesse betrifft, so wäre es ganz und gar unrichtig,


bei ihrer Besprechung eine Haltung gegen die sie veranstaltende
Regierung der Union einzunehmen, schon da diese ganz
automatisch in kürzester Zeit sich in eine Haltung gegen das
heute vom Weltfaschismus mit Krieg bedrohte russische Prole-
tariat und seinen im Aufbau begriffenen Sozialismus verwan-
deln müßte. Die Prozesse haben auch nach der Meinung er-
bitterter Gegner der Sowjetunion und ihrer Regierung mit aller
Deutlichkeit das Bestehen aktiver Verschwörungen gegen das
Regime erwiesen und daß diese Verschwörernester sowohl Sa-
botageaktionen im Innern als auch gewisse Verhandlungen mit
faschistischen Diplomaten über die Einstellung ihrer Regie-
rungen bei einem eventuellen Regimewechsel in der Union
durchgeführt haben. Ihre Politik beruhte auf Defaitismus und
hatte die Herbeiführung von Defaitismus zum Ziel. Zweifel
an der Möglichkeit eines Aufbaus des Sozialismus in einem
Lande, Überzeugtheit von der Dauer des Faschismus in andern
Ländern, die Theorie von der Unmöglichkeit, die unentwickel-
ten Randgebiete unter Überspringung des Kapitalismus wirt-
schaftlich zu entwickeln, werden von allen Angeklagten, soweit
sie politisch argumentieren, zugegeben. Die psychologische
112 Zur Politik und Gesellschaft

Seite der Prozesse ist inzwischen immer mehr eine politische


Angelegenheit geworden. Die sympathisierenden Intellektuel-
len erschrecken ehrlich über die Geständnisse. Sie halten es
für unmöglich, daß die als große Revolutionäre bekannten
Angeklagten sich zu solchen Delikten wie Wirtschaftssabo-
tage, Spionage (und dazu bezahlter!) und Morden (und dazu
an Gorki!) bekennen würden ohne irgendwelchen unhumanen
»Druck« von Seiten der Untersuchungsbehörden; insbesondere,
da diese fast ganz unbekannt sind, was ihre eigene revolu-
tionäre Vergangenheit betrifft. Für das Vorliegen eines solchen
Drucks gibt es an sich sowenig Beweise wie dagegen. Für ihn
macht man geltend, daß die Geständnisse weit über ver-
nünftigerweise denkbare Vergehen hinausgehen und eine Reue
voraussetzen, die wieder eine absolute Einsicht in die eigene
falsche Konzeption voraussetzt: Es fragt sich also zunächst, ob
eine politische Konzeption denkbar ist, die die zugestandenen
Handlungen der Angeklagten motivieren könnte. Eine solche
Konzeption ist denkbar. Die unerläßliche Grundannahme
einer solchen Konzeption wäre: eine unüberbrückbare Kluft
zwischen dem Regime und den Massen, und diese Kluft müßte,
um eine Politik wie die der Angeklagten zu motivieren, nicht
nur als Kluft zwischen einem hohen Funktionärkörper und
den Massen der Arbeiter und Bauern, sondern als Kluft zwi-
schen der Kommunistischen Partei im ganzen und diesen Mas-
sen angesehen werden (denn der Apparat allein wird kaum den
Verlust jedes Krieges herbeiführen können). Ein solches Phä-
nomen könnte wiederum nur auf dem Zutagetreten unver-
einbarer Interessengegensätze zwischen Arbeiter- und Bauern-
schaft beruhend gedacht werden. Man müßte eine völlige
Unmöglichkeit für die Beherrschung der Produktion durch die
Arbeiterschaft annehmen, damit dann auch eine Unmöglichkeit
für die Beherrschung der Armee durch die Arbeiterschaft.
Nähme man diese Unmöglichkeit an, könnte man zu einer
Politik der Sabotage versucht sein: um die im Gange befind-
lichen Experimente vor einer totalen Schwächung des Prole-
Marxistisdie Studien 113

tariats als utopisch zu enthüllen. Außenpolitisch müßte man


sich auf Zugeständnisse gefaßt machen von der Art, wie sie
in den Prozessen besprochen werden. Das Ganze ist eine
Konzeption, die jedem Sozialdemokraten zuzutrauen wäre.
So denkbar also eine solche Konzeption ist, so denkbar ist
es, daß sie als falsch eingesehen werden kann. Dies besonders,
da sich das soziale Leben auf Grund der stürmisch fortschrei-
tenden Produktionsausweitung sehr rasch verändert. Die für
Revolutionäre so belastende Zusammenarbeit mit kapitalisti-
schen Generalstäben könnte auch »bloß« eine solche mit Ein-
zelpersonen sein, die von diesen ausländischen Stellen bezahlt
sind. Das macht im Endeffekt keinen Unterschied, weder für
die Anklage, noch für die Angeklagten. Sie sehen sich eben
umringt von jedem Gesindel, das an solchen defaitistischen
Konzeptionen Interesse hat. Einzugehen auf die Frage, ob sich
die Sowjetunion in ihrer jetzigen Lage imstande sieht, bei der
Aufdeckung und Diffamierung lebensgefährlicher Verschwö-
rungen mit konterrevolutionärer Tendenz den Forderungen des
bürgerlichen Humanismus nachzukommen, ist da ganz müßig.
Lenin selbst hat im Verlauf der großen Revolution, als er
den Terror verlangte, immer wieder gegen die rein forma-
listische Forderung, nach einem, dem tatsächlichen gesellschaft-
lichen Zustand nicht entsprechenden, in factum konterrevolu-
tionären Humanismus schärf stens protestiert. Damit wird nicht
der physischen Folterung das Wort geredet, eine solche kann
unmöglich angenommen werden und braucht auch nicht an-
genommen zu werden.

Die Leute reagieren so: Wenn ich höre, daß der Papst ver-
haftet wurde wegen Diebstahls einer Wurst und Albert
Einstein wegen Ermordung seiner Schwiegermutter und Erfin-
dung der Relativitätstheorie, dann erwarte ich, daß die bei-
den Herren das leugnen. Gestehen sie diese Vergehen, dann
nehme ich an, sie wurden gefoltert. Ich meine keineswegs,
ii4 ^ u r Poetik und Gesellschaft

daß die Anklage so oder ähnlich ist wie meine Karikatur,


aber für hier wirkt sie so. Was wir zu tun haben, ist: sie be-
greiflich zu machen. Wenn die in den Prozessen angeklagten
Politiker zu gemeinen Verbrechern herabgesunken sind, so muß
für Westeuropa diese Karriere als eine politische erklärt
werden; das heißt diese Politik als zu gemeinen Verbrechen
führend. Hinter den Taten der Angeklagten muß eine für sie
denkbare politische Konzeption sichtbar gemacht werden, die
sie in den Sumpf gemeiner Verbrechen führte. Solch eine Kon-
zeption ist natürlich leicht schilderbar. Sie ist durch und durch
defaitistisch, es ist, bildlich gesprochen, Selbstmord aus Furcht
vor dem Tod. Aber es ist einleuchtend, wie sie in den Köpfen
dieser Leute entstanden sein mag. Die ungeheuren natürlichen
Schwierigkeiten des Aufbaus der sozialistischen Wirtschaft bei
rapider und immenser Verschlechterung der Lage des Prole-
tariats in einigen großen europäischen Staaten lösten Panik
aus. Die politische Konzeption dieser Panik geht auf politi-
sche Haltungen zurück, die wir in der Geschichte der Bolsche-
wiki vorfinden. Ich meine Lenins Haltung in der Frage
Brest-Litowsk und in der Frage Neue ökonomische Politik.
Selbstverständlich sind diese Haltungen, so berechtigt 1918
beziehungsweise 1922, heute ganz und gar anachronistisch,
konterrevolutionär, verbrecherisch. Es besteht für sie weder
Notwendigkeit noch Möglichkeit. Schon in den paar Jahren,
die seit dem Entstehen dieser Konzeption vergangen sind, hat
sich das Anachronistische der Konzeption selbst für ihre
Konzipienten herausgestellt. Sie können selber ihre Meinun-
gen nicht mehr aufrechterhalten, empfinden sie als verbre-
cherische Schwäche, unverzeihlichen Verrat. Die falsche poli-
tische Konzeption hat sie tief in die Isolation und tief in das
gemeine Verbrechen geführt. Alles Geschmeiß des In- und Aus-
landes, alles Parasitentum, Berufsverbrechertum, Spitzeltum
hat sich bei ihnen eingenistet: Mit all diesem Gesindel hatten
sie die gleichen Ziele. Ich bin überzeugt, daß dies die Wahr-
heit ist, und ich bin überzeugt, daß diese Wahrheit durchaus
Marxistisdie Studien 115

wahrscheinlich klingen muß, auch in Westeuropa, vor feind-


lichen Lesern. Der Aasgeier ist kein Pazifist. Der Aufkäufer
bankerotter Geschäfte ist für den Bankerott. Der Politiker,
dem nur die Niederlage zur Macht verhilft, ist für die Nieder-
lage. Der der »Retter« sein will, führt eine Lage herbei, in der
er retten kann, also eine schlimme Lage.
Demgegenüber ist folgende Darstellung unwahrscheinlich:
daß sich, schon während der Revolution, vom Kapitalismus
bezahlte Agenten in die Regierung der Sowjets eingeschlichen
haben mit dem Vorsatz, in Rußland den Kapitalismus mit
allen Mitteln wieder einzuführen. Diese Darstellung klingt
unwahrscheinlich, weil sie das Moment der Entwicklung außer
acht läßt, mechanisch, undialektisch, starr ist. [...]

Die Prozesse sind ein Akt der Kriegsvorbereitung. Die Aus-


rottung der Oppositionen beweist nicht, daß die Partei zum
Kapitalismus zurückkehren will, wie bürgerliche Blätter (li-
beralistischer Prägung, »Times«, »Basler Nationalzeitung«,
»Manchester Guardian«, wahrscheinlich auch »Temps«) an-
nehmen, sondern daß jeder Rückzug, ja jede Schwankung,
Atempause, taktische Umbiegung schon unmöglich gewor-
den sind. Die Oppositionen aber hängen in der Luft, ihre
Vorschläge müssen alle konterrevolutionär, defaitistisch sein,
Sumpfperspektive, obgleich die ungeheure Anspannung na-
türlich die inneren Schwierigkeiten vermehrt. Trotzki sah
zunächst den Zusammenbruch des Arbeiterstaats in einem
Krieg als Gefahr, aber dann wurde er immer mehr die Vor-
aussetzung des praktischen Handelns für ihn. Wenn der
Krieg kommt, wird der »überstürzte« Aufbau zusammen-
krachen, der Apparat sich von den Massen isolieren, nach
außen wird man die Ukraine, Ostsibirien und so weiter ab-
treten müssen, im Innern Konzessionen machen, zu kapita-
listischen Formen zurückkehren, die Kulaken stärken oder
stärker werden lassen müssen; aber all das ist zugleich die
116 Zur Politik und Gesellschaft

Voraussetzung des neuen Handelns, der Rückkehr Trotzkis.


Die aufgeflogenen antistalinschen Zentren haben nicht die mo-
ralische Kraft, an das Proletariat zu appellieren, weniger weil
diese Leute Memmen sind, sondern weil sie wirklich keine
organisatorische Basis in den Massen haben, nichts anbieten
können, für die Produktivkräfte des Landes keine Aufgaben
haben. Sie gestehen. Es ist ihnen ebenso zuzutrauen, daß sie
zuviel als zuwenig gestehen. Unter Umständen sind sie
Werkzeuge, welche nur die Hand wechselten. Eine Betrach-
tung, die auf der einen Seite nur einen mechanischen »dia-
bolisch geschickten« Apparat, auf der andern heroische Per-
sönlichkeiten aus der Revolutionsepoche sehen, stempelt die
Geständnisse dann zu psychologischen Rätseln.

Voraussetzungen für die erfolgreiche Führung


einer auf soziale Umgestaltung gerichteten Bewegung

Aufgabe und Bekämpfung des Führergedankens innerhalb


der Partei.

Aufgabe der scharfen Trennung zwischen Zentralismus und


Einzelinitiative und der Betonung des ersteren.

Aufgabe der typischen Form des Arbeiterprotektionismus,


der sich gegen Kleinbürger und Bauern, also die proletari-
sierten Schichten wendet. Das Arbeiterproletariat muß den
Kampf für diese Schichten führen, nicht gegen oder ohne
Marxistische Studien 117

Hervorkehrung der ethischen Seite der Bewegung. Verwen-


dung bürgerlicher Ethik und Aufbau proletarischer.

Aufgabe alles unehrlichen Behandeins (taktischen Tauschens,


Neutralisierens und so weiter) der verbündeten Schichten,
dagegen Aufspürung und Verteidigung ihrer wirklichen In-
teressen.

Liquidierung allen Wortglaubens, aller Scholastik, aller Ge-


heimlehren, Pfiffigkeiten, Eingebildetheiten, aller mit der tat-
sächlichen Lage nicht in Übereinstimmung befindlicher Hoch-
näsigkeiten, Aufgabe allen Verlangens nach »Glauben« und
Übergehen zum Beweisen.

7
Aufbau einer großzügigen Propaganda der technischen und
ethischen Überlegenheit des Sozialismus für den Großteil
der Menschheit. Aufgabe des Herrschaftsanspruches des In-
dustrieproletariats und Angebot seines Vorkämpfertums. Die
Diktatur des Proletariats als die einfachste, unbestechlichste,
kürzeste, wirksamste und also praktischste Form des sozialen
Umbaus.
118 Zur Politik und Gesellschaft

Über ein Modell R als auslösendes Moment


der proletarischen Diktatur

Ablehnung aller mensdiewistisdien »Demokratie« auf Grund-


lage einer der Produktion entfernten staatlichen Einstellung.

Ablehnung aller bolschewistisdien »Disziplin« auf Grund


einer Einstellung, wonach ein staatliches Element (Staats-
ersatz) Maßnahmen trifft, zu produzieren.

3
Nichteinnehmen einer beratenden, onkelhaften, nach dem
kindlichen Willen lauschenden Haltung eines »Sprachrohrs«.
Sie verurteilt zur Untätigkeit, bloßen Selbstverständigung,
nimmt allen Analysen den organisierenden Charakter, min-
destens solange die revolutionäre Situation nicht »eintritt«,
hilft nicht, sie herbeizuführen (Verbreiten von Erkenntnissen
ist schwächer als Aufrichten von Kampfgruppen).

Schaffung von festgeschmiedeten Gruppen mit der Fähigkeit,


organisierend zu wirken (des Potenzierens), die innerhalb der
zu bildenden räteähnlichen Körperschaften Linien vertreten
können, damit die politischen Funktionen erfüllt werden
können. Das ständige Zurückgreifen auf die produzierenden
Massen, ihre ständige Mobilisierung erheischt eine zentrali-
sierte Propaganda (Aufklärung).
Marxistisdie Studien 119

Gewisse von Parteien geübte Praktiken (soweit sie in Wi-


derspruch stehen zu dem zentristisch apparativ parteimäßi-
gen, produktions- und massenfernen, aber die Ursache ihres
Erfolgs beim Proletariat oder für es ausmachen) müssen über-
nommen werden (nicht als »parteihaft« abgelehnt werden).

Betonung der räteähnlichen Körperschaften als Zweck, des


Parteimäßigen (R) als Mittel schon bei der und für die Orga-
nisation, ohne Starrheit.

[Masse und Revolution]


Die Beschreiber revolutionärer Vorgänge lassen oft jene inne-
ren Widerstände verschwinden, die sich in den Massen gegen
die Revolution halten oder neu erheben. Zeigend, wie das
große allgemeine Interesse eine Bevölkerung mehr und mehr
ergreift, indem die Masse sich ihres eigenen Interesses als
Masse mehr und mehr bewußt wird, vernachlässigen die Be-
schreiber die echten kleineren Interessengegensätze, die immer
noch lebendig sind oder neu zum Leben kommen. Die Ver-
nunft wird an die Spitze des revolutionären Zuges gesetzt,
gleichsam als Lokomotive, und so ist es schwierig, dem Wider-
stand Realität zu verleihen (das »Unvernünftige« ist unwirk-
lich). Aber jedermann, der eine revolutionäre Erhebung stu-
diert hat, weiß, welche inneren Schwierigkeiten eine Masse
hat, sich zu erheben. Der Mensch wirft sich in das Neue nur
im Notfall. Der majestätische Satz »Das Proletariat hat nichts
zu verlieren als seine Ketten« hat seine Gültigkeit in der hi-
storischen Sphäre und eben für die ganze Klasse, aber die
innere Geschichte einer Revolution besteht gerade darin, daß
120 Zur Politik und Gesellschaft
das Proletariat, das heißt die Proleten, sich dazu finden, als
Klasse zu handeln. In diesem Prozeß haben sie eine Menge
aufzugeben und viel zu riskieren. Beinahe als das wenigste
wird dabei merkwürdigerweise das Leben selber angesehen.
Es wird häufig leichter riskiert als etwa eine ärmliche Woh-
nung. Wenn die herrschende Klasse ihren Griff verliert, fallen
die Beherrschten zunächst meist zusammen. Die Institutionen
schwanken und zerfallen schon, und die Unterdrückten ma-
chen noch lange keine Anstalten, die Führung zu übernehmen.
Gegen sie steht ihre Religion, ihre Lebenskunst, die sie müh-
sam gelernt haben, viel davon vom Feind, einiges davon im
Kampf mit dem Feind, eine komplexe Ausstattung von Ge-
wohnheiten und Maximen. Deshalb muß der Umsturz selber
etwas Geschäftsmäßiges bekommen, ein organisiertes Unter-
nehmen, in dem sie Züge ihres Alltags wiedererkennen kön-
nen, kurz, vernünftig, um die Massen einzubeziehen.

[Doppelakt der Befreiung]


Das Proletariat kann den Staatsapparat nicht in die Hand
nehmen, ohne die Produktion in seiner Weise in die Hand zu
nehmen; dieser kann ohne jene und jene ohne diesen nicht um-
gebaut werden. Es ist ein Doppelakt der Befreiung. Ist dieser
Akt eingeleitet, seine Einleitung ist die Revolution, dann ha-
ben wir eine veränderte Produktionsweise und einen verän-
derten Staatsapparat, aber eben noch Produktion und Staat.
Es ist zunächst (und für lange Zeit) nicht Freiheit schlechthin
entstanden, sondern eine bestimmte Freiheit, nämlich eine
Freiheit, zu produzieren. Der Staat dient nunmehr der Pro-
duktion. Er funktioniert gut, sofern er die Produktion ermög-
licht, und er ist nötig, solang sie ihn braucht. Man kann seine
wirklichen Fehler ganz gut feststellen, da man seine Funktion
kennt. Es sind nicht einfach diejenigen seiner Eigenarten, wel-
che uns an einem Staat an und für sich nicht gefallen.
Marxistisdie Studien 121

[Über die Beamten]


Es ist nicht Sache der Beamten, die asozialen Regungen zu
unterdrücken (wenn es nicht ihre eigenen sind). Das ist nie-
mals Sache eines einzelnen, sondern immer der größeren Ein-
heit. Deshalb müssen die Beamten die unterdrückende Tätig-
keit ablehnen.
Es ist Sache der Beamten, das Beamtentum abzubauen. Der
beste Satz des besten Beamten lautet: Ich bin überflüssig ge-
worden. Deshalb ist es Sache der Beamten, überall, wo eine
Masse vor Aufgaben steht, in ihr Beamten zu erzeugen, welche
die Aufgaben zu bewältigen helfen, aber am Ende von der be-
wältigten Aufgabe selber bewältigt werden können.
Das schlechteste Organ des Beamten ist sein Gedächtnis.
Es ist ein Lehrstück für Beamte nötig, in dem sie die Diszi-
plinlosigkeit des »Publikums« unterstützen, Akten verbren-
nen und die Wahrheit anhören müssen.

Die Rechte der Gewerkschaftsmitglieder


Wenn ein Mitglied verhaftet wird, braucht er so lange nicht
mitzugehen, bis ein andres Mitglied seiner Gewerkschaft, das
er nennt, zur Stelle ist und mit ihm geht.
Ein Ankläger, der fünf Fälle gegen die Gewerkschaften ver-
loren hat, muß seinen Posten abgeben; ein Verteidiger, der
fünf Fälle gegen den Staat gewonnen hat, kann einen Posten
im Staatsapparat als Ankläger verlangen.
12 2 Zur Politik und Gesellschaft

[Auffassungen über Tatbestände]

Man soll lediglich feststellen, welche Tatbestandsauffassungen


bei dem (national oder international) klassenkämpferischen
Proletariat entstehen und ihm nützlich sind, die Tatbestände
für seinen Kampf zu verwerten. Diese Tatbestandsauf fassun-
gen soll man in Zusammenhang bringen, so daß ein axioma-
tisches Feld entsteht.

Dazu ist es'dienlich, Aussagen nur in einem Umfang zu ma-


chen, der für den Kampf notwendig ist.

[Lösung von der Basis aus]


Der Kampf verlangt, daß wir Leute aus dem proletarischen
Arbeiten in den Betrieben herausziehen und aus ihnen Poli-
tiker machen, Spezialisten für den Kampf. Werden wir sie wie-
der hineinbringen? Das kann nicht das Problem sein (denn wir
werden sie nicht wieder hineinbringen). Sie werden nicht mehr
Arbeiter werden. Aber vielleicht werden die Leute in den Fa-
briken Politiker werden? Und das Herausgehen wird nicht
mehr nötig sein nach dem Kampf? Das wäre eher eine Lö-
sung. Heraußen und herinnen war gleich in einer bestimmten
Zeit. Es muß wieder gleich werden. Aber wir müssen auch
nicht tun, als ob nicht eine Phase aufträte, wo ein Gegensatz
besteht, fühlbar wird, schmerzhaft. In dieser Phase treten die
Herausgegangenen den Drinnengebliebenen gegenüber, sogar
Kampf wird da möglich. Die Lösung muß von der Basis her-
kommen. Es muß sich etwas geändert haben. In die Entwick-
lung dieses Verhältnisses muß neue Materie eingemündet sein,
Marxistisdie Studien 123

damit die nächste Phase erreicht werden kann. Die Regierung


hört auf, wenn keiner regiert, das ist ein schlechter Satz. Die
Regierung hört auf, wenn alle regieren, das ist ein besserer
Satz. Es muß nichts mehr zum Regieren dasein. [...]
Fragmentarisch
Notizen zur Philosophie
1929 bis 1941
Wenn ich bedenke wie wenig ich weiß,
dann erschrecke ich.
Über Philosophie

Kurzer Umriß einer Philosophie


Die Philosophie lehrt richtiges Verhalten. Zu diesem Zweck
beschreibt sie erstens menschliches Verhalten und zweitens
kritisiert sie es. Um es zu beschreiben (zu erkennen und kennt-
lich zu machen), ist ebenfalls eine bestimmte Haltung nötig,
die gelernt werden muß. Diese Haltung wird gezeigt in der
Lehre vom interessierten Widerspruch. Dieselbe behandelt die
Probleme der alten Erkenntnistheorie.
Fragmentarisch

Über die Philosophie


Der Begriff der Philosophie hat zu allen Zeiten und bei allen
Völkern eine praktische Seite gehabt. Außer bestimmten Theo-
rien oder auf solche gerichtete Denktätigkeiten wurden immer
auch bestimmte Handlungsweisen und Verhaltungsarten (in
Form von Gesten oder »Antworten«) philosophische genannt.
Auch wurden bestimmte Menschen Philosophen genannt, die
sich keineswegs mit der Erzeugung von »Philosophien« be-
faßten, sondern eben nur durch ihr Verhalten diesen »Ehren-
titel« erwarben. Im Volk selber bezogen die »wirklichen«
Philosophen ihre Ehrung eher als umgekehrt von den Philo-
sophen der zweiten Gattung; also der »angewandten Philo-
sophie«.
12 8 Zur Politik und Gesellschaft

Über das heutige Philosophieren


Man kann es den Philosophen vorwerfen, daß sie zuwenig sa-
gen, wie man die Welt behandeln muß. Viele sagen schon, daß
sie ganz und gar nutzlos sind. Diesem strengen Urteil fügen
einige den Satz hinzu, nutzlos sei schädlich. Wenn man nun das
Philosophieren unserer Philosophen verteidigen will, dann muß
man sie in Schutz nehmen nicht nur gegen die Forderungen
ihrer Gegner, sondern auch gegen die Anerbieten, die sie selber
machen. Wenn sie nämlich wie gewöhnlich ihre Denkmöglich-
keiten durchprobieren, tun sie so, als sagten sie nicht über ihre
Sätze, Schließmöglichkeiten, Konstruktionsformen aus, son-
dern über die Welt oder den Menschen schlechthin. So wichtig
das zweite wäre, das sie nicht tun, so ist doch auch das erste,
das sie tun, nicht unnütz. Es ist eine erlaubte Tätigkeit, mit
dem Denken gewisse Proben anzustellen, die den Materialpro-
ben in der Technik gleichen, wo man Stahl zerreißt, um seine
äußerste Festigkeitsgrenze zu erforschen.
Diese Art des Philosophierens setzt Arbeitsteilung voraus. In-
sofern ist es zeitgemäß. Aber die Philosophen sollten nicht
glauben, daß ihnen diese Arbeitsteilung, die sie zu Spezialisten
macht, besondere Freiheit gewährt. Sie müssen sich zwar auf
diese Weise nicht allzusehr um die Tätigkeit anderer Arbeits-
felder kümmern, aber gerade dadurch befinden sie sich in einer
um so größeren, weil unkontrollierten Abhängigkeit von
ihnen.

[Mißtrauen gegen die Ungersche Philosophie]


Hierbei ist einer bestimmten Richtung der modernen Philo-
sophie, der Ungerschen, ein gewisses natürliches Mißtrauen
nicht zu versagen. Dem Marxismus gegenüber nimmt sie eine
zweideutige Haltung ein. Sie versucht, ihm ihre Lehren als
Konsequenzen einzureden, die er selber nicht zieht. Diese
Notizen zur Philosophie 129

Konsequenzen zieht sie aber auf rein geistigem Gebiete, sie


überspringt und ist in der Wirkung absolut gegenrevolutio-
när. Im übrigen ist sie rein ästhetisch eingestellt, versucht
aber natürlich, die Ästhetik möglichst auszuweiten. Ihre Hal-
tung der Kunst gegenüber ist typisch für die unserer In-
tellektuellen und daher nicht uninteressant: Sie steht völlig
unter dem Eindruck jener Theorien, die den Bankerott der
Kunst für gekommen halten und die auch auf die Marxisten
einen so großen Einfluß ausüben. Und sie versteht unter
Kunst anscheinend so ziemlich dieselbe Richtung der Kunst,
die sie dann sinnlos verallgemeinert. Dabei ist klar, daß kein
Mensch an dem Ruin der Kunst zweifeln kann, [dem] das,
was gegenwärtig als Kunst fungiert, wirklich Kunst ist. Es
ist aber interessant zu beobachten, daß gerade die Leute, die
das Schöpferische so lächerlich überschätzen (nicht zuletzt,
weil sie an einem waschechten preußischen Leistungskomplex
kranken), das Schöpferische vom Schöpferischen nie ausein-
anderkennen (ähnlich wie die Antisemiten immerfort reine
Arier für Semiten halten). Das was diese Leute für Kunst
halten und deren ihnen typisch erscheinenden Verlauf sie so
interessiert betrachten, ist nichts als der (übrigens tatsächlich
herrschende) entartete Teil der Kunst, der rein romantisch
eingestellt ist. Das ist die Kunst, die auf Mitleid und Sehn-
süchten aufgebaut ist. Diese Sehnsüchte sind allerdings der
praktisch ganz wirkungslose Rest von Gewissenspein, den
gewisse saturierte oder sonst impotente Kleinrentner sich
sorgsam wahren. Wie lächerlich ist es aber nun, den inneren
Zweck dieser »Sehnsüchte«, die da umständliche Mythen
bilden und so weiter, und der einzig darin besteht, sich um
einfache, plumpe und so wenig geistige Maßnahmen herum-
zudrücken, so vollständig zu verkennen, daß man sie für
schöpferisch hält und vorschlägt, endlich mit ihnen ernst zu ma-
chen, sie nicht mehr länger nur zur Produktion von Kunst-
werken zu verwenden, sondern sie »in die Tat umzusetzen«.
Dies ist einer jener komischen Vorschläge, die auf die
130 Zur Politik und Gesellsdiaft

Bezeichnung »revolutionär« übrigens durchaus Anspruch ma-


chen, am besten aber durch den einfachen Hinweis auf ihre
Harmlosigkeit gerichtet werden. Vom Standpunkt der Kunst
aus: Was können diese Leute anderes tun, als in Verlegenheit ge-
raten, wenn man ihnen sagt, daß in dem heute wirklich leben-
digen Teil der Kunst diese Sehnsüchte überhaupt nicht vor-
handen sind? Mit dem Begriff »schöpferisch« muß man ganz
besonders vorsichtig umgehen. Die Tätigkeit der großen
Kunst ist eine reproduzierende, so wie der Zeugungsakt ein
reproduzierender ist und nicht beweist, daß etwas fehlt, son-
dern daß etwas vorhanden ist. Beweist das Vorhandensein der
Kunst nicht, daß etwas Unzulängliches im Bewußtsein der
Menschheit ist, das durch die Phantasie irgendwie zulänglich
gemacht werden könnte, sondern wenn Unzulänglichkeit
überhaupt dabei eine Rolle spielt, so ist sie schon das völlige
Chaos, nicht ein Rest, der noch fehlt. Schöpferisch ist es schon,
das wirkliche Chaos zu reproduzieren, aber die Tendenz des
Kunstmachens ist es nicht, die dadurch gewonnenen Elemente
neu nach einem neuen Bild vom Ganzen zu formen, sondern
sie lediglich wieder in der alten Weise zusammenzufügen. Da-
durch kommt der Künstler und durch ihn der zum Künstler
gemachte Zuschauer in den Besitz des Schöpfungsvergnügens,
also ist die Kunst nicht der immer aufs neue unternommene
Versuch, ein dem Menschen innewohnendes, von der Wirklich-
keit nicht erreichtes Endbild in der Phantasie zu erreichen
(ein Vorgang, der dann nach Unger lediglich so zu korrigieren
wäre, daß die Worte »in der Phantasie« wegorganisiert wer-
den, damit das Dritte Reich, um das es sich ja wieder einmal
handelt, zustande kommt), sondern die immer aufs neue
notwendige Einsichtnahme in den Schöpfungsprozeß. Die
Auffassung der Ungerianer von der Kunst unterscheidet sich
von einer richtigen Auffassung ebenso, wie sich ihre Haltung
von einer wirklich philosophischen unterscheidet. Die wirk-
lichen Philosophen sind aus dem Stadium des Etwas-errei-
chen-Wollens herausgekommen, wenn sie begannen. Ihre Ta-
Notizen zur Philosophie 131

tigkeit beweist nicht das Vorhandensein eines Unerreich-


baren.
Etwa 1928

Totalität
Die Metaphysiker versuchen, und der Versuch beweist sie als
Metaphysiker, zur Totalität zu kommen, und sie tun so, als
gälte es, dieselbe lediglich nachzuweisen, so, als sei sie im
Grund vorhanden, müsse also nur aufgezeigt werden. Sie tun
so, das heißt, sie verstellen sich, denn wenn ihre Versuche miß-
glücken, also stets, zeigt es sich, daß sie ein Puzzlespiel gespielt
haben, bei dem sie gegen alle Spielregeln die Steine nicht nur
zusammensetzten, sondern auch heimlich bemalten.
Tatsächlich kann man sich eine Totalität nur bauen, machen,
zusammenstellen, und man sollte das in aller Offenheit tun,
aber nach einem Plan und zu einem bestimmten Zweck.
Jedermann weiß, daß zum Beispiel ein Haufen gewisser re-
volutionärer Verhaltungsweisen, also etwa Sinn für Gerech-
tigkeit, freiheitliche Bestrebungen, Gewalttätigkeit, List, ge-
wisse Kenntnisse und so weiter, keineswegs alle zusammen
und immerfort angewendet werden dürfen, wenn man eine
Revolution gewinnen will. Alle diese Verhaltungsarten und
noch ganz unbekannte dazu, müssen sich nach ganz bestimm-
tem Plan in die gemeinsame Aufgabe teilen, also planmäßig
auftreten und abtreten und im Augenblick ihrer Verwendung
noch dazu ohne jede Spur von Selbsterhaltungstrieb handeln.
Die Revolution ist ihr Bezugssystem, nur in Hinblick auf sie
treten sie auf oder ab. Die Revolution ist auf sie angewiesen,
aber sie nützen ihr nur, wenn sie nicht sich selbst durchsetzen
wollen, ohne Zugeständnis aneinander und so weiter.
132 Zur Politik und Gesellsdiaft

Zu Descartes »Betrachtungen«
Herauszufinden wäre, was ihm diese eine so unglückliche und
qualvolle Überlegung nützt oder zu nützen scheint. Denn zu-
nächst scheint es doch ganz und gar gleichgültig, was für uns
wahr und falsch ist, und auch ganz und gar unergründbar -
solange es eben nur um ein Erkennen und nicht um Handeln
geht, also um ein Erkennen, das jedenfalls vom Handeln ge-
trennt ist. Denn das ist ein doch ganz unnatürliches, das heißt
für gewöhnlich nicht vorkommendes Unterfangen, dessen
Nützlichkeit (oder Ziel) also durchaus genannt werden muß.
Wie kann dieser Untersucher erwarten, er könne über etwas,
was ihm nicht unmittelbar nötig zu wissen ist, etwas erfahren!
Das heißt, wenn er nicht handeln muß! Er erkennt das Papier,
vor dem er sitzt (und billigt ihm eine gewisse größere Sicher-
heit zu als vielem andern), denn er will schreiben. Schreibend
gewinnt er an Sicherheit in bezug auf das Papier. Auch das
Schreiben selber hat verhältnismäßig wenig Zweifelhaftes: Er
sehe hin und er wird sehen: er hat geschrieben. Aber über das
Wesen des Papiers ohne Manipulationen [.. .]* etwas zu
erfahren, wird sehr schwierig sein. Es ist durch Manipulatio-
nen entstanden, für Manipulationen da und hat drin seine
ganze mögliche Sicherheit. Es wäre unvernünftig, zu bezwei-
feln, daß man auf Schreibpapier schreiben kann. Auf den
ersten Blick erscheint es dagegen beinahe vernünftig, etwa
daran zu zweifeln, ob ein Quadrat unbedingt vier Seiten ha-
ben muß. Aber einmal haben wir (es gibt also auch uns) etwas
mit vier Seiten Quadrat genannt. Wir vergaßen die Zwecke
schneller als diese Bezeichnung, sowohl auch deshalb, weil sie
bald mehreren Zwecken genügte. Freilich kann ich bezweifeln,
ob ein Baum, den ich sehe, da ist. Wäre er nicht da, würde mir
aber vielleicht wenigstens der Sauerstoff fehlen, den er ausat-
met. Und wieviel, was ich nicht kenne, ist nötig, für vorhan-

1 [Nicht lesbare Handschrift.]


Notizen zur Philosophie 133

den zu halten, um für glaubhaft zu halten, der Baum, den ich


sehe, sei nicht da, und wieviel von allem müßte ich von dem
vergessen, was mir bekannt ist - von der Praxis her! Dennoch,
noch einmal: Die Fähigkeit, das Vorhandene zu bezweifeln,
steht selber über Vernunft oder Unvernunft und kann zwei-
fellos nutzbringend angewendet werden.
Etwa 1932

[Aus:] Darstellung des Kapitalismus als


einer Existenzform, die zuviel Denken und
zu viele Tugenden nötig macht
Als ich dieser Tage bei der Lektüre des Descartes diesen erör-
tern sah, daß er an allem, was er einst für wahr hielt, zwei-
feln könne, und ihm nun folgte, bis er als einziges Unbezwei-
felbares fand, er sei, da er doch denke, lehnte ich mich zurück
und dachte nach darüber, was er da gemacht hatte, und ich
nahm seinen Satz, eigentlich sein ganzes Tun, ausgedrückt auch
in seiner Haltung beim Schreiben, möglichst allgemein, und
ohne mich allzusehr in ihn selber hineinzuversetzen. Sondern
ich nahm ihn, meiner Gewohnheit nach, als einen Mann ganz
bestimmter Herkunft, bestimmten Standes, bürgerlichen Stan-
des, zu einer bestimmten Zeit, der Zeit des Heraufkommens
dieses Standes in Europa. Wenn ich ihn, so betrachtet, zweifeln
sah an allem, dann besonders an seiner Existenz, und ihn dann
in seinem maßlosen Zweifel einhalten sah vor der Tatsache
seines Denkens, beruhigt darüber, daß ihm nicht nötig war,
an allem zu zweifeln, aber auch darüber beruhigt, daß es ihm
möglich war, an so vielem zu zweifeln, kam mir der Gedanke,
daß dieser Mensch, plump genommen, eben in einer Zeit lebte,
wo er vielleicht auf keine andere Art, als durch Denken exi-
stieren konnte, aber durch Denken doch eben existieren konnte,
und ich dachte sofort: Das war eine andere Zeit als die
meine.
134 Zur Politik und Gesellschaft

Damit sprang ich natürlich ganz aus dem Denken des Descar-
tes, und was ich dachte, hat nur wenig mehr von seinem Den-
ken; es steht sozusagen quer zu seinem Denken. Das sage ich,
damit man nicht meint, ich wolle etwas darüber aussagen, was
er eigentlich gesagt habe, worauf man aber bisher nicht ge-
kommen sei. Ich springe aber mit ihm nur um, wie einer, der,
wenn er liest, [Galilei] habe in der Kirche, das Schwanken
eines Leuchters betrachtend, das Pendelgesetz entdeckt, an-
fängt zu fragen: Warum ging er in die Kirche, oder: Warum
sah er dort nach den Leuchtern?
So fragte ich mich bei der Lektüre der Grundlagen der Philo-
sophie jetzt: ob auch ich Lust und Möglichkeit hätte, an allem
zu zweifeln, was ich für wahr halte, und, wenn ja, meine Exi-
stenz in Zweifel stellte und dann annähme als unzweifelhaft,
diese sei gesichert, wenn ich und da ich doch denke, und zwar
das alles prüfen und entscheiden würde in ganz allgemeinem,
aber meinem Sinne.
Ich sagte sogleich, es habe sich mir vor allem andern aufge-
drängt, daß meine Zeit eine ganz und gar andere als die seine
sein müsse. Aber das andere war doch kein völlig anderes; es
war nur anders, wie der Morgen und der Abend ein und des-
selben Tages anders sind. Stand jener am Anfang, so stand ich
am Ende einer Zeit. Und da es eine Zeit war, Frühe und Abend
eines einzigen Tages, fühlte ich mich wohl auch aufgelegt zu
ähnlichen Fragen. Und da der Morgen und der Abend eines
einzigen Tages so sehr anders sind, fühlte ich, daß auch die Ant-
wort auf die Fragen anders ausfallen müßte.
So konnte auch ich zweifeln an meiner Existenz, und auch ich
konnte mir eine Sicherung derselben nur erhoffen durch ein
Denken, und es machte zunächst nichts aus, daß ich unter Exi-
stenz etwas ganz Profanes verstand, nämlich das, was der ge-
wöhnliche Mann eben Existenz nennt, nämlich, daß er eine
Arbeitsstelle hat, die ihn nährt, kurz, daß er leben kann. Und
auch ich konnte nicht gut zweifeln, daß ich diese Existenz
einzig und allein durch Denken, wenn auch im weitesten
Notizen zur Philosophie 135

Sinne, sichern kann. Ich sage Denken im weitesten Sinne,


aber da verstehe ich unter Denken nicht jene Tätigkeit, die
alle andere Tätigkeit ausschließt, das, was von den Philoso-
phen gemeinhin reines Denken genannt wird.
Ohne ein solches Denken glaube also auch ich nicht existieren
zu können, aber kann ich es nur mit diesem Denken in der so
sehr anders gewordenen Zeit? Das war es, was mich beschäf-
tigte. Ich fand gleich ohne weiteres — und ich bemühe mich
zunächst gar nicht, sehr feine Unterscheidungen zu machen —,
daß ich, um zu existieren, noch mehr als nur Gedanken ha-
ben muß, nämlich auch ziemlich viele Tugenden und beson-
dere Fähigkeiten, und zwar von all dem mehr, als Descartes
brauchte. Genauer ausgedrückt: Ich fand, daß allerlei Um-
stände zu meiner Zeit es möglich machen müßten, mit weni-
ger von all dem doch sehr Anstrengenden auszukommen, als
zu seiner Zeit nötig gewesen wäre, und ich brauchte nicht we-
niger, sondern mehr!
Das beunruhigte mich, und ich beschloß, darüber nachzu-
denken.

Scheint es mir so in besonderem Maße nötig, zu denken, so


kann ich mir doch nicht verhehlen, daß seit der Zeit, wo das
abendländische Denken seinen beglaubigten Anfang nahm,
viele Veränderungen stattgefunden haben, welche das Denken
des einzelnen sehr erschweren. Als Descartes seine Prinzipien
schrieb, verfehlte er überdies nicht, einleitend zu bemerken,
daß er ein reifes Alter abgewartet habe und über ein Vermö-
gen verfüge, so daß sein Geist von allen Sorgen frei sei. Auch
erwähnt er seine wissenschaftliche Schulung und setzt diese so
hoch an, daß er betont, sein Verstand sei im übrigen in keiner
Beziehung vollkommener als der eines Durchschnittsmenschen.
Mir fehlt die Reife des Alters, die Sorglosigkeit, die ein Ver-
mögen verschafft, und die strenge Schulung, und doch muß
ich versuchen, zu einem Denken zu kommen, das besser ist
136 Zur Politik und Gesellschaft

als mein bisheriges. Alles, selbst meine Lebensdauer, meine


materielle Existenz und meine Möglichkeit, mich zu schulen,
hängt davon ab. Während dieser Descartes und manch einer
seiner Art und seiner Zeit ihre Angelegenheiten geordnet sa-
hen, als sie zu denken begannen, beginne ich damit oder nehme
mir vor, damit zu beginnen, zu einer Zeit, wo sie ganz und
gar ungeordnet sind und: um sie zu ordnen. Das bestimmt na-
türlich auch die andere Richtung meiner Bemühungen, sie ge-
hen nicht nach dem, was übrigbleibt, wenn das Leben einge-
richtet ist, sondern befassen sich mit dieser Einrichtung des
Lebens selber. Wie man hoffentlich sieht, nenne ich Descartes
hier nicht, um meine eigene Bemühung, indem ich sie mit der
seinigen vergleiche, bedeutender zu machen. Ich nenne ihn
nur, weil dieser große Geist in besonderer und bekannter
Weise eine Art des Denkens eingeleitet hat, die mir versagt ist,
und auch, weil er den Gestus des Von-neuem-Anfangens so
berühmt gemacht hat. Und auch ich muß von neuem anfan-
gen, wenngleich nicht unbelehrt. Es scheint mir eben, daß
meine Lage der seinigen gleicht, vor allem in ihrer Schwierig-
keit; im übrigen hoffe ich sehr, daß zu ihrer Meisterung we-
niger Geist genügen möge, als er ihm zur Verfügung stand.
Dabei ist mir nicht mit weniger Erfolg geholfen als ihm,
sondern nur mit mehr, denn nicht nur mein Denken
muß verändert werden, sondern eine ganze Welt, mit
andern Worten: eine ganze Welt und nicht nur mein Bild
davon. Um so schlimmer also für mich, aber ich habe keine
Wahl.

[Über den Erkennungsvorgang]


Beim Erkennungsvorgang hat der Intellekt außer dem Or-
ganisieren des Erfahrenen oder der (erst zu tätigenden) Er-
fahrung noch die Funktion des Auffälligmachens der Vor-
gänge, einer Konfrontierung derselben mit einer gedachten
Notizen zur Philosophie 137

Negation. Das Es-ist-so wird staunend aufgenommen als ein


Es-ist-also-nicht-anders.
Man bekommt also fast immer nur vergleidisweise Wahrheiten.

Audi der Satz »Cogito ergo sum« hat eine ungleidie (und ver-
gleidisweise) Wahrheit. Es müssen noch viele Sätze dazukom-
men, um ihn zu stützen. Das Sein wie das Denken ist etwas
Vergleidisweises und Ungleidies (Steigerbares). Der Satz ist
auch nur als Grundstein eines ganzen Gebäudes gedacht. Er
ist nicht durch sich selber richtig.
Was meint er? Will er sagen: Man muß an allem zweifeln, so-
lang man keinen Beweis hat. Man muß mit der Bezweiflung
der eigenen Person (als des noch Sichersten) beginnen. Man
darf sie nur glauben, weil man sie beweisen kann. Ihr Beweis
ist: sie denkt. Will er das sagen? Da es viel Seiendes gibt, das
(zumindest vergleichsweise) nicht denkt, könnte dieses Seiende
sein Sein niemals nachweisen. Der Satz heißt also: Ich bin
bewiesen durch das Ich; wenn ich auch nicht denken könnte,
wäre ich vielleicht auch, könnte es mir aber nicht nachweisen.
Das Nachweisen und das Den-Nachweis-Aufnehmen ist ein
Denken. Ist also der Selbstnachweis der Person gelungen? Es
ist nur Denken als eine Art des Seins behauptet; es gibt aber
noch mehr Arten des Seins.

Der Zweifel müßte unbedingt an alle Dinge zusammen ge-


setzt werden, denn da alle Dinge miteinander zusammenhän-
gen, kann ich einzelne ja gar nicht abgrenzen, und im Grund
zweifle ich ja auch nicht an den Dingen, sondern nur an mei-
nen Sinnen, die sie mir vermitteln, und zwar vielleicht un-
genau oder falsch. Aber in Wirklichkeit tue ich gerade das, was
ich nicht tun kann: Ich zweifle an dem einen Ding mehr als
dem andern, oder: Ich weiß von dem einen Ding mehr als von
dem andern, und noch etwas: Ich weiß von ein und demselben
Ding verschieden viel; ich kann nämlich mehr und mehr da-
von erfahren. Und dieses Mehr-als und dieses Mehr-und-
13 8 Zur Politik und Gesellschaft

mehr sind sehr wichtige Operationen oder Kategorien.1 Wir


stimmen also im Grund überein mit Descartes, wenn er zwei-
felt, das Ding erkennen zu können, nämlich das substanti-
vische starre, sich nicht ändernde Ding. Nur nehmen wir nicht
an, daß dies an der Art des menschlichen Geistes liegt, son-
dern meinen, daß es dieses Ding gar nicht gibt, wie es Kant
zum Beispiel haben will, um es zu erkennen oder nicht zu er-
kennen.

Über »Das Ding an sich«

Die Frage nach dem Ding an sich wird gestellt in einer Zeit,
wo auf Grund der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung
die Verwertung aller Dinge in Angriff genommen wird. Die
Frage aber zielte nicht nur ab auf die Auffindung neuer
Brauchbarkeiten an den Dingen, sondern bezeichnete auch den
Widerspruch zu einer Betrachtung der Dinge nur nach Ver-
wertbarkeit hin: Die Dinge sind nicht nur für uns, sondern
auch für sich. Allerdings sind sie auch in diesem absoluten Zu-
stand noch verwertbar . . .

Man darf nicht vergessen, daß das Besitzgefühl eine unge-


heure Rolle zu spielen begann. Der feudale Besitz war eine
Folge der Macht. Jetzt wurde die Macht eine Folge des Be-
sitzes. Sogar Wissen war Macht, weil es Besitz war oder wer-
den konnte. Der diesen Satz aufstellte, Bacon, definierte aus-
drücklich das Wissen als »zu verwerten wissen«. Die Menschen

i Die Operation mit diesen Begriffen ermöglicht die Auflösung der Kant-
sdien Zweifel und die Fruktifizierung der Descartesschen.
Notizen zur Philosophie 139

nahmen sich nicht mehr nur von den Dingen, was sie brauch-
ten, sondern, ein Ding besitzend, suchten sie neue Brauchbar-
keiten an ihm ausfindig zu machen. Es war jetzt auch zu
verwerten, was andere brauchten. Das Ding wurde ungeheuer
gedrängt, möglichst viel herzugeben.

Das Ding als Ware wiederum wurde ungewohnt undurchsich-


tig, um so mehr, als auch der Mensch selber als Arbeitskraft
Ware wurde, so daß der Substantive Charakter des Dinges zu
schwinden begann. Es entstanden dem Betrachtenden Dinge,
welche eigentlich Verhältnisse waren, und Beziehungen zwi-
schen Menschen oder Dingen nahmen Dingcharakter an. Heute
kann überhaupt kein Ding mehr genannt werden von der Art,
wie Kant es behandelte: Anderes als das Kantsche Ding ist
unkennbar.

Die Dinge sind für sich nicht erkennbar, weil sie für sich auch
nicht existieren können.

5
Der Baum erkennt den Menschen mindestens so weit, als er
die Kohlensäure erkennt.

Zur Erkenntnis des Baums gehört für den Menschen die Be-
nutzung des Sauerstoffs. Der Begriff des Erkennens muß also
weiter gefaßt werden.
14° Zur Politik und Gesellschaft

Erkenntnistheorie muß vor allem Sprachkritik sein.

Das Leben selber ist ein Erkennensprozeß. Ich erkenne einen


Baum, indem ich selber lebe.

Kants unerkennbares Ding an sich


Der Unterschied, der bei Kant zwischen erkennbar und un-
erkennbar gemacht wird, sollte von uns zum hauptsächlichen
Objekt unserer Kritik gemacht werden. Nicht umsonst setzt
unsere Kritik immer dort ein, wo das Ding an sich die wahr-
nehmbaren Erscheinungen verursacht. Sollten wir nicht ein-
fach sagen, daß wir nichts erkennen können, was wir nicht
verändern können, noch das, was uns nicht verändert? Dann
ergeben sich an einem Ding tatsächlich immer Punkte, welche
wir nicht erkennen können (da wir sie nicht verändern kön-
nen oder müssen), es entsteht also auch ein Ding an sich, das
nicht (da nicht ganz) erkennbar ist, aber dieses Ding an sich
ist unverwertbar uninteressant, wirkt auf den Wahrnehmen-
den tatsächlich gar nicht ein und wird im Gegenteil (wenn
auch niemals ganz, also eigentlich wahrnehmbar, aber doch)
sogar wahrnehmbar, wo es nicht wahrnehmbar war, also er-
kennbarer, indem eben seine wahrnehmbaren, da veränderli-
chen Punkte das Ding (an sich) ihrerseits verändern können.

Über die Beurteilung der Philosophie


Zweierlei muß man sich bei der Beurteilung der vorhandenen
Philosophie gesagt sein lassen. Erstens muß man die Philoso-
Notizen zur Philosophie 141

phie eines bestimmten Philosophen der Frage unterwerfen,


welche Vorschläge bezüglich der Art, dies oder das aufzufassen,
sie enthält, also, wie er wünscht, daß dies oder das vorgestellt
werde. Dann wird man leicht auf den Zweck seiner Vorschläge
kommen, den historischen subjektiven und den objektiven, wel-
chen die Historie dadurch erfüllte, und vom Zweck aus wird
man aus seinen eigenen Interessen heraus seine Philosophie bes-
ser verstehen und sich aus ihr sogar einzelnes herauslesen kön-
nen, was den eigenen Zwecken dienen kann. Das letztere wird
man nicht so barbarisch finden, wenn man erwägt, daß die
Welt gemeinhin so eklektisch verfährt und daß es doch falsch
ist, eine Philosophie etwa hauptsächlich als Ausdruck eines be-
stimmten Kopfes zu nehmen, als eine Spielart des Geistes
schlechthin. Dabei mag für jene kulinarischen Gemüter etwas
herausschauen, die ihren eigenen Kopf als einen menschlichen
für bedeutender halten, wenn sie sehen oder zu sehen meinen,
daß ein menschlicher Kopf bedeutend sein kann. Für diese sind
die Philosophen wie Flieger, die in immer die gleiche Luft auf-
steigen und dort [um] des Sportes willen Rekorde aufstellen,
welche nichts anderes bezielen als eine Befriedigung der mensch-
lichen Eitelkeit. Die Philosophen sind auch nicht wie mit Was-
ser gefüllte Eimer, die immer den gleichen Mond spiegeln,
und zwar so klar, wie sie als Wasser eben klar sind. Aus einem
Vergleich des Gespiegelten und des Spiegels kann man weder
die Welt noch den Kopf erkennen, und zwar hauptsächlich,
weil die Kopfe gewisser Zwecke wegen die Welt, die ja immer
verschieden ist, noch dazu in ihrer Darstellung, veränderten.
Und eben dieser verschiedenen Zwecke wegen kann man auch
aus der Reihenfolge der Philosophien nicht allzuviel heraus-
lesen. Dennoch kommen wir hier auf das zweite, was gesagt
werden muß. Wenn die Philosophen Vorschläge machten, die
Welt so oder so vorzustellen, so darf man nicht glauben, sie
entwarfen diese Vorschläge ganz unabhängig von den schon
vor ihnen gemachten Vorschlägen.
142 Zur Politik und Gesellschaft

Über das Idealisieren als Operation


Did Arbeitsweise der Philosophen kann man besser, als wenn
man sie ihre Systeme bauen sieht, beobachten, wenn man sie
die Systeme anderer Philosophen kritisieren sieht. Denn bei
ihrem eigenen Werk sieht man meist allzu gespannt auf das Sy-
stem selber, also den Bau.1 Das in Aussicht gestellte Ganze,
das man so früh wie möglich zu ahnen sucht, gibt jedem Satz
einen Vorschuß, anders gesagt: Der Leser eilt, die Sätze anzu-
erkennen, um sie dem Ganzen zuliebe zu verlassen, er baut mit.
Noch auf der vorletzten Seite hält er alle Sätze für reine Defi-
nitionen, die man zunächst einmal fressen muß, um das so un-
endlich wichtige »Ganze« zu begreifen. Anders, das heißt, in-
dem sie ihre Kraft zu suggerieren anders verwenden, gehen die
Philosophen vor, wenn sie Philosophen entlarven wollen. Dann
nämlich beschreiben sie dieselben als ziemlich skrupellose und
voreilige Konstrukteure, nicht als Finder, sondern als Erfinder,
und ein appetitmachender Slang von Werkzeug, terminus tech-
nicus, technischen Griffen macht sich breit: Man sieht Hand-
werker an der Arbeit. So beschreibt Hegel den Kant und
Schopenhauer den Hegel rein als einen sich Verhaltenden, Ope-
rierenden, Machenden. Und indem sich die Erkenntnisse des
Kritisierten in Vorschläge, sich zu verhalten, verwandeln,
in Anweisungen, der Wirklichkeit gegenüber schlau zu sein,
werden auch die Zwecke des Verhaltens deutlich, und man
kann genau wie der Kritisierende herausfinden, ob der Zweck
des Kritisierten einem paßt. So werden die Interessen deutlich
und mit den Interessen die Philosophien.

i Der Philosoph scheint zu verfahren wie gewisse Zeichner, die eine Fläche
schraffieren, so daß die unsichtbare, aber vorher »darunter« angebrachte
Zeichnung heraustritt, ganz von selber sozusagen. Man sieht niemand die
»eigentlichen« Striche machen, so wie der Philosoph könnten auch wir das
Schraffieren besorgen, und wir könnten oben oder unten oder in der Mitte
damit beginnen, da ja das »Ganze« schon da ist, und überall, wo man
schraffiert, heraustreten muß.
Notizen zur Philosophie 143

Über den Idealismus


Russell nennt als Hauptcharakteristikum der klassischen Phi-
losophie mit Recht den Glauben, daß die Wirklichkeit gänz-
lich verschieden sei von dem, was sie der unmittelbaren Beob-
achtung gegenüber zu sein scheine.
Dieser Glaube war als Haltung der Beobachtung gegenüber
sehr erfolgreich, denn sie verbesserte die Beobachtung. Der
Wirklichkeit gegenüber aber sehr verhängnisvoll, denn sie
brachte die so verbesserte Beobachtung um alle Hoffnung. An-
statt daß man zur Grundlage unserer Kenntnis von der Wirk-
lichkeit das unmittelbar Beobachtbare wählte, durch Kritik
die Beobachtung verbesserte und mit Behauptungen über die
möglichen Erfolge von verbesserten Beobachtungen etwas ab-
wartete, bis sie verbessert und gemacht waren, also anstatt daß
man die Kritik der Beobachtung nicht ohne weiteres zu einer
Kritik der Beobachtungsmöglichkeit erweiterte, baute man,
außerstande zu warten (man war es nicht, weil man individua-
listisch vorgehen mußte), eine andere originale neue »eigent-
liche Wirklichkeit« auf, die die Fähigkeit haben sollte, über-
haupt keiner Kritik zugänglich zu sein, und von der man im
Grund gar keine andere Eigenschaft erwartete. Da es sich nur
darum handelte, unwiderlegt zu bleiben (Unwiderlegbares zu
formulieren), kam man mit reiner Logik aus, einem bestimm-
ten Wortmaterial, einem Haufen operativer Gesten. Da man
nach diesen Logikern durch keine Beobachtung zu wirklicher
Erkenntnis kam, brauchte man keine Erkenntnis durch eine Be-
obachtung zu stützen. Die »uneigentliche Wirklichkeit«, das,
was jeder sah, zum Beispiel der Philosoph selber, war nur ein
Schein, eine Unvollkommenheit, Vergröberung oder Verzer-
rung des Eigentlichen. Wenn man heute über den Wert verschie-
dener idealistischer Konstruktionen urteilen will, so sollte man
eine Unterscheidung treffen zwischen der jeweiligen Konstruk-
tion und dem Konstruieren und sich lediglich mit dem letzteren
befassen. Das Idealisieren hat ganz bestimmte gesellschaftliche
144 Zur Politik und Gesellsdiaft

Funktionen, darunter sehr wertvolle. Es findet außerdem be-


ständig statt und ist kein Gegenstand einer Morallehre. Es ist
eine mentale Operation, ein bestimmtes intelligibles Verhal-
ten, das in bestimmten Situationen erfolgreich sein kann, aber
auch stattfindet, wo dies nicht der Fall ist.

[Notizen]
Im Gegensatz zum Idealismus muß einem der Materialismus
immer sagen, was bei ihm herauskommt, den Idealismus da-
gegen muß man fragen, woraus er herauskam.

Leben heißt für den Menschen: die Prozesse organisieren, de-


nen er unterworfen ist.

Über Vorstellungskritik
Die Kant-Goethesche Ästhetik postuliert, daß die genießende
Person von ihren Interessen gelöst sei. Durch ihre Interessen
nämlich ist die Person zu eindeutig (zu fest) bestimmt, um alle
Haltungen einzunehmen, die sie (ohne durch Interessen be-
stimmt zu sein) einnehmen könnte. Denn an sich ist dem Men-
schen nichts Menschliches fremd. Die Kunst gestattet ihm, sich
allgemein menschlich zu geben, was er sonst nicht kann. Sie
gestattet also eigentlich, auf (seinen) Interessen zu verharren,
welche nicht allgemein menschlich sind, nämlich »im Leben«.
Die Welt des Künstlers enthält also im Grund alles, was zu
einer Welt nötig ist. Sie kann als Ganzes genossen werden,
und zwar - nach Aufgabe der individuellen Interessen - ohne
Gefahr. Der Genießer kann durch Einfühlung (Mimesis) zu
nichtinteressebedingtem Verhalten kommen. Jedenfalls wird
ihm dies zugesagt.
Darin liegt eine grobe Tauschung.
Notizen zur Philosophie 145

Um selber erkennen zu können (zum Beispiel gewisse Vorgänge


und Haltungen) vor allem, muß der Künstler selber Interessen
haben, und zwar ganz bestimmte, jedenfalls andern Interessen
entgegengesetzte, und um seine Schilderung zu einer Erkennt-
nis zu machen, muß der Genießer ebenfalls Interessen haben,
ebenso bestimmte. Diese Interessen, die nötig sind, um zu er-
kennen, geben aber den Vorgängen ihre bestimmte Deutung
und schließen viele Haltungen aus. Der Genießer genießt zwar
in der Kunst etwa den Brand eines ihm nicht gehörenden
Hauses einschließlich der Empfindungen, die er als Besitzer
hätte, aber die Haltung des Besitzens ist eine seinen Interessen
dienende. Die Interessen tauchen also im Kunstgenuß wieder
auf und machen ihn überhaupt erst möglich. Darin liegt die
grobe Tauschung.
Über Dialektik

Betreffend: Eine Organisation der Dialektiker

Die Verbreitung wirklidier Dialektik kann nidit auf eine


bloße Vermehrung des Wissens hinauslaufen, wobei es gleich-
gültig wäre, wessen Wissen vermehrt würde. Das Wissen der
aufsteigenden Klasse ist unmittelbar eingreifend, eben dialek-
tisdi und anders gar nidit existierbar. Der Ansporn für die
Intellektuellen bestünde gerade darin, daß sie hier unmittel-
bar verwertbares Wissen, das heißt eingreifendes Wissen, aus-
bilden können und dadurdi selber im Klassenkampf verwert-
bar werden, aber audi der große Kampf der proletarisdien
Klasse so für sie die Verwertung ihres Wissens und so ihrer
selbst wird.

Die Anwendung wirklidier Dialektik wird in dieser unserer


Gesellsdiaftsordnung sofort und unmittelbar zu direkt revo-
lutionären Aktionen und Organisationen führen müssen, wo-
bei die (bürgerlidie) gesellsdiaftlidie Tätigkeit als Ausgangs-
punkt für Organisationen und Aktionen dient. Zum Beispiel
wird eine dialektische Biologie eine ganze Anzahl von Medi-
zinern in direkte Kämpfe mit der - Polizei verwickeln. Eben-
so steht es mit der Technik und so weiter. Die Revolutionie-
rung braucht auch nicht nur etwa von dem Idealismus der
reinen Forscher erwartet zu werden (obwohl die »Bloß-
legung der Wurzeln« einer Tätigkeit, also der Antagonis-
men, ihrer scheinbar ins Unendliche gerichteten Aufgabe, ohne
die sie nicht ausgeübt werden kann, und ihrer tatsächlichen
Begrenzung durch die profitable Verwertung auch schon um-
Notizen zur Philosophie 147

wälzend wirken kann), auch die materielle Auswirkung der Pro-


duktion der Kopfarbeiter wird doch zunehmend abgewürgt!

Das Erfassen der ganzen intellektuellen Schichten ist weder


möglich noch notwendig. Notwendig ist ihre Sprengung.
Etwa

Ziele der Gesellschaft der Dialektiker

Konstruktion von Ansichten, die ein Verhalten ergeben oder


aus einem solchen kommen

und zusammenpassen. Ein solches axiomatisches Feld kann


nur das revolutionäre Proletariat konstruieren.

Die bürgerliche Klasse erhält widerspruchsvolles Feld. Sie be-


nötigt allenthalben Ansichten (Verhaltungsarten), die nur zur
Stützung anderer, schon aufgegebener Verhaltungsarten nötig
sind. (Idealismus und Physik, ersterer in einem soziologischen,
letztere in einem ökonomischen Feld nötig.)

Verzicht auf Beweis außerhalb des Feldes. Nichtmerkung des


»Un wider leglichen«.
148 Zur Politik und Gesellschaft

Was greift wo ein? Auflösung der Kategorien. Die Zertrüm-


merung des »beschränkten Zusammenhangs«. Wohin führt
dies und das?

6
Kausalität zum Beispiel nur, wo sie herstellbar anzuerkennen.

7
Verhalten als Logik. Geschäftsordnung als Ordnung.

Bereitstellung der Zitate. Lehre des Zitierens. Lehre der ein-


greifenden Definition. Die Interessenangleichung.

9
Das methodische Denken von mehr als einem.

Operieren mit widerspruchsvollen Fakten und Sätzen. (Der


Widerspruch soll nicht entfernt, wohl aber synthetischen hö-
heren Begriffen untergeordnet werden. Aufsuchen solcher Be-
griffe.)
Etwa19J1
Notizen zur Philosophie 149

Grundlinie für eine Gesellschaft für Dialektik

Die Gesellschaft beschäftigt sich mit materialistischer Dialek-


tik, betont dies aber nicht öffentlich, um ihren Mitgliedern
keine Schwierigkeiten zu bereiten.

Die Gesellschaft organisiert ein bestimmtes eingreifendes Den-


ken auf allen wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen
Gebieten.

Sie organisiert eine Lehre vom Verhalten des Menschen auf


Grund der Erkenntnisse der Dialektik, die das Verhalten der
Dinge und Menschen beschreibt. Sie erzieht Dialektiker.

4
Sie erzieht diese Dialektiker zu Organisatoren von Dialekti-
kern. Jedes ihrer Mitglieder beginnt seine Lerntätigkeit zu-
gleich mit einer Lehrtätigkeit; es organisiert sofort.

5
Die Arbeiten in den einzelnen Fachgebieten werden in Zusam-
menarbeit mit den auf anderen Fachgebieten tätigen Mitglie-
dern ausgeführt.

Die Facharbeiten beschäftigen sich vorzüglich mit der Entwick-


lung ihrer Wissenschaft, sie arbeiten an der Grenze derselben,
150 Zur Politik und Gesellschaft

einerseits den andern Wissenschaftsfächern, andrerseits den


Schwierigkeiten bei der realen fortschreitenden Entwicklung
alter Wissenschaften gleichermaßen hemmenden ökonomisch-
politischen Zuständen gegenüber.

Die Dialektiker bringen Ordnung, das heißt Übereinstimmung


in alle Meinungen, die das Verhalten der Menschen bestim-
men, indem sie untersuchen, wieweit sie die Entwicklung
ermöglichen oder hindern.

Die proletarische Dialektik


Da das Proletariat von der Bourgeoisie produziert wird, in
ihrem Schöße heranwächst, in einem ständigen Interessen-
konflikt, der aber zeitweise von Konflikten der beiden Klas-
sen mit anderen Klassen überschattet und zurückgedrängt
wird, hängt auch die Lebensauffassung der proletarischen
Klasse ab von der sie produzierenden Klasse. Die Bourgeoisie
produziert als ihre größte philosophische Leistung eine Dia-
lektik. Diese ist eine Betrachtungsweise, welche in einheit-
lich auftretenden Formationen wachsende Gegensätze auf-
spürt, eine auf Veränderungen, Umwälzungen, Entwicklung
das Interesse lenkende Betrachtungsweise. Diese Dialektik,
diese Revolutionsphilosophie erfährt ihren großartigsten
Ausbau (durch Hegel) in einer Zeit, wo die Bourgeoisie eine
Revolution mehr oder weniger hinter sich hat und bereits mit
der Schlichtung der Interessengegensätze beschäftigt ist, dem
Abstoppen der Entwicklung, während sie noch immer gezwun-
gen ist, ihre Revolution zu vervollständigen. Der Ausbau der
Dialektik durch Hegel erfolgt im Hinblick auf das anwach-
sende Proletariat, unter dem Zwang für die Bourgeoisie, mehr
und mehr Proletariat zu produzieren und mehr und mehr
Notizen zur Philosophie 151

seine drohende Emanzipation zu verhindern. Das Proletariat


übernimmt als Revolutionsphilosophie zunächst die bürger-
liche. Es übernimmt sie in einem erstaunlichen Schöpfungsakt.
Diese Übernahme ist eine Expropriierung, diese Verwendung
ist eine Zerschmetterung. So wie die Bourgeoisie alles tut, die
Revolution gegen den Feudalismus für sich allein auszubeu-
ten, so setzt sie auch eine Dialektik in die Welt, die alle Spuren
gewalttätiger Verkümmerung aufweist. Die Dunkelheit der
Hegeischen Sprache ist die Dunkelheit einer Geheimsprache.
Die Welt ist ins Rutschen, die Menschheit ins Schieben gekom-
men. Hegels Bild trägt dem Rechnung. Aber das eben ange-
langte Bürgertum, die Klasse, die, um ihre Revolution zu ma-
chen, eine andere Klasse, das Proletariat, benötigte und die,
um ihre Herrschaft auszubauen, mehr und mehr diese andere
Klasse verstärken muß, das Bürgertum ist ein schlechter, ein
gehemmter Referent der Dialektik. Der bessere Referent,
durch seine Lage, ist das Proletariat. Das Bürgertum, die Ge-
schichte betrachtend, schreibt eine Geschichte von Wandlun-
gen. Aber dieser Schreiber ist nicht in der Lage, die Prinzi-
pien, die er in der Vergangenheit feststellte, in der Gegenwart
oder gar für die Zukunft für wirksam zu erklären. Es hat eine
Geschichte gegeben, es gibt jetzt keine mehr. Nun, ein anderer
Schreiber schreibt weiter. Die proletarische Dialektik.
Fragmentarisch

Dialektik
Es ist psychologisch erklärlich, daß die Sozialisten erlebnis-
mäßig einen sehr schneidigen Fortschrittsbegriff haben. Der
Fortschritt besteht im Sozialismus, und ohne Fortschritt ist
Sozialismus nicht möglich. Dieser Begriff »Fortschritt« hat
große Annehmlichkeiten politischer Art, aber für den Begriff
»Dialektik« hat er nachteilige Folgen gehabt. Dialektik ist,
unter dem Gesichtswinkel des Fortschritts gesehen, etwas, was
152 Zur Politik und Gesellsdiaft

die Natur hat (immer gehabt hat), eine Eigenschaft, die aber
erst Hegel und Marx entdeckt haben. Vor dieser Entdeckung
war die Welt nicht erklärlich, wo etwas von ihr doch erklärt
wurde, war man eben, ohne es zu wissen und ohne es sich zu
merken, auf ihre Dialektik gestoßen. In den Köpfen der Dia-
lektiker nämlich spiegelt sich nur dieses Ding Dialektik, das die
Eigenschaft der Natur ist, wider. So in Kenntnis gesetzt von
den Eigentümlichkeiten irdischer Erscheinungen, sind die Dia-
lektiker, in gewaltigem Vorsprung zu andern Menschen, im-
stand, ihre Vorkehrungen zu treffen. Die Anhänger dieser ein-
fachen, aber begeisternden Auffassung verfallen, wenn man
sie auf die Ähnlichkeit ihrer Auffassung mit der einiger Hand-
leser, sie könnten die in der Handfläche gelesenen bevorste-
henden Ereignisse jetzt nach ihrer Feststellung natürlich
vereiteln, hinweist, in mürrisches und übelnehmerisches Gemur-
mel. In Wirklichkeit ist die Dialektik eine Denkmethode oder
vielmehr eine zusammenhängende Folge intelligibler Metho-
den, welche es gestattet, gewisse starre Vorstellungen aufzulö-
sen und gegen herrschende Ideologien die Praxis geltend zu
machen. Man mag mit gewissem Erfolg in Form gewagter
Deduktionen das Verhalten der Natur als dialektisch bewei-
sen können, aber viel leichter ist es, auf die schon erreichten
handgreiflichen und unentbehrlichen Erfolge dialektischen
Verhaltens, das heißt der Anwendung dialektischer Methoden
in bezug auf gesellschaftliche Zustände und Vorkommnisse,
also die Natur der Gesellschaft, und zwar unserer Gesellschaft,
hinzuweisen. Ich kann mir denken, daß eins gleich eins ist,
und ich kann mir denken, daß eins nicht gleich eins ist. Ge-
nügt nicht, zu sagen, daß das letztere zu denken günstiger ist,
nämlich, wenn ich in bestimmter Weise handeln muß?
Notizen zur Philosophie 153

Dialektische Kritik
Sollen nun an der Hand ihrer Resultate Anschauungen kri-
tisch untersucht (in die Krise gebracht) werden statt der Re-
sultate dieser Anschauungen, so müssen auch diese wieder nicht
auf eine Art gesichtet werden, als wolle man sie sich unter
Umständen einverleiben. Diese Art der Betrachtung aber ist
sehr schwer zu vermeiden, denn der ganzen Struktur der Ge-
sellschaft nach, in der wir leben, sind wir sehr auf die Einver-
leibung von Dingen angewiesen und damit auf Methoden,
welche alle Dinge eben in Einverleibbare verwandeln. Diese
unsere Art bekommt den Dingen schlecht. Die Anschauungen,
getrennt von den Menschen, die sie haben, und damit von den
Standpunkten, die diese Menschen einnehmen, haben keinerlei
Kraft mehr, und hauptsächlich weil unsere Anschauungen so
von bestimmten Menschen auf bestimmten Standpunkten
weggenommen sind, beeinflussen sie unsere Haltung so we-
nig. Wir stellen sie nur aus. Es ist also falsch, an Anschauun-
gen heranzugehen von der Seite her, wo sie übernehmbar
(oder ablehnbar) im obigen Sinne sind. Betrachten wir also
die Haltung von Menschen an der Hand ihrer Anschauun-
gen und vergegenwärtigen wir uns, daß diese Haltung mit je-
nen Anschauungen nur bedingt übereinstimmt, das heißt, daß
der Grad, nach dem die Handlungen der Menschen durch ihre
Anschauungen verpflichtet sind, erst untersucht werden muß.
Denn letzten Endes müssen wir darauf hinauskommen, her-
auszubringen, wie die Menschen handeln werden, wenn es gilt,
die Welt zu verändern. Dazu müssen wir sie jeweils in Grup-
pen teilen und die Einteilung so vornehmen, daß Interessen
sichtbar werden, die genügend stark und einflußreich sind,
um sich bemerkbar, also sichtbar zu machen.
154 Zur Politik und Gesellschaft

Was ist schön?


Schön ist es, wenn man die Schwierigkeiten löst.
Schön ist also ein Tun. Wenn wir sagen wollen, warum eine
Musik schön ist, dann müssen wir fragen, welch ein Tun hier
schön ist. Wir sprechen also dann vom Musizieren. Schönes
Musizieren ist ein Musizieren, in dem Schwierigkeiten gelöst
werden. Die Musik, welche auf diese Weise entsteht, ist unter
Umständen noch längere Zeit schön, weil immer wieder die
Empfindungen auftreten, welche die Lösung der Schwierig-
keiten bewirkt haben.

Solch ein Schönheitsbegriff ist vergänglich und hat Grade. Es


gibt Schwierigkeiten tiefer und weniger tiefer Art, lang und
kurz dauernde, Schwierigkeiten großer und kleiner oder wich-
tiger und unwichtiger Gruppen. Sie zu lösen, ist ganz verschie-
den schön und nicht ewig schön.

[Notizen über Dialektik]


Immer verrät, wer vom Wesen spricht, ob er nun froh spricht
oder anscheinend verzweifelt, den Wunsch, es möchte dies We-
sen immer so bleiben, und klagt er auch noch so: Er gibt zu
erkennen, er jedenfalls weiß kein Mittel, zu ändern, was da
eben Wesen ist!

Man kann sagen, daß die ersteBahn von Eri bis [Piermont] von
Verbrechern gebaut wurde. Dennoch kam sie zustande und
lohnte sich nicht nur für die Verbrecher. Sie war ein sehr wich-
tiges Werk, und sie zu bauen war also nicht nur ein Verbre-
chen. Aber was soll man von einer Gesellschaft sagen, in der
^ die wichtigen Werke nur durch Verbrechen zustande kommen?
Denn so ist es: Das Land hatte von der Bahn Nutzen, aber
der Anstand hatte Schaden.
Notizen zur Philosophie 155

Ist die Privatinitiative gut oder ist sie schlecht? Die großen
industriellen Werke wurden durch Leute mit Privatinitiative
aufgebaut. Sie war also gut. Als die großen Werke standen,
war sie unnütz geworden, und die Kollektivinitiative konnte
sie abschaffen. Die Arbeiter hatten sie immer schlecht genannt.
So war es: Je mehr ihr Gutes (in den Werken) hervortrat, desto
mehr trat auch ihr Schlechtes hervor. Das Gute bezeichnete
das Schlechte als schlecht.

Zustände und Dinge, welche durch Denken nicht zu verän-


dern sind (nicht von uns abhängen), können nicht gedacht
werden. (Es entstehen Anomalien, Schädigungen des Denk-
apparates, Asozialitäten.)

Es soll nicht bestritten werden, daß Bürger sich wie Adlige


benehmen können zu einer Zeit, wo sich Adelige schon nicht
mehr wie Adelige benehmen oder wie Bauern, die sich niemals
so benähmen wie Bauern, wenn sie nicht Felder bearbeiteten.
Der bürgerliche Mensch löst den Adeligen, der proletarische
den bürgerlichen nicht nur ab, sondern er enthält ihn auch.

Es gibt mindestens zwei verschiedene Arten, den Menschen


in seiner Stellung als Ursache und Wirkung zu sehen. Ich
kann, wenn ich von der Handlung eines Staatsanwaltes höre,
hauptsächlich an einen ziemlich abstrakten, mit allen mög-
lichen Gefühlen willkürlich belegbaren »Menschen« denken,
der ungefähr so reagiert haben wird, wie ich in dieser Situ-
ation reagiert haben würde. Die Staatsanwaltschaft rechne ich
dabei zur Situation, ich räume ihr ebenso Einfluß auf meine
Handlungsweise ein wie den andern die Situation eben be-
stimmenden Faktoren.

Auch die Todesfurcht, die Nährmutter der Religionen, muß


als Folge bestimmter gesellschaftlicher Zustände behandelt
werden.
i $6 Zur Politik und Gesellschaft
Tragen Sie Herrn Walkers Leiche ins andere Zimmer! Also
Herr Walker besitzt eine Leiche?
Mir wird das Leben entrissen. Bin ich denn noch da, wenn
es weg ist?

Zu untersuchen ist jeweilig: Welche Behauptungen (Vorstel-


lungen, welches geistige Vorgehen) benötigt man, um (als Mit-
glied welcher Klasse?) zu handeln?
Auch ist nach der Metaphysik zu fahnden, und zwar bei jeder
Aussage. In der gegebenen zum Beispiel steckt sie im Begriff
»Notwendigkeit«. Die »Notwendigkeit« des gegebenen ge-
schichtlichen Prozesses ist eine Vorstellung, die von der Mut-
maßung lebt, für jedes geschichtliche Ereignis müsse es zu-
reichende Gründe geben, damit es zustande kommt. In Wirk-
lichkeit gab es aber widersprechende Tendenzen, die streitbar
entschieden wurden, das ist viel weniger. Außerdem liegt der
besagten Vorstellung die unausgesprochene Überzeugung zu-
grunde, daß es nach Aufzählung aller Möglichkeiten, Motive,
Dispositionen, Inklinationen und so weiter noch eine Notwen-
digkeit für sich gäbe, eine geheime Gewalt, die sich nicht voll-
ständig in den besagten beobachteten und beobachtbaren Vor-
gängen und Beziehungen ausdrückt. Zunächst entstehen, wenn
große Menschengruppen, ob nun Einzelgesichter darunter
sichtbar sind oder Kollektive, ihre Interessen gegen- und mit-
einander ausfechten, bestimmte beobachtbare Resultate in
Form von Rechtsausübungen, gesellschaftlichen Bräuchen jeder
Art, für die verschiedenen Entscheidungen sind natürlich (je-
denfalls theoretisch) zureichende Gründe zu entdecken; aber
darüber hinaus wird dann häufig, alten metaphysischen Nei-
gungen entsprechend, noch eine »Notwendigkeit« entdeckt
oder vermutet, eine geheime Leitung: Es ist die »höhere Ge-
walt« der Religionen.
Prozesse kommen in Wirklichkeit überhaupt nicht zu Ab-
schlüssen. Es ist die Beobachtung, die Abschlüsse benötigt und
legt. Im großen werden natürlich Entscheidungen getroffen
N o t i z e n zur Philosophie 157

(und angetroffen), gewisse Bildungen ändern oder verlieren


gar ihre Funktionen, ruckweise zerfallen Qualitäten, ändert
sich das Gesamtbild.
Suche die Situationen auf, in welchen die gegebenen Sätze auf-
tauchen könnten. Von welcher Seite könnten sie auftauchen
und zu welchem Zweck gesagt werden?
Anwendung der Dialektik zur Zerstörung von Ideologien.
Axiomstafeln: Wozu es führt, was dahinter steckt?
Das asoziale Verhalten.

In den Geschichtsbüchern und Theaterstücken werden für die


Handlungen der Personen meistens zu wenige Motive genannt.
Es wird der Anschein erweckt, die Tat sei aus einem einzigen
Motiv getan worden. Das ist eine unglückliche Darstellung,
denn wenn man auch gewisse Taten nach der Kenntnis ihres
Hauptmotivs »verstehen« kann, so kann man so doch ähn-
liche Taten nicht verhindern oder hervorrufen. Um in irgend-
einer oberflächlichen Weise ein bestimmtes Motiv an eine be-
stimmte Tat zu knüpfen, genügt es, ein Motiv zu nennen, aber
um einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen an einer
Tat zu hindern oder um bei ihm oder ihr eine Tat hervorzu-
rufen, muß man nicht nur das'Hauptmotiv, das den Ausschlag
gibt, sondern das ganze Bündel von Motiven ausfindig
machen, das für gewöhnlich eine Tat erst ermöglicht. Denn in
jedem Motivbündel sind Widersprüche gebunden, und sie ver-
stärkend oder sie beilegend, kann man die Täter beeinflussen.
Über eingreifendes Denken

Wer braucht eine Weltanschauung?


Es heißt Denken defaitistisch auffassen, wenn man ihm jeden
tieferen Einfluß nimmt. Um ihm den Einfluß zu gewähren —
vom Denken zu verlangen, daß es Einfluß ausübt: bedeutet
einen Anspruch an das Denken stellen —, muß man natürlich
verzichten auf eine Vorstellung, die einen Leonardo, dem die
Arme fehlen, dennoch malen läßt. Die Vorstellung, daß den
geknebelt in einem Erdloch bei dem Gewürm Angeschmiedeten
nichts hindern könne, wenigstens zu denken, was ihm beliebe,
mag jene trösten, die im Angeschmiedetsein ein unveränder-
liches Schicksal sehen, in Wirklichkeit denkt der von der Wirt-
schaft Geknebelte aber nur dann frei, wenn er sich in Gedan-
kenbefreit, und zwar von der Wirtschaft. Und dies kann er nur,
wenn sein Denken die Wirtschaft verändert, also die Wirtschaft
von sich abhängig macht, also von der Wirtschaft abhängt.

Erkannt zu haben, daß das Denken was nützen müsse, ist die
erste Stufe der Erkenntnis.
Die Mehrheit derer, die diese Stufe erreicht haben, gibt ange-
sichts der Unmöglichkeit, eingreifend zu denken, das Denken
(das nur spielerische Denken) auf.

Eingreifendes Denken ist nicht nur in Wirtschaft eingreifendes


Denken, sondern vor allem in Hinblick auf Wirtschaft im Den-
ken eingreifendes Denken.

Kant ermöglichte es der bürgerlichen Wissenschaft, materiali-


stisch zu arbeiten (was die bürgerliche Gesellschaft brauchte),
indem er ihr gestattete, davon und von den Resultaten ihrer
Notizen zur Philosophie 159

Arbeiten unabhängig eine Weltanschauung zu behalten (was


die Gesellschaft ebensosehr brauchte), aber im großen und
ganzen war damit doch nur dem Materialismus Tür und Tor
geöffnet, denn diese selbe Trennung des Wissens vom Glauben
trennte auch die Wissenschaften voneinander, da sie ja ihr Ge-
meinsames nicht mehr zusammenlegen durften. Hätten sich die
Naturforscher nach getaner Arbeit in die Abteilung nebenan
für Soziologie begeben, statt gemeinsam mit den Soziologen
in die Kirche, dann hätten sie die bürgerliche Weltanschauung
auch theoretisch vernichtet. So taten sie es praktisch.

Die bürgerlich bestimmte Menschheit muß, um sich als Mensch-


heit zu halten, das Bürgerliche aufgeben.

Vielfach verbreitet ist die Anschauung, das Bürgertum habe


die Kraft verloren, sich eine wirkliche Weltanschauung zu bil-
den, dies sei für das Bürgertum sehr schlecht, es sei daher emsig
und verzweifelt damit beschäftigt, zu einer neuen Totalität zu
gelangen. Tatsächlich zeigt die bürgerliche Wissenschaft Ten-
denzen dahin. Überall wird von den großen Zeiten gespro-
chen, die bevorstehen, wenn endlich die Physiologie und die
Chemie oder die . . . und die . . . zusammenwachsen würden.
Tatsächlich sind diese Tendenzen daran, die bürgerliche Wissen-
schaft zu ruinieren. Es sind Tendenzen, die von außerhalb der
bedrohten Klassenlage des Bürgertums kommen. Von ganz
bestimmter Seite werden solche unerfüllbare Forderungen an
die Wissenschaft gestellt.

Weltanschauungen sind Arbeitshypothesen. Das Proletariat


mag also, ohne besonderen Schaden zu nehmen, eine solche
kreieren und benutzen, seine Arbeit ist wichtig. Diese Weltan-
schauung mögen auch jene bürgerlichen Intellektuellen benut-
zen, die Arbeitshypothesen ähnlicher Art benötigen, aber
schon bei diesen wird dies sehr gefährlich sein.
160 Zur Politik und Gesellsdiaft

Nicht nur eine mit Bestimmtheit zu erwartende romantische


Welle (Voltaire spricht mit Recht von einer unversöhnlichen
Feindschaft zwischen Vernunft und Romantik) könnte uns
zwingen, unsere Arbeiten in einer Form abzuliefern, die der
klassischen entspricht, auch die Notwendigkeit in einer feind-
lichen Umgebung, formale Qualität als Kampfmittel einzu-
setzen (wobei zu untersuchen wäre, auf welchen Gebieten
Qualität im Kampf mit den feindlichen Interessen noch als
Qualität in Erscheinung treten kann). Dabei wäre individuel-
ler Realismus übrigens kaum nötig, da ja die Verdunklungs-
absicht der bürgerlichen Ideologen mehr auf die Prozesse zwi-
schen den Menschen gerichtet ist. Verschleiert werden sollen
die Beziehungen zwischen den Menschen, und zwar jene Be-
ziehungen, die mit der sozialen Existenz etwas zu tun haben.
Und verschleiert soll werden, in welch riesigem Maße diese
Verhältnisse an der Struktur der Person beteiligt sind. Nötig
ist also ein Realismus der menschlichen Funktionen.

Klassik ist keineswegs, wie sich dies für den nachherigen Be-
trachter darstellt, eine besonders hohe Stufe der Vervoll-
kommnung innerhalb einer eigengesetzlichen Kunstgattung
oder der lediglich reflektierte Ausdruck einer in sich geschlos-
senen, eben »klassischen Epoche«, also ein Resultat, sondern
etwas viel Absichtsvolleres (wenn auch nicht unbedingt be-
wußt Gemachtes), und zwar gingen die Absichten auf gesell-
schaftliche Zustände. Der Versuch, bestimmte Vorschläge ethi-
scher und ästhetischer Art dauerhaft zu gestalten und ihnen
etwas Endgültiges, Abschließendes zu verleihen, also klassisch
zu arbeiten, ist der Versuch einer Klasse, sich Dauer und ihren
Vorschlägen den Anschein von Endgültigkeit zu geben.

Daß sich der Mensch unter verschiedenen Bedingungen (klas-


senmäßig) anders verhält, das setzt, um geglaubt zu werden,
den Glauben voraus, er verhalte sich unter Gleichen gleich.
Notizen zur Philosophie 161

Täte er dies nicht, so wäre es doch wohl zu erzielen. Kann man


sich jeweils ein anderes Verhalten von ihm denken (man muß
es; gerade in dem dadurch in der Masse erzeugten ewig leben-
digen Widerspruch liegt die Entwicklungsmöglichkeit der
Masse), dann genügt die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wo ehe-
dem die Kausalität erstrebt wurde. Man kann von der Masse
aus die Wahrscheinlichkeit nämlich nahezu unbegrenzt ver-
stärken.

Wodurch (durch welche ökonomisch-gesellschaftliche Notwen-


digkeiten) immer die Trennung der Wissenschaften bewirkt
wurde - sie ist eine Kreation des Kapitalismus - , sie kann aus-
gewertet werden. — Ob sie eine Maßnahme des aufbauenden
oder des abwärtsgehenden Kapitalismus ist - für uns ist sie
positiv. Sie wird helfen, den Kapitalismus unter den Boden
zu zwingen und den Sozialismus aufzubauen. Nur die Tren-
nung hat es den Einzelwissenschaften ermöglicht, materia-
listisch zu arbeiten und also wirklich verwertbare Methoden zu
entwickeln. Sie wird in ihrer bürgerlichen mechanischen Form
nicht beibehalten werden, aber wenn die Wissenschaften sich
gegenseitig durchdrungen haben werden, wird es nicht zu dem
Zweck geschehen sein, den die Liebhaber einer Weltanschauung
dieser Durchdringung setzen (so wie auch dieser Zweck nicht
jene Durchdringung erreicht haben wird): Es wird nicht die
große Schau sein, die Heideggersche Zusammenschau im In-
dividuum.

Wenn die Größe h für unsern Seinsentwurf nichts mehr her-


gibt (sie mag teilweise durch ihn, das heißt bei seiner Kor-
rektur durch empirisch wahrgenommene Realität errechnet
worden sein), so beweist das nicht nur die Notwendigkeit, un-
sern Seinsentwurf zu korrigieren, bis die Größe h wieder hin-
einpaßt, sondern es ist bereits so, daß die Größe h (welche
nur ein Verhalten gibt und anonym zu bleiben wünscht)
16z TsUT Politik und Gesellsdiaft

jeden Seinsentwurf gleicher Funktion unmöglich und unnötig


machen wird. Was immer sich in dem Engelsschen Satz »Das
Leben ist die Daseinsweise des Eiweißes« sich schon geändert
hat oder sich noch ändern wird, die ihm zugrunde liegende
Betrachtungsweise kann unter Menschen beibehalten werden,
welche auf Grund einer von der unsern allerdings sehr ver-
schiedenen Gesellschaftsordnung imstande sein werden, durch
ihr Verhalten genügend Aufschluß über sich zu geben und zu
erhalten.

Man hat den Wissenschaftlern ihre Resultate abgenommen.


Man muß dazu übergehen, ihr Verhalten zu beurteilen. Die
Resultate der Naturwissenschaften gingen in die Technik ein,
diese war industriell bestimmt. Ein ganz bestimmter Aus-
tauschprozeß spielte sich ein, wobei die Wissenschaft ganz be-
stimmte Funktionen übernahm. Ihr Ausgreifen ist nicht zu
übersehen, ist aber endlich. So laut das Geschrei heute gewor-
den ist, die Wissenschaft nähere sich der Ablieferung einer To-
talität - das Geschrei kann nicht aus der Wissenschaft selber
sich erhoben haben, etwa angesichts zunehmender Klärung.
Der Schrei nach der Totalität ist eine Bestellung. Sie wird ge-
braucht.

[Über die Funktion des Denkens]


Diese eigentliche Philosophie zu pflegen, kam niemandem in
den Sinn, weil ihre Pflege ganz unmöglich erschien unter den
bestehenden Umständen. Es schien dies wie ein Unternehmen,
zu dem im Augenblick alle Voraussetzungen fehlten. Jeder-
mann schien irgend etwas abzuwarten, ohne daß jede Anstren-
gung vergebens bleiben müßte. In der Tat, was sollte man von
einem Verstand an Aufklärung der wahrhaftigen menschlichen
Verhältnisse erwarten, der nur darin geschult war, solche Ver-
Notizen zur Philosophie 163

hältnisse zu verschleiern, und zwar seit Jahrhunderten, und


noch dazu imstande sein mußte, etwas zu verschleiern, was er
nicht einmal zu diesem Zwecke selber kennen mußte! Denn dies
war die Funktion, die der Verstand im praktischen Leben hatte,
damit ernährte der Kopf seinen Magen. Oder wie sollte man
sich einrichten in eine Welt, die in keiner Weise fertig war, sich
abfinden mit Änderbarem? Sicher war es weise, den nicht ab-
wendbaren Schlag in einer bestimmten Haltung zu empfangen,
aber den abwendbaren? Sowohl zum Erkennen der Verhält-
nisse wie zu ihrer Änderung schien die Philosophie ungeeignet,
ohne daß sie etwa deshalb aufgehört hätte, zu existieren. Daß
es sie unter solchen Umständen immer noch gab, war beinahe
der schlimmste Beweis gegen sie. Man konnte verhältnismäßig
leicht die Unabhängigkeit des Denkens von der Art und Weise,
wie die Menschen ihre Existenz mit und gegeneinander sicher-
ten, behaupten, solange diese Art und Weise einigermaßen
stabil waren, das heißt sich nicht zu ändern schienen, etwas von
Schicksal an sich hatten. Aber jetzt änderten sie sich mit jedem
Jahr und mit jeder Stunde, und wo früher eine Aussage ge-
nügt hatte, war jetzt eine Prophezeiung nötig, so wie in der
Inflation Geschäfte durchaus das vermutliche Sinken des Geld-
wertes bis zum Tage der Realisierung einkalkulieren mußten!
Und die Prophezeiungen wurden durch die Realitäten jeweils
so grausam kritisiert! Man konnte auch sich allerhand darauf
zugute tun, daß das Denken von der Wirtschaft unabhängig
sein sollte, aber was war daran günstig, daß die Wirtschaft un-
abhängig vom Denken war? Die Wirtschaft nämlich war nicht
nur von einem bestimmten Denken, eben dem philosophischen,
unabhängig, also ein absolutes, ein Ding an sich, sondern von
jedem Denken. Dies, daß die Wirtschaft selbst vom Denken der
Wirtschaftsführer, das keiner staatlichen gewalttätigen Be-
schränkung unterlag, unabhängig sein sollte, war selber un-
denkbar, hauptsächlich, weil diese wenigen doch Profite mach-
ten. Man wußte wenig über die Umstände und Mächte, die das
eigene Schicksal bestimmten, aber man sah allenthalben Leute
164 Zur Politik und Gesellschaft

Drähte ziehen. Sollte man annehmen, daß diese keine Ahnung


hatten? Sie hatten keine, und dies war es, woraus sie ihre Pro-
fite zogen. Nur von der Unwissenheit des andern konnte der
eine profitieren, dies lag im System. Auch für die Führer war
ein Erfassen des Ganzen weder möglich noch nötig, wohl aber
ein Verschleiern der Teile. Meinungsverschiedenheiten gab es
nur auf Grund von Interessenverschiedenheiten, und es galt
nicht, Argumente zu finden, sondern Drohungen. Schließlich
galt alles Denken nur mehr als Ausdruck der denkenden Per-
sonen, unverbindlich für alle andern, wenn es nicht das Ausfin-
digmachen von Gewaltmethoden war. Natürlich sprach es sich
bald herum, daß nur mehr in Interessen gedacht wurde, aber
auch in dieser Form stimmte der Satz nicht. Denn große Schich-
ten der Völker vermochten auch beim besten Willen [nicht] in
ihren Interessen zu denken, dies doch nicht, da sie schlechter
dachten als andere und in für das Denken schlechterer Lage.
Diese Schichten waren im Rückstand, und dieser Rückstand
wurde natürlich ausgebeutet, um so mehr, als es ja eigentlich
keinen Fortschritt, sondern nur einen Vorsprung zum Ausbeu-
ten gab. Im Grunde waren es unter solchen Umständen noch
die Klügeren dieser Schichten, die das Denken überhaupt für
überflüssig erklärten (es führte bei ihnen wirklich zu nichts!).
Da der wirtschaftliche Prozeß gleichzeitig eine sogenannte Ra-
tionalisierung brachte, eine Durchvernünftigung, die diesen
Schichten schwere Opfer auferlegte, da sie vermittels der Ver-
nunft aus dem Produktionsprozeß ausgeschaltet werden sollten,
waren sie nun vollends gegen die Ratio und für das Irrationale.

Über die Technik des Denkens


Für diese Ungeschulten, zwecklos Denkenden heißt es, die gro-
ßen gedanklichen Systeme der Plato und Kant verdächtigen,
wenn man ihre Abhängigkeit von wirtschaftlichen behauptet.
Abgesehen davon, daß hier das »Wirtschaftliche« mit jener
Notizen zur Philosophie 165

Verachtung belegt wird, die es in unserer Zeit allerdings ver-


dient-in dieser Verachtung verrät sich ganz unbewußt die tief e,
vom Denken nicht berührte Unzufriedenheit mit dem durch
Denken nicht veränderbaren Wirtschaftlichen -, warum sieht
man nicht, daß die Abhängigkeit vom Wirtschaftlichen, die wir
behaupten, keineswegs imstand ist, jene gedanklichen Systeme,
deren Größe wir nicht leugnen, zu verhindern? Wir gehen wei-
ter: Die wirtschaftlichen Abhängigkeiten haben, wenn sie diese
Gedanken nicht hervorgebracht haben, sie doch sicher groß ge-
macht, nämlich eingreifend. In was eingreifend? In Wirtschaft-
liches. Warum nicht ihre Größe beweisen aus dem Grad ihres
Eingreifens?

[Richtiges Denken]
Wenngleich das Denken auf vielen Gebieten große Ergebnisse
gezeitigt hat und immerfort zeitigt, wenngleich unsere Be-
rechnungen uns den Magen füllen, die Kälte abhalten, die
Nächte erhellen, uns von einem Ort zum andern mit großer
Schnelligkeit bringen und so weiter, so ist doch unser Handeln
in wichtigsten und gefährlichsten Angelegenheiten weniger
von Berechnungen als von ziemlich trüben, ungenauen, ja
widerspruchsvollen Beweggründen geleitet. Es ist uns nicht
schwer, wenn wir gehandelt haben, triftige Beweggründe in be-
liebiger Menge zu nennen, aber vorher, wenn wir uns zum
Handeln anschicken, haben wir keineswegs diese schöne Über-
sicht. In den meisten Fällen berechnen wir nicht, sondern raten.

Es wird mir nicht einfallen, zu behaupten, der Mensch sei dazu


da, zu denken. Natürlich soll das Denken einfach seine Exi-
stenz ermöglichen. Ich kann mir Zustände menschlichen Zusam-
menlebens vorstellen, wo nicht allzu gewaltige Denkakte nötig
sind, damit der Mensch sein Leben fristen kann. Es spricht ent-
schieden sehr gegen unsere Zustände, daß kaum die gewaltigsten
166 Zur Politik und Gesellsdiaft
denkerischen Leistungen die überwiegende Mehrzahl der
Menschen vor dem Elend bewahren können. Wie viele Zufälle
waren nötig, damit selbst ein so praktischer und entschlossener
Mensch wie Lenin halbwegs ein Alter erreichte, das ihm ge-
stattete, etwas für die Menschheit zu tun. Und er starb sehr
früh. Wieviel List brauchte er, um an einen Teil jener Bücher
heranzukommen, in denen die Menschheit einige ihrer Erfah-
rungen aufgespeichert hatte, ich meine zum Beispiel den Platz
im britischen Museum. Er war schlecht genährt, und auch diese
Nahrung war nur schwer aufzutreiben. Welche Mühe hatte er,
an jene Leute heranzukommen, die er unterstützen wollte und
deren Unterstützung er benötigte! Man verjagte ihn und legte
zwischen ihn und sie viele Länder, halb Europa.

Er dachte in andern Köpfen, und auch in seinem Kopf dachten


andere. Das ist das richtige Denken.

Das Denken als ein Verhalten


[Notizen]

Kritik des Denkens durch den Faschismus. Das fortgeschrit-


tene Denken ist liberalistisch-materialistisch. Das folgenlose
Denken (bloß anschauender Naturalismus, Phänomenologie,
bloße Technik und so weiter), das nicht imstande ist, positiv
die ungeheuren und wachsenden Widersprüche zu lösen, sie
aber schamlos widerspiegelt. Schätzung und Förderung des
industriellen Fortschritts, aber Unfähigkeit, ihn entscheidend zu
fruktifizieren. Die Vernunft im Dienste der Rationalisierung,
die im Dienste des Profits steht. Betonung der Demokratie,
aber Unfähigkeit und Fehlen jedes Willens, ihr die ökonomi-
sche Basis zu verleihen. Pazifismus, aber unfähiger und fehlen-
der Wille. Siehe vorigen Satz! Kurz, das betreffende liberalisti-
Notizen zur Philosophie 167

sehe Denken ist an seine Klassengrenzen gestoßen, ohne daraus


die Konsequenzen zu ziehen. Völlige Entwertung dieses Den-
kens durch den Faschismus.

Das Denken wird vom Faschismus als ein Verhalten behandelt.


Als solches ist es (neu!) eine juristische, eventuell kriminelle
Handlung und wird mit entsprechenden Maßnahmen beant-
wortet. Darin ist nichts Tadelnswertes. Bisher üblich: das Ge-
dachte mit Gedachtem zu vergleichen, dahinter verschwindet
der Denker. Die Nuance wird preiswert. Das Denken zielt auf
»Wahrheiten«, die immer gelten, gesagt zu jedem Zeitpunkt,
auf jedem Feld die gleiche Wirkung haben. Die Wahrheit hat
also weder Zeit noch Ort.

Der dreifache Zweck des Denkens als eines Verhaltens:


1) Das auf den Aufbau der (eigenen) Person gerichtete
Denken (Bildungsdenken).
2) Das technische Denken (Berufsdenken, wissenschaftliches
Denken.
3) Das politische Denken.
Der Bankerott dieser drei Verhalten im Hochkapitalismus:
Die Person kann nicht mehr aufgebaut werden. Das technische
Denken führt den Denker aus der Gemeinschaft der Menschen
heraus, macht ihn zu ihrem objektiven Feind, isoliert ihn (als
Spezialisten, der nur den Arbeitsteil bewältigen darf), so daß
er mit Leichtigkeit zu mißbrauchen oder zu überwältigen ist.
Das politische Denken bleibt, da ihm kein Einfluß auf die Ge-
schehnisse eingeräumt ist, infantil und abstrakt. Vor allem
zeigt sich der Zusammenhang zwischen 1), 2) und 3) entschei-
dend gestört. (Baconscher Mensch: als Charakter, als Berufs-
mensch, als Untertan.)
168 Zur Politik und Gesellschaft

Das Denken als gesellschaftliches Verhalten. Aussichtsreich nur,


wenn es um sich selbst und das Verhalten der Umwelt Bescheid
weiß. Aussichtsreich nur, wenn es imstand ist, die Umwelt zu
beeinflussen.

5
Die Gesetze vom Verhalten der sozialen Elemente eine Dialek-
tik.
Die Lehre von den Klassen.
Die Lehre von der menschlichen Entwicklung als einer Ent-
wicklung der Produktionsweise.
Die Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus.

Das eingreifende Denken. Praktikable Definitionen: solche De-


finitionen, die die Handhabung des definierten Feldes gestatten.
Unter den determinierenden Faktoren tritt immer das Verhal-
ten des Definierenden auf.

Notwendigkeit einer Kritik des Faschismus als eines Komple-


xes von Verhaltungsweisen durch das eingreifende Denken.
Kritik auch der Vorstellungen, wo sie eingreifende Verhaltungs-
weisen darstellen.

Über das Anfertigen von Bildnissen


Der Mensch macht sich von den Dingen, mit denen er in
Berührung kommt und auskommen muß, Bilder, kleine Mo-
Notizen zur Philosophie 169

delle, die ihm verraten, wie sie funktionieren. Solche Bild-


nisse macht er sich auch von Menschen: Aus ihrem Verhalten
in gewissen Situationen, das er beobachtet hat, schließt er
auf bestimmtes Verhalten in anderen, zukünftigen Situa-
tionen. Der Wunsch, dieses Verhalten vorausbestimmen zu
können, bestimmt ihn gerade zu dem Entwerfen solcher
Bildnisse. Den fertigen Bildnissen gehören also auch solche
Verhaltensarten des Mitmenschen an, die nur vorgestellte,
erschlossene (nicht beobachtete), vermutliche Verhaltensarten
sind. Dies führt oft zu falschen Bildern und auf Grund dieser
falschen Bilder zu falschem eigenen Verhalten, um so mehr,
als sich alles nicht ganz bewußt abspielt. Es entstehen Illu-
sionen, die Mitmenschen enttäuschen, ihre Bildnisse werden
undeutlich; zusammen mit den nur vorgestellten Verhal-
tensarten werden auch die wirklich wahrgenommenen
undeutlich und unglaubhaft; ihre Behandlung wird unverhält-
nismäßig schwierig. Ist es also falsch, aus den wahrgenom-
menen Verhaltungsarten auf vermutliche zu schließen? Kommt
nur alles darauf an, richtiges Schließen zu lernen? Es kommt
viel darauf an, richtiges Schließen zu lernen, aber dies ge-
nügt nicht. Es genügt nicht, weil die Menschen nicht ebenso
fertig sind wie die Bildnisse, die man von ihnen macht und
die man also auch besser nie ganz fertigmachen