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II. TEIL
ROMANTISCHEN LITERATUR
VON
PROF.DR.FRANZ SCHULTZ
Dritte,
unveränderte Auflage
MCMLIX
J.B.METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
STUTTGART
ISBN 978-3-476-99370-0
ISBN 978-3-476-99369-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-99369-4
Für den zweiten Band der «Klassik und Romantik der Deutschen» gilt,
was ich im Vorwort und in der Einleitung zum ersten Band bemerkt habe.
Aufbau und Methode des zweiten Bandes müssen sich danach durch sich
selber rechtfertigen. Wenn man dieses und jenes vermißt, so gedenke man
des Satzes, den Gervinus in der Einleitung zum ersten Bande seiner «Ge-
schichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen» 1835 nieder-
schrieb: «Ich weiß nicht, warum ich es nicht geradezu sagen soll, daß ich
die hergebrachte kompendiarische Form unserer Literaturgeschichten ... ,
wenn sie nicht ihren Zweck als erschöpfende Hilfsmittel in sich selbst haben,
für einen unserer Bildung ganz unwürdigen Rest alter Pedanterie ansehe,
hinter dem sich nur allzu oft Seichtigkeit und Mangel an aller Einsicht klug
versteckt.» Ein verständnisvoller Kritiker des ersten Bandes hat die Absicht
des Werkes getroffen, wenn er sagte, es gehöre zu den Büchern über deut-
sche Literaturgeschichte, die nicht Wissen, sondern Wesen vermitteln wol-
len. Immerhin glaube ich nicht unter Mangel, sondern unter Überfülle des
verarbeiteten Stoffes gelitten zu haben.
Bei der Durchsicht für die zweite Auflage wurde nach den Grundsätzen
verfahren, die sich aus den Korrekturen des Verfassers zum ersten Band
ableiten ließen. Um dem Kenner die Stellung des Verfassers zu seinem
Thema auch noch ganz unmittelbar zu vermitteln, wurde der Vortrag an-
gefügt, den ProfessorSchultz kurz vor seinem Tode am 15. September 1950
während der Germanistentagung in München gehalten hat.
V
INHALT
Seite 1-106
II
Seite 107-211
Klassik als Begriff- Das Wort «Klassik>> - Der klassische Kanon - Sinn der «Deut-
schen Klassik>>- «Klassisch-Romantische Phantasmagorie»- Die bildende Kunst-
Die Musik - Historiker und Ästhetiker - Hegel-«Klassik» in der Ästhetik des
19. Jahrhunderts- Goethe und Schiller als «Klassiker»- Selbstdeutung der «Klas-
sik»- «Literarischer Sansculottismus»- Goethe als Deutscher- Goethes Bestim-
VI
mung des «Klassischen» - Schillers Definition des Künstlers - Das Gattungsmäßige
als Klassizität- Das «Dauernde»- Schillers erzieherische Aufgabe -<<An die Freude»
- Der Erzähler Schiller - Schiller und Kleist -«Moralische Erzählung»- Anti-
kantisches - Katholisches, Kriminelles, Übersinnliches - Die Linie zur Romantik -
Das Geheimnisvolle - Vorahnung der Revolution - Der Prosastilist Schiller - Ge-
schichtsschreibung - Geschichte und Drama - Geschichte und Dichtung - Klas-
sische und Romantische <<Phantasie» - Schiller als Historiker - Schillers Sprache -
Johannes von Müller, Rousseau -Schiller und das Mittelalter -<<Jungfrau von Or-
leans»- «Maria Stuart»- Romantischer Kunstkatholizismus - Schiller und der
romantische Geschichtssinn - Geschichte oder Philosophie - Schiller und Herder
-Schiller und das Epos - Durchbruch des Nationalen -Spätere Spekulationen über
das Epos - Wilhelm von Humboldt - Das Epos der Romantik - Schillers Grie-
chennacheiferung - Schiller und Goethes <<lphigenie»- Griechische Tragödien -
Französisches Drama - Shakespeares Schatten - Griechentum und Franzosenturn -
«Die Götter Griechenlands»- «Die Antike an den nordischen Wanderer»- Todes-
problem - Antik und Christlich - Hölderlin - «Klassisch-Romantisches Zwischen-
spiel»- Schillers Begriff des« Volkes»-« Volksdichter>> und« Volkserzieher»- Volks-
nähe und Volksferne -Öffentlichkeit als Atemraum der Klassik -Die« Horen».
III
Seite 212-552
VII
lerdeutung - Schillers dramatischer Stil - Der Jambus- Stilwandel in<< Don Car-
los » -Von der Prosa zum Vers -Die Griechen und Shakespeare - Kant- Stilgesetz
der deutschen Klassik - Schillers <<Idealismus» - «Idealismus» und «Realismus» -
Schicksalsbegriff- Der «politische» Schiller- Theater- Einheitlichkeit des klas-
sischen Systems - Schillers philosophische Schriften -Schiller und Kaut - Ausbrei-
tung der Kautischen Lehre - Schillers Schönheitsbegriff - <<Über das Erhabene» -
Das «Ästhetische»- »Naiv>> und «sentimentalisch»- Vortritt der Dichtung.
IV
Seite 553-428
ANHANG:
VIII
I
2
« LEBENSSTIMMUNG»
S. 24.
« ZEITSTIMMUNG» - «LEBENS STIMMUNG»
4
SCHICHTUNGEN UND SPANNUNGEN UM 1800
5
MORPHOLOGIE DES LITERARISCHEN LEBENS
6
SICHT UM DIE JAHRHUNDERTWENDE
die sich mir aufdringt und die ich nur so hinwerfe, verdiente besser
gesagt und abgehandelt zu werden.» In der Tat enthalten diese Sätze
im Grunde nicht mehr und nicht weniger als eine Morphologie des
literarischen Lebens. Daß sich ihm eine solche nahelegte gerade in
dem Zeitpunkte des Zusammenstandes so vielfältiger geistiger Re-
gungen, wie sie das Ende des 18.Jahrhunderts in Deutschland in sich
begreift, von Regungen, die mit den später in Anwendung gekom-
menen Einordnungen in «Klassik» und «Romantik» längst nicht er-
schöpft werden können, verdient angemerkt zu werden. Die Litera-
tur- und Geistesgeschichte aber möge einmal ernst machen mit einer
Betrachtung nach Querschnitten, wie sie der nach Längsschnitten ver-
fahrenden zur Seite gehen sollte. Solche Betrachtung vermöchte an
·einer besonders hervorstechenden Grenzscheide das Generationspro-
blem mit allen seinen Folgeerscheinungen und Verknüpfungen aufzu-
zeigen, aber ebenso alle Abschattungen der Denkweise und Philosophie
der Lebens- und Zeiteindrücke, des die eigene Gegenwart geschicht-
lich erfassenden Rückblicks, der Schau in die Zukunft, der Befürch-
tungen und Hoffnungen, denen sich der deutsche Geist um 1800 hin-
gab. Der Eindruck der Französischen Revolution wie die revolutionäre
Gärung, die Deutschland aus eigenem seit dem Durchbruch der dy-
namisch-vitalistischen Weltanschauung durchgemacht hatte, die Reste
und Ausläufer des Aufklärerischen wie die universalistische, gleicher-
weise geschichtlich wie lebenskundlieh bedingte Schau Herders, wie
das neue Verhältnis zu Wissen und Leben, das die Kantische und Fich-
tesche Philosophie einzunehmen befahlen, die veränderte politische
und wirtschaftliche Daseinsform und Daseinsmöglichkeit, die Auf-
gaben, die der Kunst nunmehr zugewiesen wurden, wie die unge-
messeneAusbreitungdes literarischen Betriebes- es sammelt sich alles
in jenem Brennpunkt der Jahrhundertwende, die die übervollen und
gespannten Geister und Herzen überfließen ließ. Verhältnismäßig sel-
ten erscheint vor den Blicken der Deutschen, damals den Sinn ihrer
eigenen Existenz zu finden suchen, das 18.Jahrhundert in seiner ge-
schichtlichen Ganzheit. Die gewaltige Stauung in Philosophie, Dich-
tung, Politik, die das Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet, die Zeit
des Erscheinens der Kantischen Hauptwerke, die Zeit nach dem Aus-
7
GENERATIONEN UND STANDORTE
8
AUSSICHTEN IN EIN IDEALREICH
9
KANTS SCHRIFTEN DER NEUNZIGER JAHRE
10
FICHTE
11
DER KLASSISCH-ROMANTISCHE SCHICKSALSRAUM
tischenForm für ihn, als eine Pflicht ansah, welche die Nation im
Hinblick auf ihre Bestimmung zu erfüllen habe - das berührt bereits
in vollem Maße die Inhalte des geistigen Raumes, der um 1800
Klassik, Romantik und deutschen Idealismus umschließt. Doch nicht
um diese Inhalte und die entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzun-
gen und Folgen, die mit ihnen als «Problemen» auf der Ebene des
reinen Geistes gegeben sind, handelt es sich ja zunächst hier: sie
sollen, welcher Ausgangspunkt, welche Abwandlung und welches
Endziel dem Fragen, Denken, Hoffen, dem Träumen und Dichten
um ein Idealreich auch immer eigen sein mochten, einstweilen nur
gewertet werden als die Ausstrahlungen eines Zustandes der Auf-
gewühltheit, den damals gerade die am empfindlichsten verspürten,
die, im Besitze der prüfenden und zeugenden Kraft des Geistes, sich
für den Weg der allgemeinmenschlichen wie der deutschen Kultur
verantwortlich fühlten. Es ist also in diesem Zusammenhange eine
Sache für sich, wieweit Rousseau, Hemsterhuis oder Herder hier
vorgedacht haben oder mit welchen bereits vorhandenen Bestands-
stücken staats- und geschichtsphilosophischer Art innerhalb dieses
großen Anlaufes zur Formung der menschlichen Zukunft und zur
Enthebung aus der Gegenwart gewirtschaftet wurde. Es bleibe einst-
weilen auch dahingestellt die persönliche Abschattung dieser Idee
der «Kunst» und des Versuches, der unheildrohenden Wirklichkeit
einen Überbau und Ausweg zu finden und die Selbstgewißheit des
deutschen Geistes zu bekunden, der sich zutraute, die Wirklichkeit
von sich aus so oder so zu meistern und zu heilen. Doch Schiller und
Wilhelm von Humboldt, Schelling, Hölderlin und Regel, Novalis und
Schleiermacher, Friedrich Schlegel und Tieck, Jean Paul, Arnim und
Eichendorff, Görres und Arndt und nicht zuletzt Herder und Goethe,
der weniger Beachteten nicht zu gedenken :___ worin anders ist in
diesen Jahrzehnten vom Ausbruch der Revolution bis zu den Be-
freiungskriegen für sie die Mitte zu finden, nach der die Linien ihrer
geistigen Existenz hinführen, als in der durch die Zeit gestellten Auf-
gabe und Sendung, durch die eine schönere und bessere Heimat des
deutschen und des Menschengeistes gefunden werden soll? Das Ge-
setz der verschiedenen Persönlichkeiten, ihre entwicklungs- und
12
HERDER
15
HERDER
hoffte. Wir Menschen sind so geneigt, uns über einen neuen Tag,
über ein neues Jahr zu freuen, geschweige nach solchen Zubereitun-
gen über ein neu es Jahrhundert.'» Die Gründe für die pessimistische
Haltung des einen Gesprächspartners? Es ist die Hast und die Eile,
die nun in Deutschland ihren Einzug gehalten haben; denn «seit
1789 geschahen Dinge, die sonst in Jahrhunderten nicht geschahen;
in Wochen, Tagen, Stunden geschahen Dinge---». Weil die kurze
Zeitspanne seit dem Ausbruch der Revolution so unheilschwanger
angifüllt war, entstand den Menschen die Vorstellung von dem un-
ablässigen Weitergehen solcher Veränderungen, das Gefühl des Ge-
hetzt- und Gedrängtwerdens und des Zwanges, die Zeit nützen zu
müssen. Herders Zukunftsreich ist kein märchenhaftes Niemands-
land. Es ist der Raum des Ausgleiches zwischen einer trostlosen und
einer hoffnungsfrohen Aussicht in einem höheren Dritten, dessen
Wesen in dem Vorherbestimmtsein des geschichtlichen Flusses be-
steht; seinem rollenden Ablauf kann sich niemand und nichts ent-
ziehen. Ihm gegenüber bleibt der Mensch Zuschauer. Herders Auf-
gabe liegt immer noch - um 1800 - im Faustisch-Funktionellen:
«Leben und Streben sollt ihr Menschen; nicht aber erleben, erstreben
wollen, was nie ganz erlebt, erstrebt werden kann. Im Streben ist
Genuß; im Nichterleben liegt deines Geschlechts Art, auf ihm be-
ruht seine edelste Wirkung ... Geh zu deinem Geschäft; und statt
zu grübeln, arbeite!» Wie aber steht es um Deutschland inmitten
dieses geforderten neuen Aufbruchs zur Arbeit? Auch seine Aufgabe
beruht im Ausgleich aller Gegensätze, und dabei stelle es sich ganz
auf sich, auf seine Kraft und seinen Charakter. Vorüber ist die Zeit
der Nachahmung der Franzosen: sie haben in den letzten zehnJahren
«Euch soviel an ihnen zu lernen gegeben, daß, was ihr von ihnen
ungeschickt gelernt hattet, ihr wohl vergessen möget». Noch immer
ist Herder der verständig-mahnende Erzieher, dem Geist und prak-
tische Lebensanforderung zusammenfallen. Deutlich wird die Mit-
gabe, die er vom englischen Common Sense bezogen hat und den
Deutschen gewinnen möchte. Wohl verleugnet er die «Zeitklage»
nicht; sein Zukunftsreich aber wächst aus dem Glauben an die fort-
schreitende Vervollkommnung, der sich die weitere Geschichte des
14
ORDNUNGSSINN DER KLASSIK
15
KLASSIK UND «ZEIT CHARAKTER»
16
SCHILLERS UND GüETHES «ZEIT KLAGE»
18
GüETHES ANTEILNAHME AN DER WIEDERGEBURT
2* 19
«PANDORA» UND «EPIMENIDES»
um die menschliche Zukunft. Gewaltig war in ihm die (in den beiden
Brüdern der «Pandora » auseinandergelegte) Spannung geworden
zwischen jener «Tätigkeit», Tagesforderung und StrengenBetonung
des Beharrenden auf der einen Seite und dem tiefgelagerten Be-
dürfnis, die Lösungen für den verwirrten Zustand der Umwelt und
Innenwelt im Losgebundenen des Geistes und im Unwirklichen zu
finden. Diese Spannung sucht ihren Ausweg in jenen Gebilden der
Jahrtausendferne, deren Stil - auf der Fortsetzungslinie mancher
früheren Ansätze - nur der einer im wesentlichen freigeschaffenen
mythischen Allegorie und einer hohen, feierlich- verhüllenden
Sprache sein konnte. Es ist die Zeit, da die Romantik sich vom Boden
bürgerlicher Weltanschauung und bürgerlich- realistischen Stils ge-
löst hatte und die reinste und stärkste «Wirklichkeit» im stoff-
lichen und stilistischen In-die-Ferne-Rücken fand, damit, nach No-
valis, die eigentliche Aufgabe des « Romantisierens » erfüllend: es
strebte nicht von der Wirklichkeit weg, sondern verlieh ihr eine
«qualitative Potenzierung», indem es «dem Gemeinen einen hohen
Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Be-
kannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unend-
lichen Sinn» gab. So sind «Pandora » und «Des Epimenides Er-
wachen» aus dem Antrieb der Weltwende und Weltgegenwart her-
aus dichterisch-romantisierende Werke der allegorisch-mythologisch
und prophetisch gefaßten «Kunst» geworden; der antikisierende
Illusionismus von Sprache, Vers und Motivschatz kann daran nichts
ändern. Daß sich dieses in «Des Epimenides Erwachen» mit dem
vergangene Irrtümer freimütig zurücknehmenden, sittlich- politi-
schen Bekenntnis zum erretteten deutschen Vaterland und seiner
Größe und mit den Sorgen und Wünschen um dies verbindet, zeigt,
auf welcher höchsten und allgemeinsten Ebene Goethes deutsch-
vaterländisches Denken und Fühlen errichtet war. Und nun erst
wird dieses Werk, unmittelbar veranlaßt durch die Erwartungen und
Wünsche nach dem Pariser Frieden, richtig verstanden. Was diese
bessere Erkenntnis von ihm auszusagen weiß, gilt aber auch schon
von der « Pandora »: daß es, wie dann der «Westöstliche Divan»
auch, ein Werk in dem poetischen Stil ist, der mit innerer Notwen-
20
URGEGEBENHEITEN
digkeit dem Suchen des alten Goethe nach den Urtypen des Lebens
entsprach, und daß die ihm zugrunde liegende Auffassung der gei-
stigen wie der physischen Erscheinungen als eine Biologie des Geistes
der Menschheit bezeichnet werden muß. Der aus der Zeitlage schöp-
fende Sehergeist des Dichters wirkte sich nach der Leipziger Schlacht
nicht in dem großen deutschen Nationalepos aus, das man hier und
da von ihm erwartete. Aber daß er « Hermann und Dorothea» für
das Volk damals zu einem wohlfeilen Preise wieder abdrucken ließ,
dies Werk, das man das «hohe Vermächtnis seiner praktischen Poli-
tik» genannt hat, einer Politik, die das Heil in der Statik und, wenn
nötig, auch in der kriegerischen Verteidigung engster Gemeinschafts-
bindungen suchte- dieser Umstand bezeugt neben anderem, daß er
die Bahn von dort bis zu «Des Epimenides Erwachen» überschaute.
Sie führte aus der breiten episch-realistischen Zuständlichkeit des
Bürgerlebens, die den Stürmen standhalten sollte, zu einer in äußerste
Fernen weisenden, hoffenden und warnenden, mythischen Schau:
Diese vermag die menschlichen, geselligen und staatlichen Verhält-
nisse nur noch in ihrer Bezogenheit auf großformig-tiefsinnige Ur-
gegebenheiten zu sehen. Höher hinauf ging es nicht, und der von
der deutschen Klassik eingeschlagene Weg, auf dem sie sich mit der
Epoche des Umsturzes, der Krise und des Neuwerdens auseinander-
setzte, war abgeschlossen. Standen über ihm die Sterne des Glau-
bens und Vertrauens auf die Zukunft von Menschheit, Volk und Va-
terland? Man sollte es bejahen, ohne unmutig-pessimistischen, per-
sönlich gereizten und eng-situationsgebundenen Äußerungen ein
maßgebliches Gewicht beizulegen.
Wie die vielverästelten Bekundungen im klassisch-romantischen
Geistes- und Dichtungsraum hervorgetrieben wurden durch das
heiße Zentralfeuer der Zeit - das ist eine Erscheinung, deren inne-
zuwerden ein Erlebnis beinahe ergreifender Art bedeutet. Und man
gestatte dem Ergriffenen, auch auf die Gefahr der Wiederholung,
dies Erlebnis, das sich an die großen Menschen um 1800 knüpft,
nochmals zu verdeutlichen. Keine Formel erschöpft, worum es sich
handelt, die, vereinfachend und Zerstreutes im Begriffe sammelnd,
das Wesentliche auslöscht. Es ist ein lebens- und kulturgesetzlicher
21
WILHELM VON HUMBOLDT
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HUMBOLDTS SCHRIFT ÜBER DAS 18. JAHRHUNDERT
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HuMBOLDTS ScHRIFT ÜBER DAs 18. JAHRHUNDERT
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HUMBOLDTS SITUATIONSVERSTEHEN
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EINORDNUNG DER PERSÖNLICHKEIT HUMBOLDTS
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HUMBOLDTS MEHRWERTIGKEIT
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FRÜHROMANTIK UND ZEITKRISE
28
EINSICHTIGE STIMMEN
29
EINSICHTIGE STIMMEN
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FRÜHROMANTIK UND ZEITGESCHEHEN
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WESENSBEDINGUNGEN DER FRÜHROMANTIK
32
«POLITISCHE» GRUNDLEGUNG DER FRÜHROMANTIK
mußte, denen an die Hand gegeben hatte, die eine leichte und glatte
Lösung für die scheinbaren Rätsel seines Wesens finden wollten: «Die
Bahn seines Geistes war von jeher mehr als kometenhaft. » Grund
genug, daß das Feld, das dieser Geist umschrieb, zum Tummelplatz
schier unbegrenzter Möglichkeiten einer abgezogenen und spekula-
tiven Denkspielerei Späterer wurde. Allmählich aber deuten sich nun
die früheren Unbegreiflichkeiten und scheinbaren Sprünge und
Brüche seiner Entwicklung in geordnete, notwendige, ja gesetz-
mäßige Verläufe und Zusammenhänge um. So geschieht es mit seiner
Philosophie, so mit der religiösen Entfaltung des im Jahre 1808 zum
Katholizismus Übergetretenen. Man kann sein Leben und Schaffen
nicht mehr in zwei Hälften auseinanderfallen lassen, in deren erste
der kühne, geistvolle, freidenkende, intellektuell und moralisch
fessellose Friedrich Schlegel unter tönenden Fanfaren eingewiesen
wird, während die zweite Hälfte dem zahmen, sich und seine Ver-
gangenheit verleugnenden, sich selber blendenden, geistig und kör-
perlich eingedickten Popularschriftsteller, dem Rückwärtsgewand-
ten, dem kirchlichen und politischen Reaktionär, dem man jede Ehr-
lichkeit abspricht, vorbehalten bleibt. Dabei war es schon immer zwei-
felhaft, mit welchem Jahre man den Umschwung anzusetzen hätte:
ob mit 1800, 1802, 1806 oder 1808. Die sinnerfüllte Einheit seines Le-
bens und Denkens von seinerJugendbis zu seinem allzu frühen Tode
(1829) kann nun erst gesucht und gefunden werden. AuchPhilosophie
und Religion sind bei ihm nur die abhängigen Wertbereiche, über
denen der seine Zeit mit ihren Notwendigkeiten und Forderungen
in sich hinein- und aus sich herauserlebende, ganze Friedrich Schle-
gel steht. Und der Mystagoge der deutschen Romantik verwandelt
sich in den um die Schäden eben dieser Zeit in Staat, Gesellschaft,
Literatur wie kein zweiter wissenden und ihr helfen wollenden
Sendling.
Von Friedrich wie von August Wilhelm Schlegel und von der ge-
samten Frühromantik gilt, daß sie der Summe der inneren Bildung,
die das abgelaufene Jahrhundert aufgehäuft hatte, eine nach außen
wirkende Form zu verleihen suchten, in der Gedanke, Poesie und
Religion sittliche Mächte wurden. So gesehen, erhält ihre ·wirksam-
34
KÄMPFERISCHE HALTUNG
3. 55
EINFÜGUNG SCHILLERS
Zeitalters und mit seiner eigenen Kunst! Rastlos in sich und unruhig
umhergeschleudert, sehen wir ihn aber auch hier und da von der
äußern großen Erschütterung des Zeitalters ganz ergriffen und sie mit-
empfindend.» Die gängige Literaturgeschichte pflegt Friedrich Schle-
gel unter dem Bilde des zügellosen und ästhetisch versessenen Schiller-
gegners zu sehen. Hatte er, als er sich 1812 so anders über Schiller ver-
nehmen ließ, aus Nützlichkeitserwägungen einen kläglichen Rückzug
angetreten? Friedrich Schlegels Angriffe gegen Schiller in der Zeit des
«Athenäums» und in der« vorathenäischen »Zeit sind bestimmt durch
zeitliche und örtliche Nähe, durch ehrgeizige Rivalität auf seiner Seite,
durch persönliche Einflüsse Carolinens und Reichardts, durch jugend-
lich- draufgängerischesAusspielen einer Größe gegen eine andere (Goe-
thes gegen Schiller), durch abweichende Haltung gegenüber Kant,
durch Friedrich Schlegels eigene philosophische, ästhetisch-ethische
«Progressivität »,durch geschmackliche Ablehnung der Eigenschaften
des lyrischen, epischen und didaktischen Dichters und seines Stils, end-
lich durch den Gegensatz einer liberti'nistischen Entwicklungsphase
bei ihm gegen die vermeintliche starre Bürgerlichkeit Schillers. Sie
fallen vornehmlich in die Jahre, in denen der Dramatiker Schiller für
die Öffentlichkeit verstummt war. Und nimmt man noch hinzu, was
vom Boden begrifflicher Setzungen über das Verhältnis «der» Roman-
tik oder Frühromantik zu Schiller gesagt worden ist, so hält man ein
Knäuel sehr durcheinandergewirrter Fäden in der Hand, die man auf-
lösen und nebeneinanderlegen kann, die sich aber schwerlich wieder
zu Bündeln von reiner und einheitlicher Beschaffenheit zusammen-
fügen lassen; d. h.: es wird sich nicht leicht ein Genügen und eine
Grenze finden lassen bei dem Versuche, hier eine klare, deutlich fest-
zuhaltende und einfache Sicht zu gewinnen, sei es in bezug auf die
Gegensätze zwischen Schiller und der Romantik, sei es in bezug auf
Annäherungen und Gemeinsamkeiten. Es sei denn, es würde auch hier
das reiche Farbenspiel in harte Schwarz-Weiß-Zeichnung verwandelt.
Es scheint manches für die geistige Grundstruktur des Mannes gewon-
nen, der so häufig und mit Recht für die Frühromantik als stellver-
tretend eingesetzt wird, wenn auch hinsichtlich der vielberedeten
Schillerfrage das Zufällige, Private, das atmosphärisch Bedingte, das
56
MITSTREITER GEGEN DEN «ZEITGEIST»
57
FRIEDRICH SCHLEGEL ALS REPRÄSENTANT
58
SEINE WENDUNG ZUM KONSERVATISMUS
59
SCHLEGELS SYSTEM EINER NATIONALEN ETHIK
40
DAS ALTE UND DAS NEUE
41
«ZEITALTER» UND «ZEITGEIST»
Dies vielberufene Kampflied ist - wer will es aus dem Ganzen über-
hören? - mit gewissen Tönen der volkstümlichen Markigkeit von
Huttens Trutzgesang «Ich habs gewagt» von 1521 verpflichtet, der
1802 in Friedrich David Gräters «Bragur» abgedruckt war. Oder
Schlegels Dichtung gab in Versen, was sich in Schrift und Rede bei
ihm von jeher zu Worte gemeldet hatte: Zeit-, Gesellschafts- und
Literaturkritik. Nun aber war das nicht mehr Sache geistreicher Skep-
sis, witziger Zuspitzung, tiefsinniger Spekulation; er erscheint jetzt,
den Fichte, Arndt, Görres zur Seite tretend, als der strafende, war-
nende, prophezeiende oder hoffende Bußprediger. Mag es der Dich-
tung gelten, wie in dem schon dem Jahre 1807 zugehörigen Gedichte
«An die Dichter» oder «Unserer Zeit» (1820), aus der ihm die Feuer-
zeichen des beginnenden Umsturzes schreckhaft entgegenleuchteten -
es ist, nachdem er durch diese Jahre eines «Stirb und Werde» im
ersten Dezennium des neuen Jahrhunderts, seit der Auflösung der
Frühromantik, hindurchgegangen war, im Grunde überall die gleiche
Haltung, aufgeteilt auf einen negativen und einen positiven Pol. Der
negative - er wirkt in der Bekämpfung des «Zeitgeistes». Das Wort
«Zeitgeist» hat nun über Fichte undArndt bei der jüngeren und spä-
teren Romantik seinen von Hause aus neutralen Sinn verloren und
eine stets und entschieden abschätzige Bedeutung angenommen. Übri-
gens wird Friedrich Schlegel die schöne und wegweisende Unterschei-
dung von «Zeitalter» und «Zeitgeist» verdankt. Er trug sie in den
«Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur» 1808 bei Gelegenheit
der Fichteschen «Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters» vor. «Das
Zeitalter», so heißt es da, «ist in einem gewissen Sinne von Gott und
man sollte nicht anders als mit Achtung davon reden ... Der Zeit-
42
HALTUNG DER ROMANTISCHEN SPÄTZEIT
45
ZEIT DER ERNTE
die positive Seite seiner Stellung: Ihm wie allen jenen Männern, die
auf dem Gebiete der Geschichte, der Rechts- und Sozialwissenschaft,
der Politik, der Literatur, der Religion, Religionsphilosophie und Reli-
gionswissenschaft, der Philologie und Sprachwissenschaft, der National-
ökonomie in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den
Zeitgeist zu bekämpfen suchten, indem sie ihm mit völlig entgegen-
gesetzten Ansichten und Forderungen gegenübertraten -ihm war dies
Zeitalter ein Ganzes und lag in der inneren Einheit und Verflochten-
heit seiner Äußerungen und Kennzeichen vor seinen Augen. Für den
Historiker bestand und besteht die Berechtigung, es mitsamt der Na-
poleonischen Ära und über sie hinaus als «Zeitalter der Revolution»
zu bezeichnen, wie es wohl zuerst Niebuhr in seinen 1829 gehaltenen,
1845 gedruckten Vorlesungen tat. Wenn man sich dabei von 'der inne-
ren Geschichte des deutschen Geistes aus nur immer bewußt bleibt,
daß der Französischen Revolution und ihren äußeren Folgen in
Deutschland die geschichtliche Aufgabe zufiel, eigentlich deutsche Ge-
dankenbildungen, Wertrichtungen und Lebensgefühle heraufzufüh-
ren, die die jüngere und Spätromantik und die durch sie bezeichneten
Entwicklungsstadien ihrer bedeutenden Träger zu der Epoche der
eigentlichen Ernte machen; sie ging hervor aus den Saaten, die durch
Hochklassik und Frühromantik am Ende des 18. Jahrhunderts ausge-
streut waren. Aber damals war die Aussicht noch verhängt. Man spürte
bereits Unheil und Niedergang, doch die Gegenwirkung gab sich noch
zu wenig unmittelbar und suchte zunächst Ansätze, die sich aus dem
enger umschlossenen Bereich der Literatur und Dichtung herschrie-
ben.Auch die Entwicklung der Klassik lag auf diesem Wege, wenn man
an Goethe als ihren übriggebliebenen repräsentativen Vertreter denkt.
Schon wurde darauf hingedeutet, daß sein « Pandynamismus », seine
Ehrfurcht vor den heiligen Urmächten von Natur und Leben, seine
Fähigkeit letzter Einsicht in die die menschliche Gesellschaft zusam-
menhaltenden moralischen Kräfte, seine Forderung der Unterordnung
des Individuums unter die großen Gesetzlichkeiten überpersönlicher
Art, ja überhaupt der Pyramidenbau seines Geistes nicht denkbar
sind als ein Erzeugnis nur der Selbstbildung, entstanden gleichsam
in einem luftleeren Raume, ohne die Erfahrungen und Erkenntnisse
44
EINORDNUNG DER PERSÖNLICHKEIT
von seiten der Epoche, die die europäische Menschheit auf so harte
Proben stellte.
Unterordnung, stillschweigende oder programmatisch erfüllte, des
Individuums unter die großen Gesetzlichkeiten - das ist, unbeschadet
mancher Abwandlungen im einzelnen, das Gesamtbild der Regungen,
in deren Zeichen Spätklassik und Spätromantik stehen. Damit geben
sie sich selber die Erfüllung eines frühen, vielfach überdeckt gewe-
senen Wollens. Wo immer man in diese Jahrzehnte vom Aufgang des
neuen Jahrhunderts bis zu Friedrich Schlegels Tode hineinschaut, be-
gegnet man dem gleichen allgemeinen Bestreben, den «objektiven
Geist» individueller Willkür zu entziehen. Jetzt erst entfaltet sich in
den bedeutenden wissenschaftlichen oder halbwissenschaftliehen Lei-
stungen der Organismusgedanke im einzelnen und eigentlichen.Jetzt
erst wird im Zusammenhang mit ihm das Bewußtsein wahrhaft hi7
storisiert - auch in Goethe. Ein unvergleichlicher Vorgang diese nun
in Deutschland aufkommende geschichtliche Weltanschauung mit ihrer
Verteilung in die feinsten Rinnsale, mit der neuen Ansiedlung, die sie
dem nun sich selbst recht begreifenden Einzelmenschen in Zeiten,
Räumen, Völkern, Staaten, Systemen gab - beinahe ein Vorgang, der
nur dem Werden einer neuen Erdperiode verglichen werden kann,
aber vieldeutiger, geheimnisvoller, schwerer enträtseibar und fast als
ein Wunder immer wieder Geist und Sinne der Nachfolgenden auf sich
ziehend. Daß die schweren Zeiten, die man durchgemacht hatte, der
Zusammenbruch Europas und Deutschlands und die Neuordnung so-
wohl für diese Historisierung des Bewußtseins wie für die Überwin-
dung eines humanistischen Ideals des Aufsiehgestelltseins von zwin-
gender Gewalt waren - niemand wird es ableugnen, niemand aber
darf gerade diese Umstände als bekannt und problemleer beiseite legen
wollen. Die großen Institutionen der menschlichen Gesellschaft waren
in dieser geschichtlichen Periode mit den Sinnen und nicht schmerzlos
erlebt worden. Sie waren im Dasein eines jeden irgendwie hart spür-
bar geworden. Sie schwebten nicht mehr bloß im Begriffe vor dem
inneren Auge des Menschen. Sie waren betasdich geworden in der Be-
gegnung eines jeden Menschen mit seinem Mitmenschen. Ihre über-
individuelle Funktion wurde nicht zu einem abgezogenen Allgemein-
45
DER ARCHIMEDISCHE PUNKT
46
DER «OBJEKTIVE GEIST»
Die jüngere und die Spätromantik konnte das Streben nach diesem
archimedischen Punkt hin auf sich beruhen lassen. Doch die Früh-
romantik wurde an diesem Streben erkannt, das, indem es auf diesen
Punkt zielte, ins Unendliche traf. Der Reichtum und die Vielfalt der
geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit- das hatte die bewegte
Zeit gelehrt- waren mit dünnfädigen begrifflichen Netzen nicht ein-
zufangen, wie sie sich boten, solange der von idealistischer Philosophie
und frühromantischer (oder der Romantik verwandter) Spekulation
umgebene geistige Mensch nur im Reiche der Gedanken und Ideen
auf den Weg seiner Bestimmung geführt zu werden hoffte. Es war et-
was anderes und etwas, was dem Gange und der Entwicklung der Zeit
im tiefsten entsprach, wenn Hegel den «objektiven Geist» als die Ver-
nunft im menschlichen Gattungsleben erkennt und alle Bildungen
menschlicher Lebensgemeinschaft, wie sie sich geschichtlich verwirk-
licht haben, mit Hilfe einer umfassenden großartigen Systematisie-
rung als den Inbegriff des Gedankenstoffes der menschlichen Ge-
schichte erfaßt, wobei dem Staat als lebendig gewordener Gattungs-
vernunft die höchste Funktion zukommt. Die Historisierung des Be-
wußtseins, die Gewichtsverlagerung vom Individuum auf die über
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DAS WENDEJAHR 1806
48
DER WEG DER ROMANTISCHEN DICHTUNG
Einsamen und Einzelgängern wie Kleist und Hölderlin soll dabei nicht
die Rede sein - zeigt so oft das Süßlockende, zur seelischen Heimat
und Einkehr Leitende, welches aller Dichtung eigen ist, die aus einer
inneren Notwendigkeit im Gegensatz zu der Welt der Zwecke, der
Handlungen, der Ereignisse, der rohen Erschütterungen entstanden
ist. Doch die soeben angedeuteten Symptome finden sich auch bei sol-
chen, der weiteren romantischen Entwicklung zugehörigen Dichter-
naturen, die daneben durch andere Wertbekundungen entschädigen:
durch die sprachlichen Versinnlichungen, wie sie eine originale und
schöpferische Begabung bietet, durch ein Erschüttertsein im Erlebnis
der eigenen unaussprechlichen Seele, durch das Sagen des Abgrün-
digen, durch die kindlich-gläubige Hingabe an alle Schlichtheit des
zum eigenen inneren Besitz gewordenen Volksmäßigen und Altertüm-
lichen, durch eine mannhafte und blickoffene Anteilnahme an den
politischen Angelegenheiten ihrer Tage. Für den einen und anderen
dieser Züge stellen sich die Beispiele mit Brentano, Arnim, Eichendorff,
den Schwaben, Fouque, Chamisso, E. T. A. Hoffmann ein. Aber dies
alles, weil nie bestritten, zugegeben, führt der Weg der eigentlichen
Dichtung und der ihr zugeordneten «Literatur» in der jung- und
spätromantischen Zeit abwärts und abseits, nicht nur in die bieder-
meierische Herberge der Almanache und Taschenbücher, nicht nur in
die Regionen der sogenannten Pseudoromantik und Afterromantik,
sondern in eine «stille» Selbstgenügsamkeit des Dichterischen und
Literarischen, in einen Bezirk, in dem Dichtung und Literatur ihre
Kräfte und Formen in einem eigenständigen Prozeß aus den ihnen
überkommenen Möglichkeiten der klassisch- romantischen Epoche
weiterentwickelten, ausschmolzen, verflüchtigten.
Gegen diesen schon sichtbaren oder vorauszusehenden Abstieg der
Poesie in die nach außen abgedichtete Grotte einer Zwiesprache mit
sich selber richteten sich um die Mitte des ersten Jahrzehnts im
19. Jahrhundert die Mahn- und Scheltrufe derer, denen die literari-
sche Entfesselung einer spezifischen «Romantik» verdankt wird, der
Brüder Schlegel. August Wilhelm Schlegel schreibt in dem berühmten,
in seine «Sämtlichen Werke» aufgenommenen Brief an seinen jungen
Freund Fouque vom 12.März 1806, in diesem Pronunciamento aus
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SEINE FoRDERUNG AN DIE PoESIE
.p 51
NICHTIGKEIT BISHERIGER BILDUNG
52
DIE GROSSE DEUTSCHE REVOLUTION
53
NEUWERTUNG DER GESAMTROMANTIK
die Literatur zu vergeben hat - alles dies wird durch die an diesem
Punkte zu findenden und herausgeforderten Entscheidungen getrof-
fen. Diese Entscheidungen beruhen auf der Frage, ob eine spätere Ro-
mantik in schwer zu überbrückendem Gegensatz zur «Frühroman-
tik» steht, derart, daß die «literarische» Romantik von Jena und Berlin
am Ende des 18.Jahrhunderts eine Auseinandersetzung mit diesem
Jahrhundert gewesen wäre, die spätere (also «Hochromantik» und
«Spätromantik»- doch !llan gliedere nicht zu haarfein!) aufkommen-
des 19. Jahrhundert in einem vorläuferhaften, zukunftweisenden
Sinne; auf der Frage, ob die ältere Romantik vornehmlich «ästhetisch»,
die jüngere in weiter Beziehung religiös gerichtet war; ob sich inner-
halb der Romantik eine Entwicklung von schroffstem Individualismus
zum Gemeinschaftsempfinden feststellen läßt, ja geradezu eine «Um-
kehr», derart, daß der auf die Spitze getriebene Individualismus von
seinen eigenen Vertretern als zerstörerisch empfunden worden sei -
wohin neben anderen die angeführten Äußerungen der Brüder Schle-
gel deuten könnten. Oder waren von allem Anfang an in der roman-
tischen Bewegung höchste Wertung der Persönlichkeit und der Zug
zur Gemeinschaft eng miteinander verbunden, so daß von einer Ent-
wicklung nur insofern die Rede sein kann, als die Gemeinschafts-
tendenz späterhin stärker, allgemeiner und nach außen sichtbarer be-
tont wurde und die Institutionen und Gemeinbindungen zu neuen
Individualitäten wurden? Denn dies hätte entsprochen jenem der ro-
mantischen Bewegung zugeschriebenen Streben nach «Synthese»,
d. h. scheinbare Gegensätze zu umfassen und in einer höheren Einheit
aufzuheben. Solchen und anderen Fragen, denen ein Entweder-Oder
zugrunde liegt, muß eine Neuwertung der deutschen Romantik ant-
worten. Sie fühlt sich auf ihrem Wege beflügelt durch die Tatsache,
daß sich allmählich die Wertakzente für die «Romantik», wenn nicht
allein auf die Epoche seit dem Anbruch des neuen Jahrhunderts bis
in sein drittes Jahrzehnt, so doch auf die gesamte Zeitspanne vom
Beginne der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts verlegen. Dabei
bleiben die noch zu erörternde Dehnbarkeit und Mehrdeutigkeit des
Begriffes «Romantik», seine vielfach schwankende Verwendung m
dieser Epoche und seine Vorgeschichte immer vorausgesetzt.
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PoLITISCHE HALTUNG DER FRÜHROMANTIK
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DEUTSCHTUM DER FRÜHROMANTIK
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EIN DEUTSCHER BURKE
Ausgang vom Griechentum -Begriff und Wesen des Volkes. Die Fran-
zösische Revolution wirft ihn hin und her, erschüttert sein Denken
und Wesen bis ins Letzte, ehe er den festen Standpunkt seiner späteren
Zeit ihr gegenüber zu beziehen vermag. Nicht ein zweiter Winckel-
mann zu werden ist sein höchster Wunsch: ein deutscher Burke möchte
er sein und damit ein rechter «gesellschaftlicher Schriftsteller». «Es
würgt mich lange innerlich, einmal recht was Furioses zu schreiben
etwa so wie Burke », heißt es zu Anfang 1799. Die feierlichen Ter-
zinen zur Jahrhundertwende «An die Deutschen» im dritten Bande
des «Athenäums» ( 1800) verbinden sein frühesUmwerben der deut-
schen Geschichte und der deutschen Geisteskraft mit den wenige Jahre
später festausgebildeten und verkündeten Anschauungen und Forde-
rungen einer auf der Geschichte, der Überlieferung, dem Heldensinne
der Väter und der Gotteserkenntnis gegründeten Deutschheit. Nur
spielt in diese Verse noch eine mystische Naturreligion hinein. Eine
Folgerung aus seiner Geschiehtsansicht in Richtung auf die Gültigkeit
des Katholizismus wird hier noch nicht gezogen. Die Reise nach Paris
im Jahre 1802 mit ihren in der «Europa» 1803 niedergelegten Ein-
drücken von den Denkmälern deutscher Vergangenheit, der Blick nun
von außen auf dies Deutschland - das hat im Bunde mit der Friedrich
Schlegelurbildhaft mitgegebenen geistigen «Progressivität» den end-
gültigenDurchbruch zu der neuen, vaterländisch-religiösen, geschicht-
lich-politischenHaltungseines Geistes zuwege gebracht, nachdem das
Gedicht «Herkules Musagates » (1801) die Summe seines Denkens um
die Kunst, ihren Gehalt, ihre Form, ihre Wirkung, noch einmal vor-
gelegt hatte, vom Persönlichen zum Allgemeinen fortschreitend und
die frühromantische Mission nochmals rechtfertigend ... Wahrlich,
Haym hat recht, wenn er sagt: «Die Überraschung, die wir empfin-
den, wenn wir Schlegel in der zweiten Hälfte seines literarischen
Lebens mit historischen Vorlesungen und politischen Denkschriften
auftreten sehen, mindert sich beträchtlich, wenn wir den Keim zu
diesen ... Bestrebungen schon in seiner allerfrühstell Zeit gewahr
werden.»
Möglich, daß der Einfluß Carolines auf ihn auch in dieser Beziehung
nicht gering angeschlagen werden muß. Sie war eine durch und durch
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CAROLINE, NOVALIS, SCHLEIERMACHER
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DIE ROMANTISCHE «WIRKLICHKEIT»
Vorstellungen des Lebens, der Religion, des Rechtes, des Staates, der
Kunst, Geschichte und Gesellschaft als Urphänomene zu Hause sind,
als ein brauender Grund, jeder Gestaltung und Umgestaltung zu Ein-
zelerscheinungen 'fähig. Was schließt dieser allgemeine Zusammen-
hang der romantischen Phänomene in sich, wenn man nicht die
Symptome, die Variabilitäten, die persönlichen und gruppenmäßigen
Stellvertretungen sprechen läßt, sondern den lebensmäßigen Willen,
die lebensgeborene Kraft und «sinnliche Existenz» erfassen möchte,
die hinter der ganzen Fülle und Abschattung der geschichtlichen Ein-
zelerscheinungen stehen? Es handelt sich im Raume dieses roman-
tischen Gesamt um die Erkenntnis oder um die Hervorbringung einer
« N euen Wirklichkeit». Sie spaltet sich in eine philosophische, poli-
tische, geschichtliche, dichterische «Wirklichkeit». Sie kann ausgefüllt
werden durch Handeln, Erkennen und Denken, künstlerisches Schaf-
fen. Sie findet sich dort am reinsten ausgedrückt, wo sie dem unge-
teilten und überdauernden Seinsgrunde und Beharrungszustand alles
Lebens am nächsten kommt. Wahrlich, «Deutsche Romantik» ist, so
gesehen, nichts weniger als lebensflüchtig und abseitig. Aber Leben
und Wirklichkeit fallen ihr nicht zusammen mit den empirischen Le-
bens- und Wirklichkeitserscheinungen ihrer Tage. Diese glaubt sie be-
seitigen und überwinden zu müssen, damit das wahre «Leben» und
die wahre «Wirklichkeit» aufsteigen können. Auch die Gegebenheiten
der Geschichte, insbesondere der älteren deutschen Geschichte, können
dieser Gewinnung einer neuen und wahren \i'Virklichkeit zwar Sinn-
bilder sein, aber auch die Bilder, die die Geschichte liefert, sind jener
Seinsgrund alles Lebens noch nicht, in welchem Geist und Natur un-
getrennt ruhen. « Historisierung des Bewußtseins» - das heißt mit
Savigny: sich selber als in der Geschichte lebend betrachten, unter den
mannigfachen Einflüssen der Vorzeit und Gegenwart stehend und in
der Zukunft nach denselben Gesetzen verfließend, wie wir rückwärts
alle Vorzeit können verfließen sehen, immer selber einen weiter-
schwemmenden Teil des Lebensstromes ausmachend. Suchte man die
Geschichte, die «Vorzeit», so lieh sie doch die Farben und Konturen
eines Wunschbildes, welches über die bloße geschichtliche Bildfülle,
über geschichtsphilosophische Besinnlichkeit und Reflexion hinaus auf
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SEINSGRUND DER ROMANTIK
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«VOLKSGEIST» UND «VOLKSTUM»
etwas anderes, als wenn der «Geist» oder das «Wesen» der Romantik
in Denkspielen erschöpft werden. Es ist ferner etwas anderes, als wenn
man von dem denkerischen, literarischen und dichterischen Reichtum
der auftrumpfenden und vorstoßenden Frühromantik Berliner und
Jenenser Herkunft die Linien konstruktiv weiterzieht. Es liegt auf
dem Wege der Aufgabe, die Ideen und die dichterischen Bekundungen
«nach vital-geschichtlichen und absichtslosen Gegebenheiten mit al-
lem Einmal-Unergründlichen, Wechselnd-Farbigen und doch wieder
Sinnvollen des Lebens selber zu erfassen».
Da ist die Anschauung, alsdann die Theorie von «Volksgeist» und
«Volkstum» ,wie Möser und Herder sie vorbereitet haben, wie sie bei
Fichte in spekulativem Lichte, bei Jahn als ins Erzieherische und Tä-
tige umgesetzte Urkraft, bei Arndt als das «nährende Gewese irdi-
schen Zusammenlebens», als ein Gefüge erscheint, «das vom elemen-
taren bis zum geistigen Leben in alle Schichten reicht». Aber diese
Entstehung und verschiedenfarbige Brechung tritt in die zweite Linie
vor der Tatsache, daß unter dieser Vorstellung vom «Volksgeist » die
gesamte «Historische Schule» steht, mag man sie in dem Rechts-
historiker Savigny, dem persönlich eng mit den jungromantischen
Männern und Frauen des Heidelberger Kreises Verknüpften, oder in
dem ebenfalls aus der Heidelberger Romantik nicht herauszudenken-
den Jacob Grimm oder in dem jungen Ranke oder in Niebuhr sich
darstellen lassen - nachdem der romantische Herkunftsschein auch
bei diesen beiden großen Historikern gesucht und gefunden worden
ist. «Volksgeist» - das ist die vor allem und in allem Geschichtlichen
vorhandene, organisch-natürliche und nicht weiter zu zerlegende Le-
benskraft, die sich letztlich unter allen Veränderungen ihres äußer-
lichen Bildes gleichbleibt.
Görres und Creuzer sind untereinander nach Entwicklung, Wesen,
Temperament und Wirkung gewiß sehr verschieden. Und doch stehen
sie auf ein und demselben Grund. Görres ist in seinen hierher ge-
hörenden Schriften seit dem Buche «Glauben und Wissen» (1805)
über den Aufsatz «Religion in der Geschichte» (1807) bis zur «My-
thengeschichte der asiatischen Welt» (1810) der scheinbar Unmittel-
barste und Ergriffenste (oder der sich selber rauschhaft Steigernde).
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GöRRES UND CREUZER
62
IHR ZusAMMENHANG MIT SCHELLING
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NATURPHILOSOPHIE UND EINZELWISSENSCHAFTEN
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DER LEBENSBEGRIFF
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FORTLEBEN DER «MYTHE»
67 67
«MYTHE» UND VOLKSTUM
68
CREUZER UND CAROLINE VON GüNDERODE
dem Gedanken und der Hoffnung spielend, daß sie sich bald mit dem
Allgrund und Urgrund alles Lebens vereinigen werde und könne.
Nachdem dies Ereignis 1806 von ihr selber vollzogen worden als
der «Hohe Mut» geflohen, das Elend eines deutschen Professoren-
daseins jener Zeit kleingläubig und schwach gemacht, hatte Caroline
nicht nur den Geliebten und Freund, sondern als Jüngerin auch ihren
Mystagogen verlassen. Creuzer war ja überzeugt, daß ihre Poesie sich
ganz hinneige zur Darstellung oder zur Andeutung und Symbolisie-
rung des Ewigen. «Siehe du bringst die alte große Zeit zurück, einmal
durch den einfältigen Sinn deiner tiefen Poesie - sodann durch deinen
Ernst für die Philosophie.» Ausdrücklich deutet Creuzer dabei auf
SeheHing zurück. Carolines ganze Poesie ist für ihn Andeutung, Sym-
bolisierung des Ewigen. Sie ist, diese Poesie, «mystisch offenbarend»:
«Auch bist Du unübertrefflich, wenn du den geheimen Sinn des Rät-
sels singst, das wir Leben nennen.»
Daß «Volksgeist», mythisch sich offenbarender Seinsgrund des Vol-
kes, mit der «Zeitklage» und Zeitkritik zusammenflossen und eine
einzige Wertrichtung von gegenwärtiger Bedeutung wurden, zeigt
sich in dem geistigen und dichterischen Bereich, den wir innerhalb der
jüngeren Romantik als «Heidelberg» bezeichnen, auch noch an an-
dern. Achim von Arnim, der unentwegte Befehder des «Zeitgeistes»,
Arnim, dessen Programm in der Zeile des Nachrufs auf Fichte enthal-
ten ist: «Bekämpft die Zeit in euch aus heiligem Willen!» - er spricht
als Dichter wie als Mensch bisweilen aus dieser geheimnisvollen Tiefe
zu seiner Gegenwart: oft nur springend, andeutend, umwölkt, auf-
blitzend, helldunkel, wie es seine Art und sein Stil war, aber immer
ergriffen von dem Zusammenfall des uralten, immer gleichen, ver-
schütteten Fernseins mit den unmittelbaren Forderungen an seine
entgötterte Zeit. Was ihn bei der Sammlung der Lieder des «Wunder-
horns» leitete, verriet sich als eine solche Durchdringung des Einst
mit dem Heute. «Das Grabmal der Vorzeit, das frohe Mal der Gegen-
wart, der Zukunft ein Merkmal in der Rennbahn des Lebens» - so
bezeichnet er die Aufgabe, die er sich setzt, in dem Aufsatz «Von Volks-
liedern», der 1805 das «Wunderhorn» vorbereitete: «Was da lebt und
wird, und worin das Leben haftet, das ist doch weder von heute noch
69
ARNIM UND DIE BRÜDER GRIMM
von gestern, es war und wird sein, verlieren kann es sich nie, denn es
ist, aber entfallen kann es für lange Zeit.» Das ist der Ton von Görres,
ehe siebeidevoneinander wußten. Die herrliche, «Dichtung und Ge-
schichte» überschriebene Einleitung zu den «Kronenwächtern» ( «Bert-
holds erstes und zweites Leben», 1817) spricht es aus: «Es gab zu
allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt, die mehr wert in Höhe und
Tiefe der Weisheit und Lust, als alles was in der Geschichte laut ge-
worden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu nahe, als daß sie den
Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte in ihrer höchsten
Wahrheit gibt den Nachkommen ahnungsreiche Bilder.» Wie auch
seine Ansichten über Natur- und Kunstpoesie von denen der Brüder
Grimm abweichen mochten, in der Erahnung und Ansetzung eines
mythischen und göttlichen Urgrundes für alle in der Geschichte zu-
tage getretenen Wesensoffenbarungen eines Volkes waren sie sich letzt-
lich einig. Nur dieser Glaube ließ die drei die Wirrnisse und Nieder-
lagen des deutschen Volkes zur Napoleonischen Zeit überdauern und
stärkte sie in dem Vertrauen an die deutsche Menschheit, wie sehr
diese jetzt auch von dem Bilde verschieden war, das aus dem Spiegel
der «Vorzeit» zurückstrahlte. Wie kindlich-tiefsinnig und gläubig die
Worte, mit denen Jacob Grimm 1811 Arnim gegenüber die Grundposi-
tionen rechtfertigt, von denen aus er die altdeutsche Poesie betrach-
tet! Er holt dabei weit aus. Auch er sieht, wie Görres und Creuzer, die
Völker und Menschen der Vorzeit und Urzeit näher bei Gott: «Ich
glaube, spüre und traue, daß etwas Göttliches in uns ist, das von Gott
ausgegangen ist und uns wieder zu ihm führt. Dieses bleibt und lebt
immer im Menschen und wächst wie ein Feuer aus sich selber groß,
aber historisch, d. h. in unsern Zeitbegriffen aufgefaßt, offenbart es
sich sehr verschieden, im Verhältnis zu dem Irdischen, Menschlichen.»
Die alten Menschen sind größer, reiner und heiliger gewesen, ebenso
die alte epische Poesie, die ja für ihn immer Sagen- und Mythen-
geschichte ist, wie denn alle seine Arbeiten zur älteren deutschen Dich-
tung für ihn Darstellungen aus der Geschichte der «Sage » waren;
seine Auffassung der Tierdichtung ist das sprechendste Beispiel. Die
neuere Poesie aber hat wie die neuere Sprache ihre «Unschuld» ver-
loren. Ja, er erfindet gewissermaßen einen Mythus aus der naturphilo-
70
EICHENDORFF
71
«KLAGE»
Kräftig weht dieser Schauer, wenn es dem Dichter nicht um sein Ein-
zelschicksal, sondern um Völkerdasein geht. So sprechen die «Zeichen»
(1812):
So Wunderbares hat sich zugetragen:
Was aus uralten Sagen
Mit tiif verworrener Gewalt cifi sang
Von Liebe, Freiheit, was das Herz erlabe,
Mit heller Waffen Klang
Es richtet sich geharnischt auf vom Grabe,
Und an den alten Heerschild hat' s geschlagen,
Daß Schauer jede Brust durchdrang.
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VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT BEI EICHENDORFF
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WIRKUNG DER AHNENFOLGE
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NEUE LEBENSVORSTELLUNG
Laßt die Religion frei, und es wird eine neue Menschheit beginnen.»
Oder wenn er darin die Formel findet: «Die Romantik wollte das
ganze Leben religiös heiligen.» Wo aber wäre das Werk der Heiligung
alles Lebens - für ihn und seinen Meister Friedrich Schlegel - bereits
seit länger als einem Jahrtausend gründlicher und schöner vollzogen
worden als in der alten Kirche?
Es gibt, man wird sehen, noch andere Blickpunkte, von denen aus
man der Romantik gerecht werden muß, als es ihre Stellung gegen die
Krise der deutschen und europäischen Menschheit und Geschichte ist,
die sich in ihrer Epoche entrollte, ohne zu einem Abschluß und Ziele
zu gelangen. Es muß auch einmal gesagt werden, daß das Bild einer
kranken, dunkeln und unheilvollen Zeit natürlich aus einer subjek-
tiven Spiegelung in den Menschen dieser wie jeder Epoche, den großen
und kleinen, entsteht. Die anderen Ausgangspositionen sind - es sei,
um keine Unklarheit zu lassen, nochmals betont- rein seelen-, geistes-,
bildungs-, dichtungs- und kunstgeschichtlicher Art. Aber in dem einen
wie dem anderen Falle behält das Wort Geltung, daß die Romantik eine
Lebensstimmung von ganz eigentümlicher Beschaffenheit ist, und daß
hinter allen ihren Äußerungen und Wollungen ein neuer Sinn und
Gehalt des Lebens, ja ein Leben selbst in neuem Sinne durchleuchtet.
Nur gewinnt das alles an Tiefatmigkeit, wenn es mit der Mitte der
sinnlichen Existenz dieser Generation in Verbindung tritt. Und auch
die der Romantik vorschwebende Lösung der ewigen Welträtsel er-
weist sich für sie als ein um so dringenderes Anliegen, wenn diese
Rätselfragen von einem unmittelbar gegenwärtigen Dasein aufgewor-
fen werden, dessen Sinn und Wert für den einzelnen Menschen wie
für das Ganze fragwürdig geworden waren und zu neuen Lösungen
und Entscheidungen drängten. Nicht bloß in Dichtung und Philo-
sophie, in Wissenschaft und Literatur, im Denken über Persönlichkeit
und Gemeinschaft, über Weltbürgertum und Nationalstaat und in der
übrigen staats- und rechtsphilosophischen Theorie darf die Romantik
gefunden werden: auch in dem Verhalten zum Leben als solchem, in
dem bloßen Stehen im Dasein, und mehr noch: in dem Bereich der
Taten und Handlungen praktischer, politischer, Volk und Wirklichkeit
gestaltender Art. Hier - an den letztbezeichneten Gegebenheiten - ist
75
ZWANG ZUM HANDELN
76
STEIN- CLAUSEWITZ
77
GNEISENAU
sodann der «Blick auf den handelnden Menschen» ist ihnen beiden
eigen. Hielt man sich lange an die Formel, daß sich in der Erhebungs-
zeit der Geist des deutschen Idealismus mit dem Preußenturn ver-
mählt habe, so erscheint uns jetzt das romantische Gefühl des Lebens-
zusammenhanges mit seinen vielfältigen Auswirkungsmöglichkeiten
und Folgerungen, die aus diesem Gefühle sich ergebende Denk-Tat-
richtung auf Volkstum und Nation als der Nährboden der Wieder-
geburt. In den Menschen dieser Zeit gewinnt jene Erahnung eines
allfähigen und ursprünglichen Lebensgrundes, der zum Täglichen,
zum Trägbürgerlichen, zum materialistisch-mechanistisch-rationalisti-
schen Denken in Urfeindschaft lebt, gewinnt jene neuentdeckte Kräfte-
lehre eine Beziehung zu der schöpferischen Fähigkeit, die auch in der
Dichtung wirkt. Denn hieß diese seit Hamann nicht die «Mutter-
sprache des menschlichen Geschlechts»? So findet Gneisenau das Dich-
terische nicht nur in der literarischen Leistung: es zeigt sich für ihn
in allen Regungen, die - auch nicht in Papier und Schrift verfestigt -
aus einem erhobenen Gemüt kommen. Das besagt sein berühmtes
Wort an den König im Jahre 1811 : «Religion, Gebet, Liebe zum Re-
genten, zum Vaterland, zur Tugend sind nichts anderes als Poesie,
keine Herzenserhebung ohne poetische Stimmung.» Es bedeutet den
Zusammenfall einer notwendigen und schicksalsmäßigen geschicht-
lichen Entwicklung mit einer Zuspitzung zum Symbol, daß Gneisenau
1815 als kommandierender General in die dem preußischen Staate
neugewonnenen Rheinlande kam. Denn diese Lande und dieser Strom
waren seit Friedrich Schlegels Weck- und Mahnrufen von 1803 und
seit dem allgemeinen Durchbruch des Sinnes für das Alte, Bleibende,
Ahnenhaft-Lebendige gleichsam die Bürgschaft dervViedergeburt und
der deutschen Zukunft geworden; gleichsam der Raum für die solche
Haltung und Gesinnung schützenden Geister; gleichsam - mit dem
Wiederauftauchen und der Neuwürdigung der alten Denkmäler rhei-
nischer Kunst und Geschichte- ein von Natur, Kunst, religiöser und
profaner Tradition geschaffener geistiger Schutzwall gegen die Be-
drohung von Westen her. Gneisenau traf dort in Koblenz auf den aus
dem Osten kommenden Schenkendorf. Dem hatten es rheinischer
Lebenssinn und rheinisches Geschichtsbewußtsein und die ins Sagen-
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AUSBREITUNG DER ROMANTIK
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«GESELLENJAHRE»
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DER ADEL
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MÄNNLICHKEIT DER JÜNGEREN ROMANTIK
rotte, werde man den letzten Rest von Poesie aus der Welt ver-
treiben ... Da sind nun die im Lichte der Geistes- und Dichtungs-
geschichte stehenden adligen Romantiker: Hardenberg, Arnim, Eichen-
dorff, Loeben, Wilhelm von Schütz, Fouque, Heinrich von Kleist, Ernst
von der Malsburg, Leo von Seckendorff, Chamisso, Savigny, Caroline
von Günderode. Und jene adligen Lieblinge Varnhagens, der selbst
dem Adel zugehörte, bilden um die schöpferische romantische Mitte
den weiteren Kreis. Die Fäden zwischen allen laufen hin und her. Die
«Christlich Deutsche Tischgesellschaft» in Berlin, deren Ton und Geist
den letzten, steilen Aufschwung Heinrich von Kleists seit 1810 be-
stimmten, besteht neben Fichte, Adam Müller, Arnim, Brentano, Sa-
vigny, Clausewitz und einigen Vertretern der bürgerlichen Aristokratie
aus nichtliterarischen Männern von Adel. Aus Männern - denn der
adlige Sektor der deutschen Romantik ist wie der gesamte von ihr voll-
zogene Durchbruch zur Erfassung und Verwirklichung einer ursprüng-
lichen Volks-, Staats- und Wirklichkeitsordnung vor allem männlich.
So überhaupt die politischen und religiösen Ergebnisse, Erscheinungen
und Vorgänge, die mit dem organistisch und vital geladenen Kraftfelde
der Romantik in Verbindung gebracht werden müssen. Das ist freilich
eine Feststellung, die zu einer Auffassung im Widerspruch steht, die
in der «Romantik» eine frauenhafte oder verweiblichte Epoche sehen
möchte.
Doch der die Epoche durchwaltende deutsche Idealismus ? Steht
jener Aufschwung des reinen begrifflichen Denkens der nachkantischen
Philosophie etwa auch in einem Zusammenhang mit der Gegenwir-
kung auf die in ihren Banden gelöste Zeit ? Für Fichte braucht dieses
nach früher Gesagtem kaum nochmals bejaht zu werden. Die Diagnose
des Zeitalters ist von keinem schärfer und unerbittlicher gestellt wor-
den als von ihm, mehr noch in den «Grundzügen des gegenwärtigen
Zeitalters» (erschienen 1806), als in den «Reden an die deutsche
Nation» (erschienen 1808). Diese beiden Bekundungen verhalten sich
zueinander wie der Aufbau eines neuen Gebäudes zu dem Abbruch
des alten. Die« Reden» stellen den aus ihrer Geschichte und Wesen-
heit abgeleiteten Erziehungsplan für die Deutschen der Zukunft auf,
die «Grundzüge» bieten ein «philosophisches Gemälde» des gegen-
6* 85
FICHTE
84
DER DEUTSCHE IDEALISMUS
85
IDEALISMUS UND «ZEITKLAGE»
86
IDEALISMUS UND MENSCHENPRÄGUNG
87
DIE BEREDSAMKEIT
zu wissen begehrte, wie sich der Schatz der zutage geförderten Bildung
verwenden, welche Anwendung sich aus ihm machen ließ. Nicht
Barock, nicht Vorklassik, aber auch nicht die Weimarer Klassik haben
öffentlich auf mündlichem Wege ihre Welt- und Kunstanschauung zu
vertreten und zu verbreiten gesucht; die Klassik deswegen nicht, weil
runde künstlerische Werke und die ihrem Wesen und Gesetz nach
improvisatorische Vermittlung durch das gesprochene Wort sich aus-
schließen. Soviel man sieht, war August vVilhelm Schlegel der erste,
der sich mit dem Bewußtsein, an der Spitze einer vielbeachteten lite-
rarischen Gruppe zu stehen, mit Privatvorträgen unmittelbar an das
Publikum wandte und damit die Entscheidung einer urteilsfähigen
Instanz suchte. Das geschah in seinen Berliner «Vorlesungen über
schöne Literatur und Kunst», die in den drei aufeinanderfolgenden
Wintern von 1801/02 ab stattfanden. Sie beanspruchten freilich, mehr
zu sein als die Kundgebung einer literarischen Partei. Das Forum einer
mit rednerischen Mitteln zu bearbeitenden Öffentlichkeit würden sie
nie gesucht haben, wenn sie nicht den Charakter einer großen, auf
die Zeitsituation bezogenen Aktion angestrebt hätten. Sie nutzten mit
Bedacht den Moment der Jahrhundertwende. Wohl waren Kunst und
Literatur ihre Gegenstände. Aber hinter ihnen erhoben sich weiter-
gehende Feststellungen und Ansprüche: der Mensch der Epoche soll
sich die Frage vorlegen, wie er zur Geschichte und Gegenwart des ge-
samten geistig-künstlerischen Lebens seit dem Altertum steht, welche
Werte ihm daraus bleiben, welche neuen Werte in den Bestand seiner
Bildung aufgenommen werden müssen, welcher Scheinbesitz zu ver-
werfen ist. Mehr noch: die « Zeitklage » ist aus der Romantik nirgends
wortwörtlicher als solche, wirksamer und begründet-ausführlicher laut
geworden als in jener «Allgemeinen Übersicht des gegenwärtigenZu-
staudes der deutschen Literatur», die den zweiten Kursus der Schlegel-
sehenVorlesungen eröffnete und im Gegensatz zu den ungedruckt blei-
benden übrigen Partien der Vorlesungen 1803 in Friedrich Schlegels
« Europa» veröffentlicht wurde. Aus Literaturgeschichte und Literatur-
kritik wird eine vernichtende Abrechnung mit dem Geiste des Zeit-
alters im ganzen. Dessen Überzeugung, die Welt sei, seit sie steht, noch
nie so verständig und gebildet, so gesittet und sittlich gewesen als
88
A.W. SCHLEGELS BERLINER VORLESUNGEN
jetzt, wird als ein «optischer Betrug» erwiesen; Die Aufklärung und
die Nützlichkeitslehre mit allen ihren Auswirkungen und Verzwei-
gungen sind dabei sehr wesentliche Zielscheiben. Aber sie bedeuten
nur eine Seite des allgemeinen Niederganges. Der herrschende Cha-
rakter der Zeit besteht in dem durchgehenden Verkennen der Ideen.
Ideen sind nach Schlegel «etwas, worauf der menschliche Geist mit
einem unendlichen Bestreben gerichtet ist»; oder («wie mein Bru-
der ... sie im Athenäum treffend ... beschrieben» hat): «Ideen sind
unendliche, selbständige, immer in sich bewegliche, göttliche Gedan-
ken.» Schlegel möchte sie «organische Gedanken» nennen, nach deren
Hinwegnahme nur ein toter Mechanismus zwischen den ihnen unter-
geordneten Begriffen übrigbleibe. Nennt sich die neuere Philosophie
Idealismus, so wird sie nichts dagegen haben, meint er mit einiger
Boshaftigkeit, daß echter Idealismus diejenige Philosophie genannt
werde, «in welcher die Ideen anerkannt und dargestellt werden». So
ist es nur verhältnismäßig wenig, was als Regung des wiederaufleben-
den Geistes neuerer Zeit vorbehaltlose Geltung beanspruchen darf:
Winckelmann, Lessing, Hemsterhuis, Goethe. Wir aber, wir, die wir
uns zusammengeschlossen haben und denen man die Ehre erwiesen
hat, als eine maßgebende Partei in der Literatur angesehen zu werden,
wir bilden uns nicht ein, einige philosophische und poetische Werke
würden unmittelbar auf die gegenwärtige äußere Verfassung der
menschlichen Angelegenheiten wirken. Aber wir behaupten, es seien
von uns Keime des neuen Werdens ausgestreut. Und wir sind berech-
tigt, zu sagen, es fange eine neue Zeit an: «Denn aus dem höheren
Gesichtspunkt angesehen, ist die Zeit eine Hervorbringung des freien
Menschen, und es hängt von ihm ab, was er für sich in den Schoß der
Vergangenheit versenken, und was er als Gegenwart festhalten will,
um seine Zukunft daraus zu entwickeln.» Diese zeitkritische Überschau
August Wilhelm Schlegels hat auf die nächste Folgezeit eine weit- und
tiefgehende Wirkung ausgeübt. Es waren die Ausführungen seiner Ber-
liner Vorlesungen, die des allgemeinsten Verständnisses und Interesses
und der stärksten Aktualität sicher waren. Mit Bedacht wurden sie des-
wegen auch im Druck der Öffentlichkeit vorgelegt. Einmal müßte im
einzelnen untersucht werden, ·wie diese Zeitkritik des frühroman-
89
UMSICHGREIFEN DES VORLESUNGSWESENS
90
ADAM MüLLER- G. H. SCHUBERT
in Beziehung zum Leben, zu den großen Zeitbegebenheiten und dem
«Zeitgeist» setzen. Adam Müller und der spätere Friedrich Schlegel
stellen jenen neuen Typ des literarisch-wissenschaftlichen Kritikers
dar, den Müller fordert: «der dem Leben und der Zeitgeschichte nicht
fremd, das Allgemeine der Geschichte wohl noch besser inne hat als
der denkende Staats- und Geschäftsmann, dabei aber die Kenntnis und
Fähigkeit besitzt, durch jenen gemeinschaftlichen Berührungspunkt
ihm auch die unbekanntern Regionen der Kunst, besonders aber der
Philosophie zu eröffnen.» Für diese neue Art des Kritikers und seine
Beziehungen zu Geschichte, Politik, Gesellschaft war die öffentliche
Vorlesung das gegebene VerständigungsmitteL Neben Müllers Vorle-
sungen haben für das innere Reich, das des Seelischen, für die Ab-
gründe des Unbewußten, für die tastenden Erkenntnisse einer aus der
Romantik herauskommenden, an Hamann, Herd er, Goethe anknüpfen-
denneueren Seelenkunde die «Ansichten von der Nachtseite der Na-
turwissenschaft» Gotthilf Heinrich Schuberts eine entlarvende und
bannende ·wirkung gehabt. Diese in Dresden im Winter 1807/08 ge-
haltenen Vorlesungen über die Phänomene des Fernfühlens, Hell-
sehens, Traumschauens, des Lebensmagnetismus erstrecken ihren Ein-
fluß über Carl Gustav Carus und sein seelenkundliches Hauptwerk
«Psyche» bis in neuere und neueste Zeit, weil schon sie von der Über-
zeugung ausgehen, daß der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des
bewußten Seelenlebens in der Region des Unbewußten liege.
Die Vorlesungen, die aus dem romantischen Raume heraus gehalten
wurden, hatten neben der glänzenden Schauseite noch einen anderen
Aspekt. Die Gefallsucht und die Sensationslust in allen Formen konn-
ten sich bei ihnen auswirken, nicht nur beim Redner, vor allem auch
beim Publikum, zu dem nunmehr auch das begierig zu den deut-
schen Bildungsgütern greifende jüdische Element gehörte. Die Stimme
eines klarblickenden und kritischen Zeitgenossen der älteren Gene-
ration faßt alles zusammen, was sich nach dieser Richtung sagen läßt:
es ist der Staatsmann und staatswissenschaftliche Schriftsteller August
VVilhelm Rehberg, der nie mit dem Strome Schwimmende und von
allem Geschmäcklerwesen Freie, der sich in einer Besprechung Adam
Müllers 1810 folgendermaßen äußert: «Vornehme Personen suchen
91
DIE KEHRSEITE
eine Zerstreuung und Erholung ... und wollen sich einmal etwas vor-
klimpern lassen, damit der unsterbliche Geist doch nicht vollends ein-
schlafe. Damit ist nun auch der Haufen zufrieden, der den Saal füllen
hilft und sich eingefunden hat, teils um mit vornehmen Leuten in
Gesellschaft gewesen zu sein, teils um sich als Genossen der höheren
Kultur darzustellen. Um diese Zuhörer zu unterhalten, muß alles Ge-
meine und Bekannte den Anschein des Neuen und Höheren, verbor-
gener kundgemachter vVeisheit erhalten. Es müssen neue Worte und
überraschende Zusammenstellungen, Anspielungen, Deutungen ge-
sucht werden. Der überlegte klare Vortrag des verständigen Mannes
reicht nicht zu und muß Seiltänzerkünsten Platz machen . . . alle
Werke, die auf jene Art entstanden sind, tragen mehr oder weniger
Spuren davon an sich - falschen Schmuck, blendenden Schein über-
triebener Behauptungen, unpassende Ausdrücke, schreienden Kontrast
erzwungener Ansichten mit den gewöhnlichen Vorstellungen. Zu allem
diesem kommt noch eine andere Inkonvenienz. Der Ton einer Vor-
lesung, nicht für Schüler, sondern für Zuhörer, die die Ehre erzeigen,
zu erscheinen, verleitet zu einer pedantischen Eleganz. Der Redner
steckt in einer Schnürbrust, dergleichen weder Demosthenes, Fox,
Burke, noch auch Bossuet getragen haben, soviel Rücksicht auch diese
insgesamt auf die Personen nehmen mußten, vor denen sie standen.»
Noch unliebenswürdiger heißt es 1816 in einem Aktenstück aus der
Zeit, als Friedrich Schlegel österreichischer Legationsrat in Frankfurt
am Main war: «Alle diese wandernden Vorleser und Deklamatoren,
welche lange vorher, unter der Mißbilligung vernünftiger Menschen
in dem auswärtigen Deutschland ihr lächerliches Wesen trieben, be-
geben sich auch hier [in Wien J unter den wirksamen Schutz der
Weiber, welche die Eintrittskarten an die bei ihnen einsprechenden
Männer und vVeiber mit unwiderstehlicher Zudringlichkeit ZU ver-
trödeln pflegen.» Solchen Beurteilern war es nicht gegeben, das Vor-
lesungswesen der Zeit in seinen Zusammenhängen und Ursachen zu
sehen.
Der Zug ZU unmittelbaren vVirkungen durch das gesprochene Wort
hängt auch mit dem durch die Jahrhunderte gesteigerten Überdruß an
der zivilisatorischen Funktion des Lesens, Schreibens, Druckenlassens
92
VIELSCHREIBEREI UND VIELLESEREI
93
TIECKS STANDPUNKT
94
GEGEN DIE TRIVIALLITERATUR
geschichtlicher und sozialer Einsicht und mit dem Blick für die kollek-
tive Bedeutung der Produktion und Konsumtion dieser Bücher mit den
Fragen, die sie aufwerfen. Er kennt auch hier keine humanistische
Strenge und aristokratisierende Abgegrenztheit. Er war selber als Dich-
ter groß geworden gegen diese Literatur. Gegen sie hatte ihn vor
dreißig Jahren das «Athenäum» auf den Schild gehoben. Aber der
Sinn für das Volksmäßige in Dichtung und Schriftstellertum, den die
jüngere Romantik zum Teil von ihm übernahm, hatte ihn nicht ver-
lassen. Wie ist daneben August Wilhelm Schlegel im «Athenäum» und
in der «Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung» gegen den Trivial- und
Moderoman zu Felde gezogen - mit tödlicher Schärfe oder vernich-
tend trockenem Hohn! Und wie dachten die Weimarer Klassiker inner-
halb und außerhalb der «Xenien» über diese Büchermache! Wie streng
urteilt Schiller - auch hier ganz geistiger Aristokrat - über solche, die
sich sogenannter leichter Lektüre nicht versagen. «Daß», heißt es in
dem Briefe an Goethe vom 17. Dezember 1795, «in Weimar jetzt die
Hundsposttage grassieren, ist mir ordentlich psychologisch merkwür-
dig; denn man sollte sich nicht träumen lassen, daß derselbe Ge-
schmack so ganz heterogene Massen vertragen könnte, als diese Pro-
duktion und Clara du Plessis ist. Nicht leicht ist mir ein solches Bei-
spiel von Charakterlosigkeit bei einer ganzen Sozietät vorgekommen.»
Jean Paul und August Lafontaine nebeneinander! Schillers Natur
scheint eine Erklärung für dies Phänomen nur finden zu können, wenn
ein Mangel moralischer Art, ein sträfliches Geltenlassen und Sich-
gehenlassen dabei vorausgesetzt werden dürfen.
Neben der politischen Zeitkrise ist im übrigen die Massenverbrei-
tung und Massenaufnahme der Trivialliteratur für Klassik und Roman-
tik ein beängstigendes und herausforderndes Zeichen der Epoche ge-
wesen. Aber auch hier fragt es sich, ob der objektive Tatbestand, zum
mindesten was die Quantität der literarischen Machwerke betrifft, den
subjektiven Vorstellungen der klassisch-romantischen Zeitgenossen
recht gibt. Dies scheint der Fall zu sein. Man schätzt die Zahl der deut-
schen um das Jahr 1773 auf 3000; 1787 sollen es etwa
6000 gewesen sein. Und diese Zahl hat sich bis zum Ende des Jahrhun-
derts noch bedeutend erhöht. Die Zahl der insgesamt in Deutschland
95
LITERATUR DES ORGANISMUS
erschienenen Druckwerke stieg in der Zeit von 1771 bis 1800 von 1144
auf 2569, hat sich also verdoppelt. Bemerkenswert für den Prozeß der
Säkularisierung, dem die Literatur unterlag, ist der Rückgang der pro-
testantisch-theologischen Literatur: 1770 erscheinen 244 selbständige
theologische Schriften, 1800 bei der mehr als verdoppelten Gesamt-
bücherproduktion nur 559. Anfang der neunziger Jahre erscheinen in
Deutschland jährlich etwa 500 Romane, deutsche und übersetzte;
eine Verhältniszahl, die groß genug ist, um die Äußerungen über eine
Massenproduktion auf diesem Felde zu rechtfertigen. Die nackten
Zahlen der Neuerscheinungen besagen freilich längst nicht alles, um
den Eindruck der Vielschreiberei und Vielleserei sachlich begründet
erscheinen zu lassen. Nicht die Zahlen der Veröffentlichungen (ganz
abgesehen von der Höhe der Auflagen) sprachen zu den Zeitgenossen:
auf sie wirkte die Stärke der hervorbringenden oder empfangenden
Anteilnahme an dem Getriebe der Literatur, die beherrschende Stel-
lung, die das Schrifttum und alles, was mit ihm zusammenhing, im
gesellschaftlichen, öffentlichen und intimen Leben der Deutschen ge-
wonnen hatte. Wohl sind die verhältnismäßig wenigen literarischen
Erscheinungen, die in den Kanon der normalen Literaturgeschichte
eingegangen sind, nur die Spitze einer Pyramide, deren breite Grund-
lage von einer Masse kleiner Leute gebildet wird; wohl war nun in
Deutschland neben der klassisch-romantischen Literatur etwas ent-
standen, was einem intellektuellen Proletariat sehr ähnlich sah. Aber
zugleich hatte sich damit die Literatur überhaupt als ein lebender
Organismus gefestigt, wie sie es in England und Frankreich schon
längst war. Die Literatur war nun ein gegliedertes Ganzes geworden,
ein Gebilde, dessen Bewegungen, dessen Veränderungen, dessen Auf
und Ab, dessen Gesetze im Zusammenhange der übrigen Vorgänge des
Nationalkörpers wie des Systems der Weltliteratur beobachtet, verstan-
den, gewertet werden konnten. Das tat der nachitalienische Goethe,
und er krönte sein Verständnis für die Literatur als einen Lebens-
vorgang in« Dichtung und Wahrheit». Er war darum stets nachsichtig
gegen die Vielzuvielen, die in den literarischen Niederungen siedelten.
Wo es in den neunzigerJahren bei ihm anders zu sein scheint, war er
der von Schiller Geführte oder der den Mitstreiter Geltenlassende?
96
POLITISCHE UND SCHÖNGEISTIGE LITERATUR
Klassik und Romantik sind unter der Sicht der deutschen Geistes-
geschichte nach ihrem gesamten Ablauf der ragende Höhenzug, auf
dem jeder schweifende Blick verweilend stillhalten muß, sei es, daß er
sich von denVorhöhen zu ihm erhebt, sei es, daß er das dahinterliegende
Gefälle mustert. Die Werte, die geschaffen wurden, die Probleme, mit
denen diese Epoche rang, die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten,
die sie hervorgebracht hat, wurden von ihr dem 19. und 20. Jahrhun-
dert überantwortet und tauchten in dieser Folgezeit, mannigfach
durchsetzt, durchkreuzt, entstellt, verfälscht oder bekämpft, abgewan-
delt oder anders gewendet, wieder auf. Sie in ihrer ersten Reinheit
und bei den Bedingungen ihrer Entstehung zu suchen und zu finden,
muß dem genügen, der diese Epoche als Historiker durchwandert. Was
später aus ihnen wurde, wird begreiflicherweise den Wanderer weniger
kümmern, der diesen Boden und seine geistige Vegetation zum Gegen-
stand forschender Aufmerksamkeit gewählt hat. So steht es auch um
die Fragen der für die Literatur bedeutsamen Zeitkrise, der Gegen-
wirkung gegen die Zeit, der « Zeitklage » und Zeitflucht, des Volks-
geistes und der Wiedergeburt, des gesuchten Lebensgrundes und des
Geschichtskultes, wovon in diesem Kapitel mit dem Augenmerk auf
die literarischen Rückwirkungen die Rede war. Die Umwälzung, die
die Revolutionszeit und die Napoleonische Ära brachten, hatten zu
tiefe Lagerungen damaligen Menschheit berührt, als daß sie nach
den Notlösungen durch Wiener Kongreß und Heilige Allianz hätten
ausgeglichen sein können. Die Jahre 1830 und 1848 haben manche,
ja die besten, die Stellungen wieder beziehen lassen, die gegenüber
einer alles in Frage stellenden Zeit zuerst von Klassik und Romantik
eingenommen worden waren. Diese Stellungen zu halten, war nun
schwieriger, weil die Gegenwirkungen sich vertieft, verstärkt, gewei-
tet hatten. Ein gegennationaler «Zeitgeist» trat im 19. Jahrhundert
dem Volksgeist gegenüber. Die organische Tiefenverbindung des deut-
schen Menschen mit Überlieferung und Wurzelboden wurde bestritten
durch eine Querverbindung der Menschen und Völker, die, indem sie
neuen Forderungen von Vernunft, Theorie, Abstraktion oder Wissen-
schaft zu entsprechen meinte, aufklärerische Fäden weiterspann, aber
nicht mehr in die Lebensvorstellung eingebettet war, unter der Klassik
und Romantik- als Doppelergebnis des dynamischen Vitalismus-ge-
standen hatten. Die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zur Ge-
sellschaft und Gemeinschaft war in der Wirklichkeit wie als Thema
der Dichtung für das 19. und 20. Jahrhundert ein schicksalschweres
Anliegen- diese so viele J\!Iischungen und Übergänge zulassende Frage,
die in Deutschland seit dem Sturm und Drang unüberhörbar geworden
war. Zog sich der Einzelne, Dichter oder nicht, in sich selbst zurück,
war er der Einsamkeit und Stille zugewendet, der Welt und der Zeit
abgekehrt, so stellt sich schon für die Epoche, die auf diesen Blättern
in Rede steht, eine Wahllösung. Es fragt sich, ob ein solcher Widerstand
gegen Zeit, Umwelt, Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit und sein dich-
terisch-literarischer Ausdruck durch die besondere, herausfordernde
oder verletzende Situation von Zeit und Gesellschaft veranlaßt worden
98
KLASSIK UND EINSAMKEIT
waren, wie schon Friedrich Schlegel 1812 will, wenn er, die Summe
seiner Generation ziehend, schreibt: «Andere wandten sich weg von
dem unmittelbaren Anblick dieses chaotischen Zustandes der jetzigen
Menschheit, sich in das Gebiet der Phantasie flüchtend, und in ihren
Spielen sich ergötzend, oder sich in die Arme der Natur werfend, und
der von dem Zustande des Menschen ganz getrennten Betrachtung und
Wissenschaft derselben.» Doch die andere Möglichkeit ist die, daß ein
von der Zeit unabhängiger, individualpsychologisch oder gruppen-
psychologisch erfaßbarer Kulturpessimismus Rousseauschen oder Wer-
thersehen Gepräges, ja ein degenerativ bedingter Widerwille gegen
das Leben die Zeitklage und Zeitkritik als ein Untergeordnetes in sich
aufnahmen. Hier stehen Klassik und Romantik verschieden da. Die
Goethe-Schillersche Klassik hat das Thema des einsamen und indivi-
dualistisch sich abschließenden oder aufbegehrenden Menschen nur
noch im größeren menschlichen und gesellschaftlichen Zusammen-
hange oder theoretisch ergriffen. Das Goethesche Sichverschließen vor
der Welt gehörte einer abgelaufenen Phase seiner Selbstgestaltung an.
Prometheus und Epimetheus seiner « Pandora» finden ihren Ausgleich
in einer Synthese, die durch die ihnen folgende Generation hergestellt
wird. Alle Goetheschen Werke nach seiner Rückkehr aus Italien sind
als Ganzheiten bejahend der offenen und großen Welt zugekehrt, der
Fülle ihrer Erscheinungen aus Gesellschaft, Erdraum, Geschichte und
Gegenwart. Dieser «großen Welt» wollen sie sich bemächtigen, die
«kleine Welt» haben sie hinter sich gelassen so, wie es mit dem Faust-
werk seiner Jugend auch geschah.
Zu zu beschlü:ßen,
Bleibe, Künstler, oft allein;
Deines Wl'rkens zu genießen,
Eile freudig zum Verein!
Hier im Ganzen schau, erfahre
Deinen eigenen Lebenslauf,
Und die Taten mancher Jahre
Gehn dir in dem Nachbar auf.
7* 99
DAS EINSAMKEITSMOTIV
100
DER WEG NACH AUSSEN UND DER NACH INNEN
101
FR. SCHLEGELS <NON DER SEELE»
102
AUGUST LUDWIG HüLSEN
buch als das der Natur und der lebendigen Menschen brauchte».
Menschlich von starker Eindrucksfähigkeit, so ungezwungen und sicher
im geselligen Verkehr jeder Art wie Novalis, ausgiebiger und wirk-
samer als Persönlichkeit denn in seinen Schriften, war auch er wie
Hardenberg ein unmittelbar aufnehmender und weitergebender Trans-
formator des romantischen Lebensprozesses, für den Schreiben, Fixie-
ren des Gedachten und Gefühlten auf dem Papier nur eine bisweilen
notwendige, aber untergeordnete Unterbrechung des ruhelosen inne-
ren Strömens bedeutete. Für ihn existiert nur ein Beziehungspunkt:
der Mensch: «Es gibt ... kein Vor und kein Nach und kein Mehr und
kein Weniger, als nur in Beziehung auf unsere eigene Tätigkeit 1 und
folglich nur in der Vergleichung eines jeden mit sich selber. Ein jeder
vergleicht sich aber nur in seinem Verhältnisse zum Menschen, d. h.
er denkt die eigene Beziehung als notwendig in einem jeden, und so
ist der Mensch ihm ein freihandelndes Wesen, und jede Erscheinung
des Lebens eine Berührung ihrer gleichen und ewigen Geister, die
fortgeführt wird höher und inniger durch alle Räume des Himmels.»
So heißt es im «Athenäum» in HülsensAufsatz «Über die natürliche
Gleichheit der Menschen». Er lehnte in seinen aufschlußreichen, übri-
gens von reiner Hingabe getragenen Briefen an August Wilhelm Schle-
gel den Rückzug auf die christliche Religion und «Mythologie» als
auf die feste Insel im Strome des Geistes und der Zeit entschieden ab.
Das innerste Wesen der christlichen Religion vertrage sich, so schreibt
er am 18. Dezember 1803, mit der Freiheit des Menschen <mnd allem
Großen und Wahren, was aus dieser hervorgehen soll, durchaus nicht».
«Hast Du», so fährt er fort, «den Brief nicht gelesen, den ich vor
einigen Jahren Schleiermacher über seine Reden geschrieben? Ich
wunderte mich, daß Schleiermacher mir wirklich zugestand, die Reli-
gion sei in ihrem innersten Wesen auch nur ein inneres Verhältnis des
Menschen. Denn wer mir dies zugibt, muß billig auch gestehen, daß
nur Christus allein eine christliche Religion haben konnte. Sollte er
ein Zentrum, ein Beziehungspunkt für andere sein, so ist dies gegen
die ·wahrheit, und die Annahme einer solchen Religion - wie wohl sie
eigentlich unmöglich bleibt - muß doch als bloße Meinung von den
nachteiligsten Folgen sein.» Bis zu dieser Linie einer religiösen Ver-
103
HENRIK STEFFENS
einzelung wirkte sich noch um 1800 in der Romantik der gegen die
Aufklärung hochgekommene Subjektivismus aus, der als eine, wenn
auch nicht als die einzig notwendige Begleiterscheinung der organisch-
dynamischen Weltansicht erstarkt und längst vom Pietismus genährt
worden war.
Dieser Subjektivismus mit seinen mannigfachen Geltungsbereichen
und Abstufungen, seien sie nun in Liebe, Freundschaft, Natur, Poesie,
Lebensführung zu finden, verknüpfte sich um 1800 mit der Idee und
Erwartung einer aus dem europäischen Chaos neu aufsteigenden Ge-
sellschaft, ohne daß eine Lösung einstweilen absehbar erschien. «Ob-
gleich», sagt Henrik Steffens in seinen Lebenserinnerungen, «in un-
serer allseitigen Richtung die Politik uns nicht fremd blieb, so hatte
sie doch nur ein sekundäres Interesse für uns, und was wir gemein-
schaftlich suchten und hoffnungsvoll von der Zukunft erwarteten,
hatte eine tiefere geistige Bedeutung ... der innere Kampf, der in der
deutschen Literatur stattfand und nach allen Richtungen der Wissen-
schaft und Kunst eine neue Zeit vorbereitete, ward mir jetzt erst völlig
klar. Ich sah ein altes, in hergebrachten Formen Erstarrtes sich mir
abschälen, vertrocknet und verwelkt hinfallen, um einer neuen Ge-
staltung Platz zu machen; und es war mir eine wichtige Aufgabe, mich
in diesen neuen Verhältnissen geistig zu orientieren und zu erfahren,
ob die Aufgaben, die mich beschäftigten, und die sich von meiner
frühesten Kindheit an in der Einsamkeit ausgebildet hatten, aufirgend-
eine Weise einen selbständigen Platz in dieser neuen Geburt der Zeit
erhalten konnten.» Man ersieht aus diesem Bekenntnis des tief auf-
gewühlten und aufwühlenden dänischen Fackelträgers der deutschen
Romantik, wie sehr der überkommene Subjektivismus zunächst Mühe
hatte, sich in die aufs Weite gerichtete Haltung des deutschen Geistes-
lebens um 1800 einzufügen.
In den Umkreis solcher Fragen: der nach Vereinbarkeit oder Un-
vereinbarkeit von Zeitbekämpfung und neuem öffentlichen Schöp-
fungswillen einerseits und individualistischem Sichzurückziehen auf
sich selbst andererseits, gehören auch die Probleme und Motive jener
«Sehnsucht», die so oft mit dem innersten Wesen der deutschen Ro-
mantik in Verbindung gebracht worden ist. Die große dramatische
104
DIE ROMANTISCHE «SEHNSUCHT»
Dichtung Tiecks, «Kaiser Oktavian » ( 1804), ist -wie ein Inbegriff des
romantisch-dichterischen Willens überhaupt- so auch ein Sammel-
becken, in dem sich alle Ströme der romantischen Sehnsucht fan-
gen und von wo sie mit der sonstigen Nachwirkung dieses Werkes auf
die Folgezeit weitergeleitet wurden, um auf neue, aufnahmebereite,
individuelle Empfänger zu treffen. Die romantische Sehnsucht kann
ein Durchstoß vom Endlichen zum Absoluten sein und so eine meta-
physische oder religiöse Wertrichtung haben. Die Sehnsucht nach dem
Unendlichen, die auch das romantische Naturgefühl bestimmt, kann
eine Form des Willens zur ziellosen Enthebung aus einer drohenden
und einschnürenden, individuell-seelischen Situation sein. Sie kann,
wie bei Tieck, die vermeintliche Aufhebung einer strukturellen inne-
ren Zerrissenheit in sich schließen mit dem Ziele auf Ganzheit und
Erfüllung in Gott, Natur oder Liebe. Romantische Sehnsucht, wie
immer sie bestimmt werden mag, wird stets zwei Pole haben. Der eine
ist der einer schaffenden Kraft: aus der Sehnsucht des Dichters, der
das Unsagbare in Worte fassen will, entsteht eine neue Welt, eine blei-
bende und seiende, die nicht mehr dem Gesetze des Wandels und Ver-
gehens unterliegt, nicht mehr von dem Rückfall in das Chaos bedroht
wird. Aber romantische Sehnsucht kann auch Flucht sein: Flucht aus
dem vom Schrecken durchschütterten Dasein, Verlangen nach Erlösung
aus bedrohter Existenz; Flucht aber auch aus der Pein der Indivi-
duation, aus der Selbstqual der seelischen Analyse (wie bei Tieck),
Flucht in ein All (oder Nichts), in dem die persönliche Existenz ver-
löscht und ihre Last vergeht. So oder so: unbeschadet ihrer psycho-
logischen oder existentiellen Bedingnisse braucht doch auch die roman-
tische Sehnsucht nicht abgelöst von einer ursächlichen und dinglichen
Wirklichkeit genommen zu werden. Das Hinweg und Dahin dieser
Sehnsucht kann zum mindesten verstärkt oder in der Schicht des Un-
bewußten mitbestimmt werden durch Zeit- und Umwelteindrücke.
Es besteht jedenfalls die Möglichkeit, auch die romantische Sehnsucht,
wenn man sie alles Ornamentalen und aller motivischen Ausgestaltung
entkleidet, als einen Aufnahmebereich erkennen zu lassen für Rück-
wirkungen, die durch das reale Schwinden äußerer und innerer Lebens-
sicherheit des deutschen Menschen um 1800 hervorgerufen wurden.
105
DIE ROMANTISCHE «SEHNSUCHT»
106
II
«DEUTSCHE KLASSIK».
SCHILLERS AUFSTIEG UND DER WEG
ZU KLASSIK UND ROMANTIK
Später als andere Völker sind die Deutschen dazu gelangt, eme
Summe und einen Inbegriff literarischer und dichterischer Werke zu
erhalten, die für sie geschmackliches Vorbild, Regel, Quelle der Er-
bauung und Erhebung, Fundgrube für erziehliche Werte und der Kitt
für die geistige Gemeinschaft aller wurden, die sich an ihnen erkann-
ten. Das, was man die «Deutsche Klassik» nennt, leistete diese Dienste.
Ob sie sie weiter leisten kann, hängt davon ab, daß es neuerer und ge-
wandelter Einsicht gelingt, das scheinbar Abgeschlossene, Fertige, Er-
starrte und Unlebendige dieser «Klassik» wieder in ein Lebendiges,
Strebendes, Allseitig-Offenes und Nimmermüdes zu verwandeln und
damit dem Grundcharakter des deutschen Volkes und der deutschen
Geschichte Rechnung zu tragen. Eine solche Aufgabe wäre aussichtslos,
wenn nicht die rechte geschichtliche Erkenntnis der deutschen Klassik
aus ihrer Wirklichkeit, nachdem sie durch mehr als ein Jahrhundert im
wesentlichen einem bloßen Symbolwerte gewichen war, auf solche Er-
gebnisse hinführte. Freilich muß man sich vorher darüber einigen, was
unter «Deutscher Klassik» zu verstehen ist. Der Weg dazu führt über
die Worte «klassisch», «Klassik», «Klassiker», «Klassizismus», «Klas-
sizität». Ihr Aufkommen innerhalb der deutschen Sprach- und Geistes-
geschichte, ihre bedeutungsgeschichtliche Entwicklung bedürfen noch
der Erhellung. Es steht mit ihnen gerade so wie mit den freilich viel-
deutigeren und verschwommeneren Worten «Romantik», «roman-
tisch», «Romantiker», mit denen sie so vielfach verkoppelt sind.
Auf der Ebene eines weitverbreiteten, geläufigen und unbekümmer-
ten Wortgebrauches ist ein «deutscher Klassiker» einer jener Dichter
107
«KLASSIK» ALS BEGRIFF
oder Schriftsteller, die von der Bühne oder durch «Gesammelte Wer-
ke» zu uns sprechen als die wertbeständigen, dem Meinungsstreite
enthobenen Mitschöpfer an einem geistig-künstlerischen Bestande un-
serer Literatur, der einen abgeschlossenen und ererbten Besitz dar-
stellt. Nicht, in welchen geschichtlichen Zusammenhängen dieser Be-
sitz steht, noch welche Wertung im ganzen oder im einzelnen ihm zu-
kommt, tritt dabei zunächst in unser Bewußtsein. Maßgebend ist eine
Bewährung durch die Zeit und durch eine gewisse Übereinkunft, die
diesen Besitz zu einem scheinbar unumgänglichen Bildungsgut haben
werden lassen - gleichviel, ob es als solches wirklich erworben worden
ist oder erworben wird. Maßgebend ist also nicht das Ansichsein dieser
geistig-dichterischen Erbschaft, ihrer Form- und Ideenwelt, sondern
die Beziehung zu uns, die wir durch die Anteilnahme an diesem
Schatze das Recht erwerben, in die geistige Gütergemeinschaft unseres
Volkes einzugehen. Diesem Recht kann auch durch den äußeren Eigen-
tumserwerb an jenen zu einer weitverbreiteten Ware gewordenen
Büchern Ausdruck gegeben werden, die als «Klassiker», in ihrer Auf-
stellung mehr oder minder ungestört, uns als ein Teil unserer häus-
lichen Atmosphäre umgeben. Auf dieser Ebene des Besitzes der « Klas-
siker» kann es sich ebensogut um Klopstock, Lessing,Wieland, Goethe
oder Schiller, um Jean Paul, Kleist, Hölderlin, Grillparzer, Hebbel oder
Gottfried Keller wie um den deutschen Shakespeare handeln. Wieviel
Lippendienst und Mitläufertum sich auf dieser Ebene der Begegnung
mit den« Klassikern» auch einstellen mögen- es steht dahinter die un-
bestimmte oderunbewußte Vorstellung, daß es um das Jasagenmüssen
zu einer erlesenen und unantastbaren geistigen Macht geht.
Die ursprüngliche Bedeutung und Quelle des Wortes «Klassik», das
vom Altertum über die Renaissance, die französische «klassische» Lite-
ratur des 17.Jahrhunderts im 18.Jahrhundert wohl nach dem fran-
zösischen «auteur classique» bei uns Eingang fand, ist im militäri-
schen und politisch-sozialen Bereiche des römischen Staates zu suchen.
Schon von Cicero und Gellius wurde das Wort «classicus» auf die
Literatur übertragen, so daß die in ihm ursprünglich liegende Vor-
stellung einer Bewertung und Einstufung auf Grund einer «Zensur»
erhalten blieb. Im Mittelalter nicht belegt, erscheint das Wort wieder
108
DAS WORT «KLASSIK»
109
DER KLASSISCHE KANON
hoben: «von den Urteilen dieser Kunstrichter hing späterhin das ganze
gelehrte und ungelehrte Altertum ab».
Es ist für die deutsche Klassik nicht von Interesse, wie die Philologie
sich im 19. und 20.Jahrhundert weiterhin zu der Frage des antiken
Schriftstellerkanons gestellt hat. Für die Geschichte der strengeren
Begriffsbildung vom «Klassischem> auch bei denneueren Völkern und
insbesondere bei dem deutschen bleibt festzuhalten, daß sich inner-
halb der Auffassung vom Altertum im 18. und 19.Jahrhundert die Er-
kenntnis bildete, daß der Begriff des Klassischen durch ein bewußtes
Verfahren zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkte gewonnen
wurde. Dieser konnte nur gegeben sein in einer Epoche, die eine reiche
literarische Erbschaft rückblickend, sichtend, wertend zu verwalten
hatte, ja angesichts einer wahllosen Überfülle der Überlieferung ge-
zwungen war, eine Auslese vorzunehmen mit dem Ziele, dem Wissen
und der Bildung von Mitwelt und Nachwelt zu dienen und durch eine
solche Auswahl einen überzeitlichen Schatz weiterzugeben, um das
Übrige mit desto besserem Gewissen in den Hintergrund drängen zu
können. Was in neuerer Zeit Sache des Geschmackes, der Bildung, des
Instinktes, der weltanschaulichen Umbildungen einer ihrer selbst sich
bewußten und als literarische Erbin auftretenden Zeit war, ist im
Hellenismus von den Trägern einer wissenschaftlich geschulten, kri-
tisch-zünftigen Institution geordnet worden; sie suchten ein subjektiv-
wertendes Verhalten zur literarischen Überlieferung nach Möglichkeit
in ein nach objektiven Maßstäben verfahrendes zu verwandeln. Aber
für den einen wie für den anderen Fall kann man sich die bündige
Formulierung gefallen lassen, daß das «Klassische» durch eine innere
Auseinandersetzung mit den geschichtlich überkommenen Kultur-
gehalten entstehe, die aus ihnen das Ausgezeichnete und vermeintlich
Vollkommene herauszuheben suche. Nur bliebe dabei zu beachten, daß
diese Formulierung auf die erziehlichen Werte Bezug nimmt, die in
einer «Klassik» beschlossen sind, und daß sie zum anderen einer all-
gemeinen verwendbaren Meinung vom «Klassischen» Genüge tut,
nicht aber oder nur zu einem geringen Teil dem geschichtlich ge-
gebenen besonderen Falle, den die «Deutsche Klassik» darstellt. Ge-
rade sie kann nie mit einer solchen allgemeingültigen, übernationalen
110
SINN DER «DEUTSCHEN KLASSIK»
111
«KLASSISCH-ROMANTISCHE PHANTASMAGORIE»
delt es sich hier um den Schiller seit «Don Carlos» bis zu seinemTode,
um den Goethe nach Italien bis zu der Wegscheide, die Schillers Hin-
gang für ihn bedeutete, und um die wenigen, die ihnen in dieser
Epoche mehr oder minder ausschließlich in Willen undWerk anhingen.
«Deutsche Klassik» in dieser zeitlichen Begrenzung hat nach Schillers
Tode keine Triebkraft mehr aus der lebendigen Mitte empfangen, die
allemal durch die geschlossene geistige Gemeinschaft von werbenden
und handelnden Menschen gebildet wird. Die Nachwirkungen waren
übertragener Art. Der spätere Goethe steht zu einem Teil auf der Linie
jener Ausbildungsformen, die sich seine Persönlichkeit und Dichtung
innerhalb dieser «klassischen» Epoche gegeben hatten. Aber- wenn
man nicht überhaup:t davor zurückschreckt, das Übergreifende seines
Seins und seiner Kunst in ein beinahe schulmäßiges Fächerwerk ein-
zufügen - er ist in der späteren Zeit auch von dem Ausdehnungs-
streben, den Grenzbeseitigungen, den ins Universale gehenden Flügen
berührt, wie sie der Romantik zuerkannt werden. Sehr verwickelte
Fäden persönlicher und dinglicher Art laufen zwischen ihm und dem
romantischen Zeitgeist hin und her, Fäden, bald fester gespannt, bald
mit plötzlichem Rucke losgelassen und fortgeschnellt, bald von ihm
als solche erkannt, die er selber in seiner früheren Zeit gesponnen
hatte. Immer blieben ihm die Grundsätze ästhetisch-sittlich-gesell-
schaftlicher Art, die sich in der «klassischen» Steigerungsstufe seines
Daseins festgestellt hatten, ein Ordnungsprinzip und die feste Mitte
der Umschau in Dingen der Kunst und menschlichen Gesellschaft.
Aber eine «klassisch-romantische Phantasmagorie» -freilich nicht im
literarhistorischen Sinne- war mit der 1827 selbständig erschienenen
Helenadichtung die Krönung seiner Poesie. So kann man nur, wenn
man Klassik und Romantik als die durch ein leichtgeschwungenes Joch
verbundenen Doppelgipfel unserer geistigen Entwicklung begreift,
auch jenes Grundmassiv unserer neueren Geistigkeit, das sich im Ge-
bilde des reifen Goethe darstellt, unter die Morphologie der Epoche
stellen.
Vielleicht erscheint die inhaltliche, formale und zeitliche Beschrän-
kung der deutschen «Klassik» auf die Goethe-Schillersche Hochblüte
und ihre Ausstrahlungen manchem zu eng. Vielleicht aber ist es ande-
112
DIE BILDENDE KUNST
rerseits an der Zeit, diese «Klassik» von einer ins Vage führenden Aus-
weitung und einer Vermengung ihrer historischen Wirklichkeit mit
normativen Zielsetzungen zurückzuführen auf das geschichtlich ge-
gebene Kerngebiet. Erst dann, von einem festen Eiland aus, kann in
den Geltungsbereichen von «Klassik», «Klassizismus», «klassisch»
wieder Ordnung geschaffen werden - auch für die Kunst-, Musik- und
allgemeine Kulturgeschichte, die in Anlehnung an die Literatur sich
dieser Worte zur Bezeichnung von Grundbegriffen oder Struktur-
zusammenhängen bedient haben. \Vas «Deutsche Klassik» von der
europäischen Stilrichtung des unterscheidet, bedarf
nach früher Gesagtem nur noch der Erwähnung: daß sie in ihrem
Wesen geschieden werden müssen, daß aber, weil sie in Außenberei-
chen zusammenfallen oder weil der «Klassik» ein «Klassizismus» ein-
geordnet ist, Grenzverwischungen zu ihrer Zeit und später oft nicht
wahrgenommen wurden. Es versteht sich nun auch, daß in Dichtung
und bildender Kunst nicht jede Anlehnung inhaltlicher oder formaler
Art an schlecht und recht verstandene antike Muster «deutsche
Klassik» ist, ja nicht einmal «Klassizismus» zu sein braucht. Literatur
einerseits und bildende Kunst sowie Architektur andererseits dürfen
auch hier nicht ohne große Vorsicht zueinander in Beziehung gesetzt
werden. Gewiß strebte seit Winckelmann die Kunst wie ihre Theorie,
strebte auch, in der Entwicklung Goethes seit Weimar vorbildlich, die
Dichtung in einer Andacht zum «Reinen» einem linearen Stile und
der gestalthaften Umgrenzung zu, deren bevorzugter Gegenstand die
einzelne menschliche Form war. Aber wieviel Vorbehalte muß die
Kunstwissenschaft machen, wenn sie die von ihr gewonnenen Seh-
vorstellungen, etwa Wölfflins berühmte fünf Kategorien, für die Ent-
wicklungsgeschichte der Kunst auswerten oder in einen geistigen Zu-
sammenhang einordnen will, der über die bloße Feststellung und Aus-
deutung dieser Sehformen hinausgreift! Wie sehr hat da die eigen-
mächtige innere Entwicklung der Kunst und ihrer Technik, haben
Tradition und Zweckbewußtsein des künstlerischen Schaffens mitzu-
sprechen! Wie schwer ist es für die Kunstgeschichte, einen Stilwandel
wirklich als eine neue Wertung des Seins auf allen Gebieten aufzu-
zeigen! Das Verstehen der Dichtung aber kann sich überhaupt nie bei
der sinnlichen Seite der Poesie, das heißt bei ihren Ausdrucksformen,
ihrem Stil bescheiden. Auch wenn die Annahme als sicher gilt, daß ein
«Stil» tief eingebettete Seinsverhältnisse persönlicher und zugleich
zeitbedingter Art wiedergebe, so ist diese Sicherheit für die Dichtung
vielleicht trügerischer als für die Kunst, bei der der Weg vom gestal-
tenden Schöpfer zur sinnlichen Wirklichkeit des Werkes aus Gründen
der Technik und der Darstellungsmittel direkter und - dem inneren
Vorgang nach gesehen - unkomplizierter ist. Manche ideellen Mo-
mente, manche Motive der übersinnlichen Existenz des Menschen sind
notwendigerweise in dem Entwurf des Dichtwerks enthalten, ehe es
sich zum Ausdruck ringt. Zerdehnter und weniger geschlossen ist -
selbst bei einem lyrischen Gedichte - das Gegenständliche und Stoff-
liche. Das in der Zeitfolge wirksame Ausdrucksmittel der Sprache und
aller ihrer Beziehungen ist von Hause aus nicht in erster Linie dazu
bestimmt, in sich geschlossene Stilgebilde hervorzubringen, und selten
pflegt ihr das restlos und befriedigend zu gelingen. Wohl läßt sich
zur Not der bildenden Kunst eine für sich bestehende Wirklichkeit und
daraus folgende Entwicklung zuerkennen. Aber der Dichtung? Ist sie
nicht weit mehr an die Unausdrückbarkeit stets widersprüchlichen
Menschentums gebunden? Ist ihr Charakter als eigentliche «Kunst»
nicht immer nur annäherungsweise erzielbar oder erfaßbar? Muß
nicht alle Theorie des Sammelbegriffes «Kunst» sie immer wieder in
einen Sonderbereich verweisen?
Auch für die Geschichte der Musik besteht die von der Literatur und
Dichtung herkommende Vorstellung der «Klassik», auch für siewurde
der Begriff in einen Gegensatz zu der darauf in Deutschland folgen-
den musikalischen «Romantik» gebracht. Und gewiß vermögen bei
ihr die Kategorien der «Tektonik» und «Atektonik», der «geschlos-
senen» und der «offenen» Form, die für die Dichtung von der Malerei
entlehnt worden waren, den Stilgegensatz zwischen Haydn, Mozart
und teilweise Beethoven zu Schumann und Weber als «vollgültigen»
musikalischen «Romantikern» zunächst scheinbar sehr einleuchtend
zu machen. Aber auch auf diesem Gebiete führt der Versuch, die Ent-
wicklung mit der der Dichtung in Gleichschritt zu setzen und auf
einen einheitlichen Nenner für das «Klassische» und «Romantische»
114
HISTORIKER UND ÄSTHETIKER
s• 115
HE GEL
116
«KLASSIK» IN DER ÄSTHETIK DES 19. JAHRHUNDERTS
gen holten, hat in ihren Kapiteln über das «Klassische» Goethe und
Schiller dies Prädikat nicht zuerkannt. Die klassische Kunst ist ihr
«die zu freier Totalität in sich abgeschlossene Einigung des Inhaltes
und der ihm schlechthin angemessenen Gestalt». Die klassische Schön-
heit «hat zu ihrem Inneren die freie, selbständige Bedeutung, das ist
nicht eine Bedeutung von irgend etwas, sondern das sich selbst Be-
deutende, und damit auch sich selber Deutende. Dies ist das Geistige,
welches überhaupt sich zum Gegenstande seiner selbst macht. An die-
ser Gegenständlichkeit seiner selbst hat es dann die Form der Äußer-
lichkeit, welche, als mit ihrem Inneren identisch, dadurch auch ihrer-
seits unmittelbar die Bedeutung ihrer selbst ist, und indem sie sich
weiß, sich weist». Diese schwierigen Merkmale des Klassischen hat
Regel bei Goethe und Schiller glücklicherweise nicht gefunden. «Was
die historische Verwirklichung des Klassischen angeht», sagt er, «so
ist kaum zu bemerken nötig, daß wir sie bei den Griechen aufzu-
suchen haben. Die klassische Schönheit mit ihrem unendlichen Um-
fange des Gehalts, Stoffes und der Form ist das dem griechischen Volke
zugeteilte Geschenk gewesen, und wir müssen dies Volk dafür ehren,
daß es die Kunst in ihrer höchsten Lebendigkeit hervorgebracht hat.»
Schiller hat nach Regel von der «Periode des aufgeklärten Verstandes»
seinen Ausgang genommen; er hat «dann aber im Bedürfnis der
durch den Verstand nicht mehr befriedigten Vernunft, Phantasie und
Leidenschaft die lebendige Sehnsucht nach Kunst überhaupt, und
näher nach der klassischen Kunst der Griechen und ihrer Götter und
Weltanschauung empfunden». So wahr und tief gedacht Schillers Pa-
thos auch immer sei: er ist weit entfernt, dem Hegeischen Begriffe des
Klassischen zu entsprechen. Aber auch von Goethe ist mit Beziehung
auf die klassische Kunstform nicht die Rede. Friedrich Theodor Vi-
schers «Ästhetik» (1848) nennt zwar in ihrem zweiten Teil Goethe
und Schiller «Klassiker des modernen Ideals». Das «moderne Ideal»
ist ihm die «Phantasie der wahrhaft freien und mit der Objektivität
versöhnten Subjektivität». Aber beide haben sie in der Richtung des
«modernen Ideals» eine große Aufgabe zu lösen übriggelassen, weil
Goethe subjektive Stoffe rein objektiv, Schiller objektive Stoffe zu sub-
jektiv behandelt habe. Auch bei Vischer gewinnt das Klassische eine
117
LEGENDE DER «KLASSIK»
118
GOETHE UND SCHILLER ALS «KLASSIKER»
den unter dem Leitstern der Weimarer Klassik treublieben. Ist es so,
wie es vielfach scheinen könnte, daß sie in unserem geistigen Leben
nur noch einem Denkmal gliche, wie sie es in Ritschels Doppelstand-
bild Goethes und Schillers in Weimar erhalten hat, auf dem die beiden
durch den einen Kranz,_ den sie halten, verbunden werden? Keine stär-
kere Verfestigung konnte die Legende der Klassik erfahren als durch
dies Monument. Die Literaturgeschichte ist schwächlich gegenüber der
sprechenden Wucht des geformten, schaubaren Erzes. Die fruchtbare
Legende der Klassik zerstören zu wollen, kann nie unsere Absicht sein.
Ebensowenig, durch Beseitigung von Worten, die nun einmal ihr Bür-
gerrecht erworben haben und an denen wir uns verstehen, Errungen-
schaften in Frage zu stellen, die ihr Vorhandensein einem bildungs-
geschichtlichen Ablauf und einem Bedürfnis nach Schlüssigkeit ver-
danken. Etwas anderes aber ist es, mit neuem Ansatz in die Lebens-
zusammenhänge eingehen zu wollen und eingehen zu lassen, denen
Dichtung und Weltanschauung der Klassik verdankt werden.
Während die Nachwelt ihr Bildsäulen in monumentaler Größe und
Beispielhaftigkeit aufrichtete, haben die «Klassiker» Goethe und Schil-
ler selber von sich niemals die Vorstellung gehabt, ihre Wirkung und
Leistung könne an die Vollkommenheit eines «Klassischen» heran-
reichen. Wie hätten sie es auch vermocht! Beide waren sie in den
neunzigerJahren (auch der nachitalienische Goethe, den man so gerne
als den Fertigen und in sich Gefestigten dem immer ringenden und
werdenden Schiller gegenüberstellt) von dem Unvollkommenen und
Bruchstückhaften ihres Schaffens und Denkens überz_eugt. An der
menschlichen Erscheinung beider, des Älteren wie des um zehn Jahre
Jüngeren, ist vielleicht am ergreifendsten, daß sie stets in einer Selbst-
prüfung begriffen waren, deren schönstes Ergebnis in einer
denheit bestand, die sich bei verantwortlicher Gelegenheit in dem un-
überhörbaren Tone innerer Wahrhaftigkeit ausdrückte. Schiller hat vori
Jugend an Momente ehrgeizigen Selbstgefühls, eines leidenschaftlich
gespannten Strebens nach dem Ziele und jener stolzen Überzeugung
von sich gekannt, die durch ein Wollen, mehr noch durch ein Können
hervorgerufen wird. Auch wo nicht notwendige Berechnung imDienste
der Selbstbehauptung sie ihm nahelegte, kommt sie zum Ausdruck.
119
DER «UNKLASSISCHE» SCHILLER
120
GoETHE UND DAS «KLASSISCHE»
stimmten, noch besser zu zahlen imstande wäre, als mit allem, was er
hervorbringe. Schillers Gestalt wird durch solche Erkenntnisse mit
nichten psychologistisch zerfasert und entwertet. Es gehört das alles zu
dem Inbilde, das er darstellt. Aber -wenn es nicht schon sein abge-
brochenes, letztlich unausgetragenes, im Weiterstreben und ständigen
Anderssein zum Einhalten gezwungenes Gesamtwerk aussagte -: ein
«Klassiker»?
Der Ästhetiker Schiller hat die Kategorie des «Klassischen» oder der
«Klassizität» nie verwertet wie Regel oder Friedrich Theodor Vischer.
Wo man es am ehesten erwartet, spielt ein Begriff des «Klassischen»
keine Rolle: in der Abhandlung «Über naive und sentimentalische
Dichtung» (1795). Das «Naive» erscheint bei Schiller an keine ge-
schichtlichen Gegebenheiten ausschließlich gebunden und deckt sich
nicht mit einer Verallgemeinerung, die darunter die Dichtung der
Alten begreifen würde. Es ist, wie das «Sentimentalische», eine Dich-
tungsart und, wenn auch bei den Alten durch glückliche Umstände
von Natur und Kultur besonders gefördert, doch nicht auf sie be-
schränkt. In einer und derselben Dichtung, wie etwa in Goethes «Lei-
den des jungen Werthers», kann es naive und sentimentale Schichten
geben. Und nur einmal spricht Schiller in dieser Abhandlung leichthin
von «klassischen Werken» der poetischen Literatur, aber lediglich in
der üblichen abgeschliffenen Bedeutung des Wortes, das in der Um-
gangssprache das Anerkannte und Hervorragend-Gültige meint.
In die Sicht eines weiten Horizontes tritt man, wenn nun von
Goethes Auffassung des «Klassischen» und seiner Auseinandersetzung
mit ihm die Rede sein muß. Hier stößt man auf sein Denken um das
deutsche Schicksal, um die Eigentümlichkeit der deutschen Geistes-
geschichte und des deutschen Charakters. Zwar ist auch ihm das Klassi-
sche gleichbedeutend mit demVortrefflichen, Gesunden und Tüchtigen,
«zu welcher Gattung es auch gehöre». Aber auch hier gewinnt ein
umlaufendes Wort, wie so oft bei ihm, seine erfüllte Prägung wieder.
«Männlicher Ernst und Klarheit walten stets zusammen, und wir mö-
gen daher seine Arbeit gerne klassisch nennen», sagt er 1820 von
Manzonis Trauerspiel «Carmagnola». Den Schulgegensatz zwischen
Klassikern und Romantikern, wie er sich im neuen Jahrhundert vor
121
SELBSTDEUTUNG DER «KLASSIK»
122
«LITERARISCHER SANSCULOTTISMUS»
123
GüETHE ALS DEUTSCHER
Praktik unterrichtet, was man machen kann; immer wieder irre ge-
macht durch ein großes Publikum ohne Geschmack, das das Schlechte
nach dem Guten mit eben demselben Vergnügen verschlingt; dann
wieder ermuntert durch Bekanntschaft mit der gebildeten, aber durch
alle Teile des großen Reiches zerstreuten Menge; gestärkt durch mit-
arbeitende strebende Zeitgenossen- so findet sich der deutsche Schrift-
steller endlich in dem männlichen Alter, wo ihn Sorge für seinen
Unterhalt, Sorge für eine Familie sich nach außen umzusehen zwingt,
und wo er oft mit dem traurigsten Gefühl durch Arbeiten, die er selbst
nicht achtet, sich die Mittel verschaffen muß, dasjenige hervorbringen
zu dürfen, womit sein ausgebildeter Geist sich allein zu beschäftigen
strebt. Welcher deutsche geschätzte Schriftsteller wird sich nicht in
diesem Bilde erkennen, und welcher wird nicht mit bescheidener
Trauer gestehen, daß er oft genug nach Gelegenheit geseufzt habe,
früher die Eigenheiten seines originellen Genius einer allgemeinen
Nationalkultur, die er leider nicht vorfand, zu unterwerfen? Denn die
Bildung der höheren Klassen durch fremde Sitten und ausländische
Literatur, so viel Vorteil sie uns auch gebracht hat, hinderte doch den
Deutschen, als Deutschen sich früher zu entwickeln.» Eine solche
Klage ist übrigens bei Goethe weder einmalig noch ungewöhnlich. Sie
gehört in den Zusammenhang seiner seit der Rückkehr aus Italien und
dem einsetzenden Wandel der Zeiten ihn nie mehr loslassenden Sorge
um das deutsche Volk und die deutsche Nation. Er beklagte die poli-
tische und kulturelle Not, der entgegenzuwirken er sich ohnmächtig
fühlte. Dieses sein Leiden an der damaligen inneren und äußeren
Situation Deutschlands, wie sie sich ihm darstellte, ist das Gegen-
teil von Anteillosigkeit, Sichfernhalten oder VaterlandsfremdheiL
Immer wird sein großes Gespräch mit dem Jenenser Historiker Luden
vom 15. September 1815 das am schwersten wiegende Dokument blei-
ben, wenn es gilt, seine Stellung zu Vaterland und Volk ins rechte Licht
zu rücken. «Glauben Sie ja nicht», sagte er damals bekanntlich, «daß
ich gleichgültig wäre gegen die großen Ideen Freiheit, Volk, Vaterland.
Nein; diese Ideen sind in uns; sie sind ein Teil unseres vVesens, und
niemand vermag sie von sich zu werfen. Auch liegt mir Deutschland
warm am Herzen. Ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei
124
GOETHE «KLASSISCHER NATIONALAUTOR»
125
GOETHES BESTIMMUNG DES «KLASSISCHEN»
126
SCHILLERS DEFINITION DES KÜNSTLERS
Goethe ihnen gibt. Schiller zielt ins Zeitlose und Unbedingte: «Der
Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn
er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist ... Den Stoff
zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer
edleren Zeit, ja, jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren
Einheit seines Wesens entlehnen. Hier aus dem reinen Äther seiner
dämonischen Natur rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt
von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr
in trüben Strudeln sich wälzen.» Es besteht dennoch im tiefsten eine
Übereinstimmung zwischen Goethes Herleitung des «Klassischen» und
Schillers Definition des Künstlers. Beide sagen sie nur allgemeines über
den InhaltdesWerkes aus; beiden schwebt ein Idealbegriff vor, dersich
dem einen geschichtlich-organisch, dem anderen philosophisch-wesen-
haft darstellt. Bei beiden handelt es sich um Erfüllung und Erfülltheit.
Aber beiden liegt diese Erfüllung in der Zukunft. Denn auch Schiller
fordert von dem Künstler: er «strebe, aus dem Bunde des Möglichen
mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen. Dieses präge er aus ...
und werfe es schweigend in die unendliche Zeit». Aber nicht jedem
wurden die schöpferische Ruhe und der große geduldige Sinn ver-
liehen, diesem Ideal der Zeit zu vertrauen. «Viel zu ungestüm, um
durch dieses ruhige Mittel zu wandern, stürzt sich der göttliche Bil-
dungstrieb oft unmittelbar auf die Gegenwart und auf das handelnde
Leben.» Willst du aber wissen, junger Freund, wie du dem edlen Trieb
in deiner Brust bei allem Widerstande des Jahrhunderts Genüge tun
kannst, so gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten,
«so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen».
Hier berührt sich Goethes organistisch-dynamische und entwicklungs-
geschichtliche Vorstellung vom Werden eines «Klassischen» mit Schil-
lers idealistischer, ins Unendliche vorschauenden Haltung zu dem Pro-
blem der künstlerischen Vollkommenheit. Schiller sieht Zeit und Idee
sich gespannt gegenüberstehen, Goethe - dem Geiste Herders ver-
wandt -betrachtet die charakteristisch-individuelle Ausbildung der
einzelnen Nation als Hemmnis oder Förderung. Dabei kehren seine
Gedanken zu Deutschland und seiner besonderen geographischen und
geschichtlichen Lage zurück. Sie ist wie sie ist. Und dann fällt der viel
127
DEUTSCHLAND UND «KLASSIK»
128
DAS GATTUNGSMÄSSIGE ALS KLASSIZITÄT
Gattung nicht auf das bestimmteste entschieden ist.» Das soll sagen,
Schiller strebt nun nach dem Geschlossenen, Gerundeten und Erfüll-
ten, das sich ihm in dem bestimmten, selbstwirksamen Gebilde einer
ästhetisch und historisch bedingten Gattung ausspricht, die einen be-
stimmten Gestaltungswillen mit Notwendigkeit in Erscheinung treten
läßt. Gelänge es ihm, den Anforderungen von seiten des Idealtypus,
den für ihn eine dichterische Gattung darstellt, zu genügen, so hätte
er in seinen eigenen Augen «Klassizität» erreicht. Von hier überschaut
man die Bahn der späteren Dramatik Schillers seit « Wallenstein ».
«Wenn ich mich mit einem alten oder neuenTragiker jemals messen
soll», heißt es wieder in einem Briefe an Körner vom 26. November
1790, «so müssen die Umstände gleich sein, und nichts muß der tragi-
schen Kunst entgegenarbeiten, wie es mir bisher immer begegnete.
Das Arbeiten im dramatischen Fache dürfte überhaupt noch auf eine
ziemlich lange Zeit hinausgerückt werden. Ehe ich der griechischen
Tragödie durchaus mächtig bin und meine dunklen Ahnungen von
Regel und Kunst in klare Begriffe verwandelt habe, lasse ich mich auf
keine dramatische Ausarbeitung ein.» In der Tat: er will die Gattung
des Dramas in ihrer inneren Notwendigkeit erkennen und um ihre
objektiveForm ringen.Aber eben ringen. Nur diese objektive Gattungs-
form des Dramas, die er bis an sein Ende suchte, die er aus einer
idealen Forderung in die Wirklichkeit und Gegenwärtigkeit umzu-
setzen sich bemühte, enthielt für ihn jene «Klassizität», die für ihn
gleichbedeutend mit «dauerndem Gehalt» ist. Und so schreibt er in
dem Momente einer Wegbiegung seiner dichterischen Bahn ( 1786):
«Ich glaube überzeugt zu sein, daß ein Dichter, dem die Bühne, für
die er schreibt, immer gegenwärtig ist, sehr leicht versucht werden
kann, der augenblicklichen Wirkung den dauernden Gehalt aufzu-
opfern, Klassizität dem Glanze. » Diese «Klassizität» als «dauernder
Gehalt» war für Schiller kein Begriff eines ästhetischen Systems: sie
war das Ziel seines strebenden Sichbemühens, auf das die Ganzheit
seiner Persönlichkeit willentlich- und das heißt sittlich- gestellt war.
«Dauernder Gehalt» und «dauernde Gedanken» sind die Glieder einer
Gleichung, in die sich Schiller und Goethe teilen. Die Richtung auf
das «Dauernde» umschließt den Sinn der «Deutschen Klassik» der
bei den. Man weiß, welche Wichtigkeit dem Begriff des «Dauernden»
mit seinen ethischen und ästhetischen Entsprechungen in Goethes
Weltanschauung und Sprache zukommt. Das Vordringen zu den letzten
Seinsgründen alles Lebens, dem die deutsche Romantik in ihrer ent-
scheidenden Ausbildungsform verschrieben war, ist zwar auch auf
etwas «Dauerndes» gerichtet. Aber das bleibt magisch wirkendes Ge-
heimnis, nicht nach Grundlagen und Folgen greifbarer Besitz. Das
«klassische» Bemühen um Reinheit und Reinerhaltung der dichteri-
schen Gattungsformen ist eine ins Formale reichende Auswirkung die-
ses Willens zum «Dauernden» - eine Abspaltung auf der künstleri-
schen Ebene. Daß der Kampf um das «Dauernde» das Schicksal des
nordischen Künstlers und Menschen und sein eigenes war, wußte
Schiller; auch daß bei seiner eigenen Anlage dazu die philosophische
Gesinnung und die begriffliche Klärung gehörten. Den Griechen war,
so erkannte er, mit der «ersten Anschauung der Dinge die Form des
Notwendigen» offenbar geworden, und mit der ersten Erfahrung
konnte sich bei ihnen der große Stil entwickeln. Dem nordischen Künst-
ler aber mußte «eine Nachhilfe der Denkkraft» ersetzen, was ihm die
Wirklichkeit vorenthält, er mußte «gleichsam von innen heraus und
auf rationalem Wege ein Griechenland gebären».Wie Schiller als Den-
ker und als Dichter über alle immer neuen Ansätze, die ihm sein be-
wegliches Genie abforderte, über alle kühnen Entdeckerfahrten des
Geistes, über alle selbstkritischen Hemmungen, über alles wechselnde,
hochfliegende oder verzagende Planen und Versuchen, über alle unter-
schiedlichen Stoffe und Gestaltungsformen, über alle in seiner Natur
angelegten und durch seine Entwicklung und Bildung noch weiter her-
ausgetriebenen Gegensätzlichkeiten, die heute so verschiedenartigen
Deutungen Vorschub leisten, wie er diesen Weg zu den «Müttern», die
das Dauernde hüten, beschritt - das ist das Kapitel der «Deutschen
Klassik», das ihm gehört.
Es ist nicht abzusehen, welche Folgen für Schiller und sein Schaffen
ein Heraustreten aus dem deutschen Raume gehabt hätte, etwa eine
Fahrt nach Italien. So kann man sich ihn heute nicht anders denken,
als nur dem Boden der Deutschheit verhaftet, die seine Erscheinung
130
SCHILLERS ENTGEGENGESETZTREITEN
9* 131
SCHILLERS BEDROHTREITEN
Bedrohtheit eines von früh an nicht auf die Sonnenseite gestellten Da-
seins, an der Gebundenheit durch absolutistische Gnade und 'Willkür
wie späterhin durch den Zwang, sich vor der Starrheit und dem Nütz-
lichkeitssinn des hochmögenden Mannheimer Theaterleiters Dalberg
beugen und demütigen zu müssen. Das «Lebe gefährlich!» konnte
von früh an sein Wahlspruch sein. Erst spät durfte er dies Gefährdet-
sein der äußeren Existenz für überwunden halten. Manche Zeitge-
nossen - nicht zuletzt einzelne Stimmen aus der antibürgerlichen
Frühromantik- haben das Bürgerlich-Hausbackene in seiner späteren
Dichtung vermerkt, manche haben ihn darob einer rückläufigen
Selbstbeschränkung geziehen. Aber solche Teile seiner Dichtung oder
seiner Briefe sind noch mehr als die Wunschträume und die Rück-
empfindungen eines von Jugend an unbehaust Gewesenen. Sie sind
nichts weniger als das Sichbescheiden eines Spätgesättigten. Einmal
erschließt sich in ihnen jener andere Baustoff, aus dem seine schwä-
bische Natur bestand: die Anlage zum ruhig sich Gleichbleibenden,
eng und sicher Umschlossenen. Zum anderen wirken jetzt in dieser
Richtung auf ihn Bildungs- und Umweltserlebnisse. Die Ausbrüche aus
vulkanischem Boden, die sich in seiner Jugenddichtung eingestellt
hatten, die großen Empörer und Übertreter des Gesetzes in seinen
frühen oder späten Dramen oder Dramenentwürfen - sie zerschlagen
die sittliche Weltordnung, weil diese in ihrer von dem Dichter am
eigenen Leibe erfahrenen Gebrechlichkeit es nicht besser zu verdienen
scheint. Immer jedoch gewinnt die in ihrer Reinheit geforderte Welt-
ordnung wieder Macht über ihn, immer stellt er sie wieder her. Dies er-
scheint als jenes «Urerlebnis» einer religiös-sittlichen Bindung in der
Innerlichkeit des Gewissens, das seinem Idealismus und seiner «Klassik»
religiöse Haltung verleiht, und diese Unbedingtheit der sittlichen Idee
bei ihm läßt Schiller in derTat als den stärkstenTräger der Verbindung
zwischen protestantischem Kirchenturn und deutschem Idealismus er-
scheinen. Von diesem Mittelpunkt sind manche anderen Haltungen des
späteren Schiller abhängig. Von ihm aus konnte er sich in der Zeit der
französischen Umwälzung mit Goethe in gemeinsamer Abwehr der
revolutionären Rückwirkungen auf den deutschen Geist zusammen-
finden. Was bei Goethe die biologische Forderung nach «Stetigkeit»
152
SCHILLERS «RÜCKVERBINDUNGEN»
vermochte, tat bei ihm die religiöse und sittliche Idee der «Rück-
bindung». So sind «Das Lied von der Glocke», «Die Würde der
Frauen», «Der Spaziergang» usw. Hohelieder des ruhigen Bürger-
tums und seiner bewährten Tugenden geworden, die ja übrigens
schon der Präsident Walter in dem dumpf grollenden Stücke seiner
Jugend erkannte und in Rechnung stellte. Die «freundliche Schrift
des Gesetzes», von der «Der Spaziergang» singt, war nicht ein von
außen an die menschliche Gesellschaft herangetragener Notbehelf: sie
war ihm auf Natur und Wahrheit gegründet, sie war ein Ausdruck der
«Naturformen» des ackerbauenden Menschengeschlechtes. Ihre Ver-
letzung war widernatürlich, und sie zu ahnden war Aufgabe des Dich-
ters. Dabei kann nicht die Rede sein von einem Verzicht des späteren
Schiller auf hochgespannte Forderungen an die menschliche Gesell-
schaft.Aber die im Bürgerlich-GesetzlichenAusdruck findende sittliche
Weltordnung war diesem geknechteten und gequälten Abkömmling
des kleinstaatlichen-württembergischen Bürgertums eben das, worum
es ging. Auch bei ihm tauchen in seiner Spätzeit Haltungen auf, die,
in seiner Natur und Erziehungsgeschichte begründet, innerhalb der
urbildhaften Gegensätzlichkeit seiner geistigen Struktur wohl durch
andere Wertbetonungen bestritten, aber nicht völlig beseitigt werden
konnten. So wie der Wallensteinsehe Offizier Max Piccolomini den Tag
preist, an dem der Soldat «ins Leben heimkehrt, in die Menschlich-
keit», so dient seinem Dichter Kampf und Zerstörung zum neuen
Werke des Friedens - demselben, der auf der anderen Seite nicht min-
der wahrhaftig den Willen zur Größe um ihrer selbst willen bekundet,
«den Wesensdrang zum Starken, Gewaltigen und Ungemeinen als sol-
chen, jenseits aller ethischen Maßstäbe, zum Wirklichkeitsbejahenden,
Kriegerischen, Titanischen, ,Dorisch'-Harten, ja Grausamen, Herr-
scherlich-Gewalttätigen, zum Schicksalhaft-Tragischen undFlammend-
U nendlichkeitssüchtigen, Sichselbstverzehrenden »; es war dieses an-
dere Grundmotiv der Schillersehen Geisteswelt, in dem Jean Paul den
Ausdruck eines geradezu Dämonisch-Luziferischen erkannte. Die Sor-
genlosigkeit und sichere Begründung des äußeren Daseins, seine Fe-
stigung in Ehe und Familie stehen auf dem anderen, dem « bürger-
lichen» Blatte des großen Schicksalsbuches der Schillersehen Natur,
153
SCHILLERS URSPANNUNG
134
SCHILLERS ERZIEHERISCHE AUFGABE
155
«AN DIE FREUDE»
136
ENTWICKLUNGSWENDE
ben sollte. Schiller überschreitet mit dem Lied «An die Freude» die
Schwelle der Zeiten in jeder Weise, aber in einem, wenn auch gewal-
tig ausgreifenden, so doch entwicklungsgesetzlich geregelten Takt-
schritt: eine Stufe seines persönlichen Daseins, eine Stufe des Zeit-
alters zu einem neuen Zeit-Raume, in dem mehr als bislang die
Forderung unabweisbar wurde, trennende Unterschiede, Einrichtun-
gen und Konventionen zu beseitigen, die die Geschichte der Mensch-
heit zu einer Geschichte ihrer Qualformen machten. So trat neben den
persönlich- sittlichen der soziale Gehalt, der der Zukunft vorgreift.
Schon bewegt sich dieses Lied mit immer neuen Ansätzen des Themas
in den gebändigten Rhythmen, in dem stählernen Taktschritt, der
nunmehr nach seiten der Form den gewaltigen Ernst und die fordernde
Eindringlichkeit seiner die Menschheit anrufenden philosophischen
Lyrik kennzeichnet. Weist die Hymne voraus, so weist sie auch zurück
und steht, was Gehalt und Form seiner dichterischen Entwicklung be-
trifft, ebenso an der Wende und im Zwielicht der Epoche wie «Don
Carlos». Seine Jugendphilosophie klang in dem Lied «An die Freude»
von 1785 aus. Oder ist er vielleicht hier noch einmal in seine Jugend-
philosophie zurückgefallen, nachdem er bereits in jene Selbstkritik
eingetreten war, die seine neue philosophische und dichterische Ent-
wicklung vorbereitete? Noch einmal trug er in das Weltall seine
enthusiastische Liebeslehre, die in seinen philosophischen Jugend-
schriften bis zu den «Philosophischen Briefen» von 1786 und in den
Anthologiegedichten immer wiederkehrt. Noch einmal rang sich aus
ihm in jenem Momente, da seine Vereinsamung durch die beglückende
freundschaftliche Verbindung im Körnersehen Kreise aufgehoben war,
das große Bejahen dieser Welt heraus. Noch einmal war er hier rest-
loser und nicht durch einen pessimistisch durchsetzten Realismus be-
einträchtigter Optimist, wenn Optimismus den sieghaften Durchbruch
des Wzllens ausmacht, unsere Existenz ins Gute und Feierliche zu
deuten.
Genie, Arbeit und Glück gingen nun einen Bund ein, um Schillers
«Versöhnung» mit Leben und Menschheit zu fördern auf dem Boden
eines wohlerwogenen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Die erreichte Le-
benssicherheit mit dem Abbau der äußeren Sorgen, mit Stellung und
137
ORGANISATION DES GEISTES UND DER KUNST
138
DER ERZÄHLER SCHILLER
gaben ein, die die Zeit als von außen bewegende und bewegte Macht
stellte. Und dies ist, was man nicht aufhören sollte, aus der Betrach-
tung Schillers als ein einmaliges Ereignis deutscher Geschichte heraus-
zuheben: wie sich ganz persönliche und unaussprechlich individuelle,
aus dem Innern kommende Schöpferkraft reibungslos und selbstver-
ständlich zusammenfügte mit allem Aufnahmewürdigen, was Umwelt
und Epoche boten, aber auch mit allen Forderungen, die sie an den
verantwortungsbewußten Einzelgeist richteten; wie innere Stimme
und von außen kommender Ruf zu einem großen Appell wurden. Das
ist mitnichten eine gemeinplätzliehe Erkenntnis. Es ist ein erster und
beispielhafter Vorgang dieser Art in Deutschland und wird immer
wieder den befriedigen, der sonst zwischen dem autonomen Verhalten
des bedeutenden Individuums und den Bindungen und Forderungen,
die die Gesamtheit und das Außenleben berühren, nur Widersprüche
und U nvereinbarkeiten zu erblicken vermag.DasZusammenfallen inne-
renMüssens und von außen kommender Gebote bei Schiller-sie brau-
chen gar nicht einmal durch Nützlichkeit diktiert zu sein-führte auch
alles mit sich, was die Tätigkeit des Journalisten, des Herausgebers,
des Sammlers, des Tagesschriftstellers bestimmte. Der Begriff der
«Nebenarbeit» ist für den Schriftsteller Schiller in keiner Zeit seines
Daseins zulänglich. Mag etwas seiner eigenenMeinungnach als solche
Neben- und Erwerbsarbeit begonnen werden, so gerät es alsbald in
die um sich fressenden Flammen seiner inneren Persönlichkeit und
ihrer moralischen Gesinnung. Das gilt in dieser Übergangs- und Reife-
zeit auch von dem Erzähler Schiller.
Der Dramatiker und der Ästhetiker haben an ihm von jeher den
erzählenden Schriftsteller in den Hintergrund treten lassen. Die Min-
derbewertung oder Minderbeachtung seiner erzählenden oder besser:
berichtenden Prosa in ihrer der «Klassik» zustrebenden Form gegen-
über der empfindungs- oder kraftgeladenen, subjektiv durchglühten
Genieprosa seiner Frühdramen oder der Jambeninstrumentation seines
späteren Stils sind nicht nur übliches und typisches Schicksal eines
Dichters, der von der Nachzeit als in einer Gattung maßgeblich auf-
genommen und verarbeitet wurde: sie sind auch eine Folge der Akzent-
verteilung und Akzentbewertung im Rhythmus der Schillersehen Ent-
159
DER ERZÄHLER SCHILLER
140
SCHILLER EIN «PSYCHOLOGE»?
141
SCHILLER UND KLEIST
auch der Sonnenwirt wie der Roßkamm durch einmal erlittenes Un-
recht und Diffamierung auf der Bahn des Verbrechers weitergetrieben
werden und beide einen eigenrechtlichen Ausgleich suchen, nicht wohl
größer sein, als sie ist. Beide beginnen sie nicht als weltfremde Idea-
listen, die von einer absoluten Gerechtigkeit träumen: ihr Gefühl für
Gerechtigkeit, wie sie sie auffassen, wird durch den Zwang der Um-
stände hervorgetrieben. Beide leben sie der «Rache», weil die Brücken
zu einer staatsbürgerlichen Genugtuung oder - bei Schiller -Wieder-
aufnahme in die bürgerliche Ordnung sich ihnen versagt haben. Beide
nehmen sie schließlich, nachdem sie sich an der menschlichen Gesell-
schaft für die vermeintliche Schutzlosigkeit gerächt haben, der sie aus-
gesetzt waren, willig die «irdische Gerechtigkeit» auf sich. Aber Schil-
ler ist in jedem Augenblick seiner Erzählung «unmittelbar zu Gott».
Er ruft gewissermaßen in jedem wichtigen Satz zwischen den Worten
den gestirnten Himmel über uns zum Helfer an gegenüber einer un-
vernünftigen und verbesserungsbedürftigen Weltordnung. Der breit
räsonierende Eingang der Erzählung erweist sie deutlich genug als der
Absicht dienstbar, daß «die Leichenöffnung seines Lasters ... viel-
leicht die Menschheit und - es ist möglich, auch die Gerechtigkeit»
belehren möge. Ihm ist es ja auch hier noch um die Antriebe und den
Mechanismus des Lasters zu tun. Er wird weiterhin, durch die Schule
der Griechischen Tragödie und des Kantischen Denkens hindurch-
gegangen, den Bedingungen und Auswirkungen in der Organisation
des großen Verbrechers nachspüren und sie mit seinen Vorstellungen
von der Tragödie in Übereinstimmung zu bringen suchen. Aber immer
ist es nicht die psychologische, sondern die metaphysisch-moralische
Ebene, die ihm Rätselfragen aufgibt: «Man hat das Erdreich des
Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären;
warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerk-
samkeit als einer physischen? ... Den Träumer, der das Wunderbare
liebt, reizt eben das Seltsame und Abenteuerliche einer solchen Er-
scheinung; der Freund der Wahrheit sucht eine Mutter zu diesen ver-
lorenen Kindern.» Anders Kleist in «Michael Kohlhaas ». Die allgemei-
nen und überirdischen Bezüge, die stillschweigenden Anrufungen der
göttlichen Leitung fehlen dem Kleistschen Werk, das man zutreffend
142
«MORALISCHE ERZÄHLUNG»
143
«MORALISCHE ERZÄHLUNG»
144
ANTIKANTISCHES
auf dem Wege einer finsteren und mönchischen Asketik die mora-
lische Vollkommenheit zu suchen.» Und ironisch tönt es im gleichen
Sinne aus den «Xenien» :
Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
146
SCHILLERS «GEISTERSEHER»
Stärker noch als «Der Verbrecher aus verlorener Ehre» ist Schillers
«Geisterseher» mit den Erregungen der Zeit seiner Entstehung um
die Mitte der achtziger Jahre des 18.Jahrhunderts geladen. Noch mehr
hat dieses erzählende Werk mit seiner Fülle von Auflagen, Überset-
zungen, Fortsetzungen und Nachahmungen die klassisch-romantische
Epoche durchsetzt und seinem Autor Geltung undMaßgeblichkeit ver-
schafft. Nicht nur insofern, als die Nachfolge dieser Erzählung für das
Sensationsbedürfnis und den Nervenkitzel eines stoffhungrigen Publi-
kums sorgte: auch die höhere, jung- und spätromantische Novellistik
trägt manche Spuren des Eindruckes, den «Der Geisterseher» hinter-
lassen hat. Manches aus dem Werke E. T. A. Hoffmanns weist zurück
auf den geistig-seelischen Zusammenhang, aus dem Schillers «Geister-
seher>> als Schau in den Abgrund gewonnen wurde, der unter dem
Alltäglichen besteht. Ein ganzes Bündel von sich kreuzenden Ten-
denzen der bereits aufgewühlten und beunruhigten Zeit ist hier in
schriftstellerischenAusdruck gefaßt worden. Wie sehr der weltanschau-
liche Boden, den «Der Geisterseher» voraussetzt, durch die Entwick-
lung vom Sturm und Drang zur Romantik vorbereitet war, geht aus
früheren Ausführungen dieser Darstellung von «Klassik und Roman-
tik» hervor. Die Flucht in die «Geheimen Gesellschaften», die Orden
und Logen, als eine Folge des Wissenwollens um das «Geheimnis»,
das der aufklärerische Verstand dem Menschen vorenthielt, die Kehr-
seite dieses Triebes und seine Befriedigung in der Ausbreitung des
Schwärmer- und Schwindlerwesens, die Ausbeutung des menschlichen
Verlangens nach dem Übersinnlichen durch den Jesuitismus und die
aufklärerische Reaktion gerade gegen ihn, die Sehnsucht nach einer
Führung und Überwachung des in der dunklen, rätselhaften Wirrnis
des Lebens auf sich selbst gestellten Menschen und die ehrliche oder
täuschende Inanspruchnahme solcher Führung durch eine Geheim-
organisation - alles hat Schiller mit dem sicheren Instinkte des Schrift-
stellers erfaßt, der die Regungen seiner Zeit in sich fühlt und ihnen
mit spannender und fesselnder Fabulierkunst entgegenkommt, ihnen
aber auch durch das Medium seiner Persönlichkeit die kritische und
erziehliche Wendung gibt. Ohne die in dieser seiner Persönlichkeit be-
schlossenen und vereinigten Elemente hätte er auch diesen Stoff des
1o• 147
KATHOLISCHES, KRIMINELLES, ÜBERSINNLICHES
148
DIE LINIE ZUR ROMANTIK
149
DAS GEHEIMNISVOLLE
150
VENEDIG
151
VORAHNUNG DER REVOLUTION
152
DER PROSASTILIST SCHILLER
153
GESCHICHTSSCHREIBUNG
154
GESCHICHTE UND DRAMA
1788, «kommt mir unbillig vor. Allerdings ist sie willkürlich, voll
Lücken und sehr oft unfruchtbar, aber eben das \Villkürliche in ihr
könnte einen philosophischen Geist reizen, sie zu beherrschen; das
Leere und Unfruchtbare einen schöpferischen Kopf herausfordern, sie
zu befruchten und auf dieses Gerippe Nerven und Muskeln zu tragen.»
Der herrscherliehe Zug, der an Schiller hervortritt, was immer er an-
greift, ist das erste, was auch sein Verhalten zur Geschichte kenn-
zeichnet. Dann aber läßt er uns Einblick gewinnen in die Auseinander-
setzung, die sich in ihm zwischen dem Dramatiker und Historiker ab-
gespielt hat: «Glaube nicht, daß es viel leichter sei, einen Stoff aus-
zuführen, den man sich selbst gegeben hat, als einen, davon gewisse
Bedingungen vorgeschrieben sind. Im Gegenteil habe ich aus eigenen
Erfahrungen, daß die Uneingeschränkteste Freiheit, in Ansehung des
Stoffs die Wahl schwerer und verwickelter macht, daß die Erfindungen
unserer Imagination bei weitem nicht die Autorität und den Kredit bei
uns gewinnen, um einen dauerhaften Grundstein zu einem solchen
Gebäude abzugeben, welche uns Fakta geben, die eine höhere Hand
uns gleichsam ehrwürdig gemacht hat, d. h. an denen sich unser Eigen-
wille nicht vergreifen kann. Die philosophische innere Notwendigkeit
ist bei beiden gleich; wenn eine Geschichte, wäre sie auch auf die
glaubwürdigsten Chroniken gegründet, nicht geschehen sein kann,
d. h. wenn der Verstand den Zusammenhang nicht einsehen kann, so
ist sie ein Unding; wenn eine Tragödie nicht geschehen sein muß, so-
bald ihre VoraussetzungenRealität enthalten, so ist sie wieder ein Un-
ding.» Man hält mit diesen Worten den Schlüssel in der Hand, der den
Zugang zur Einheit des Dramatikers, des Philosophen, des Historikers
Schiller eröffnet. Drama und Geschichte sind sich darin gleich, daß
beide im Grunde immer nur die Darstellung eines und desselben
Willens und Gesetzes innerhalb der Welt des Geschehenen sein können.
Sie zu finden, nicht zu erji'nden ist Aufgabe des schöpferischen Men-
schengeistes. Sein Werkzeug aber ist das vernünftige Denken; es be-
herrscht die Wirklichkeit, die ohne das in sie durch Drama und
Geschichte hineingetragene Licht chaotisch und gestaltlos wäre. Die
Möglichkeiten der schaffenden Phantasie werden durch diese « philo-
sophische Notwendigkeit» bestimmt.
155
GESCHICHTE UND DICHTUNG
156
KLASSISCHE UND ROMANTISCHE «PHANTASIE»
157
SCHILLER ALS HISTORIKER
158
«GRÖSSE» UND STOFF
beide verwende, ist ungefähr gleich groß. Aber am Ende eines histo-
rischen Buches habe ich Ideen erweitert, neue empfangen; am Ende
eines verfertigten Schauspiels viel mehr verloren ... Bei einem großen
Kopf ist jeder Gegenstand der Grtfße fähig. Bin ich einer, so werde ich
Grtfße in mein historisches Fach legen.» So brachte denn die ange-
strengte Betätigung auf dem Gebiete der Geschichte seinem Geiste
Enthemmung und Entspannung, Beruhigung (auch äußere, durch das
Gefühl des Geborgenseins in einer ihren Lohn tragenden Tätigkeit),
Ausdehnung seines Gesichtskreises, Bereicherung mit Gegenständ-
lichem, eine Annäherung an die «Dinge», einen Zwang, sich mit Tat-
sachen auseinanderzusetzen. Grtfße aber gewann Schiller als Histori-
ker, insofern seit seinen Geschichtsdarstellungen die Forderung, daß
der Historiker ein Gestalter, ein geheimer Künstler und Dichter sein
müsse, als selbstverständlich erscheint. Grtfße hat er, insofern für ihn
die Geschichte nicht die Kunde von einem Gewesenen ist, sondern da-
zu dienen soll, die Wege der Vorsehung - oder wenn man es profan
ausdrückt - den Zusammenhang von Ursache und Wirkung bis zur
unmittelbaren Gegenwart des Schreibenden aufzuhellen, den Men-
schen mit Hilfe der Weltgeschichte in die Mitte des «Geschehenen» zu
stellen und dies als ein überall Gegenwärtiges und Seiendes erkennen
zu lassen. Freilich nicht immer war im breiten Flusse seiner beiden
geschichtlichen Hauptwerke oder in seinen unter dem Druck der
Stunde hergestellten Vorlesungen, auch nicht in seinen kleinen histo-
rjschen Schriften, der Zusammenhang mit der Situation seiner Ge-
genwart unmittelbar deutlich. Oft hat das Stoffliche die Herrschaft,
die Abhängigkeit von den Quellen siegt über den freien Flug des
Geistes, die Feder bewegt sich durch einen gewissen Mechanismus, wie
ihn alle Geschichtserzählung mit sich bringt, zwangsläufig weiter.
Nicht immer werden dem Leser tote Strecken erspart. Hinter allem
aber steht der im höchsten und schönsten Sinne «politische Mensch»,
der Schiller war- der, in dessen Natur «der Fortschritt aus der ästhe-
tischen in die historische und philosophische Welt vorgeschrieben lag».
Er findet in der Historie den Raum für Kräfte, die bisher in ihm brach-
gelegen hatten. Der philosophisch-pragmatische Historiker, der von
Hause aus in ihm steckte, wäre den Deutschen in noch helleremLicht
159
SCHILLER UND DIE «HANDELNDE WELT»
160
SCHILLERS ART DER DARSTELLUNG
162
JoHANNEs voN MüLLER- RoussEAU
11* 165
SCHILLER UND DAS MITTELALTER
164
HISTORIKER UND KANTIANER
165
<<JUNGFRAU VON ORLEANS»
ihre Pflicht, sie haben ein Interesse gegen die Pflicht des Augenblicks».
« Wallenstein », später «Die Braut von Messina » haben die immer
mel.r sich verwickelnden Fäden, die Schiller aus diesem Stoffe heraus-
spann, nicht zum fertigen Gewebe werden lassen. «Die Braut von
Messina» lief den «Maltesern» den Rang ab, insofern die strenge grie-
chische Form und die Einführung des Chores nun ihr zugute kamen
und in ihr jene der gleichzeitigen Romantik genehme Verschmelzung
des Antiken und des Mittelalterlichen nach Form, Gesittung, Welt-
anschauung auf einem geschichtlichen Boden vollzogen wurde, der
von beiden zeugte. Das jede «Neigung» von sich weisende, unbesieg-
liche, innere - von Gott eingegebene - Pflichtgebot, das Schillers
Interesse an den fortreißenden Taten und massenbewegenden Erschei-
nungen des Mittelalters wachgerufen hatte, wirkte sich in der 1801
abgeschlossenen «Jungfrau von Orleans» aus. Der Ansatz zu diesem
Sprunge Schillers ins Wunder war die Verwandtschaft des in seiner
Jungfrau wirksamen Geistes mit dem der Streiterschaftell von Mal-
tesern und Johannitern: «Geh hin! Du sollst auf Erden für mich zeu-
gen!» Johanna wird für Schiller das willkommene Gefäß für den tra-
gischen Sieg des lauteren Pflichtgesetzes über die Neigung. Unter dem
Zeichen dieses modern gesehenen Konfliktes fand Schiller im Mittel-
alter die Möglichkeit eines tragischen Stoffes - einem Urgesetz seiner
Natur gehorchend, die von allem Anfang sich an diesem Gegensatz
erregt hatte, jetzt aber durch Kant über die Vernunftmäßigkeit dieses
Gegensatzes zur Klarheit kam. Der von der Sinnlichkeit bestrittene
«kategorische Imperativ» findet an dem legendarisch-geschichtlichen
Stoff des Mädchens von Orleans die Formulierung:
Und wenn die «Schuld» der Jungfrau als «tragische Schuld» bis-
lang immer schwer begreiflich war, so gewinnt sie nun von dem Schil-
ler her ihre Erhellung, der die Glaubensbewegung des Mittelalters
166
KATHOLIZITÄT
167
«MARIA STUART»
168
ROMANTISCHER KUNSTKATHOLIZISMUS
169
EINBAU DES KATHOLISCHEN
ordne. Diese Frage beantwortet sich unschwer. Es kann nicht die Rede
davon sein, daß der spätere Schiller, der sich gleichzeitig ebenso in den
Geist der Antike wie in die geschichtlichen Kämpfe des Protestantis-
mus hineinzuversetzen vermag, der den Ursprung und Werdegang
aller menschlichen Kultur («Das Eleusische Fest», «Der Spaziergang»)
feiert und die Sozialformen des bürgerlichen Daseins seiner Zeit («Das
Lied von der Glocke») preist; der sich der Ergründung einer auf ihre
letzten Werte bezogenen, übergeschichtlich gesehenen Kunst und Sitt-
lichkeit widmete; der zur Versinnlichung seiner Idee vom Tragischen
dramatische Stoffe aus al!en Bereichen der alten und neuen Geschichte,
aber ebenso solche aus dem kriminellen Leben seiner Tage hervor-
zog-, daß er, bestrebt aller entgegengesetzten Erscheinungen seiner
Zeit Herr zu werden und sie in sich anzusammeln, vor dieser Zeit und
seinem eigenen stets kampfbereiten Ich kapituliert habe durch eine
Flucht in den sicheren und süßlockenden Schutzraum des Katholizis-
mus. Die der katholischen Kirche gerecht werdenden Anwandlungen
seiner späteren Poesie gehörten zu den Forderungen, die gewisse Stoffe
an den der Vergegenständlichung zustrebenden «Realisten» Schiller
stellten. Sie waren keine Werbung für die Kirche und keine Versel-
bigung des Menschen Schiller mit ihr, sie waren auch kein Bereich, in
dem sich der Künstler aus ästhetischer Neigung angesiedelt hätte,
aber sie waren auch nicht ein Etwas, das der Dichter und Mensch ganz
von sich hätte entfernt halten können. Sie waren durch Stoff, Gehalt
und Form im Rahmen jener Werke und durch den der bloßen Selbst-
darstellung nun abgeneigten schöpferischen Willen des Dichters ge-
fordert. Doch daß diese Forderungen sich anmelden konnten, ohne ab-
gewiesen zu werden, beruht auf der Weiterentwicklung, die Schiller
seit seinen geschichtlichen Studien und nicht unbeeindruckt von der
in seiner Zeit sich vollziehenden Sinnesänderung gegenüber Mittel-
alter und Katholizismus nach «Don Carlos » durchgemacht hatte. Das
schloß nicht aus, daß gelegentlich die alte antikatholische und refor-
matorische Gesinnung durchbrach, wo es sich um das Verhältnis der
Kirche zu der nationalen Gesamtentwicklung Deutschlands handelte.
So in der « Universalhistorischen Übersicht» über die Kreuzzüge und
über die Zeit Friedrichs I. in der «Allgemeinen Sammlung historischer
170
WECHSELNDE SICHT
Es kam eben auf den durch Stoff und Fragestellung gegebenen Stand-
ort des Dichters an. In solcher wechselnden Art seines Sehens lag keine
mit moralischem Urteil treffbare Unsicherheit, Halbheit oder Berech-
nung. Sie war das Gegenteil jeder Pedanterie und Starrheit. Sie war
eine Folge der ursprünglichen Mischungen seines Charakters und der
durch seinen Entwicklungsgang nicht beseitigten, sondern eher er-
höhtenßeeindruckbarkeit seiner Seele. Zeitgenossen wollten denKampf,
den «Schwärmerei, Vernunft, Einbildungskraft» in ihm führten, auch
in seinen Gesichtszügen mit der «sonderbaren Mischung von Schwer-
mut, Freundlichkeit, Ernst und Zerstreuung» erkennen. Er war ja
längst kein Fertiger. «Er hatte», sagt Goethe 1830 von ihm, «ein
furchtbares Fortschreiten, wenn man ihn nach acht Tagen wiedersah,
so fand man ihn anders und staunte und wußte nicht, wo man ihn
anfassen könnte. So ging's immer vorwärts bis sechsundvierzig Jahre,
da war es dann weit genug.» Es war das freilich ein anderes bestän-
diges Werden als das der romantischen Naturen, die nun neben ihm
aufkamen. Es war kein Werden, dem der Mensch zuschaute und sich
fügte als einem aus geheimer Quelle des nie ruhenden Lebens ge-
speisten Vorganges. Mochte sich im Grunde dieser Vorgang auch beiihm
abspielen und seiner Willkür entzogen sein, so war doch nicht dies für
ihn selber das Entscheidende, sondern die tätige Richtung des Willens
und des Bewußtseins auf ein ständiges Weiterschreiten und Neusein
und Versuchen und Abtasten.
Die Frage, wieweit Schiller dem Geschichtssinn der « Romnatik »
seiner Zeit entgegenkam und wieweit er sich im Grunde von ihm
171
SCHILLER UND DER ROMANTISCHE GESCHICHTSSINN
172
EINE «ROMANTISCH.E TRAGÖDIE»
dem Urteil Carolines, die ihm schon im Jahre 1801 geschrieben hatte:
«Was denkst Du nun vom Mädchen von Orleans? ... Es ist doch nichts
als eine sentimentale J eanne d' Are. Sie ist tugendhaft und verliebt, sie
glaubt sich wirklich inspiriert (nun das wär gut) und es gehen auch
Zaubereien vor. Allein denke Dir den Gräuel, sie wird nicht verbrannt,
sie stirbt an ihren Wunden auf dem Bette der Ehren.» August Wilhelm
Schlegel hat, wie so oft auch hier, die eigentliche Substanz eines lite-
rarischen Urteils von seiner Gattin und «geschickten Freundin» emp-
fangen, es aber der schalkhaften Grazie entkleidet und in einen stren-
gen Schulspruch verwandelt. Die Frühromantik verspürte in dem
Werke die an den historischen Stoff von außen herangetretene dich-
terische Persönlichkeit, die ihn unter bestimmten sittlichen und tra-
gisch sein sollenden Begriffen und im Hinblick auf die in der eigenen
Zeit liegenden Erfordernisse meisterte und das Übersinnliche als not-
wendigerweise zu ihm gehörig hinnahm. Ihr fehlte hier das Sich-
selbstsetzen der Geschichte als einer Lebensoffenbarung und Über-
vernünftigkeit. Karl Solger, der 1780 geborene Freund Tiecks, der tiefe
und feinfühlige Philosoph, Ästhetiker, Kritiker und Mythologe des ro-
mantischen Zeitalters, auch einer der zu früh (1819) verstorbenen Un-
vollendeten aus der romantischen Generation, sagt wie so manchmal
auch hier vom Standpunkt der Romantik das Weiseste: «Seine Jung-
frau von Orleans führt eben aus dieser Neigung zu einem ganz un-
dramatischen und unpraktischen Idealisieren der Geschichte. Seine
Absicht war hier das sogenannte Romantische, wie es ihm in den un-
bestimmten Bildern, welche die neuaufgeweckte Neigungdazuskizziert
hatte, dunkel vorschweben mochte. Dieses Stück schwebt daher selbst
großenteils in der Luft, besonders schadet ihm die ganz willkürliche
Annahme des Wunders, die ohne Zweifel niemand durch die Kraft der
Darstellung überzeugt. Aber eben dieses Spiel mit demhalbWahren und
halb Unwahren reizt die Menge, weshalb das Stück viel Glück machte,
und doch muß es sich leider heutzutage auch durch den bis zum Un-
sinn ausgeputzten Krönungszug in der allgemeinen Gunst erhalten.»
173
GESCHICHTE ODER PHILOSOPHIE?
tiger sei, solche Frage wäre müßig. Geschichte und Philosophie sind
fortan bei ihm unzerreißlich miteinander verwoben. Sie waren beide
in gleichem Maße an der Gewinnung seiner späteren grenzenlosen
Schau «von oben» beteiligt. Sie umschlossen, sich die Hand reichend,
beide den in ihrer Mitte stehenden Künstler und Dichter. Überall hat
bei dem späteren Schiller der Historiker dem Philosophen Vorschub
geleistet. Die Beispielgebungen aus dem Umkreise der menschlichen
Geschichte und Kultur, die seine philosophisch-ästhetischen Abhand-
lungen heranziehen, wären ohne das vorangegangene Ausgreifen des
Historikers Schiller kaum zur Hand gewesen. Der philosophisch-didak-
tische Lyriker Schiller, der Dichter des « Spazierganges», der «Vier
Weltalter», des «Eleusischen Festes», der «Künstler» entwickelt sich
aus den phantasievollen, moral-und kulturgeschichtlichen Überlegun-
gen, die er in seiner Jenaer Antrittsrede und in der Vorlesung «Etwas
über die ersteMenschengesellschaft» (in der «Thalia)) 1790) über die
Entwicklung des Menschengeschlechtes aus dem Urzustande anstellte.
Nicht Rousseau hat bei dieser Paraphrase der «Ältesten Urkunde des
Menschengeschlechtes)) Pate gestanden; die Anregung gab wohl Kant
mit seinem Aufsatz über den «Mutmaßlichen Anfang der Menschen-
geschichte)) ( 1786) und - zumal für den dichterisch erhöhten, nach-
drucksvollen und dialektischen Stil - Herder. Die späteren Gedichte
instrumentieren in Versen das Thema, das hier in Prosa bereits mit
allen Abwandlungen und Aufteilungen ertönte: wie der Mensch vom
Instinkt zur Vernunft, zur Freiheit und Humanität gelangte, wie er
«aus einem Sklaven des Naturtriebes ein freihandelndes Geschöpf, aus
einem Automat ein sittliches Wesen wurde)) und wie bei diesem Über-
gang die gesellschaftlichen Ordnungen und die Werke der Kultur ent-
standen. Zusammengeschaut stellt sich Schillers Geschichtsphilosophie
näher zu Herder als zu Kants älteren Gedankenreihen. Zwar sieht
Schiller wie Kant in der Weltgeschichte die Entwicklung aller der An-
lagen des Menschen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abzielen.
Aber tiefer ausgeprägt und umfassender ist sein Glaube an die mensch-
liche Vollendbarkeit. Damit und mit der Einweisung des Menschen in
den Mittelpunkt von Natur und Geschichte, die immer wieder auf ihn
zurückweisen, tritt er zu Herder. Mit ihm, im Gegensatz zu Kant, der
174
SCHILLER UND HERDER
175
SCHILLER UND DAS EPOS
Gattungen stets bewußt war, und wie er sie nur zurückgestellt hatte,
um sie mit einem durch Geschichte und Philosophie geweiteten, aus-
gebildeteten und gestärkten Geiste von neuem anzugreifen.
Schillers theoretische Forderungen an ein Epos aus seiner Zeit be-
rühren die epische Situation der neueren deutschen Dichtung über-
haupt und weisen damit über ihn wie über die deutsche «Klassik» hin-
aus. Auch hier ist er in seinem Wollen und Planen weiter vorwärts-
gedrungen, als in seinem Erdenpensum zu leisten ihm gegeben war.
Ein episches Gedicht im 18. Jahrhundert, so meint er in jenem Briefe
an Körner vom 10. März 1789, in dem er diese Fragen zuerst angreift,
müsse ein ganz anderes Ding sein als eines in der Kindheit der Welt;
es müsse ein Spiegelbild des geistigen, kulturellen, politischen Lebens
seiner Tage sein, aber gleichzeitig die strengen Anforderungen an
die Gattung des Epos nicht unerfüllt lassen. Wohl solle für diese Gat-
tung die «Ilias» vorbildlich sein, was die schöne harmonische Ein-
heit und manche epischen Kunstgriffe betrifft. Aber die strenge gat-
tungsmäßige Klassizität soll nicht durch das Vorbild erschöpft
werden können. Er will diese epische Klassizität für die deutsche
Gegenwart neu begründen und ein selbständiges Muster für sie auf-
stellen mitHilfe einer «Maschinerie»,die er sich dazu erfinden möchte.
«Diese Maschinerie aber, die bei einem so modernen Stoffe in einem
so prosaischen Zeitalter die größte Schwierigkeit zu haben scheint,
kann das Interesse in einem hohen Grade erhöhen, wenn sie eben die-
sem modernen Geiste augepaßt wird.» Über die Art dieser Maschinerie
ist er sich freilich noch nicht klar. Aber der Einsatz an einer bestimm-
ten unglücklichen Situation im Leben des Preußenkönigs, eine ein-
fache Haupthandlung trotz reichlicher Episoden und hinter allem
immer das ganze Leben Friedrichs und sein Jahrhundert- das sind die
Forderungen, die er an sich selber richtet. Sie klingen an ähnliche weit-
räumige Planungen Herders aus innerlich Augenblicken an,
etwa im Tagebuch von Herders Reise nach Nantes: «Wie interessant»,
ruft Schiller aus, «müßte es sein, die europäischen Hauptnationen,
ihr Nationalgepräge, ihre Verfassungen, und in sechs bis acht Versen
ihre Geschichte anschaulich darzustellen! Welches Interesse für die
jetzige Zeit! Statistik, Handel, Landeskultur, Religion, Gesetzgebung:
176
NEUE ART EINES EPOS
alles dies könnte oft mit drei Worten lebendig dargestellt werden. Der
deutsche Reichstag, das Parlament in England, das Conclave in Rom
usw. » Vor allem aber volkstümlich soll ein solches Epos aus der Zeit
sein oder ins Volk soll es eingehen. Singen muß man es können, «wie
die griechischen Bauern die Iliade »,wie die Gondolieri in Venedig die
Stanzen aus dem «Befreiten J erusalem » singen. Kein anderes Versmaß
bietet sich ihm auch im Deutschen für ein solches Epos als die Otta-
verime. So hat Schiller schon damals eine im Deutschen noch nicht
dagewesene Art des Epos im Sinne: nationaler Gehalt, größtmögliche
Volkstümlichkeit, weitester panoramischer Horizont, Eingänglichkeit,
ja Sangbarkeit der Form sollten seine Kennzeichen sein. Aber erst nach
jenem Versuche an Vergil, erst gegen Ende des Jahres 1791 kommt er,
und wieder war es Körner, der ihn zu einem Epos angetrieben hatte,
auf seine Absichten zurück, mit stärkerer Entschiedenheit, klarerem
Wollen und unbestechlicher Einsicht in seine Fähigkeiten: «Und ge-
wiß, erhalte ich meine Gesundheit wieder und kann zu meinem Leben
Vertrauen fassen, so unternehme ich es gewiß.» Er schreibt sich alle
Eigenschaften zu, die den epischen Dichter machen: «Darstellung,
Schwung, Fülle, philosophischen Geist und Anordnung.» Nur eines
fehle ihm: «die Kenntnisse ... , die ein homerisierender Dichter not-
wendig brauchte, ein lebendiges Ganze seiner Zeit zu unifassen und
darzustellen, der allgemeine, über alles sich verbreitende Blick des
Beobachters. Der epische Dichter reicht mit der Welt, die er in sich
hat, nicht aus, er muß in keinem gemeinen Grad mit der Welt außer
ihm bekannt und bewandert sein». Stärker noch als früher betont er
nun die Notwendigkeit eines nationalen Stoffes und einer nationalen
Haltung für den epischen Dichter, der ihm vorschwebt. Man darf sagen:
diese epischen Pläne bedeuten um 1790 den entschiedenen Durch-
bruch des Nationalen in Schiller. Deswegen sind sie so wichtig. Was
er über diesen Punkt am 28. November 1791 an Körner schreibt, muß
aus der Vergessenheit gezogen werden: «Könnt ich es mit dem übri-
gen vereinigen, so würde ein nationaler Gegenstand doch den Vor-
zug erhalten. Kein Schriftsteller, so sehr er auch an Gesinnung Welt-
bürger sein mag, wird in. der Vorstellungsart seinem Vaterland ent-
fliehen. Wäre es auch nur die Sprache, was ihn stempelt, so wäre diese
178
EPOS UND DRAMA
12. 179
SPÄTERE SPEKULATIONEN ÜBER DAS EPOS
durch die sich daraus ergebende Zuordnung von Stoff und Haltung an
die dichterischen Gattungen mit dem Ziel, daß jeder von ihnen eine
Mustergültigkeit für die Darstellung bestimmter menschlicher Verhal-
tungsarten zukäme: daß sie würden « Naturformen der Dichtung».
Wie für die «Naturformen des Menschen», so war auf dervonWinckel-
mann ausgehenden Linie auch für die «Naturformen der Dichtung»
das Griechentum verbindlich, wenn es galt, die ein für allemal gül-
tigen Merkmale der dichterischen Gattungen abzuleiten. Allerdings
fiel im Rahmen der «Klassischen Ästhetik» die theoretische Begrün-
dung und Formulierung des Wesens und der Aufgabe der epischen
Dichtung vornehmlich Goethe zu. Schillers Ringen um die Vermitt-
lung der neagewonnenen Kunstphilosophie mit der Kunstübung ging
auf das Drama. Auch hier wurde es ihm bis zu seinem Ende schwer
genug, seine philosophisch-ästhetische Forderung mit der sinnlichen
Erscheinungsform seiner Schöpfungen zu vereinigen. Vollends an ein
Epos hat er, durch die neuen Kraftanstrengungen und neuen Anläufe
auf dem Gebiete des Dramas in Anspruch genommen, nicht mehr ge-
dacht. Ein solches Epos hätte sich jetzt mit seinen Aufstellungen decken
müssen, denen zufolge der epische Dichter uns bloß das ruhige Dasein
und Wirken der Dinge «nach ihren Naturen» schildert. Sein Zweck
liegt nach Schiller jetzt «schon in jedem Punkte seiner Bewegung;
darum eilen wir nicht ungeduldig zum Ziele, sondern verweilen mit
Liebe bei jedem Schritte». Alle Spannung und Unruhe sollten einem
solchen epischen Werke fern sein. Denn der dramatische Dichter «steht
unter der Kategorie der Kausalität, der Epiker unter der der Substan-
tialität; dort kann und darf etwas als Ursache von etwas Anderem
dasein, hier muß sich alles selbst um seiner selbst willen geltend
machen».
Derlei Abgezogenheiten und ebenso die Ausführungen über die
naive und sentimentalische Empfindungsweise, welche die Dichtungs-
arten und Dichtungsgattungen überwölbte, wie sie die Abhandlung
«Über naive und sentimentalische Dichtung» (1795) bot, waren nicht
geeignet, die epische Schöpferkraft im Sinne seiner früheren Pläne in
Bewegung zu setzen. Schiller hatte die Betätigung in der epischen
Dichtung an Goethe abgetreten. Die dramatische Bearbeitung des
180
WILHELM VON HUMBOLDT
181
EIN EPOS MENSCHLICHER URZUSTÄNDE?
182
DAs EPos DER RoMANTIK
183
SCHILLERS GRIECHENNACHEIFERUNG
184
DAS HEROISCH-STOISCHE
seine Dichtung vom Altertum her ein, es sei denn, daß er in der Zeit
des Zusammenwirkens mit Goethe von dieser ihm greifbaren antiki-
schen Erscheinung manches auch in seine Dichtung von der Hellig-
keit, dem Maße, dem Geordnet-Naturformigen eingehen ließ, was die
deutsche Klassik unter dem antiken Zeichen sehen und anwenden zu
sollen glaubte. Schillers nach allen Seiten offene, aber das deutsche
Nord-Süd-Problem nicht am eigenen Leibe erlebende, auf das Groß-
formig-Gebärdete angelegte Natur, der es in der Epoche der Klassik
darauf ankam,_sich inmitten des Zusammenstromes so vieler auf die
Zeit eindringender oder von ihr abzuwehrender Kräfte und Nöte zu
behaupten, ergreift auch den Griechenglauben nicht nur aus einem
Gesetze seiner persönlichen Anlage heraus, sondern auch auf Grund
der Hochspannung der Geister am Ausgang des 18.Jahrhunderts und
der kulturpolitischen Situation, in die sein durch Ehrgeiz, Leiden und
Selbstprüfung geschärftes Auge hellsichtig und weitschauend eindrang.
Das Leidenschaftlich- Unruhvolle, Stoßhafte seines Geistes, die auf
Kampf, Sieg oder Unterliegen gestimmte Note seines Lebens, der sitt-
liche Grundtrieb seiner Daseinsanlage, das stete Übergewicht des Gei-
stig-Gedanklichen - all dies wird von ihm in den Raum seiner Be-
ziehungen zum Griechentum mit hineingetragen. So kann es leicht
geschehen, daß noch zu seiner Spätzeit dem gedanklich oder ge-
schichtlich weniger wachen Beschauer das Heroisch-Stoische in Schil-
lers Auffassung und Verwertung des Altertums mehr in die Augen fällt
als die schließliehe Zusammenfassung der geistigen, sittlichen und
sinnlichen Kräfte in einem menschheitlichen Totalitätsideal, das seine
an der Goetheschen Erscheinung sich aufrankende spätere Ästhetik
aus den Griechen ableitete. Es kann geschehen, daß man ihn trotz
seiner «sentimentalischen» Empfindung für den Widerspruch zwi-
schen der vergangenen schönen Griechenwelt und der bitteren Not-
wendigkeit des Tages manchmal als Ganzes in nächster bejahender
Nachbarschaft zu dem Römisch-Pathetischen sehen muß, dem seine
Jugenddramatik gehuldigt hatte. Aber dennoch mag es richtig sein,
daß ein «wirklich durchgreifendes selbständiges Erlebnis der griechi-
schen Kunst» Schiller nicht geschenkt, ihm auch ein solches «bei sei-
ner unsinnlichen, auf das Gedankliche gestellten Art nicht unmittel-
185
STUFEN DES GRIECFiENERLEBNISSES
186
SCHILLER UND GüETHES «IPHIGENIE»
187
GRIECHISCHE TRAGÖDIEN
rückt. «Hier hat», heißt es, «das Genie eines Dichters, der die Ver-
gleichung mit keinem alten Tragiker fürchten darf, durch den Fort-
schritt der sittlichen Kultur und den mildern Geist unsrer Zeiten unter-
stützt, die feinste edelste Blüte moralischer Verfeinerung mit der schön-
sten Blüte der Dichtkunst zu vereinigen gewußt und ein Gemälde
entworfen, das mit dem entschiedensten Kunstsiege auch den weit
schönern Sieg der Gesinnungen verbindet und den Leser mit der
höheren Art von Wollust durchströmt, an der der ganze Mensch teil-
nimmt, deren sanfterwohltätiger Nachklang ihn lange noch im Leben
begleitet.» Kein Zweifel, daß in solchen Worten schon der Ansatz ge-
geben ist zu einem Weg, auf dem Schiller - zu weit schärferen und
umfassenderen Einsichten in die deutsche Griechenauffassung und in
einen streng begrifflich durchzuführenden Gegensatz von« antik» und
«modern» gelangt- die «lphigenie» zur «sentimentalischen» Dicht-
weise stellen mußte. Die Abhandlung des Jahres 1795 gedenkt ihrer
allerdings nicht, wo sie die Mischung des «Naiven» und «Sentimen-
talischen» im «Werther», im «Tasso», im «Faust» erwähnt. Die
überscharfe, beinahe grausame Klassifizierung unter den beiden be-
rühmten Kategorien scheint - wenn es sich um eine verantwortliche
öffentliche Äußerung handeln sollte - an der ganz für sich bestehen-
den, unter kein Schema zu bringenden dichterischen Eigentümlich-
keit der «lphigenie» zu Schanden geworden zu sein. Aber an Körner
vermochte er am 21.Januar 1802 zu schreiben (was sich zu Goethes
Äußerung gegenüber Eckermann vom 21.März 1830 stellt), daß sie
«erstaunlich ungriechisch und modern» sei, damit heutiger Auf-
fassung sich nähernd.
Aus der Vergleichung der Goetheschen «lphigenie» mit derj'enigen
des Euripides und auf dieser ersten Ebene seiner Auseinandersetzung
mit den Griechen folgte für Schiller zunächst seine Tätigkeit als Über-
setzer griechischer Tragödien, der «Iphigenie in Aulis » und der ersten
Hälfte der «Phoenizierinnen» des Euripides. Wie er hier- nicht nur
August Wilhelm Schlegels Spott hat es ihm eingetränkt-, unfähig, sich
der griechischen Originale zu bemächtigen, zu älteren lateinischen,
französischen und deutschen Übertragungen greifen mußte, den Tri-
meter durch den fünffüßigen Jambus ersetzte, die Freiheit gegenüber
188
FRANZÖSISCHES DRAMA
189
SHAKESPEARES SCHATTEN
190
GRIECHENTUM UND FRANZOSENTUM
191
«DIE GöTTER GRIECHENLANDS»
192
DIE BEIDEN FASSUNGEN
- das ist schon der Hintergrund, vor dem die Briefe «Über die
ästhetische Erziehung des Menschen» die Ganzheit und Harmonie des
Menschen fordern im Gegensatz zu dem auf ein Teilgebiet des Da-
seins eingeengten Verwalter des «Faches», des «Berufes», des täg-
lichen Geschäfts. Doch der Weg Schillers führte zur Ausgleichung von
Sinnlichkeit und Sittlichkeit, von wandellosem Sein und nie aussetzen-
dem Sollen. Sittlichkeit und Sollen- das war Schillers nordisch-deutsche
194
«DIE ANTIKE AN DEN NORDISCHEN WANDERER»
13* 195
TODESPROBLEM
196
NACHGESCHICHTE DER «GÖTTER GRIECHENLANDS»
197
ANTIK UND CHRISTLICH
198
HöLDERLIN
nun, was Schiller hier aufgerührt hatte, nicht zur Ruhe. Die Götter
Griechenlands, wie viele sich in denDienst ihrer immer abgründigeren
Erkenntnis stellen mochten, wurden nun bei den großen Dichtern und
Denkern unseres Volkes mehr als ein Gegenstand der intellektuellen
Bemühungoder als ein Bestandteil eines sogenannten «Bildungsgutes».
Sie waren fortan immer hinter der deutschen Geistigkeit zu verspüren,
auch wo ihre Namen nicht fielen. Ihr Eingriff in unser Wesen und
unsere Religiosität war um so nachhaltiger, als er am Ende des 18. Jahr-
hunderts in eine Zeit fiel, in der das dogmatische Christentum sich
nicht nur offene Bestreitungen gefallen lassen mußte, sondern sich
auch leise und innerlich in einem Flusse befand, innerhalb dessen es
durch eine Beseelung und Vergöttlichung des Alls, durch eine Im-
manenz des Göttlichen und der es versinnlichenden Kräfte oder durch
eine vom Geist her vollzogene idealistische Überbauung gewandelt,
umgedeutet, wenn nicht aufgehoben zu werden begann. Und welche
Bedeutung Mythenschau und Mythendeutung nach Schiller gewannen
- sie konnten in dieser oder jener Weise der Griechen nicht entraten,
wenn man auch über sie hinausdrang und ihren Göttererscheinungen
die Rätsel eines Urseins abfragte.
Hölderlin wurde durch «Die Götter Griechenlands» erweckt; neben
der übrigen Schillersehen Gedankenlyrik löste dies Gedicht ihm die
Zunge und gab für seine verehrende und bewußte früheAbhängigkeit
von dem großen schwäbischen Landsmann ein Unterpfand her, das
durch seine gesamte Entwicklung keimfähig und wandlungsfähig blieb.
Dies zu behaupten, ist keine philologische Grille.Alle auf eine Wesens-
schau ausgehende Betrachtung vermag nicht, mit der Wirklichkeit
und Mächtigkeit eines Vorganges zu wetteifern, auf dessen durch
ein einmal «Gesagtes» ein bis dahin schlummerndes, aber existenz-
haft vorhandenes, geistig-seelisches Seinsverhältnis seinerseits zum
«Sagen» und Sichauswirken gebracht wird. Doch schon in Hölderlins
Frühzeit ist es so, daß,wo bei ihm Schillers «Götter Griechenlands»
anklingen, die Schillersehe Zweiheit zwischen Griechentum und Chri-
stentum fehlt. Die Elegie «Griechenland» ( 1793 ), so nahe sie sich
inhaltlich und rhythmisch-stilistisch mit dem Schillersehen Gedichte
berührt, kennt nicht ein schreckhaftes Erwachen aus dem Einst zum
199
HöLDERLIN
Jetzt, sondern nur den einen Ton des seligen Hinüberwalleus ins Einst.
Es herrscht beiHölderlin von allemAnfang an die einheitlich-elegische
Haltung, und es geht bei ihm nicht nur um die griechischen Götter,
derenVerschwindenSchiller aus seinemHineingestelltsein in das christ-
liche Erlebnis beklagt hatte: bei Hölderlin ist die selige Ferne be-
stimmt durch ein «Hellas» als Gesamtvorstellung oder durch ein dies
Ganze vertretendes «Attika». Eine andere Frage ist, worin Hölderlins
späteres «mythisches Erleben» bestand und wie es sich bekundete. Ob
in diesem Vorgang dem Dichter oder dem Deuter das erste Wort ge-
bühre, ob er das Ich immer mehr verblassen mache, um gleichsam nur
noch Stimme mythischen Sagens aus einem überpersönlichen Reich
in der Form des Hymnus zu sein oder ob er individueller «Gestalter»
solcher Mythen sei, in denen Natur und Liebe, Vaterland und Volk,
Antike und Christentum, Ost und West aufgehen - diese Aporien aus
dem Umkreis einerneuen Hölderlin-Scholastik, der die Substanz «Höl-
derlin » schließlich ganz verlorenzugehen droht, berühren den Weg,
auf dem die von Schillers Gedicht unmittelbar ausgehende Ent-
wicklung sich vollzieht, nicht mehr. Doch soviel mag auch hier fest-
zustellen am Platze sein: daß der von Schillers «Klassik» erzielte
idealische Ausgleich vonich und Gott-Welt (nicht das monistische Auf-
gehen in einem All) auch der Sinn der Aussage Hölderlins ist und daß
die großen Gegensätze von Einst und Jetzt, von Natur und Mensch,
von Ichheit und Allheit, von Schicksal und Heldentum, von Freude
und Schmerz nicht als ungelöste Mißklänge, sondern als harmonis<;he
Akkorde in seiner Dichtung stehen. So wird später von ihm auch die
griechische Götterwelt mit dem christlichen Himmel in jener wunder-
samen Doppelwertigkeit verselbigt, die die geheimnisvollste Offen-
barung der Hölderlinschen Spätdichtung ist. Möglich war das nur, weil
die Götter Griechenlands ihm von vornherein nicht ferne Traumbilder
waren wie Schiller. Immer schon wollte er in sie «eingehen» als in
eine unmittelbar gegebene Wirklichkeit. Sie waren immer um ihn
vorhandene Gegenwart, und um ihrer Nähe gewiß, ihrer gewahr zu
werden, bedarf es nur eines Aktes - nicht mystischer Selbstaufgabe,
sondern eben jener mythischen Erlebnisweise, bei der der griechische
und der Christengott sich die Hände reichen können.
200
DIE FORM DER «GÖTTER GRIECHENLANDS»
201
«KLASSISCH-ROMANTISCHES ZWISCHENSPIEL»
202
SCHILLERS BEGRIFF DES «VOLKES»
203
«VOLKSDICHTER» UND «VOLKSERZIEHER»
bequemen und auf den Beifall der gebildeten Klasse Verzicht zu tun,
oder den «ungeheuren Abstand», der zwischen beiden sich befindet,
durch die Größe seiner Kunst aufzuheben und beideZwecke vereinigt
zu verfolgen. Und nun legt er in längst nicht genügend gewürdigten
Ausführungen dar, wie er sich die Aufgabe des echten Volksdichters
denke.Man müßte sie ihrervollen Ausdehnung nach durchgehen und
bis in alle Einzelheiten beleuchten dürfen, um ihnen im Zusammen-
hange dieses schwerwiegenden Problems gerecht zu werden.Mit einem
Worte: das schillerisch-klassische Bildungsideal ist hier mit der Auf-
gabe einer wahren Volkserziehung in Verbindung gebracht. Sie er-
streckt sich auf Geist und Herz, auf Trieb und Denken, auf Sprache
und Affekte des Volkes. Überall werde der Volksdichter, der nach Schiller
(«man messe ihn nach den Fähigkeiten, die bei ihm vorausgesetzt
werden, oder nach seinem Wirkungskreis») einen solchen hohen Rang
verdient, das Sinnliche und Sittliche reinigen, veredeln, ohne ihnen
an Allgemeingültigkeit, Faßlichkeit und Eingänglichkeit etwas zu neh-
men. Aus diesen Gedanken Schillers ergibt sich eine Reihe geistes-
geschichtlicher wie erzieherischer Folgerungen. Es besteht erstens ein
weiter Abstand zwischen ihnen und den Versuchen der Aufklärung,
das Volk mit ihm fremdem geistigem Gut auf rationalistischem Weg zu
überschwemmen. Denn auf die Ausgewogenheit aller menschlichen
Anlagen richten sich diese Gedanken. Kaum kann ein gültigeres Ziel
der Volksbildung aufgestellt werden, als wenn Schiller die Aufgabe da-
mit umschreibt, daß «selbst die erhabenste Philosophie des Lebens ...
ein solcher Dichter in die einfachsten Gefühle der Natur auflösen, die
Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefern
und die Geheimnisse des Denkens in leicht zu entziffernder Bilder-
sprache dem Kindersinne zu erraten geben» würde. Merkwürdiger-
weise gehören diese Sätze zu den am wenigsten aufgegriffenen Wahr-
heiten Schillerscher Herkunft. Aber man möge ihre Verwirklichung
von der Zukunft erwart-en: «Ein Vorläufer der hellen Erkenntnis,
brächte er die gewagtesten Vernunftwahrheiten, in reizender und ver-
dachtloser Hülle, lange vorher unter das Volk, ehe der Philosoph und
Gesetzgeber sich erkühnen dürfen, sie in ihrem vollen Glanze herauf-
zuführen. Ehe sie ein Eigentum der Überzeugung geworden, hätten
204
VOLKSNÄHE UND VOLKSFERNE
sie durch ihn schon ihre stille Macht an dem Herzen bewiesen, und ein
ungeduldiges einstimmiges Verlangen würde sie endlich von selbst der
Vernunft abfordern.» So erhellt sich dann zweitens von hier aus wieder
einmal die Fadenscheinigkeit der Behauptung, deutsche Klassik sei
volksfremd gewesen. Gerade das Gegenteil zu sein, sah sie als ihre
Sendung an, überzeugt von der Notwendigkeit und durchdrungen von
den Aufgaben einer geistigen Führerschicht. Drittens räumen die Sätze
Schillers mit der Meinung auf, als erstrebe die deutsche Klassik, auch
wo es sich um Volksdichtung und Volksbildung handele, eine bloße
Idealisierung und eine unwahre, schönfärbende Aufhöhung. Schiller
wünschte die im Volke wirksamen Naturkräfte geweckt zu sehen. Vier-
tens: die Schillersehen Ideen gehen auf eine Volkserziehung von oben
aus. Sie stehen im Gegensatz zu dem Bestreben der jüngeren Roman-
tik, die eine Infiltrierung der oberschichtliehen Bildung durch das so-
genannte «primitive», unterschichtliehe Volksgut herbeizuführen sich
bemühte. Zum mindesten aber gilt von Schillersehen Gedanken über
das «Volk», daß sie Klüfte und Scheidungen beseitigen wollen durch
die Anerkennung und Festigung einer Grundkraft des Volksdaseins.
Denn, so sagt er, der Volksdichter müsse sich alles untersagen, was man
nur in «künstlichen Verhältnissen» erlangt, er müsse gleichsam den
verlorenen Zustand der Natur zurückrufen. Ähnlich meint Goethe
1806 in der Besprechung von Arnim-Brentanos Sammlung «Des Kna-
ben Wunderhorn», daß diese Lieder «so etwas Stämmiges in sich haben
und begreifen, daß der kern-und stammhafte Teil der Nationen der-
gleichen Dinge faßt, behält, sich zueignet und mitunter fortpflanzt».
Damit ist ihnen das Kriterium einer inwendigen Naturhaftigkeit ge-
wonnen ... Als August Wilhelm Schlegel seinem einstigen Lehrer und
Musageten Gottfried August Bürger 1801 jene ihn rehabilitierende,
erschöpfende, Gehalt und Form gleichmäßig berücksichtigende Cha-
rakteristik widmete, die Philologie mit Ästhetik und Kritik vor-
bildhaft vereinigte und noch unüberholt ist, schrieb auch er gegen-
über der Bürgersehen Auffassung des «Volkes», es lasse sich nicht ein-
sehen,« warum die Poesie, der es gegeben ist, das Höchste im Menschen
auszusprechen, sich irgend nach der Mittelmäßigkeit bequemen sollte,
statt sich an die vortrefflichsten und von der Natur am meisten begab-
205
VOLKSTUMSBEGRIFF DER FRÜHROMANTIK
ten Geister zu wenden und die übrigen sorgen zu lassen, wie sie mit
ihr fertig werden möchten». War das nicht sehr « unromantisch », sehr
vom Standpunkt jener klassischen «Elite »-Vorstellung gesagt? Der aus
dem Organismusgedanken erwachsende romantische Volkstumsbegriff
hätte sich mit einer solchen Forderung und auch mit den übrigen an
der klassischen Bildungsidee orientierten, literarhistorischen Ausfüh-
rungen Schlegels über «Volk» und «Volkspoesie» nicht vereinigen
lassen. Wo die Gewachsenheit und Ursprünglichkeit das Merkmal ab-
gaben und jede Äußerung des Volkes u1.1d Volksmäßigen mit «Andacht
vor dem Unbedeutenden», mit Ehrfurcht vor einerunbewußt walten-
den Lebenskraft verehrt wurde, hörten die Wertungen nach den Be-
griffen von Vollkommenheit und Unvollkommenheit, von Bildung und
Kunst auf. August Wilhelm Schlegel blieb bei seiner von der Klassik
her bezogenen Auffassung: «-Alle Poesie beruht auf einem Zusammen-
wirken der Natur und Kunst. Ohne Kunst kann sie keine dauernde Ge-
stalt gewinnen; ohne Natur erlischt ihr inneres Leben. Wie unschuldig
jene frühe Kunst auch sein mochte, so mußte sie dennoch nach .den
ersten Fortschritten bald aufhören, unabsichtlich zu sein.» Das wurde
von ihm 1815 gegen die «Altdeutschen Wälder» der Brüder Grimm
gesagt, und zwar von ästhetischer Ebene. Wie die Brüder Grimm die
wahrhaft «reinsten» Vertreter einer Meinung wurden, die die Kunst-
poesie von Naturpoesie scharf abhebt - historisch und zugleich ästhe-
tisch-, wie Naturpoesie ihnen überhaupt nicht Erdichtung ist, son-
dern auf dem lebendigen Grunde der «Sage» ruht, wie sie glaubten,
daß «die alte Poesie und ihre Formen, die Quelle des Reims und der
Alliteration ebenso in einem Ganzen ausgegangen ist, und gar keine
Werkstätten oder Überlegungen einzelner Dichter in Betracht kommen
können» - all dieses betrifft Grundstrukturen der jüngeren und spä-
teren Romantik. Dies darf gültig festgehalten werden: die Früh-
romantik, zusammengefaßt in August Wilhelm Schlegel, steht auch
in dieser Frage der klassischen Bildungsidee nahe. Auch der Früh-
romantik wie der Klassik beruht die Dichtung auf der freien, wert-
erfüllten menschlichen Persönlichkeit und ihrem Handeln, denJungen
ist sie ein an den Einzelnen nicht gebundenes, gleichsam nur der
Durchzug durch ihn nehmendes Volks- und Allgemeingeschehen. Der
206
ÖFFENTLICHKEIT ALS ATEMRAUM DER KLASSIK
207
DIE «HOREN»
208
DAS «POLITISCHE» DER «HOREN»
ren » reifen und auf diese Zeitschrift als auf eine rettende Insel hoffen
zu lassen: beängstigend stieg die Flut der nurpolitischen Schriftstellerei,
gefährlich für Dichtung und jede geistig-innere Kultur erschien das
Überhandnehmen der politischen Interessen. Hier wollen die «Ho-
ren» den Menschen sacht seine Straße führen. Dabei sind sie nicht un-
politisch. Zwar sagt die «öffentliche Ankündigung» des U nterneh-
mens (die abgekürzte, und ähnlich die längere) : «Je mehr die allge-
meine Aufmerksamkeit durch die lebhafteste Teilnahme an den poli-
tischen Begebenheiten des Tages und den Kampf entgegengesetzter
Meinungen und Parteien jetzt auf die Gegenwart gerichtet ist, desto
dringender wird das Bedürfnis, die dadurch eingeengten Gemüter
durch ein allgemeines und höheres Interesse an allem, was rein
menschlich und über den Einfluß der Zeiten erhaben ist, wiederum in
Freiheit zu setzen und dem durch den Anblick der Zeitbegebenheiten
ermüdeten Leser eine fröhliche Zerstreuung zu verschaffen. Diesem
Endzweck widmet man die gegenwärtige Zeitschrift.» Das klingt sehr
widerpolitisch. Aber es war ein Teil Berechnung auf die seelischen
Reaktionen des Publikums darin. In einem umfassenden, überwölben-
den Sinne sind gerade die «Horen» ohne den Hintergrund der welt-
politischen Vorgänge und der deutschen Allgemeinsituation inmitten
des kreißenden Zeitalters nicht zu denken. Indem sie «an dem stillen
Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze und edlerer Sitten, von dem
zuletzt alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes ab-
hängt, nach Vermögen geschäftig sein» wollen, wie die Ankündigung
sagt, dienen sie diesem «Zeitalter». Den gleichen Beweis führt der
Inhalt. Und in den Ankündigungen wie in der Einladung an die Mit-
arbeiter erscheint der Hinweis auf die «Deutschen» und auf die «Na-
tion» immer wieder.Wie später in den «Propyläen» für die bildende
Kunst handelte es sich auch hier um die Bestimmung dieser Nation
durch eine in sich zusammengeschlossene oder zum Zusammenschluß
bereite Auslesegruppe geistiger Menschen. Einer freilich fehlte unter
den Mitarbeitern, den Schiller vor anderen gerne in diesem Kreise ge-
sehen hätte: Kaut. Sein Brief vom 30.März 1795 lehnte ab.
Die Eingrenzung des Gebiets, auf das die «Horen» sich beschränken
wollten, und damit die Verengung des klassischen deutschen Bildungs-
210
FORTWIRKUNG DER «HOREN»
Volks und Zeitalters mit Blicken auf das Ausland und die Vergangen-
heit, vorzüglich auf das klassische Altertum». Aber dies alles bringen
auch die «Horen», und auf den Giebel, den Klassik und Frühromantik
gemeinsam haben, fällt auch durch diese frühromantischen Forde-
rungen ein Licht. Ja, noch Heinrich von Kleists und Adam Müllers An-
zeige des «Phöbus » ( 1808) will dies «Kunstjournal» nach dem «etwas
modifizierten und erweiterten Plane der ,Horen'» beginnen lassen.
Unmittelbar haben die «Horen» den äußeren Anlaß zur Profilierung
von Gehalt und Form des Geistgebildes abgegeben, das wir die «Hoch-
klassik» nennen.
14* 211
III
Goethes Ausreise nach Italien war ein Ereignis, das als persönlicher
und einmaliger Vorgang «eintrat» für ein im Gange der geschicht-
lichen Entwicklung offenkundig werdendes Seinsverhältnis unseres
Geistes. Als ein Zufall, bestenfalls als eine Fügung glücklicher Um-
stände muß dieser Vorgang einer Betrachtungsweise erscheinen, die
um so eher auf Vereinzelung und auf Ausnahmegeschehnisse bedacht
sein wird, als es sich um Goethe handelt. Denn eine Gestaltmystik ver-
setzt ihn gerne in einen Raum, für den die Maße, die Geschichte
und Umwelt herleihen, vermeintlich einer niederen, auf ihn nicht an-
wendbaren Ordnung angehören. Ja es kann geschehen, daß, wer sich
bestrebt, die großen Männer unserer Vergangenheit zu ergründen und
zu verstehen, statt von ihrer Überalltäglichkeit nur zu reden, als un-
berufen angesehen wird, sich ihnen überhaupt zu nahen. Was für
Goethes Italienreise gilt, trifft ähnlich für seinen Zusammenschluß
mit Schiller zu. Auch hier kann es sich nicht mehr darum handeln,
immer wieder das staunende Auge auf dem unvergleichlichen Schau-
spiel ihres Bundes ruhen zu lassen. Die Ganzheit und der Fluß der
deutschen Geistesgeschichte gebieten nun auch hier eine Einordnung,
die keineswegs mit einer Verringerung von Größenmaßen verbunden
zu sein braucht.
Auch für seinen Zusammenschluß mit Schiller im Jahre 1794 ver-
wendet Goethe im späten Alter, als sich ihm der wundersame Gang
seines Lebens immer ergreifender enthüllte, den Begriff des «Dämo-
nischen». Das «Dämonische» steht weit ab von jedem Zufall. Es ist
das Unbegreiflich-Selbsttätig-Lebendige, das unabhängig von dem ein-
212
SICHFINDEN GOETHES MIT SCHILLER
zeinen Menschen vorhanden ist und sich gerne auf bedeutende Indi-
viduen wirft. Das «Dämonische» ist ein Gesetzliches, wenn sich mit
diesem Worte nicht so leicht die Vorstellung eines Rational-Erkenn-
baren verbinden würde. Bei seiner Bekanntschaft mit Schiller, so meint
er zu Eckermann am 24.März 1829, habe etwas Dämonisches inso-
fern obgewaltet, als sie beide erst zu dem Zeitpunkt zusammengeführt
worden seien, da ihre geistige Entwicklung jene ganz bestimmte Stufe
erreicht hatte, auf der ein gemeinsames Fortschreiten möglich war.
Diese Stufe war durch Schillers ruhelose Tätigkeit, durch Goethes ln-
sichruhen und das Sichsetzen seines Geistes gewonnen worden. Was
besagen jene Stimmungen und Mißstimmungen auf beiden Seiten,
die in unmaßgeblichen und belasteten Augenblicken dem Papiere oder
den Freunden anvertraut wurden! Die innere und äußere Not des
sozial Schwächeren, dessen Ehrgeiz und dessen Gefühl der Ebenbürtig-
keit an dem in Weimar Gefeierten und Gebetteten einen Schrittmacher
hatten, dem nicht nur Kraft und Können, sondern auch das Getragen-
werden durch eine Erbschaft körperlicher, gesellschaftlicher, materiel-
ler, temperamentmäßiger Art, wie sie ihm versagt war, zu dem Auf-
bau eines Daseins verholfen hatte, das in der inneren und äußeren
Folgerichtigkeit reiner und geordneter Architektur in Deutschland
noch nicht seinesgleichen gehabt hatte! Und was besagt auf Goethes
Seite das Übersehen Schillers und der in der mißlaunigen und unbe-
haglichen Verfassung nach der Rückkehr aus Italien auf tiefgelegener
Reizschwelle festgehaltene Eindruck der Unausgegorenheit Schiller-
scher Werke! In kleinen und kleinsten Schritten, die nur feststellbar
wären, w.enn die Geschichte und Geistesgeschichte über ein Verfahren
verfügte, das ein Gegenstück zur Differential- und Integral-Rechnung
wäre, näherten sich beide einander. Aber «dem Bedürfnis kommt die
Erfüllung entgegen, Kairos entscheidet aufs glücklichste im Wider-
spiel von Dämon und Tyche».Was man von Goethes Begegnung mit
Kant gesagt hat, gilt auch für das Sichfinden Goethes und Schillers
nach jenem denkwürdigen Gespräche vom Juli 1794, bei dem «Idee»
und «Erfahrung» im Hinblick auf das Phänomen der Urpflanze den
Ausgang bildeten. Es trafen sich, wohl gemerkt, die Geister, nicht die
Naturen. Darum geht jenes berüchtigte Epigramm August Wilhelm
215
HALTUNG DES BRIEFWECHSELS
214
BEWUSSTSEIN DER GEGENSÄTZLICHKElTEN
den wundersamen Abschnitt seines Lebens. Eines wird aus allen diesen
Goetheschen Bekundungen klar, und der Briefwechsel selber wie an-
dere Zeugnisse bestätigen es: daß, gemäß Goethes Worten vom 11.April
1827, das Verhältnis zu Schiller so einzig war,« weil wir das herrlichste
Bindungsmittel in unseren gemeinsamen Bestrebungen fanden und
es für uns keiner besonderen Freundschaft weiter bedurfte». Hierin
aber liegt eben die «Klassizität» dieses Bundes, das heißt seine vom
Unwesentlichen und Zufälligen, vom Lässigen und vom Getrieben-
werden entfernte «musterhafte» und normative Gültigkeit. Wie die
Klassik keine Grenzverwischungen auf ästhetischem, sittlichem und
politischem Gebiete kannte, wie insbesondere die Gattungen, Arten
und Formen der Poesie «rein» erhalten werden sollten, so wurden in
dieser Begegnung die Konturen beider Persönlichkeiten und die bei-
derseitigen Geistes- und Lebensbereiche gewahrt. Erst diese Wahrung
und die mit ihr gegebene Polarität, wie immer man in mehr oder
minder abgehrauchten begrifflichen Entgegensetzungen sie fassen
möge, ergaben eine wiederum «klassische» Ganzheit, Geschlossenheit
und Harmonie. Es gilt das zunächst nicht von dem Gesamtbild der
literarischen Leistungen und der denkerischen Ergebnisse, sondern
vön dem Vorgang, der, unabhängig von dem, was er zeitigte, sich ein-
zig auf das menschlich-geistige Phänomen als solches und aufWesen
und Formen der zwischen den beiden Männern waltenden « Sym-
pathiegefühle » und ihre vergesellschaftende Kraft bezieht.
Das Bewußtsein der durch ihre verschiedenen Naturen gegebenen
Gegensätzlichkeit hat sie nie verlassen. Der Briefwechsel selber zeigt
allenthalben die Grenzen, bis zu denen sie zu gehen und sich entgegen-
zukommen vermochten. Goethe ist stets zurückhaltender. Seinen Brie-
fen fehlt das leidenschaftliche Ergreifen der gebotenen Hand, fehlt
das nie aussetzende, beinahe restlose Eingehen auf alles, was von der
anderen Seite gesagt oder angeregt wurde, wie es Schiller zeigt. Ein
gewisses Unterwerfungsbedürfnis, eine gewisse Diensteifrigkeit ist
Schillers Teil in diesem Bunde, freilich nur in der ersten Zeit. Denn
auch diese Vereinigung und dieser Austausch unterlagen den Gesetzen
der Entwicklung, und manches Mißurteil ist daraus entstanden, daß
Eindrücke verallgemeinert wurden, die nur für einen bestimmten Ab-
215
VERSCHIEDENHEIT DER BRIEFSCHREIBER
216
DER BRIEFWECHSEL ALS DOKUMENT DER «KLASSIK»
217
DIE ROMANTISCHEN BRIEFWECHSEL
218
KURVEN DES BRIEFWECHSELS
219
ZWEITER ABSCHNITT VON 1799
220
GRENZEN
221
GRENZEN
rung und Wechsel an Schiller schreibt, mußte auch diesen die Schran-
ken der Bereitschaft, sich ihm ganz und gar zu verschreiben, empfin-
den lassen: «Sie werden, mein Lieber, noch manchmal in diesen
Tagen zur Geduld aufgefordert werden, denn jetzt, da die Zeit herbei-
kommt, in welcher ich abreisen sollte, fühle ich, nur zu sehr, was ich
verliere, indem mir eine so nahe Hoffnung aufgeschoben wird, wel-
ches in meinem Alter so gut als vernichtet heißt. Was ich noch von
Kultur bedarf, konnte ich nur auf jenem Wege finden ... Eine große
Reise und viele von allen Seiten zudringende Gegenstände waren mir
nötiger als jemals» (2. August 1796). Seine von ihm selber ja mehrmals
betonte Vereinsamung in denJahren, als er Schiller fand, darf gepriesen
werden, weil sie dieVoraussetzung und den Boden schuf für den Zusam-
menschluß in einer dichterisch-denkerischen und zum Hervortreten
nach außen drängenden Symbiose mit dem Manne, der nach Anlage
und Entwicklung ihn wieder ganz auf das Heimische, Deutsche und auf
die hohe Würde einer abgezogenen Geistigkeit verweisen konnte.
Jedes Wort, jeder Vers, jeder Gedanke von Goethe sind, früher wie
später, immer gesagt aus einer alleMöglichkeiten oder Abwandlungen
bereits vorwegnehmenden und in sich schließenden Mitte. Das ist das
Geheimnis seines Sagens. Es liegt selbsttätig in Gehalt und Form des
Ausgedrückten, und es ist gewiß nicht die Willkür des über ein grö-
ßeres Wissen um ihn gebietenden Aufnehmenden, die das ·einzelne
auf eine solche Mitte zurückführt. Darum vermag die gestaltbildende
Gesamtanschauung seines Wesens nicht zu leiden unter Zuordnungen
gewisser Entwicklungsstufen dieses Wesens zu den geschichtsbedingten
Abläufen seiner Zeit.
Die Goethesche Entwicklungsform seit der Rückkehr aus Italien bis
zu Schillers Tod, Klassik und Frühromantik und die Blütezeit des
deutschen Idealismus umspannend, läßt alle vereinfachenden und ab-
kürzenden Formeln an sich zunichte werden. Weder der Gegensatz
eines «Naturidealismus» zu einem «Vernunftidealismus» oder andere
typologische Fassungen, weder die Unterstellung unter die Gegensätze
von «Idee» und «Erfahrung», von «Subjekt» und «Objekt», von
Plato und Aristoteles, weder das Verhältnis zu Kant noch die Bezie-
222
GüETHE UND DAS «DENKERISCHE WELTALTER»
223
NEUE ANGLEICHUNG AN DAS NORDISCHE
224·
GOETHES METAPHYSIK
226
«KLASSIK» ALS ERWACHEN ZUM SYSTEMATISCHEN DENKEN
15* 227
BEZIEHUNGEN ZUM KRITISCHEN IDEALISMUS
228
GOETHES ERKENNTNISMETHODE
229
GOETHES ERKENNTNISMETHODE
230
«DER VERSUCH ALS VERMITTLER»
keit seines Gottschauens aus. Aber sie bedeutet zugleich für die Er-
kenntnisvorstellung des neueren Menschen eine Umlagerung, deren
theoretische und praktische Auswirkung der Zukunft vorbehalten ist-
auch für den Bereich der eigentlichen Naturwissenschaften, von dem
aus er zuerst diese Einsichten gewann.
Die Goethesche Wissenschaftslehre, in der seine Weltanschauung
ihre methodische Verfestigung fand, wurde von ihm in einer Reihe
von Aufsätzen erläutert und verteidigt («Erfahrung und Wissen-
schaft» 1798, «Einwirkung der neueren Philosophie», «Anschauende
Urteilskraft», «Bedenken und Ergebung», «Vorschlag zur Güte», alles
1820, «Analyse und Synthese» 1829, u. a.), von denen einer, nieder-
geschrieben 1792, veröffentlicht zuerst 1823, aufschlußreich am Ein-
gang seiner neuen Entwicklung der neunziger Jahre steht: die Ab-
handlung «Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt». Ab-
gesehen von ihren kritischen Ausführungen überträgt sie die Lehre
von der Metamorphose auf das naturwissenschaftliche Erkenntnis-
verfahren. «In der lebendigen Natur», so lesen wir, «geschieht nichts,
was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns
die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als
isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß
sie isoliert seien; es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung
dieser Phänomene, dieser Begebenheiten?» Die Antwort lautet, daß
nur die Vermannigfaltigung jedes einzelnen Versuches weiterführe,
weil jedes der Phänomene mit unzähligen anderen in Verbindung
stehe, «wie wir von einem frei schwebenden leuchtenden Punkte sa-
gen, daß er seine Strahlen nach allen Seiten aussende». So wird hier
die Methode der Metamorphose von dem erkennenden Subjekte gefor-
dert. Nur dann «vermittelt» der Versuch zwischen Subjekt und Objekt,
·wenn das Versuchsverfahren den im Objekt gegebenen Verbindungen
und Abwandlungen nahezukommen sucht. Aber soweit auch diese Ver-
mannigfachung gehen möge, «die Disproportion unseres Verstandes zu
der Natur der Dinge» erinnert uns, wie es in dem Aufsatz heißt, zeitig
genug dar an, «daß kein Mensch in irgendeiner Sache abzuschließen»
vermöge. Also die «Vermittlung», die Erkenntnis sind immer nur an-
näherungsweise gegeben, der Rest muß gläubig verehrt werden.
231
«ERFAHRUNG» UND «IDEE»
232
KANTS ÄSTHETIK
255
KANTS SITTENLEHRE UND DIE KLASSIK
Daß endlich die Kautische Ethik, wie sie vor allem in der «Kritik
der praktischen Vernunft» niedergelegt ist, von der deutschen Klassik,
von Goethe, aber auch von Schiller in ihrer apriorischen Begründung
und ihren absurden praktischen Folgerungen nicht angenommen wer-
den konnte, wurde in anderem Zusammenhange erwähnt. Damit war
aber keineswegs das kategorische Sollen überhaupt für die Klassik
außer Kraft gesetzt. Dies beherrscht Schillers Leben und Dichten in
weitem Maße, und die Goethesche Entwicklung aus der Hochklassik
heraus hat sich ihm in der Zeit der Befreiungskriege und der politisch-
sittlichen Erneuerung als einem Gebot der Stunde mehr und mehr
angenähert. Eine Entscheidung zwischen sittlichem Sollen und sitt-
lichem Sein sucht seine gesamte Dichtung. Wie sehr auch seine Ethik
im Grunde mit seinem biologischen und morphologischen Denken und
mit seinen Ganzheitsvorstellungen zusammenhängt, wird seit der
italienischen Reise immer klarer. Das Tätigsein, diese Zugehörigkeit
der sittlichen Persönlichkeit, ist eine Funktion der durch Metamor-
phose und morphologische «Bildung» gekennzeichneten Entelechie
und hat weder seinen Anfang noch sein Ende in dieser Welt. Auch die
Goethesche Sittenlehre reicht mit ihrer Verlängerung in seine Ideen-
lehre hinein. Die Gegensätze zwischen Sein und Sollen treffen sich
als Polantäten in einem Letzten, Allgemeinen, Identischen. Das ist
der Sinn des gewaltigen sittlichen Austrages, den die «Wahlverwandt-
schaften» enthalten.
Goethe hat den weiteren Weg der idealistischen Philosophie mit
einer Anteilnahme begleitet, die mehr war als ein bloß theoretisches
Interesse, die einen Schutz oder eine Erweiterung des eigenen Lebens-
bereiches anzeigte. Fichte hat unter den drei nachkantischen idealisti-
schen Denkern am wenigsten vermocht, ihn in ein rechtes Verhältnis
zu sich zu bringen. Die unerbittliche Zuspitzung und Schärfe seines
kritischen Denkens, die bis zu äußersten Folgerungen getriebene Denk-
weise der spekulativen Entgegensetzung und wechselseitigen Bezüg-
lichkeil in einem Ich und Nichtich, dieser entschiedenste, über Kant
hinaus gesteigerte Idealismus, hat, bei aller Hochachtung für Fichtes
Persönlichkeit, Goethes Verständnis nicht finden können. Eine Reihe
bisweilen ironischer Äußerungen bezeugt, daß er sich gegenüber der
234
GoETHE UND FICHTE
235
GüETHE UND SCHELLING
256
ÜBEREINSTIMMUNG UND GEGENSATZ
257
DAS DICHTERISCHE
238
PHILOSOPHIE UND DICHTUNG
239
DICHTUNG UND NATURKUNDE
240
MORPHOLOGIE DER DICHTUNG GoETHES
Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige
Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir
leben, weben und sind», heißt es im Paragraphen 759 der «Farben-
lehre». Von diesem Ansatz aus kann seine gesamte Poesie unter den
von seiner Naturwissenschaft her bekannten Begriff der «Vermitt-
lung» gestellt werden. So, wie nur eine dem Metamorphosen-Charak-
ter des Objekts entsprechende Vermannigfaltigung des «Versuchs»,
also wiederum eine Metamorphose, annäherungsweise dem Objekt ge-
recht wird, so ist seine gesamte Dichtung ein verschieden abgewan-
delter Versuch, der Wirklichkeit Herr zu werden. Dieser von ihm im
Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Forschungen aus den Erschei-
nungen herausgelesene Begriff der «Vermittlung» hatte ja von Jugend
auf, ihm selber unbewußt, sein Wesen, Denken und Dichten durch-
waltet und in zahlreichen Gestalten seiner Dichtung früher und später
sinnfällige Verkörperung gefunden.
Mit dem Festhalten solcher Beziehungen der Goetheschen Natur-
lehre zu seiner Dichtung wird im besonderen das Wesen der deutschen
klassischen Poesie getroffen, deren Entstehung in der nachitalienischen
Zeit der naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Begriffs-
bildung zur Seite ging. Und wenn die von ihm jetzt erkannten Ge-
setze der Morphologie und Metamorphose in seinem Lebensaufbau und
seiner Poesie schon immer wirksam waren - nun bestimmten sie mit
Erkenntnisklarheit das Wesen seiner Dichtung und strahlten auf Ge-
halt und Form der Klassik aus. Welche greifbare Versinnlichung findet
in der klassischen Poesie nicht der von der Goetheschen Naturlehre
her wirksame Vorgang der «Polarität» und «Steigerung»! Wiederum
treffen in der Verwirklichung dieser beiden Gesetze Goethe und Schil-
ler, von verschiedenen Seiten kommend, zusammen. Was für jenen
wirkende Bestimmtheit der bildenden Natur war, ist für diesen ein
Bedürfnis seines von jeher gespaltenen und zur Einheit strebenden
Geistes, des dynamischen Charakters seines Daseins und seiner einer
steigernden Triebkraft unterliegenden Dichtung.
An keiner anderen Begegnung der Goetheschen Dichtung mit einem
«Stoffe» wird ihre morphologische Haltung so augenfällig als in jenen
Werken, die im näheren und entfernten Abstand die Erscheinung der
242
GOETHES REVOLUTIONSDICHTUNGEN
16* 243
GoETHES «MÄRCHEN»
244
DEUTUNGEN DES «MÄRCHENS»
245
DIE GATTUNG
246
DAS «MÄRCHEN» ALS «HOCHKLASSIK»
247
DIE «UNTERHALTUNGEN DEUTSCHER AUSGEWANDERTER»
sie die beiden Pole des Symbolischen und Allegorischen, das heißt: sie
lassen sowohl inneren «Sinn» erraten als auch verkörpern sie oft diesen
Sinngehalt in Personifikationen, die der Schaulust und Verständigkeit zu
dienen vermögen. Solche Dichtungwar für Goethe nicht zweckhafte und
gefällige Mache. Ein «Fest» hatte für ihn allemal eine« Bedeutung»,
der nur die Dichtung, und zwar die Dichtung symbolischen, rätsel-
haften und zugleich enträtselnden Charakters näherzukommen ver-
mochte. In solchen Dichtungen flossen Vergangenes, jetziger Moment,
Zukunftshoffnung und Zukunftswunsch zur Ausschöpfung der «Gegen-
wart» zusammen und suchte dieBedrohtheit inmitten der realen Um-
welt den Ausgleich durch die Kraft der verkündenden und auf das
Kommende hoffenden Poesie zu finden. Nicht umsonst stehen diese
Dichtungen im Raume der für die europäische Menschheit so bela-
steten Jahrzehnte. So ist es auch mit dem «Märchen». Auch das
«Märchen» ist eine Art Festspieldichtung. Der magische Ruf: «Es ist
an der Zeit» bezeichnet ebenso den enthüllenden und erfüllenden
Tag, wie dieser Tag in der «Pandora» heraufzieht. Aber noch näher,
weniger allgemein, tritt das «Märchen» zu den Erschütterungen der
Revolutionsepoche. Wie die beiden anderen Märchen Goethes «Der
neue Paris» und «Die neueMelusine» steht es bedeutend im Zusam-
menhange einer umfassenden erzählerischen Konzeption. Die «Unter-
haltungen deutscher Ausgewanderten» werden mit ihm nach dem
Gesetze der Polarität und Steigerung abgeschlossen und über sich selbst
hinausgeführt. Einmal wollte er sie, die sowohl in den Rahmengesprä-
chen wie in den eingelegten Novellen realistisch gebunden sind,
«durch ein Produkt der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche»
auslaufen lassen. Zum anderen: die typisch aufgeteilte Gesellschaft der
Rahmengespräche zeigt die nun schreckhaft deutlich werdende Ent-
zweiung der Menschen und die Unüberbrückbarkeit ihrer Partei-
meinungen. Die «gegenseitige Hilfeleistung der Kräfte» im « Mär-
chen» ist das gerade Gegenteil solchen Auseinanderstrebens. Endlich
sind die «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» bis zu der Über-
höhung durch das «Märchen» auf das sich steigernde Thema gestellt,
das vor dem Beginne der Novelleneinlagen angeschlagen wird: «die
entschiedene Neigung unserer Natur, das Wunderbare zu glauben».
248
DAS «MÄRCHEN» UND DIE ROMANTIK
Novalis, der diese Zeilen in den «Blumen» (1798) dem jungen preu-
ßischen Königspaar als dem idealen Menschenpaare darbrachte, ist im
Märchen von «Hyazinth und Rosenblütchen», das den Kern der «Lehr-
linge von Sais» bildet, dem Goetheschen «Märchen» nach Inhalt,
schlichtem Erzählerstil und naivem Ton sehr nahe. Und der Sinn der
Erzählung von Hyazinth, der durch die Welt irrend Isis, die Göttin
der Natur, sucht und, als er den Schleier von ihrem endlich gefun-
denen Bilde hebt, sich seiner geliebten, ehedem verlassenen Braut
gegenüberfindet-diese Verselbigung der Natur, der Geliebten und der
aus dem eigenen Inneren kommenden Wahrheit und Weisheit wäre
unter der geistigen Rundsicht Goethe-Schellings leicht unterzubringen,
ließe sich das alles bei Novalis nicht so jünglingshaft, so sehr als eigene
Findung und Prägung an, daß man Scheu trägt, es in strenge geistes-
249
BLUMENSYMBOLIK
250
N OVALIS' MÄRCHEN
251
GORTHE-KLASSIK UND NOVALIS-ROMANTIK
du her?'- ,Aus alten Zeiten.'- ,Du bist noch ein Kind'- ,Und werde
ewig ein Kind sein.' - ... ,Kennst du mich?' - ,Noch nicht.' - ,Wo
ist die Liebe?'- ,In der Einbildung'» usw. Der König bei Goethe aber
hatte die Schlange gefragt: «;No kommst du her?'- ,Aus den Klüf-
ten', versetzte die Schlange, ,in denen das Gold wohnt.' -,Was ist
herrlicher als Gold?' fragte der König. - , Das Licht', antwortete die
Schlange.- ;Nas ist erquicklicher als Licht?' fragte jener.- ,Das Ge-
spräch' antwortete diese» usw. Diese Wechselrede ist im Goetheschen
«Märchen» nicht die einzige Art ... Verwandt sind beide Märchen
endlich in dem Ziele: der Steigerung zu einer allbeglückenden Zu-
kunftsschau, die durch die Verbindung des liebenden Paares besiegelt
wird. Doch was besagt schließlich dieses und anderes gegen die ganz
bewußte Abkehr des Novalis von der Funktion, die das Goethesche
«Märchen» ausübt. Goethe sieht auch hier die Idee «in» den Dingen
und läßt sie durch die nach den Gesetzen des Möglichen geregelte
Wirklichkeit hindurchscheinen. Novalis begründet sein Märchen nicht
auf Vorgängen diesseitiger, der Erfahrung zugänglicher Art, um, wie
Goethe es tat, beherrscht und geschlossen, ein in sich folgerechtes
«kleines Drama» zu bilden. Die Grundlage des NovalisschenMärchens
ist nicht die gestalthafte Wirklichkeit und das ideellfolgerechte Ab-
rollen von Natur- und Lebensvorgängen. Sein Märchen beruht auf
dem naturphilosophischen Willen zu einer Entschleierung, die gleich-
zeitig wieder eine «hieroglyphische» Verhüllung ist und - dadurch
gerechtfertigt - auf der seltsamen Verschlingung von Vorgängen der
Phantasie und des Traumes, deren Aufeinanderfolge keinen empirisch
möglichen Gesetzen untersteht. «Ein Märchen», sagte er ja, «ist
wie ein Traumbild, ohne Zusammenhang. Ein Ensemble wunderbarer
Dinge und Begebenheiten, z. B. eine musikalische Phantasie, die har-
monischen Folgen einer Äolsharfe, die Natur selbst.» Auch hier ist der
Unterschied zwischen Goethe-Klassik und Novalis-Romantik der, daß
im ersten Falle überall der die Fäden festhaltende Gestalter erscheint,
im zweiten Falle der Dichter sich tragen und führen läßt von einem
durch ihn hindurchziehenden, auf den Saiten seines Inneren spielen-
den, gleichsam seinem Zutun entzogenen Gewoge. Auch hier ließe
sich das schöne Wort aus den nachgelassenen Tagebuchaufzeichnungen
252
DER «BÜRGERGENERAL»
255
«DIE AUFGEREGTEN»
254
«DAS MÄDCHEN VON ÜBERKIRCH»
255
«DIE NATÜRLICHE TocHTER»
256
FORM UND STIL
für eine Sprache! Alle Geister, die auf der Höhe einer idealistischen
Formgebung in unserer Literatur miteinander rangen, sind darin zu-
gleich entfesselt und gebändigt. Die Grundkomponente dieses Stils
wird gebildet durch die formale Haltung, die sich für «lphigenie» und
«Torquato Tasso» festgestellt hatte. Aber wieviel großformiger, küh-
ner, geschwungener, auseinandergezogener ist der Stil dieses Stückes,
das aus dem Zeitgeschehen erwuchs und auf das Zeitgeschehen ab-
zielte! Der Stilraum der «Natürlichen Tochter» ist erfüllt von Be-
wegung und kennzeichnet sich dadurch als barockverwandt. Aber er
empfängt sein Gesicht nicht nur durch den Blick von einem Standort
aus: sein Wesen ist die zusammengefaßte Mehrheit von Verwandt-
schaften, die hier zu einem Neuen von nicht leicht zu erschöpfender
Einmaligkeit zusammengefügt worden sind. An den Grenzen dieses
Stiles wartet ebenso die Rhetorik und Sententiosität der klassischen
Tragödie Frankreichs, die dem Dichter um die gleiche Zeit durch die
Bearbeitungen von Voltaires «Mahomet» und « Tankred » und durch
die Bemühungen der Weimarischen Bühne wieder nähergerückt war,
wie die Geistes- und Arbeitsgemeinschaft mit Schiller, der ihn auf den
Stoff verwiesen hatte - mit Schiller, dessen Ton aus mehr als einer
Stelle des Werkes herauszuhören ist. Warum hat Schiller den Stoff nicht
selber bearbeitet, wo doch ihm im Weimarischen Arbeitskreise die Für-
sorge für Drama und Theater und ihre zeitgegebenen Aufgaben ob-
lagen? Die Scheu vor der Gestaltung eines «romantischen» Frauen-
schicksals konnte dabei schwerlich im Spiele sein: denn in den dra-
matischen Bruchstücken der «Prinzessin von Celle», der «Elfriede»,
der «Gräfin von Flandern» stellte er sich ähnliche Aufgaben. Eher der
Umstand, daß das eigentliche dramatische oder tragische Problem an
dem Stoffe der «Natürlichen Tochter» dem Theatraliker Schiller nicht
sogleich einleuchten mochte. Er leitete die Memoiren der Stephanie-
Louise de Bourbon-Conti, diese unschätzbare Quelle für die Kenntnis
der französischen Zustände, also an Goethe weiter. Was unter dessen
Händen daraus wurde, war nicht eigentlich ein Werk dramatischen
Gehaltes und bühnenmäßiger Wirkung. Es wurde in seinem vollen-
deten ersten Teil, wie er selber fand, «eine Kette von lauter Motiven»-
was auf der Bühne kein Glück machen könne. Aber es wurde die Dich-
258
NACHBARSCHAFT ZUR ANTIKE
17" 259
GoETHES EPIK
Clemens und Bettina zeugen von dem erregenden Wesen dieser Frau.
So las die Romantik Goethes Werk noch unter Eindrücken, die ihr
wesentlicher waren als der einer rein künstlerischen Bekundung. Sie
las es unter dem Eindruck menschlicher Faszination und menschlichen
Schicksals. Für den späteren Betrachter aber steht «Die natürliche
Tochter» bei aller Unvollendung der großen Konzeption, deren Be-
ginn das Stück ausmacht, an einem Schnittpunkte da, in dem sich
trübes Zeitgeschehen und seine Überwindung durch den Geist und die
Form einer deutschen Klassik ebenso treffen, wie sich an ihm Klassik
und Romantik infolge des ihnen zugrunde liegenden gemeinsamen
Zeit- und Geschichtserlebnisses und der Verflochtenheit der Menschen
in den Gang der fortreißenden Ereignisse zusammenfinden.
Auch «Die natürliche Tochter» zeigt Goethes Begrenztheit, wenn
es sich um einen tragischen Aufbau und eine tragische Lösung han-
delt. Auch sie, die in der Exposition steckengeblieben ist und der Melo-
dramatik des Helenaspiels zur Seite ging, rückt der «epischen Kultur»
Goethes näher als dem Gattungs begriffe einer Tragödie. Es ist ein miß-
liches Unterfangen, Goethe auf Gattungsbegriffe der Dichtung fest-
legen zu wollen. Zum mindesten ist es so seit seiner italienischen Zeit.
Das erscheint zunächst als eine Widersinnigkeit. Doch so sehr die Klassik
Goethes und Schillers über die Grundgesetze und Wesenheiten der
Gattungen theoretisierte und aus solchen Erörterungen Forderungen
ableitete oder an sich selbst stellte, so wenig will namentlich die Goethe-
sche Ganzheit und sein übergreifend-gestalthaftesDenken und Dich-
ten sich in dem Fächerwerk poetischer Gattungen unterbringen lassen.
Die Gebilde seiner Dichtung waren neue Orientierungen auch auf
dem Gebiete der Gattungsbegriffe, wenn man schon mit Gattungs-
begriffen überhaupt tiefer in die Erkenntnis des schlechthin Dichte-
rischen eindringen zu können meint. Die Durchbrechung bestehender
oder geforderterGattungsformen, ihre Überwindung durch das Poetische
an sich in der Romantik war aus dem richtigen Verstehen der Goethe-
schen Poesie abgeleitet, wie denn die gesamte dichterische Erzeugung
innerhalb der Romantik und ihre Auffassung von Dichtung, ja ihre
Forderungen an sie nur so werden konnten, wie sie wurden, weil dies
"\Vollen in Goethes Erscheinung bereits «empirisch» geworden war.
260
DEUTSCHE FORM DES «REINEKE FUCHS»
261
GoETHES EPIK
diese erste unter den drei epischen Dichtungen, sie, die den deutsche-
sten Stoff behandelt, auch die deutschesten Hexameter enthält. Schon
bei« Hermann und Dorothea» begab sich Goethe unter das «Joch der
Prosodiken>, eben Vossens, Humboldts, Schlegels, mit dem Ergebnis,
daß die natürliche deutsche Rhythmik nach dem Gehör einer Metrik
auf dem Papier und nach den schulmeisterlichen Regeln antiken Vers-
messens Platz machte. Und in der «Achilleis» ist dieser Weg, der ins-
besondere die Frage der deutschen Spondeen anging, bis zum Ende
beschritten. Später hat er dann diesJochwieder abgeschüttelt und den
Dünkel der Herren Metriker höchst lächerlich gefunden:
Allerlieblichste Trochäen
Aus der Zeile zu vertreiben
Und schwerfälligste Spondeen
An die Stelle zu verleihen,
Bis zuletzt ein Vers entsteht,
Wzrd mich immerfort verdritJlen.
Laß die Reime lieblich flitJlen,
Laß mich des Gesangs genitJlen
Und des Blicks, der mich versteht!
262
«REINEKE FUCHS»
263
«HERMANN UND DOROTHEA»
264
«BÜRGERLICHES» UND «DICHTERISCHES»
265
ART DES SAGENS
«Zustände» sind nicht äußerlicher, sie sind auch innerlicher Art. Was
sich seit seiner Jugend an Gefühl für «Zustand» in ihm angesammelt
hatte, fand hier Ausdruck. «Zustände» sind in diesem Goetheschen
Sinne auch nicht lediglich ein Beruhendes, Festes, Währendes. Sie sind
ein Schwebendes und Schwingendes, auch ein Unausgesprochenes der
Menschen und Dinge. Und es ist kein Widerspruch, daß der enge und
in sich gefestigte bürgerliche Kreis die rechte Möglichkeit gab, solche
«Zustände» (und nicht nur die «Zuständlichkeit» ), zum faßlichen und
allgemeingültigen, aber niemals unedlen und platten Ausdruck zu er-
heben. Aber zum Ausdruck. Denn die Art des Sagens in« Hermann
und Dorothea» ist der vielleicht wesentlichste Teil des Werkes. Dieses
Sagen besteht in Fülle mit Umrandung, Gelöstheit in Begrenzung,
Behagen ohne Verzicht, sinnenhafter Einzelheit unter gedanklicher
Einordnung, sprachlicher Durchdringung der erscheinenden und sicht-
baren Welt in erklärender Tonart. So bekam das Ganze jene klingende
und helle, aber zugleich gütig unterweisende und beratende Stimme.
Man muß sie im Ohre haben als ein Erzeugnis des «Gut- Schönen»
der Klassik, um den Unterschied zur Vossischen «Luise» zu empfinden
und wiederum zu wissen, wieweit die Klassik von jeder bloßen «Dies-
seitigkeit» entfernt ist.
Hier bürgerlich, dort heroisch, hier die Gegenwart des Zeitalters
der Französischen Revolution, dort Achills Trauer um Patroklus, seine
aufflammende Leidenschaft für Polyxena, sein Ende als der Unter-
gang des Schönen und Hohen - das sind die scheinbar so entgegen-
gesetzten Welten, durch die « Hermann und Dorothea» und das so viel
mißkannte und schief beurteilte, 1799 entstandene epische Bruch-
stück «Achilleis » getrennt werden - sein volkstümlichstes Werk und
sein vielleicht unpopulärstes, weil immer noch zu sehr von außen ge-
sehenes. Goethes vorübergehender Glaube an die These Friedrich
August Wolfs, wonach die Homerischen Gedichte das Erzeugnis einer
ganzen epischen Schule seien, hatte die Wirkung, daß die Last des
einen Homer von ihm genommen wurde und er sich, wie die Elegie
« Hermann und Dorothea» es ausdrückt, als ein der Schar der «Home-
riden» Zugehöriger betrachtete. Welch ein Traum! Und welch eine
Selbstbescheidung liegt in diesem beinahe rührenden Sichbergen unter
266
«ACHILLEIS»
die Hülle des alles in sich ausgleichenden, alles heilenden und reini-
genden Griechentums! War es eine Tragik, insofern die deutsche Hoch-
klassik sich damit auf einem Wege befand, der von den nährenden
Wurzeln ihres eigenen Volkes immer weiter wegwies? War es eine
tatenabgewandte Flucht in einen so viel schöneren, mit idolhaften
Standbildern verzierten Bereich? Es war weder das eine noch das an-
dere, weil ein Eigentümlich-Deutsches, wie es als Erbschaft Winckel-
manns in aller deutschen Hingabe an die Antike weiterwirkte, sich
auch in der «Achilleis » durch die antikisierenden Gewolltheiten des
Stils, durch alle Attribute und Ornamente des Werkes hindurchringt -
vielleicht dem Dichter unbewußt oder gar wider seine Absicht. Schon
er selber sprach es aus, daß dieser Stoff vom Tode des Achill durchaus
«sentimental» sei. Neuere Forschung betont mit Recht, daß sich die
«Achilleis» aller homerischen Theorie zum Trotz infolge der zentralen
Bedeutung des Liebesmotivs als eine «Romantisierung» der griechi-
schen Heldensage auffassen lasse und daß Goethes Hauptquellen die
gleichen sind, die durch das ganze Mittelalter die Darstellung der Er-
eignisse und Gestalten des Troischen Krieges in Chroniken und Epen
bestimmt haben, von Benoit de Sainte-Mores «Roman de Troie» bis
Chaucer und bis in die Renaissance hinein. Aber nicht, daß die «Achil-
leis » die «romantische Überlieferung» der Trojasage widerspiegelt -
«romantisch» in jener geschichtlichen Bedeutung des Wortes für das
Nachantike, Mittelalterliche, die nach Herder und Wieland sich auch
die Brüder Schlegel und ihre Nachfolger als Literarhistoriker zu eigen
machten -, nicht dies nimmt ihr die klassizistische Starrheit, sondern
jene schmelzende Darstellung der Menschen und Götter, jene ver-
ständnisvoll gütige «Humanität», jene in ihr erkennbare seelische Er-
weichung, die ein Erbteil des optimistischen, eudämonistischen und
pietistischen Geistes des 18. Jahrhunderts ist. In die Goethesche Vor-
stellung vom Helden Achill mündet eine Linie aus, die auch über
Lessingsche «Humanität», insbesondere über seinen «Philotas» führt.
Der Heldentod ist in diesem Raume nicht das unberührsame und un-
erschütterliche Sichhingeben für eine selbstgesetzte oder vom Schicksal
gestellte Aufgabe, er wird nicht begleitet von einer germanischen
«Untergangsstimmung», die das Schicksal in freudiger Hoffnung auf
267
DER HELD
268
FRIEDRICH SCHLEGEL ÜBER ACHILL
dium der griechischen Poesie» die Art der Helden Homers geschildert
und damit geradezu ein Seitenstück zur Goetheschen Auffassung ge-
liefert. «In den Sitten seiner [HomersJ Helden», sagt er, «sind Kraft
und Anmut im Gleichgewicht. Sie sind stark, aber nicht roh, milde,
ohne schlaff zu sein, und geistreich ohne Kälte. Achilles, obgleich im
Zorn furchtbarer wie ein kämpfender Löwe, kennt dennoch die Tränen
des zärtlichen Schmerzes am treuen Busen einer liebenden Mutter;
er zerstreut seine Einsamkeit durch die milde Lust süßer Gesänge. Mit
einem rührenden Seufzer blickt er auf seine eigenen Fehler zurück,
auf das ungeheure Unheil, welches die starrsinnige Anmaßung eines
stolzen Königs und der rasche Zorn eines jungen Helden veranlaßt
haben. Mit hinreißender Wehmut weiht er die Locke an dem Grabe
des geliebten Freundes. Im Arm eines ehrwürdigen Alten, des durch
ihn unglücklichen Vaters seines verhaßten Feindes kann er in Tränen
der Rührung zerfließen.» «Nur der Grieche», so meint Friedrich Schle-
gel, «konnte diese brennbare Reizbarkeit, diese furchtbare Schnell-
kraft wie eines jungen Löwen mit so viel Geist, Sitten, Gemüt ver-
einigen und verschmelzen»; und er kommt zu dem Schluß, daß die
Homerischen Helden durch eine «freiere Menschlichkeit von allen
nichtgriechischen Heroen und Barden» unterschieden seien, daß der
Dichter nach einer «sittlichen Schönheit» strebe, «deren das kind-
liche Zeitalter unverdorbener Sinnlichkeit fähig ist». Und aus dem
Sinne für «sittliche Schönheit» dieser Art ergibt sich anderes: «der
bescheidene Reiz stiller Häuslichkeit vorzüglich in der Odyssee, die
Anfänge des Bürgersinns, und die ersten Regungen schöner Gesellig-
keit» - dies alles nicht die kleinsten Vorzüge der Griechen. Liest sich
dies nicht wie eine Anwendung aus der dem Homer nacheifern wollen-
den Epik Goethes? Und wo liegt das «wahre» Wesen des Griechen-
tums? Ist es vielleicht auch «in Wirklichkeit» zu suchen innerhalb
dieser von Herder und Goethe angewendeten Erkenntnis, die der
Antike alles Strenge und Ferne nahm und sie in holder, menschlicher
und mütterlicher Nähe sah? Die deutsche Geistesgeschichte muß sich
hier an den Spiegelungen genügen lassen und immer wieder dar-
auf verzichten, feststellen zu wollen, wie die Antike trotz ihrer Rück-
strahlung aus deutschem Geiste und deutscher Dichtung «eigent-
269
GOETHES ANTIKISIERENDE DICHTUNG NACH ITALIEN
lieh» gewesen sei, ja sie täte gut, den Sammelbegriff «die Antike»
oder selbst «Griechentum» für ihre Zwecke einige Zeit beiseite zu
lassen.
Von hier aus nun fällt ein um so wärmerer Strahl auf die gesamte
antikisierende Dichtung, die der nachitalienischen Zeit Goethes ver-
dankt wird. In diesen Lichtkegel rücken die «Römischen Elegien».
Die Fragen, die die Literaturgeschichte an sie richtete, gingen auf ihre
im wesentlichen in die Jahre 1788-1790 zu verlegende Entstehung,
auf die mögliche Scheidung älterer und jüngerer Schichten in ihnen,
auf die Wiedererstehung und Fortsetzung des italienischen Sinnen-
erlebnisses in dem jungen Weimarischen Liebesleben mit Christiane,
auf Goethes Verhältnis zur Gattung der Elegie, zumal zu den römischen
Elegikern Catull, Tibull, Properz und das Maß seiner Abhängigkeit von
ihnen, auf andere Einflüsse wie die des Neulateiners Johannes Secun-
dus und seiner «Basia», auf den zyklischen Zusammenhang der gan-
zen Reihe, auf die Verschmelzung des Lyrisch-Elegischen mit dem
Epischen, auf den Zusammenklang der verschiedenen Töne: des hym-
nischen, des erotisch-frommen, des schalkhaften in einem Melos. Inner-
halb der Geschichte der deutschen Klassik kommen auch hinsichtlich
der «Römischen Elegien» nur die Haltungen und Entscheidungen in
Frage, die auf das sinnlich-sittliche Ganze und seinen Ausdruck in die-
sen «Erotica Romana » hinauslaufen. Und zurücktreten muß alles,
was über das kreatürliche Behagen der biographisch- biologischen Ein-
heit Goethe und ihre Enthemmung im Süden wiederum gesagt wer-
den könnte. Auch die vielgerühmte «Bändigung heißer Sinnlichkeit»
in den römischen Elegien durch die angeblich marmorne, klassisch-
antikisierende Form erweist sich bei näherem Zusehen als eine Ver-
legenheits- und Übereinkunftsformel. Es dürfte ferner auch schwer
sein, diese Dichtung auf die Linie einer ästhetischen Theorie von
Shaftesbury-Winckelmann bis Herder und Karl Philipp Moritz fest-
zulegen. Und die in ihnen waltende «sittliche Schönheit» ist von der
«sittlichen Grazie» oder «moralischen Schönheit» der Art Wielands,
Hemsterhuis' oder Friedrich Heinrich Jacobis zu unterscheiden, weil
nicht gleichzusetzen mit der platonisierenden Vergeistigung des Be-
griffes bei jenen. Die hier herrschende sittliche Schönheit ist ein dem
270
DIE ELEGIEN
271
SINNLICHKEIT UND GEBILD
272
DIE NACHITALIENISCHEN DICHTUNGEN EINE EINHEIT
Verknüpfung fehlt, um wirklich und in der Tat Ein Werk zu sein, das
weit mehr von der didaktischen, als von· der lyrischen Art sein würde.
Mehrere der ohnehin schon verknüpften Reihen von Epigrammen
oder Massen von Elegien erhalten ihren gemeinschaftlichen Mittel-
punkt durch ihre Beziehung auf Italien. Es atmet in allen ein und der-
selbe Geist; es dürfte das Individuelle, welches ohnehin nur schwach
angedeutet ist, nur noch etwas mehr entfernt, es dürften die allge-
meinen Ansichten, welche einzeln überall hervorblicken, in der Meta-
morphose der Pflanze aber wie in einen Kern zusammengedrängt sind,
nur gleichmäßiger entwickelt und entfaltet sein, so würden wir ein
Lehrgedicht vor uns sehen, das uns, die Ansicht des Dichters von der
Natur und der Kunst, ihrem Leben und ihrer Bildung einmal voll-
ständig darstellend, von jedem anderen, älteren oder neuen Lehr-
gedicht durchaus verschieden sein, an Würde und Gehalt der Poesie
aber gewiß keinem andern größern dramatischen oder epischen Werke
unsers Dichters nachstehen würde. Ein solches Ganzes scheint uns in
diesen gehaltvollen Gedichten im Keime zu liegen, und dies offenbar
das Ziel zu sein, nach dem sie mehr oder weniger alle streben.» Unter
einem Lehrgedicht aber sei zu verstehen «eine Poesie der Wahrheit. ..
ohne dramatische Handlung, Leidenschaft und Verwicklung, ja ohne
alles Spiel der Phantasie, bloß durch die heitre und gediegene An-
schauung, durch die wahrhaft poetische Ansicht der Dinge». So hat
schon die spätere Romantik diese Goetheschen Poesien, in denen man
so oft lediglich die einzig-schönen dichterischen Früchte eines persön-
lichen Sichauslebens gesehen hat, in ein Ganzes zusammenfassen und
in ihrer Gesamtheit als Ausdruck überpersönlicher Ordnungen und
ihrer Rückwirkungen auf den einzelneuMensehen erkennen lassen wol-
len. Nur aus solcher Überwölbung und Zusammenfassung der schein-
bar so verschiedenartigen und gegensätzlichen, nachitalienischen,
«klassischen» Dichtungen Goethes eröffnet sich derWeg zumErfassen
der in ihr vorhandenen Einheit. Und nur so kann verstanden werden,
daß neben so vielen anderen und andersgearteten Dichtungen und
Schriften nun der Roman «WilhelmMeisters Lehrjahre» (1791 wieder
aufgenommen) in langer mühsamer Arbeit vollendet werden und
1795/96 erscheinen konnte.
Oft genug ist der große Lebensroman in seiner Stufung vom «Ur-
meister» bis zu den «Wanderjahren» mit der Rolle verglichen wor-
den, die der «Faust» vom «Urfaust» über den ersten Teil (1808) bis
zum vollendeten zweiten Teil in Goethes Dasein und Dichtung spielt.
Oft genug ist versucht worden, beiden Werken die Gemeinsamkeiten
abzufragen und ihre Entwicklung von einem jugendlichen «Erstlings-
abdruck» der Gedanken- und Gefühlswelt des Dichters zur abwägen-
den, bewußten künstlerischen Gestaltung und ideellen Ausrichtung auf
die gleichen Grundlinien zu bringen. In allgemeinsten weltanschau-
lichen Zügen gesehen, erscheint die Gemeinsamkeit einleuchtend
genug: der Aufstieg aus dem Zustande des dumpfen, dämonisch-ge-
triebenen « Irrens » zum Lichte des menschlichen Bewußtseins über
Aufgabe undZiel des tätigen Einzeldaseins inmitten der menschlichen
Gesamtheit, und dies auf Grund einer von innen heraus erfolgenden
Klärung und Reinigung, einer Entfaltung aus einem Kern, der als ur-
sprünglich gut, als vollendungsfähig angenommen wird. (Oder wer
möchte ernsthaft den den beiden Werken innewohnenden Gedanken
einer Herdersehen «Perfektibilität» bestreiten?) Gemeinsam auch ist
ihnen das große Maß an bewußt angewendeter späterer künstlerischer
Arbeit, an vor- und rückwärtsschauender gestalterischer Überlegung,
seit sie in der nachitalienischen Zeit wieder aufgenommen wurden. Sie
gehorchten beide dem Gesetz, das über dieser Epoche von Goethes
Schaffen waltete: dem Gesetz eines notwendigen, morphologischen
Werdens aus einer Urform zur vollentwickelten Erscheinung. Ein Ge-
setz, das mit dem Willen und der Pflicht, in die Zeit und Öffentlichkeit
hinein Kunde zu geben, nicht im Gegensatz stand. Wenn nicht aus
anderen Gründen, so muß wegen dieser inneren Notwendigkeit des
Wachstums die verbreitete Meinung eingeschränkt werden, daß Goethe
vor allem den Antrieben, ja dem Drucke Schillers folgte, als er die Ar-
beit am «Faust» wieder aufnahm und ihm durch inhaltliche und for-
male Regelung einen neuen inneren Zusammenhang und durch die
vermeintliche Unterstellung unter eine «Vernunftidee» eine typisch-
symbolische Bedeutung gab. Das letztlich «lnkalkulable», das Goethe
den« Lehrjahren» wie dem «Faust» zuschreibt, hat vermocht, daß der
Roman, der innerhalb der Klassik seine Form gewann, von der Ro-
274
DAS «lNKALKULABLE»
18* 275
«BILDUNGSROMAN»
erinnern mögen, daß von Fielding, Scarron und Lesage, ja von dem
spanischen Alfarache und Lazarillo an, des Don Quichotte nicht einmal
zu erwähnen,Männer, die zum Teil mit der besten und edelsten Ge-
sellschaft ihrer Zeit sehr wohl bekannt waren, und in ihr lebten, doch
die wunderlich gemischte, oder gar die schlechte, als günstiger für
komische Abenteuer und vielleicht überhaupt als reicher für die Phan-
tasie mit Absicht gewählt haben». Aber daß die Lehrjahre wahrhaft
«Epoche» machen konnten, daß die Deutung und das Verständnis des
Werkes sich in einer Vielfalt von Strahlen brechen konnten, liegt nicht,
oder doch nur zu einem geringeren Teile, an der moralischen oder ge-
schmackbedingten Stellung, die man zu den Menschen des Romans
und ihrer sozialen Umgebung einnehmen könnte. Der Grund liegt
wiederum in dem « Inkalkulablen » des Ganzen. Dies führt zu der
Frage, warum das Werk, dessen Gesamtkonzeption und jugendliche
Ausbildungsstufe früher erörtert worden sind, nun erst als «Bildungs-
roman» die Weltschau, das Lebensideal, das Kunstdenken der Dreiheit
Goethe-Schiller-Frühromantik in sich enthielt, ja darüber hinaus den
Ausgang jeder Auseinandersetzung oder Verständigung über das Ver-
hältnis des Einzelnen zur Kulturgemeinschaft herzugeben vermochte.
Jetzt erst wurden die «Lehrjahre» wieder aufgenommen und wur-
den äußerlich fertig; daß sie innerlich nicht fertig sind, liegt nicht nur
an der Schwierigkeit des Umgusses und der vVeiterführung der alten
Fassung, die dem Dichter bereits fremd geworden war; nicht nur an
dem Eindruck, den gewisse Brüche und Sprünge arbeitstechnischer
Art bei dem aufmerksamen Leser hinterlassen; nicht nur an mancher
Überraschung und Unerwartetheit des Geschehens in ihnen: sondern
daran, daß sie nicht die Geschlossenheit eines auf eine kahle Idee ge-
zogenen Dichtwerkes besaßen und besitzen konnten, sondern vielmehr
die Unendlichkeit der Perspektive und die Unbegreiflichkeit und Un-
ergründlichkeit, die dem Leben als solchem eigen sind. Dies meinte er
in dem Gespräche mit Eckermann vom 18. Januar 1825, wenn er
sagte: «Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht
einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das
unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgespro-
chene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist.» Kein Zweifel, daß
276
«LEBENSROMAN»
277
«SCHÖNE SEELE»
Ganzen, als eine «wiederholte Spiegelung», wie sie Goethe liebte, die
Lebenskunst, der der Roman zustrebt, zusammengefaßt haben. Die
«schöne Seele» bekennt als ihrer Selbstprüfung letzten Schluß, «daß
ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe, daß meine Handlungen
immer mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkom-
menheit gemacht habe, daß ich täglich mehr Leichtigkeit fühle, das
zu tun, was ich für recht halte ... ». «Ich erinnere mich», heißt es
endlich, «kaum eines Gebotes; nichts erscheint mir in Gestalt eines
Gesetzes; es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht führt;
ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiß so wenig von
Einschränkung als von Reue.» Diesegeforderte oder erzielte, von innen
heraus selbsttätige Übereinstimmung zwischen Trieb und Vernunft ist
das lebenskundliehe Motiv, das sich durch das ganze Buch zieht und
seine Vorbildlichkeit für den neueren Menschen nicht eingebüßt hat-
eine sittliche Anwendung der erkenntnistheoretischen Verselbigung
von Erfahrung und Idee, die für die nachkantische Weltanschauung
Gpethes bezeichnend geworden ist. Diese völlige Übereinstimmung
zwischen Trieb und Vernunft ist das Kennzeichen einer «schönen
Seele» im Sinne der deutschen Klassik. Schillers Abhandlung «Über
Anmut und Würde» (1793) hatte, indem sie die Enge von Kants
Pflichtbegriff verließ und sich auf die sittliche Grazie des harmoni-
schen Menschen im Sinne Shaftesburys stützte, vorgetragen, «was
man unter einer schönen Seele verstehet » : «Eine schöne Seele nennt
man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Men-
schen endlich bis zu einem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die
Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft,
mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen ... In
einer schönen Seele ist es ... , wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht
und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Er-
scheinung.» Wie immer die Vorgeschichte und die Herkunft des Wortes
und Begriffes «Schöne Seele» und wie verschieden da die Abschat-
tungen sein mögen- «WO im deutschen Geistesleben Plotinisches sich
auswirkt, erscheint der Ausdruck», so hören wir-: der Gedanke der
schönen Seele in jener Schillersehen Fassung ist ein Grundpfeiler der
Goethe-Schillerschen Klassik. Ein kaum genug zu bestaunendes Ereig-
278
FüHRUNG UND GELEIT
nis bleibt es, daß diese Forderung und Erkenntnis von zwei entgegen-
gesetzten Punkten her gewonnen wurden, das heißt: daß Leben und
Denken zu ihnen hinführten. Es ist bislang nicht erkennbar, welche
Wechselwirkung auch hier zwischen den beiden Klassikern bestanden
hat. Soviel aber ist sicher, daß dies Ziel, das der «schönen Seele», erst
in der Fortsetzung des Romans und im Kreise der neuen Personen, der
verschieden abgewandelten und gegeneinander gestellten Vertreter
rechter Lebensbefähigung: Lotharios, Thereses, Natalies, des Oheims,
des Abbes, sichtbar wird. In ihrem Umkreise aber ist Natalie das
reinste Beispiel dieser «schönen Seele». Auf Schillers Rat wurde das
ausdrücklich und jedem eingäuglich hervorgehoben. «Natalien», heißt
es im fünften Kapitel des achten Buches, «kann man bei Leibesleben
selig preisen, da ihre Natur nichts fordert, als was die Welt wünscht
und braucht.» «Unerreichbar wird immer die Handlungsweise blei-
ben», läßt der Dichter den Lothario mit betonter Absichtlichkeit von
seiner Schwester sagen, «welche die Natur dieser ,schönen Seele' vor-
geschrieben hat. Ja sie verdient diesen Ehrennamen vor vielen an-
deren, mehr, wenn ich sagen darf, als unsre edle Tante selbst, die zu
der Zeit, als unser guter Arzt jenes Manuskript so rubrizierte, die
schönste Natur war, die wir in unserm Kreise fanden. Indes hat Na-
talie sich entwickelt, und die Menschheit freut sich einer solchen Er-
scheinung.» Ist es nicht auch hier bei Goethe so, daß er die höchste
menschliche Entvvicklung nur einer Frauengestalt zusprechen zu müs-
sen glaubte? Der Frau, der Wilhelms weitere «Bildung» obliegt.
Denn er, der im Urmeister noch selbständig und resolut vorwärts-
strebt und zugriff, wird in den Lehrjahren- und über den Raum des
Werkes hinaus - unter Führung und Geleit gestellt. Er wird, ihm sel-
ber unbewußt, in so starkem Maße Gegenstand geheimer Lenkung
und Erziehung, daß es scheinen könnte, als sei seine Selbsttätigkeit
und sittliche Handlungsfreiheit vom Dichter allzusehr eingeengt. Da-
hinter steht mehr als jene Auffassung von den Aufgaben und der Gat-
tung des Romans, die, im siebenten Kapitel des fünften Buches for-
muliert, dem Roman der Romantik das Recht zu geben schien, ihre
Romanhelden ganz von Schicksal, Abenteuer und Dunkel beherrscht
sein zu lassen- jene an die scharfen Abgrenzungen, wie sie die Klassik
279
ALLEGO'RIE DES SITTLICHEN LEBENS
280
KLASSISCHE UND FRÜHROMANTISCHE BILDUNGSIDEE
.281
DER BAU DER «LEHRJAHRE»
282
DIE «BEKENNTNISSE EINER SCHÖNEN SEELE»
283
DIE SPRACHE DER «LEHRJAHRE»
284
«WILHELM MEISTER» UND DIE ROMANTIK
weit weniger der Ausdruck einer individuellen Seelenlage, als daß sie
ein überindividuelles Weltbild spiegelt. Diese Sprache ist die Sichtbar-
lichkeit der Ideen, die Schiller im 15. der Briefe «Über die ästhetische
Erziehung des Menschen» entwickelt: sie ist eine Vereinigung des
Sachtriebes mit dem Formtriebe, das ist ein « Spieltrieb », der die
«lebende Gestalt» zum Gegenstande hat. Diese Sprache enthält, mit
Schiller zu sprechen, «die Einheit der Realität mit der Form, der Zu-
fälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit». So
erfüllt diese Sprache sittlich-künstlerische Forderungen der Klassik so-
wohl aus den Ideenbildungen Schillers als aus dem Inneren des Gegen-
standes und der schöpferischen Persönlichkeit Goethes heraus.
Der « Wilhelm Meister» ist eine Art Weltbibel für die deutsche Ro-
mantik geworden von ihrer Frühzeit bis in ihre letzten Ausläufer und
für alle späteren Romanschöpfer, die irgendwie das in der klassisch-
romantischen Epoche angeschlagene Thema der Persönlichkeitsent-
wicklung weiterzuführen suc}:tten. Er hat die romantische Phantasie
geweckt und vorgetrieben wie keine. andere Dichtung der gleichzei-
tigen und vorangegangenenLiteratur.Er hat denromantischenLebens-
drang wie das technische Ausdrucksvermögen des romantischen Ro-
mans in bestimmte Richtungen gewiesen, dem erzählerischen Aus-
drucksschatz gewisse Situationen, gewisse Farben, gewisse Motive ge-
liefert, deren Verwertung durch mehr als ein Menschenalter hindurch
als ein merkwürdiger Beitrag zu dem Kapitel der literarischen Nach-
ahmungen und Beeindruckungen erscheinen könnte, wenn nicht hin-
ter den Gegebenheiten auch hier die abweichende Erfülltheit neuer
Generationen sichtbar würde. Und übrigens wurden mit und neben
dem «Meister» die während der romantischen Hochkurve erscheinen-
den «Wahlverwandtschaften», sieht man von ihrer antiromantischen
ethischen Spitze ab, mit dem seinen Trieben verfallenen Charakter
Eduards und ihren vielfachen Beziehungen zum Okkulten, zur «Nacht-
seite der Natur», ebenso wie die im All sich auflösende Gefühlsseligkeit
Werthers gleichfalls in den dichterischen Raum der Romantik auf-
genommen. Doch es ließe sich auch darüber reden, wenn man den
romantischen Roman vor allem im Zeichen Jean Pauls sieht, zumal
Friedrich Schlegel in dem «Brief über den Roman» im «Athenäum»,
285
FRIEDRICH SCHLEGEL UND «WILHELM MEISTER»
286
NüVALIS UND «WILHELM MEISTER»
287
KLASSISCH-ROMANTISCHES IM «ÜFTERDINGEN»
288
GöRRES UND «WILHELM MEISTER»
vorbringt, ermöglichen es, daß man mit einem Blick des Einen und
des Doppelten inne wird, und wohltuend inne wird. Die Geisteswissen-
schaft scheint in solchen Fällen ausweglos zu sein. Doch liegt nicht in
solchen Gegenspielen auch wieder ein Reiz für jeden, der sich nicht
mit bloßen Worten und mit Abstraktionen begnügen mag? Wieder
winkt und belohnt hier das vielfältige «Leben» als verbunden mit
jeglichem «Geist». Auch, wenn man am Faden der Wirkung des
« Wilhelm Meister» und an der Entwicklung des romantischen Ro-
mans dies Spiel weiter überschaut, erscheinen Vielfalt und Spannung
als die Symptome der Bewegung, die «Romantik» geheißen wird.
Josef Görres- der damit den Goethe-Gegnern der späteren Jahr-
zehnte Waffen lieferte - bewegt sich nicht nur auf der Linie von No-
valis, wenn er in den «in sich zusammengedrückten, laut- und ton-
losen Gestalten» des «Wilhelm Meister» jene Idealität und jene dich-
terische Aufhöhung vermißt, die den Menschen des geliebten Jean
Paul eigen sind. Görres gehört zu jener Front um 1800, die zu Herder
und Jean Paul gegen die Weimarer Klassik steht. Wem Jean Pauls
Frauengestalten «zu zart zum Greifen» sind, denen rät er, sich «ihre
Weiber» aus dem « Wilhelm Meister» zu wählen. Ähnlich schreibt
Bettina im «Briefwechsel Goethes mit einem Kinde», alle Frauen im
«Wilhelm Meister» seien ihr zuwider, und sie möchte sie alle zum
Tempel hinausjagen. Nur Mignon, so heißt es einmal in einem Briefe
an die Günderode, liebe sie, während die anderen in dem Buche ihr
gleichgültig seien. Solche Übereinstimmungen in Sympathien und
Antipathien sind konstitutive Merkmale einer gleichen Lebensrich-
tung, nicht literarische Abhängigkeiten oder Parallelen. Nur ganz
nebenbei wird die «Kunst der Darstellung» von Görres erwähnt. Die
Goethe-Verneinung des für den Geist der späteren Romantik nach an-
derer Richtung so wesentlichen Genossen des Heidelberger Kreises ist
der am stärksten negative Posten innerhalb des Einheitswertes, den
man der im übrigen goethetreuen jüngeren Romantik beilegen kann.
Sie zeigt an einem typischen Fall, wie die auf die großen « Objekti-
vationen» der Mythe, des Volkstums und der Geschichte gegründeten
Gedankenbildungen mit dem individuell bedingten Kunstwollen der
Klassik sich nicht vertragen.
290
<MTILHELM MEISTERS» FORTWIRKUNG
19* 291
DIE «KUNST» UND DAS «DICHTERISCHE»
einander folgen. Freilich betraf das den Aufbau, nicht die musikali-
schen Urelemente. Deutsche Romantik wird gar zu gern und gar zu
leicht mit dem Worte des «Musikalischen» abgefertigt und verunklärt.
Schließlich die Liedeinlage : in «Wilhelm Meister» steht sie, sparsam
gebraucht, im Dienste des Wunderbaren und Abenteuerlichen und der
Schicksalsdeutung und ist gerade den Schichten des Werkes fremd, die
die letzten Bildungsergebnisse übermitteln. In den romantischen Ro-
manen wird sie zu einem Durchbruch lyrischer Hochflut und zu dem
beliebtesten Mittel, die Stimmung des Fließenden, Gelösten, Lösenden,
im Unendlichen Verschwimmenden zu erregen, auf die der romantische
Roman immer hinaus will. Man empfindet da zwischen Erzählung
und Lyrik nicht mehr das Sichabgrenzenzweier Bereiche, sondern nur
Potenzierungen des Urgrundhaft-Poetischen durch die lyrische Gat-
tung und Form.
Was unter dem Anhauche der Romantik letztlich mit «Wilhelm
Meister» geschah, besser: was an seine Stelle gesetzt wurde, erklärt
sich im ganzen wie im einzelnen aus der Unbedingtheit und Unbe-
grenztheit ihrer Anschauung von Kunst und Dichtung. Für die Ro-
mantik besaß «Kunst» keinen Funktionscharakter im Rahmen der
Anforderungen, die das Diesseits stellte. Kunst und Dichtung waren
ihr Wege zur Erlösung von der Welt. «Romantiker» reinsten Wassers,
wie es die Goethes Dichtung in ihrem Sinne deutende Bettina Bren-
tano, wie es Philipp Otto Runge waren, lassen hierüber keine Zwei-
fel. «<ch wollte», so schreibt Runge aus ehrfürchtig-demütigem und
hingegebenem Gemüt, «es wäre nicht nötig, daß ich die Kunst treibe,
denn wir sollen über die Kunst hinaus und man wird sie in der Ewig-
keit nicht kennen.» Bettina aber glaubt an ein Sichoffenbaren der
Poesie ohne feste Grenzen der Form in jedem «poetischen» Menschen.
«Daß ich dir sage», gesteht sie der Günderode, «nicht die Sprache ist
zwischen mir und dem Licht, nein, es ist das Licht unmittelbar, es
nimmt meine Sinne auf- nicht durch die Sprache mein Geist! -Drum
kann ich nicht dichten. Dichten ist nicht nah genug, es besinnt sich
zu sehr auf sich selber.» «Du kannst nicht dichten», bedeutet ihr die
Günderode, «weil du das bist, was die Dichter poetisch nennen.» Die-
sem «Poetischen» schlechthin näherte sich der romantische Roman-
292
«BILDUNG» UND «GEIST»
293
«ORGANISATION» ZWISCHEN GüETHE UND SCHILLER
sehen Geistes, als Einbau in ihn, als literarisch fixierten Ausdruck des
klassischen Wollens rückt es nun an seinen Platz. Eine monographische
Zergliederung der klassischen Einzelleistungen unter dem Zeichen von
Philosophie, Kunstlehre, Dichtung liegt nicht auf dem Wege, der hier
begangen wird. Die zahlreichen Untersuchungen über Schillers ästhe-
tische Schriften und seine spätere Dramatik, die immer mehr in
eine dialektische Unterschiedlichkeit der Standorte sich auflösenden
Haltungen gerade dem späten Schiller gegenüber, haben die Ausschau
auf die Gebilde, um die es sich handelt, als auf eine Einheit im Zer-
streuten mannigfach verlorengehen lassen. Solche Sicht auf sie wieder-
zugewinnen, ist hier Aufgabe und Ziel eines Schlußwortes zur deut-
schen Klassik als einer notwendigen und einmaligen Erscheinung un-
serer geistigen Geschichte.
Zwischen Schiller und Goethe war jene eigentümliche «Organi-
sation» zustande gekommen, die, auf Zweiheit und Einheit beruhend,
in ihrer Geschlossenheit und gesammelten Wirkung nach außen, in
der Reinheit ihrer Absichten und in der Höhe ihrer Denklage kein
Gegenbeispiel innerhalb der Weltliteratur findet. Ohnegleichen das
Schauspiel, das die «Xenien» geben. Das Urteil, das in ihnen die
Mittelmäßigkeit traf, lag einzig bei den geistigen Verbündeten selber:
in ihrer stillschweigenden Übereinkunft und in einer Symbiose, die in
Angriff und Abwehr keine Meinungsverschiedenheiten kannte. Man
folgte gewissermaßen einem Ablehnungsinstinkte, der wiederum an
das fast Vegetative, an den Kristallisationsvorgang erinnert, als der
das Zusammengehen beider erscheinen könnte. Diese epigrammati-
schen Distichen der «Xenien», diese dem Römer Martial den Titel
entnehmenden, ironisch-satirischen « Gastgeschenke», sind sowohl in
der weit umfänglicheren Masse, wie sie, das Strafende mit dem Lieb-
lichen mischend, die Handschriften der Jahre 1795 und 1796 aufbe-
wahren, wie in den 414 Nummern, die nach zielbewußter Sichtung
Schillers Musenalmanach für 1797 brachte, in jedem Sinne eine Ge-
meinschaftsarbeit. Doch die Gemeinsamkeit der Gesinnung wie der
Ausführung besagte nicht, daß nicht Geist und Sprache des einen wie
des anderen sich in den einzelnen Nummern hätten unterscheiden
lassen. Wiewohl ihr unmittelbarer Anlaß durch die vermeintlichen
294
«XENIEN»
295
«VENETIANISCHE EPIGRAMME»
296
PoLEMISCHE ToTALITÄT
zosen bis an den Thüringer Wald heranstreiften, mit der Taktik der
jungen Generale der Republik die Gegner überfallen, da sie keines
Überfalls gewärtig waren».
Aber die «polemische Totalität» des Xenienkampfes ließ, wenn sie
aufräumte, auch neues Leben in Sicht kommen. Der Angriff galt nicht
einer Unsumme einzelner Opfer, darunter kleiner, unlohnender, nich-
tiger, vom Strome der Entwicklung alsbald weggespülter. Über man-
cher Lahmheit des Witzes, manchem Krampf des Gedankens, man-
cher Gewaltsamkeit und Holprigkeit der Form, manchen Wieder-
holungen und überhaupt gegenüber dem Vielzuvielen sollte die aus-
gesprochene und unausgesprochene Absicht nicht verkannt werden,
jedem Gegner, so klein er sein mochte, eine Beziehung auf ein Bedeut-
sameres zu geben und schon durch die Einordnung sichtbar zu ma-
chen. Heute mag man verstehen und billigen, daß durch Schiller diese
Epigramme eine einheitliche kriegerische Heerschar wurden: daß die,
wie er sagte, «philosophischen und rein poetischen, kurz die unschul-
digen Xenien» eine besondere Abteilung als «Votivtafeln» bildeten.
Man begreift, daß dieser Almanach in einen «Mythus» einging eben
als der «Xenienalmanach»; daß diese «Gewappneten» sich vor die
übrigen Gaben reifster Kunst, Weisheit und Schönheit stellten, die er
enthielt: «Alexis und Dora», «Das Mädchen aus der Fremde», vor
allem Schillers Elegie «Pompeji und Herkulanum». Gerade sie zeigt
wie nur irgendein anderes Gebilde Schillers Fähigkeit, den Goethe-
schen Ton täuschend zu treffen. Wahrlich, wenn sie die «Xenien» zu-
sammenlegten, machten sie nicht aus der Not .eine Tugend, sondern
folgten dem inneren sanften Gesetze einer wechselseitigen dichteri-
schen und denkerischenAnpassung, das zu befolgen ihnen auch sonst
leicht fiel, so ungewöhnlich und selten es an sich sein mag.
Man konnte von den «Xenien» eine neue Epoche datieren. Der ge-
waltige Aufruhr, den sie erregten, samt allen Gegenäußerungen zeigte
die Tiefe der ·wirkung und die psychologische Bereitschaft des Augen-
blicks, auf den sie trafen. Der neue Aufbruch der Literatur, den die
Romantik kenntlich zu machen beliebte, wäre nicht möglich gewesen
ohne ihren vernichtenden und die Bahn freimachenden Vorantritt.
Wer alsbald mit dem naturphilosophischen und naturwissenschaft-
297
GESCHLOSSENHEIT DEUTSCHER «KLASSIK»
liehen Denken und Dichten der Romantik und mit der ihr eigentüm-
lichen Haltung einer Jugendbewegung so eng verbunden sein sollte
wie der damals von Dänemark in die geistige Gärung Deutschlands
hineingezogene Henrik Steffens muß als gewichtiger und eine ganze
Generation vertretender Zeuge gelten. «Ich sah», so heißt es in seinen
Erinnerungen, dieser unerschöpflichen und anschaulichen Spiegelung
einer Zeitwende, «ein altes, in hergebrachten Formen Erstarrtes sich
mir abschälen, vertrocknet und verwelkt hinfallen, um einer neuen
Gestaltung Platz zu machen; und es war mir eine wichtige Aufgabe,
mich in diesen neuen Verhältnissen geistig zu orientieren.»
Die dichterisch-denkerische Vergesellschaftung zwischen Goethe und
Schiller, dies Gewebe, in dem die Fäden hin und her liefen, da-
neben einige weitmaschigere Zugehörigkeiten von Männern wie Wil-
helm von Humboldt, Heinrich Meyer und einigen anderen, entfern-
teren und vorübergehenden, dichterischen und theoretischen Gefolgs-
leuten-dies macht das strukturelle Gebilde der deutschen «Klassik»
aus, dem man eine andere Gruppenbildung in einer unter sich wieder
gegliederten deutschen «Romantik» gegenüberzustellen vermag. Die
Ausstrahlungen dieser klassischen Gruppenbildung allein können den
Gegenstand einer Darstellung bilden, wenn Klarheit, Richtung und
Übersicht gewonnen werden sollen für ein Gebiet, das nahezu unüber-
sehbar zu werden droht, es sei denn, daß man den Worten und Be-
griffen wieder einen strengen, geschlossenen und wesensbezüglichen
Sinn beilegt.
Wenn dem «Xenienalmanach» der «Balladenalmanach» folgte,
wenn auch dieser durch die Zeiten getragen wird unter einem geflü-
gelten Titel, der seine Berechtigung aus· der auch hier gleichge-
richteten Anspannung beider Klassiker empfing, wenn diese beider-
seitigen Gaben wiederum auf die Geschlossenheit eines ideellen Ver-
haltens hindeuten, wenn diese Schicht des Almanachs als die sein
Wesen begründende in die Rückschau der Folgezeit und des empfan-
genden deutschen Publikums einging - so muß eine Frage vor allem
gestellt, eine Absicht geklärt werden: Warum bot sich eben die «Bal-
lade» gleichsam als Werkzeug für Goethe und Schiller, um dem Nega-
tiven und der Kritik «nach dem tollen Wagstück der Xenien» eine
298
BALLADEN
299
NEUER BALLADENTYP
500
«WELTANSCHAUUNGSBALLADE»
rungen entsprach, die die Zeitsituation stellte, und dennoch das be-
sondere schöpferische Vermögen eines jeden der beiden Großen zum
Ausdruck brachte. Nie hätte programmatisch-theoretische Überlegung
erzeugt, oder so erzeugt, was hier in einem Luftraum wahrhaft «er-
blühte», der von dem «Stoff» eines gemeinsamen Kunstwollens und
Kunstdenkens durchdrungen war. Dieser «Stoff», durch den diese Bal-
ladendichtung lebte, ward gebildet durch die hier in bestimmter Rich-
tung wirkende «klassische» Weltanschauung. Wenn Goethe schreibt,
nach den «Xenien» müßten sie sich nur «großer und würdiger Kunst-
werke» befleißigen, wenn er wünscht, das sie ihre Naturen jetzt «in
die Gestalten des Edlen und Guten» umwandeln möchten, wenn er
meint, man müsse die bisherige deutsche Balladenform mit würdi-
geren und mannigfacheren Stoffen und mit einem tieferen Gehalt
füllen, so hat damit ein auf das Gesamt dieser Balladen gehendes Deu-
ten seine Weisung empfangen. Es handelte sich für die beiden darum,
gewisse grundstützende und allgemeingültig zu wirken bestimmte Er-
kenntnisse und Empfindungen des Schönen und Guten in dichterische
Anschauung umzusetzen. Dies vermochten mit gleicher Erfolgssicher-
heit nicht die Großformen der Poesie, Epos und Drama. Dies ver-
mochte bei dem stumpfen und trägen Publikum, wie es sich ihnen er-
wiesen hatte und durch die «Xenien» abgestraft worden war, jene
verhältnismäßig leicht eingängliche, rasch zu erfassende, sofort zu
überschauende dichterische Kleinform, als die sich eine neuge-
staltete Balladengattung bot. Nur sie schien geeignet, das schlechthin
Dichterische mit dem Weisheitsvollen gedrängt zu vereinigen und so-
wohl eine Höhenlage einzuhalten als für Publikum und Volk ein le-
bendiger Besitz zu werden. Diese nun geschaffene Balladengattung
war nicht, konnte nicht sein eine assoziativ sich gebende, auf äußere
und innere Dynamik gestellte, sprunghaft fortschreitende «Handlungs-
ballade» desEdward-Typs. Sie konnte nur eine diskursiv durchgeformte
«Weltanschauungsballade » sein-'iVeltanschauungsballade sowohl vom
Schaffenden wie vom Geschaffenen her gesehen. Die Auslegung, die
Goethe 1821 in <<Kunst und Altertum» seiner Grafenballade und der
Ballade dieser Art überhaupt gegeben hat, gewährt solcher Auffassung
eine feste und tiefsinnig-klare Stütze. Danach bedient sich der Bal-
301
DIE BALLADENDICHTUNG ALS «KLASSIK»
502
DER «DUNST- UND NEBELWEG»
nis der Steigerungsform und der Auslese, die hier gegenüber der Breite
und Fülle des geschichtlichen Geschehens «musterhafte» Geltung ge-
wannen.
Doch auch hier hielten die beiden «Klassiker» die Formen ihres be-
sonderen Seins gegeneinander «rein»; auch hier jene Doppelgipfligkeit
auf gemeinsamem Grunde, die eine Ganzheitsformation darstellt. In
den Goetheschen Balladen wirken letzte Geheimnisse schlechthiniger
Poesie - der Poesie, die aus seiner Individuation und seinem Mensch-
lichen kam. Er verfuhr bei der Verwendung des Wortes und Begriffes
«Ballade» weitherzig. Oder wer vermöchte die Gedichte, die in der
Abteilung «Balladen» vereinigt sind, auf einen balladesken « Gat-
tungsbegriff» zu bringen, ohne ihren Schmelz zu versehren! Es eint
sie aber ein Deutsch-Heimatliches und -Eingängliches im Singen und
Sagen von Elementarmächten und Elementarwesen. Ihr Raum ist
nicht der der antiken Sagenwelt und Mythologie. Sie verlangen keine
bildungsmäßigen Voraussetzungen. Sie erzählen von Dingen und Vor-
gängen, die auf die Phantasie wirken. Sie sind - woher immer ihre
Stoffe geschöpft sein mögen - wahrhaft volksnahe, weil alles, was in
ihnen berichtet wird, von einem jeden erlebt sein könnte, der sich ein
ursprüngliches Fühlen und Vorstellen und den Glauben an übersinn-
liche Mächte bewahrt hat. Ihre Eingänglichkeit wird durch die Reize
eines ausdrucks- und wandlungsfähigen, mitgeborenen, deutschtüm-
lichen Rhythmus gesichert. Vielleicht sind die Gedichte dieser Abtei-
lung das Nordischste, was Goethe je gestaltet hat. So versteht man das
Wort von dem «Dunst- und Nebelweg» der Balladendichtung, der ihn
wieder zum «Faust» geführt habe. Es ist in ihnen ein Raunen von
Leid und Glück dieser Erde. Ihre Schalkhaftigkeit und ihr Humor
vollenden den Umkreis des wahrhaft Menschlichen. Sie weisen nicht
wie die Schillersehen Balladen auf einen archimedischen Punkt außer-
halb dieser Erde hin, von dem aus ihre Schicksale in Bewegung gesetzt
werden. Sie wirken in der Sprache durch die sinnlichen Mittel, nicht
durch einen dem sprachlichen Ausdruck möglichen Appell an das
Denkvermögen. Als Goethe spät das 1813 und 1816 entstandene Ge-
dicht «vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen» einfach «Bal-
lade» betitelte und an die Spitze der Abteilung «Lyrisches» stellte -
505
eine Dichtung, die wie nur eine unter den früheren Balladen hätte
ihren Platz finden können -, leitete ihn einzig die Kehrreimdominante
des «Die Kinder, sie hören es gerne», über der das Gedicht aufgebaut
ist; sie deutete auf jenes Singen und Sagen von «weiter Ferne» und
«heimlich-nächster Nähe» (wie es in dem Vorspruch heißt), das eben
an die Art der Goetheschen Ballade geknüpft ist. Deswegen eröffnet
eine gleichsam paradigmatische Ballade diese Abteilung «Lyrisches»,
weil ja, wie wir von ihm hörten, eine Ballade ein «Ur-Ei der Poesie»
ist und die Fülle aller poetischen Möglichkeiten in sich schließt. Des-
wegen: «Alte Kinder, junge Kinder hörens immer gerne.» Schließ-
lich: es hat seine Bedeutung, wenn er «Die Braut von Korinth» und
«Der Gott und die Bajadere» von 1797 an den Schluß der Balladen-
abteilung stellte. Es sind die beiden großformigen Aufgipfelungen sei-
ner Balladenpoesie. Ihr Stoff entstammt nicht dem nordisch-heimi-
schen Raum. Aber die über aller nordischen Balladenpoesie waltenden
Mächte und Motive der Liebe und des Todes, die Überwindung des
Todes durch die Liebe, finden hier in tiefsinniger Fabel ein Goethesch-
Letztes an symbolhafter Läuterung durch das Mann und Frau ver-
zehrende Feuer.
Anders der Balladendichter Schiller. Was in dem zweiten Buch sei-
ner Gedichte steht, ist, ohne daß es die Bezeichnung «Balladen» trägt,
aus einheitlichem Metall: eine moralisch-didaktische Haltung zu
Mensch und Welt ist hier mit den eindringlichen Mitteln eines red-
nerischen Pathos und einer fortreißenden Schilderung am Werk. Der
prächtige Faltenwurf von Aufbau und Ausbau dieser Balladen läßt
keine intimen Wirkungen zu, zielt aber in einen unpersönlicheren,
allgemeingültigeren, öffentlicheren Raum. Was immer am Rohstoff-
lichen für episodische dramatische Verknüpfungen und
Aufgipfelungen, kunstvolle Rahmungen- brauchbar war, wurde aus-
gewertet. Springt der Humor ein, so ist er nicht versöhnend, sondern
grimmig. Diese Balladen lassen kaum ein Geheimnis. Aber waltet
nicht in ihnen- «Der Ring des Polykrates», «Die Kraniche des Iby-
kus», «Die Bürgschaft», «Der Graf von Habsburg», «Der Gang nach
dem Eisenhammer» - ein wundersames Schicksal? Doch es ist nicht
eingebettet in die Unergründlichkeit des Lebens. Es steht außerhalb,
304
SCHILLERPROBLEME
Die deutsche Klassik findet ihre Krönung noch nicht in der Balladen-
dichtung. Sie findet sie im Drama und Theater Schillers und in seiner
in Prosa und Versen vorgetragenen Kunstlehre. Beides aber war so ver-
flochten mit der Existenz, mit der Erscheinung, der Wirkung und
Tätigkeit Goethes, daß sich auch von hier aus der Sinn unserer Klassik
nicht durch die Aufteilung unter den einen oder den anderen Partner,
sondern nur aus der Zweiseitigkeit einer «Gestalt» gewinnen läßt.
Schon an früheren Punkten dieser Darstellung (oben S. 111, 129,
134) wurde versucht, Schillers «Klassizität» auf dem Gebiete des Dra-
mas nicht als eine gegebene Größe, sondern als ein strebendes und
ruhendes Sichannähern an eine gültige, objektive Gattungsform des
Trauerspiels und einen mit ihr festzustellenden «dauernden Gehalt»
zu erkennen und damit die mächtige, ruhelose Dynamik, die ihn vor-
wärtstrieb, und die sich immer erneuernden Spannungen in ihm in
ihre Rechte einzusetzen. Das ist freilich der Ansatz zu einer Erkennt-
nis, aus der heraus sich bis jetzt gesicherte Ernten kaum einbringen
lassen. Nachdem das Schillerbild mehr als ein Jahrhundert lang kano-
nisiert und vermythisiert worden war, scheint es sich in den letzten
Zeiten, besonders soweit Schillers spätere Dramatik in Betracht kommt,
in standpunktgebundenen Aufspaltungen und Spiegelungen zu ver-
lieren. Oas ist freilich wertvoller, als wenn er, wie es früher so oft ge-
schah, als feste Größe oder gar als Selbstverständlichkeit hinge-
306
FRAGEN AN SCHILLER
20• 307
SCHILLERS DRAMATISCHER STIL
308
DER JAMBUS
509
STILWANDEL IN «DoN CARLOS»
«Don Carlos» aber wurde zugleich mit dem Stilwandel die «hohe»
Tragödie. Sie wurde, indem alles Schicksalhafte und schuldhaftMensch-
lich-Sittliche in die zweite Reihe trat, die Auseinandersetzung über-
persönlicher Mächte, d. h. ideeller Streitbarkeiten, die sich auf Erden
ihre Gefäße in großen Naturen wie König Philipp und Marquis Posa
erwählten. «Don Carlos» blieb auf Grund seiner Entstehungsgeschichte,
das ist der Unausgeglichenheiten des im Durchgangsstadium befind-
lichen Dichters, das Drama der Risse und Sprünge, der Unklarheiten
und Unerwartetheiten, der Überfülle und Unfertigkeittrotz aller nicht
endenwollenden, bessernden und kürzenden Arbeit Schillers. Aber,
wenn das Werk mit seinen großen Fehlern und ewigen Vorzügen, mit
seiner schwingenden und vibrierenden, feurigen Ideenmasse politi-
scher, religiöser, sittlicher Art, die aus einem ungeheuren Aufruhr
310
VoN DER PROSA ZUM VERS
311
DIE GRIECHEN UND SHAKESPEARE
512
KANT
Der Ausgleich zwischen dem antiken Drama und dem Drama Shake-
speares schließt das gesamte Ringen Schillers um den neuen Dramen-
stil in sich. Bald neigte er sich mehr dem antiken Schicksalsbegriff,
bald der handelnden und in die Irre gehenden menschlichen Persön-
lichkeit, der Bewegtheit und allseitigen Offenheit Shakespeares. Unter
dem Eindrucke Shakespeares strebte er nach Objektivität in der Cha-
rakterzeichnung, Totalität des Weltbildes, Entgegensetzung und Ab-
wägung widerstreitender Gesinnungen. Von Shakespeare überkam ihm
eine Fülle einzelner Motive und Situationen, von Shakespeare die Un-
gebundenheit dramatischen Vorwärtsschreitens. «Der Mittelweg zwi-
schen Antike und Shakespeare soll die Eigenrichtung eines deutschen
Nationalstiles herbeiführen: Lebensfülle der Charakteristik in form-
strenger Konzentration; Einheit in der Mannigfaltigkeit.» Doch nicht
nur in «Wallenstein», auch in den späteren ausgeführten Dramen:
«Maria Stuart», «Braut vonMessina», «Jungfrau von Orleans»,«Wil-
helm Tell» ist das gewollte Gleichgewicht zwischen shakespearisch und
antikisch in keinem Falle erreicht. Ob diese Synthese im « Deme-
trius » erzielt worden wäre - wozu eine herrschende Meinung sich
neigt-, ob Ödipus und Macbeth sich wirklich in dem betrogenen Be-
trüger die Hand reichen und auch die Technik dieses Werkes antike
Analyse und shakespearische Dynamik wahrhaft vereinige, erscheint bei
der Unvollendung des «Demetrius» zweifelhaft. So muß es im Hin-
blick auf Schillers Bestreben, Antike und Shakespeare in seinem neuen
Drama zu verselbigen und zu überbauen, bei der schon von Zeit-
genossen ausgesprochenen Entscheidung bleiben, daß diese späteren
Werke nach «Wallenstein» eigentlich Annäherungsversuche zu einer
noch nicht endgültig gefundenen Regel eines deutschen Trauerspieles
seien. Sie gewinnen durch eine solche Feststellung mehr, als sie ver-
lieren; sie werden uns näher und - deutscher.
Das neue, das klassische Drama Schillers wäre nicht entstanden ohne
die Kautische Philosophie, deren Studium mit dem Shakespeares und
der Antike Hand in Hand ging. Auch die Kautische Kunst- und Schön-
heitslehre bestärkte ihn in der Abwehr eines bloßen Naturalismus, in
dem Streben nach Ineinssetzung von Stoff und Form, in der Über-
zeugung von der Selbstherrlichkeit des Kunstwerks und von der ihm
515
STILGESETZ DER DEUTSCHEN KLASSIK
514
SCHILLERS «IDEALISMUS»
315
«IDEALISMUS» UND «REALISMUS»
516
FRAGMENTE UND ENTWÜRFE
317
SCHILLER UND DAS «ROMANTISCHE»
318
SCHICKSALSBEG RIFF
den Punkten von dem romantischen Geiste weg. Hat die spätere Ro-
mantik die zum Heroismus und zum vaterländischen Handeln auf-
rufende Wirkung seiner Dramatik unterstrichen und in ihre eigenen
Bestrebungen einbezogen, so war seine auch im Drama herrschende
pragmatisch-psychologische Geschiehtsauffassung doch grundverschie-
den von dem Ertasten eines überpersönlichen, geheimnisvollen und
nur erahnten Geistes in der Historie, der in den historischen Romanen
und Dramen der Romantik (Tiecks, Novalis' ,Arnims, Brentanos, Zacha-
rias Werners und anderer) webt. Erst Uhland vermochte mit zart zu-
sammenbiegender Hand in seinen geschichtlichen Dramen und Bal-
laden beide Linien des Verhaltens zur Geschichte zu vereinigen. Doch
er wie andere Schwaben sind liebenswürdige Beispiele einer Durch-
dringung des sicheren und greifbaren klassischen Erbes mit einer
romantischen Eingebung, die die Tiefen auszuloten suchte.
Auch im Punkte des Schicksalsbegriffes begegnen und teilen sich der
späte Schiller und die Romantik. Die Möglichkeiten des Verhältnisses,
in dem der Mensch zum Schicksal, d. h. zu einem irrationalen,
aber vom Dichter als notwendig und unabwendbar unterstellten Ge-
schehen steht, hat Schiller bekanntlich wieder und wieder durch-
geprüft. Die Schicksalsidee in seinen Dramen, besonders in «Wallen-
stein» und in der «Braut von Messina » ist kein bloß poetisches oder
ästhetisches Motiv, ebensowenig eine bewußte künstlerische Verwer-
tung der Grundidee der antiken Tragödie, kein «künstliches Dunkel,
das die stilisierte Zeichnung seiner Figuren als Hintergrund braucht»,
kein «geistreich berechneter Kunstgriff»: die Schicksalsidee, aus dem
persönlichen Erlebnis seiner Jugend- und Werdezeit vertieft, ist inner-
halb der philosophisch-dramatischen Auseinandersetzung seiner Reife-
zeit und seiner Geschichtsstudien ein Angelpunkt seines Bewußtseins
geworden. Die Schillersehe Dramatik zeigt die «immanente» Form des
Schicksals - ein Schicksal, das aus dem Inneren des Menschen selber
aufsteigt. So wird dem Charakter Wallensteins eine fatalistische Grund-
lage gegeben durch den ihm beigelegten astrologischen Schicksals-
glauben und den Glauben an seine innere Stimme. Daß Wallenstein
einer verhängnisvollen Selbsttäuschung unterliegt, daß sich sein Glaube
an sich und an die Sterne als tragischer Irrtum erweist, diese seine
319
«SCHICKSAL» UND «FREIHEIT»
520
DER «POLITISCHE» SCHILLER
522
EINHEITLICHKEIT DES KLASSISCHEN SYSTEMS
21* 325
SCHILLERS PHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN
324
DAS DENKERISCHE UND DAS DICHTERISCHE
525
SCHILLER UND KANT
ein Teil des streng aufgefaßten Berufes als Jenaer Professor, der sich
statt der Geschichte der ihm im Lehramte leichter fallenden Ästhetik
annahm, und endigt in der freiesten Haltung des Menschen, der die
ausschließliche Pflege eines «Faches» oder die Ausübung eines «Be-
rufes», auch einer einzelnen Wissenschaft, als des geforderten mensch-
lichen Ganzheitszustandes für unwürdig erklärt. Denn «Ewig nur an
ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der
Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Ge-
räusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die
Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur
auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner
Wissenschaft». So heißt es im sechsten der Briefe «Über die ästhetische
Erziehung». Auf welchem Gebiete auch immer: es sein unüber-
windliches Pflichtgebot, «in der Mitte zu stehen» und von dieser Mitte
aus sich des weiteren Umkreises zu bemächtigen. Das war das ihm
eingegrabene Gesetz der Selbsterzi-ehung und Selbstverteidigung. So
erging es ihm mit Kant, das heißt mit der Karrtischen Schönheits- und
Sittenlehre, seit er am 1.Januar 1792, unmittelbar nachdem ihm
durch das hochherzige Geschenk des Augustenburgers die volle Muße
des Geistes geworden war, an Körner geschrieben hatte: «Mein Ent-
schluß ist unwiderruflich gefaßt, die Karrtische Philosophie nicht eher
zu verlassen, bis ich sie ergründet habe, wenn mich dieses auch drei
Jahre kosten könnte.» Dies aber ist das Wunder: Wie seine individuelle
Entwicklung einging in die Aufgaben, die die Zeit stellte - selbstver-
ständlich und reibungslos. Indem er aus individuellem ehrgeizigem
Ausdehnungsdrange die großen Erscheinungen der Zeit in sich auf-
nahm, schwang er sich zugleich zum Sprecher und Führer dieser Zeit
auf, weil alles, was er schöpferisch vollführte, unter einer Hochspan-
nung geschah, wie sie keinem anderen Zeitgenossen eigen gewesen ist.
So wurde die Karrtische Schönheits- und Sittenlehre in Schillers ästhe-
tischen Schriften dem Aufbau einer auf größte Reichweite berech-
neten «Bildungsidee» nutzbar gemacht. Und durch diese Ausrichtung
auf ein allgemeines, menschliches und nationales Bildungsziel rückt
er ab von jedem anderen der zahlreichen Auswerter des Karrtischen
Ideengutes. Das Maß seiner Abhängigkeit von Kant, die Eigentümlich-
526
AUSBREITUNG DER KANTISCHEN LEHRE
527
SCHILLERS ScHÖNHEITSBEGRIFF
328
«ÜBER DAS ERHABENE»
w1e s1e aus der Seelenlage des 18.Jahrhunderts erwuchsen. Ist «An-
mut» die «Schönheit der Gestalt» unter dem Einfluß der «Freiheit»,
die Spiegelung des vollendeten Menschentums in der Erscheinung,
kann sie nur der Bewegung zukommen, weil eine Veränderung im Ge-
müt sich nur als Bewegung in der Sinnenwelt offenbaren kann, so
unterliegt es schwerlich einem Zweifel, daß diese Anmut ein Wunsch-
bild der Schillersehen Persönlichkeit ist, das er im Goetheschen Wesen
verwirklicht fand. Ist «Würde» der Ausdruck einer erhabenen Ge-
sinnung, zeigt sich «Würde» in der Beherrschung der willkürlichen
Bewegungen wie die Anmut in der Freiheit der unwillkürlichen, so
unterliegt es ebensowenig einem Zweifel, daß Schillers zusammen-
gefaßte Willensenergie in diesem Begriffe ein Stück ihrer selbst finden
mußte. Man lese Sätze wie die folgenden aus der ergreifenden Schrift
«Über das Erhabene» (kein Deutschlehrer sollte versäumen, sie seinen
Schülern nahezubringen) und man wird wissen, daß Schiller auch hier
aus dem eigenen Herzen schöpft: «Zwei Genien sind es, die uns die
Natur zu Begleitern durchs Leben gab. Der eine, gesellig und hold,
verkürzt uns durch sein munteres Spiel die mühevolle Reise, macht
uns die Fesseln der Notwendigkeit leicht und führt uns unter Freude
und Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als reine Geister
handeln und alles Körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntnis der
Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, denn nur
die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn sein irdi-
scher Friede nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere hinzu, ernst und
schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns über die schwindlige
Tiefe. In dem ersten dieser Genien erkennt man das Gefühl des Schö-
nen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen. Das Gefühl des Er-
habenen ist ein gemischtes Gefühl. Es ist eine Zusammensetzung von
Wehsein, das sich in seinem höchsten Grad als ein Schauen äußert,
und von Frohsein, das bis zum Entzücken steigen kann, und ob es
gleich nicht eigentlich Lust ist, von feinen Seelen aller Lust doch weit
vorgezogen wird.» In diesem Gefühl des Erhabenen erlebt Schiller
sich selbst, in dem Gefühl des Schönen erlebt er Goethe. Ebenso wie
Kant war Goethe der zu verarbeitende «Gegenstand» der ästhetischen
Schriften, ebenso wie Kants haben seine Anschauungen vom Schönen
529
DAS «ÄSTHETISCHE»
330
«NAIV» UND «SENTIMENTALISCH»
auf der anderen Seite findet, dringt seine Dialektik zu den Möglich-
keiten dichterischenVerhaltens vor, die eine Naturgeschichte der Poesie,
aber mehr als Geschichte: ihre Seinsverhältnisse in sich schließen. Die
Schillersehen Kategorien von «naiv» und «sentimentalisch» dürfen
keine dogmatische Gültigkeit beanspruchen. Sie sind eine Fackel, mit
deren Hilfe die immer dunkler werdende Zeit die Werte beleuchtete,
die ihr bislang die eigentlichen Anliegen des Lebens gewesen waren,
die dichterischen. Nun wurden sie überprüft und befragt, wieweit
auch sie auf ein Allgemeines Bezug haben. Eine solche Diagnose der
Dichtung lag in der Luft, so daß der Ansatz des Programms der
sehen Romantik mit der Aufteilung der Poesie in eine antike, objektive
und eine interessante, moderne, «romantische» auch ohne Schillers
Kategorien des «Naiven» und des «Sentimentalischen» sich hätte er-
geben können. Goethe erklärte später allzl,l. apodiktisch zu Eckermann,
daß er und Schiller die Urheber der Begriffe der «klassischen» und
«romantischen» Poesie seien und die Schlegels die Idee nur «weiter-
getrieben» hätten. Auch hier handelt es sich um ein Wechselspiel von
Gedanken und Erkenntnissen innerhalb der dichterischen und allge-
meingeistigen Situation, in der sich Klassik und Romantik am Ende
desJ ahrhunderts befanden. Aus einem Nebeneinander und Ineinander,
aus einem reichlich angesammelten dichterischen und kritischen Vor-
rat, aus der überzeugenden Einsicht in das, was nottat, fanden die
bedeutenden Geister der Epoche ihre Zauberformeln, um zugleich zu
binden und zu lösen. Aber das jüngere, das romantische Geschlecht
zog die entschiedeneren Folgerungen und drang weiter vor.
Schiller war mit der Abhandlung «Über naive und sentimentalische
Dichtung» wieder zum Nachdenken über seinen eigensten «Beruf»,
die Poesie, zurückgekehrt. Hinter seiner gesamten Beschäftigung mit
der Schönheitslehre und Sittenlehre wartete der schöpferische Trieb,
um, wenn er durch allseitige Aufklärung über sich selbst gefestigt
wäre, neu entbunden zu werden: Schillers von Kant ausgehende
philosophisch-ästhetische Studien sind so alt wie die Konzeption des
«Wallenstein». Aber unmittelbar fließen die Ideen über Kunst und
Sitte in die rhythmische Form der Poesie über seit dem ungefügen,
zerdehnten und wieder zusammengefaßten Gedichte «Die Künstler»,
531
VORTRITT DER DICHTUNG
552
IV
«DEUTSCHE ROMANTIK».
INHALTE UND AUSDRUCKSWILLE.
AUFSCHLIESSUNGEN UND BEGEGNUNGEN.
553
KLASSISCH-ROMANTISCHE «RENAISSANCE»
tung Europas und aus den Fragen nach dem deutschen Wege und Ziele
innerhalb dieser kreisenden Zustände aufgestiegen war. Wie sehr die
klassisch-romantische Literatur bis in ihre tiefstenSchichten von dieser
Zeitsituation bestimmt wurde, hat das erste Kapitel dieses Buches zu
zeigen gesucht. Das Bezeichnende war: vom «Ästhetischen» her ge-
langte man auf die Ebene des ungeheuren Zeitgeschehens, vom
«Ästhetischen» her suchte man sich mit ihm auseinanderzusetzen -
nicht es zu überwinden oder es vergessen zu machen. «Der Zustand
der ästhetischen Bildung unseres gegenwärtigen Zeitalters war es, der
uns aufforderte, die ganze Vergangenheit zu überschauen», sagt Fried-
rich Schlegel1797 in seinem Werk «Die Griechen und Römer». Und
Schiller schreibt am 7. Juli 1797 an Goethe: «Möchte es doch einmal
einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit, an welches
einmal alle jene falschen Begriffe unzertrennlich geknüpft sind, aus
dem Umlauf zu bringen und, wie billig, die Wahrheit in ihrem voll-
ständigen Sinne an seine Stelle zu setzen.» Im folgenden Jahre heißt
es dann (18.Mai 1798): «Es ist ebenso unmöglich als undankbar für
den Dichter, wenn er seinen vaterländischen Boden ganz verlassen und
sich seiner Zeit wirklich entgegensetzen soll.» Jean Paul aber meinte
(an Knebel, 5.August 1796): «Jetzt indeß braucht man Tyrtäus mehr
als einen Properz »-die Äußerung Wilhelm Schlegels in seinem Briefe
an Fouque vom 12. März 1806 gleichsam vorwegnehmend.
Die Klassik Goethes und Schillers war ein in.sich geschlossenes Ge-
bilde. Sie war gegründet, wie Schiller sagte, auf «wechselseitige Per-
fektibilität», oder, wie Goethe meinte, auf Ergänzung. Sie sollte, so
erkannte schon Gervinus, die Gegensätze in sich nicht lösen und
schmelzen, sondern sie betrachtete sie als die getrennten Hälften der
totalen menschlichen Natur, die nur in der Idee existiert. Dieser
«Tausch der Naturen» führte bis zur «Täuschung für andere» - so
nahe berührten sich schließlich ihre Denkarten und ihre Stile. So war
es in den «Xenien», so war es mit dem einen und anderen Beitrag
in den «Horen», wobei Schiller zugeschrieben wurde was Goethe,
Goethe was Schiller gehörte. Es lag eine feste Hülle um das «Klas-
sische»: im Weimar-Jenaer Kreise um Goethe und Schiller herrschte
gegen das Ende des Jahrhunderts eine gewisse Gleichförmigkeit der
554
SEITENGÄNGER DER KLASSIK
Haltung, die es z.B. möglich machte, daß Friedrich Schlegel die «Agnes
von Lilien» der Caroline von Wolzogen für ein Werk Goethes halten
konnte, ja daß selbst der «Rinaldo Rinaldini» von Vulpius in Stil und
Sprache ein Streben nach «Klassizität» deutlich werden läßt. Es mag
auch zutreffend sein, was Moeller van den Bruck hervorgehoben hat:
daß zwischen dem alsbald in Erscheinung tretenden politischen Willen
Preußens und klassischem Stil, klassischer Weltanschauung ein Zu-
sammenhang besteht, insofern als beide Haltungen auf straffe Einheit
und Organisation gerichtet sind. Nach der Mitte, die durch Goethes
und Schillers gemeinsames Werk gebildet wird, sind die übrigen Per-
sönlichkeiten hingewandt, die als ihre Anhänger oder Gefolgsleute,
als Vermittler oder Fortsetzer in ihren Strahlenkreis traten. Da war
HeinrichMeyer, dessen auf der Linie Winckelmann-Goethe früher ge-
dacht worden ist. Da war Schillers Freund Christian Gottfried Körner,
der, nachdem seine im brieflichen Austausch mit dem Freunde er-
örterte Kunstlehre vielfach eigene Wege von Kant aus gegangen war,
schließlich in Schillers «Ästhetischen Briefen» ein für ihn maßgeben-
des System fand und als den Zweck der Kunst die «lebendige Ge-
stalt» ansprach, mit der Stoff- und Formtrieb gleichmäßig befriedigt
werden. Seine selbständige Bedeutung im klassischen Kreise besteht
darin, daß er allein der Musik ein systematisches Interesse gewidmet
hat. Das bezeugen seine an August Wilhelm Schlegels Horenaufsatz
über «Poesie, Silbenmaß und Sprache» angeknüpften Gedanken, das
ein anderer Horenaufsatz «Über Charakterdarstellung in der Musik»,
worin als ihr Ausdruckswille die Bewegung in gegebenen Verhältnissen,
Bewegung ohne Raumbeziehung, «Bewegung ohne Gestalt» erkannt
wird. «Charakter» aber kann in ihr dargestellt werden durch Art und
Abstufung der «Bewegung». Als das Gegenstück zu diesem Aufsatz
Körners können die Goetheschen Anmerkungen zu «Rameaus Neffe»
gelten, denen die sinnschwere Scheidung einer nordischen und einer
südländischen Musikauffassung verdankt wird: die nordische - und
das ist die Art Körners -bringt die Musik in Verbindung mit Verstand,
Empfindung, Leidenschaft; die südländische genießt sie mit den
Sinnen. Da war Wilhelm von Humboldt, der Schillers ästhetische
Untersuchungen aus seinem eigenen, oft verfließenden und leicht be-
555
ANDERE MöGLICHKEITEN
336
HERDER GEGEN DIE «KLASSIK»
so will Herder sie mit beidem wieder in Verbindung bringen. Aber auch
in den unmittelbaren Dienst der Tagesinteressen soll sie sich stellen:
auch eine solche direkte Verbindung der Poesie mit den öffentlichen
Angelegenheiten lag nicht im Willen der Klassik. «Mich», so schrieb
er an Gleim am 22.Mai 1792, «interessiert die Stimme der Muse sehr,
wenn sie über die acta et facta der Welt, von denen Wohl und Wehe
abhängt, laut zu reden oder zu singen wagt und sich in das Pauken-
und Trommelgetön, in die Torheit und Weisheit öffentlicherVerhand-
lungen mischt. Ach aber wie furchtsam, vvie zurückhaltend muß sie
noch immer sein.» Für ihn sind jetzt Genie und Charakter auch auf
dem Gebiete der Dichtung und Kunst unzertrennlich, wie sie es für
die Aufklärung gewesen waren. Und das Gesetz eines jeden Handeins
wird ihm durch die Hebung der Glückseligkeit aller bestimmt. Seine
offene und versteckte Krittelei und Nörgelei an allem und jedem, was
die Klassik hervorbrachte, sei es Ästhetik, Dichtung, Drama, Theater,
seine Eifersucht und Verbitterung gehen so weit, daß er auf eine
frühere Generationsstufe zurückfallen und die Dichter der abgelau-
fenen Epoche, des dem Sturm und Drang voraufliegenden Zeitalters
der deutschen Literatur, die Uz, Gleim, Haller, Kleist gegen die «neu-
modigen Musen» hervorkehren konnte. Wahrlich, es werden Seiten
eines Allzumenschlichen an ihm sichtbar, die kaum noch etwas mit
der eigentlichen Geistesgeschichte zu tun haben. Doch neben diesen
Rückfällen Herders ins Vergaugene und Orthodoxe gibt es in dieser
seiner Stellung gegen die Weimarer Klassik Werte, die in der Tat ihre
Eigenberechtigung beanspruchen können und uns bedauern lassen,
daß nicht der Bund zwischen den Dreien: Goethe, Schiller, Herder
sich schloß, wodurch der Ausdruck unseres Geistes am Ende des 18.Jahr-
hunderts erst vollständig geworden wäre. Diese Werte Herders bestan-
den in seiner organistischen Geschichtsauffassung, in seiner Erkennt-
nis des Volkstums, insbesondere des germanischen und deutschen Volks-
tums, in seinem ständigen Achten auf Wesen und Bedeutung der
Sprache und des Sprechens, endlich in dem geistigen Typus, den eben
er darstellt: das ist die «offene», gelockerte, die Dinge nicht hart und
eindeutig, sondern weich und schmiegsam, oft stimmunghaft und
schwingend umfassende Art seines Sagens und Sichgebens. Und diese
538
HERDER UND JEAN PAUL
Art bricht auch in der Spätzeit durch alle herben und rückständig er-
scheinenden Äußerungen hindurch. Vielleicht hätte eine solche Syn-
these Goethe-Schiller-Herder den Inhalt jener gesamten Bewegung in
sich beschließen, ja vorwegnehmen können, die später Romantik ge-
nannt wurde.
Ihr Liebling und vielfacher dichterischer Anreger war ja Jean Paul,
der zum antiklassischen Kreise Herders in Weimar gerechnet wurde.
Bei seinen- zu späten -Aufenthalten in Weimar 1796 und 1798/99
konnte er das rechte Verhältnis zu Goethe und Schiller trotz seines
oft hell aufblitzenden Verständnisses für sie nicht finden. Ihnen beiden
aber ging das Organ für den Dichter und Menschen Jean Paul ab,
wenn er auch in Schillers Abhandlung «Über naive und sentimen-
talische Dichtung» seinen Platz als Vertreter der «sentimentalischen
Idylle» vollberechtigt hätte einnehmen können. Goethe aber konnte
seinen Widerwillen gegen Jean Paul ebensowenig überwinden wie
gegen Heinrich von Kleist. Seine Äußerung etwa von 1814: so oft
er ein paar Seiten von Jean Paul lese, überkomme ihn ein Ekel und
er müsse das Buch weglegen, hat Schopenhauer, zu dem sie getan
worden war, in den «Parerga und Paralipomena» doppelseitig dahin
kommentiert, daß sich Goethe zuJean Paul verhalte «wie der positive
Pol zum negativen», oder daß Jean Pauls schwache Seite sei, «worin
Goethe groß ist und vice versa». Der Gegensatz des «Titan», der
mannigfach an Weimarer Modelle angelehnt erscheint, zu «Wilhelm
Meister» ist freilich nach Weltschau und Form fast unüberbrückbar,
es sei denn, daß man unter dem Kennwort «Bildungsroman» auch im
Letzten wesensverschiedene Werke zusammenzufassen geneigt ist.
Wohl soll in «Titan» der sich titanisch übersteigernde Subjektivismus
einem ausgeglichenen Menschentum entgegengestellt werden. Aber
sehr fein wurde erkannt, daß es sich bei «Titan» um eine Abart der
erzählenden Kunst handelt; daß Eingebung, Plan und Bau des «Titan»
von Anfang an dramatisch und kaum mit den Regeln und Begriffen
des Romans zu fassen sind. Friedrich Schlegel schreibt im Mai 1800
über Jean Paul: «Mit uns müßte er noch wieder jung werden können.»
Doch ob «Romantik», ob «Klassik», jede dieser beiden Einordnungen
versagt an Jean Paul, wie sie an Hölderlin und Kleist versagt; das
22* 559
JEAN PAULS LEBENSGEFÜHL
54·0
KAMPF GEGEN WEIMAR
541
GEORG FüRSTER ALS UNZEITGEMÄSSER
542
FüRSTER UND DIE RoMANTIK
343
FüRSTER ALS «GESELLSCHAFTLICHER SCHRIFTSTELLER»
344
FüRSTER ALS ROMANTISCHER IDEALTYP
345
FORSTER ALS MENSCH
war; als daß er- der erste deutsche Übersetzer eines indischen Dramas
(«Sakuntala») -den indischen Studien Friedrich undAugustWilhelm
Schlegels vorgefühlt hat; als daß er - der Träger einer begeisterten
Kunde von der Südsee, der Entdecker Tahitis in der deutschen Litera-
tur- der Südseebeschreibung und Südseedichtung Chamissos und der
Südseesehnsucht seines Peter Schlemihl vorangeht; als daß er durch
seine glühenden Beschreibungen die romantische Phantasie um das
Bild der «glückseligen Insel» oder der «Insel der Seligen>> vermehren
und eine «Hüttenromantib> befördern half, die eine «otaheitische
Hütte>>, einen «otaheitischen Pavillon» ihrer idyllischen Landschaft
und idyllischen Siedelei hinzufügte -wovon Dorothea Schlegels '« Flo-
rentin » schwärmt und Ludwig Tieck in den Gartengesprächen des
ersten Teils seines «Phantasus » reden läßt. Alexander von Humboldt
hat in der Einleitung zum zweiten Bande seines «Kosmos» bezeugt,
daß Forsters Schilderungen der Südseeinseln «einer unvertilgbaren
Sehnsucht nach der Tropengegend den ersten Anstoß gaben», wie
denn die Brüder Humboldt in manchem Forsters Erbe antraten: Wil-
helm dadurch, daß er Anregungen Forsters in seinen eigenen ästheti-
schen, literarischen und politischen Abhandlungen verarbeitete;Alex-
ander von Humboldt, der Forster an den Niederrhein und nach Eng-
land begleitet hatte, dadurch, daß er ihm die schriftstellerische Kunst
absah und Forsters Natur-, Länder- und Völkerkunde weiterführte.
Über alles das hinaus aber blieb in der frühromantischen Gesellschaft
Forsters Persönlichkeit nach seinem frühen Tode ( 1794) lebendig. Denn
man fühlt dem Aufsatz Friedrich Schlegels an, daß nicht die bloß
literarische Begegnung mit ihm ihn gezeitigt hat, daß vielmehr ein
lebendiges Medium vorhanden gewesen sein muß, das die mensch-
liche Berührung mit Forster hergestellt hat. Dies Medium war Caroline
Schlegel, von der Friedrich auch hier angeglüht worden ist. Denn
während der Zeit ihrer Mainzer Wirren, seit 1792, stand die «Bürgerin
Böhmer>> dem ebenso vom revolutionären Strudel erfaßten Forster in
seinen ehelichen und sonstigen menschlichen Schwierigkeiten zur Seite.
Und wenn sie die Schwächen seines Charakters auch durchschaute, so
schreibt sie doch: «Er ist derwunderbarste Mann-ich hab nie jeman-
den so geliebt, so bewundert und dann wieder so gering geschätzt.»
546
ROMANTISCHE LEBENSSTIMMUNG